Toxikologie und Rechtskunde: Kompetenzfördernde Wissensvermittlung der Gefahrstoffkunde 366266660X, 9783662666609, 9783662666616

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Über den Autor
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Teil I Einführung
1 Was soll mit diesem Buch erreicht werden?
1.1 Ziele
1.2 Ausgangssituation
1.3 Kompetenzfördernde Wissensvermittlung
1.4 Umgang der Menschen mit Gefahren
1.5 Optimierung der Lehre
1.6 Vorschriften und Regeln zur Gefahrenvermeidung und Gefahrenabwehr
1.7 Gefahrstoffkunde, eine Kombination aus Toxikologie und Rechtskunde
1.8 Didaktische Struktur der einzelnen Vorlesungsveranstaltungen
1.9 Didaktische Relevanz von Transferwissen
1.10 Gefahrstoffkunde – eine interdisziplinäre Aufgabe
Teil II Grundlagen
2 Grundlagen der Gefahrstoffkunde
2.1 Gefahr, was ist das?
2.1.1 Wortfamilie „Gefahr“
2.1.2 Lebensgefahr – Beispiel Sauerstoffparadoxon
2.2 Wahrnehmung und Einschätzung von Gefahren/Erfahrungen
2.2.1 Klassische fünf Sinne
2.2.2 Wahrnehmungsdefizit – Beispiel Corona-Pandemie
2.3 Blick in die Philosophie – Rolle individueller Erfahrungen
2.3.1 Rationalismus
2.3.2 Empirismus
2.3.3 Anwendbarkeit der philosophischen Erkenntnisse von Stephen Law
2.4 Latenzprobleme beim Erkennen von Gefahrenlagen
2.4.1 Latenzbeispiele
2.4.2 Regulatorische Konsequenz der Latenzzeiten
2.5 Vermeidung, Minimierung und Abwehr von Gefahren
2.6 Notwendigkeit von Regeln (Gesetze, Verordnungen, Richtlinien)
2.6.1 Regeln zur erfolgreichen Bewältigung von Schadensereignissen
2.6.2 Regelwidriges Verhalten – Ursache und Wirkung
Einschränkung der persönlichen Freiheiten
Menschliches Versagen
2.7 Qualitätssicherungs- und Compliance-Systeme
2.8 Gefahrstoffkunde als Unterrichtsfach
2.8.1 Toxikologie – Basis der Gefahrstoffkunde
2.8.2 Toxikologie – Regulatorische Toxikologie
Toxikologie – hochgradig integrative Wissenschaft
Toxikologie – rechtlicher Rahmen
Toxikologie – Grundlagenforschung
2.8.3 Toxikologie – Naturwissenschaft oder Medizindisziplin?
Medizin – Denk- und Arbeitsweise
Toxikologie – Denk- und Arbeitsweise
Toxikologie – Hybridwissenschaft aus Medizin und Naturwissenschaft
2.8.4 Basis der Gefährdungsermittlung – Netzwerk Toxikologie
2.8.5 Arbeitsgebiete der Toxikologie
2.9 Gesunderhaltung der Bevölkerung, ein Grundrecht
2.9.1 Bedeutung dieses Grundrechts
2.9.2 Anwendung auf Gefahrstoffe
2.9.3 Arbeitswelt und Gesundheitsschutz – Woher kommen wir?
Geschichtliche Entwicklung
Gottgefälliges Leben statt Prävention
Umdenken in Europa
Entwicklung staatlicher Verantwortung – Einfluss auf Ökonomie und Staatsführung
Neues Bewusstsein
Beginn der Gewerbetoxikologie
Sozialgesetzgebung
Berufsgenossenschaften, Unfallversicherung und AOK
Erstes Arbeitsschutzgesetz in Deutschland
2.10 Gefahrstoffregelungen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD)
2.10.1 Arbeitssicherheitsgesetz
2.10.2 Betriebsverfassungsgesetz
2.10.3 Arbeitsschutzregelungen – Seveso-Katastrophe als Auslöser
2.10.4 Offenkundige Defizite
2.10.5 Störfallverordnung
2.11 Gefahrstoffregelungen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)
2.11.1 Arbeits- und Bevölkerungsschutz
2.11.2 Gesetzgebungsverfahren DDR
2.11.3 DDR – Gesetz der Arbeit
2.11.4 Arbeitsgesetzbuch
2.11.5 Rolle der UdSSR
2.11.6 Konkurrenzsituation mit der BRD
2.11.7 Ökonomische Grenzen der Umsetzung
2.11.8 Schadensereignisse mit politischen Konsequenzen
2.12 Gefahrstoffregelungen im wiedervereinigten Deutschland
2.12.1 Rechtliche Konsequenz des Beitritts der DDR zur BRD
2.12.2 Einfluss des europäischen Rechts
2.12.3 Deutsches Chemikaliengesetz
2.12.4 Gefahrstoffverordnung
2.12.5 Arbeitsschutzgesetz
2.13 Umgang mit Gefahrstoffen im chemischen Labor
2.13.1 Gefahrenabwehr im chemischen Labor
2.13.2 Konsequenzen für die Chemieausbildung
2.13.3 Komplexe Verhältnisse bei der Beurteilung einer Gefährdung
2.14 Gefahrstoffe – Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit
2.14.1 Gefahrstoffe im Berufsalltag
2.14.2 Wissenschaft vs. Gesellschaft – Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit
Beispiel DEHP (Weichmacher)
Beispiel Bisphenol A (östrogenartige Wirkung)
Bisphenol A – Datenlage
Bisphenol A – Bewertung durch europäische und US-amerikanische Fachbehörden
Resümee
2.14.3 Aspekt der Ethik im Kontext der Nichtbeachtung von gesetzlichen Vorschriften
2.14.4 Freiwillige Verpflichtungen
2.14.5 Notwendigkeit juristisch unumstrittener Regeln
2.14.6 Juristischer Schutz der Verantwortlichen
2.15 Gefahrstoffkunde – Kompetenzfördernde Wissensvermittlung
2.15.1 Gefahrstoffkunde – Wissensvermittlung an Hochschulen (Universitäten)
2.15.2 Grundsätzliche Aufgabe der Lehre
2.15.3 Ziel der kompetenzfördernden Wissensvermittlung
2.16 Gefahrstoffkunde – Sachkundenachweis, § 11 Chemikalien-Verbotsverordnung
2.16.1 Rechtliche Anforderung
2.16.2 Inhaltliche Anforderung – Sachkundeprüfung
2.17 Weitergehende Qualifizierung – Hauptberufliche Gefährdungsermittler
2.17.1 Facharzt- bzw. Fachtierarzt(in) für Pharmakologie und Toxikologie
2.17.2 Master Toxikologie
Beispiel Universität Düsseldorf
2.17.3 Fachtoxikologe/in GT bzw. EUROTOX Registered Toxicologist
Teil III Didaktik
3 Vermittlung von Wissen und Kompetenz
3.1 Professionalität und Kompetenzen der Lehrenden
3.1.1 Lehre an Hochschulen
3.1.2 Schlüsselkompetenzen der Lehrenden – Professionalität
3.2 Hochschuldidaktik in den Naturwissenschaften
3.2.1 Verstehen fördern – Verbesserung von Lehr- und Lernprozessen
Formate
3.2.2 Fachdidaktik
3.2.3 Chemiestudium – Kompetenzerwerb – Ziele
3.2.4 Allgemeiner fachspezifischer Kompetenzerwerb
3.2.5 Überfachliche Kompetenzen
3.2.6 Kompetenz – Kompetenzstruktur – Kompetenzdimension
3.2.7 Kompetenz in der Gefahrstoffkunde
3.2.8 Abhängigkeit der Kompetenz von Intelligenz
3.2.9 Kompetenzstrukturmodelle
3.2.10 Kompetenzdimensionen
3.3 Hochschuldidaktik in der Medizin
3.3.1 Kompetenznetz Medizinlehre Bayern – Modell Öchsner/Reiber
3.4 Didaktik bzw. Lehr- und Lernforschung aus Sicht der Neurowissenschaften
3.4.1 Neurotoxizität
3.4.2 Funktionelle Schädigung – Verhaltenstoxikologie
3.5 Neurowissenschaften – Hirnforschung
3.5.1 Gehirnstrukturen – Gedächtnis/Lernen
3.5.2 Verschaltung verschiedener Gedächtnisse – Lernfähigkeit – Neugier
Hippocampus – Vermittlerrolle
Hippocampus – Arbeitsspeicher des Gehirns
Adulte Neurogenese in Hippocampus und Amygdala
Limbisches System und Amygdala
Striatum – Belohnungssystem – Neugier
3.5.3 Neugier vs. Angst vor Neuem
3.5.4 Denkfaules Gehirn
3.5.5 Kritische Phasen der Gehirnreifung – Stille Synapsen
3.5.6 Gehirnstrukturen – Gefahreneinschätzung
3.5.7 Neurowissenschaften – Konsequenzen für die Lehre (Gefahrstoffkundevorlesung)
3.6 Rolle von Emotionalität und Neugier
3.6.1 Inquiry-based learning (IBL) (forschendes Lernen) – inquiry-based science education (IBSE)
3.6.2 Angst vs. Gefahrenbewusstsein und Gefahreneinschätzung
3.6.3 Angst ist kein guter Ratgeber
3.6.4 Verharmlosung als Gefahr
3.6.5 Einfluss des Lebensalters
3.6.6 Gegenpositionen zur Sicht der Neurowissenschaften
3.6.7 Sichtweise des Autors zum Thema Neurowissenschaften
Bildgebende Verfahren der Neurowissenschaften – Was sagen sie uns?
Keine Didaktikwunder durch Neurowissenschaften
Neurowissenschaften werden hochgesteckte Erwartung nicht erfüllen
Philosophie und Pädagogik sind nicht überlegen
Beispiel für drastische Fehleinschätzung
Schlussfolgerung – Hoffnungsvoller Ausblick
3.7 Weltaktionsprogramm – UN-Agenda 2030 – BNE – Hochschulen
3.7.1 UN-Agenda 2030
3.7.2 Weltbevölkerung – Quantitative Probleme
3.7.3 Weltaktionsprogramm der UNESCO – BNE/ESD
3.7.4 GES (Globale Entwicklung in der Schule)
3.8 Grundsätzliche Überlegungen zur Gefahrstoffkunde als Unterrichtsfach
3.8.1 Sachkundeprüfung
3.8.2 Gefahrstoffkunde – Hilfe in Berufs- und Privatleben
3.8.3 Gefahrstoffkunde Schule – Didaktik/Methodik/Ziele
3.8.4 DGUV – Naturwissenschaftlicher Unterricht an Schulen
3.8.5 Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler
3.8.6 Warum Kennzeichnung von chemischen Stoffen?
3.8.7 Ersatz kritischer Stoffe – Suche nach Alternativen
3.8.8 Verhaltensprävention
3.8.9 Konsequenzen
3.9 Zukunft der Gefahrstoffkunde
3.9.1 European Green Deal
3.9.2 Anforderungen bei Sicherheitsbetrachtung neuer Substanzen
3.10 Nutzung von Digitaltechnologien
3.10.1 Grundsätzliche Überlegungen
3.10.2 Stand der Digitalisierung
3.10.3 DiKoLAN (Digitale Kompetenzen für das Lehramt in den Naturwissenschaften)
3.10.4 Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“
3.10.5 E-Learning – Fernstudium
3.10.6 Gefahrstoffkundevorlesungen – EvaExam – Scan-Klausuren
3.10.7 LMS-Moodle
3.10.8 Digitalpakt für die Lehre [07/2020]
3.10.9 Flipped Classroom
3.10.10 Vorlesungs-App Pingo
3.10.11 Verzicht auf Investitionen in digitale Werkzeuge
3.11 Best Practice in Vorlesungen
3.11.1 Dual Career Netzwerk Deutschland (DCND)
3.11.2 Zehn Best-Practice-Grundregeln
3.12 Motivation durch Stipendien
3.12.1 Beispiel Deutschlandstipendium
3.13 Nationale und internationale Vernetzung der Lehrenden
3.13.1 Vernetzung von Bildungseinrichtungen mit Industrie und Behörden
3.13.2 Attraktivität deutscher Hochschulen für ausländische Absolventen
3.13.3 Erasmus-Programm der EU
3.13.4 Start-up-Unternehmen – Finanzierung der Hochschulen
3.13.5 Finanzierungsquelle Weiterbildungsmarkt
3.14 Praktische Umsetzung fachdidaktischer Erkenntnisse
3.14.1 Basiswissen
3.14.2 Aufbauwissen
3.14.3 Transferwissen
3.14.4 Regeln der Rhetorik
3.14.5 Lernorte außerhalb des Hochschulcampus
3.14.6 Prüfungs- bzw. Klausurvorbereitung – Hinweise für Studierende
3.15 Ziele der Gefahrstoffvorlesungen I (Toxikologie) und II (Rechtskunde)
3.15.1 Kompetenzorientierte Wissensvermittlung
3.15.2 Qualifikationsziele und Kompetenzen
Wissen
Können
Wollen
Machen
3.16 GFK-Vorlesungsveranstaltungen
3.16.1 Umsetzung in der Vorlesungspraxis
3.16.2 Abbildungen (visuelle Unterstützung)
3.16.3 Vorschlag für die Kursbeschreibung in der Vorlesungsankündigung (Vorlesungsverzeichnis)
Qualifikationsziele und Kompetenzen
Inhaltliches Konzept der Gefahrstoffkundevorlesung II (Rechtskunde)
Teil IV Mustervorlesungen
4 Mustervorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)
4.1 Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)
4.1.1 Ziele der Gefahrstoffvorlesungen I und II
4.1.2 Vorbemerkung
4.1.3 Gefahr – Gefährdung – Gefahrstoff
Wortfamilie „Gefahr“
Gefahr und Sprache
Sauerstoffparadoxon – Beispiel für ständige Lebensgefahr (Biologie)
Gefahrenwahrnehmung (Menschen) bzw. Gefahreneinschätzung
Meinungsbildung – Wissenschaft/Experten
Meinungsbildung – Gesellschaft/Laien
Gefahr durch chemische Stoffe
Nationale und internationale Gefahrenabwehrkonzepte und -verfahren
Warum sind klare Regeln, Verordnungen und Gesetze hilfreich?
Rechtfertigungsdruck im Schadensfall
Chemischer Stoff vs. Schadstoff
Gefahrstoffkunde (Dangerous Materials Science)
Schadstoff vs. Gefahrstoff – Wie wird aus einem Schadstoff ein Gefahrstoff?
Voraussetzung, dass ein chemischer Stoff
4.1.4 Toxikologie
Toxikologie – Toxikologische Kernfragen
Toxikologie – Was ist das?
Unterschied Schadstoff vs. Toxin
Toxikologische Welt
4.1.5 Toxizität
Grundvoraussetzung einer toxischen Wirkung
Exposition
Akute und chronische Toxizität – Expositionszeitraum/Einwirkungsdauer
Wirkungsweisen von Schadstoffen
Einfluss von biologischen, chemisch-physikalischen Faktoren und Umweltfaktoren
4.1.6 Regulatorische Toxikologie
Die Regulatorische Toxikologie
Regulatorische Toxikologie – Komponenten
Toxikologische Stoffprüfungen – Typen/Endpunkte – Design
Toxikologische Prüfungen – in vivo – Applikationswege
Toxizitätsprüfung – Klassisches Studiendesign – Wiederholte Verabreichung
Toxikologische Prüfungen – Aufgaben
Ziele der Regulatorischen Toxikologie – Befundbewertung – Toxikologisches Profil
Das „toxikologische Profil“ eines Stoffes beinhaltet die folgenden Informationen
4.1.7 Qualitätssicherung – Gute Laborpraxis (GLP)
4.1.8 Toxikologie – Toxikologische Epidemiologie
4.1.9 Gefahrstoffrecht – EU-Regelungen
EU-Regelungen
4.1.10 Beispiele biogener, geogener und anthropogener Schadstoffe
Biogene Stoffe (Toxine)
Geogene Stoffe
Anthropogene Stoffe (künstliche, von Menschen erzeugte Stoffe)
Biogene Schadstoffe (Toxine)
Vergleich diverser biogener Schadstoffe mit geogenen und anthropogenen Schadstoffen
Geogene Schadstoffe
Geogene/anthropogene Stoffe – Gase
Erstickungsgase
Reizgase – Irritation der Atemwege und Schleimhäute (z. B. Augen)
Bestandteile von Industrieemissionen in Deutschland
Luftschadstoffe – Hauptemittenten in Deutschland
Methan
Formaldehyd
Toxizität des Formaldehyds
TCDD – 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (Dioxin) (Seveso-Gift)
4.1.11 Absichtliche Intoxikationen (Vergiftungen) der Menschen
Chemiewaffen – Giftgase (Thiermann & Zöller, 2019)
Giftmord als Mittel der Politik
Warum Gift als politische Waffe?
Absichtliche Selbstintoxikationen (Vergiftungen) der Menschen
Tabakrauch
Weitere Selbstintoxikationen
4.2 Toxikokinetik und Fremdstoffmetabolismus
4.2.1 Kernfragen der Toxikokinetik
Toxikodynamik vs. Toxikokinetik: prinzipieller Unterschied
Was macht der Organismus mit Fremdstoffen?
4.2.2 Bioverfügbarkeit/Halbwertszeit
4.2.3 ADME (Aufnahme, Verteilung, Metabolismus, Ausscheidung)
Themen der Toxikokinetik (ADME)
Aufnahme von Fremdstoffen – Membranpassage
Resorption im Magen-Darm-Trakt (GI, Gastrointestinaltrakt)
Resorption – Atemtrakt
Resorption – Haut
Resorption von Fremdstoffen hängt ab von
Verteilung von Fremdstoffen
Ausscheidung (Exkretion)
Endpunkte und Verfahren der Toxikokinetik in Industrielabors
Fremdstoffmetabolismus
Ein ideales fremdstoffmetabolisierendes System erfüllt folgende Anforderungen
Phase I: Überblick Enzyme
Cytochrom-P450-abhängige Monooxygenasen (CYP)
CYP-Nomenklatur
Phase-II-Reaktionen: Konjugation (Tab. )
Phase II: Glucuronidierung und Sulfatierung
4.3 Zielorgantoxizität – Zielorgane
4.3.1 Leber, Niere, Nervensystem und Lunge
Leber
Nieren
Nervensystem
Lunge
Haut
4.3.2 Als Zielorgantoxizitäten werden in der CLP-Verordnung (EU-Kommission, 2008) neun Zielorgane genannt
4.4 Organtoxizität Leber (Hepar)
4.4.1 Aufgaben der Leber
Drüsentypen
Gallenflüssigkeit
Metabolismus
4.4.2 Leberschädigung – Hepatotoxizität
Leberfunktionsproben
Weitere Leberfunktionsproben
4.4.3 Hepatotoxische Schadstoffe
Beispiel Tetrachlorkohlenstoff (Tetrachlormethan, CCl4)
Beispiel Paracetamol (N-Acetyl-4-aminophenol)
Beispiel Ethanol
Lebertumoren
4.5 Organtoxizität Niere
4.5.1 Anatomie/Architektur der Niere
Nierenrinde (Cortex)
Nierenmark (Medulla)
Nierenbecken (Pelvis)
Nephron
Primärharn
Nierenkanälchen (Tubuli)
4.5.2 Aufgaben der Nieren
Die wichtigsten Aufgaben der Nieren
4.5.3 Nierenschädigung (Nephrotoxizität, Nephropathie)
Nierendiagnostik – Traditionelle Methoden/Parameter
4.5.4 Nephrotoxische Schadstoffe im Überblick – Beispiele
Endogene Stoffe
Exogene Stoffe
Nephrotoxische Schadstoffe – Cadmium
Nephrotoxische Schadstoffe – Blei
Nephrotoxische Schadstoffe – Aminoglykosidantibiotika
Methamphetamin (Crystal Meth)
4.6 Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie)
4.6.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
4.6.2 Aufgaben des Nervensystems
4.6.3 Anatomie Nervensystem
Mechanismen der Signalübertragung
4.6.4 Nervenzelle (Neuron) – Struktur
4.6.5 Zentralnervensystem (ZNS)/Gehirn
Reizübertragung im ZNS
Synapse
Beispiel – Reizübertragung in cholinerger Synapse
Schnelle Regulation an den Synapsen
Zentralnervensystem (ZNS) besteht nicht nur aus Neuronen!
4.6.6 Peripheres Nervensystem (PNS)
4.6.7 Schädigung Nervensystem
Schädigung des ZNS durch chemische Stoffe
Schädigungen im peripheren Nervensystem (PNS)
4.6.8 Neurotoxische Schadstoffe
Blei
Quecksilber
Quecksilber – Toxizität
Metallisches Quecksilber
Ethanol Neurotoxizität akut – Wirkstufen
Ethanolwirkungen (akut)
Ethanol – Chronisch – Neurotoxizität
Ethanol – Neurotoxizität – Alkoholkrankheit (Alkoholismus)
4.7 Organtoxizität Lunge
4.7.1 Anatomie der Atemwege (Lunge)
Bausteine des Atmungssystems
4.7.2 Hauptaufgaben der Lunge
Bestandteile der Luft-Blut-Schranke
4.7.3 Reinigungssysteme der Atemwege und der Lunge
Exposition Atemtrakt/Lunge (Schwebstoffe)
Luftröhre und Bronchien
Alveolarbereich
4.7.4 Schädigung von Lunge und Atemwegen
Toxisches Lungenödem
Chronische Obstruktion (COPD)
Lungenemphysem/COPD
Lungenemphysem (Beschreibung)
Tumoren in Atemwegen
4.7.5 Prüfmethoden Inhalation
Tiermodelle – Inhalation
4.8 Organtoxizität Haut
4.8.1 Anatomie der Haut
Hautschichten und Funktionen
4.8.2 Aufgaben der Haut
Haut – Ausscheidung
4.8.3 Schädigungen der Haut – Arbeitsschutz
Haut – Art und Mechanismen der Schädigung
Starke Säuren und Laugen – Schädigungsmechanismus
4.8.4 Absichtliche Schädigung der Haut
Beispiel – Crystal Meth
Beispiel – Tattoos
4.8.5 Toxizitätsprüfung Haut
Vorbemerkung
Prüfverfahren auf hautschädigende Wirkung
4.9 Organtoxizität der Augen
4.9.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
4.9.2 Auge – Anatomie
4.9.3 Auge – Exposition
4.9.4 Auge – Schädigung – Arbeitsschutz
4.9.5 Toxizitätsprüfung – Auge
Sequenzielles Vorgehen, damit in vivo vermeidbar
4.10 Mutagenität/Genotoxizität
4.10.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
4.10.2 Grundlagen Erbgut/Mutation/Mutagenität
Erbgut – DNA – Chromosomen
DNA – Chemische Struktur
Genetischer Code
Genom/Gene
Chromosomensatz (Karyogramm) des Menschen
Zellzyklus – DNA-Replikation
Zellteilung – Mitose
Mutationstypen
Mutationen = Sinnveränderung
DNA-Schäden/DNA-Reparatur
Endogene Schädigung der DNA
Exogene Schädigung der DNA
Mutagenität/DNA-Reparatur
Zusammenfassung DNA-Schädigung
Genetische Toxikologie
DNA-Schaden – Mutationen – Keimzellen – Erbkrankheiten
DNA-Schaden – Mutation
DNA-Schaden – Mutationen – somatische Zellen (Körperzellen)
4.10.3 Prüfung auf mutagene/genotoxische Wirkung
Die Prüfung auf genetische Schädigungen ist deshalb aus zwei Gründen wichtig
DNA-Schaden – Genetische Endpunkte
Testbatterie Mutagenitätsprüfung
Mutagenitätsprüfungen
Testung Testbatterie
Ames-Test – Genmutation in Bakterien
Ames-Test – Prinzip
Stärken und Schwächen des Ames-Tests
Ames-Test – Prädiktion (Vorhersage)
Chromosomenanalyse
Mikronucleustest – Prinzip
Beispiele für Mutagene
4.11 Karzinogenese/Karzinogenität
4.11.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
4.11.2 Grundlagen Karzinogenität (Tumor, Krebs)
Stufen einer Tumorentwicklung
1. Stufe Initiation (mutagene Wirkung, Genotoxizität)
2. Stufe Promotion (selektive Wachstumsstimulation der initiierten Zellen)
3. Stufe Progression (Entartung)
Kanzerogenes Potenzial
Tumor – Definition –Nomenklatur
4.11.3 Definition Tumor
Charakteristika von malignen Tumorzellen, die sie von normalen somatischen Zellen unterscheiden
Nomenklatur gutartig (benigne)/bösartig (maligne)
4.11.4 Prüfung auf karzinogene Wirkung
4.11.5 Kanzerogene Stoffe
Krebs und Ernährung
Krebs und Ethanol
Krebs und Tabakrauchen
Tabakrauchinhaltsstoffe – Kanzerogenität
Lungenkrebs
4.12 Reproduktionstoxikologie
4.12.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
4.12.2 Grundlagen Reproduktion
4.12.3 Drei Segmente der Reproduktionstoxikologie
Segment I – Fruchtbarkeit (Fertilität)
Angriffsebenen männlicher Fertilität
Angriffsebenen weiblicher Fertilität
4.12.4 Segment II – Embryonal- und Fetalentwicklung
4.12.5 Teratogenität Mensch
Kongenitale Fehlbildungen in Prozent der Geburten
Ursachen kongenitaler Fehlbildungen
4.12.6 Vier Beispiele für embryofetale Toxizität
Beispiel 1: Thalidomid (Contergan)
Missbildungen und Letalität
Beispiel 2: Diethylstilbestrol (DES)
Toxische Wirkungen in Nachkommen
Beispiel 3: Ethanol (EtOH)
Schädigungen der Nachkommen
Beispiel 4: Kokain
4.12.7 Erwiesene Humanteratogene
Spezifische Teratogene
Unspezifische Teratogene
4.12.8 Segment III – Pränatale und postnatale Entwicklung
Entwicklung vor und nach Geburt (pränatale und postnatale Entwicklung)
Funktionelle Schäden
4.12.9 Reproduktionstoxikologische Prüfung – Studienendpunkte
Symptome abnormer Entwicklung
4.13 Immuntoxikologie – Toxische Wirkungen auf Komponenten des Immunsystems
4.13.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
4.13.2 Grundlagen Immunsystem
Organisation des Immunsystems
Angeborenes, unspezifisches Immunsystem
Erworbenes, spezifisches Immunsystem
Organe des Immunsystems
Zelluläre Bestandteile des Immunsystems
4.13.3 Primäre Immunantwort
Verlauf einer primären Immunantwort/Immunreaktion
4.13.4 Sekundäre Immunantwort/Immunreaktion
4.13.5 Haut – Sensibilisierende Wirkung (allergisierend)
4.13.6 Immuntoxizität
4.13.7 Prüfung auf immuntoxikologische Wirkung (Immuntoxikologie)
Standardprüfmethode – hautsensibilisierende Wirkung
4.14 Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin
4.14.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
Vorbemerkung
Grundlagen Gewerbetoxikologie
Was ist Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin?
4.14.2 Gewerbetoxikologie und Arbeitsmedizin
Arbeitsmedizin
Toxizität, Gefährdung, Risiko und Exposition
Wichtige Parameter der Exposition
4.14.3 Arbeitsschutz/Verhütungsmaßnahmen/Kennzeichnung
Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG)
ArbSchG § 4
4.14.4 Kennzeichnung CLP und GHS
Gefährdungsbeurteilungskennzeichnung in EU (CLP) und UN (GHS)
4.14.5 Toleranzgrenzen/Grenzwerte
Verhütung von akuten Schäden und chronischen Erkrankungen
Grenzwerte (Gefahrstoffrecht – Arbeitsplatz)
Begriffe aus Deutschland
Internationaler Begriff – ADI-Wert: acceptable daily intake (duldbare tägliche Aufnahmemenge)
Beispiel TCDD (z. B. Müllverbrennung)
Akzeptabler humaner Expositionswert?
4.14.6 Schädigung Atemwege, Lunge, Haut und Augen
Expositionen am Arbeitsplatz durch luftgetragene Schadstoffe
Aerosole – Definition
Exposition Atemtrakt/Lunge durch Schwebstoffe
Sekundäre Partikel (Stäube) – Chemische Prozesse der Entstehung
Aerodynamischer Durchmesser (MMAD)
Partikelbelastung – Atemwege
Kaskadenimpaktor (Partikelmessgerät)
Wirkungsrelevante Partikeleigenschaften
Kanzerogenität natürlicher und künstlicher Mineralfasern
Organe und ihre Schädigung werden in eigenen Kapiteln dargestellt
4.15 Ökotoxikologie
4.15.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
4.15.2 Grundlagen Ökotoxikologie
4.15.3 Umweltschutz, Ökosystemschutz, Naturschutz
4.15.4 Fragestellung der Ökotoxikologie
4.15.5 Eintragswege in das Ökosystem
Unbeabsichtigter Eintrag in Umwelt
Beabsichtigter Eintrag in Umwelt
4.15.6 Allgemeine Prinzipien der Ökotoxikologie
4.15.7 Schäden durch Ökotoxizität
4.15.8 Konzentrations-Wirkungs-Beziehungen
4.15.9 Ökotoxikologische Wirkung – Analogie zur Toxikologie
4.15.10 Ökotoxikologie – Eine Herausforderung
Photolyse
Hydrolyse
4.15.11 Ökotoxikologische Untersuchungsmethoden und Testsysteme
Übersicht ökotoxikologische Untersuchungsmethoden
Prüfung auf leichte biologische Abbaubarkeit
Entscheidungskriterien bei Prüfungen zur Abbaubarkeit
Leichte biologische Abbaubarkeit (OECD 301)
Manometrischer Test
Geschlossener Flaschentest (closed bottle test)
Prüforganismen
Verteilung in Umwelt
n-Octanol-Wasser-Verteilungskoeffizient (log KOW)
Aquatische Toxizitätsprüfungen – Testorganismen
Expositionssysteme
Begleitanalytik
Alternativmethoden der aquatischen Toxizität
Terrestrische Toxizitätsprüfungen
4.15.12 Konsequenzen ökotoxikologischer Prüfungen
Chemikaliengesetz
Einstufung und Kennzeichnung (GHS-System)
Klassifizierung Umweltgefährdung
Umweltrisikoabschätzung und -beurteilung
5 Mustervorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)
5.1 Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)
5.1.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
5.1.2 Vorbemerkung
5.1.3 Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD)
Grundregeln im Rechtsstaat
Rechtssystem Grundgesetz BRD
Staats- und Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland
Deutsches Grundgesetz – Föderale Struktur (Art. 70–75)
Bundesgesetzliche Regelungen/Bundesaufgaben
Bundesaufgabe – Gleichwertige Lebensverhältnisse
Konkurrierende Gesetzgebung (Aufgaben des Bundes + Bundesländer)
Kulturhoheit der Länder
Aufgabe der Bundesländer im Bereich der Gesundheit
Gesetzgebungsverfahren (Bund) in der Bundesrepublik Deutschland
Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD)
Gesetzliche Regelwerke der Bundesrepublik Deutschland (BRD)
Gremien, Bundesinstitute und Berufsgenossenschaften (chemische Stoffe)
Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) – Technisches Regelwerk
Technische Regeln für Gefahrstoffe (TRGS)
5.1.4 Bundesinstitute – Bundesoberbehörden
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA)
Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR)
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL)
Umweltbundesamt (UBA)
MAK-Kommission
5.1.5 Berufsgenossenschaften – Organisation – Funktion
Berufsgenossenschaften – Aufgaben
Berufsgenossenschaften – Vorschriften
Berufsgenossenschaft – Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI)
BG-Vorschriften und -Regeln
5.1.6 Rechtsordnung der Europäischen Union (EU)
Ziele und Errungenschaften der Europäischen Gemeinschaft
Vertrag über die Europäische Union
5.1.7 Europäische Union – EU-Recht
Gesetzgebungsverfahren EU
EU-Rechtsakte – Übersicht
EU-Verordnungen und Richtlinien (Chemie, Kosmetik, Pharma)
5.1.8 Deutsche Gesetze für chemische Substanzen – EU-Rechtsakte
Rechtliche Regelungen zum Gebrauch, zur Zulassung und zum Umgang mit chemischen Substanzen
Was haben diese deutschen Gesetze und Verordnungen mit der EU zu tun?
Deutsche gesetzliche Regelung – Verordnungen und TRGS
EU vs. nationale gesetzliche Regelungen
5.2 Gefährdungs- und Risikobeurteilung
5.2.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
5.2.2 Grundlagen
Gefahr vs. Gefährdung
Gefährdungsbeispiele
Gefahrenabwehr
5.2.3 Warum strenge Rechtsvorschriften/strenge Regeln?
Wo kann man Regeln für Gefährdungsbeurteilung nachlesen?
5.2.4 Gefährdungsbeurteilung – Bedeutung
Gesichtspunkte – Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung
Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung
5.2.5 Von Informationsermittlung bis Arbeitsschutz
Informationsquellen – Vorhandene Stoffe (Altstoffe)
Informationsquellen, Gefährdungsbeurteilung – Neue Stoffe
5.2.6 Regulatorische Toxikologie
Aufnahmewege von Gefahrstoffen am Arbeitsplatz
Verabreichungsformen von Gefahrstoffen in toxikologischer Prüfung
Toxikologische Standardprüfmethoden (in vivo)
Regulatorische, klassische Toxikologieprüfungen (Tiermodelle), sortiert nach Prüf-/Behandlungsdauer
Toxizitätsprüfung – Wiederholte Verabreichung
Primäre Ziele
Toxizität bei wiederholter Verabreichung – Dosis-Wirkungs-Kurven
Spezielle Toxizitätsprüfungen
5.2.7 Risikomanagement Arbeitsplatzgrenzwert (AGW)
Risiken am Arbeitsplatz (bzgl. Gesundheitsschädigung)
Risikomanagement – Begriffsabgrenzungen
5.2.8 Der wichtigste Grenzwert am Arbeitsplatz ist der Arbeitsplatzgrenzwert (AGW)
Wie ist der Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) zu beschreiben?
Von regulatorischer Toxizitätsprüfung zum Arbeitsplatzgrenzwert (AGW)
5.2.9 Unfallversicherung – Berufskrankheiten
Sozialgesetzbuch
Sozialgesetzbuch (SGB) – zwölf Bücher
Sozialgesetzbuch VII (SGB VII) (BMJV, 2020d)
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) (BMJV, 2020a)
Benzo[a]pyren-Jahre (BaP-Jahre)
Normierungen der Einwirkungszeiten
5.3 Gefahrstoffverordnung (GefStoffV)
5.3.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
5.3.2 Grundlagen Chemikaliengesetz (ChemG)
Gefahrstoff/Gefahrgut
ChemG – § 1 Zweck des Gesetzes
ChemG – § 3 Begriffsbestimmungen
ChemG – Wichtige Regelungen – Auswahl
Verordnungen des ChemG
5.3.3 Gefahrstoffverordnung – Verordnung zum Schutz vor gefährlichen Stoffen
5.3.4 Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) – Inhaltsübersicht
Gefahrstoffverordnung (GefStoffV § 1) – Zielsetzung → Gefahrenabwehr
Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) – Anwendungsbereich
Gefahrstoffverordnung umfasst
Tätigkeiten im Sinne der GefStoffV § 2, Abs. 4
§ 3 ChemG – Unter „Verwenden“ wird verstanden
Stoffe gemäß ChemG, § 3, Abs. 3
Gemische/Erzeugnisse – Definition gemäß ChemG, § 3, Abs. 4 bzw. 5
Erzeugnis Beispiel 1 Flüssigkristalle (liquid crystal, LC)
Erzeugnis Beispiel 2 Plastikerzeugnis
Gefahrstoffverordnung (GefStoffV § 1) Anwendungsbereich Biozide
Biozide – Was ist das?
Gefährlichkeitsmerkmale gemäß ChemG § 3a (Gefahrstoffe)
5.3.5 Arbeitsschutz
Das STOP-Prinzip im Arbeitsschutz
Schutzmaßnahmen Grundpflichten des Arbeitgebers (I)
Besondere Schutzmaßnahmen § 10 CMR-Stoffe (Kategorie 1 und 2)
Besondere Schutzmaßnahmen § 11 Brand- und Explosionsgefährdungen
Vermeidung von Brand- und Explosionsgefährdungen
Expositionsmessung am Arbeitsplatz
Grundlage der Gefährdungsbeurteilung und Wirkungskontrolle
Typische Gefährdungen im Labor TRGS 526 „Laboratorien“, Kap. 3 – Auswahl
TRGS 526 – Laboratorien
TRGS 526 – Besondere Bedingungen in Forschungslabors
TRGS 526 – Lagerung von Gefahrstoffen – Laborspezifische Regelungen
Arbeitsschutz an Schulen und Hochschulen
Tätigkeiten mit CMR-Stoffen (§ 14[3] GefStoffV)
Arbeitsschutz – Sorgfältiges Arbeiten „Vermutungswirkung“
5.3.6 Unterrichtung und Unterweisung § 14 GefStoffV
Unterrichtung und Unterweisung § 14 GefStoffV/TRGS 555
Unterrichtung und Unterweisung § 14 GefStoffV – Betriebsanweisung
Betriebsanweisung – Verantwortung
5.4 Sicherheitsdatenblatt (SDB)
5.4.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
5.4.2 Grundlagen Sicherheitsdatenblatt (SDB)
EU-REACH-Verordnung und SDB
Zweck des Sicherheitsdatenblattes (SDB; material safety data sheet, MSDS)
SDB-Sprache/Inhalt
5.4.3 SDB-Inhalt (16 Abschnitte)
5.4.4 Erstellung des Sicherheitsdatenblatts
5.5 Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV)
5.5.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
5.5.2 Grundlagen der Chemikalien-Verbotsverordnung
Gliederung der Chemikalien-Verbotsverordnung
5.5.3 Verbote – ChemVerbotsV
Ausnahmen, d. h. Verbot gilt nicht für
Die Verbote gelten auch nicht für
Verbote gelten auch nicht für § 5
ChemVerbotsV – § 6 Erlaubnis- und § 7 Anzeigepflicht
ChemVerbotsV – § 9 Identitätsfeststellung und Dokumentation bei Abgabe an Dritte
Abgabebuch – § 9 Identitätsfeststellung und Dokumentation
Identitätsfeststellung immer erforderlich bei Abgabe von Stoffen, die zur Herstellung von Sprengstoffen verwendet werden können
ChemVerbotsV – § 10 Versand Selbstbedienungsverbot für Stoffe und Gemische in Anlage 2
5.5.4 § 11 Sachkunde
§ 11 Sachkunde – Prüfung
ChemVerbotsV – Pflichten der Inverkehrbringenden
ChemVerbotsV – § 12 Ordnungswidrigkeiten
ChemVerbotsV – § 13 Straftaten
5.6 Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS
5.6.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
5.6.2 Grundlagen Einstufung/Kennzeichnung
Grundsätze
5.6.3 Neue EU-Regelung – CLP-System
GHS – Weltweite Ziele
CLP – EU-weite Ziele
Wichtige Gründe für GHS/CLP
GHS/CLP-System
EU-Verordnung – CLP – seit 1. Juni 2015 allein gültig
CLP-Verordnung – (EG) Nr. 1272/2008 Kernpunkte
CLP-Kennzeichnung – Welche Stoffe?
CLP-Piktogramme in der EU
CLP-Einstufung (EU)
28 CLP-Gefahrenklassen
Gefahrenkategorien
CLP-System – Gefahrenklasse akute Toxizität (oral)
CLP-Signalworte
EU-CLP-System – Gefahrenklasse akute Toxizität (oral)
Akut toxische Stoffe – Beispiele (oral, verschlucken)
CLP-Gefahrenklasse – Ätz-/Reizwirkung auf die Haut (1)
Saure/alkalische Reserve (Pufferkapazität)
Hautreizung – Einmaliger bzw. mehrmaliger Kontakt
Ätzende und reizende Stoffe – Einstufung und Kennzeichnung entsprechend Konzentration Beispiel Salpetersäure
CLP-Gefahrenklasse – Schwere Augenschädigung/Augenreizung
Sensibilisierung – Allergie
CLP-Gefahrenklasse – Sensibilisierung Atemwege/Haut – Allergie
Atemwegsallergien
Hautallergien
CLP-Einstufung von CMR-Stoffen
MAK-Einstufung von CMR-Stoffen
CLP-Gefahrenklasse – Krebserzeugende Stoffe
Krebserzeugende Stoffe (1/2) – Beispiele Kategorie 1 (CLP)
CLP-Gefahrenklasse – Erbgutverändernde Stoffe
Erbgutverändernder Stoffe – Beispiele
Einstufung fortpflanzungsgefährdender Stoffe
Fortpflanzungsgefährdende Stoffe – Beispiele
Schwangerschaftsgruppen der MAK-Kommission
Brand- und Explosionsgefahr
Randbedingungen
Physikalisch-chemische Gefährdungsfaktoren – Sicherheitstechnische Kenngrößen
Zoneneinteilung explosionsgefährdeter Bereiche – Betriebssicherheitsverordnung
Flammpunkt – Charakterisierung der Entzündlichkeit von Flüssigkeiten
CLP-Gefahrenklasse – Entzündbare Flüssigkeiten
CLP-Gefahrenklasse – Entzündend wirkende Stoffe
CLP-Gefahrenklasse – Explosive Stoffe/Gemische und Erzeugnisse
CLP-Gefahrenklasse – Akut und chronisch gewässergefährdend
Identifikation von Stoffen in EU
IUCLID-6-Software
IUCLID-6-Software (Information)
5.6.4 Risikobewertung/Grenzwerte
Risikobewertung in der Gesellschaft: intuitiv (individuell, gruppenweise, kollektiv)
Beispiele für individuelle/gesellschaftliche Risikobewertungen
Risikobewertung – Wissenschaft/Politik
5.6.5 Grenzwerte/Arbeitsplatzgrenzwerte
Grenzwerte – Konflikte Ermessensspielräume
Beurteilungswerte – u. a. Grenzwerte
Grenzwerte – Schwellenwerte
Risikomanagement
5.6.6 Grenzwerte für Gefahrstoffe am Arbeitsplatz
Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) – Definition
Beurteilung von Gefahrstoffkonzentrationen in Atemluft an Arbeitsplätzen
Expositionsgrenzwert DNEL (derived no-effect level)
Maximale Arbeitsplatzkonzentration (MAK-Wert) – Definition
Biologischer Grenzwert (BGW) – Definition
Biologischer Arbeitsstofftoleranzwert (BAT) – Biologische Leitwerte (BLW) – Definition
Grenzwerte am Arbeitsplatz
Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) – Hochschulpraktikum
Arbeitsplatzgrenzwerte (AGWs) – CMR-Stoffe (1/4)
EU-Grenzwerte am Arbeitsplatz
EU-Arbeitsplatzgrenzwerte
Grenzwerte am Arbeitsplatz – EU-Luftgrenzwerte (OELs)
Grenzwerte am Arbeitsplatz – IOELVs (indicative occupational exposure limit values)
Grenzwerte am Arbeitsplatz – BOELVs (binding occupational exposure limit values)
Arbeitsplatzgrenzwerte – Rechtsverbindlichkeit
GESTIS – Internationale Grenzwertedatenbank
Risikokonzept für krebserzeugende Stoffe
Akzeptanz- und Toleranzkonzentration (BekGS 910)
Risikokonzept
CM-Stoffe – ERBs (Expositions-Risiko-Beziehungen)
5.7 Europäische Chemikalienverordnung REACH
5.7.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
5.7.2 Grundlagen REACH
REACH – Ziele
5.7.3 REACH – Registrierung
REACH – Datenanforderungen
REACH-Registrierung – Datenanforderungen
5.7.4 REACH – Bewertung (Evaluierung)
5.7.5 REACH – Zulassung (Autorisierung) – Beschränkung
5.7.6 REACH-Verfahren (Übersicht)
5.8 Stäube – Feinstäube, Nanopartikel
5.8.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
5.8.2 Respirationstrakt Grundlagen
Atmungssystem/Atemwege (Respirationstrakt)
Reinigung des Atemtraktes
Abscheideverhalten der Staubfraktionen (Deposition)
5.8.3 Primare und sekundäre Partikel (Stäube)
Stäube/Inhalation – Begriffe – Definitionen
Sekundäre Partikel (Stäube) – Chemische Prozesse der Entstehung
Feinstaub, Schwebstaub oder particulate matter (PM)
5.8.4 Aerodynamischer Durchmesser
5.8.5 Feinstaub – E-Staub und A-Staub
Einatembare und alveoläre Staubfraktion
Partikelabscheidung im Respirationstrakt bei einem Abscheidegrad > 50 %
Einatembare und alveoläre Staubfraktion
Feinstaub – Arbeitswelt
Feinstaub – Gefährdung
Nanopartikel – Risiko
Feinstaub – Arbeitswelt
Staub am Arbeitsplatz
Richtlinie 2008/50/EG – Luftqualität TRGS 900
Spezielle Grenzwerte am Arbeitsplatz
5.8.6 Faserstäube/Asbest
Fasern – Krebserzeugende Wirkung
Krebserzeugende Wirkung von Fasern (Faustregel)
Asbest
Asbest – TRGS 517 – Geltungsbereich
Allgemeiner Staubgrenzwert (ASGW) (TRGS 900)
Gesundheitsschädigung durch Stäube in Atemluft
Raucherlunge – COPD
5.9 Einstufung von Gemischen (Zubereitungen)
5.9.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
5.9.2 Kennzeichnung von Gemischen
UFI-Code (unique formula identifier)
5.9.3 Gemische vs. Einzelsubstanzen – Toxizität
Toxikokinetik
Toxizität – Additive Wirkung – Synergistische Wirkung – Potenzierung – Antagonistische Wirkung
Additive Eigenschaften
Nichtadditive Eigenschaften
5.9.4 Gemischrechner
GisChem – BG RCI
BG RCI – Gemischberechnung
Ergebnis des Gemischrechners
5.10 Tierversuche/Tierschutzgesetz
5.10.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung
5.10.2 Grundlagen
Tierversuche im Sinne des Gesetzes sind
Grundfrage – Kann mit Tierversuchen für Menschen Sicherheit erzeugt werden?
5.10.3 Tierversuche – Durchführung
Wer führt Tierversuche durch oder lässt sie durchführen?
Tierversuche – Staatliche Kontrolle
Wann sind Tierversuche unerlässlich?
Tierversuche sind nicht erlaubt für
5.10.4 Tierschutzgesetz (TSchG)
5.10.5 Genehmigungspflicht/Genehmigungsvorbehalt
5.10.6 Genehmigungsantrag
Fragen der Behörden
Tierschutzbeauftragte(r)
AAALAC Int. Accreditation
5.10.7 Alternativen zu Tierversuch – 3R-Prinzip
3R-Prinzip – refinement, reduction and replacement
5.10.8 Warum immer noch Tierversuche?
Schlussfolgerung bzgl. 3Rs (refinement, reduction und replacement)
Tierversuche – Ziele der Industrie
Beispiel Merck KGaA (weltweiter Pharma- und Chemiekonzern)
Tierversuche – Politik
5.10.9 In vitro Alternativmethoden – 3 Beispiele
HET-CAM (hen’s egg-chorionallantoic membrane test) Augenirritation/-korrosion
BCOP (bovine corneal opacity and permeability) Augenirritation/-korrosion
Fischembryotest - Teratogenitätstest (Embryotoxizität)
5.10.10 Widersprüchlichkeit politischer Entscheidungen in EU
Teil V Zusatzinformation
6 Themen für zusätzliche Seminarveranstaltungen
6.1 Glyphosat – Bewertung der Karzinogenität
6.1.1 Vorbemerkung
6.1.2 Zulassung von Pflanzenschutzmitteln
EU-Zulassung Pflanzenschutzmittel – Zweistufiges Verfahren
EU-Zulassung der Pflanzenschutzmittelwirkstoffe
Zulassungsverfahren Pflanzenschutzmittelprodukte in Deutschland
6.1.3 Glyphosat
Konsequenzen der IARC-Einstufung
ECHA’s Committee for Risk Assessment (RAC)
Schlussfolgerung im Jahr 2017
Vergleich Behörden mit der WHO-Organisation IARC
IARC-Kategorien bezüglich krebserregender Wirkung von Stoffen und Aktivitäten
Zusätzlicher Bewertungsprozess (Karzinogenität) in EU und Deutschland
Deutschland
EU-Zulassung von Glyphosat
Glyphosate Renewal Group (GRG)
Assessment Group on Glyphosate (AGG)
Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA)
Europäische Chemikalienagentur (ECHA)
6.1.4 Glyphosat – Diskussion mit Studierenden
Diskussionsfolie Glyphosat
Wissenschaft bewertet Risiken auf Basis objektiver Datenanalyse
Gesellschaft/Politik bewerten Risiken nicht aufgrund einer Datenlage
Deutsche Bundesregierung
6.2 Tattoo – Toxikologische Bewertung
6.2.1 Grundlagen
Tattoo – Unterschiedliche Typen
Professionelles Tattoo-Stechen mit Tattoo-Gun
Exposition/Applikationsort Lederhaut (Dermis)
Lederhaut (Dermis) – Funktionen (Abb. )
Tätowierung – Drei Schritte
Was ist essenziell, damit Tattoo entsteht?
Makrophagen sorgen für Abschluss der Heilung
Warum bleibt Tattoo stabil?
6.2.2 Tattoo-Tinte – Was ist drin?
Tattoo-Pigmente
Anorganische Tattoo-Pigmente
Organische Tattoo-Pigmente – Top-Produkte
C.I. Pigment Rot 170
C.I. Pigment Orange 13
C.I. Pigment Blue 15
C.I. Pigment Grün 7
Schlussfolgerung
Zusatzstoffe/Formulierungshilfsstoffe
6.2.3 Komplikationen durch intradermale Injektion von Tattoo-Pigmenten
Welche Tattoo-Komplikationen sind berichtet?
Tattoos – Virusinfektion
Tattoos – Mikrobielle Infektionen
Mykobakterien
Dermatologische Komplikationen
Systemische Komplikationen – Migration von Pigmenten
6.2.4 Prinzipielle Tattoo-Probleme
Tattoo – Datendefizit
6.2.5 Tattoo-Entfernung mit Laser
Tattoo-Entfernung Laser – Problem
Tattoo-Entfernung – Vergleich mit Tattoo-Stechen
6.2.6 Zusammenfassung
Tattoo-Komplikationen – Hitliste
Botschaft eines Toxikologen
Literatur
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Toxikologie und Rechtskunde: Kompetenzfördernde Wissensvermittlung der Gefahrstoffkunde
 366266660X, 9783662666609, 9783662666616

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Peter-Jürgen Kramer

Toxikologie und Rechtskunde Kompetenzfördernde Wissensvermittlung der Gefahrstoffkunde

Toxikologie und Rechtskunde

Peter-Jürgen Kramer

Toxikologie und Rechtskunde Kompetenzfördernde Wissensvermittlung der Gefahrstoffkunde

Peter-Jürgen Kramer Fachbereich 7 (Chemie) Technische Universität Darmstadt Alarich-Weiss-Str. 4 64287 Darmstadt, Deutschland

ISBN 978-3-662-66660-9 ISBN 978-3-662-66661-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66661-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Charlotte Hollingworth Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Von chemischen Stoffen können Gefahren ausgehen. Das Unterrichtsfach der Gefahrstoffkunde (Kombination aus Toxikologie und Rechtskunde) vermittelt das Wissen, das erforderlich ist, mit dieser Art der Gefahr kompetent umzugehen. Es ist ein komplexer Prozess, Gefahren, die von chemischen Stoffen ausgehen, zu erkennen, objektiv zu beschreiben und zu verstehen und diese Erkenntnisse gesellschaftlich und rechtlich korrekt einzuordnen, um so die notwendigen Maßnahmen der Gefahrenvermeidung und Gefahrenabwehr festlegen zu können. An diesem Prozess sind die unterschiedlichsten Wissenschaften und Institutionen beteiligt. Wie eine angemessene Gefahrenvermeidung und Gefahrenabwehr auf diesem Gebiet funktioniert und wie die unterschiedlichsten Verantwortlichkeiten verteilt sind, müssen vor allem die wissen, die täglich mit chemischen Stoffen umgehen, ja sogar neue Stoffe entwickeln. Das sind vor allem Chemikerinnen und Chemiker. Die Gefahrstoffkunde wird deshalb bereits im Rahmen des Bachelorstudiums Chemie und Biochemie gelehrt und sollte so vermittelt werden, dass bereits während des Studiums, aber auch danach im Berufsleben kompetente Entscheidungen getroffen werden können, um unnötige Risiken zu vermeiden. Da aber auch andere Berufsgruppen in den Ingenieur- und Naturwissenschaften mit Gefahrstoffen kompetent umgehen müssen, ist das Gebiet der Gefahrstoffkunde nicht auf das Chemiestudium beschränkt. Nach über 40 Jahren verantwortlicher Arbeit in der chemisch-pharmazeutischen Industrie und fast 20 Jahren in der Lehre an Hochschulen im In- und Ausland auf dem Gebiet der Toxikologie und Gefahrstoffkunde entstand der Gedanke, die gemachten Erfahrungen und die Schlussfolgerungen in einer Habilitationsschrift zusammenzufassen und festzuhalten. Dieses Buch basiert im Wesentlichen auf dieser Habilitationsschrift, die im Herbst 2021 zum erfolgreichen Abschluss der Habilitation im Fach Toxikologie und Gefahrstoffkunde an der Technischen Universität Darmstadt (Fachbereich Chemie) geführt hat. Beim Entstehen des vorliegenden Buches erhielt ich vielfältige Unterstützung. Das Manuskript wurde unter unterschiedlichen fachlichen Sichtweisen und in unterschiedlichem Umfang von den Universitätskollegen Harald Kolmar, Markus Prechtl, Michael Schwarz und Holger Barth durchgesehen. Thomas Broschard und Andreas Gado von Merck in Darmstadt bin ich für ihre Beiträge sehr dankbar, ohne Maria Hebeisen vom Atelier Löwentor hätte ich die Abbildungen V

VI

Vorwort

niemals fachgerecht erstellen können und ohne die Hilfe von Timo Guter von der Bibliothek der Hochschule Neu-Ulm wäre mir die buchgerechte Formatierung des Textes sehr schwergefallen. Bettina Saglio und Désirée Claus vom Springer Verlag bin ich dankbar für die reibungslose Zusammenarbeit und meiner Frau Gisela bin ich dankbar für die Geduld, die sie für mich aufbringt. Ich hoffe, dass sich das Buch als nützlich erweisen wird und dazu beiträgt, Interesse zu wecken und eine gewisse Begeisterung für die Gefahrstoffkunde zu erzeugen. Darmstadt im Februar 2023

Peter-Jürgen Kramer

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Einführung 1 Was soll mit diesem Buch erreicht werden?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1 Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.2 Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Kompetenzfördernde Wissensvermittlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.4 Umgang der Menschen mit Gefahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.5 Optimierung der Lehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.6 Vorschriften und Regeln zur Gefahrenvermeidung und Gefahrenabwehr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.7 Gefahrstoffkunde, eine Kombination aus Toxikologie und Rechtskunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.8 Didaktische Struktur der einzelnen Vorlesungsveranstaltungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.9 Didaktische Relevanz von Transferwissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.10 Gefahrstoffkunde – eine interdisziplinäre Aufgabe. . . . . . . . . . . . . 9 Teil II  Grundlagen 2 Grundlagen der Gefahrstoffkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1 Gefahr, was ist das?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1.1 Wortfamilie „Gefahr“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1.2 Lebensgefahr – Beispiel Sauerstoffparadoxon. . . . . . . . . 14 2.2 Wahrnehmung und Einschätzung von Gefahren/Erfahrungen. . . . . 14 2.2.1 Klassische fünf Sinne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.2.2 Wahrnehmungsdefizit – Beispiel Corona-Pandemie. . . . 15 2.3 Blick in die Philosophie – Rolle individueller Erfahrungen . . . . . . 16 2.3.1 Rationalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.3.2 Empirismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.3.3 Anwendbarkeit der philosophischen Erkenntnisse von Stephen Law. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.4 Latenzprobleme beim Erkennen von Gefahrenlagen. . . . . . . . . . . . 17 2.4.1 Latenzbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.4.2 Regulatorische Konsequenz der Latenzzeiten. . . . . . . . . 18 VII

Inhaltsverzeichnis

VIII

2.5 2.6

Vermeidung, Minimierung und Abwehr von Gefahren. . . . . . . . . . 18 Notwendigkeit von Regeln (Gesetze, Verordnungen, Richtlinien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.6.1 Regeln zur erfolgreichen Bewältigung von Schadensereignissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.6.2 Regelwidriges Verhalten – Ursache und Wirkung. . . . . . 20 2.7 Qualitätssicherungs- und Compliance-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.8 Gefahrstoffkunde als Unterrichtsfach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.8.1 Toxikologie – Basis der Gefahrstoffkunde. . . . . . . . . . . . 22 2.8.2 Toxikologie – Regulatorische Toxikologie . . . . . . . . . . . 23 2.8.3 Toxikologie – Naturwissenschaft oder Medizindisziplin?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.8.4 Basis der Gefährdungsermittlung – Netzwerk Toxikologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.8.5 Arbeitsgebiete der Toxikologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.9 Gesunderhaltung der Bevölkerung, ein Grundrecht . . . . . . . . . . . . 30 2.9.1 Bedeutung dieses Grundrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.9.2 Anwendung auf Gefahrstoffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.9.3 Arbeitswelt und Gesundheitsschutz – Woher kommen wir?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.10 Gefahrstoffregelungen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.10.1 Arbeitssicherheitsgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.10.2 Betriebsverfassungsgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.10.3 Arbeitsschutzregelungen – Seveso-Katastrophe als Auslöser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.10.4 Offenkundige Defizite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.10.5 Störfallverordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.11 Gefahrstoffregelungen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.11.1 Arbeits- und Bevölkerungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.11.2 Gesetzgebungsverfahren DDR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.11.3 DDR – Gesetz der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.11.4 Arbeitsgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.11.5 Rolle der UdSSR15. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.11.6 Konkurrenzsituation mit der BRD. . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.11.7 Ökonomische Grenzen der Umsetzung. . . . . . . . . . . . . . 39 2.11.8 Schadensereignisse mit politischen Konsequenzen. . . . . 39 2.12 Gefahrstoffregelungen im wiedervereinigten Deutschland. . . . . . . 40 2.12.1 Rechtliche Konsequenz des Beitritts der DDR zur BRD. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.12.2 Einfluss des europäischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.12.3 Deutsches Chemikaliengesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.12.4 Gefahrstoffverordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.12.5 Arbeitsschutzgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Inhaltsverzeichnis

IX

2.13 Umgang mit Gefahrstoffen im chemischen Labor. . . . . . . . . . . . . . 42 2.13.1 Gefahrenabwehr im chemischen Labor. . . . . . . . . . . . . . 42 2.13.2 Konsequenzen für die Chemieausbildung. . . . . . . . . . . . 43 2.13.3 Komplexe Verhältnisse bei der Beurteilung einer Gefährdung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.14 Gefahrstoffe – Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.14.1 Gefahrstoffe im Berufsalltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.14.2 Wissenschaft vs. Gesellschaft – Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.14.3 Aspekt der Ethik im Kontext der Nichtbeachtung von gesetzlichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.14.4 Freiwillige Verpflichtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.14.5 Notwendigkeit juristisch unumstrittener Regeln. . . . . . . 48 2.14.6 Juristischer Schutz der Verantwortlichen. . . . . . . . . . . . . 48 2.15 Gefahrstoffkunde – Kompetenzfördernde Wissensvermittlung. . . . 49 2.15.1 Gefahrstoffkunde – Wissensvermittlung an Hochschulen (Universitäten). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.15.2 Grundsätzliche Aufgabe der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2.15.3 Ziel der kompetenzfördernden Wissensvermittlung . . . . 49 2.16 Gefahrstoffkunde – Sachkundenachweis, § 11 ChemikalienVerbotsverordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.16.1 Rechtliche Anforderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.16.2 Inhaltliche Anforderung – Sachkundeprüfung. . . . . . . . . 50 2.17 Weitergehende Qualifizierung – Hauptberufliche ­Gefährdungsermittler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.17.1 Facharzt- bzw. Fachtierarzt(in) für Pharmakologie und Toxikologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.17.2 Master Toxikologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.17.3 Fachtoxikologe/in GT bzw. EUROTOX Registered Toxicologist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Teil III  Didaktik 3 Vermittlung von Wissen und Kompetenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.1 Professionalität und Kompetenzen der Lehrenden . . . . . . . . . . . . . 57 3.1.1 Lehre an Hochschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.1.2 Schlüsselkompetenzen der Lehrenden – Professionalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.2 Hochschuldidaktik in den Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.2.1 Verstehen fördern – Verbesserung von Lehr- und Lernprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.2.2 Fachdidaktik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.2.3 Chemiestudium – Kompetenzerwerb – Ziele. . . . . . . . . . 60

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X

3.2.4 3.2.5 3.2.6

3.3 3.4

3.5

3.6

3.7

Allgemeiner fachspezifischer Kompetenzerwerb . . . . . . 61 Überfachliche Kompetenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Kompetenz – Kompetenzstruktur – Kompetenzdimension. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3.2.7 Kompetenz in der Gefahrstoffkunde . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.2.8 Abhängigkeit der Kompetenz von Intelligenz. . . . . . . . . 62 3.2.9 Kompetenzstrukturmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.2.10 Kompetenzdimensionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Hochschuldidaktik in der Medizin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.3.1 Kompetenznetz Medizinlehre Bayern – Modell Öchsner/Reiber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Didaktik bzw. Lehr- und Lernforschung aus Sicht der Neurowissenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.4.1 Neurotoxizität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.4.2 Funktionelle Schädigung – Verhaltenstoxikologie. . . . . . 65 Neurowissenschaften – Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.5.1 Gehirnstrukturen – Gedächtnis/Lernen. . . . . . . . . . . . . . 66 3.5.2 Verschaltung verschiedener Gedächtnisse – Lernfähigkeit – Neugier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.5.3 Neugier vs. Angst vor Neuem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.5.4 Denkfaules Gehirn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.5.5 Kritische Phasen der Gehirnreifung – Stille Synapsen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.5.6 Gehirnstrukturen – Gefahreneinschätzung. . . . . . . . . . . . 70 3.5.7 Neurowissenschaften – Konsequenzen für die Lehre (Gefahrstoffkundevorlesung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Rolle von Emotionalität und Neugier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.6.1 Inquiry-based learning (IBL) (forschendes Lernen) – inquiry-based science education (IBSE). . . . . . . . . . . . . 72 3.6.2 Angst vs. Gefahrenbewusstsein und Gefahreneinschätzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.6.3 Angst ist kein guter Ratgeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.6.4 Verharmlosung als Gefahr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.6.5 Einfluss des Lebensalters. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.6.6 Gegenpositionen zur Sicht der Neurowissenschaften . . . 75 3.6.7 Sichtweise des Autors zum Thema Neurowissenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Weltaktionsprogramm – UN-Agenda 2030 – BNE – Hochschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.7.1 UN-Agenda 2030. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.7.2 Weltbevölkerung – Quantitative Probleme . . . . . . . . . . . 79 3.7.3 Weltaktionsprogramm der UNESCO – BNE/ESD . . . . . 80 3.7.4 GES (Globale Entwicklung in der Schule) . . . . . . . . . . . 80

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3.8

3.9

3.10

3.11 3.12 3.13

XI

Grundsätzliche Überlegungen zur Gefahrstoffkunde als Unterrichtsfach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.8.1 Sachkundeprüfung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.8.2 Gefahrstoffkunde – Hilfe in Berufs- und Privatleben . . . 83 3.8.3 Gefahrstoffkunde Schule – Didaktik/Methodik/Ziele. . . 83 3.8.4 DGUV – Naturwissenschaftlicher Unterricht an Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.8.5 Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler. . . . . . . . 84 3.8.6 Warum Kennzeichnung von chemischen Stoffen?. . . . . . 85 3.8.7 Ersatz kritischer Stoffe – Suche nach Alternativen. . . . . 85 3.8.8 Verhaltensprävention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.8.9 Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Zukunft der Gefahrstoffkunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.9.1 European Green Deal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.9.2 Anforderungen bei Sicherheitsbetrachtung neuer Substanzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Nutzung von Digitaltechnologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.10.1 Grundsätzliche Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.10.2 Stand der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.10.3 DiKoLAN (Digitale Kompetenzen für das Lehramt in den Naturwissenschaften) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.10.4 Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.10.5 E-Learning – Fernstudium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.10.6 Gefahrstoffkundevorlesungen – EvaExam – Scan-Klausuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.10.7 LMS-Moodle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.10.8 Digitalpakt für die Lehre [07/2020]. . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.10.9 Flipped Classroom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.10.10 Vorlesungs-App Pingo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.10.11 Verzicht auf Investitionen in digitale Werkzeuge. . . . . . . 94 Best Practice in Vorlesungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.11.1 Dual Career Netzwerk Deutschland (DCND). . . . . . . . . 94 3.11.2 Zehn Best-Practice-Grundregeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Motivation durch Stipendien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.12.1 Beispiel Deutschlandstipendium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Nationale und internationale Vernetzung der Lehrenden. . . . . . . . . 98 3.13.1 Vernetzung von Bildungseinrichtungen mit Industrie und Behörden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.13.2 Attraktivität deutscher Hochschulen für ausländische Absolventen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.13.3 Erasmus-Programm der EU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

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XII

3.13.4

Start-up-Unternehmen – Finanzierung der Hochschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.13.5 Finanzierungsquelle Weiterbildungsmarkt. . . . . . . . . . . . 100 3.14 Praktische Umsetzung fachdidaktischer Erkenntnisse. . . . . . . . . . . 100 3.14.1 Basiswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.14.2 Aufbauwissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.14.3 Transferwissen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.14.4 Regeln der Rhetorik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.14.5 Lernorte außerhalb des Hochschulcampus . . . . . . . . . . . 104 3.14.6 Prüfungs- bzw. Klausurvorbereitung – Hinweise für Studierende. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.15 Ziele der Gefahrstoffvorlesungen I (Toxikologie) und II (Rechtskunde). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.15.1 Kompetenzorientierte Wissensvermittlung . . . . . . . . . . . 105 3.15.2 Qualifikationsziele und Kompetenzen. . . . . . . . . . . . . . . 107 3.16 GFK-Vorlesungsveranstaltungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.16.1 Umsetzung in der Vorlesungspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.16.2 Abbildungen (visuelle Unterstützung). . . . . . . . . . . . . . . 109 3.16.3 Vorschlag für die Kursbeschreibung in der Vorlesungsankündigung (Vorlesungsverzeichnis). . . . . . 110 Teil IV  Mustervorlesungen 4 Mustervorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie). . . . . . . . . . . . . . 115 4.1 Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I). . . . . . . . . . . . 115 4.1.1 Ziele der Gefahrstoffvorlesungen I und II. . . . . . . . . . . . 115 4.1.2 Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.1.3 Gefahr – Gefährdung – Gefahrstoff. . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.1.4 Toxikologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.1.5 Toxizität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.1.6 Regulatorische Toxikologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4.1.7 Qualitätssicherung – Gute Laborpraxis (GLP) . . . . . . . . 135 4.1.8 Toxikologie – Toxikologische Epidemiologie. . . . . . . . . 136 4.1.9 Gefahrstoffrecht – EU-Regelungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.1.10 Beispiele biogener, geogener und anthropogener Schadstoffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4.1.11 Absichtliche Intoxikationen (Vergiftungen) der Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.2 Toxikokinetik und Fremdstoffmetabolismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4.2.1 Kernfragen der Toxikokinetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.2.2 Bioverfügbarkeit/Halbwertszeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 4.2.3 ADME (Aufnahme, Verteilung, Metabolismus, Ausscheidung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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4.3

XIII

Zielorgantoxizität – Zielorgane. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.3.1 Leber, Niere, Nervensystem und Lunge. . . . . . . . . . . . . . 161 4.3.2 Als Zielorgantoxizitäten werden in der CLPVerordnung (EU-Kommission, 2008) neun Zielorgane genannt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.4 Organtoxizität Leber (Hepar). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4.4.1 Aufgaben der Leber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 4.4.2 Leberschädigung – Hepatotoxizität. . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.4.3 Hepatotoxische Schadstoffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4.5 Organtoxizität Niere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.5.1 Anatomie/Architektur der Niere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4.5.2 Aufgaben der Nieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4.5.3 Nierenschädigung (Nephrotoxizität, Nephropathie) . . . . 184 4.5.4 Nephrotoxische Schadstoffe im Überblick – Beispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4.6 Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie). . . . . . . . . . . . . . 188 4.6.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 4.6.2 Aufgaben des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 4.6.3 Anatomie Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 4.6.4 Nervenzelle (Neuron) – Struktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 4.6.5 Zentralnervensystem (ZNS)/Gehirn. . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4.6.6 Peripheres Nervensystem (PNS). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 4.6.7 Schädigung Nervensystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4.6.8 Neurotoxische Schadstoffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 4.7 Organtoxizität Lunge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 4.7.1 Anatomie der Atemwege (Lunge). . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 4.7.2 Hauptaufgaben der Lunge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 4.7.3 Reinigungssysteme der Atemwege und der Lunge . . . . . 215 4.7.4 Schädigung von Lunge und Atemwegen. . . . . . . . . . . . . 218 4.7.5 Prüfmethoden Inhalation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 4.8 Organtoxizität Haut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 4.8.1 Anatomie der Haut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 4.8.2 Aufgaben der Haut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4.8.3 Schädigungen der Haut – Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . 226 4.8.4 Absichtliche Schädigung der Haut. . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 4.8.5 Toxizitätsprüfung Haut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4.9 Organtoxizität der Augen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.9.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.9.2 Auge – Anatomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.9.3 Auge – Exposition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.9.4 Auge – Schädigung – Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4.9.5 Toxizitätsprüfung – Auge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 4.10 Mutagenität/Genotoxizität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 4.10.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

XIV

Inhaltsverzeichnis

4.10.2 Grundlagen Erbgut/Mutation/Mutagenität. . . . . . . . . . . . 233 4.10.3 Prüfung auf mutagene/genotoxische Wirkung. . . . . . . . . 253 4.11 Karzinogenese/Karzinogenität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4.11.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4.11.2 Grundlagen Karzinogenität (Tumor, Krebs) . . . . . . . . . . 259 4.11.3 Definition Tumor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 4.11.4 Prüfung auf karzinogene Wirkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4.11.5 Kanzerogene Stoffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4.12 Reproduktionstoxikologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4.12.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4.12.2 Grundlagen Reproduktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4.12.3 Drei Segmente der Reproduktionstoxikologie. . . . . . . . . 274 4.12.4 Segment II – Embryonal- und Fetalentwicklung. . . . . . . 278 4.12.5 Teratogenität Mensch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 4.12.6 Vier Beispiele für embryofetale Toxizität . . . . . . . . . . . . 284 4.12.7 Erwiesene Humanteratogene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 4.12.8 Segment III – Pränatale und postnatale Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 4.12.9 Reproduktionstoxikologische Prüfung – Studienendpunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 4.13 Immuntoxikologie – Toxische Wirkungen auf Komponenten des Immunsystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 4.13.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 4.13.2 Grundlagen Immunsystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 4.13.3 Primäre Immunantwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 4.13.4 Sekundäre Immunantwort/Immunreaktion . . . . . . . . . . . 295 4.13.5 Haut – Sensibilisierende Wirkung (allergisierend) . . . . . 295 4.13.6 Immuntoxizität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 4.13.7 Prüfung auf immuntoxikologische Wirkung (Immuntoxikologie). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 4.14 Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 4.14.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 4.14.2 Gewerbetoxikologie und Arbeitsmedizin. . . . . . . . . . . . . 299 4.14.3 Arbeitsschutz/Verhütungsmaßnahmen/ Kennzeichnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 4.14.4 Kennzeichnung CLP und GHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 4.14.5 Toleranzgrenzen/Grenzwerte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 4.14.6 Schädigung Atemwege, Lunge, Haut und Augen . . . . . . 305 4.15 Ökotoxikologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 4.15.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 4.15.2 Grundlagen Ökotoxikologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 4.15.3 Umweltschutz, Ökosystemschutz, Naturschutz. . . . . . . . 308 4.15.4 Fragestellung der Ökotoxikologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 4.15.5 Eintragswege in das Ökosystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 4.15.6 Allgemeine Prinzipien der Ökotoxikologie. . . . . . . . . . . 311

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XV

4.15.7 Schäden durch Ökotoxizität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 4.15.8 Konzentrations-Wirkungs-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . 312 4.15.9 Ökotoxikologische Wirkung – Analogie zur Toxikologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 4.15.10 Ökotoxikologie – Eine Herausforderung. . . . . . . . . . . . . 313 4.15.11 Ökotoxikologische Untersuchungsmethoden und Testsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 4.15.12 Konsequenzen ökotoxikologischer Prüfungen. . . . . . . . . 321 5 Mustervorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde) . . . . . . . . . . . 325 5.1 Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II) . . . . . . . . . . 325 5.1.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 5.1.2 Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 5.1.3 Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 5.1.4 Bundesinstitute – Bundesoberbehörden. . . . . . . . . . . . . . 333 5.1.5 Berufsgenossenschaften – Organisation – Funktion . . . . 336 5.1.6 Rechtsordnung der Europäischen Union (EU). . . . . . . . . 338 5.1.7 Europäische Union – EU-Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 5.1.8 Deutsche Gesetze für chemische Substanzen – EU-Rechtsakte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 5.2 Gefährdungs- und Risikobeurteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 5.2.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 5.2.2 Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 5.2.3 Warum strenge Rechtsvorschriften/strenge Regeln?. . . . 348 5.2.4 Gefährdungsbeurteilung – Bedeutung. . . . . . . . . . . . . . . 349 5.2.5 Von Informationsermittlung bis Arbeitsschutz . . . . . . . . 351 5.2.6 Regulatorische Toxikologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 5.2.7 Risikomanagement Arbeitsplatzgrenzwert (AGW). . . . . 356 5.2.8 Der wichtigste Grenzwert am Arbeitsplatz ist der Arbeitsplatzgrenzwert (AGW 14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 5.2.9 Unfallversicherung – Berufskrankheiten. . . . . . . . . . . . . 359 5.3 Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 5.3.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 5.3.2 Grundlagen Chemikaliengesetz (ChemG). . . . . . . . . . . . 363 5.3.3 Gefahrstoffverordnung – Verordnung zum Schutz vor gefährlichen Stoffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 5.3.4 Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) – Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 5.3.5 Arbeitsschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 5.3.6 Unterrichtung und Unterweisung § 14 GefStoffV. . . . . . 378 5.4 Sicherheitsdatenblatt (SDB). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 5.4.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 5.4.2 Grundlagen Sicherheitsdatenblatt (SDB). . . . . . . . . . . . . 380 5.4.3 SDB-Inhalt (16 Abschnitte). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 5.4.4 Erstellung des Sicherheitsdatenblatts. . . . . . . . . . . . . . . . 383

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XVI

5.5

Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV). . . . . . . . . . . . . 384 5.5.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 5.5.2 Grundlagen der Chemikalien-Verbotsverordnung. . . . . . 384 5.5.3 Verbote – ChemVerbotsV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 5.5.4 § 11 Sachkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 5.6 Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 5.6.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 5.6.2 Grundlagen Einstufung/Kennzeichnung . . . . . . . . . . . . . 394 5.6.3 Neue EU-Regelung – CLP-System. . . . . . . . . . . . . . . . . 395 5.6.4 Risikobewertung/Grenzwerte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 5.6.5 Grenzwerte/Arbeitsplatzgrenzwerte. . . . . . . . . . . . . . . . . 424 5.6.6 Grenzwerte für Gefahrstoffe am Arbeitsplatz . . . . . . . . . 425 5.7 Europäische Chemikalienverordnung REACH. . . . . . . . . . . . . . . . 437 5.7.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 5.7.2 Grundlagen REACH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 5.7.3 REACH – Registrierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 5.7.4 REACH – Bewertung (Evaluierung). . . . . . . . . . . . . . . . 440 5.7.5 REACH – Zulassung (Autorisierung) – Beschränkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 5.7.6 REACH-Verfahren (Übersicht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 5.8 Stäube – Feinstäube, Nanopartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 5.8.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 5.8.2 Respirationstrakt Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 5.8.3 Primare und sekundäre Partikel (Stäube). . . . . . . . . . . . . 445 5.8.4 Aerodynamischer Durchmesser. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 5.8.5 Feinstaub – E-Staub und A-Staub . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 5.8.6 Faserstäube/Asbest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 5.9 Einstufung von Gemischen (Zubereitungen). . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 5.9.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 5.9.2 Kennzeichnung von Gemischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 5.9.3 Gemische vs. Einzelsubstanzen – Toxizität. . . . . . . . . . . 462 5.9.4 Gemischrechner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 5.10 Tierversuche/Tierschutzgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 5.10.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 5.10.2 Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 5.10.3 Tierversuche – Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 5.10.4 Tierschutzgesetz (TSchG). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 5.10.5 Genehmigungspflicht/Genehmigungsvorbehalt. . . . . . . . 467 5.10.6 Genehmigungsantrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 5.10.7 Alternativen zu Tierversuch – 3R-Prinzip. . . . . . . . . . . . 469 5.10.8 Warum immer noch Tierversuche? . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 5.10.9 In vitro Alternativmethoden – 3 Beispiele. . . . . . . . . . . . 473 5.10.10 Widersprüchlichkeit politischer Entscheidungen in EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474

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Teil V  Zusatzinformation 6 Themen für zusätzliche Seminarveranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 6.1 Glyphosat – Bewertung der Karzinogenität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 6.1.1 Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 6.1.2 Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. . . . . . . . . . . . . . . 478 6.1.3 Glyphosat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 6.1.4 Glyphosat – Diskussion mit Studierenden. . . . . . . . . . . . 484 6.2 Tattoo – Toxikologische Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 6.2.1 Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 6.2.2 Tattoo-Tinte – Was ist drin?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 6.2.3 Komplikationen durch intradermale Injektion von Tattoo-Pigmenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 6.2.4 Prinzipielle Tattoo-Probleme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 6.2.5 Tattoo-Entfernung mit Laser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 6.2.6 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

Über den Autor

Peter-Jürgen Kramer Der renommierte Toxikologe und Universitätsdozent Peter-Jürgen Kramer vermittelt mit diesem Buch einen erkenntnisreichen Einblick in das Studienfach  Gefahrstoffkunde. Ganz nebenbei schafft er auch ein Verständnis für den Umgang mit Gefahren und Risiken und für die Vermittlung von Wissen und Kompetenz. Leitende Funktionen in der Industrie, seine aktive Mitwirkung in nationalen und internationalen Expertengruppen und seine Erfahrung als Hochschullehrer haben ihn geprägt und als Autor für dieses Buch optimal qualifiziert. Damit ist er auf die Wünsche anderer Hochschullehrer eingegangen, die ein solches Buch vermisst haben.

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Abb. 2.1 Abb. 2.2 Abb. 3.1 Abb. 3.2 Abb. 4.1 Abb. 4.2 Abb. 4.3 Abb. 4.4 Abb. 4.5 Abb. 4.6 Abb. 4.7 Abb. 4.8 Abb. 4.9 Abb. 4.10 Abb. 4.11 Abb. 4.12

Hauptbezugsdisziplinen der Toxikologie (eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Unfallversicherungsgesetz 1884. Quelle: Public Domain (Reichs-Gesetzblatt, 1884). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Modell Öchsner/Reiber – Kompetenzbereiche und Hochschuldidaktik. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Öchsner & Reiber, 2010, S. 118). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Toxikologie – Hybridwissenschaft aus Naturwissenschaft und Medizin. (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Toxikologie – Angewandte Wissenschaft mit zahlreichen Bezugsdisziplinen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Paracelsus. (© Adobestock). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Entstehung einer toxischen Wirkung (1). (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Entstehung einer toxischen Wirkung (2). (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 NOEL (no observed effect level). (Eigene Darstellung). . . . . . . 134 Ziel der Toxikologie, Gesunderhaltung der Menschen, Risikominderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Eisenhut, die giftigste heimische Pflanze. (Quelle: gemeinfrei Gaibi, 2006). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Luftverschmutzung Industrieschornstein. (Quelle: Public Domain (Service, 2013)). . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Dunst (Feinstaub) in der City. (Quelle: Public Domain (Griffin, 2022)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Nyos-See in Kamerun nach der Katastrophe. (Quelle: Public Domain (United States, 1986)). . . . . . . . . . . . . 145 Vulkaneruption. (Quelle: Public Domain (rawpixel, 2022)) . . . 145 Bioverfügbarkeit – AUC, Vergleich i.v.-Gabe und p.o.Gabe. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Flexikon, 2020a). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

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Abb. 4.13 Abb. 4.14 Abb. 4.15 Abb. 4.16 Abb. 4.17 Abb. 4.18 Abb. 4.19 Abb. 4.20 Abb. 4.21 Abb. 4.22 Abb. 4.23 Abb. 4.24 Abb. 4.25 Abb. 4.26 Abb. 4.27 Abb. 4.28 Abb. 4.29 Abb. 4.30 Abb. 4.31 Abb. 4.32 Abb. 4.33 Abb. 4.34 Abb. 4.35

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Aufnahme (Zufuhrwege) und Verteilung von Fremdstoffen – Expositionsformen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Mückter & Derendorf, 2019) . . . . . . . . . . . . . 154 Expositions- und Ausscheidungswege. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Leber und benachbarte Organe. (Quelle: Public Domain NCI (Bliss, 2013)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Leberläppchen (Lobuli hepatis) – Mikroskopische Sicht. (Quelle: Public Domain (Open Stax, 2013)) . . . . . . . . . . . . . . . 164 Zelluläre Architektur der Leber. (Quelle: Open Access US NIH National Library of Medicine (Zorn, 2008)). . . . . . . . 166 Sinusoid – Kupffer-Zellen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an (Tsutsui & Nishiguchi, 2014)) . . . . . . . . . . . . 167 Drüsentypen, links exokrin (z. B. Galle), rechts endokrin (Hormone). (Eigene Darstellung in Anlehnung an (Stanka, 2013)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Paracetamol – Metabolismus (NAPQI, N-Acetyl-pbenzochinonimin). (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Lage der Nieren inkl. Harnleiter (Ureter), Harnblase (Vesica urinaria) und Harnröhre (Urethra). (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Niere und Nebenniere. (Quelle: Public Domain National Cancer Institute (Hoofring, 2007)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Nephron schematisch (Nierenkörperchen + Nierenkanälchen). (Quelle: Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Nephron – Physiologie. (Quelle: Public Domain (Radons, 2012)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Melamin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Neuron (Nervenzelle). (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . 190 ZNS-PNS – Nervenleitung, langes Axon. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 ZNS – Neurotransmitter – Synapse. (Eigene Darstellung) . . . . 193 Synapse. (Quelle: Public Domain (NIDA, 2014)). . . . . . . . . . . 193 Reizübertragung. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Synapsenwachstum. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an (Stangl, 2009)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 PNS – Neuron mit Schwann-Zellen. (Eigene Darstellung). . . . 198 Nervensystem (ZNS + PNS). (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . 199 Kokain – Wirkmechanismus. (Quelle: Public Domain (NCBI, 2021)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Neurotoxizität PNS – Lokalisation der Schäden. (Eigene Darstellung in Anlehnung an (Abraham, Acs, & Albu, 2016)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

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Abb. 4.36 Abb. 4.37 Abb. 4.38 Abb. 4.39 Abb. 4.40 Abb. 4.41 Abb. 4.42 Abb. 4.43 Abb. 4.44 Abb. 4.45 Abb. 4.46

Abb. 4.47 Abb. 4.48 Abb. 4.49 Abb. 4.50 Abb. 4.51 Abb. 4.52 Abb. 4.53 Abb. 4.54 Abb. 4.55

XXIII

Reparatur im PNS. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an (Stevens & Lowe, 1992)) . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Quecksilber – Bioakkumulation. (Eigene Darstellung). . . . . . . 205 Gehirn – axiale Magnetresonanzbilder, ohne und mit Alkoholstory. (Quelle: Eigene grafische Darstellung in Anlehnung an Sullivan & Pfefferbaum, 2013). . . . . . . . . . . . . . 209 Respirationstrakt (Atmungssystem, Atemwege). (Quelle: Public Domain (Ladyofhats, Martiny, & Gille, 2008)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Lungenbläschen (Alveole). (Eigene Darstellung in Anlehnung an (Pflege & Medizin, 2020)) . . . . . . . . . . . . . . . 215 Prinzip der Impaktion. (Eigene Darstellung in Anlehnung an LfU, 2000). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Pulmonale Abscheidemechanismen. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Urbanetz, 2020). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Aufbau Bronchialschleimhaut – Flimmerepithel. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Medizinfo, 2020). . . . . . 218 Schädigung von Lunge und Luftwegen – Abhängigkeit von Wasserlöslichkeit. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . 219 Links: Kohlestaubablagerungen in Lungenspitze. Rechts: Mikroskopisch: normales Lungenbläschen. (Eigene Fotos) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Schwarze, netzartige Kohlestaubeinlagerungen aus dem Tabakrauch. Rechts: Mikroskopisch: Abwehrzellen des Körpers, die den Kohlestaub aus den Lungenbläschen entfernen sollen. (Eigene Fotos). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Links: Raucherlunge mit einem Krebsknoten. Rechts: Mikroskopisch: Krebszellen wuchern in den Lungenbläschen und füllen diese aus. (Eigene Fotos) . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Inhalation – Nasenbeatmung („nose-only“). (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Haut – Aufbau. (Quelle: Public Domain US National Institute of Health (NIH, 2010)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Auge – Querschnitt (Mensch). (Quelle: gemeinfrei (de Groot, 2012)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 DNA-Grundstruktur und Basenpaarung. (Quelle: Public Domain (Price Ball, 2020)). . . . . . . . . . . . . . . . 234 Chromosom/Chromatid. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Chemgapedia, 2020). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Karyogramm Mensch (männlich). (Quelle: Public Domain (NHGRI, 2005)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Zellzyklus schematisch. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . 240 DNA-Replikation – Replikationsgabel. (Quelle: Public Domain Ladyofhats, (Ruiz & Biech, 2008)) . . . . . . . . . . . . . . . 241

XXIV

Abb. 4.56 Abb. 4.57 Abb. 4.58 Abb. 4.59 Abb. 4.60 Abb. 4.61 Abb. 4.62 Abb. 4.63 Abb. 4.64 Abb. 4.65 Abb. 4.66 Abb. 4.67 Abb. 4.68 Abb. 4.69 Abb. 4.70 Abb. 4.71 Abb. 4.72 Abb. 4.73 Abb. 4.74 Abb. 4.75 Abb. 4.76 Abb. 4.77 Abb. 4.78 Abb. 4.79 Abb. 4.80

Abbildungsverzeichnis

Mitose (Prinzip). (Quelle: Public Domain (Mysid, 2009)) . . . . 242 Mitose – Metaphase. (Quelle: Public Domain (Ladyofhats, 2009)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Punktmutation (Basenpaarmutation), falscher Einbau der Aminosäure LYS statt GLU. (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . 244 Beispiel für Basenveränderung (Methylierung von Cytosin). (Eigene Darstellung nach Kleine, 2009,  cc-by-sa.3.0). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Excisionsreparatur. (Quelle: Public Domain (LadyofHats, 2011)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Mutationen in Keimzellen. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . 250 DNA-Schaden – Mutationstypen. (Eigene Darstellung) . . . . . . 251 Erbkrankheiten – Lokalisierung auf Chromosomen. (Quelle: Public Domain (Пєткoв, 2017)). . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 DNA-Schaden – Konsequenzen – somatische Zellen. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Ames-Test – Prinzip. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . 255 Metaphasechromosomen Mensch, Mikroskopsicht/sortiert. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Thieme, 2020) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Chromosomenanalyse Chinesischer Hamster (links) und Mensch (rechts). (Eigene Fotos). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Prinzip Mikronucleustest (Mikrokerntest). (Eigene Darstellung in Anlehnung an Yamamoto, 2014). . . . . . 258 Mutation – Tumor. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Drei-Stufen-Modell Karzinogenese. (Eigene Darstellung) . . . . 261 Der Weg vom Primärtumor zur Metastase. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Jarasch, 2020). . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Unterschiedliche Schimmelpilze auf Brot. (Quelle: AdobeStock). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Lunge. (Quelle: Public Domain (Wiki, Lunge, 1901)). . . . . . . . 268 Staublunge (Tabakrauch), makroskopisch/mikroskopisch. (Eigene Fotos) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Lungenkrebs makroskopisch/mikroskopisch, Krebszellen wuchern in Lungenbläschen. (Eigene Fotos). . . . . . . . . . . . . . . 269 Reproduktionszyklus. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . 273 Schnitt durch Hodentubulus, Spermatogenese. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Spermium. (Quelle: Public Domain Ladyofhats (Villarreal, 2007)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Ovar (zelluläre, schematische Darstellung). (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Augenblick der Befruchtung. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . 277

Abbildungsverzeichnis

Abb. 4.81

XXV

Frühe Embryonalentwicklung (Konzeption bis Implantation). (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Edingshaus & Zell, 1988). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Abb. 4.82 Blastula/Blastozyste Aufbau. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . 277 Abb. 4.83 Frühe Embryonalentwicklung (erste Woche), weibl. reproduktives System. (Quelle: Centers for Disease Control and Prevention, Public Domain (Wikimedia, 2020) und eigene Darstellung in Anlehnung an Vobs, 2020) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Abb. 4.84 Weibliche Reproduktionsorgane – Fetus in Uterus. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Lehrmaterial LMU München (Sodian, 2022)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Abb. 4.85 Ratte – Siamesische Zwillinge (Skelettfärbung Alizarinrot). (Eigenes Foto). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Abb. 4.86 Kaninchen – Fusionierte Rippen (Alzarinrot). (Eigenes Foto) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Abb. 4.87 Kaninchen – Asymmetrischer Wirbel im Brustkorb/ Lendenbereich, rudimentäre Rippen. (Quelle: Toxikologie Merck (Gleich, 2004)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Abb. 4.88 Fehlbildung Mensch – Historische Zeichnung. (Quelle: Ulisse Aldrovandi, 1696). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Abb. 4.89 Lippen-/Gaumenspalte. (Quelle: Public Domain (CDCP, 2007)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Abb. 4.90 Kind mit FAS, schematisch. (Quelle: Eigene Darstellung). . . . 286 Abb. 4.91 Reproduktionstoxikologie – Rattenmodell. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Abb. 4.92 Fehlbildungswahrscheinlichkeit – Entwicklungsstadien Mensch. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Krotmeier, 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Abb. 4.93 Expositionsformen. (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Abb. 4.94 Risikoabschätzung – Hohes Risiko bei geringem Gefährdungspotenzial. Ein Smartphone in der Hand ist eigentlich nicht gefährlich. Es wird aber sehr gefährlich, wenn dies beim Fahren eines Autos geschieht. (Eigenes Foto) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Abb. 4.95 Eintragswege. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Abb. 4.96 Ökotoxikologische Konzentrationsbeziehungen. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Abb. 4.97 Abbaukurve idealisiert. (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . 316 Abb. 4.98 Aquatische Prüfsysteme – Testorganismen. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Abb. 4.99 Aquatische Prüfungen. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . 319 Abb. 4.100 Durchflusssystem. (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

XXVI

Abb. 5.1 Abb. 5.2 Abb. 5.3 Abb.  5.4 Abb. 5.5 Abb. 5.6 Abb. 5.7 Abb. 5.8 Abb. 5.9 Abb. 5.10 Abb. 5.11 Abb. 5.12 Abb. 5.13 Abb. 5.14 Abb. 5.15 Abb. 5.16 Abb. 5.17 Abb. 5.18 Abb. 5.19 Abb. 5.20 Abb. 5.21 Abb. 5.22 Abb. 5.23 Abb. 5.24

Abbildungsverzeichnis

EG-Vertrag Nizza. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Chemikalienrecht – EU vs. Deutschland. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Hexachlorophenentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Gefährdungsermittlung + Gefährdungsbeurteilung – Sieben Schritte. Quelle: Eigene Abbildung in Anlehnung an (BGW, 2020). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Dosis-Wirkungs-Kurve/NOAEL. (Eigene Darstellung). . . . . . . 356 Kein Risiko = Sicherheit, aus Sicht des AGW. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Von der Toxizitätsprüfung zu Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Gefahrgutkennzeichnung EU. Oben: Gefahrnummer (Verdoppelung = erhöhte Gefahr). Unten: UNNummer = Substanz-ID. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 GHS/CLP-Gefahrgutkennzeichnung. (Quelle: Public Domain) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Typische Gefährdungen im Labor. (Quelle: Dr. Engel BASF) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Betriebsanweisung Beispiel Acetylen. (Quelle: DGUV öffentliches Formular) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 1921 Oppau Explosionstrichter im Vordergrund, Ammoniumnitrat. (Quelle: Gemeinfreie Abbildung (unbekannt, Popular Mechanics Magazine, 1921)). . . . . . . . . . 391 UN-GHS + EU-CLP. (Quelle: Logos in Public Domain (UN, 2008) (EU-Commission, 2022a)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Unterschiedliche Bewertung eines Stoffes vor GHS und CLP. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Systemänderung – Zeitplan. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . 398 Sensible Phase für Missbildungen: Embryogenese (Organogenese). (Quelle: (Bochum, 2020)). . . . . . . . . . . . . . . . 410 Branddreieck. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Explosion – Dampfdruckkurve. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an BGN, 2016). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Kennzeichnung Aceton. (Eigene Zusammenstellung). . . . . . . . 415 Methanol – kombinierte Kennzeichnung. (Eigene Zusammenstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Kreuzotter (Vipera berus). (Quelle: Public Domain (Hini, 2008)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Risikobewertung Wissenschaft/Politik. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Arbeitsplatzgrenzwert (AGW). (Eigene Darstellung) . . . . . . . . 425 CMR-Risikokonzept – Ampellösung. (Eigene Darstellung) . . . 434

Abbildungsverzeichnis

Abb. 5.25 Abb. 5.26 Abb. 5.27 Abb. 5.28 Abb. 5.29 Abb. 5.30 Abb. 5.31 Abb. 5.32 Abb. 5.33 Abb. 5.34 Abb. 5.35 Abb. 5.36 Abb. 6.1 Abb. 6.2 Abb. 6.3

XXVII

REACH-System, PBT = persistent (P), bioaccumulative (B), toxisch (T), **vPvB = very persistent (vP), very bioaccumulative (vB). (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . 441 Respirationstrakt (Atemwege) inkl. Alveolen (Lungenbläschen). (Quelle: Public Domain (Ladyofhats et al., 2008)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Aufbau Bronchialschleimhaut – Mukoziliärer Transport. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Medizinfo, 2020). . . . . . 444 Pulmonale Abscheidemechanismen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Urbanetz, 2020). . . . . . . . . . . . . . 444 Teilchengrößenverteilung nach DIN EN 481. (Quelle: In Anlehnung an DGUV, 2022). . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Staubemissionen – Quellkategorien. (Eigene Darstellung, Daten Umweltbundesamt (UBA, 2022)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Staubfraktionen – Total deponierbarer Staub. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an C. Möhlmann, BGIA). . . 452 Größenvergleich zwischen Organismen bzw. Partikeln. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Asbest (REM-Aufnahme). (Quelle: Gemeinfrei (USGS, 2006)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Lunge Vergleich gesund vs. erkrankt (Raucherlunge). (Quelle: Public Domain US-National Institute of Health (NIH, 2013)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Gischem-Gemischrechner. (Eigene Darstellung). . . . . . . . . . . . 464 Versuchstier Ratte. (Quelle: Public Domain US-National Cancer Institute (Stephens, 1992)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Haut – Aufbau. (Quelle: Public Domain US National Institute of Health (NIH, 2010)). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Tattoo-Pigmente in menschlichem Lymphknoten. (© Prof. Wolfgang Bäumler, Universität Regensburg (Bäumler, 2022)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Folge von Tattoo: Keloid. (Quelle: © AdobeStock). . . . . . . . . . 494

Tabellenverzeichnis

Tab. 4.1 Tab. 4.2 Tab. 4.3 Tab. 4.4 Tab. 4.5 Tab. 4.6 Tab. 4.7 Tab. 4.8 Tab. 4.9 Tab. 4.10 Tab. 4.11 Tab. 4.12 Tab. 4.13 Tab. 4.14 Tab. 4.15 Tab. 4.16 Tab. 4.17 Tab. 4.18 Tab. 4.19 Tab. 4.20 Tab. 5.1 Tab. 5.2 Tab. 5.3 Tab. 5.4 Tab. 5.5 Tab. 5.6

Studiendesign typische 4-Wochen Studie Ratte. (In Anlehnung an OECD Guideline 407) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Risiken Epidemiologie USA 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Todesfälle/43.654 Verstorbene/Berlin 1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Stoffvergleich – Akute Toxizität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Grenzflächen (Epithelien) (Reichl & Schwenk, 1997). Zahlenwerte sind nur zur Veranschaulichung, müssen von Studierenden nicht gewusst werden!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Durchblutung verschiedener Organe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Phase II – Reaktionen – Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Beispiele neurotoxischer Schadstoffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Epithelien und Zellen im Atemtrakt (Respirationstrakt). . . . . . . . 214 Lungenfibrose vs. Lungenemphysem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Haut – Bestandteile und Funktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Genetischer Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Endogene DNA-Schädigung – Frequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Epithelien (Oberflächen, Grenzflächen) wie z. B. an der Oberfläche der Haut oder der Darmwand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Binde-, Stütz-, Muskel-, Knochengewebe (unter Oberfläche) . . . 264 Hauptunterschiede zwischen gutartigen und bösartigen Tumoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 GHS/CLP System, Gefahrenklasse Akute Toxizität. (Quelle: Gefahrstoffkunde-Vorlesung eigene Zusammenstellung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Wirkung von 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD) auf Ratten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Ökologische Stellung der Prüforganismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Endpunkte der Routinemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 x. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Vier-Wochenstudie Ratte, Studiendesign (Bausteine). . . . . . . . . . 355 Piktogramme (CLP/GHS). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Akute Toxizität, alt gegen neu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Beispiel Salpetersäure. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Todesfälle Deutschland – Schaden (Fallzahlen). . . . . . . . . . . . . . 421 XXIX

XXX

Tab. 5.7 Tab. 5.8 Tab. 5.9 Tab. 5.10 Tab. 5.11 Tab. 5.12 Tab. 5.13

Tabellenverzeichnis

AGWs (Arbeitsplatzgrenzwerte) Ausschnitt aus TRGS 900. . . . . 428 Beispiel AGWs aus TRGS 900 (Gefahr). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Krebsrisiko bei Röntgenuntersuchungen, inkl. CT (einmalige Untersuchung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Akzeptanz- und Toleranzwerte (vorgeschlagene Konzentrationen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Feinstaub – Aerodynamischer Durchmesser. Eigene Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Potenzielles gesundheitliches Risiko. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Piktogramme GHS08, GHS02, GHS09 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461

Teil I

Einführung

1

Was soll mit diesem Buch erreicht werden?

1.1 Ziele Dieses Buch verfolgt drei Hauptziele: 1. Lehrenden soll mit diesem Buch die Vermittlung von Wissen und Kompetenz auf dem Gebiet der Gefahrstoffkunde erleichtert werden. Das Buch schlägt Lehrenden einen Weg vor, wie Lehrveranstaltungen gestaltet werden können, um im Rahmen des Bachelorstudiums der Chemie und Biochemie eine optimierte, kompetenzfördernde Wissensvermittlung für das Fach Gefahrstoffkunde zu gewährleisten. 2. Der Wunsch, durch ein Buch eine derartige Unterstützung zu erhalten, wurde von Hochschullehrern*innen geäußert, die aus eigener Erfahrung wissen, dass mit dem Aufbau einer Gefahrstoffkundevorlesung viel Zeit und Arbeit verbunden ist. Dies ist besonders dann von Bedeutung, wenn die zur Lehre verpflichteten Wissenschaftler*innen auf dem Spezialgebiet der Gefahrstoffkunde selbst keine langjährige Erfahrung besitzen, weil sie ihren Fokus in Forschung und Lehre auf andere Gebiete konzentriert haben. 3. Studierenden soll das grundlegende Wissen vermittelt werden, das ganz formal dem Erreichen des sog. Sachkundenachweises gemäß § 11 der ChemikalienVerbotsverordnung dient. Zusätzlich möchte das Buch zahlreiche Zusammenhänge und Hintergründe erklären und darstellen. Die Studierenden sollen, auch über die Vorlesungsveranstaltungen hinaus, ein echtes Verstehen erreichen, welches gleichzeitig auch ein kritisches Nachdenken (urteilsfähiges Selbstdenken1) über das neu erworbene Wissen ermöglicht

1 Begriff

von Immanuel Kant (1724–1804), Was ist Aufklärung?

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P.-J. Kramer, Toxikologie und Rechtskunde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66661-6_1

3

4

1  Was soll mit diesem Buch erreicht werden?

Da auch weitere Berufsgruppen, z. B. verschiedene Ingenieur- und Naturwissenschaften, häufig Kenntnisse der Gefahrstoffkunde erwerben müssen, ist in diesem Buch auch an Berufsgruppen gedacht, die nicht unmittelbar zu den Studienfächern Chemie und Biochemie gerechnet werden. Die komprimierte Form wurde gewählt, um das Buch zusätzlich auch für Menschen unterschiedlichster nicht-akademischer Ausbildungen interessant zu machen, die in Behörden und der Industrie die Gefährdungen und Risiken von chemischen Substanzen bearbeiten müssen oder in ihrem Berufsleben derartigen Substanzen ausgesetzt sind.

1.2 Ausgangssituation Im ersten Teil des Buches (Kap. 1–3) wird die Ausgangssituation analysiert. Dabei werden die verschiedenen Ansätze wie die Erkenntnisse moderner Didaktik und der Neurowissenschaften sowie die Möglichkeiten neuer digitaler Technologien, aber auch eigene Lehrerfahrungen kritisch betrachtet und es wird die Frage gestellt, wie diese Erkenntnisse zu einer optimierten Lehre der Gefahrstoffkunde beitragen können und wie dies in den Gefahrstoffkundevorlesungen I (Toxikologie) und II (Rechtskunde) im Sinne einer kompetenzfördernden Wissensvermittlung praktisch umgesetzt werden kann. Im zweiten Teil (Kap. 4 und 5) folgen Mustervorlesungen, die die praktische Umsetzung Schritt für Schritt konkret darstellen, die aber auch die Funktion eines Nachschlagewerkes erfüllen können. Im anschließenden Kap. 6 werden beispielhaft zwei Themen dargestellt, die gewinnbringend in begleitenden Toxikologie-/Rechtskundeseminaren behandelt werden könnten.

1.3 Kompetenzfördernde Wissensvermittlung Das Ziel einer kompetenzfördernden Wissensvermittlung ist, dass die Studierenden bereits während ihres Studiums, insbesondere aber für ihre spätere berufliche Tätigkeit, sich nicht nur Wissen aneignen, sondern bewusst dazu befähigt werden, ihr eigenes Tun besser beurteilen zu können und Verantwortung für sich und für ihre späteren Kollegen sowie mögliche Mitarbeiter zu tragen. Durch die so entwickelte Fachkompetenz auf dem Gebiet der Gefahrstoffkunde kann eine effektive Gefahrenvermeidung und Gefahrenabwehr während des Studiums und im späteren beruflichen Leben sichergestellt werden.

1.4 Umgang der Menschen mit Gefahren Das zentrale Bestreben jedes Lebewesens ist das Erkennen und die Abwehr von Gefahren, denn jedes Leben ist ständigen Gefahren ausgesetzt. Der Umgang mit Gefahren ist im echten Sinn des Wortes lebenswichtig, denn Gefahren aller Art können ein Leben beeinträchtigen oder beenden. Erst mit dem Tod endet die Gefährdung.

1.6  Vorschriften und Regeln zur Gefahrenvermeidung und Gefahrenabwehr

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In der Biologie und selbstverständlich auch in den menschlichen Gesellschaften wurden zahllose Strategien entwickelt, die trotz der vielen ständigen Gefahren ein Überleben ermöglichen. Für den Bereich der Gefahren, die von chemischen Stoffen ausgehen, wurden national und international Konzepte, Verfahren und gesetzliche Regelungen entwickelt, die diese Gefahren kontrollierbar machen und auf ein akzeptiertes Maß reduzieren, denn chemische Stoffe können Schäden verursachen, die sich schädigend, z. B. auf die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Belastbarkeit der Menschen, auswirken. In diesem Fall spricht man im wissenschaftlichen Sprachgebrauch von Schadstoffen und im rechtlichen von Gefahrstoffen. Das Unterrichtsfach, das das Wissen um die Gefahrstoffe und den geregelten Umgang mit ihnen vermittelt, wird deshalb als Gefahrstoffkunde bezeichnet.

1.5 Optimierung der Lehre Die Lehre unterliegt einer ständigen Überprüfung durch die Lehrenden, aber auch durch die Lernenden und durch weitere Gruppen wie z. B. die Betriebe und Institutionen, bei denen sich die Absolventen*innen um eine Anstellung bewerben. Ziel ist ihre permanente inhaltliche, aber auch technische Optimierung, um bedarfsgerecht möglichst optimal aufs Berufsleben vorbereitete Absolventen*innen auszubilden. Beispielsweise werden auch eine bessere Vernetzung von Schulen und Hochschulen sowie die Digitalisierung von Bildungseinrichtungen vermehrt diskutiert und als zukunftsträchtige Lösungen gesehen. Dieses Buch geht deshalb am Rande auch auf diese Themen ein.

1.6 Vorschriften und Regeln zur Gefahrenvermeidung und Gefahrenabwehr Vorschriften und Regeln zur Gefahrenvermeidung und Gefahrenabwehr bewirken immer auch eine Einschränkung der menschlichen Freiheiten! Deshalb müssen die festgelegten Maßnahmen ständig bezüglich ihrer Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit überprüft, ausgestaltet und aktualisiert werden. Dies bedeutet, dass bei der kompetenzorientierten Wissensvermittlung auf dem Gebiet der Gefahrstoffe und dem Gefahrstoffrecht den Studierenden die Sinnhaftigkeit bzw. Verhältnismäßigkeit unterschiedlicher Maßnahmen verständlich erklärt werden muss. Nur wenn Sinnhaftigkeit und Verhältnismäßigkeit der Regeln verstanden und akzeptiert sind, werden sie befolgt und anderen vermittelt. Die Gefahrstoffkundevorlesungen müssen dieses Verständnis bei den Studierenden erreichen. Den Studierenden muss aber nicht nur vermittelt werden, wie sie bei der Berufsausübung mit Gefahrstoffen umgehen müssen, sie müssen auch auf ihre Verantwortlichkeiten bezüglich möglicher Konsumenten*innen der chemischen Stoffe und der Umwelt hingewiesen werden.

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1  Was soll mit diesem Buch erreicht werden?

Indem das eigene Tun besser beurteilt werden kann, wird auch die Fähigkeit verbessert, im beruflichen Alltag zukunftsfähige Entscheidungen zu treffen, auch hinsichtlich der eigenen beruflichen Laufbahn.

1.7 Gefahrstoffkunde, eine Kombination aus Toxikologie und Rechtskunde Das Studienfach Gefahrstoffkunde kann vereinfacht als eine Kombination aus Toxikologie (Regulatorische Toxikologie, Klinische Toxikologie, Epidemiologie) und Rechtskunde (Gesetzgebung, Arbeitsschutz, Bevölkerungsschutz) gesehen werden und wird an den meisten Universitäten und Hochschulen auch in dieser Kombination gelehrt. Eine Beschreibung der Toxikologie sowie deren direkter Bezug zu anderen Wissenschaften und der Rechtskunde sowie eine Beschreibung der Entwicklung zum heutigen Arbeits-, Bevölkerungs- und Umweltschutz in der EU und der Bundesrepublik Deutschland dient deshalb als Basis, um in die Thematik der kompetenzfördernden Wissensvermittlung in der Gefahrstoffkunde eintreten zu können. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Gefahrstoffkunde und mit ihr die Toxikologie als Hybridwissenschaften betrachtet werden können, die u. U. besondere Ansätze benötigen. Hybridwissenschaften sind interdisziplinäre Wissenschaften, die Erkenntnisse aus einer Wissenschaft mit Erkenntnissen aus einer oder mehreren anderen Wissenschaften (sog. Bezugsdisziplinen) in Verbindung bringen, um zu einem eigenen Ergebnis zu gelangen. Es ist auch zu berücksichtigen, dass Vorlesungen ohne Praktika und Übungen nur eine begrenzte Wahl von didaktischen und technischen Ansätzen (Digitalisierung) ermöglichen. Zusätzlich müssen Gefahrstoffkundevorlesungen auch den formalen Anforderungen des Sachkundenachweises nach § 11 der Chemikalien-Verbotsverordnung entsprechen.

1.8 Didaktische Struktur der einzelnen Vorlesungsveranstaltungen Als wichtiges Hilfsmittel wird vorgeschlagen, die Inhalte und Botschaften der einzelnen Vorlesungsveranstaltungen zielorientiert und sachlogisch zu strukturieren und die didaktischen Ziele durch drei Begriffe bewusst zu machen. Diese Begriffe sind Basiswissen, Aufbauwissen und Transferwissen. Diese Begriffe sollen den Lehrenden helfen, die Veranstaltungen bewusst nach diesen Punkten zu strukturieren, aufzubauen und die Inhalte bewusst zu sortieren. Den Studierenden müssen sie in den Vorlesungsunterlagen nicht offengelegt werden.

1.9  Didaktische Relevanz von Transferwissen

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1. Basiswissen Das fachinhaltliche, solide Grundwissen zur Erreichung des  Sachkundenachweises (Pflichtlernstoff des Curriculums) wird unter Basiswissen einsortiert. Die Kenntnis dieses soliden Grundwissens würde für die Studierenden zum Bestehen der jeweiligen Abschlussklausur ausreichen, eine gute bis sehr gute Punktezahl wäre allerdings allein mit diesem Wissen nicht zu erreichen. 2. Aufbauwissen Die Zusammenhänge und Informationen, die zum Verständnis von Gefährdungen und Risiken benötigt werden, um so auch Stoffbewertungen, Sicherheitsmaßnahmen, Abläufe im Labor und Betrieb oder ethische Fragestellungen durchdenken zu können, werden mit Aufbauwissen gekennzeichnet. Die zusätzliche Kenntnis dieser Punkte entspricht der angestrebten Gefahrstoffkompetenz und wird zusammen mit dem Grundwissen in den Klausuren zu guten bis sehr guten Ergebnissen führen. 3. Transferwissen Informationen und Zusammenhänge, die zur Verankerung des Basis- und Aufbauwissens im Langzeitgedächtnis dienen (s. u.), aber auch zur Allgemeinbildung von Studierenden gehören, die an einer Hochschule Chemie oder Biochemie studiert haben, werden als Transferwissen eingefügt. Die Einfügung derartiger Zusatzinformationen entspricht auch den Best-PracticeRegeln für Lehrveranstaltungen, die u. a. fordern, dass nicht nur Pflichtlernstoff des Curriculums vermittelt wird, sondern auch Beispiele aus der realen Welt erwähnt und besprochen werden.

1.9 Didaktische Relevanz von Transferwissen Durch das Einfügen von Transferwissen soll erreicht werden, dass das von Studierenden der Chemie und Biochemie vielfach als lästiger Ballast angesehene Fach Gefahrstoffkunde an Interesse gewinnt. Auch die hohe Allgemeinbildungsrelevanz des Faches wird zusätzlich erhöht und weitere Alltagsbezüge speziell für Chemikerinnen und Chemiker werden angeboten. Die Inhalte dieses Transferwissens sind deshalb wichtig, sie sind aber kein Gegenstand der Prüfungen und Klausuren zum Sachkundenachweis. Mit den Inhalten des Transferwissens soll auch die Möglichkeit geschaffen werden, mit den Studierenden in eine direktere Interaktion zu kommen, die auch dazu führen soll, den Lernstoff des jeweiligen Themas greifbar zu machen – greifbar dadurch, dass nach Möglichkeit auch Gefahrstoffe aus dem privaten Lebensumfeld der Studierenden besprochen werden, wie z. B. Tattoo-Pigmente oder Drogen. Dabei muss darauf geachtet werden, problemorientiert (inkl. Problemlösung) vorzugehen und die Studierenden zu aktiver Interaktion und Kooperation zu motivieren, auch um die Gefahrstoffvorlesungen zu einem positiven Erlebnis werden zu lassen. Durch diese Motivationshilfe und durch die „interessanten“ Zusatzinformationen (Transferwissen), die man auch als eine Art Narration bezeichnen

1  Was soll mit diesem Buch erreicht werden?

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könnte, soll auch erreicht werden, dass die entscheidenden Inhalte (Basis- und Aufbauwissen) nicht nur für die Klausuren gepaukt werden (Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis), sondern durch die Verknüpfung mit diesen zusätzlichen Inhalten, die erhöhte Konzentration in der Vorlesung und das spätere Erzählen im Freundeskreis auch im Langzeitgedächtnis verankert werden. Zur Vermittlung von Transferwissen können auch einzelne Videos verwendet werden, die im Internet verfügbar sind. Wenn sie wenige Minuten lang sind, können sie in die Vorlesung eingebaut werden, längere Videos werden zum Heimstudium empfohlen und durch Angabe des Links in den Vorlesungsunterlagen sehr einfach verfügbar gemacht. Ein wichtiges Ziel der Lehre muss sein, bei den Studierenden das Verstehen zu erzeugen. Gleichzeitig muss aber auch die Kritik an diesem neuen, verstandenen Wissen gelehrt werden. Es stellt sich daher die Frage, ob man kritisches Denken (urteilsfähiges Selbstdenken2) lehren kann. In der Gefahrstoffkundevorlesung wird dies über die Inhalte des Aufbauwissens versucht, denn zur Kompetenz gehören sowohl das Verstehen als auch das kritische Denken, was beides selbstverständlich ohne die Kenntnis des Basiswissens nicht möglich ist.

Kernpunkte der didaktischen Ziele dieses Buches

Basiswissen • Pflichtlernstoff des Curriculums – die Kenntnis dieser Inhalte ist zum Bestehen der jeweiligen Abschlussprüfung/-klausur ausreichend Aufbauwissen • Zusammenhänge und Informationen, die zum wirklichen Verständnis von Gefährdungen und Risiken benötigt werden • Erforderlich zum sehr guten und guten  Bestehen der jeweiligen Abschlussprüfung/-klausur Transferwissen • Interessante Zusatzinformationen, Auflockerung des Lernstoffes • Dient der Verankerung des Basis- und Aufbauwissens im Langzeitgedächtnis, aber auch zur Allgemeinbildung von Studierenden der Chemie und Biochemie bzw. der Studierenden anderer Fächer, bei denen die Gefahrstoffkunde auch zum Curriculum gehört • Transferwissen ist zum Bestehen der Prüfungen/Klausuren nicht erforderlich

2 Begriff

von Immanuel Kant (1724–1804), Was ist Aufklärung?

1.10  Gefahrstoffkunde – interdisziplinäre Aufgabe

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Auch wird mit diesem Konzept das Ziel verfolgt, den Studierenden eine motivierende Begeisterung für den Wissens- und Erfahrungszuwachs, den sie in den Gefahrstoffkundevorlesungen erhalten, zu vermitteln. Hierzu werden auch Fotos und andere visuelle Darstellungen verwendet, die außer dem semantischen auch den visuellen Teil des Gedächtnisses ansprechen.

1.10 Gefahrstoffkunde – eine interdisziplinäre Aufgabe Die Gefahrstoffkundevorlesungen I und II machen, was Aufwand und Umfang angeht, nur einen geringen Teil des Chemie- und Biochemiestudiums aus, weshalb auch die grundlegenden Gedanken und Ideen in diesem Buch nur eine begrenzte Auswirkung auf die übrigen Vorlesungsveranstaltungen der naturwissenschaftlichen Fachgebiete (Chemie, Physik u. a.) haben werden. Da aber ganz allgemein immer mehr auch in der Lehre interdisziplinär gedacht und gehandelt werden sollte, werden vermehrt auch fachübergreifende Erkenntnisse genutzt, um die Bildungsaufgabe der Lehre zu optimieren. Dies weist darauf hin, dass auch nationale und internationale Netzwerke (inkl. Kommunikation mit anderen Universitäten) in die Entwicklung der Gefahrstoffkundevorlesungen einbezogen werden sollten.

Teil II

Grundlagen

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Grundlagen der Gefahrstoffkunde

2.1 Gefahr, was ist das? 2.1.1 Wortfamilie „Gefahr“ Die Wortfamilie „Gefahr“ ist eine sehr große Wortfamilie und der Wortstamm „gefahr“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch, aber auch im administrativen und politischen Sprachgebrauch ein sehr häufig benutzter Wortstamm. Zur Verdeutlichung hier einige Substantive, die zu dieser Wortfamilie gehören: Gefahr, Gefährdung, Gefährder, Gefahrenquelle, Gefahrensignal, Gefahrenlage, Gefahrenklasse, Gefahrenabwehr, Ansteckungsgefahr, Einsturzgefahr, Erstickungsgefahr, Vergiftungsgefahr, Abstiegsgefahr, Absturzgefahr, AIDS-Gefahr, Anschlagsgefahr, Ansteckungsgefahr, Aquaplaninggefahr, Blitzgefahr, Brandgefahr, Bruchgefahr, Eigengefahr, Einsturzgefahr, Erkältungsgefahr, Erstickungsgefahr, Erdbebengefahr, Explosionsgefahr, Feuergefahr, Fluchtgefahr, Frostgefahr, Gesundheitsgefahr, Gewittergefahr, Glatteisgefahr, Glättegefahr, Hauptgefahr, Hochwassergefahr, Infektionsgefahr, Inflationsgefahr, Insolvenzgefahr, Krebsgefahr, Kriegsgefahr, Lawinengefahr, Lebensgefahr, Regenbogengefahr, Rückfallgefahr, Rückschlaggefahr, Rutschgefahr, Selbstmordgefahr, Seuchengefahr, Sicherheitsgefahr, Staugefahr, Steinschlaggefahr, Sturzgefahr, Suchtgefahr, Suizidgefahr, Tiergefahr, Terrorgefahr, Terrorismusgefahr, Todesgefahr, Torgefahr, Überflutungsgefahr, Überhitzungsgefahr, Überschwemmungsgefahr, Übertragungsgefahr, Unfallgefahr, Verdunkelungsgefahr (Verdunklungsgefahr), Vereisungsgefahr, Vergiftungsgefahr, Verkehrsgefahr, Verletzungsgefahr, Verwechslungsgefahr, Virengefahr, Waldbrandgefahr, Wiederholungsgefahr, … Warum sind Worte wie Gefahr, Gefährdung, Gefährder, Gefahrenquelle, Gefahrensignal, Gefahrenlage, Gefahrenklasse, Gefahrenwahrnehmung, Gefahrenabwehr so häufig und enorm wichtig in unserem Leben?

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P.-J. Kramer, Toxikologie und Rechtskunde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66661-6_2

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2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

Weil, wie im Kap. 1 (Einführung) bereits angesprochen, ständig Gefahren drohen („Gefahr für Leib und Leben“!). Erst wenn ein Mensch tot ist, drohen ihm keine Gefahren mehr! Man kann auch sagen, dass es zum Wesen des Lebens gehört, gefährdet zu sein. Mit anderen Worten: Leben als solches ist auch durch sich selbst gefährdet.

2.1.2 Lebensgefahr – Beispiel Sauerstoffparadoxon Als überzeugendes biologisches Beispiel für diese ständige und ursächliche Gefährdung kann das sog. Sauerstoffparadoxon (Davies, 2016) dienen. Man könnte auch vom „lebenswichtigen Todesgas“ sprechen, denn ohne Sauerstoff kann ein Mensch nur wenige Minuten überleben, aber gleichzeitig ist Sauerstoff ein wirksames, sogar tödliches Zellgift. Jede einzelne Zelle des menschlichen Organismus benötigt ständig Sauerstoff und trotzdem bedrohen reaktive Sauerstoffspezies, die die Zellen auch selbst herstellen, jede einzelne Zelle des Organismus in jeder Sekunde. Wenn die zelleigene Gefahrenabwehr versagt, wenn das Redoxgleichgewicht in der Zelle gestört ist, kommt es zur Schädigung der Zelle bis hin zum Zelltod. Der Begriff oxidativer Stress1 steht in der Wissenschaft für diese gefährliche Wirkung des Sauerstoffes. Der oxidative Stress spielt eine entscheidende Rolle bei der Pathogenese, z. B. der akuten Pankreatitis, der Tumorbildung, der Arteriosklerose und der diabetischen Angiopathie (Fritz, Schupp, & Younes, 2019), (Davies, 2016). Einer der sog. Väter des oxidativen Stresses, Helmut Sies, formuliert vorsichtig, kommt aber nach einem langen und erfolgreichen Forscherleben zu dem Schluss, dass schwere Erkrankungen (major diseases), inzwischen auch Diabetes, als Redoxkrankheiten (redox diseases) gesehen werden können (Sies, 2015).

2.2 Wahrnehmung und Einschätzung von Gefahren/ Erfahrungen Wie auf der Internetplattform der „Sicherheitsbeauftragten und Sicherheitsingenieure“ (sifa-sibe, 2016) zutreffend formuliert, ist die Gefahrenwahrnehmung bzw. die Gefahreneinschätzung das, was von Menschen individuell bezüglich der Gefährlichkeit einer Aktivität oder einer Situation gedacht wird. Dieses Denken wird vor allem durch das vorhandene Wissen und die gemachten positiven oder negativen Erfahrungen bestimmt, das bedeutet: Unsere Gefahrenwahrnehmung und Gefahreneinschätzung werden wesentlich durch unsere Erfahrungen und durch Lernprozesse bestimmt.

1 oxidative

stress = „An imbalance between oxidants and antioxidants in favor of the oxidants, leading to a disruption of redox signaling and control and/or molecular damage“ (Sies, 2015).

2.2  Wahrnehmung und Einschätzung von Gefahren/Erfahrungen

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2.2.1 Klassische fünf Sinne Um den Menschen die Wahrnehmung von Gefahrenlagen möglich zu machen, stehen ihnen die klassischen fünf Sinne zur Verfügung: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Sehr früh müssen diese Sinne für die zahlreichen Gefahrenlagen des täglichen Lebens kalibriert werden. Es muss gelernt werden, wo Gefahren drohen, wie z. B. die Anzeichen einer bestimmten Gefahr aussehen oder sie sich anfühlen können. Unsere fünf Sinne entscheiden also darüber, ob wir etwas als wahr oder unwahr erkennen (nehmen/annehmen) können. Was wir nicht wahrnehmen können, ist deshalb zunächst unwahr und somit nicht Teil unserer Wahrheit bzw. Wirklichkeit. Die Schwierigkeiten beginnen deshalb dort, wo die Anzeichen, die Signale einer Gefahr mit den genannten fünf Sinnen nicht wahrgenommen werden können. 

Gefahrenwahrnehmung bzw. Gefahreneinschätzung  • mit klassischen fünf Sinnen: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und

Fühlen • Schwierigkeiten dann, wenn Anzeichen/Signale von Gefahrenlagen

mit fünf Sinnen nicht wahrgenommen werden können – Wahrnehmung ist davon abhängig, was Menschen bzgl.

Gefährlichkeit einer Aktivität oder einer Situation denken. – Denken wird durch gemachte positive oder negative Erfahrungen sowie durch vorhandenes Wissen bestimmt. – Gefahrenwahrnehmung und Gefahreneinschätzung werden durch Lernprozesse bestimmt, müssen also gelernt werden.

2.2.2 Wahrnehmungsdefizit – Beispiel Corona-Pandemie Im Frühjahr 2020 wurde sehr deutlich, welche Schwierigkeiten dieses Wahrnehmungsdefizit erzeugen kann. Das Virus SARS-CoV-2 können Menschen mit ihren fünf Sinnen nicht unmittelbar wahrnehmen. Bei einer Inzidenz von 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner*innen begannen zwar bereits die Probleme für die Kliniken und die Gesundheitsämter, weil bei einer weitgehend immunnaiven Bevölkerung mit sehr ernsten Erkrankungen und mit einer exponentiellen Zunahme der Inzidenz gerechnet werden musste. Die allermeisten Menschen waren aber nicht erkrankt und sahen auch keine Kranken und keine Särge in ihrer Umgebung. Also bezweifelten zahlreiche Menschen, später z. B. als „CoronaKritiker“ bezeichnet, dass überhaupt eine gesundheitliche Gefahr bestünde. Die von Behörden, Politik und Medien verbreiteten Darstellungen wurden häufig als unwahr angesehen. Stattdessen fühlten zahlreiche Menschen unmittelbar, dass ihre freiheitlichen Grundrechte in Gefahr waren. Wer die reale Gefahr, die von

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2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

SARS-CoV-2 ausging, deutlich erkennen konnte, waren z. B. Ärzte*innen und Pfleger*innen, die in Kliniken Kranke und Sterbende behandelten, und die Virologen*innen, die durch eine entsprechende Ausbildung ihre Wahrnehmung, bzgl. der Gefährdung durch Viren, trainiert haben. Dies zeigt, dass Erfahrungen bzw. Lernen erforderlich sind, um Gefahrenlagen wahrzunehmen, vor allem die, die nicht offensichtlich sind, die mit unseren fünf Sinnen nicht direkt wahrgenommen werden können. Für Chemikerinnen und Chemiker, die in ihrem Berufsleben mit gefährlichen Stoffen umgehen müssen, deren Gefährdungspotenzial auch nicht direkt wahrgenommen werden kann, ist deshalb die kompetenzfördernde Wissensvermittlung der Gefahrstoffkunde von zentraler Bedeutung.

2.3 Blick in die Philosophie – Rolle individueller Erfahrungen Ein Blick in die Philosophie zeigt an dieser Stelle, wie komplex die Frage „Wie entstehen unser Wissen, unsere Erkenntnis?“ ist (Law, 2007, S. 66–67). Stephen Law beschreibt die beiden gegenläufigen erkenntnistheoretischen Richtungen, den Rationalismus und den Empirismus, die sich damit beschäftigten, wie eine sichere Erkenntnis entsteht.

2.3.1 Rationalismus Der Rationalismus geht davon aus, dass allein das rationale Denken, jenseits von allen sinnlichen Wahrnehmungen, als Erkenntnisquelle zulässig ist. Als Menschen hätten wir, wie Law den Rationalismus beschreibt, eine Form von rationaler Intuition, die es uns ermöglicht, Dinge intellektuell zu erkennen. Diese rationale Intuition arbeitet außerhalb unserer fünf Sinne, weshalb Law sie als „sechsten Sinn“ bezeichnet. Es ist allerdings nicht logisch, im Rahmen des Rationalismus von einem Sinn zu sprechen, denn der Rationalismus lehnt jede Beteiligung der Sinne ab.

2.3.2 Empirismus Dagegen lässt der Empirismus allein die Erfahrung, die Beobachtung oder das Experiment, also nur die sinnlich empirische Wahrnehmung, als Erkenntnisquelle zu.

2.3.3 Anwendbarkeit der philosophischen Erkenntnisse von Stephen Law Aus toxikologischer Sicht beschreiben beide Denkrichtungen in ihrer Absolutheit etwas, das nicht der Wirklichkeit entsprechen kann, weshalb davon auszugehen ist, dass beide Richtungen nur teilweise Recht haben.

2.4  Latenz-Probleme beim Erkennen von Gefahrenlagen

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Die Konzepte der Gefahrstoffkunde, wie z. B. das Konzept der Grenzwerte (siehe Abschn. 4.14.5) oder der Toxizität, in deren Rahmen in der Gefahrstoffkunde gedacht wird, beruhen zwar zu einem großen Teil auf den gemachten und wahrgenommenen Erfahrungen, aber eben auch auf innovativen, rationalen Arbeitshypothesen. Ein hauptberuflicher Gefährdungsermittler (Toxikologe) tendiert dazu, dem Bereich der Empirie viel Raum zuzugestehen, denn das Fach Gefahrstoffkunde ist, wie es Prof. Dietrich Henschler2, Universität Würzburg, in den 1980er Jahren wiederholt sinngemäß in seinen Vorträgen ausdrückte, „kein besonders schwieriges Fach, man benötigt aber mindestens 10 Jahre Erfahrung, um es einigermaßen zu beherrschen“. Dies bedeutet, dass die jeweils gemachten, individuellen Erfahrungen auch dazu führen, dass Gefahreneinschätzungen unterschiedlicher Gefährdungsermittler*innen fast nie identisch sind und zumeist erst durch eine offene Fachdiskussion zu einem allseits anerkannten Endergebnis gebracht werden können. Letzteres kann als der von sinnlichen Wahrnehmungen unabhängige Anteil des rationalen Erkenntnisgewinns gesehen werden.

2.4 Latenzprobleme beim Erkennen von Gefahrenlagen Oft werden Gefahrenlagen nicht rechtzeitig erkannt. Im Fall von Gefahrstoffen liegt dies daran, dass zahlreiche Gefahrstoffe ihre fatale Wirkung erst nach einer gewissen Latenzzeit3 zeigen. Wenn aber die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt wird, kann es für eine wirksame Gefahrenabwehr zu spät sein, z. B. weil die verfügbaren Maßnahmen dann nicht mehr greifen. 

Latenz, Latenzzeit oder Reaktionszeit  • Zeitraum zwischen einem Ereignis und dem Eintreten einer • • • •

sichtbaren Reaktion darauf Zeitraum zwischen Reiz und Reaktion, zwischen Ursache und Wirkung IT-Welt: Zeit zwischen Anfrage und Antwort, sehr kurze Latenz gilt als Echtzeit Medizin: symptomfreie Zeit von einer Infektion bis zum Ausbruch der Erkrankung Toxikologie: symptomfreie Zeit von der Schädigung bis zum Symptom/messbaren Schaden

2  Prof. Dietrich Henschler war Mitglied und von 1969 bis 1992 Vorsitzender der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der DFG (MAK-Kommission). 3 lat.

latere – verborgen sein.

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2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

2.4.1 Latenzbeispiele Ein gutes Toxikologiebeispiel aus dem menschlichen Alltagsleben sind z. B. Pilzvergiftungen oder die Bildung von Tumoren durch Rauchen. Wenn nach ca. 8–12 h Latenz nach einer Pilzmahlzeit Übelkeit, Brechreiz und Durchfälle auftreten, sollte man vorsichtshalber eine Klinik aufsuchen. Eine Pilzvergiftung, z. B. mit dem Knollenblätterpilz (Abschn. 4.1.12), ist heimtückisch, weil die anfänglichen Beschwerden wie Übelkeit bald verschwinden, bevor erst nach einer weiteren Latenzzeit von ungefähr einem Tag eine Gelbsucht sichtbar wird. Dann ist die Leber bereits so geschädigt, dass es für die üblichen lebensrettenden Entgiftungsmaßnahmen schon zu spät ist, sodass nur noch eine Lebertransplantation das Leben retten kann. Noch deutlich länger ist die Latenzzeit für Lungenkrebs, der häufig durch das Rauchen von Zigaretten verursacht wird (Abschn. 4.11.5), denn sie beträgt bis zu 40 Jahre.

2.4.2 Regulatorische Konsequenz der Latenzzeiten Im Bereich der beruflichen Tätigkeiten mit Gefahrstoffen führen Latenzzeiten dazu, dass zum Schutz der Beschäftigten vorgeschrieben ist, dass der Arbeitgeber ein aktualisiertes Verzeichnis der Mitarbeiter*innen führen muss, die mit krebserregenden, mutagenen oder reproduktionstoxikologischen Stoffen arbeiten. Dieses Verzeichnis muss, mit allen Aktualisierungen und Expositionsdaten, bis 40 Jahre nach Ende der Exposition sicher aufbewahrt werden (GefStoffV, 2021, S. 22 §14)!

2.5 Vermeidung, Minimierung und Abwehr von Gefahren Wenn eine Gefahrenlage wahrgenommen wird, ist die natürliche Reaktion die Gefahrenvermeidung oder -minimierung. Es wird versucht zu verhindern, dass das Gefahrenpotenzial wirksam wird. In der Biologie und selbstverständlich auch in den menschlichen Gesellschaften wurden zahllose Strategien entwickelt, die trotz der ständigen Gefahren ein Überleben ermöglichen. Chemische Stoffe können eine Gefahr darstellen, denn sie können Schäden verursachen, die sich z. B. auf die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Belastbarkeit der Menschen auswirken. Die Gesetzgebung (Justiz) spricht dann von gefährlichen Stoffen bzw. Gefahrstoffen (BMJ, 2020; MBJ, 2017). Für die Beherrschung der Gefahren, die von chemischen Stoffen ausgehen, wurden national und international Konzepte und Verfahren entwickelt, die diese Gefahren kontrollierbar machen und auf ein akzeptiertes Maß reduzieren.

2.6  Notwendigkeit von Regeln (Gesetze, Verordnungen, Richtlinien)

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2.6 Notwendigkeit von Regeln (Gesetze, Verordnungen, Richtlinien) Die Erfahrung zeigt, dass im Moment einer akuten Gefahr immer ein hoher Entscheidungs- und Zeitdruck besteht. Es ist deshalb wichtig, dass für diesen Fall zuvor erlernte und eingeübte Abwehrmaßnahmen zur Verfügung stehen. Um die Maßnahmen einüben zu können, müssen sie verbindlich in Regeln, Vorschriften, Verordnungen oder Gesetzen festgelegt sein. Im Chaos des Ernstfalls kennen die Beteiligten ihre Handlungsoptionen, sie wissen was zu tun ist und können vorhersehbare Schäden minimieren. Im Fall von Gefahrstoffen kann es auch sehr wichtig sein, eine Gefahrenlage rechtzeitig richtig einzuschätzen, denn zahlreiche Gefahrstoffe zeigen ihre fatale Wirkung erst nach einer Latenzzeit. Wenn die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt wird, kann es für wirksame Gegenmaßnahmen zu spät sein. Ohne klare Regeln, die eingeübt, akzeptiert und eingehalten werden können, entsteht nach einem Schadensereignis neben dem Entscheidungs- und Zeitdruck immer auch ein hoher Rechtfertigungsdruck bzgl. der getroffenen Maßnahmen, mit möglicherweise dramatischen Folgen für die Verantwortlichen. In der Regel wird gefragt: Wurden die richtigen Maßnahmen getroffen, wurden Fehler gemacht? Klare Vorschriften und Regeln vermeiden den Rechtfertigungsdruck, denn wer gemäß den verbindlichen Vorschriften und Regeln handelt, muss sich nachträglich nicht rechtfertigen und muss zumindest keine juristischen Konsequenzen befürchten.

2.6.1 Regeln zur erfolgreichen Bewältigung von Schadensereignissen Im Fall eines Schadensereignisses müssen Entscheidungen in der Regel sehr schnell getroffen werden. Schadensereignisse haben allerdings zumeist einen sehr hohen Komplexitätsgrad, der einer schnellen Bewältigung entgegensteht. Komplex bedeutet, sehr viele Komponenten, eng miteinander fest vernetzt und zahlreiche gleichzeitig ablaufende Prozesse bzw. Ereignisse. Besonders schwierig ist das Management solch komplexer Ereignisse, wenn die Verantwortlichen nicht auf ein derartiges Ereignis vorbereitet sind, wenn man „nichts weiß“. Um für zukünftig mögliche Schadensereignisse zu lernen, wird deshalb nach Schadensereignissen analysiert, worin genau die Komplexität bestand und welches Vorgehen erfolgreich war und welches nicht, denn erfolgreiches Managen bedeutet, mit Komplexität umgehen können. Die Erkenntnisse aus derartigen Ereignissen werden für die Erarbeitung bzw. Überarbeitung von Regeln verwendet. Generell ist es für komplexe Schadensereignisse sinnvoll, die Zuständigkeiten, die Abläufe, die Maßnahmen und die Kommunikation klar zu regeln, z. B. die Entscheidungskompetenz soweit möglich an den Ort des Geschehens zu verlagern und zu den Personen, die über die jeweilig anerkannt beste fachliche Kompetenz verfügen.

2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

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Zur erfolgreichen Bewältigung von Schadensereignissen dienen also klare Regeln, die nicht nur als Schriftstücke vorhanden sein müssen, sondern ähnlich wie bei der Feuerwehr auch in regelmäßigen Übungen trainiert werden müssen. 

Schadensereignis ohne vorhandene Regeln  • Niemand hat geübt, niemand konnte üben, weil unklar, was zu üben • • • • •

wäre Verantwortliche sind stets „überrascht“, gehen in Deckung, können sich später nicht erinnern Niemand weiß Bescheid, alle warten auf Anordnung von oben, die nicht kommt Wertvolle Zeit geht verloren, Schaden wird unnötig groß Kommunikation unklar, von fachlichen und kommunikativen Qualifikationen abgekoppelt Anschließend: Untersuchung, Ausreden, Rechtfertigungsdruck, juristische Anklagen, Versicherungen verweigern Zahlungen

2.6.2 Regelwidriges Verhalten – Ursache und Wirkung "Sicherheitsbeauftragte und Sicherheitsingenieure" (sifa-sibe, 2016) wissen aus ihrer Berufspraxis, dass auch die individuell, mit fehlenden Rückmeldungen gemachten Erfahrungen zu Sicherheitsproblemen führen können: Wenn beispielsweise nach der korrekten Einhaltung und Befolgung von Regeln und Vorschriften keine positive Erfahrung folgt (z. B. Lob, Belohnung) oder nach der Nichteinhaltung keine negative Erfahrung gemacht wird (z. B. Strafe, Ermahnung), hat dies problematische Auswirkungen auf das individuelle Verhalten. Im ersten Fall sind die Beteiligten frustriert und überlegen, ob sich die Vorsichtsmaßnahmen gelohnt haben. Im zweiten Fall wurde eine Gefahr ignoriert, die Vorsichtsmaßnahmen wurden nicht befolgt, z. B. wenn Studierende ohne persönliche Schutzausrüstung im chemischen Lehrlabor gearbeitet haben. Dies ist aber ohne Folge geblieben, weder kam es zu einem gesundheitlichen Schaden noch erfolgte eine Ermahnung („Strafe“) durch eine Aufsichtsperson. Das Verhalten wird u. U. sogar als Erfolg betrachtet und führt deshalb nicht nur zur Wiederholung und Nachahmung des regelwidrigen Verhaltens, sondern auch zur Unterschätzung der Gefahr.

Einschränkung der persönlichen Freiheiten Regeln zur Gefahrenvermeidung und Gefahrenabwehr bewirken immer auch eine Einschränkung der persönlichen Freiheiten oder sind, wie bei der persönlichen Schutzausrüstung, unbequem. Es kann deshalb sogar sein, dass regelwidriges Verhalten als besonders intelligent und mutig eingeordnet wird, denn man hat eine

2.6  Notwendigkeit von Regeln (Gesetze, Verordnungen, Richtlinien)

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Anordnung nicht befolgt und hat sich die persönliche Freiheit nicht einschränken lassen.

Menschliches Versagen Im Ergebnis führt dies dazu, dass aufgrund der gemachten Erfahrungen oder ausbleibenden Rückmeldungen (inkl. Routine) eine reale Gefahr nicht mehr als solche wahrgenommen wird und erst ein Unfall geschehen muss, um die Gefahr als solche wahrzunehmen. Das Problem: Ein einziger Unfall im chemischen Labor kann fatale Folgen haben, für sich selbst und/oder für anwesende Kollegen*innen. Wenn ein solcher Unfall passiert, kann es für eine kritische Rückmeldung und die daraus folgende notwendige Verhaltensänderung zu spät sein. In den Medien spricht man dann von „menschlichem Versagen“. 

Menschliches Versagen – human factor  • Wenn Regeln im Chemielabor nicht eingehalten werden. • Wenn die Einhaltung der Regeln nicht kontrolliert wird.

• Wenn nichts passiert (kein Schadensfall). • Wenn auf die Nichteinhaltung keine Strafe folgt. Dann sind die Konsequenzen: • Regeln werden für überflüssig gehalten, Gefahr wird angezweifelt. • Regeln werden immer öfter nicht eingehalten. • Persönliche Freiheit wird höher bewertet als persönliche

Schutzausrüstung. • Regelverstoß wird nicht korrigiert/geahndet. • Regelverstoß gilt als mutig und intelligent, wird auch nachgeahmt. • Erzeugt Normalität → Gehirn signalisiert: Aufmerksamkeit nicht

mehr nötig

• Wenn’s dann kracht: „Menschliches Versagen“!

Deshalb ist es wichtig, in den Gefahrstoffkundevorlesungen potenzielle Gefahren nicht nur zu nennen, sondern präzises Wissen und die Kompetenz zur Gefahrenabwehr und Gefahrenminimierung zu vermitteln. Dabei müssen den Studierenden auch die Zusammenhänge zwischen Erfahrungen, Gefahreneinschätzung und Verhalten erklärt werden. Allen Lehrenden muss klar sein, dass regelkonformes Verhalten nicht durch einen kurzfristigen Impuls erreicht wird, sondern die Unterweisung im richtigen Verhalten eine beständige Aufgabe der Lehre ist, um eine Gewohnheitsbildung zu erreichen. Regelwidriges Verhalten im chemischen Praktikum darf keinesfalls geduldet werden, es muss bei aller Verhältnismäßigkeit strikt korrigiert werden. Dabei ist zu beachten, dass sich regelkonformes, richtiges Verhalten deutlich besser durch positive Bestätigungen verfestigen lässt als durch negative Reaktionen.

2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

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Mit dem Ziel, eine hohe Akzeptanz der Regeln bzw. der festgelegten Gefahrenabwehrmaßnahmen zu erreichen, müssen diese ständig bezüglich ihrer Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit überprüft, ausgestaltet, aktualisiert und angepasst werden.

2.7 Qualitätssicherungs- und Compliance-Systeme Weil dies in gleicher Weise auch ein Gebot und ein Problem von Qualitätssicherungs- und Compliance-Systemen darstellt, sei hier auch auf die Praxis dieser Systeme, z. B. des GLP4-Systems (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1186 f.), (OECD, 2020), verwiesen. 

Qualitätssicherungs-(QA-) und Compliance-Systeme 

Gegenargumente • • • •

QA-Systeme benötigen wir nicht, wir wissen was wir tun. Unsere Arbeit ist hochwertig, Qualität machen wir schon sehr lange. QA-Systeme kostet zu viel Zeit und Geld, können wir uns nicht leisten. QA-Systeme nehmen uns die Flexibilität.

In Wahrheit • QA-Systeme ersparen Zeit und Geld. • QA-Systeme erspaent jede Menge Frust und Niederlagen. • QA-Systeme erhöhen die Produktivität auch in der wissenschaftlichen Forschung. • Man muss QA-Systeme allerdings intelligent anwenden und nicht bürokratisch.

2.8 Gefahrstoffkunde als Unterrichtsfach Die Gefahrstoffkunde (dangerous material science) ist das Fachgebiet und das Unterrichtsfach, das Lösungen dafür anbietet und bereithält, wie Gefahren, die von chemischen Stoffen ausgehen, so beherrscht werden, dass Menschen, Tiere und die Umwelt keinen oder nur einen geringen, gesellschaftlich akzeptierten Schaden nehmen können.

2.8.1 Toxikologie – Basis der Gefahrstoffkunde Die Gefahrstoffkunde beinhaltet das Konzept, die Gefährdungsermittlung, die Risikoermittlung, das Risikomanagement und den Gesundheits-, Arbeits-, 4 GLP = gute

Laborpraxis, siehe Abschn. 4.1.9

2.8  Gefahrstoffkunde als Unterrichtsfach

MEDIZIN

CHEMIE BIOCHEMIE

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GESETZGEBUNG

TOXIKOLOGIE

Abb. 2.1  Hauptbezugsdisziplinen der Toxikologie (eigene Darstellung)

Bevölkerungs- und Umweltschutz mit dem Rechtssystem auf einen Nenner zu bringen. Die entscheidenden Daten, die eine Gefährdungs- oder Risikobeurteilung erst möglich machen, entstammen in der Regel der Regulatorischen Toxikologie, der Klinischen Toxikologie (z. B. nach Unfällen) und zusätzlich auch der Toxikologischen Epidemiologie. Die Toxikologie ist deshalb der Teil der Gefahrstoffkunde, auf dem das gesamte System aufbaut (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1178 f.), (Kramer & von Landenberg, 2003). Die zweite Basis der Gefahrstoffkunde ist die Gesetzgebung, die den rechtlichen Umgang mit Gefahrstoffen mit Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien und Vorschriften regelt und deshalb als Rechtskunde bezeichnet wird (Abb. 2.1).

2.8.2 Toxikologie – Regulatorische Toxikologie Die Toxikologie untersucht die gesundheitsgefährdenden Auswirkungen von chemischen Stoffen oder Stoffgemischen auf lebende Organismen, insbesondere auf den Menschen. Die Toxikologie, speziell die Regulatorische Toxikologie (Gundert-Remy & Kramer, 2019), ist eine integrative interdisziplinäre Wissenschaft, die sich als angewandte Wissenschaft neben den eigenen experimentellen, analytischen und theoretischen Werkzeugen, zahlreicher Informationen sehr unterschiedlicher Wissenschaften, sog. Bezugsdisziplinen, bedienen muss (Krüger, Parchmann, & Schecker, 2014, S. 5). Die Bezugsdisziplinen der Regulatorischen Toxikologie sind im Wesentlichen die Medizin (inkl. z. B. Rechtsmedizin, Anatomie, Pharmakologie, Pathologie, Tiermedizin und Epidemiologie/Biometrie), die Chemie (inkl. z. B. Organische Chemie, Anorganische Chemie, Physikalische Chemie, Biochemie), aber auch die Gesetzgebung/Rechtskunde (z.  B. Chemikaliengesetz, Arzneimittelgesetz, Tierschutzgesetz). Man kann erwarten, dass in Zukunft auch Fachgebiete wie die Bioinformatik und vor allem die künstliche Intelligenz (KI) eine wichtige Rolle spielen werden. Neben der experimentellen und theoretischen Toxikologie wird es auch so etwas wie eine Toxikologieinformatik geben.

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2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

Toxikologie – hochgradig integrative Wissenschaft Um eine Gefährdungs- bzw. Risikobeurteilung zu einem chemischen Stoff abgeben zu können, muss die Toxikologie deshalb neben den eigenen toxikologischen Experimenten und dem Rückgriff auf ihr eigenes gesammeltes Wissen (bereits gesammelte Toxizitätsbewertungen), die Daten zahlreicher anderer Wissenschaften in die eigene Arbeit integrieren, um stoffspezifisch zu einer aussagekräftigen Gefährdungsbeurteilung zu kommen. Sobald ein solches Ergebnis vorliegt, muss auch geprüft werden, wie mit diesem Ergebnis umgegangen wird, denn ein ermitteltes Gefährdungspotenzial hat immer rechtliche und gesellschaftliche Konsequenzen! Toxikologie – rechtlicher Rahmen Daraus folgt, die Toxikologie, insbesondere die Regulatorische Toxikologie, prüft Stoffe nicht aus Eigeninteresse oder wissenschaftlicher Neugier, sondern weil es einen rechtlichen Rahmen gibt, der toxikologische Prüfungen fordert (ChemG5 u. a.), um Gefahren abzuwehren, um Sicherheit für Mensch und Umwelt zu erzeugen. In der Europäischen Union hat sich nach vielen Jahren durchgesetzt, dass in allen Mitgliedsstaaten und in den Staaten, die Zugang zum EU-Binnenmarkt haben wollen, chemische Stoffe nach denselben Kriterien registriert, evaluiert, autorisiert und gekennzeichnet werden müssen (REACH6- und CLP7Verordnung) (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1182 f.). REACH und CLP hatten sehr starke Auswirkungen auch auf die Arbeit der Toxikologie-Grundlagenforschung und gaben bereits vor ihrer Einführung Anlass zu großen Hoffnungen bzgl. einer verbesserten Sicherheitsbewertung von chemischen Stoffen, denn allein in den durch REACH und CLP bewirkten riesigen Datenmengen und in der Schließung zahlreicher Datenlücken wurde eine Chance gesehen, weitere innovative Prüfmethoden und Bewertungsprozesse entwickeln zu können (Hengstler, et al., 2006), (Lilienblum, et al., 2008). Die durch die REACHund CLP-Verordnungen geschaffenen und weiterwachsenden, riesigen Datenbestände werden z. B. dazu führen, dass die Verfahren der künstlichen Intelligenz (KI) eine immer größere Rolle spielen werden, um bisher inkonsistente Datenbestände schnell, sinnvoll und effizient auszuwerten. Dies wird auch zu neuen Schlussfolgerungen bei der toxikologischen Bewertung von Stoffen, aber auch zu neuen Ansätzen der experimentellen Prüfmethoden führen.

5 ChemG

ist die amtliche Abkürzung für Chemikaliengesetz (Gesetz zum Schutz vor gefährlichen

Stoffen). 6 REACH

steht für registration, evaluation, authorisation and restriction of chemicals also die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien.

7 CLP

als Akronym steht für classification, labelling and packaging, also die englischen Worte für Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung.

2.8  Gefahrstoffkunde als Unterrichtsfach

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Toxikologie – Grundlagenforschung Das Ziel der Toxikologie-Grundlagenforschung ist, die Sicherheitsprüfungen und -bewertungen noch schneller und aussagekräftiger zu machen und nach Möglichkeit Prüfungen an Tiermodellen durch in vitro8- und in silico9-Methoden zu ersetzen, denn die Hoffnung besteht, dadurch auch eine signifikante Beschleunigung der Stoffprüfungen und eine Einsparung von Ressourcen zu erzielen. Auch das Tierschutzgesetz fordert, Tierversuche auf das unerlässliche Maß zu beschränken (BMJV, 2020e), (Lilienblum, et al., 2008). Das Wunschziel dabei ist, die erreichten Verbesserungen in Richtlinien und Verordnungen festschreiben zu können, denn eine entscheidende Bezugsdisziplin der Toxikologie ist, wie bereits ausgeführt, die Gesetzgebung (Rechtskunde, z. B. Chemikalienrecht, Arzneimittelrecht, Umweltschutz, Arbeitsschutz, Tierschutz).

2.8.3 Toxikologie – Naturwissenschaft oder Medizindisziplin? In Ergänzung zu der im vorherigen Abschnitt angeführten Definition/ Charakterisierung muss die Toxikologie, ähnlich wie die praktische Medizin, als eine Disziplin angesehen werden, die, abweichend von den reinen Naturwissenschaften, sehr häufig bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem noch wenige aussagekräftige Daten vorliegen, gebeten wird, verantwortbare Voraussagen zu treffen.

Medizin – Denk- und Arbeitsweise In der Medizin erwarten Patienten*innen, dass der Arzt oder die Ärztin bereits beim ersten Termin in der Praxis eine Auskunft geben kann, wie die beschriebenen Beschwerden einzuordnen sind, lange bevor Ergebnisse aus Stuhlprobe, Urinprobe, Blutbild, MRT, CT usw. vorliegen können und ausgewertet sind. Dies ist der Fall, weil es im Kern darum geht, schnellstmöglich eine Gefahr „für Leib und Leben“ von Patienten*innen abzuwenden. Das Ziel ist, mit den Beschwerden besser umgehen zu können und möglichst umgehend eine wirksame Behandlung einzuleiten. Oft ist es so möglich, Schlimmeres zu verhüten und sogar das Risiko eines vorzeitigen Todes zu vermindern. Toxikologie – Denk- und Arbeitsweise Entsprechend erwarten beispielsweise forschende Chemiker*innen, die ein neues Arzneimittel oder eine neue Industriechemikalie entwickeln, oder Gesundheitsbehörden, die mit einem Chemieunfall konfrontiert sind, von Toxikologen*innen sehr schnell brauchbare Aussagen zu möglichen Gefährdungen/Risiken, lange bevor auch nur eine einzige toxikologische Prüfung mit den betreffenden Stoffen

8 In

vitro ("im Glas") meint experimentelle Verfahren, die außerhalb eines lebenden Organismus durchgeführt werden, z.B. im Reagenzglas oder in einer Petrischale. 9 In silico ("in Silicium", Basis von Computer-Chips) meint virtuelle Verfahren, die in einem Computer ablaufen.

2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

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durchgeführt werden konnte. Die Gefährlichkeit eines neuen oder bei einem Unfall neu aufgetretenen Stoffes erst später zu erkennen, nachdem dann zuverlässige und aussagekräftige Daten aus toxikologischen Prüfungen vorliegen und ausgewertet wurden, kann sehr teuer und folgenreich werden und kann das Überleben des Betriebes oder von Menschen gefährden. Um die Zeit nicht zu verlieren, in der Gegenmaßnahmen noch wirksam sind, muss auch auf Basis einer noch unvollständigen Datenlage eine Voraussage bzgl. der zu erwarteten toxikologischen Wirkungen des Stoffes getroffen werden.

Toxikologie – Hybridwissenschaft aus Medizin und Naturwissenschaft Deshalb ist in der Toxikologie, abweichend von der naturwissenschaftlichsystematischen Denk- und Arbeitsweise, auch die medizinische Denk- und Arbeitsweise verwurzelt, die häufig nicht auf einen vollständigen Datensatz (z. B. toxikologisches Profil, toxikokinetisches Profil, Expositionsdaten, Daten aus Substanzanalysen, klinische Daten, chemische und physikalisch-chemische Daten) warten kann, um sehr frühzeitig eine maßgebliche Entscheidung (Arbeitshypothese) zu einer erwarteten Gefährdung bzw. einem zu erwartenden Risiko zu treffen und einen Sicherheitsbereich zu definieren (Gundert-Remy & Kramer, 2019). 

Toxikologie – Hybridwissenschaft aus Medizin und Naturwissenschaft  Medizin und Toxikologie

• Um Schaden von Menschen abzuwehren, müssen Medizin und Toxikologie Vorhersagen treffen und Entscheidungen fällen, häufig bereits zu frühem Zeitpunkt ohne vollständigen Datensatz. • Kernaufgabe der Toxikologie ist, zu jedem Stadium der Entwicklung eines chemischen Stoffes Vorhersagen zu seiner möglichen toxikologischen Wirkung am Menschen (oder Umwelt) zu treffen. Naturwissenschaften • Um Schaden zu vermeiden, müssen Naturwissenschaften den vollen Datensatz abwarten, bevor sie Entscheidungen treffen. • Es ist nicht die Kernaufgabe von Naturwissenschaften, Vorhersagen zu treffen.

2.8  Gefahrstoffkunde als Unterrichtsfach

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2.8.4 Basis der Gefährdungsermittlung – Netzwerk Toxikologie Das Thema Gefährdungsermittlung ist also komplex, es beginnt aber immer mit der Toxikologie und der Ökotoxikologie. Diese Wissenschaften sind selbst sehr komplex und spezialisierte Toxikologen*innen und Ökotoxikologen*innen sind auf sehr verschiedenen Feldern und Ebenen aktiv. Entscheidend ist, dass Toxikologie deshalb nur in Netzwerken betrieben werden kann, zu denen die unterschiedlichen Spezialgebiete je nach Fragestellung beitragen. Am Ende müssen die unterschiedlichen Erkenntnisse der Spezialgebiete zu einer gemeinsamen Gefährdungsbeurteilung integriert werden.

2.8.5 Arbeitsgebiete der Toxikologie Die Arbeitsgebiete der spezialisierten Toxikologen*innen und Ökotoxikologen*innen (Gundert-Remy & Kramer, 2019) werden im Allgemeinen, z. B. in ähnlicher Weise auch von der Deutschen Gesellschaft für Toxikologie (GT, 2020), wie folgt unterteilt: 1. Allgemeine Toxikologie Wirkungsweisen von Chemikalien im menschlichen Organismus. Wie und wodurch können chemische Stoffe die Funktionen des Organismus schädigen? Wie führen diese Erkenntnisse zu der Beurteilung einer Gefährdung bzw. eines Risikos? 2. Fremdstoffmetabolismus und Toxikokinetik Eine wichtige Frage, die geklärt werden muss, ist: Was macht der Organismus mit der Substanz? Nimmt er sie auf, wird sie im Organismus verteilt, wird sie verändert und wie wird sie ausgeschieden? 3. Organtoxikologie Für eine fundierte Risikobewertung und ein sinnvolles Risikomanagement ist es entscheidend zu erfahren, ob ein Stoff bestimmte Organe bzw. Gewebe spezifisch schädigt. Die sog. Zielorgane bzw. Zielgewebe, die ein Stoff haben kann, müssen bei der Risikobewertung umfassend berücksichtigt werden. 4. Pathologische Anatomie und Histologie Die meisten Organ- und Gewebeschäden sind makroskopisch nicht zu erkennen. Deshalb müssen die Pathologen und Pathologinnen diverse Methoden anwenden, die es ermöglichen, auch Schädigungen auf der zellulären und subzellulären Ebene zu erkennen. 5. Chemische Mutagenese Durch sehr unterschiedliche molekulare Mechanismen kann das Erbgut (DNA und Chromosomen) verändert werden. Es muss deshalb, um z. B. Erbkrankheiten zu vermeiden oder eine mögliche kanzerogene Wirkung vorherzusagen, das sog. mutagene Potenzial der Stoffe bestimmt werden.

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2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

6. Chemische Kanzerogenese Zahlreiche Substanzen wurden durch umfangreiche und langwierige toxikologische und/oder epidemiologische Studien als krebserregend erkannt. Da zu dem Zeitpunkt, zu dem solche Ergebnisse schließlich vorliegen, bereits zahlreiche Menschen durch eine Exposition gegenüber dieser Substanz irreversibel geschädigt sein können, ist es die Aufgabe der Toxikologie bereits frühzeitig das krebserregende Potenzial einer Substanz zu erkennen. Um nicht auf die Ergebnisse solcher langwierigen und sehr teuren toxikologischen und/ oder epidemiologischen Studien warten zu müssen, werden verschiedene toxikologische Prüfverfahren angewandt, die frühzeitig zumindest ein mögliches kanzerogenes Potenzial feststellen können. 7. Reproduktionstoxikologie Wie das Beispiel Contergan/Thalidomid sehr deutlich bewies, können chemische Substanzen das Auftreten von Fehlbildungen (Teratogenität) stark erhöhen, ohne eine deutliche allgemeintoxische Wirkung zu zeigen. Aber auch die Möglichkeit die Fruchtbarkeit (Fertilität) der Menschen zu schädigen, ist eine unerwünschte Wirkung, die es zu vermeiden gilt. Wichtig ist auch zu wissen, ob eine chemische Substanz die Entwicklung eines Fetus oder eines Neugeborenen beeinträchtigen kann. Dies betrifft sog. funktionelle Störungen wie kognitive Beeinträchtigung, Verhaltensstörungen usw. (Verhaltenstoxikologie, behavioural toxicology) (Fischer, 2019). 8. Fremdstoffallergie und Immuntoxikologie Chemische Substanzen können selbst allergen wirken oder durch die Verbindung mit größeren Molekülen des Organismus zu Allergenen werden. Das allergene Potenzial muss daher bestimmt werden. 9. Klinische Toxikologie (Vergiftungen, Unfälle, Drogen, Arbeitsschutz) Welche Symptome treten bei Vergiftungen (z. B. Unfälle im chemischen Labor oder Produktionsbetrieb) auf, welche therapeutischen Maßnahmen sind hilfreich? 10. Analytische Nachweisverfahren Die bereits über 500 Jahre alte Erkenntnis von Paracelsus lautet: „Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift, allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist“. Jede Substanz kann also ein „Gift“ (Schadstoff) sein! Ob eine Substanz ein „Gift“ ist, hängt von der Dosis ab. Deshalb ist die Bestimmung der kritischen Dosis eine zentrale Aufgabe der Toxikologie und somit auch die Analytik ein wichtiges Teilgebiet. Im Bereich der Forensischen Toxikologie ist die Analytik unverzichtbar, um den Grund toxikologischer Symptomatiken zu ergründen. 11. Experimentelle Toxikologie Experimente am Menschen verbieten sich aus Gründen der Ethik. Entsprechend der jeweiligen Fragestellung kann experimentell mit unterschiedlichen in vitro- und in vivo-Modellen gearbeitet werden. Hierbei spielen die Auswahl der Modelle, das Versuchsdesign und die Biometrie eine wichtige Rolle. Offene Fragen, wie die nach dem Toxikologischen Profil benötigen

2.8  Gefahrstoffkunde als Unterrichtsfach

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hochkomplexe Prüfsysteme (z.B. Tiermodelle), während geschlossene Fragen, wie die nach der einer möglichen Hautreizung auch mit weniger komplexen in vitro Systemen geprüft werden können. Grundsätzlich gilt: Kein Modell ist mit dem Original identisch!Jede an einem Modell gewonnene Erkenntnis kann nützlich oder irreführend sein. Auch aus diesem Grund arbeitet die Experimentelle Toxikologie, abhängig von der jeweiligen Fragestellung, stets mit einer Prüfstrategie die sowohl in vivo-, als auch in vitro- und in silicoPrüfysteme umfassen kann. 12. Versuchstierkunde Wenn Tiermodelle Verwendung finden, muss auf alle Aspekte des Tierschutzes und auf geeignete und validierte Techniken geachtet werden (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1187 f.). Die Frage der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen ist die alles überragende Frage. 13. Zell- und Molekularbiologie/-toxikologie Wenn statt Tiermodellen alternativ in vitro-Methoden (Zellkulturen, Organoidkulturen, Bakterienkulturen usw.) verwendet werden, muss auch bei diesen Modellen bekannt sein, welche Aussagen möglich sind und wo die wichtigsten Fehlerquellen liegen. 14. Toxikologische Epidemiologie Viele toxikologische Erkenntnisse ergaben sich lange bevor geeignete Prüfverfahren entwickelt wurden aus Beobachtungen an Berufsgruppen, aber auch der Allgemeinbevölkerung. Die krebserregende Wirkung (Hautkrebs bei Schornsteinfegern) oder die teratogene Wirkung (Contergan/Thalidomid) sind hierfür typische Beispiele. 15. Arzneimitteltoxikologie und Toxizität illegaler Drogen Drogen aller Art, also legale Arzneimittel und illegale Drogen, haben eine pharmakologische Wirkung. Da aber niemals nur die angestrebte Wirkung allein auftritt, müssen auch kritische Nebenwirkungen erkannt werden, um Menschen darüber aufklären zu können und Schaden so weit als möglich zu verhindern. 16. Lebensmitteltoxikologie Die Frage, ob bestimmte Lebensmittel oder bestimmte Lebensmittelzusätze eine schädigende Wirkung auf den menschlichen Organismus haben können, ist natürlich von hoher Wichtigkeit für die Gesunderhaltung der Bevölkerung. Deshalb fokussieren sich auch in Deutschland große Institute auf diese Fragestellung. 17. Ökotoxikologie Die Frage, ob das Ökosystem, also Lebewesen in Luft, Wasser und Erde, durch eine Substanz oder eine Substanzmischung geschädigt werden kann, ist ein sehr weites Gebiet, das sich von der Abfallbeseitigung, über die Pflanzenschutzmittel der Landwirtschaft bis zu den Abgasen von Industrie und Verkehr erstreckt. 18. Regulatorische Toxikologie/Gewerbetoxikologie/gesetzliche Regelungen (Gesetze, Verordnungen, Richtlinien)

2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

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Die Regulatorische Toxikologie ist eingebunden in viele gesetzliche Regelungen, auch solche, die die Durchführung toxikologischer Prüfungen und die Erstellung toxikologischer Gutachten fordern. Dazu zählen beispielsweise Gesetze wie Chemikaliengesetz (ChemG), Arzneimittelgesetz (AMG), Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz, Verordnungen wie die Gefahrstoffverordnung und die Chemikalien-Verbotsverordnung sowie zahlreiche nationale und internationale Prüfrichtlinien (z. B. EU10, OECD11, ICH12) (BfR, 2022). Die im Punkt 18 genannten Prüfrichtlinien unterliegen einem permanenten Updatingprozess, um gesicherte und validierte Ergebnisse der toxikologischen Grundlagenforschung möglichst umgehend in die Praxis der Sicherheitsprüfung und Sicherheitsbewertung von chemischen Stoffen (Gefahrstoffen) in Industrie und Behörden zu übertragen. Dies trifft auch auf den angestrebten Ersatz von in vivo-Methoden (Prüfungen an Tiermodellen) durch in vitro- und in silicoMethoden zu, der ohne die internationale behördliche Anerkennung der in vitround in silico- Ergebnisse nicht funktionieren kann. Auf dem Gebiet der Genetischen Toxikologie ist diese Akzeptanz schon weit fortgeschrittenen, weil zumindest teilweise klare und verhältnismäßig einfache Endpunkte (DNA-Schädigung) definiert sind. Am schwierigsten ist es in den Themenfeldern, in denen keine klaren Messendpunkte definiert werden können, die auch keine Ja-Nein-Antworten liefern können, sondern unerwartete Befunde unterschiedlichster Ausprägung zeigen, wie z. B. die unterschiedlichsten Organund Funktionsschäden in den klassischen Toxikologiestudien (akut, subakut und chronisch) (Ukelis, Kramer, Olejniczak, & Müller, 2008), (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1189 f.).

2.9 Gesunderhaltung der Bevölkerung, ein Grundrecht Ein Grundrecht der Bürger und Bürgerinnen in Deutschland und vielen anderen Staaten ist die Gesunderhaltung und die Vermeidung unnötiger Gefahren. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (BRD) ist das wie folgt ausgedrückt: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“13

10 EU = Europäische

Union.

11 OECD = Organisation

für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (http://www.oecd.

org). 12 ICH =  The

International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use (http://www.ich.org).

13 Grundgesetz Art.

2, Abs. 2-

2.9  Gesunderhaltung der Bevölkerung, ein Grundrecht

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2.9.1 Bedeutung dieses Grundrechts Dieses Grundrecht bedeutet, dass der Staat zum Beispiel keinen Menschen foltern, verletzen oder töten darf. Dieses Grundrecht bedeutet nicht, dass der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern garantieren kann, dass er ihnen jede Art von Gefahr und jedes gesundheitliche Risiko erspart. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit schließt z. B. nicht aus, dass Menschen sich selbst schaden und dass Menschen sterben. Der Tod ist das Ende der körperlichen Unversehrtheit und hat seine Ursache in einem Organversagen, d. h. in einem Schaden, der nicht mehr repariert werden kann. Keine Medizin, kein Rettungswesen und kein noch so perfekter Arbeits- oder Bevölkerungsschutz ist in der Lage, die Gefahr des Todes zu vermeiden. Was jeder Einzelne und was die Gesellschaft versuchen zu erreichen, ist, einen vorzeitigen Tod oder ein Leiden zu verhindern, zu vermindern bzw. hinauszuschieben. Dafür ist entscheidend, welche Standards und welche Werte die Gesellschaft für sich festlegt. Welchen Wert erhält beispielsweise der Arbeitsschutz, der Konsumentenschutz, der Umweltschutz und welchen z. B. der wirtschaftliche, der politische oder der militärische Erfolg?

2.9.2 Anwendung auf Gefahrstoffe Was soll erreicht werden, welche Gefährdungsmerkmale werden definiert, welche fachliche Kompetenz wird benötigt, um im Fall eines Gefahrstoffes mit einem bestimmten Gefährdungsmerkmal sachgerecht umgehen zu können? Gefährdungsmerkmale von Gefahrstoffen werden sichtbar durch ihre Kennzeichnung, z. B. krebserregend, gesundheitsgefährlich, leicht entzündbar, gewässergefährdend. Mit einer verständlichen Kennzeichnung wird erreicht, dass Menschen auch ohne eine spezielle Ausbildung eine Gefährdungsmöglichkeit schnell erkennen können.

2.9.3 Arbeitswelt und Gesundheitsschutz – Woher kommen wir? Geschichtliche Entwicklung Es kann davon ausgegangen werden, dass die Menschen immer gewusst haben, dass unterschiedliche Arbeitsplätze und unterschiedliche Lebensweisen unterschiedliche Gefahren mit sich bringen, also unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesundheit (Grundgesetz: „körperliche Unversehrtheit“) haben. Gottgefälliges Leben statt Prävention Katastrophen, Unfälle, körperliche und seelische Leiden und den vorzeitigen Tod der Menschen verstanden die Menschen von der Antike bis in die frühe Neuzeit meist jedoch als „gottgegeben“ oder sogar als Strafe Gottes bzw. als Gnade,

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2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

wenn man ein Unglück überlebte. Folglich wurde in der Regel keine Möglichkeit gesehen, daran etwas Wesentliches zu ändern, Verbesserungen erhoffte man sich durch ein gottgefälliges Leben. Prof. Vera Horn, Universität Wien, bringt es in einem Artikel im Heft 5/20 ZEIT Geschichte, der sich dem Thema „Katastrophen“ widmete, auf den Punkt: „Der Spielraum der Menschen liegt [lag] allein im gottgefälligen Handeln – nicht aber in der Prävention“ (Horn, 2020).

Umdenken in Europa Wahrscheinlich führte in Europa der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 dazu, dass auf vielen Gebieten ein Umdenken stattfinden musste. Die Bevölkerung war durch Kriegshandlungen und Seuchen fast halbiert worden und die wirtschaftliche Situation war katastrophal. Dazu heißt es in Wikipedia: „Nach einer verbreiteten Angabe sind etwa 40 % der deutschen Landbevölkerung dem Krieg und den Seuchen zum Opfer gefallen. In den Städten wird der Verlust auf weniger als 33 % geschätzt. Die Verteilung des Bevölkerungsrückgangs war dabei sehr unterschiedlich: […] In den von den Kriegswirren besonders betroffenen Gebieten Mecklenburgs, Pommerns, der Pfalz und Teilen Thüringens und Württembergs kam es zu Verlusten bis weit über 50 %, stellenweise bis mehr als 70 % der Bevölkerung“ (Wiki, Dreißigjähriger Krieg, 2020). Entwicklung staatlicher Verantwortung – Einfluss auf Ökonomie und Staatsführung Die hohen Beamten im „Kammerkollegium“ der deutschen Fürsten, die sog. Kameralisten, erkannten, dass sie nicht weiter auf Gottes Fügungen warten konnten, sondern selbst aktiv werden mussten. Rüdiger vom Bruch: „Die Wurzeln dieser Kameralwissenschaft im engeren Sinn reichen bis in das ausgehende 16. Jahrhundert zurück; zu einem Durchbruch gelangten sie um die Mitte des 17. Jahrhunderts, als die deutschen Klein- und Mittelstaaten nach den verheerenden Verwüstungen des Dreißig-jährigen Krieges an einen Wiederaufbau von Wirtschaft, Verwaltung und öffentlicher Ordnung gingen und die katastrophalen Bevölkerungsverluste auszugleichen suchten“ (vom Bruch, 1992). Damals setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Staatsführung eine Verantwortung für das Wohl der Bürger*innen trägt und dafür eine kompetente Verwaltung benötigt. Staatlicherseits wurde die Infrastruktur ausgebaut und das Gewerbe durch Gründung neuer Manufakturen belebt (Milles, 2019). Im Zuge dieses Wiederaufbaus entwickelte sich auch eine moderne, naturwissenschaftlich orientierte Chemie. Robert Boyle (1626–1691), der noch als Alchimist begann, bereitete den Elementbegriff vor und verließ sich nur noch auf exakt beschriebene und dokumentierte Experimente (Ströker, 1982), „The Sceptical Chymist“ (Milles, 2019). Erst durch diese Denk- und Arbeitsweise war es möglich, gesundheitliche Gefährdungen auf chemisch definierte Gefahrstoffe oder pharmakologische Wirkungen auf chemisch definierte Wirkstoffe zurückzuführen. So ist es kein Zufall, dass in dieser Periode, im Jahr 1668, Friedrich Jacob Merck in Darmstadt den Grundstein für die Entwicklung der Merck KGaA legte

2.9  Gesunderhaltung der Bevölkerung, ein Grundrecht

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Abb. 2.2  Unfallversicherungsgesetz 1884. Quelle: Public Domain (Reichs-Gesetzblatt, 1884)

(Merck, 2020), des weltweit ältesten chemisch-pharmazeutischen Unternehmens. Durch die grundlegende Veränderung der Wissenschaft und Forschung wurde in der Folge auch eine beschleunigte Entwicklung der Wirtschaft möglich, die bis heute anhält.

Neues Bewusstsein  Wichtig  „Das ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“ Faust I, J.W. von Goethe, 1749–1832

Während des 18. Jahrhunderts hatte sich in Europa das Bewusstsein der Gesellschaft weiter verändert, die bisherigen Erklärungen verloren immer mehr an Wert, man wollte verstehen! Durch dieses neue Bewusstsein veränderte sich auch die Bildung der Bevölkerung und vor allem die der politisch Verantwortlichen. Man erkannte immer mehr, dass Gesundheitsgefährdungen sehr oft durch Menschen bzw. ihre Anordnungen und Technologien verursacht sind und somit auch von Menschen geändert werden können, bzw. müssen. „Was sich nun verbreitet, ist die Vorstellung von Risiko – ursprünglich ein Begriff aus der Seefahrt, vielleicht abgeleitet vom spanischen Wort risco für ‚Klippe‘. Gegen Risiko kann man Vorsorge treffen oder sich versichern.“ (Horn, 2020)

34

2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

Beginn der Gewerbetoxikologie In der sog. Gewerbetoxikologie, die u. a. in der Gefahrstoffkunde gelehrt wird, wurden zunächst die Bereiche betrachtet, die besonders auffälligen Gesundheitsgefahren ausgesetzt waren, wie Bergwerke und Schwermetallverarbeitung (Milles, 2019, S. 11). Die Erfahrungen gezielter Giftwirkungen und die Möglichkeiten exakter Giftnachweise ermöglichten erste Schutzmaßnahmen. Mit der beginnenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert verschärfte sich die Situation weiter, denn die Arbeit in den neu entstandenen Fabriken war meistens sehr gefährlich. Gefährliche Arbeiten, die früher in kleinen Handwerksbetrieben und Manufakturen für die Mehrheit der Menschen unsichtbar waren, traten nun in großen Betrieben massenhaft und für viele sichtbar auf. Als Folge wurden beispielsweise in der chemischen Industrie die ersten Werksärzte eingestellt (Milles, 2019, S. 15). Sozialgesetzgebung Zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte die neue Klasse der Lohnarbeiter einen politischen Prozess in Gang, der in Deutschland durch die Sozialgesetzgebung (1881–1889) des Reichskanzlers Otto von Bismarck zu einer gesetzlichen Regelung geführt hat. Am 6. Juli 1884 wurde mit dem kaiserlichen Erlass „Förderung des Wohles der Arbeit“ ein Unfallversicherungsgesetz vom Reichstag verabschiedet (Abb. 2.2). Berufsgenossenschaften, Unfallversicherung und AOK 1885 werden die Berufsgenossenschaften als Träger dieser Unfallversicherung gegründet (Reichs-Gesetzblatt, 1884). Danach erfolgte 1894 auch die Gründung der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) als „Centralverband von Ortskrankenkassen im Deutschen Reich“ in Frankfurt am Main (AOK, 2020). Die weitere Entwicklung der Gefahrstoffkunde und dem daraus folgenden Arbeitsschutz war bis Anfang 2020 sehr treffend auf der Internetseite des TÜV Rheinland dargestellt. Leider wurden diese Informationen durch ein weniger interessantes Video ersetzt (TÜV Rheinland, 2014). Was aus eigener Erkenntnis zusammengefasst werden kann, ist, dass mit der Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung auch der Ausbau der Bestimmungen zum Arbeitsschutz weiter vorangetrieben werden konnte. Erstes Arbeitsschutzgesetz in Deutschland So wurde am 1. Juni 1891 zusätzlich das Arbeiterschutzgesetz (Gesetz, betreffend Abänderung der Gewerbeordnung) verabschiedet („Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und des Reichstags, …“). Der Originaltext ist in der Zusammenstellung historischer Gesetzestexte im Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR, 2020) zugänglich.

2.10  Gefahrstoff-Regelungen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD)

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Das Arbeiterschutzgesetz bewirkte, dass Unfall- und Gesundheitsgefahren nicht länger als unvermeidlicher Preis des Fortschritts oder als individuelles Verschulden betrachtet wurden. Der Unternehmer wurde in die Pflicht genommen, die Arbeitsbedingungen für „Gewerbliche Arbeiter (Gesellen, Gehülfen, Lehrlinge, Betriebsbeamte, Werkmeister, Techniker, Fabrikarbeiter)“ zu verbessern. Für die Einhaltung der Schutzmaßnahmen sorgte eine staatliche Gewerbeaufsicht, z. B.: „Die Gewerbeunternehmer sind verpflichtet, die Arbeitsräume, Betriebsvorrichtungen, Maschinen und Geräthschaften so einzurichten und zu unterhalten und den Betrieb so zu regeln, daß die Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit soweit geschützt sind, wie es die Natur des Betriebs gestattet.“ Die Situation in den Betrieben zeigte deutlich, dass eine wirksame Gefahrenabwehr (Arbeits- und Bevölkerungsschutz) nicht möglich ist ohne das Wissen um die Wirkungen von Gefahrstoffen und ohne wissenschaftlich fundierte gesetzliche Regeln. In den folgenden Kapiteln soll deshalb die weitere Entwicklung der gesetzlichen Regelungen in Deutschland dargestellt werden.

2.10 Gefahrstoffregelungen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) Im Einklang und auf der Basis der Regelungen der Weimarer Republik und des Kaiserreichs wurde mit dem Aufbau des bundesdeutschen Sozialstaates auch der Arbeitsschutz stetig weiterentwickelt. Dies zeigt sich in einer ständig wachsenden Zahl von Gesetzen, Vorschriften, Richtlinien und Regeln.

2.10.1 Arbeitssicherheitsgesetz Eines der wichtigsten Elemente des Arbeitsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland ist das Arbeitssicherheitsgesetz (Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit, ASiG) vom 12. Dezember 1974, zuletzt geändert am 20. April 2013 (BMJV, 2013). Die Arbeitgeber sind durch dieses Gesetz gesetzlich dazu verpflichtet, Betriebsärzte zu bestellen und Fachkräfte für Arbeitssicherheit als Berater in die betriebliche Sicherheitsarbeit einzubeziehen. Das ASiG beschreibt auch sehr präzise die Pflichten und Rechte dieser neuen Funktionen.

2.10.2 Betriebsverfassungsgesetz Auch das Betriebsverfassungsgesetz vom 15. Januar 1972, geändert am 20. Mai 2020 (BMJV, 2020b), ist ein wichtiger Baustein des Arbeitsschutzes, denn als die gesetzliche Grundlage für die Arbeit der Betriebsräte regelt es auch die Mitsprache des Betriebsrats bei allen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes. Dazu gehört beispielsweise die Art und Weise, wie eine Gefährdungsbeurteilung nach § 5 Arbeits-

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2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

schutzgesetz durchgeführt wird. Wer soll sie vornehmen? Nach welchen Gefahren soll der Experte suchen? Soll er sich insbesondere um die „Stressanfälligkeit“ bestimmter Arbeitsplätze kümmern?

2.10.3 Arbeitsschutzregelungen – Seveso-Katastrophe als Auslöser Seit 1985 werden der bundesdeutsche Arbeitsschutz und der Umgang mit Gefahrstoffen auch supranational auf europäischer Ebene geregelt. Wie immer hatte es einer Katastrophe bedurft, die nicht vertuscht werden konnte, um strengere nationale, aber auch grenzüberschreitende Regelungen zu treffen. Für Europa war diese notwendige Katastrophe ein Chemieunfall einige Kilometer nördlich von Mailand. Am 10. Juli 1976 platzte in der Chemiefabrik Icmesa, die zum RocheKonzern gehörte, bei der Herstellung von Hexachlorophen ein Überdruckventil. Die Reaktionsgase mit einem hohen TCDD14-Anteil traten in einer großen Wolke aus (Abschn. 5.2.2). Die TCDD-Wolke ging schließlich über dem Ort Seveso nieder (Schrenk, 2019). Über zwei Wochen berieten Icmesa und die Behörden, ob sich in der Wolke möglicherweise gesundheitsschädliche Substanzen befinden könnten. Nachdem über 3000 Tiere verendet waren und ca. 77.000 notgeschlachtet wurden und Kinder und Erwachsene über Hautausschläge (Chlorakne) klagten, entwickelte sich der Unfall zu einem Skandal, der weltweit große Beachtung fand (Reich, 2016).

2.10.4 Offenkundige Defizite Die Unfähigkeit der Firma und der Behörden, die möglichen Gesundheitsrisiken der frei gewordenen chemischen Stoffe schnell und zutreffend einschätzen und kommunizieren zu können, legte die Schwächen des Systems und den Mangel an toxikologischem Sachverstand offen. Die Gefahren, die von solchen Produktionen ausgehen, konnten nicht mehr ignoriert werden. Auf die Entwicklung von Gesetzen und Verordnungen und auf die innerbetrieblichen Regelungen und Vorsichtsmaßnahmen hatte diese Katastrophe deshalb einen nachhaltigen Einfluss, der sich auch heute, mehr als vier Jahrzehnte danach, noch voll auswirkt. Insofern ist auch der Begriff „Katastrophe“ berechtigt, denn „Katastrophen sind Schwellen. Danach ist alles anders, sie zerstören nicht nur Dinge, Körper und Gesellschaften, sondern auch Erwartungen und Weltbilder“ (Horn, 2020).

14 TCDD = 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin,

bekannt als Seveso-Gift oder als Dioxin.

2.11  Gefahrstoff-Regelungen in der Deutschen Demokratischen …

37

2.10.5 Störfallverordnung Als Konsequenz aus dem Sandoz-Störfall 1986 in Basel (u. a. Abschn. 4.15.2) ändert die Bundesregierung die Störfallverordnung (Zwölfte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, 12. BImSchV). Deren Anwendungsbereich wird erheblich ausgeweitet.

2.11 Gefahrstoffregelungen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) 2.11.1 Arbeits- und Bevölkerungsschutz Das Gefahrstoffrecht und damit auch der gesundheitliche Arbeits- und Bevölkerungsschutz nahmen in der DDR eine etwas andere Entwicklung als in der BRD und der EU. Die folgenden Informationen zur Entwicklung in der DDR wurden fast vollständig zwei umfangreichen Artikeln von Lutz Wienhold entnommen, die auf dem Online-Portal der „Sicherheitsbeauftragten und Sicherheitsingenieure“ publiziert wurden: „Der Arbeitsschutz der DDR in der Ära Ulbricht“ (Wienhold, 2012) und „Der Arbeitsschutz der DDR in der Ära Honecker“ (Wienhold, 2012). Wichtige Vorbemerkung zu diesem Kapitel: Es ist selbstverständlich möglich, dass die Sichtweise von Lutz Wienhold nicht von allen geteilt wird, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, sie erscheint aber fundiert und objektiv, weshalb sie in dieses Buch übernommen wurde. Dr. Lutz Wienhold war von 1972–1990 in verantwortlicher Position im Zentralinstitut für Arbeitsschutz der DDR tätig.

2.11.2 Gesetzgebungsverfahren DDR In der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 wurde garantiert, dass die Arbeitsbedingungen so beschaffen sein mussten, dass die Gesundheit der Beschäftigten gesichert ist. Der prinzipielle Unterschied im Gesetzgebungsverfahren zu dem der BRD, der ganz besonders für den Arbeitsschutz galt, bestand darin, dass ein Gesetz vom Parlament (Volkskammer) nur verabschiedet werden konnte, wenn zuvor das Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der SED dem Gesetz zugestimmt hatte.

2.11.3 DDR – Gesetz der Arbeit Anfang der 1950er Jahre entstand in der DDR eine umfassendere Neuordnung des Arbeitsschutzrechts. Im „Gesetz der Arbeit“, wie es kurz genannt wurde, wurden allgemein der Schutz vor Gefahren für Leben und Gesundheit bei der Arbeit, aber auch prinzipielle Forderungen nach Sicherheitstechnik, Hygiene und Gesundheitsschutz und nach ärztlicher Betreuung der Beschäftigten festgelegt. Von besonderer

2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

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Bedeutung war die erstmalige Festlegung der Verantwortung und Verantwortlichkeit der Betriebsleiter (im volkseigenen Bereich) und Betriebsinhaber (im privaten Bereich) für den gesamten Arbeitsschutz.

2.11.4 Arbeitsgesetzbuch Neue Verordnungen wurden erlassen und 1971 wurde begonnen, im Rahmen der Vorbereitung eines neuen Arbeitsgesetzbuches (AGB) die grundlegenden Forderungen zum Arbeitsschutz neu zu fassen. Bis dahin waren die Arbeitsschutzanordnungen immer wieder fortgeschrieben und dem Stand der Technik angepasst worden. Die Anordnungen hatten ihre Wurzeln in den Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften aus der Zeit vor 1945 und galten allgemein als hoher Standard des Arbeitsschutzes. In der DDR entstand aber in den 1970er Jahren als neues erklärtes Ziel, die „Standards“ zwischen der UdSSR und der DDR generell zu vereinheitlichen.

2.11.5 Rolle der UdSSR15 Für den Arbeitsschutz war speziell festgelegt worden, die in den „Arbeitsschutzanordnungen“ enthaltenen Festlegungen schrittweise in sog. Standards zu überführen. So mussten alle Standards mit der UdSSR vereinheitlicht werden. Bis 1988 war ca. ein Viertel der über 200 Arbeitsschutzanordnungen durch Standards abgelöst worden. Hierbei blieben durch die politisch ideologische Dominanz der UdSSR viele gute Ansätze auf der Strecke, da die UDSSR oftmals keinerlei Kompromisse an ihren Regeln zuließ.

2.11.6 Konkurrenzsituation mit der BRD Gleichzeitig gewährleistete jedoch das in der Bundesrepublik erlassene Betriebsverfassungsgesetz vom 15. Januar 1972 den Einfluss des Betriebsrats durch den Ausbau der Mitbestimmungsrechte sowie eine Vermehrung der Initiativ-, Kontroll- und Teilnahmerechte der Gewerkschaften speziell im Arbeitsschutz. Dahinter konnte man die DDR-Gewerkschaften nicht zurückfallen lassen. „Neu aufgenommen wurde deshalb das Recht der betrieblichen Gewerkschaftsleitungen, der ehrenamtlichen Arbeitsschutzinspektoren, der Arbeitsschutzkommissionen und Arbeitsschutzobleute, zu Projekten für neue oder zu rekonstruierende Arbeitsstätten und Betriebsanlagen die Gewährleistung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes zu fordern“ (Wienhold, 2012).

15 UdSSR = Union

der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Sowjetunion.

2.11  Gefahrstoff-Regelungen in der Deutschen Demokratischen …

39

2.11.7 Ökonomische Grenzen der Umsetzung In der DDR existierten Grenzwerte für 48 chemische Stoffe über eine Anordnung zur Begrenzung und Ermittlung von Luftverunreinigungen (Immissionen). Es gab in der DDR aber keine umfassende Regelung zur Herstellung und zum Umgang mit Arbeitsstoffen. Zwar existierten arbeitshygienische Grenzwerte für Stäube, Gase, Dämpfe und Gifte sowie hierauf basierende Konzepte zum Schutz vor diesen Schadstoffen, aber kein geschlossenes Vorschriftenwerk. Hersteller wurden beispielsweise prinzipiell nicht in die Pflicht genommen, Gefährlichkeitsmerkmale zu ermitteln. Eine Ausnahme stellten Lösungs- und Verdünnungsmittel dar. Zu den sog. Altstoffen, also chemischen Stoffen, die bereits auf dem Markt waren, gab es keinerlei Aktivitäten. Der Arbeits- und Bevölkerungsschutz war in den 1980er Jahren sehr stark durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR beeinflusst. Oft wurden Vorschriften durch Ausnahmegenehmigungen ausgehebelt, um die wirtschaftlichen Ziele (Planerfüllung) erreichen zu können. Die dadurch verursachte Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die in deutlichem Widerspruch zu den Erwartungen einer sozialistischen Gesellschaft standen, hatten wahrscheinlich einen maßgeblichen Anteil am Vertrauensverlust der Menschen gegenüber den Regierenden Ende der 1970er Jahre und in den 1980er Jahren.

2.11.8 Schadensereignisse mit politischen Konsequenzen Durch Gefahrstoffe verursachte Unglücksfälle und Katastrophen entstehen in allen Staaten aus den unterschiedlichsten Gründen. Sie ereigneten sich in West und Ost. Sie sind normalerweise immer der entscheidende Anlass, das bisherige Verhalten zu überprüfen und Regeln neu zu definieren. Zahlreiche Unglücksfälle gab es auch in der DDR (BZ, 1994). Nach einer Vinylchloridexplosion im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld am 11. Juli 1968 (PVC-Produktion) fanden 42 Menschen den Tod, über 270 wurden verletzt. Nach dem Unglück wurde das Werk nicht wieder aufgebaut, stattdessen wurde die Produktion vollständig nach Schkopau zum Buna-Kombinat verlagert. Nach dem Unglück wurden in der DDR die Regelungen zum Arbeitsschutz und Brandschutz deutlich verschärft (Zschiesche, 2001). Ein weiteres Beispiel ist die Explosion im Ölwerk Riesa am 5. Februar 1979, bei der zehn Menschen getötet und 39 zum Teil schwer und weitere elf leicht verletzt wurden (Müller, 2019). Ein Unglücksfall, der wohl auch einen großen Einfluss auf den Vertrauensverlust in der DDR-Bevölkerung hatte, ereignete sich am 9. August 1988. Knapp zwei Jahre nach der aufsehenerregenden Brandhavarie bei der Sandoz-AG in Basel, wo größere Mengen Löschwasser den Rhein verseuchten, geschah der vergleichbare Unfall auch in der DDR. In Schönebeck an der Elbe brannte eine Lagerhalle des Betriebsteils Hermania des VEB Fahlberg-List, in der 812 t Pestizide lagerten.

40

2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

Wieder gelangte das Löschwasser in einen Fluss, diesmal die Elbe. Auch dieser Unfall wurde von den Regierenden zur geheimen Verschlusssache erklärt (Müller, 2019). Noch einschneidender war wohl der Unglücksfall des Chemiekombinats Buna in Schkopau (Karbidproduktion) am 9. Februar 1990, bei dem fünf Arbeiter ums Leben kamen (Bertram, 2020). Bei der Bewertung dieses Unglücks in der DDRBevölkerung spielte sicher auch die Erinnerung an das Unglück von 1968 in Bitterfeld (s. o.) eine wichtige Rolle. Das Erschreckende an den Fällen in der DDR ist, dass aufgrund von Ausnahmeregelungen einfachste Arbeits- und Bevölkerungsschutzmaßnahmen nicht gewährleistet waren. Analysen aus dem Herbst 1989 und Frühjahr 1990 über die Motive der von Ost- nach Westdeutschland gezogenen Menschen belegen, dass ein wesentliches Motivbündel in den mangelhaften Arbeitsbedingungen der DDR-Betriebe lag. Von 2582 Befragten zu ihren Flucht- bzw. Übersiedlungsmotiven gaben Anfang 1990 72 % schlechte Arbeitsbedingungen an (Wienhold, 2012).

2.12 Gefahrstoffregelungen im wiedervereinigten Deutschland 2.12.1 Rechtliche Konsequenz des Beitritts der DDR zur BRD Am 3. Oktober 1990 erfolgte der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland (BRD). Als rechtliche Lösung wurde der Beitritt gewählt und nicht eine Vereinigung der beiden Staaten. Das hatte vermutlich sowohl politische wie auch pragmatisch verfahrenstechnische Gründe, kann aber auch aus der Wahrnehmung heraus verstanden werden, dass die hinzugekommene Bevölkerung mit ca. 16,7 Mio. DDR-Bürger*innen zahlenmäßig im Bereich eines der größeren Bundesländer der Bundesrepublik lag. Gemäß ihrer Bevölkerungszahl lag die DDR zwischen Nordrhein-Westfalen mit ca. 17,9 Mio. Einwohner*innen und Bayern mit ca. 13,2 Mio. Einwohner*innen. Weil es sich rechtlich nicht um eine Vereinigung von DDR und BRD, sondern um einen Beitritt der DDR zur BRD handelte, galt das Bundesrecht unverändert auch für die durch die neuen Bundesländer erweiterte Bundesrepublik.

2.12.2 Einfluss des europäischen Rechts Der große Einfluss des europäischen Rechts auf die gesetzlichen Regelungen in Deutschland galt nun für alle Deutschen. Dieser Einfluss wurde 1992 mit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht, und damit der Umwandlung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in die Europäische Union (EU), noch deutlich verstärkt. Inzwischen stellen deutsche Gesetze wie das deutsche

2.12  Gefahrstoff-Regelungen im wiedervereinigten Deutschland

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Chemikaliengesetz oder das deutsche Arzneimittelgesetz überwiegend die Umsetzung europäischer Regelungen dar. Die Gefahrstoffregelungen in Deutschland sind deshalb weitgehend europäische Regelungen (Gundert-Remy & Kramer, 2019).

2.12.3 Deutsches Chemikaliengesetz Das deutsche Chemikaliengesetz (ChemG), das Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen (BMJ, 2020), ist das zentrale Gesetz, das den Umgang mit Gefahrstoffen in Deutschland regelt. Es wurde am 16. September 1980 in der Bundesrepublik Deutschland erstmalig in Kraft gesetzt und regelt seither den Umgang mit Gefahrstoffen. Die letzte Änderung, die in diesem Buch genannt werden kann, erfolgte am 19. Juni 2020. Änderungen erfolgen in der Regel aufgrund von geänderten EU-Richtlinien und -Verordnungen. Das herausragende Beispiel mit weitreichenden Folgen auch in Deutschland ist die EU-Chemikalienverordnung 1907/2006 (REACH-Verordnung), die am 1. Juni 2007 in Kraft getreten ist (Hengstler, et al., 2006). REACH steht für registration, evaluation, authorisation and restriction of chemicals, also die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien. Eine weitere umfassende Änderung war notwendig aufgrund der EU-Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 (CLP16-Verordnung) über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen.

2.12.4 Gefahrstoffverordnung Die Gefahrstoffverordnung (Verordnung zum Schutz vor gefährlichen Stoffen) (BMJV, 2017) ist eine der wichtigsten Verordnungen, die direkt vom ChemG zum Schutz vor gefährlichen Stoffen vorgesehen sind. Sie trat erstmalig in Kraft am 26. November 2010. Die Verordnungen des ChemG sind (BMJ, 2020): • Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) • Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV) • Biostoffverordnung (BioStoffV) • FCKW-Halon-Verbotsverordnung • Giftinformationsverordnung (ChemGiftInfoV) • Prüfnachweisverordnung (ChemPrüfV) • Chemikalien Straf- und Bußgeldverordnung (ChemStrOWiV)

16 CLP = CLP

als Akronym steht für (classification, labelling and packaging, also die englischen Worte für Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung

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2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

2.12.5 Arbeitsschutzgesetz Am 7. August 1996 trat das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) in Kraft (BMJV, 2020c). Das ArbSchG ist ein deutsches Gesetz zur Umsetzung von EU-Richtlinien zum Arbeitsschutz (Richtlinie 89/391/EWG und Richtlinie 91/383/EWG). Es regelt die Aufgaben des Arbeitgebers und Arbeitnehmers im deutschen Arbeitsschutz und wurde zuletzt am 19. Juni 2020 geändert. Zentrales Instrument und neu im Gesetz verankert ist die Gefährdungsbeurteilung. ArbSchG § 6, Abs. 1: „Der Arbeitgeber muss über die je nach Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten erforderlichen Unterlagen verfügen, aus denen das Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung, die von ihm festgelegten Maßnahmen des Arbeitsschutzes und das Ergebnis ihrer Überprüfung ersichtlich sind.“

2.13 Umgang mit Gefahrstoffen im chemischen Labor Die folgenden Gedanken beruhen auf eigenen Erfahrungen, bezogen auf ca. 30 Jahre verantwortlicher Tätigkeit bei Merck in Darmstadt und in nationalen und internationalen Gremien (Kramer, 2014). Die Schwere möglicher Schäden, die durch Gefahrstoffe verursacht werden können, wird sehr unterschiedlich eingeschätzt. Viele der Schäden werden vom Geschädigten selbst festgestellt, weshalb auch der einzelne lernt, sich davor zu schützen. Schäden, die zunächst nicht bemerkt werden, aber doch häufig irreparabel und/oder lebensbedrohlich sind, sind beispielsweise die teratogene und die krebserregende Wirkung eines chemischen Stoffes, denen deshalb sowohl wissenschaftlich als auch regulatorisch eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwird.

2.13.1 Gefahrenabwehr im chemischen Labor Es ist beispielsweise für die Gefahrenabwehr im chemischen Labor wichtig, dass jeder neue chemische Stoff, für den noch keine toxikologischen Daten vorliegen, der also auch noch nicht nach den gesetzlichen Gefährdungskriterien eingestuft und gekennzeichnet ist, im Labor präventiv so behandelt werden muss, als sei er z. B. krebserregend. Die dafür notwendigen Schutzmaßnahmen (NullExposition) (GefStoffV, 2021, S. 18, § 10) wären in der Praxis in einem normalen chemischen Syntheselabor kaum zu bewältigen, weshalb es ohne eine zwar vorläufige, aber kompetente Gefährdungsbewertung einer neuen Substanz durch die synthetisierenden Chemiker*innen kein verantwortliches Arbeiten im Syntheselabor geben kann.

2.14  Gefahrstoffe – Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit

43

2.13.2 Konsequenzen für die Chemieausbildung Das Wissen und die Kompetenz für eine solch frühe vorläufige Abschätzung der Gefährdung durch einen chemischen Stoff muss den Chemikern und Chemikerinnen bereits während des Studiums durch die Inhalte der Gefahrstoffkundevorlesungen vermittelt werden. Durch eine kompetenzfördernde Wissensvermittlung bezüglich möglicher Schädigungsmechanismen und der sie verursachenden chemischen Strukturen wird es beispielsweise möglich, Gefahrenpotenziale aus Analogiebetrachtungen abzuleiten. Die potenziell schädigende Wirkung eines Stoffes abzuschätzen bedeutet aber noch nicht, dass ein Chemiker oder eine Chemikerin die richtige verantwortliche Entscheidung über den weiteren Umgang mit diesem Stoff treffen wird. Hierzu sind erweiterte fachliche Kompetenzen notwendig, die die möglichen Gefährdungen und Risiken und die Frage, wie ein Stoff, gemäß der gesetzlichen Regelungen, eingestuft werden muss, betreffen. Die Entwicklung eines Bewusstseins für die Notwendigkeit, sich im konkreten Fall um fachliche Beratung zu bemühen, und das Aufzeigen der verschiedenen Möglichkeiten sind auch Gegenstand der Gefahrstoffkundeausbildung.

2.13.3 Komplexe Verhältnisse bei der Beurteilung einer Gefährdung Ein Beispiel für die komplexen Verhältnisse bei der Beurteilung einer Gefährdung ist die Tatsache, dass Menschen bezüglich der schädigenden Wirkung von Gefahrstoffen unterschiedlich empfindlich sein können. Jeder weiß, dass nicht alle Raucher und Raucherinnen an Lungenkrebs sterben und dass bestimmte Patienten ein Arzneimittel besser vertragen als andere. Beschäftigte in einem chemischen Produktionsbetrieb, die gegen den gleichen Gefahrstoff exponiert sind, zeigen häufig nicht dieselben gesundheitlichen Auswirkungen. Ein wichtiger Grund sind genetische Polymorphismen von fremdstoffmetabolisierenden Enzymen, die zu unterschiedlichen Toxizitäten desselben Gefahrstoffs führen (Schulz, et al., 2002). Dies hat zur Folge, dass in der Regel Grenzwerte und Maßnahmen sich an der empfindlichsten Gruppe ausrichten müssen.

2.14 Gefahrstoffe – Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit 2.14.1 Gefahrstoffe im Berufsalltag Ein wichtiges Themenfeld im Berufsalltag, auf das die Studierenden vorbereitet werden müssen, ist die Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit von Gefahrstoffen.

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2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

Wie soll man das machen, wie kann man dies den Studierenden vermitteln? Wie bewertet ein Raucher den Tabakrauch, den er gerne inhaliert, der ihn entspannt oder belebt, und wie tut das ein Nichtraucher, der unter dem Tabakrauch leidet, den er als Gestank empfindet, vor dem er Angst hat oder sich fürchtet? Nicht zu unterschätzen ist auch der Druck, der z. B. auf einer Chemikerin oder einem Chemiker in einem industriellen Betrieb lastet, der auf den wirtschaftlichen Erfolg durch den Verkauf eines bestimmten chemischen Stoffes hofft. Zusätzlich werden bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit eines Stoffes durch die Globalisierung (weltweite Konkurrenz) immer höhere Anforderungen gestellt. Aber auch Chemikerinnen und Chemiker in Behörden können betroffen sein, denn auch die Harmonisierung der Anforderungen weltweit (Zulassungspraxis) verursacht einen Konkurrenzdruck bei den nationalen Behörden, der dazu führen kann, dass Behördenentscheidungen (Zulassungen) anders ausfallen als es eigentlich sein sollte.

2.14.2 Wissenschaft vs. Gesellschaft – Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit Zur Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit erstellt die Wissenschaft qualitative, quantitative und messbare Vergleiche. Die Gesellschaft hingegen bewertet Nutzen, Risiko und Sicherheit nicht wie die Wissenschaft, sondern in einem Meinungsbildungsprozess, bei dem die Interessen und Grundüberzeugungen der beteiligten Individuen und auch moralisch/ethische und kulturelle Argumente eine ausschlaggebende Rolle spielen. Da der findige Mensch, auch der Chemiker oder die Chemikerin, den eigenen Vorteil oder den des eigenen Labors oder der Firma beim Abwägen von Nutzen, Risiko und Sicherheit im Vordergrund sieht, braucht es beim Abwägen von möglichen Gefahren geeichte Maße und Gewichte. Als solche geeichten Maße und Gewichte17 dienen die ethischen Grundregeln der Wissenschaft, aber vor allem die nationalen und internationalen Gesetze, Verordnungen und Richtlinien. Um diese Zusammenhänge verstehen zu lernen, werden den Studierenden Beispiele komplexer und teilweise umstrittener Abwägungen genannt.

17 Der

Gedanke der „geeichten Maße und Gewichte“ stammt aus der Entwicklung des Handels (Schenk, 2009).

2.14  Gefahrstoffe – Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit

45

 Meinungsbildung  Wissenschaft/Experten Messungen, Daten; unabhängige, sachlich kritische Diskussionen sind entscheidend Kognition: appelliert an langsames Denken; rational, anstrengend, unangenehm Gesellschaft/Laien Kognition: schnelles Denken bevorzugt; weniger anstrengend, intuitiv, gefühlsgesteuert, automatisch, angenehm; bestätigt bereits vorhandene Meinungen Statt an Fakten orientiert man sich an Umfeld, an bestehenden moralischen und religiösen Überzeugungen > unterschiedliche Wahrnehmung Mehrheit wird von komplexen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht erreicht Hypothese: das bessere Argument setzt sich durch → leider naiv, idealistisch und falsch Aussagen, die man schon kennt, und häufig gehörte Argumente sind glaubhafter Menschen bilden Urteile und Ansichten nicht auf Basis gesicherter Fakten, sondern auf Basis von Geschichten. Menschen halten sich aber immer für objektiv und unbeeinflusst.

Beispiel DEHP (Weichmacher) Ein Beispiel für eine solche Abwägung, das auch immer wieder in der Öffentlichkeit diskutiert wird, sind sog. Weichmacher wie Di(2-ethylhexyl)phthalat (DEHP). DEHP wird als Weichmacher bei der Herstellung von Kunststoffen aus Polyvinylchlorid (PVC) sehr viel verwendet. Es wird nicht-kovalent an das PVC gebunden und kann deshalb ausgasen bzw. ausgewaschen werden. Die Toxikologie hat für DEHP eine reproduktionstoxikologische Wirkung gefunden. Allerdings ist die von Menschen aufgenommene Menge in der Regel sehr gering, sodass die Wissenschaft im Gegensatz zur Gesellschaft keine allgemeine Gefährdung sieht (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1179). Zu einem kritischeren Ergebnis kam die wissenschaftliche Bewertung aber in einem Spezialfall, nämlich bezüglich der Exposition Neugeborener mit diesem Stoff auf neonatologischen Intensivstationen (PVC-Schläuche), z. B. bei Bluttransfusionen. Wegen des in diesem Fall vorhandenen Risikos für diese sehr jungen Patienten wurde dringend empfohlen, andere Materialien zu verwenden (Kahl, et al., 2004).

2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

46

Beispiel Bisphenol A (östrogenartige Wirkung) Ein weiteres Beispiel, das die in Wissenschaft und Gesellschaft unterschiedliche Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit zeigt und deshalb an dieser Stelle Erwähnung finden muss, ist Bisphenol A (BPA). Auch dieser Stoff hat, wie DEHP, die Aufmerksamkeit der Beratungskommission der Deutschen Gesellschaft für Toxikologie bekommen (Hengstler, et al., 2011). Seit mehr als 20 Jahren wird über BPA in der Wissenschaft kontrovers diskutiert, während die Gesellschaft und die Medien bereits entschieden haben, dass BPA ein gefährlicher Stoff sei. Bisphenol A – Datenlage Die Tatsache, dass in der Wissenschaft so lange diskutiert und gestritten wird, sollte zumindest als ein Hinweis darauf gewertet werden, dass die Daten nicht ausreichen, um die Diskussion mit einem klaren und von allen Beteiligten in Wissenschaft und Gesellschaft akzeptierten Ergebnis abzuschließen, obwohl insgesamt mehr als 5000 akademische Studien und regulatorische Prüfungen (NTP, 2022) publiziert wurden, die sich mit den Sicherheitsaspekten dieses Stoffes beschäftigen. Dem Stoff wird eine östrogenartige Wirkung zugeschrieben, ob die allerdings für die Exposition der Menschen gesundheitlich relevant ist, ist Gegenstand der Kontroverse. Die Beratungskommission der Deutschen Gesellschaft für Toxikologie kam nach langer Arbeit und der Sichtung zahlreicher Studien zu dem Schluss, dass BPA auf Basis der verfügbaren Daten für die Gesundheit der Bevölkerung inkl. Neugeborene und Kleinkinder kein beachtenswertes Risiko darstellt (Hengstler, et al., 2011). Bisphenol A – Bewertung durch europäische und US-amerikanische Fachbehörden Im Januar 2015 veröffentlichte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA18 eine umfassende Neubewertung der BPA-Exposition und -Toxizität und reduzierte die tolerierte Tagesdosis (TDI19) für BPA von 50 auf 4 µg/kg Körpergewicht pro Tag. Der TDI-Wert wurde vorläufig festgelegt, d. h., die EFSA verpflichtete sich zu einer Überprüfung und Neubewertung der Toxizität von BPA nach einer zweijährigen, sehr umfangreichen toxikologischen Zwei-Jahres-Studie, die im Rahmen des US-amerikanischen National Toxicology Program (NTP) durchgeführt wurde. Die Initiierung dieser Studie übernahmen das NIEHS20, NTP21und FDA22, die Kosten in Höhe von 34 Mio. US$ übernahm ein Konsortium aus akademischen und behördlichen Institutionen.

18 EFSA = European 19 TDI = tolerable

daily intake.

20 NIEHS = National 21 NTP = National 22 FDA = Food

Food Safety Authority (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit). Institute of Environmental Health Services.

Toxicology Program.

and Drug Administration.

2.14  Gefahrstoffe – Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit

47

Der Prüfbericht dieser Studie bietet eine kurze Zusammenfassung der experimentellen Verfahren, Ergebnisse und Interpretationen der Autoren, er enthält aber keine Interpretation der dargestellten Ergebnisse (CLARITY-BPA, 2022). Die fachliche Interpretation durch eine wichtige Institution in den USA erfolgte durch Steven Ostroff, MD, dem stellvertretenden Kommissar für Lebensmittel und Veterinärmedizin in der US-FDA. Er erklärte: „Insgesamt fand die Studie minimale Effekte für die BPA-dosierten Gruppen von Nagetieren. Unsere erste Überprüfung unterstützt unsere Feststellung, dass die derzeit genehmigte Verwendung von BPA für Verbraucher weiterhin sicher ist.“

Resümee Man kann an diesem Beispiel auch sehr gut erkennen, wie schwierig es ist, einen Negativbeweis anzutreten, vor allem, wenn Studien publiziert wurden, die einen Effekt gesehen haben. Auch wenn diese Studien berechtigte Zweifel an ihrer Qualität und Aussagekraft nähren und zahlreiche exzellente und umfangreiche Studien keinen relevanten Effekt zeigen konnten, so bleibt doch der Zweifel und der Meinungsbildungsprozess in Öffentlichkeit und Politik extrahiert daraus ein großes Risiko bei geringem Nutzen. Zwei weitere interessante Beispiele, Glyphosat und Tattoos, sind im Kap. 6 beschrieben.

2.14.3 Aspekt der Ethik im Kontext der Nichtbeachtung von gesetzlichen Vorschriften Was die Ethik angeht, besteht natürlich auch die Gefahr der sog. Kleingruppenethik (Weiland, 2011), d. h., eine Gruppe wie „die Chemiker“ oder die Beschäftigten eines Unternehmens definiert sich eigene ethische Regeln, nach denen man sich verhält, die aber nicht im Interesse der übrigen Menschen sein müssen. Solche Regeln haben oft zum Ziel, den eigenen Berufsstand oder das eigene Unternehmen vor zu vielen Vorschriften der Gesellschaft zu schützen, weil sie im Verdacht stehen, das eigene Tun zu erschweren oder zu teurer zu machen. Ein gängiges Beispiel sind die Umweltauflagen, die die Gesellschaft der Automobilindustrie auferlegt, um Gefahren für die Bevölkerung abzuwenden, die die Technikbereiche in der Industrie aber versuchen, nach allen Regeln der Kunst zu umgehen, weil innerhalb der Betriebe und Abteilungen dieser Industrie eigene Regeln der Kleingruppenethik entwickelt wurden und das Verhalten bestimmen. In anderen Arbeiten wird nicht von Kleingruppenethik gesprochen, sondern von Wirtschaftsethik bzw. Individualethik, gemeint ist aber die gleiche Grundproblematik: „Dominiert die Ethik das Gewinnstreben, wird der Gewinn geschmälert. Denn Ethik kostet Geld“ (Kramer, 2002, S. 115).

2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

48

2.14.4 Freiwillige Verpflichtungen Deshalb wird seit einigen Jahren mit Begriffen und „guten Vorsätzen“ wie corporate social responsibility, corporate citizenship, corporate governance oder Nachhaltigkeit versucht, ethisches Verhalten von Gruppen und Individuen positiv zu beeinflussen. Wie die Wirklichkeit zeigt, werden aber freiwillige Verpflichtungen keineswegs zuverlässig durchgehalten, vor allem, wenn sie sich negativ auf die Gewinne auswirken.

2.14.5 Notwendigkeit juristisch unumstrittener Regeln Aus diesem Grund sind juristisch unumstrittene Regeln notwendig, die für alle in gleicher Weise gelten. Der Umgang mit Gefahrstoffen als sicherheitsrelevante Aktivität ist deshalb verbindlich in eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen auf nationaler und internationaler Ebene geregelt, wie z. B. durch das Chemikaliengesetz, die Gefahrstoffverordnung oder die Chemikalien-Verbotsverordnung bzw. die diesen Gesetzen zugrunde liegenden europäischen und weltweiten Regelungen, wie z. B. die CLP-Verordnung der EU23 oder die entsprechende GHS-Richtlinie der UN24 (siehe auch Abschn. 5.6).

2.14.6 Juristischer Schutz der Verantwortlichen Klare gesetzliche Regelungen bieten nicht nur den Schutz vor einer Kleingruppenethik, sie bieten, wahrscheinlich noch wichtiger, die Gewissheit, dass Regeln und Vorschriften eingeübt und trainiert werden. Es muss zur Gewohnheit werden, sich an diese Regeln und Vorschriften zu halten. Im Schadensfall, also einer akuten Gefahr, müssen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nicht erst diskutiert und überlegt werden. Dies ermöglicht schnelles und effektives Handeln und bietet zudem die Möglichkeit, sich auch über die akuten Maßnahmen hinaus Gedanken zu machen, wie nach der unmittelbaren Bewältigung des Schadensfalls weiter verfahren werden kann. Auch bieten diese Regeln für die Verantwortlichen einen gewissen Schutz, denn wenn sie dafür sorgen, dass alles regelkonform vorbereitet und abgelaufen ist, können sie juristisch nicht belangt werden.

23 CLP = CLP

als Akronym steht für classification, labelling and packaging. also die englischen Worte für Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung

24 GHS = globally

harmonised system of classification and labelling of chemicals.

2.15  Gefahrstoffkunde – Kompetenzfördernde Wissensvermittlung

49

2.15 Gefahrstoffkunde – Kompetenzfördernde Wissensvermittlung 2.15.1 Gefahrstoffkunde – Wissensvermittlung an Hochschulen (Universitäten) Mit der kompetenzfördernden Wissensvermittlung der Gefahrstoffkunde an Hochschulen muss erreicht werden, dass Gesetze, Verordnungen und Richtlinien im Unterricht nicht als trockene, lästige Begleiterscheinung des Studiums oder als eine Art Behinderung der freien, innovativen Entfaltung im späteren Berufsleben gesehen werden. Die Gefahrstoffkunde sollte stattdessen schon während des Studiums, aber besonders bei der späteren Wahrnehmung von Verantwortung im Beruf, als eine sinnvolle Stütze, eben als Eichgewichte und Eichmaße bei der Abwägung von Nutzen, Risiko und Sicherheit, dienen. Insofern muss die Erkenntnis vermittelt werden, dass die Gefahrstoffkunde, ganz ähnlich wie eine richtig verstandene Qualitätskontrolle, kein Bremsklotz, sondern ein wirksamer Beschleunigungsfaktor des beruflichen Erfolges ist. In diesem Sinn sollte auch die Etablierung von Qualitätsstandards für das Lehren und Prüfen ein allgemeines Ziel an deutschen Hochschulen sein, auf das allerdings in dieser Schrift nur beschränkt eingegangen werden kann (vgl. Abschn. 3.1).

2.15.2 Grundsätzliche Aufgabe der Lehre Vor dem Hintergrund der Gefahren, die bei der Arbeit mit Gefahrstoffen drohen, ist es die grundsätzliche Aufgabe der Lehre, im Rahmen des Bachelorstudiums Chemie die Inhalte der Gefahrstoffkunde in möglichst exzellenter und kompetenzfördernder Weise den Studierenden zu vermitteln. Zur Vorbereitung auf ihre berufliche Praxis müssen die Studierenden über ein möglichst fundiertes toxikologisches und rechtskundliches Basiswissen verfügen. An zahlreichen Hochschulen und Universitäten wird dies durch die erfolgreiche Teilnahme (bestandene Klausuren) an den Gefahrstoffkundevorlesungen I (Toxikologie) und II (Rechtskunde) erreicht.

2.15.3 Ziel der kompetenzfördernden Wissensvermittlung Das Ziel der kompetenzfördernden Wissensvermittlung ist, dass die Studierenden bereits für die Zeit ihres Studiums, aber insbesondere für ihre spätere berufliche Tätigkeit, sich nicht nur Wissen aneignen, sondern auch ganz bewusst dazu befähigt werden, ihr eigenes Tun besser beurteilen zu können und Verantwortung für sich und für ihre späteren Kollegen sowie möglichen Mitarbeiter zu tragen. Indem das eigene Handeln besser beurteilt werden kann, kann auch die Fähigkeit verbessert werden, im beruflichen Alltag zukunftsfähige Entscheidungen zu treffen, auch für die eigene berufliche Laufbahn.

50

2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

2.16 Gefahrstoffkunde – Sachkundenachweis, § 11 Chemikalien-Verbotsverordnung 2.16.1 Rechtliche Anforderung Fast unabhängig von diesen Überlegungen müssen die Gefahrstoffkundevorlesungen I und II inhaltlich auch an einer mehr formalen Anforderung ausgerichtet werden, denn ein wichtiges Ziel der Studierenden ist, mit den Vorlesungen und den beiden abschließenden Klausuren die Erreichung des sog. Sachkundenachweises, oft auch „Giftschein“ genannt, zu schaffen. Ein wichtiger der Teil der fachlichen Anforderungen geht deshalb aus dem „Gemeinsamen Fragenkatalog der Länder (GFK) für die Sachkundeprüfung nach § 11 der Chemikalien-Verbotsverordnung“, Rechtsstand: 31.10.2022 Version: 01.02.2023 (BLAC, 2023), „Giftprüfung“, hervor.

2.16.2 Inhaltliche Anforderung – Sachkundeprüfung Der „Gemeinsame Fragenkatalog der Länder“ ist eine sehr umfangreiche Fragensammlung. Die Gliederung der Fragen ist wie folgt und gibt einen guten Überblick über den geforderten Inhalt der Sachkundeprüfung: GFK I Nr. 1  G  rundlagen des deutschen und europäischen Chemikalienrechts (40 Fragen) GFK I Nr. 2  Gefahrstoffverordnung und CLP-Verordnung (66 Fragen) GFK I Nr. 3  Chemikalien-Verbotsverordnung (87 Fragen) GFK I Nr. 4  Grundkenntnisse verwandter Rechtsnormen auf nationaler und EUEbene (42 Fragen) GFK I Nr. 5  Verwaltungs-, Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht (19 Fragen) GFK I Nr. 6  Grundbegriffe der Gefahrstoffkunde (29 Fragen) GFK I Nr. 7  Mit der Verwendung verbundene Gefahren (22 Fragen) GFK I Nr. 8  Informationen zur Gefahrenabwehr und Erste Hilfe (52 Fragen) GFK I Nr. 9   Technische Regeln für Gefahrstoffe – Funktion der TRGS (14 Fragen) GFK II Nr. 1 Physikalische und chemische Eigenschaften (4 Fragen) GFK II Nr. 2 Grundkenntnisse der Toxikologie (14 Fragen) GFK II Nr. 3 Wirkungen gefährlicher Stoffe auf die Umwelt (5 Fragen) GFK II Nr. 4 Spezielle Eigenschaften wichtiger Stoffgruppen und bedeutender Einzelstoffe (94 Fragen) GFK II Nr. 5 Möglichkeiten der Gefahrenabwehr (33 Fragen) GFK II Nr. 6 Vertiefte Kenntnisse der Chemikalien-Verbotsverordnung und der REACH-Verordnung (31 Fragen) GFK II Nr. 7  Vertiefte Kenntnisse des Gefahrstoffrechts/CLP-Verordnung (57 Fragen)

2.17  Weitergehende Qualifizierung – Hauptberufliche …

51

GFK II Nr. 8 

 ertiefte Kenntnisse über einige „Technische Regeln für GefahrV stoffe“ (TRGS) (15 Fragen) GFK III Nr. 1  Physikalische und chemische Eigenschaften (4 Fragen) GFK III Nr. 2  Grundkenntnisse der Toxikologie GFK III Nr. 3  Wirkungen von Biozidprodukten und Pflanzenschutzmitteln auf die Umwelt (22 Fragen) GFK III Nr. 4  Haupteinsatzgebiete und Wirkungsspektren wichtiger Stoffgruppen der Biozidprodukte und Pflanzenschutzmittel (72 Fragen) GFK III Nr. 5  Möglichkeiten der Gefahrenabwehr (36 Fragen) GFK III Nr. 6  Vertiefte Kenntnisse der Chemikalien-Verbotsverordnung/ REACH-Verordnung (9 Fragen) GFK III Nr.  7   Vertiefte Kenntnisse der Gefahrstoffverordnung, der entsprechenden Vorschriften für Biozide des ChemG, der Biozidverordnung, des Pflanzenschutzgesetzes sowie der CLP-Verordnung (100 Fragen) GFK III Nr. 8  Anwendung von Biozidprodukten und Pflanzenschutzmitteln (78 Fragen)

2.17 Weitergehende Qualifizierung – Hauptberufliche Gefährdungsermittler Im Unterschied zur kompetenzfördernden Wissensvermittlung auf dem Gebiet der Gefahrstoffkunde oder auch zum Sachkundenachweis im Rahmen eines Bachelorstudiums Chemie geht die Qualifizierung und teilweise auch Zertifizierung zum hauptberuflichen Gefährdungsermittler andere Wege. Als solche würde man Toxikologen*innen bezeichnen, die einen der möglichen Qualifizierungswege erfolgreich durchlaufen haben. In diesem Buch werden diese Ausbildungsgänge zum hauptberuflichen Toxikologen nicht näher dargestellt, der Fokus dieser Arbeit liegt auf der gefahrstoffkundlichen Ausbildung und Kompetenzentwicklung der Studierenden der Chemie und Biochemie. Die Qualifizierung zum/zur hauptberuflichen Toxikologen*in soll aber zu einem besseren Verständnis und zur Information kurz dargestellt werden. In Deutschland kann die Qualifizierung zu hauptberuflichen Toxikologen*innen auf drei Wegen erreicht werden, die allerdings auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.

2.17.1 Facharzt- bzw. Fachtierarzt(in) für Pharmakologie und Toxikologie Medizin und Veterinärmedizin bieten die Möglichkeit, sich zum Facharzt/Fachärztin für Pharmakologie und Toxikologie oder zum Fachtierarzt/Fachtierärztin für Pharmakologie und Toxikologie zu qualifizieren. Voraussetzung dafür ist ein

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2  Grundlagen der Gefahrstoffkunde

erfolgreich abgeschlossenes Medizin- oder Veterinärmedizinstudium. Die Ausbildungsdauer zum Facharzt/Fachärztin bzw. Fachtierarzt/Fachtierärztin beträgt jeweils fünf Jahre (Flexikon, 2020b).

2.17.2 Master Toxikologie Durch eine Zusammenarbeit von naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten sowie pharmazeutisch-chemischen Firmen bieten verschiedene Universitäten in Deutschland einen Masterstudiengang Toxikologie an. Die Dauer dieser Studiengänge beträgt vier Semester. Sie werden als konsekutive Vollstudiengänge bezeichnet und setzen einen ersten berufsqualifizierenden Hochschulabschluss (Bachelor, Diplom, Staatsexamen) in naturwissenschaftlichen oder medizinischen Fächern voraus. Die Masterstudiengänge Toxikologie bieten als typische Studiengänge unterschiedliche Lehrmethoden an.

Beispiel Universität Düsseldorf An der Universität Düsseldorf werden z. B. Vorlesungen, Seminare, E-Learning mit Tutorium, Laborpraktika, Übungen, studentische Vorträge und Exkursionen angeboten. Das allgemeine E-Learning-Konzept des Masterstudiengangs basiert auf einer Internetlernplattform und stellt den Studierenden zusätzliche Lehrmaterialien und weiterführende Aufgaben elektronisch zur Verfügung. Im Bereich der Regulatorischen Toxikologie stellen die Studierenden ihre Kompetenz zum Lösen von toxikologischen Bewertungsproblemen in Übungen unter Beweis, die dem späteren beruflichen Tätigkeitsfeld entnommen sind (Universitätsklinikum Düsseldorf, 2020).

2.17.3 Fachtoxikologe/in GT bzw. EUROTOX Registered Toxicologist Als eine deutlich umfassendere Toxikologie-(Gefahrstoffkunde-)qualifizierung wird in Deutschland die Möglichkeit angeboten, eine fünfjährige Weiterbildung zum Fachtoxikologen/-in GT zu durchlaufen. Dieser Qualifizierungsweg ist offen für Absolventen*innen der Medizin, Tiermedizin, Chemie, Biochemie, Biologie, Pharmazie oder andere Naturwissenschaftler*innen mit ähnlicher Fachausrichtung, die ihr Hochschulstudium erfolgreich abgeschlossen haben (zumeist inkl. Promotion). Voraussetzung ist der Erwerb von Grundkenntnissen in den im Abschn. 2.8.4 für die Toxikologie aufgeführten 18 relevanten Gebieten, die in den Weiterbildungsrichtlinien angeführt sind. Dies umfasst elf Pflichtkurse sowie mindestens zwei von sieben Wahlkursen.

2.17  Weitergehende Qualifizierung – Hauptberufliche …

53

Parallel müssen die Kandidaten*innen eine fünfjährige experimentell toxikologische/pharmakologische Tätigkeit in einem entsprechenden Hochschulinstitut oder in einem sonstigen von der GT als Weiterbildungsstätte anerkannten Forschungslaboratorium nachweisen und mindestens drei eigene Publikationen oder Gutachten auf dem Gebiet der Toxikologie vorweisen. Der Erwerb von vertieften experimentellen Kenntnissen in zwei der 18 Teilgebiete der Toxikologie und der Erwerb von umfassenden Kenntnissen in einem der Teilgebiete muss von einem zertifizierten Toxikologen in einem Gutachten bestätigt werden. Die Qualifizierung zum Fachtoxikologen/-in GT wird von der Deutschen Gesellschaft für Toxikologie (GT) (Weiterbildungskommission) organisiert und verantwortet. Nach bestandener abschließender Prüfung wird von der GT das Zertifikat „Fachtoxikologe/in GT“ vergeben. Dieses Zertifikat berechtigt dazu, sich im europäischen Toxikologenregister als EUROTOX Registered Toxicologist (ERT) eintragen zu lassen. Die Zertifizierung ist eine Voraussetzung, ein behördengeeignetes Gutachten eigenverantwortlich unterzeichnen zu können (Deutsche Gesellschaft für Toxikologie [GT], 2020).

Teil III

Didaktik

3

Vermittlung von Wissen und Kompetenz

3.1 Professionalität und Kompetenzen der Lehrenden 3.1.1 Lehre an Hochschulen Hochschule ist ein Oberbegriff für verschiedene Einrichtungen des tertiären Bildungsbereichs (ISCED 5–8) (UNESCO, 2012). Die Aufgabe der Hochschulen ist, den Studierenden die Kompetenzen zu vermitteln, die zur Begleitung höherer beruflicher Positionen (ISCED: „senior professional in the field of work“), z. B. in Wirtschaft und staatlichen Institutionen, erforderlich sind. Zu den Hochschulen zählen in Deutschland Universitäten, Kunsthochschulen, Pädagogische Hochschulen, Theologische Hochschulen, Gesamthochschulen, Fachhochschulen sowie Verwaltungsfachhochschulen (BMBF, 2020, S. 29). Die Ausbildung der Studierenden steht im Zentrum der Tätigkeiten der Hochschullehrer*innen. Die Lehre an der Hochschule ist nicht einfach eine Fortsetzung der Lehre an der Schule, nur auf höherem Niveau, sie ist durch die Kombination von Unterricht und Forschung eine ganz eigene Form der Lehre.

3.1.2 Schlüsselkompetenzen der Lehrenden – Professionalität Um die Lehre an einer Hochschule möglichst optimal leisten zu können, sind eine Reihe von Schlüsselkompetenzen erforderlich. Schlüsselkompetenzen befähigen nach Vera Nünning dazu, „flexibel auf unterschiedliche Anforderungen zu reagieren, eigenständig Probleme zu lösen und adäquat mit sachlichen Herausforderungen umzugehen“ (Nünning, 2008). Die folgende Liste von Schlüsselkompetenzen von Lehrenden beruht auf eigenen Erfahrungen. Gefragt sind

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P.-J. Kramer, Toxikologie und Rechtskunde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66661-6_3

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

vor allem Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz/Führungskompetenz, Persönlichkeitskompetenz, Engagement und Talent und vor allem auch Professionalität (professionelle Kompetenz). Eine gewisse Abgrenzung von Fach- und Methodenkompetenz und Professionalität erscheint für Hochschullehrer*innen in der Chemie berechtigt, denn Chemiker oder Chemikerinnen können z. B. über eine exzellente chemische Fach- und Methodenkompetenz verfügen, aber auch sehr viel über didaktische Methoden der Wissensvermittlung wissen. Die Frage ist, ob diese Kompetenzen auch so umgesetzt werden können, dass sie an Lernende optimal vermitteln können und z.  B. Doktoranden*innen erfolgreich dazu angeleitet werden, realistische und anspruchsvolle Ziele zu definieren und diese Ziele in einer vertretbaren Zeit auch zu erreichen. Zur Erklärung, was mit der Professionalität Lehrender gemeint ist, ist auch das folgende Zitat hilfreich: „Kompetenzen, die zur Planung, Gestaltung, Durchführung, Reflexion und Weiterentwicklung von Lern- und Bildungsprozessen notwendig oder hilfreich sind, werden als Professionswissen oder professionelle Kompetenzen von Lehrkräften zusammengefasst“ (Krüger, Parchmann, & Schecker, 2014, S. 9). Diejenigen, die über eine besonders ausgeprägte Professionalität verfügen, sind die Professoren*innen, wie es auch der semantische Bezug der Begriffe nahelegt. Weitere Lehrende sind die Lehrbeauftragten, wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und habilitierten Dozenten*innen, deren Professionalität noch entwickelt wird. Nach Lee S. Shulman (Shulman, 1986; vgl. zudem Krüger, Parchmann, & Schecker, 2014) sind im Falle von Lehrenden die drei wichtigsten Formen von Professionalität • die fachlichen Fähigkeiten (content knowledge), • die fachdidaktischen Fähigkeiten (pedagogical content knowledge) und • die pädagogischen Fähigkeiten (pedagogical knowledge). Es konnte gezeigt werden, dass fachdidaktisches Wissen eine Vorhersagekraft für den Lernfortschritt von Lernenden hat und maßgeblich auch die Qualität der Lehre (Best Practice) beeinflusst. Deshalb werden in Abschn. 3.2 bis 3.4 dieses Buches hierzu einige Punkte herausgearbeitet. Diesbezüglich ist das Ziel dieses Buches darzustellen, welche bekannten Hilfsmittel und Methoden bzw. welche innovativen Ansätze helfen können, mit den Möglichkeiten der Gefahrstoffkundevorlesungen I (Toxikologie) und II (Rechtskunde) eine optimierte und zeitgemäße Lösung für die kompetenzfördernde Wissensvermittlung auf dem Gebiet der Gefahrstoffkunde zu erarbeiten und durch ihre Umsetzung eine effektive Gefahrenabwehr während des Studiums und danach im beruflichen Leben sicherzustellen. Deshalb ist es naheliegend herauszufinden, welche Vorgehensweisen die Fachdidaktiken der Medizin und Chemie anbieten können, die dazu beitragen, auch die kompetenzfördernde Wissensvermittlung im Themenfeld der Gefahrstoffkunde erfolgreich zu gestalten. Das Professionswissen der Lehrenden wird dabei eine zentrale Rolle spielen.

3.2  Hochschuldidaktik in den Naturwissenschaften

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3.2 Hochschuldidaktik in den Naturwissenschaften 3.2.1 Verstehen fördern – Verbesserung von Lehr- und Lernprozessen Wie in dem Buch „Methoden in der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung“ (Krüger, Parchmann, & Schecker, 2014) von den Herausgebern ausgeführt, stellt sich die Fachdidaktik der Naturwissenschaften beim fachspezifischen Lehren und Lernen die Frage, welche methodischen Ansätze geeignet sein können, um bei den Lernenden das Verständnis der fachlichen Inhalte und deren Verankerung im Gedächtnis zu fördern („Optimierung von Lernprozessen“). „Der Fachdidaktik [der Naturwissenschaften] geht es also um das Verstehen und um die Verbesserung von Lehr- und Lern-Prozessen“ (Krüger, Parchmann, & Schecker, 2014). Dabei müsste darauf geachtet werden, die Studierenden auf ihrem jeweiligen Kompetenz- und Interessenniveau abzuholen, um das Verstehen und damit auch das Lernen zu optimieren. Dies ist in der Praxis der Gefahrstoffkundevorlesungen nicht ganz einfach, denn bei der relativ großen Zahl von Studierenden, die sich für die Gefahrstoffkundevorlesungen einschreiben (GFK  I im WS 2022/2023: 114 Studierende), ist das Vorwissen und teilweise auch das Fach- und Sachinteresse unterschiedlich. Die Studierenden studieren unterschiedliche Fächer, nicht alle studieren Chemie, und sie kommen aus unterschiedlichen Schulen, manche mit Leistungskursen in Biologie, andere haben Biologie abgewählt. Um Organschäden oder Zellschäden zu verstehen, müssten aber entsprechende Grundkenntnisse der Humanbiologie vorhanden sein. Die Studierenden kommen auch aus unterschiedlichen Bundesländern und Staaten, sodass nur durch wiederholtes Fragen erreicht werden kann, dass man sie auf ihrem jeweiligen Niveau des Vorwissens oder auch des Sachinteresses abholen kann. Auch die Frage, warum Menschen fachliche Inhalte unterschiedlich verstehen, ist etwas, was alle Lehrenden brennend interessiert, weshalb große Erwartungen an die Didaktikforschung gerichtet werden, denn die unterschiedlichen Anfangsniveaus der Studierenden sind sicher nicht die ganze Erklärung. Zu dem Verstehen gehört in allen Wissenschaften auch die Kritik. Ohne kritisches Denken und Argumentieren kann eine Wissenschaft nicht erfolgreich sein, da sonst nie neue, vom bisherigen Wissen abweichende Erkenntnisse möglich werden. In der Lehre muss also einerseits sog. gesichertes Wissen vermittelt werden, andererseits aber auch der Impuls und die Kompetenz, dieses Wissen kritisch zu hinterfragen.

Formate Um derartige Fragen erforschen und überprüfen zu können, definiert die naturwissenschaftliche Didaktikforschung sog. Formate. Unter einem Format wird das Design einer Studie verstanden.

3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

60

Das Format umfasst: • Bezugsdisziplinen, d. h. den inhaltlichen und methodischen Bezugsrahmen. Bei einer Studie über die Interessenentwicklung in der Gefahrstoffkunde könnten dies z. B. Chemie, Medizin, Toxikologie, Psychologie und Pädagogik (Lerntheorie) sein. • Erkenntnisinteresse, d. h. die Art der angestrebten Ergebnisse (z. B. die Konzeption einer lernwirksamen Unterrichtseinheit zum toxikologischen Profil eines Gefahrstoffes) inkl. Aufklärung des Zusammenhangs zwischen Fachwissen und möglichen Interessen • methodische Grundausrichtung (wie systematisch sollen alle möglichen Messkriterien erfasst werden?) • forschungsorganisatorische Einbettung (z. B. eine Studie in einem vernetzten Projekt oder ein isoliertes Einzelprojekt) (Krüger, Parchmann, & Schecker, 2014, S. 4)

3.2.2 Fachdidaktik Die Fachdidaktik als Wissenschaft vom fachspezifischen Lehren und Lernen wird häufig als eine Schnittmenge aus Fachwissenschaft, Psychologie und Erziehungswissenschaft gesehen. „Dies greift jedoch zu kurz, denn es geht nicht darum, lediglich Erkenntnisse aus anderen Disziplinen additiv zusammenzuführen […]. Die Fachdidaktiken der drei Naturwissenschaften haben vielmehr ein eigenständiges Feld für Forschung und Entwicklung: domänenbezogenes Lernen und Lehren. Domäne steht hier ebenso für Inhaltsbereiche eines Faches wie für Alltagskontexte, die in einer naturwissenschaftlichen Perspektive erschlossen werden sollen“ (Krüger, Parchmann, & Schecker, 2014, S. 3). Interessant für die praxisnahe Entwicklung der Hochschullehre scheint auch das Modell der Partizipativen Fachdidaktischen Aktionsforschung (Markic & Tolsdorf, 2018) zu sein. Danach müssten an der Entwicklung der Hochschullehre neben Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern des jeweiligen Faches auch weitere Hochschullehrende und zusätzlich z. B. Lehrende aus Schulen sowie auch Studierende beteiligt werden (Markic & Tolsdorf, 2018). Ob dieser Ansatz in der Praxis umgesetzt werden kann, dürfte eher unsicher sein. Eine realistische Einschätzung der praktischen Anwendbarkeit dieses Modells liegt außerhalb meiner fachlichen Kompetenz. Fürsprecher des Modells sind z. B. Ingo Eilks und Bernd Ralle von der Chemiedidaktik an der Universität Dortmund (Eilks & Ralle, 2002).

3.2.3 Chemiestudium – Kompetenzerwerb – Ziele Die Umsetzung dieser Erkenntnisse aus der Didaktik muss auch im Einklang sein mit den beruflichen Anforderungen, die an die Absolventen*innen des Chemie- und Biochemiestudiums von den zukünftigen Arbeitsstellen gestellt

3.2  Hochschuldidaktik in den Naturwissenschaften

61

werden. So sollen gemäß der GDCH-Studienkommission die Absolventen*innen des Bachelorstudiums Chemie vor allem Folgendes gelernt und erworben haben (GDCH, 2021).

3.2.4 Allgemeiner fachspezifischer Kompetenzerwerb • mathematisch-naturwissenschaftliche Grundkenntnisse und chemische Methodenkompetenz • fundierte Kenntnisse in den chemischen Kernfächern Anorganische, Organische und Physikalische Chemie sowie in der Analytischen Chemie • zusätzliche Kenntnisse in weiteren Chemiefachgebieten, z. B. Biochemie, Makromolekulare Chemie usw. • Handlungskompetenzen bei chemisch-praktischen Arbeiten und sicherer, selbständiger Umgang mit Chemikalien (Gefahrstoffkunde) • Kenntnisse von Sicherheits- und Umweltbelangen und den rechtlichen Grundlagen (Gefahrstoffkunde) • relevante wissenschaftliche und technische Daten erarbeiten, interpretieren und bewerten • selbständig wissenschaftliche/anwendungsorientierte Problemstellungen lösen und die Ergebnisse darstellen • lebenslang lernen

3.2.5 Überfachliche Kompetenzen • über Inhalte und Probleme der Chemie sowohl mit Personen innerhalb als auch außerhalb ihres Faches kommunizieren, auch fremdsprachlich/international • im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen und ethischen Verantwortung und unter Berücksichtigung berufsethischer Grundsätze und Normen der Chemie handeln • sowohl einzeln als auch im Team arbeiten und Projekte durchführen • Gelerntes in weiterer Bildungsbiografie (Masterstudium/Promotion) und im späteren Berufsleben anwenden • zusätzliche Kenntnisse und Fertigkeiten erworben haben, z. B. aus der Ökonomie, Ethik, Philosophie oder in einer weiteren Fremdsprache Auch in dieser Studie fällt auf, dass das Studium einen starken Fokus auf Kompetenzen und Fähigkeiten legen muss, um den Anforderungen der späteren Arbeitsstellen gerecht zu werden.

3.2.6 Kompetenz – Kompetenzstruktur – Kompetenzdimension Das hauptsächliche Ziel dieses Buches ist darzustellen, wie eine kompetenzfördernde Wissensvermittlung in den beiden Gefahrstoffkundevorlesungen I

62

3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

(Toxikologie) und II (Rechtskunde) verwirklicht werden kann. Wie bereits ausgeführt, ist also die reine Wissensvermittlung nicht das Ziel, sondern die Entwicklung von Kompetenz. Kompetenz ist nach Auffassung von Franz E. Weinert „… die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernten kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Schubert & Schwill, 2011).

3.2.7 Kompetenz in der Gefahrstoffkunde Kompetenz bedeutet in der Gefahrstoffkunde die effektive sicherheitsrelevante Interaktion des Chemikers, der Chemikerin mit der betrieblichen oder behördlichen Umgebung, d. h. die tatsächlich zu Wirkung gebrachten Fähigkeiten auf diesem Gebiet. Die betreffende Umgebung, das Labor und die Produktionsanlage, muss sich auf diese Kompetenzen und die daraus resultierenden Entscheidungen und Anordnungen verlassen können.

3.2.8 Abhängigkeit der Kompetenz von Intelligenz Kompetenz ist abhängig von Intelligenz, aber nicht gleichbedeutend mit Intelligenz. In der Intelligenzforschung wurden von Raymond Bernard Cattell die Begriffe der fluiden und der kristallisierten Intelligenz eingeführt (Walter, 2011), (Gruber, 2019). Die fluide Intelligenz ist angeboren, während die kristallisierte Intelligenz durch Erfahrung und Lernen erworben werden kann. Die kristallisierte Intelligenz ist deshalb eng verwandt mit der Kompetenz, denn auch die Kompetenz ist erlernbar und somit auch lehrbar. Für die angeborene fluide Intelligenz trifft das nicht zu. Natürlich sind die beiden Intelligenzen nicht voneinander unabhängig. Die fluide Intelligenz bezieht sich auf die generelle geistige Verarbeitungskapazität, die Aufgabenanalyse und auf logisches und kritisches Denken. Die kristallisierte Intelligenz wird dagegen in einer Kombination aus explizitem Wissen (Inhalte, Zahlen, Daten, Fakten) und implizitem Wissen (gelernte Fähigkeiten wie Autofahren oder Tennisspielen) gesehen.

3.2.9 Kompetenzstrukturmodelle Es stellt sich deshalb die Frage, wie die moderne Fachdidaktik sich dieser Thematik annimmt. Ein Buchabschnitt, der hierzu wertvolle Hinweise liefert, wurde von Jürgen Mayer und Nicole Wellnitz im Buch „Methoden in der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung“ (Mayer & Wellnitz, 2014, S. 19) veröffentlicht. Unter dem Titel „Die Entwicklung von Kompetenzstruktur-

3.3  Hochschuldidaktik in der Medizin

63

modellen“ beschreiben die Autoren Kernpunkte zur Kompetenz. Danach werden Kompetenzen „in Abgrenzung zu motivationalen und affektiven Voraussetzungen, in der Regel als erlernbare kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen definiert, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen beziehen.“ Mit anderen Worten, Kompetenzen werden für Fachgebiete erlernt und machen es möglich, bestimmte Bedingungen bzw. Anforderungen zu erkennen und sachgerecht darauf zu reagieren, weshalb sich Kompetenzen nicht so leicht von einem Anwendungsfeld auf ein anderes übertragen lassen.

3.2.10 Kompetenzdimensionen Um fachspezifische Kompetenzen objektiv untersuchen zu können, definiert die Didaktik verschiedene differenzierbare Kompetenzdimensionen (Mayer & Wellnitz, 2014, S. 19). Ziel dabei ist, curriculare Inhalte oder Anforderungen zu definieren, die vorgeschrieben und deshalb erreicht werden müssen. Zum Beispiel sollen die Studierenden am Ende der Vorlesungen wissen, wie sie vorgehen müssen, um eine Gefährdungsbeurteilung zu erarbeiten und die daraus folgenden gesetzlichen Regelungen einzuhalten. Diese Anforderungen folgen eher einer fachlichen Logik (z. B. Basiskonzepte) oder einem Bildungskonzept (z. B. toxikologische Grundbildung), ohne dass zunächst deutlich wird, welche Fähigkeitsmuster oder Teilkompetenzen tatsächlich von den Studierenden innerhalb eines Kompetenzbereichs entwickelt werden sollen. Die kompetenzorientierte Umsetzung dieser Logik in den Gefahrstoffkunde­ vorlesungen I und II im Rahmen des Bachelorstudiums Chemie bedingt, dass den Studierenden auch bewusst gemacht werden muss, dass sie nicht nur Wissen benötigen, sondern auch ihr Können und Wollen ausgebildet werden müssen.

3.3 Hochschuldidaktik in der Medizin 3.3.1 Kompetenznetz Medizinlehre Bayern – Modell Öchsner/ Reiber Eine breit rezipierte und auf viel Zuspruch gestoßene Publikation zur Hochschuldidaktik in der Medizin ist das „Zertifikat Medizindidaktik Bayern“, welche ein Konsenspapier der Arbeitsgruppe „Fakultätsentwicklung im Rahmen des Kompetenznetzes Medizinlehre Bayern“ darstellt und am 3. Juni 2015 durch die Studiendekane der fünf bayerischen Medizinischen Fakultäten genehmigt wurde (Görlitz, et al., 2015). Darin wird ein Modell (Öchsner & Reiber, 2010) (Abb. 3.1) beschrieben, nach dem die Hochschulbildung immer drei Aspekte der Kompetenzorientierung aufweist, die nicht auf die Hochschuldidaktik der Medizin beschränkt sind, sondern allgemeine Gültigkeit haben können:

64 Abb. 3.1  Modell Öchsner/ Reiber – Kompetenzbereiche und Hochschuldidaktik. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Öchsner & Reiber, 2010, S. 118)

3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

Fachbezogene Hochschuldidak k

Fachbezogene Kompetenzen

Berufserte Kompetenzen

Gesellscha srelevante Kompetenzen

Fachübergreifende Hochschuldidak k

1. fachbezogene Kompetenzen: Wissensbestände, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen, die sich aus dem Fach als wissenschaftliche Disziplin herleiten lassen; u. a. Umgang mit Materialien, Methoden bzw. Gegenständen der Disziplinen, Sichtweisen und Werte verstehen, Forschungsergebnisse kritisch bewerten; wichtige Beiträge würdigen können 2. gesellschaftsrelevante Kompetenzen: ethische Urteilsfähigkeit, Bereitschaft sich für das eigene Verhalten verantwortlich zu fühlen; die Fähigkeit, eine fundierte und begründete Meinung zu aktuellen sozialen Fragen zu entwickeln; eigene Werte vertreten können usw. 3 berufsorientierte Kompetenzen: „employability“ der Absolvent*innen; diese Kompetenzen können kaum fachübergreifend beschrieben werden und hängen stark von der jeweiligen Disziplin und Profession ab Innerhalb dieser Systematik schlagen Öchsner und Reiber die Verortung der fachbezogenen Hochschuldidaktik tendenziell eher bei den fachbezogenen und berufsorientierten Kompetenzen vor. Die fachübergreifende Hochschuldidaktik sehen sie stärker zwischen gesellschaftsrelevanten und berufsorientierten Kompetenzen verortet. Neben zahlreichen Gemeinsamkeiten zu anderen Fachgebieten wie die Unterrichtsformate Vorlesungen, Seminare und Praktika bestehen in der medizinischen Fachdidaktik einige Besonderheiten, die zwar prinzipiell auf alle Berufe zutreffen, die aber auf Gesundheitsberufe wie auch die Toxikologie ganz besonders zutreffen. Diese Punkte müssen deshalb auch bei der kompetenzfördernden Wissensvermittlung von toxikologischen Inhalten an Studierende der Chemie/Biochemie eine besondere Rolle spielen.

3.4  Didaktik bzw. Lehr- und Lernforschung aus Sicht …

65

Diese Besonderheiten sind z. B.: • bindende Vorgaben durch gesetzliche Verordnungen, denn alle Aktivitäten finden nur wegen und auf Basis von Gesetzen und Verordnungen statt • Rolle ethischer Fragen auch im Hinblick auf die gesellschaftliche Verantwortung; die Ergebnisse der Arbeit wirken sich direkt auf eine mögliche Gefährdung von Menschen aus • multiples Rollenverständnis im Beruf (Forschung, Produktion, Behörden, Industrie) mit sehr unterschiedlichen Verantwortlichkeiten Spezielle Anforderungen sind beispielsweise die Weiterentwicklung der Curricula vor dem Hintergrund aktueller Forschungsergebnisse aus der Lehr- und Lernforschung, die Umsetzung (neuer) gesetzlicher Vorgaben und die Weiterentwicklung der Curricula entsprechend der sich ändernden gesellschaftlichen Bedürfnisse. Gemäß dem Modell von Öchsner und Reiber ist das Ziel der kompetenzorientierten Wissensvermittlung die Bildung von fachbezogenen, berufsorientierten und gesellschaftsorientierten Kompetenzen, denn Kompetenzen sind erlernbar.

3.4 Didaktik bzw. Lehr- und Lernforschung aus Sicht der Neurowissenschaften 3.4.1 Neurotoxizität In der Toxikologie spielt die schädigende Wirkung chemischer Stoffe (Gefahrstoffe) auf das zentrale oder periphere Nervensystem (Neurotoxizität) eine wichtige Rolle. Dabei können sich insbesondere auch Nebenprodukte, die ungewollt bei der Synthese von Chemikalien und Arzneimittel auftreten, als sehr gefährlich erweisen. Ein sehr einprägsames Beispiel, das deshalb auch in der Gefahrstoffkundevorlesung erwähnt wird, ist ein Stoff, der vermutlich bei diversen Arzneimitteln als Verunreinigung unerkannt vorkommt und zu dem Krankheitsbild der Parkinsonerkrankung und zum Tod führen kann, das MPTP1 (Kramer, Caldwell, Hofmann, Tempel, & Weisse, 1998).

3.4.2 Funktionelle Schädigung – Verhaltenstoxikologie Neben dieser direkten und morphologisch sichtbaren Neurotoxizität ist auch die funktionell schädigende Wirkung von chemischen Stoffen, die kein morphologisch sichtbares Korrelat aufweisen, aber trotzdem zu signifikanten Verhaltensanomalien, zu Defiziten der Lernfähigkeit und zu Gedächtnisverlust führen,

1 MPTP

(N-methyl-4-phenyl-1,2,3,6-tetrahydropyridin).

3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

66

ein wichtiger Endpunkt der toxikologischen Prüfungen. Derartige funktionelle Schädigungen, können sowohl den erwachsenen Menschen betreffen, sie sind aber besonders problematisch, wenn sie sich während der embryonalen, fetalen und juvenilen Entwicklung des Zentralnervensystems auswirken können, denn ihre Wirkung ist im Allgemeinen irreversibel und wirkt sich deshalb über die gesamte Lebenszeit der betroffenen Menschen aus. Aus diesem Grund ist die Verhaltenstoxikologie (behavioural toxicology) ein wichtiges Tätigkeitsfeld der Regulatorischen Toxikologie und somit auch der Gefahrstoffkunde (siehe auch auch Vorlesungsveranstaltungen Neurotoxikologie und Reprotoxikologie), die sich die neueren Erkenntnisse der Neurowissenschaften zunutze machen.

3.5 Neurowissenschaften – Hirnforschung Es liegt deshalb nahe zu prüfen, ob die bisherigen Ergebnisse der Neurowissenschaften auch hilfreiche Hinweise geben können, wie Lernen und Lehren gestaltet werden könnten. Die Neurowissenschaften, oft auch populärwissenschaftlich „Hirnforschung“ genannt, wollen u. a. ergründen, wie das Vermögen zu lernen von der Funktion diverser Gehirnstrukturen abhängig ist. Dabei spielen Wissenschaften wie die Neuroanatomie und Neurophysiologie eine wichtige Rolle, die inzwischen ein breites Spektrum von Methoden zur Verfügung haben. Beispiele sind die Tiefenhirnstimulation2 oder das Neuroimaging mit verschiedenen bildgebenden Verfahren, wie z. B. PET3 und fMRT4, aber auch die Analyse der Funktion von Nervennetzen.

3.5.1 Gehirnstrukturen – Gedächtnis/Lernen „Gedächtnis wird klassischerweise entlang der Zeitachse eingeteilt, wobei man zwischen Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis unterscheidet“ (Brand & Markowitsch, 2004, S. 10 f.) (Atkinson & Shiffrin, 1968). Brand & Markowitsch formulieren wie folgt: „Das Ultrakurzzeitgedächtnis, das häufig auch als ikonischer Speicher oder sensorisches Register bezeichnet wird, beinhaltet die Aufbereitung sensorischer Eingangsinformationen. Seine zeitliche Begrenzung liegt im Millisekundenbereich. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Annahme umfasst das Kurzzeitgedächtnis nicht etwa ein paar Stunden oder Tage, sondern wird in der Psychologie auf einen Zeitraum im Sekundenbereich (in der Regel 20–40 s) bis maximal Minuten beschränkt. Die Bezeichnung

2 Tiefenhirnstimulation

(THS) = hochfrequente, elektrische Stimulation von Kerngebieten des Gehirns; zu Möglichkeiten der THS siehe auch Deutsche Gesellschaft für Hirnstimulation in der Psychiatrie e. V. (DGHP). 3 PET = Positronenemissionstomografie (PET). 4 fMRT = funktionelle

Magnetresonanztomografie.

3.5  Neurowissenschaften – Hirnforschung

67

des Arbeitsgedächtnisses wurde von Baddeley […] eingeführt. Das Arbeitsgedächtnis stellt ein System dar, das zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis steht und in dem Informationen aktiv aufrechterhalten und manipuliert werden können. Dabei wird zumeist hinsichtlich der Modalität der Information (z. B. visuell vs. auditiv) unterschieden. Im Arbeitsgedächtnis werden nicht nur aufgenommene Reize aus der Umwelt für kurze Zeit gehalten, sondern auch Informationen aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen und verarbeitet, um beispielsweise neu aufgenommene Stimuli mit Informationen aus dem Langzeitgedächtnis zu vergleichen. Die Kapazität des Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses ist beschränkt, […]. Die Aufnahmekapazität des Langzeitgedächtnisses hingegen ist, zumindest theoretisch, unbegrenzt. 

Fünf Langzeitgedächtnissysteme  (Brand & Markowitsch, 2004, S. 10)

• Episodisches Gedächtnis beinhaltet Episoden und Ereignisse einer Person mit räumlichem, zeitlichem und situativem Bezug (z. B. die Erinnerung an den ersten Skiurlaub). • Semantisches Gedächtnis repräsentiert allgemeines Weltwissen ohne persönlichen Bezug (z. B. das Wissen, was der Satz des Pythagoras bedeutet). • Perzeptuelles Gedächtnis ermöglicht das Erkennen von Gegenständen und Objekten aufgrund von Bekanntheits- oder Familiaritätsurteilen. • Prozedurales Gedächtnis beinhaltet Fertigkeiten (z. B. Fahrradfahren). • Priming bedeutet eine bessere Wiedererkennensleistung von zuvor Wahrgenommenem aufgrund weniger Fragmente.

3.5.2 Verschaltung verschiedener Gedächtnisse – Lernfähigkeit – Neugier Es gibt aber nicht das eine Gedächtnis, sondern viele und zum Teil unabhängig voneinander arbeitende Gedächtnisse. Das Wissen zu einer Person wird nicht an einer Stelle und zusammengefasst gespeichert. Die Informationen über ihr Aussehen, ihre Stimme, ihren Namen werden in unterschiedlichen Hirnregionen gespeichert.

Hippocampus – Vermittlerrolle Der Hippocampus hat eine Vermittlerrolle beim Speichern von deklarativen5 Gedächtnisinhalten. Erst durch sein Einwirken wird eine langfristige Spur in assoziativen Gehirnregionen angelegt (Kullmann & Seidel, 2005, S. 29,  34).

5 deklaratives Gedächtnis = autobiografisches und Wissensgedächtnis (Kullmann & Seidel, 2005, S. 33).

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

„Aufgrund der verfügbaren Daten zur Konnektivität und aus klinischen und experimentellen Erkenntnissen lässt sich folgende Modellvorstellung entwickeln: Die zum […] Kortex übertragenen polymodalen Informationen werden zum Hippocampus weitergeleitet, um eine Art Gedächtnisspur zu bilden. Diese wird dann zur […] Rinde vermittelt und von dort zu anderen Kortexarealen zur Langzeitspeicherung“ (Huggenberger, et al., 2019, S. 121). Der Hippocampus spielt mit Sicherheit eine entscheidende Rolle bei der Langzeitspeicherung von Informationen, aber außer dieser Formation sind weitere Gehirnstrukturen sehr zentral mit dem Verstehen, dem Lernen und dem Gedächtnis verbunden, z. B. die Amygdala, der Hypothalamus und das Striatum (Corpus striatum, Streifenkörper), die alle miteinander verschaltet sind.

Hippocampus – Arbeitsspeicher des Gehirns Den Hippocampus selbst könnte man etwas salopp und in der zeitgenössischen Computersprache auch als einen Arbeitsspeicher des Gehirns bezeichnen, denn im Hippocampus kommen Informationen aus verschieden sensorischen Organen an, werden genau analysiert und bewertet, d. h. mit bereits gespeicherten Informationen verglichen, und, wenn als wichtig bewertet, zur Speicherung an die Großhirnrinde (Cortex und Neocortex) weitergegeben (Kullmann & Seidel, 2005). Im Hippocampus werden zu den ankommenden Informationen also negative (z. B. Wut, Ärger) und positive (z. B. Freude, Lust) Erinnerungen erzeugt, die dann gemeinsam mit den Informationen in der Großhirnrinde gespeichert werden und somit längerfristig zur Verfügung stehen. Nur was als wichtig und interessant bewertet wurde, wird weiterverarbeitet und gespeichert. Der Hippocampus hat deshalb beim Lernen und bei der Bildung des Gedächtnisses eine Schlüsselstellung, denn er entscheidet auf die beschriebene Weise, welche aktuellen Informationen (Kurzzeitgedächtnis) in die Langzeitspeicherung (Langzeitgedächtnis) transferiert werden (Huggenberger, et al., 2019), (Kullmann & Seidel, 2005). Adulte Neurogenese in Hippocampus und Amygdala Vorteilhaft ist, dass der Hippocampus, zusammen mit der Amygdala, eines der wenigen Hirnareale ist, in dem auch nach dem weitgehenden Abschluss der Gehirnreifung im adulten Gehirn noch neue Nervenzellen und vor allem Synapsen gebildet werden (sog. adulte Neurogenese) (Moreno-Jimenéz, et al., 2019), (Stangl, 2020). Das bedeutet, dass Lernen nicht beendet ist, wenn im Großteil des Gehirns, nachdem das Erwachsenenalter erreicht ist (ca. 20 Jahre), die Teilung von Neuronen oder die Bildung von neuen Synapsen sehr reduziert und im Fall des Neocortex fast gänzlich eingestellt zu sein scheint. Bei Nichtbenutzung werden Schaltungen (Synapsen) sogar relativ schnell wieder abgebaut (Kullmann & Seidel, 2005, S. 37). Die Teilung und damit Vermehrung der die Neuronen unterstützenden Gliazellen ist ständig aktiv und scheint auch durch entsprechende mentale Aktivitäten aktivierbar zu sein.

3.5  Neurowissenschaften – Hirnforschung

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Limbisches System und Amygdala Der Hippocampus ist sehr wichtig für das Gedächtnis, er ist aber auch Teil des limbischen Systems, das sehr viel mit der Verarbeitung von Emotionen zu tun hat (Huggenberger, et al., 2019, S. 120) (Kullmann & Seidel, 2005). Dem limbischen System werden die Amygdala, der Hippocampus, der limbische Cortex und die Area septalis zugerechnet. Die Amygdala gilt als Schaltstelle für Emotionen. In der Evolution hatte das limbische System eine herausragende Stellung, da es durch seine Verbindung zum Geruchsinn externe Reize wie Ortsinformation und Gerüche präzise auswerten musste, um angemessene Reaktionen des Organismus zu ermöglichen, z. B. Annäherung, Angriff, Paarung und Flucht. Um Gefahren aus dem Weg gehen zu können, musste dieses phylogenetisch sehr frühe System auch sehr eng mit der Lernfähigkeit des Organismus verbunden sein (Thompson, 2001, S. 17–19). Kullmann und Seidel verdichten die Darstellung dieser Zusammenhänge zu folgender Aussage: „Die Emotionen spielen eine sehr große Rolle beim Behalten von Informationen. In welcher Intensität wir Sachverhalte speichern und wie leicht wir sie wieder aufrufen können, hängt von unseren Gefühlen ab“ (Kullmann & Seidel, 2005, S. 18). Striatum – Belohnungssystem – Neugier Das Striatum (Huggenberger, et al., 2019, S. 100), (Thompson, 2001, S. 19 f.) gehört zu den Basalganglien, die aus einem Verbund sog. großer Kerne bestehen, dem Nucleus caudatus und den Putamen, die einen engen Bezug zum Nucleus accumbens haben, der ein wichtiger Teil des sog. Belohnungssystems darstellt (Thompson, 2001, S. 171 f.). Dies ist wichtig, da auch aus anderer Perspektive bekannt ist, dass Lernen sehr viel mit Emotionen zu tun hat und eine intensive Kommunikation zwischen Belohnung und Lernen besteht. Etwas Neues verstanden zu haben, kann geradezu eine Hochstimmung erzeugen, die deutsche Sprache spricht sogar von einer „Befriedigung der Neugier“, denn Neugier ist die hauptsächliche Triebfeder, etwas Unbekanntes verstehen bzw. lernen zu wollen (Naughton, 2016). Zum Lernen muss niemand gezwungen werden, denn die Lust zu lernen, die Neugier, ist ein Teil unserer angeborenen Überlebensstrategie, „weil sie Wissen schafft, mit dem Entwicklungen vorausgesagt und Verhaltensstrategien optimiert werden können“ (Singer, 2002, S. 181).

3.5.3 Neugier vs. Angst vor Neuem Der Psychologe Silvan Tomkins hat bereits 1962 formuliert: „Die Wichtigkeit der Neugier für das Denken und das Gedächtnis ist so extensiv, dass deren Abwesenheit die intellektuelle Entwicklung nicht weniger als die direkte Zerstörung von Hirngewebe gefährden würde. Es gibt keine menschliche Kompetenz, die erreicht werden kann in der Abwesenheit eines anhaltenden Interesses“ (Tomkins, 1962) (Naughton, 2016, S. 11). Die Neugier wird deshalb in meiner Vorstellung der geschilderten Zusammenhänge als der Gegenspieler der „Angst vor Neuem“ betrachtet.

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

3.5.4 Denkfaules Gehirn Weniger mit Belohnung und Emotion hat zu tun, dass unser Kopf versucht, möglichst ohne Anstrengung auszukommen, mit anderen Worten, der Mensch bevorzugt leicht zugängliche und leicht verdauliche Informationen. Informationen, die nur mit mentaler Anstrengung aufgenommen und verarbeitet werden können, werden nach Möglichkeit vermieden. „People tend to prefer fluently processed over harder to process information“ (Constable, Bayliss, Tipper, & Kritikos, 2013). Je einfacher die Verarbeitung, wahrscheinlich auch je besser die neue Information zum Vorwissen passt, desto bereitwilliger wird die neue Information aufgenommen. Es scheint, als ob für das Gehirn die Effizienz und Schnelligkeit im Vordergrund stehen. Sehr anschaulich beschrieben hat dies der Nobelpreisträger Daniel Kahneman (Kahneman, 2012), der in seinem Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“ auf diese intellektuelle Trägheit des Menschen eingeht.

3.5.5 Kritische Phasen der Gehirnreifung – Stille Synapsen In diesem Zusammenhang sollten auch neuere Forschungserkenntnisse (Löwel, 2020) erwähnt werden, die sich mit den sog. kritischen Phasen der Gehirnreifung befassen, in denen das Gehirn besonders plastisch, d. h. lern- und anpassungsfähig ist. In dieser Zeit bewirkt im jungen Gehirn aktives Lernen, dass die Verschaltungen zwischen den Neuronen reorganisiert und optimiert werden können. Wichtig bei diesen kritischen Phasen ist, dass neue Erkenntnisse in einem bestimmten Zeitfenster gewonnen werden müssen, damit das dazu notwendige neuronale Netzwerk und dessen Leistungsfähigkeit sich optimal entwickeln können. Bei diesen Vorgängen im Gehirn kommt den sog. stillen Synapsen eine entscheidende Rolle zu. Stille Synapsen im noch nicht ausgereiften Gehirn können keine elektrische Erregung an nachfolgenden Neuronen auslösen und damit auch keine Information weiterleiten. Sie reifen erst nach einer starken Aktivierung, z. B. durch eine gemeinsame Aktivität vieler Neuronen. Kritische Phasen erhöhter neuronaler Plastizität bleiben so lange geöffnet, bis alle stillen Synapsen durch starke Aktivierung gereift sind. Sie können wieder geöffnet werden, wenn bestimmte Signalproteine (PSD-93 und PSD-95) exprimiert werden. Wie das geschieht, ist noch nicht klar, eröffnet aber völlig neue Perspektiven auch auf die Lernaktivierung bereits ausgereifter Gehirne (Löwel, 2020).

3.5.6 Gehirnstrukturen – Gefahreneinschätzung Das Gehirn muss ständig ein Verhalten erzeugen, das den Organismus in die Lage versetzt zu überleben (Gefahrenabwehr). In Zusammenarbeit aller Gehirnstrukturen werden die verfügbaren Informationen (Wahrnehmungen), z. B. die von sensorischen Organen, bewertet. Das Ergebnis dieser Bewertung, die Gefahreneinschätzung, führt zu einem bestimmten Verhalten, das dann zusammen mit

3.5  Neurowissenschaften – Hirnforschung

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dem Bewertungsergebnis im Gedächtnis gespeichert wird. Bei jeder neuen entsprechenden Wahrnehmung wird dieses Ergebnis wieder aufgerufen, verglichen und neu eingeordnet (Lernen). Bewertung, Gedächtnis und Lernen hängen somit eng zusammen, denn jede Bewertung geschieht aufgrund der im Gedächtnis bereits gespeicherten Informationen (Kullmann & Seidel, 2005, S. 17). Die Gefahrstoffkundevorlesung inkl. der aktiven Lernarbeit für die Klausuren dient deshalb dazu, Informationen und Verhaltensweisen im Gedächtnis zu speichern, die immer dann, wenn Gefahrstoffe wahrgenommen werden, abgerufen werden können und erstens zu einem sinnvollen Verhalten und zweitens zu einer Ergänzung des Gedächtnisses (Lernen) führen.

3.5.7 Neurowissenschaften – Konsequenzen für die Lehre (Gefahrstoffkundevorlesung) Zu Beginn des Abschn. 3.4 wurde die Frage gestellt, ob die bisherigen Ergebnisse der Neurowissenschaften hilfreiche Hinweise geben können, wie Lernen und Lehren gestaltet werden sollten. Auch die fachlich begründete Motivation, dieser Frage nachzugehen, wurde festgestellt und u. a. mit der Beschäftigung mit der Neurotoxikologie sowie der Verhaltenstoxikologie erklärt. Wie nicht anders zu erwarten, bleibt zunächst die Erkenntnis, dass Lernen und Lehren, auch aus Sicht der Neurowissenschaften, sehr komplexe biologischchemisch-physikalisch Prozesse sind, die durch die bisherigen Erkenntnisse der Neurowissenschaften keine Reduktion ihrer Komplexität erfahren haben. Bleibt die Möglichkeit, sich zunächst auf die Erkenntnisse zu fokussieren, die mit den bisherigen Erkenntnissen der Erziehungswissenschaften und der Psychologie in Einklang sind, ja sogar dazu beitragen, bestimmte Richtungen dieser Wissenschaften zu unterstützen und zu fragen, ob diese Erkenntnisse in der kompetenzfördernden Wissensvermittlung der Gefahrstoffkunde angewandt werden können.

3.6 Rolle von Emotionalität und Neugier Die beschriebene Verknüpfung von Hippocampus mit Amygdala und ventralem Striatum legt nahe, dass die Lehre bzw. die Lehrenden, um erfolgreich eine echte Kompetenz bei den Lernenden zu erreichen, parallel zur sachlichen Wissensvermittlung einen emotionalen Einfluss auf diese Systeme ausüben müssen. Auch die Pädagogische Psychologie, eine Disziplin zwischen Psychologie und Erziehungswissenschaft, hat erkannt, dass kognitive Motivations- und Lerntheorien nicht ausreichen und die Emotionalität eine sehr wichtige Rolle spielt (Krapp, 2005). Das bedeutet: Lernen sollte Spaß machen und die Lehrenden sollten auch positiv wahrgenommen werden. Allerdings gehört auch zur Wahrheit, dass selbst eine negative Emotionalität hilfreicher ist als keine Emotionalität. Die Ergebnisse einiger Untersuchungen wurden als Furchtlernen (Thompson, 2001,

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

S. 435–437) bezeichnet und Thompson spricht von einer doppelten Dissoziation: Furchtlernen (Amygdala) und Faktenlernen (Hippocampus). Die erwähnte Erkenntnis, dass angestrengtes Denken nicht bevorzugt wird, kann für die Lehre nur bedeuten, dass der Lernstoff so aufgearbeitet werden sollte, dass er klar strukturiert und in verständlicher Sprache dargestellt und bestmöglich mit dem Vorwissen der Lernenden verknüpft ist. Es geht darum, für die Lernenden eine optimierte Zugänglichkeit zum Lernstoff zu erreichen. Wo dies aus fachlichen Gründen schwierig ist, muss die Triebfeder der Neugier bei den Studierenden geweckt werden, damit sie die anstrengende Denkarbeit auf sich nehmen, denn die Neugier setzt Kräfte (Motivation) frei und lässt durchhalten. 

„Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts“ (J.W. von Goethe, 1749– 1832)

3.6.1  Inquiry-based learning (IBL) (forschendes Lernen) – inquiry-based science education (IBSE) Eine Didaktikmethode, die auch die Triebfeder der Neugier nutzt, ist das sog. inquiry-based learning (IBL) (forschendes Lernen) (Wegner & Tiemann, 2013) oder die inquiry-based science education (IBSE) (Europäische Kommission, 2007). Abweichend vom traditionellen Unterrichtsmodell, bei dem die Lehrenden Fakten präsentieren und die Studierenden diese lernen müssen, gibt das IBL- oder IBSE-Modell den Studierenden die Gelegenheit, selbst bei Experimenten anzupacken, Fragen zu stellen und die Antworten durch logisches Nachdenken selbst zu entwickeln. Dieses Modell erscheint sehr effektiv, allerdings kann dieser Ansatz in der Situation der Gefahrstoffkundevorlesungen (bis zu 120 Studierende im Hörsaal) nur sehr limitiert angewandt werden. Da der Hippocampus als Bestandteil des limbischen Systems mit den übrigen Bestandteilen dieses Systems, z. B. dem Mandelkern (Amygdala) und dem Striatum, verschaltet ist, resultiert daraus, dass der Transfer von Erkenntnissen in das Langzeitgedächtnis immer mit Emotionen und auch Belohnung bzw. Furcht verknüpft ist. „Sind wir emotional stark berührt, so wird eine Information oder ein Gedanke schneller und stärker verankert, als wenn sie uns gleichgültig sind“ (Kullmann & Seidel, 2005, S. 30). „Durch das Zusammenspiel von Amygdala und Hippocampus wird ein emotionales Gedächtnis aufgebaut. Einen schweren Unfall z. B. wird man sein Leben lang nicht mehr vergessen und, kehrt man an den Ort des Unfalls zurück, so werden durch das Zusammenspiel von Hippocampus und Amygdala die Erinnerungen wieder wach und möglicherweise sogar erneut körperliche Reaktionen ausgelöst“ (Schäfers, 2020).

3.6  Rolle von Emotionalität und Neugier

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3.6.2 Angst vs. Gefahrenbewusstsein und Gefahreneinschätzung Auch die für das Gefahrenbewusstsein wichtige Gefahreneinschätzung wird stark durch diese Verschaltungen beeinflusst. „Angst6 ist eine lebenswichtige Funktion. Zwar werden Angst und Furcht7 in unserer heutigen Gesellschaft häufig als Makel oder Schwäche angesehen, eigentlich sind sie aber lebenswichtige Reaktionen, die uns vor Gefahr schützen sollen. Darum ist es auch sinnvoll, dass sie nie ganz vom Stirnhirn [Cortex] unterdrückt werden können. Ein weiteres Indiz für die Wichtigkeit der Angst ist auch, dass eingehende Sinnesreize nicht erst kompliziert über den Thalamus an die zuständigen somatosensorischen Rindenbereiche weitergegeben, dort verarbeitet und dann an die Amygdala weitergeleitet werden, sondern auch direkt vom Thalamus ohne Vorverarbeitung – d. h. auch nur als vages Abbild – an die Amygdala geschickt werden“ (Schäfers, 2020). Wie Rüdiger Vaas im Lexikon der Neurowissenschaft feststellt, lässt sich die Unterscheidung von Furcht8 und Angst weder im wissenschaftlichen noch im allgemeinen Sprachgebrauch konsequent durchhalten. Deshalb wird auch in diesem Buch der „feine“ Unterschied nicht berücksichtigt (Vaas, 2000).

3.6.3 Angst ist kein guter Ratgeber Es wird in den Medien immer wieder festgestellt, dass Angst kein guter Ratgeber sei. Es wird dabei vergessen, dass eine Verdrängung der Angst auch Schäden verursachen kann, z. B., wenn reale Gefahren nicht ernst genommen werden und Menschen sich unvorsichtig verhalten bzw. sogar absichtlich gegen Vorsichtsmaßnahmen verstoßen. Die Befunde zur Organisation des Gehirns zeigen deutlich, dass die Angst ein natürlicher und sehr grundlegender Faktor der Gefahrenabwehr darstellt. „So ist der bei uns als ,ängstlich‘ diskriminierte Hase in der chinesischen Mythologie das Sinnbild der Langlebigkeit. Anders ausgedrückt: ,Die Mutigen sterben zuerst‘“ (Pape, 2013).  Übersicht  Deutschland: „Angst kein guter Ratgeber“ vs. China: „Die Mutigen sterben zuerst“ Angst ist ein natürlicher und sehr grundlegender Faktor der Gefahrenabwehr.

6 Angst

ist das diffuse Unbehagen in einer als bedrohlich empfundenen Situation (Pape, 2013).

7 Furcht

ist das Gefühl der konkreten Bedrohung, beispielsweise durch eine Person oder ein Objekt (Pape, 2013). 8 siehe

Fußnote 12 und 13.

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

3.6.4 Verharmlosung als Gefahr Für die kompetenzbildende Wissensvermittlung der Gefahrstoffkunde bedeutet dies, dass jede Art von Verharmlosung der Gefahren vermieden werden muss und stattdessen eine realistische Darstellung der Gefahren wichtig ist. Der Hinweis darauf, dass verantwortliche Personen (Chemiker*innen) bei Verstößen gegen die gesetzlichen Gefahrstoffregelungen, eine Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit begehen und mit entsprechenden Konsequenzen rechnen müssen, ist deshalb keine Angstmacherei, sondern ein wichtiger Hinweis, der im Gedächtnis der Studierenden entsprechend verarbeitet und gespeichert wird.

3.6.5 Einfluss des Lebensalters Als Lehrender sollte man sich bewusst machen, dass die Lernenden (Studierende) in der Regel deutlich jünger sind und damit erfahrungsgemäß Neuem gegenüber deutlich aufgeschlossener sind als die älteren Lehrenden. Für ältere Menschen gilt: „Bekanntes Wissen zu erweitern, wird leichter fallen, als sich ein völlig neues Interessengebiet anzueignen. Um die nötige Energie aufzubringen, helfen Neugierde und Motivation“ (Kullmann & Seidel, 2005, S. 42). Die Wahrnehmung von Informationen ist ein aktiver Prozess, der immer mit dem Vorwissen und den Erwartungen (Erfahrungen) verknüpft ist. Es gibt somit keine Realität, die unabhängig von der jeweiligen Person wahrgenommen wird. Unterschiedliche Zeugenaussagen vor Gericht sind dafür ein gutes Beispiel (Kullmann & Seidel, 2005, S. 25). Das Lernen über die Amygdala (Emotion, Furcht) (4.4.1) bewirkt zusätzlich, dass Gedächtnisinhalte schwer zu vergessen sind. Daraus kann folgen, dass im älteren Gehirn bereits zahlreiche Inhalte fest gespeichert sind, die sich auch gegenseitig bestätigen (Erfahrung). Das Lernen würde dann eher stabilisierend verlaufen, d. h., das Gehirn würde besonders gerne die Informationen speichern, die die bereits abgespeicherten Erfahrungen bestätigen und verstärken. Die Folge wäre, je älter ein Gehirn wird, desto schwerer würde es ihm fallen, Grundüberzeugungen zu verlassen und durch neue Überzeugungen zu ersetzen. Weil deshalb ältere Menschen erfahrungsgemäß ihre Ansichten eher stabilisieren und gegenüber Neuem deshalb weniger aufgeschlossen sind, ist es für die Lehrenden angesagt, die eigene Neugier auf Neues wach zu halten. Die Inhalte und wohl auch die Art der Lehre sollten deshalb ständig überarbeitet werden, auch um wichtige aktuelle Erkenntnisse zu enthalten. Es wird interessant sein, ob die Neurowissenschaften eine neurobiologische Erklärung finden und ob durch ihre Erkenntnisse irgendwann eine Verbesserung der Situation erreicht werden kann. Eine Möglichkeit, aus der Art, wie das ältere Gehirn Informationen verarbeitet, einen positiven Schluss zu ziehen, könnte z. B. sein, dass die Lehrenden sich für Inhalte, die nicht neu, dafür aber vertraut und exemplarisch sind, entscheiden könnten, um Grundprinzipien zu verdeutlichen. In diesem Fall wäre das Zurückgreifen auf Vertrautes ein Zeichen für sinnstiftendes Lernen.

3.6  Rolle von Emotionalität und Neugier

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Anmerkung Die Erkenntnis, dass das junge Gehirn (bis ca. 20–25 Jahre) mit seiner deutlich erhöhten Plastizität besonders lern- und anpassungsfähig ist, wird den Studierenden in der Gefahrstoffkundevorlesungsveranstaltung „GFK I – Reproduktionstoxikologie (Teratogenität, Fertilität) und Neurotoxizität“ (siehe Abschn. 4.12) mit einer Prise Humor, aber doch sehr ernsthaft, als Aufbauwissen erläutert. Damit verbunden die Empfehlung, ihr noch junges Gehirn möglichst intensiv und sinnvoll zu nutzen.

3.6.6 Gegenpositionen zur Sicht der Neurowissenschaften Das gesamte Forschungsfeld der Neurowissenschaften wird recht stark von der klassischen Pharmakologie, der Pädagogik und den Kognitionswissenschaften kritisiert. Typische Beispiele sind das Buch bzw. die Streitschrift „Neuromythologie“ des Pharmakologen Felix Hasler (Hasler, 2012) oder auch der Artikel von Christian Wolf in Spektrum (Wolf, 2013) mit dem Titel „Auf wackligen Füßen“. Als Quintessenz dieser Autoren kann gesehen werden, dass die Befunde der Neurowissenschaften oft beeindruckend wirken. In Wahrheit seien sie jedoch trügerisch und hielten genauen Analysen nicht Stand. Diese trügerischen Wahrheiten werden auch als eine echte Gefahr angesehen, da sie die Gesellschaft verführen, an ein gehirngerechtes Lernen zu glauben, obwohl dies eigentlich nur auf aufgebauschten Fehleinschätzungen basiert. Ein gutes Beispiel sind die publizierten Beiträge des Lehrstuhlinhabers am Lehrstuhl für Systematische Bildungswissenschaft der Universität Würzburg, Andreas Dörpinghaus (Dörpinghaus, 2019): „Reformen richten sich an gehirngerechtem Lernen aus. Unter diesem Deckmantel neurobiologischer Forschung breitet sich eine Ökonomie des Lernens aus, die selten willkommener war als gegenwärtig. Es mutet anachronistisch an, überhaupt danach zu fragen, was wir aufgeben, wenn wir die Begriffe Bildung und Lernen aus dem Feld der Humanwissenschaft exkommunizieren und sie einer neurowissenschaftlichen Zurichtung überlassen, die weder Inhalte reflektiert noch reflexive Selbstverhältnisse. Bildung steht für das nicht-effiziente Verhalten zur Welt, das im Zögern mehr ist als die leistungsorientierte Selbstoptimierung, die den Weg zum kritisch Reflexiven nicht findet. Ist nicht Bildung das Fundament unseres Zusammenlebens, unserer Gesellschaften und Kulturen? Hat nicht Bildung etwas mit klugem Handeln und Urteilen zu tun, mit einem reflexiven Verhältnis zu sich, zu anderen Menschen und zur Welt?“ Die ordentliche Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung und Leiterin des Instituts für Verhaltenswissenschaften am D-GESS (Departement für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften) der ETH Zürich, Prof. Elsbeth Stern, spricht in einem viel beachteten Beitrag von den „Mythen der Neurodidaktik“ oder von der „Schädlichkeit der Neuropädagogik“. Sie kritisiert z. B. „Der einseitige Blick [der Hirnforscher] auf das Gehirn“ oder Aussagen wie „Was immer

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

das Gehirn stimuliert, verbessert die Lernfähigkeit“ und prangert an „[die Hirnforschung] weckt Hoffnung auf Rezepte, wo Reflexion der eigenen Tätigkeit notwendig wäre“. Sie betont allerdings auch, dass die Erkenntnisse der Neurowissenschaften Beachtung finden müssen und ernst genommen werden sollten. In eine ähnliche Richtung wie Prof. Stern geht auch die Kritik von Alva Noë, Professor für Philosophie in Berkley/Kalifornien (Noe, 2010, S. 110–117). Er geht aber noch einen Schritt weiter und seine Kritik an den Neurowissenschaften erscheint fundiert. Für ihn ist wichtig, dass der Mensch kein autonomes Wesen ist. Unser Gehirn sieht er nicht als schlichtes Kontrollorgan und unsere Handlungen sind nicht einfach Reaktionen der Synapsen auf Sinnesreize. Den Fehler bei den Neurowissenschaften sieht er darin, dass sie davon ausgehen, dass das Gehirn überwacht, Daten sammelt und auswertet, dass es Befehle und Warnungen empfängt und sendet und ständig den Drahtseilakt zwischen Reizinput und Verhaltensoutput und dabei auch den damit verbundenen Lernprozess bewältigt. Er versteht das Gehirn nicht als das Zentrum dieses Lernprozesses, sondern nur als einen Teil eines Netzwerksystems, das über den ganzen Organismus verteilt ist. Es kommt noch hinzu, dass der Mensch auch aus seiner Umwelt besteht, deren Interaktion mit den Menschen ein Teil des menschlichen Selbst ist: „Unsere Natur ist viel enger als gedacht mit unserer Umwelt verwoben.“ Man kann auch sagen: Wenn sich die Neurowissenschaften allein auf das Gehirn konzentrieren und das gesamte Netzwerk inkl. der jeweiligen Umwelt des Individuums außer Acht lassen, greifen sie zu kurz.

3.6.7 Sichtweise des Autors zum Thema Neurowissenschaften Die Frage, die sich dieses Buch stellt, ist die Frage, ob eine kompetenzfördernde Wissensvermittlung in den beiden Gefahrstoffkundevorlesungen I (Toxikologie) und II (Rechtskunde) durch die bisherigen Erkenntnisse der Neurowissenschaften positiv beeinflusst werden kann. Dabei fühlt sich der Autor mit seinem fachlichen Hintergrund in Biochemie, Toxikologie, Medizin und Pathologie natürlich von Ansätzen, die diesen fachlichen Hintergrund bedienen, deutlich stärker angesprochen als von soziologisch-psychologischen Ansätzen. Es ist allerdings auch zu erwarten, dass die Neurowissenschaften allein diese komplexen Fragestellungen niemals beantworten werden.

Bildgebende Verfahren der Neurowissenschaften – Was sagen sie uns? Wenn die verschiedenen Hirnareale und deren Aktivitäten diskutiert werden, sollte auch klar gesagt werden, dass die erwähnten bildgebenden Verfahren wie PET und fMRT keine direkten Informationen über neuronale Aktivitäten oder einen mentalen Prozess (z. B. Kognition) liefern können. Die PET- und fMRTBilder werden aus physikalischen Messgrößen am Computer erzeugt (PET misst Gammastrahlen) und sollen bestimmte Stoffwechselaktivitäten, z. B. den Sauer-

3.6  Rolle von Emotionalität und Neugier

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stoffverbrauch, zeigen. Man folgert, dass ein erhöhter Sauerstoffverbrauch auf eine gesteigerte Aktivität der Neuronen des betrachteten Areals zurückgeht und daraus wird z. B. auf einen Denkvorgang geschlossen. Es wird also über drei Umwege auf einen mentalen Prozess geschlossen. Das ist faszinierend, aber eben nicht direkt.

Keine Didaktikwunder durch Neurowissenschaften Die Neurowissenschaften werden keine Wunder vollbringen. Eine teilweise Überschätzung ihrer Möglichkeiten ist der Tatsache geschuldet, dass dieses Feld der Wissenschaft vergleichsweise neu ist. Die Neurowissenschaften stehen mit ihren Erkenntnissen und Technologien erst am Anfang. Sie beschreiben die Funktionen verschiedener sichtbarer Strukturen wie der Amygdala, des Hippocampus oder der Großhirnrinde. Dadurch entsteht der Eindruck, dass schon verstanden würde, wie diese Bereiche miteinander kommunizieren. „In Wirklichkeit ist das Gehirn vollkommen anders organisiert. […] In gewissem Sinne stellen diese Gehirnteile jedoch gar keine echten Strukturen dar, sondern nur Ansammlungen von Zellkörpern, Faserbahnen oder beidem, die sich jeweils aufgrund ihres Erscheinungsbildes identifizieren lassen. Das Gehirn ist im Grunde ein gigantisches Netzwerk von Verbindungen zwischen Nervenzellen […] Das Gehirn ist nicht einfach eine Ansammlung spezieller Strukturen, sondern ein riesiges informationsverarbeitendes System“ (Thompson, 2001, S. 25–26). Die Forschung steht deshalb vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Ca. 100 Mrd. Neuronen, pro Neuron bis zu ca. 10.000 Synapsen, bedeutet, dass das Netzwerk ca. 100 Billionen Verschaltungen enthält (MPG, 2019)! In diesem Netzwerk sind sowohl benachbarte Neuronen miteinander verknüpft als auch Neuronen, die weit voneinander entfernt sind. Die Aufgabe wird auch dadurch noch komplexer, weil das Gehirn auch mit dem vegetativen Nervensystem intensiv kommuniziert und auch durch die endokrine Regulation (Hormone) stark beeinflusst wird. Diese Ansichten entsprechen wahrscheinlich den Schlussfolgerungen von Alva Noë. Neurowissenschaften werden hochgesteckte Erwartung nicht erfüllen Die Neurowissenschaften mit ihren zumeist innovativen High-Tech-Verfahren sind sehr an die Hoffnung geknüpft, endlich auf einem neu entdeckten und bisher nicht benutzten Weg Schlüsselmechanismen aufklären zu können, die das menschliches Denken und Lernen erklären können. 

„Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie denken!“ Heinz Erhardt (1909–1979)

Die hochgesteckten Erwartungen können voraussichtlich nicht erfüllt werden, denn, wie auf allen biologischen Wissenschaftsgebieten, erzeugt jede neue Erkenntnis neue Fragen und lässt zunehmend die fast unendliche Komplexität biologischer Mechanismen deutlich werden. Die anfängliche Euphorie wird

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

langfristig einer realistischeren Betrachtung Platz machen, denn es wird voraussichtlich nicht möglich sein, Erkenntnisse der Neurowissenschaften direkt in pädagogisch-didaktische Gebrauchsanleitungen zu übersetzen, einfach, weil ihre Methoden eine zu geringe Auflösung bezüglich der ungeheuer komplexen Verschaltungen und Aktivitäten des Gehirns aufweisen (100 Billionen Schalter).

Philosophie und Pädagogik sind nicht überlegen Wissenschaften wie z. B. die Philosophie und die Pädagogik sind vergleichsweise uralt. Ein Rückblick in deren Geschichte zeigt, dass diese Wissenschaften keinen Grund haben, sich den neuen Neurowissenschaften geistig überlegen zu fühlen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann man feststellen, dass auch in diesen Wissenschaften Überschätzungen, drastische Veränderungen der Lehrmeinungen und grundlegende Meinungsverschiedenheiten an der Tagesordnung waren und sind. Auch sie sind ein Opfer zeitgenössischer Denkweisen und des Ehrgeizes einzelner Meinungsbildner*innen. Beispiel für drastische Fehleinschätzung Es ist nicht viel mehr als 100 Jahre her, da waren die Fachleute noch überzeugt, dass Frauen für bestimmte Berufe, z. B. den Arztberuf, geistig völlig ungeeignet wären, „Das Weib ist der Verarbeitung der erforderlichen wissenschaftlichen Materie nicht gewachsen." Die Beweisführung, dass Frauen für den Arztberuf ungeeignet seien, übertrug man 1894 an Dr. phil. et med. Georg Buschan, einen anerkannten Fachmann für Anthropologie und Ethnologie. Er kombinierte das zeitgenössische naturwissenschaftliche, medizinische und geisteswissenschaftliche Wissen, um zu dem Schluss zu kommen: „Es [das Weib] wird an Leib und Seele Schaden nehmen, und zwar nicht allein für die eigene Person, sondern auch für den zu erwartenden Nachwuchs, falls die weibliche Kollegin nicht lieber den Côlibat vorziehen sollte. Eine Zunahme der Entartung unseres sowie so schon auf dem Wege der Decadenz befindlichen Volkes wird die unausbleibliche Folge sein.“ (Gerst, 1994) Schlussfolgerung – Hoffnungsvoller Ausblick Dieses Beispiel zeigt, dass auch eine Kombination von „Hirnforschung“ und Geisteswissenschaft drastische Fehleinschätzungen produzieren kann. Trotzdem, es bleibt nur der Weg des ehrlichen und respektvollen Umgangs, auch mit konkurrierenden Wissenschaften. Die Zusammenarbeit unterschiedlicher Wissenschaften, inkl. einer gegenseitigen positiven Befruchtung, ist immer erfolgreicher als eine gegenseitige Abgrenzung. Wissenschaft produziert keine Wahrheit, sondern Hypothesen, die nur so lange als eine Art Wahrheit gelten dürfen, bis sie durch neue Erkenntnisse korrigiert werden müssen. Die Wissenschaft lebt davon, dass Schlussfolgerungen kontrovers diskutiert werden. Die Hoffnung besteht allerdings, dass die naturwissenschaftlich-medizinischen Erkenntnisse der Neurowissenschaften helfen werden, im Dialog mit den Erziehungswissenschaften bestmögliche Lösungen für die Lehre zu finden. Es sollte möglich sein, dass durch die gegenseitige Befruchtung ein wirksamer Methodenfortschritt erreicht werden kann.

3.7  Weltaktionsprogramm – UN Agenda 2030 – BNE – Hochschulen

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Bisher sind Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die für die Lehre deutliche Fortschritte bieten würden, noch sehr rar. Allerdings sind die Erkenntnisse m. E. geeignet, bereits bekannte Erkenntnisse der Erziehungswissenschaften mit naturwissenschaftlich-medizinischen Erkenntnissen zu bestätigen und damit ihre Wichtigkeit unterstreichen.

3.7 Weltaktionsprogramm – UN-Agenda 2030 – BNE – Hochschulen Bevor im Kap. 4 auf die Umsetzung der in den Kap. 1 bis 3 beschriebenen Grundlagen eingegangen wird, soll im folgenden Abschnitt noch eine Information eingefügt werden, die zeigt, dass auch im globalen Maßstab Gedanken und Vorgehensweisen entwickelt werden, die für Deutschland wichtig und auch für die Gefahrstoffkundevorlesungen an deutschen Hochschulen von direkter Bedeutung sind. Grundlage ist die Agenda 2030 der Vereinten Nationen für eine global nachhaltige Entwicklung. UNRIC, das Regionale Informationszentrum der Vereinten Nationen, hat dafür Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (UNRIC, 2020) definiert.

3.7.1 UN-Agenda 2030 Die UN-Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (sustainable development goals, SDGs) ist ein globaler Plan zur Förderung nachhaltigen Friedens und Wohlstands und zum Schutz unseres Planeten. Seit 2016 arbeiten alle Länder daran, diese gemeinsame Vision zur Bekämpfung der Armut und Reduzierung von Ungleichheiten in nationale Entwicklungspläne zu überführen. Das Ziel Nr. 4 ist eine „hochwertige Bildung“. „Eine qualitativ hochwertige Bildung ist die Grundlage, um nachhaltige Entwicklung zu schaffen. Neben der Verbesserung der Lebensqualität kann der Zugang zu integrativer Bildung dazu beitragen, Menschen mit den notwendigen Werkzeugen auszustatten, um innovative Lösungen für die größten Probleme der Welt zu entwickeln.“

3.7.2 Weltbevölkerung – Quantitative Probleme Eines der größten Probleme ist die andauernde Zunahme der Weltbevölkerung, die Umweltverschmutzung, die Klimaveränderung und der enorme und stetig zunehmende Ressourcenverbrauch der Menschen. Diese Probleme können ohne eine Lösung dieses quantitativen Problems nicht nachhaltig gelöst werden. Ansätze wie eine verordnete Geburtenkontrolle haben sich mittel- und langfristig als undurchführbar erwiesen. Es konnte aber gezeigt werden, dass eine forcierte Bildung automatisch zu zurückgehenden Geburtenraten führt. Eine weltweite

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Bildungsoffensive erscheint deshalb als die einzig erfolgversprechende nachhaltige Lösung dieses Grundproblems (Klingholz, 2018).

3.7.3 Weltaktionsprogramm der UNESCO – BNE/ESD Das Weltaktionsprogramm der UNESCO9 (Sonderorganisation der Vereinten Nationen) „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) (2015–2019) wurde in Deutschland vom Bundesministerium für Bildung und Forschung federführend vorangetrieben. BNE wurde als ein Weg entwickelt, über die internationale Vernetzung der Bildung Probleme zu lösen, die global bewältigt werden müssen. Als Folgeprogramm ist nun das „ESD10 for 2030“ aktiv.

3.7.4 GES (Globale Entwicklung in der Schule) Eng verbunden mit dem Weltaktionsprogramm BNE ist in Deutschland auch das von der Kultusministerkonferenz (KMK) in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) entwickelte und auf den Weg gebrachte GES-Programm (Globale Entwicklung in der Schule) (KMK, 2020). Sein Ziel ist die Bildung für eine nachhaltige Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der globalen Perspektive fest in Schule und Unterricht zu verankern. Durch eine Bildung, die eine nachhaltige Entwicklung zum Kernpunkt macht, sollen z. B. Studierende ausgebildet werden, die in ihrem Berufsleben im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung verantwortlich denken und handeln werden und in der Lage sind, auch mit komplexen Fragestellungen umzugehen. Komplexe Fragestellungen entstehen zwangsläufig, sobald präzise Fragen gestellt werden und einfache Antworten als falsch erkannt werden. Warum beeinflussen diese Programme (BNE und ESD) das Nachdenken über die Zukunft der Gefahrstoffkundevorlesungen an deutschen Hochschulen? Eine erste Antwort gibt die Einleitung auf dem BNE-Portal: „Hochschulen sind wichtige Bildungsorte, denn sie vereinen gleich mehrere Funktionen: Sie vermitteln Kenntnisse, Kompetenzen und Werte, sie bilden die Pädagogen, Führungskräfte und Experten von morgen aus und sie produzieren durch ihre Forschung Wissen und Innovationen“ (Portal, 2020). Das bedeutet, dass den Hochschulen in diesem Zukunftsprojekt eine enorme Bedeutung zukommt, der sie gerecht werden müssen. Eine zweite Antwort gibt dieses Zitat: „Es gibt neun Partnernetzwerke, die Akteure untereinander vernetzen und Impulsgeber für die Umsetzung vor Ort sind. […] Die Netzwerke erfüllen unter 9 UNESCO = United 10 ESD = education

Nations Educational, Scientific and Cultural Organization.

for sustainable development.

3.8  Grundsätzliche Überlegungen zur Gefahrstoffkunde …

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anderem die wichtige Aufgabe, Good-Practice-Beispiele zu initiieren. Die Partnernetzwerke sind: […], Hochschule, […]“ (Portal, 2020). Das bedeutet, dass auch dieses BNE/ESD-Projekt eine Vernetzung von Hochschulen bzw. ihren Akteuren verlangt und ganz nebenbei auch eine Qualitätsverbesserung der Lehre (Best Practice) anstrebt, wie es in diesem Buch im Abschn. 3.11 als eine absolute Notwendigkeit erläutert wird. In der vorgeschlagenen Kursbeschreibung für die Gefahrstoffkundevorlesung steht u. a. dieser Satz: „Es sollen Verantwortungs- und Problembewusstsein durch den Wissenstransfer in den ,Alltag des Chemikers‘ für das eigene Handeln entwickelt werden“ (Zitat siehe Vorbemerkung zu 4). Dieser Satz entspricht dem Anspruch von BNE, dass alle Menschen, und damit auch Chemikerinnen und Chemiker, so ausgebildet werden, dass sie in ihrem Privat- und Berufsleben im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung verantwortlich denken und handeln und in der Lage sind, auch mit komplexen Fragestellungen kompetent umzugehen. Es ist deshalb notwendig, auch die Gefahrstoffkundevorlesungen, die naturgemäß bereits interdisziplinär sein müssen, zu nutzen, um die Fähigkeiten zum Durchdenken von komplexen Sachverhalten zu entwickeln, was durch die bewusste Einführung des „Aufbauwissens“ versucht wird (siehe u. a. Abschn. 3.14).

3.8 Grundsätzliche Überlegungen zur Gefahrstoffkunde als Unterrichtsfach Die Gefahrstoffkunde ist bedeutsam für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft ganz allgemein. In vielen Bereichen der Industrie, Umwelt, Medizin und im Haushalt spielt sie eine wesentliche Rolle, ohne dass dies den meisten Menschen bewusst ist. Für Chemiker und Chemikerinnen, die quasi ständig mit Gefahrstoffen umgehen, also chemischen Stoffen, denen ein gewisses (oft noch unbekanntes) Gefahrenpotenzial innewohnt, ist es wichtig, im Verlauf der Ausbildung ein solides Basiswissen auf diesem Gebiet zu erhalten. Dieses Basiswissen muss sie dazu befähigen, die Kompetenz zu erlangen, grundlegende Zusammenhänge und Informationen zur Gefährdung und zum gesundheitlichen Risiko durch chemische Stoffe zu verstehen und so auch ethische Fragestellungen durchdenken zu können, die aus dem Umgang mit und der Produktion von Gefahrstoffen resultieren. Wie zuvor erwähnt, ist die Toxikologie nicht nur die entscheidende Disziplin, auf der die Gefahrstoffkunde aufbaut, sondern auch eine interdisziplinäre, integrative Hybridwissenschaft aus Naturwissenschaft und Medizin (Innere Medizin, Rechtsmedizin, Physiologie, Pathologie, Genetik, …), weshalb in der Lehre (GFK I) einerseits besonderer Wert auf die naturwissenschaftlich-systematische Denk- und Arbeitsweise gelegt werden muss, andererseits aber auch die medizinische Denk- und Arbeitsweise vermittelt werden muss (Abb. 3.2). Daraus ergibt sich, dass überlegt werden muss, welche Komponenten jeweils wichtig sind bzw. ob überhaupt ein Unterschied gemacht werden muss. Die medizinische Denk- und Arbeitsweise ist den Studierenden der Chemie und

3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

82

PATHOLOGIE

Beschreibung morphologischer Veränderungen

CHEMIE

Synthe sche Natürliche Substanzen

Substanz Konzentr onen, Metabolite

PHYSIOLOGIE PHARMACOLOGIE

RECHTSMEDIZIN

Wirkungsloka on, Mechanismen auf organ.- und zellulär. Ebene

Ursache von ungen Ve Entdeckung

TOXIKOLOGIE

Akute Ve ung, Therapie, on Gi

Molekulare Mechanismen, Metabolismus Kine k (ADME)

Chemische Mutagenese

ANALYTISCHE CHEMIE

BIOCHEMIE

INNERE MEDIZIN PÄDIATRIE, ANÄSTHESIE

GENETIK

Abb. 3.2  Toxikologie – Hybridwissenschaft aus Naturwissenschaft und Medizin. (Eigene Darstellung)

Biochemie erfahrungsgemäß sehr fremd, und auch das für sie etwas exotische Nebenfach Toxikologie oder die oft als trocken empfundene Rechtskunde als interessanten und relevanten Lernstoff zu vermitteln, ist nicht ganz einfach.

3.8.1 Sachkundeprüfung Fachinhaltlich muss sich die Gefahrstoffkundeausbildung in Deutschland an den sehr sachlichen und trockenen Inhalten des „Gemeinsamen Fragenkatalogs der Länder für die Sachkundeprüfung nach §11 (ehemals §5) der ChemikalienVerbotsverordnung“, Rechtsstand: 31.10.2022 Version: 01.02.2023, „Giftprüfung“, orientieren (siehe auch Abschn. 2.16). Die toxikologische Lehre im Rahmen des Bachelorstudiengangs Chemie an deutschen Hochschulen dient aus Sicht der Studierenden demnach primär der berufsspezifischen Qualifikation/ Zertifizierung, also der Erreichung des Sachkundenachweises, muss gleichzeitig aber auch auf die besondere Verantwortung vorbereiten, die auf die erfolgreichen Absolventen*innen des Studiengangs wartet, und sollte auch der Allgemeinbildung dienen, denn so versteht sich der Anspruch einer Universität (lat. universitas).

3.8  Grundsätzliche Überlegungen zur Gefahrstoffkunde …

83

3.8.2 Gefahrstoffkunde – Hilfe in Berufs- und Privatleben Ein nicht zu unterschätzendes Ziel ist aber auch das Fach der Gefahrstoffkunde mit seinen toxikologischen und rechtskundlichen Inhalten nicht als fachfremden Ballast für die Studierenden der Chemie und Biochemie zu sehen, sondern das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass dieses Wissen und die damit erworbene Kompetenz eine echte Hilfe im Berufs- und Privatleben darstellen. Wie in der Einleitung ausgeführt (vgl. Abschn. 2.1), ist die Gefahrenabwehr ein entscheidender Teil jedes Lebens. Das kompetente Wissen um die Gefahrstoffkunde behindert nicht die beruflichen Aktivitäten von Chemikerinnen und Chemikern, es unterstützt sie. Das Wissen um die Toxikologie und die Rechtskunde ist sogar ebenso wichtig wie die wissenschaftlichen Gesetze und Mechanismen der Chemie. Und nicht zu vergessen: Toxikologie ist nicht toxisch!

3.8.3 Gefahrstoffkunde Schule – Didaktik/Methodik/Ziele RiSU-Richtlinie Die meisten Schulen befassen sich mit der Richtlinie zur Sicherheit im Unterricht (RiSU), einer Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK), deren aktualisierte Version im Juni 2019 veröffentlicht wurde (KMK, 2019). Im Kap. I-3 (Tätigkeiten mit Gefahrstoffen) und im Kap. II-2 (Fachbezogene Hinweise und Ratschläge – Chemie) wird detailliert auf die Anforderungen im Chemieunterricht eingegangen. Als typische Richtlinie beschreibt sie zwar die gesetzlichen Regelungen, geht aber nicht auf die Vermittlung des Wissens oder der Bildung von Kompetenzen ein. Diesbezüglich verweist diese Richtlinie auf die DGUV-Regeln und -Texte. Ziel der RiSU: Schulische Lehr- / Lerninhalte und Methoden müssen umgesetzt werden, ohne dabei Sicherheit einzubüßen, denn beim Experimentieren mit chemischen Stoffen ist eine Gefährdung immer gegeben. Der Umgang mit Gefahrstoffen, die Bewältigung von Risiken und Gefährdungen muss verantwortungsvoll und angstfrei erfolgen, denn nur so können geeignete Verhaltensweisen entwickelt und erlernt werden, die Gefahren zu vermeiden oder zu bewältigen. RiSU in den Bundesländern (Belzer, 2016): Aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland mit der Länderhoheit für Bildung und Sicherheit kann die KMK lediglich Vorgaben beschließen, die noch keine rechtlich bindende Wirkung haben. Um eine bundesweite Gültigkeit zu erlangen, müssen Beschlüsse der KMK erstens einstimmig beschlossen werden und zweitens müssen die Beschlüsse von den Bundesländern in geltendes Recht übersetzt werden. In der Regel werden sie als Verwaltungsvorschrift in Kraft gesetzt. Die Beschlüsse der KMK enthalten Mindestanforderungen, die einzelnen Bundesländer können in ihren Regelungen darüber hinausgehen. Das bedeutet aber auch, dass eine weniger scharfe Umsetzung einzelner Vorgaben nicht möglich ist.

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

3.8.4 DGUV11 – Naturwissenschaftlicher Unterricht an Schulen Für den naturwissenschaftlichen Unterricht an Schulen, speziell wichtig für den Chemieunterricht, ist eine Publikation verfügbar, die einerseits sehr übersichtlich zeigt, was Schülerinnen und Schüler, aber auch die Lehrer beim Umgang mit Gefahrstoffen beachten müssen, und andererseits aber auch sehr wichtige didaktische Hinweise gibt, wie Schülern und Schülerinnen der kompetente Umgang mit Gefahrstoffen vermittelt werden kann. Diese Publikation ist die von der DGUV in der Reihe „DGUV Lernen und Gesundheit“ erstellte Publikation „Gefahrstoffe im Unterricht – Didaktischmethodischer Kommentar“ (DGUV, 2016). Dieser Kommentar geht sehr gezielt auf die Bedürfnisse der Lernenden an Schulen ein, der für eine Anwendung im Rahmen einer Gefahrstoffkundevorlesung an der Universität angepasst werden muss, aber bereits in der vorliegenden Form eine ganze Reihe von wichtigen Hinweisen gibt. Zitat DGUV: „Die vorliegenden Unterrichtsvorschläge legen den Fokus stärker auf den Chemieunterricht, lassen sich aber sicherlich in Teilen auch auf andere Unterrichtsfächer übertragen. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, dass Gefahrstoffe nicht auf Labore und Chemieräume beschränkt, sondern auch in anderen Bereichen und im privaten Umfeld sowie im späteren Berufsleben gang und gäbe sind. Ihnen werden Risikokompetenzen im Hinblick auf Gefahrstoffe vermittelt; sie lernen, dass es wichtig ist, verantwortungs- und sicherheitsbewusst mit solchen Stoffen umzugehen, und wie sie sich wirksam schützen können.“ Der Rat der Verfasser ist, den Unterricht mit einer offenen Diskussion zu beginnen und zu fragen: • Was sind Gefahrstoffe? • Wie erkennt man Gefahrstoffe? • In welchen Unterrichtsfächern außer im Chemieunterricht kommt ihr mit Gefahrstoffen in Kontakt? • Wo begegnen sie euch im Alltag? Sie schlagen auch vor, ein lustiges Video einzusetzen, um dieses etwas trockene Thema aufzulockern, z. B. ein YouTube-Video von Mr. Bean („Mr. Bean: Das chemische Experiment“).

3.8.5 Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler Wichtig ist, die Schülerinnen und Schüler zunächst für mögliche Gefahren zu sensibilisieren und ihnen auch zu zeigen, dass Gefahren nicht nur im Chemie11 DGUV = Deutsche

Gesetzliche Unfallversicherung.

3.8  Grundsätzliche Überlegungen zur Gefahrstoffkunde …

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unterricht warten, sondern auch von außen mitgebracht werden, z. B. leicht entflammbare Kleidungsstücke und lange Haare, die nicht zusammengebunden sind. Aber auch Pfeffersprays, Stinkbomben und dergleichen stellen immer wieder ein Gesundheitsrisiko dar, das von außen in die Schule gebracht wird. Danach werden die Schülerinnen und Schüler gefragt, was ihnen im Chemieraum auffällt, ob sie Zeichen und Hinweisschilder sehen, die es in anderen Räumen der Schule nicht gibt. Sie werden auch gefragt, ob sie eine Idee hätten, was diese Zeichen aussagen sollen. Sie werden also erstens zum Mitdenken und zweitens zum bewussten Hinsehen ermuntert.

3.8.6 Warum Kennzeichnung von chemischen Stoffen? Der beste Schutz vor Gefahrstoffen ist die Kenntnis ihrer Schadwirkung, wer darüber in Unkenntnis ist, lebt in Gefahr. Da nicht jeder Mensch über alle Gefahren von chemischen Stoffen Bescheid wissen kann, wurde die Kennzeichnung von Stoffen entwickelt, z. B. mit Piktogrammen, die auch einen Hinweis auf die Art der Gefährdung geben. Die Schülerinnen und Schüler werden gebeten, zuhause nachzusehen, ob es Verpackungen gibt, auf denen solche Hinweise aufgedruckt sind. Also wird angestrebt, aus der einseitigen Belehrung eine gemeinsame und interaktive Aktion werden zu lassen.

3.8.7 Ersatz kritischer Stoffe – Suche nach Alternativen Ein wichtiges Lernziel ist auch verständlich zu machen, dass der Umgang mit Gefahrstoffen oft nicht vermieden werden kann, dass aber in jedem Fall geprüft werden muss, ob nicht ein weniger gefährlicher Stoff als Ersatz dienen könnte. Fortgeschrittene Lerngruppen beginnen auch eine Nutzen-Risiko-Analyse durchzuführen und anhand einer Versuchsanleitung verschieden Alternativen, z. B. von Lösungsmitteln, zu durchdenken. Hierfür sollten den Schülerinnen und Schülern, die solche Aufgaben bearbeiten sollen, auch ein Zugriff auf die Chemie Datenbank D-GISS (Gefahrstoffmanagement in der Schule) (Bezler & Hildebrandt, 2020) zur Verfügung gestellt werden.

3.8.8 Verhaltensprävention Wichtig ist auch, den Lernenden zu vermitteln, dass es nicht nur auf die verwendeten chemischen Stoffe ankommt, sondern auch auf die korrekte Durchführung des jeweiligen Versuches. Dies führt dann auch zum Thema der Verhaltensprävention, d. h., dass sicheres und sachgemäßes Verhalten für den Umgang mit Gefahrstoffen im Zentrum steht. Hierzu wird vorgeschlagen, den Schülerinnen und Schülern in Kleingruppenarbeit die Aufgabe zu geben, für eine

3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

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bestimmte Versuchsanordnung selbst über die notwendigen Schutzmaßnahmen nachzudenken. Auch die sachgemäße Bewältigung eines Unfalls kann in ähnlicher Weise bearbeitet werden. Um auf das richtige Verhalten im Notfall abzuheben, lassen Sie die Lernenden dazu Pläne erarbeiten und diskutieren Sie folgende Fragen: • • • •

Wie wird ein Notruf abgesetzt? Wer leitet Rettungskräfte durch das Schulgebäude zum Unfallort? Wohin werden Verletzte gebracht, bis Rettungskräfte eintreffen? Was ist am Unfallort zu tun, wenn die Verletzten versorgt sind?

Tipp: Sie können auch den Schulsanitätsdienst einbinden! Um das wichtige Thema „Gefahrstoffe im Unterricht“ bei den Schülerinnen und Schülern präsent zu halten und sie stärker dafür zu sensibilisieren, wiederholen Sie möglichst häufig die Bedeutung des richtigen und verantwortungsbewussten Umgangs mit solchen Stoffen – auch im Bereich Heimwerken und Haushalt. So können Sie den Schülerinnen und Schülern eine ausgeprägte Risikokompetenz im Hinblick auf Gefahrstoffe vermitteln.(Bezler & Hildebrandt, 2020)

3.8.9 Konsequenzen Um das Ziel einer verbesserten kompetenzfördernden Wissensvermittlung im Studienfach Gefahrstoffkunde zu erreichen, muss auch chemie- und medizindidaktisches Denken und Handeln verglichen und berücksichtigt werden. Beide didaktischen Gebiete zeigen Unterschiede, die auf dem Spezialgebiet der Toxikologie (GFK I), die eine Hybridwissenschaft aus Naturwissenschaft und Medizin darstellt, Berücksichtigung finden müssen. Chemie- und Biochemiestudierende müssen in den Gefahrstoffvorlesungen auf diese Unterschiede hingewiesen werden, damit sie die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen können.

3.9 Zukunft der Gefahrstoffkunde 3.9.1 European Green Deal Neben den bekannten Aufgaben der Gefahrstoffkunde werden durch eine grundlegende Veränderung der EU-Chemikalienpolitik auch Veränderungen auf die Gefahrstoffkunde zukommen. Besonders spannend sind hierbei die Ideen der EUKommission, die European-Green-Deal-Strategie. Der Schutz der menschlichen Gesundheit und die Gefahren, die von Chemikalien ausgehen, bleiben im Vordergrund, aber dem Schutz der Umwelt, der Nachhaltigkeit und der CO2-Neutralität kommt eine höhere Bedeutung zu. Eine weitere Globalisierung der Anstrengungen

3.9  Zukunft der Gefahrstoffkunde

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ist die Folge. EU-Kommission: „Der Schutz unseres Planeten Erde und unserer gemeinsamen Umwelt ist definitiv die Aufgabe unserer Generation.“ Es wird von REACH Plus oder auch REACH 2.0 gesprochen und auch davon, dass die EU mit REACH weltweit eine Vorreiterrolle eingenommen hat. REACH wird inzwischen auch von Staaten außerhalb der EU kopiert. Beispiele sind KoreaREACH, Türkei-REACH und UK-REACH. Die EU-Kommission und das EUParlament haben den Ehrgeiz, auch weiterhin eine Vorreiterrolle zu spielen. Die Gefahrstoffkunde wird dadurch noch wichtiger, muss sich allerdings auch an die erweiterten Aufgaben anpassen.

3.9.2 Anforderungen bei Sicherheitsbetrachtung neuer Substanzen Speziell bei der „vorläufigen“ Sicherheitsbetrachtung, die Chemiker und Chemikerinnen bei selbst hergestellten, innovativen Substanzen leisten müssen, ist toxikologisches Grundwissen unabdingbar, kann aber allein nicht ausreichen. Die Kompetenz, dieses Wissen bei neuen, noch nicht geprüften Substanzen, aber auch im sonstigen beruflichen Alltag richtig und verantwortlich einzusetzen, ist ebenfalls wichtig. Das einfache Wissen kann in einer digitalisierten Welt zu jedem beliebigen Zeitpunkt auch aus fachlichen Online-Datenbanken oder OnlineEnzyklopädien wie Wikipedia bezogen werden. Der Zugang zu diesem Teil des Fachwissens ist so einfach geworden, dass das Bewusstsein, sich möglichst viel Wissen aneignen zu müssen, um kompetent nachdenken zu können, teilweise sogar bereits verloren gegangen ist. Wissen ist jedoch die Basis für jeden Denkvorgang. Es ist daher schwieriger geworden, das Bewusstsein für Verantwortung und die Fähigkeit zur Einschätzung der eigenen fachlichen, aber auch der gegebenen rechtlichen Situation zu entwickeln. In diesem Sinn ist es beispielsweise wichtig, die eine Reihe von Fähigkeiten zu entwickeln, um die notwendigen Anforderungen zu erfüllen (Müller, 2020). 

Gefährdungsbeurteilung innovativer Substanzen – Anforderungen nach Angelika Müller 

• Diskursfähigkeit, d. h. die erfolgreiche Führung einer Diskussion • im beruflichen Alltag erfolgreich an Auseinandersetzungen zu chemischtoxikologischen sowie regulatorischen (juristischen) Sachverhalten teilnehmen • aufmerksames objektives Beobachten und Zuhören, um daraus eigenes unvoreingenommenes Denken (urteilsfähiges Selbstdenken) ableiten zu können • Aufnahmefähigkeit für komplexe wissenschaftliche und regulatorische Zusammenhänge und die Fähigkeit, den erkannten Inhalt zur eigenen Tätigkeit in Bezug zu setzen

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

• beim Schließen von Einzeldaten auf größere Zusammenhänge, vernünftige Abschätzungen (z. B. Gefährdungs- und Risikoabschätzungen) und kompetente und nicht voreilige Aussagen treffen

3.10 Nutzung von Digitaltechnologien Das Sommersemester 2020 wird teilweise als das erste Digitalsemester bezeichnet (Jürgens, 2020). Die Corona-Pandemie hatte dafür gesorgt, dass die Präsenzlehre an den Hochschulen quasi ad hoc völlig ausgesetzt und durch Videokonferenztechnologien und andere digitale/virtuelle Technologien ersetzt werden musste. Auch in Zukunft wird der Präsenzunterricht an den Hochschulen zumindest teilweise durch digitale/virtuelle Technologien ersetzt werden. Die Corona-Pandemie hat die Arbeit an den Universitäten gründlich verändert, allerdings nicht, weil die Lehre verbessert werden sollte, sondern weil dies als sofortige Notlösung die einzige Chance war, um die Semester nicht abschreiben zu müssen. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Digitaltechnologien in der gegebenen Situation sehr hilfreich waren, was aber auch bleibt, ist die Erkenntnis, dass noch sehr viel darüber nachgedacht werden muss, wie die zukünftige Lehre unter Einbeziehung von Digitaltechnologien aussehen sollte, auch dann, wenn kein Zwang durch eine Viruspandemie besteht. Ein weiterer Gesichtspunkt, der nicht vergessen werden sollte, ergibt sich aus den gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung. Gemeint ist, dass die Lehre auch die sozialen und kulturellen Veränderungen berücksichtigen muss, die sich aus den neuen Möglichkeiten ergeben, die die Digitalisierung hervorruft, die zunächst unerwartet auftraten, die aber inzwischen eine neue Realität darstellen. Gemeint ist, dass beispielsweise der ortsunabhängige Zugang zu unendlich vielen virtuellen Daten und Kommunikation, in Echtzeit von einem Ende der Welt zum anderen, auch die Art und Weise verändert haben, wie Studierende ihr Studium organisieren und betrachten.

3.10.1 Grundsätzliche Überlegungen Begriffe wie Hörsaal und Vorlesung beschreiben sehr gut, wie die traditionelle Lehre an Hochschulen gedacht war. Die Studierenden sollten sich in einem Saal versammeln, um zu hören, was ein Lehrender vorliest. Hierzu gab es, als die Universitäten der früheren Jahrhunderte immer größer wurden und immer mehr Studierende sich dort einschrieben, keine Alternative. Heute stehen jedoch eine Vielzahl neuer Technologien und damit auch mögliche innovative Verfahren zur Verfügung, die ergebnisoffen und kritisch auf ihr Verbesserungspotenzial geprüft werden müssen. Das Ziel der Digitalisierung in der Lehre muss sein, dass mithilfe digitaler Techniken die Lehre effizienter, interaktiver und kooperativer wird. Kooperation und Interaktion können z. B. dadurch gefördert werden, dass die Lehre mehr auf

3.10  Nutzung von Digitaltechnologien

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die aktuelle Lebenswelt der Studierenden eingeht (Smartphones, Messaging, soziale Netzwerke usw.). Eine Möglichkeit könnte z. B. auch für die Gefahrstoffkundevorlesungen sein, dass die Studierenden, wenn sie zuhause ihre Aufzeichnungen und die in Hochschul-IT-Systemen abgelegten Vorlesungen durcharbeiten, über eine App Fragen stellen können, auf die der/die Lehrende in der nächsten Vorlesung dann eingeht. Dies wäre schon deshalb eine attraktive Möglichkeit, weil sie der Lebenswelt der jungen Menschen besser entspricht als die althergebrachte Kombination aus Zuhören im Hörsaal und stillem, isolierten Nacharbeiten zuhause. Wenn es aus zeitlichen Gründen nicht möglich ist, in der nächsten Vorlesungsveranstaltung auf die über die App gestellten Fragen einzugehen, könnten Fragen auch direkt über diese App beantwortet werden und würden in den meisten Fällen auch dazu führen, dass im nächsten Semester solche Fragen schon im Vorgriff in die Vorlesung eingearbeitet wären, um das Verständnis der Studierenden zu fördern. Auch das wäre ein Schritt in Richtung Best Practice in der Lehre.

3.10.2 Stand der Digitalisierung Zur Frage, wie er den Stand der Digitalisierung in Deutschland einschätze, sagte der CEO von Merck in Darmstadt, Stephan Oschmann, im Jahr 2020 sinngemäß: „Wir haben es geschafft, wenn wir nicht mehr über Digitalisierung reden, sondern digitale Technologien einfach nutzen. Heute redet niemand mehr über die Elektrifizierung, elektrischer Strom wird schlicht benutzt.“ Dies ist sicher ein wichtiger Gedanke, wichtig ist aber auch, dass bei der Elektrifizierung keine wirklich stürmische Weiterentwicklung stattfinden konnte, denn 220 V bleiben eben 220 V. Bei Digitaltechnologien ist die weitere Entwicklung noch nicht abzusehen, es ist aber sicher, dass sie stattfinden wird. Was kommt nach KI (künstliche Intelligenz) & Co? Deutschland und Europa muss nicht nur aufholen, sondern auch verhindern, im internationalen Vergleich abgehängt zu werden.

3.10.3 DiKoLAN (Digitale Kompetenzen für das Lehramt in den Naturwissenschaften) Folgerichtig kümmern sich Experten*innen deutscher Hochschulen um die Möglichkeiten, die sich bieten. Einen wichtigen Orientierungsrahmen bietet vor allem DiKoLAN (Digitale Kompetenzen für das Lehramt in den Naturwissenschaften). „Naturwissenschaften entwickeln sich aufgrund der Digitalisierung dynamisch und schnell methodisch weiter. Dies beeinflusst auch deren Vermittlung im Unterricht, was neben der digitalen Unterrichtsgestaltung neue Herausforderungen für Lehrkräfte sind. Um gleichzeitig die schulische Umsetzung der ,Kompetenzen in der digitalen Welt‘ (KMK 2016) sicherstellen zu können, müssen geeignete Standards für die Lehrerbildung formuliert und in bestehende Curricula integriert werden. Zur Anpassung überfachlicher Rahmenmodelle

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

(z. B. DigCompEdu) an naturwissenschaftliche Kontexte kann – analog zur Strukturierung des fachdidaktischen Wissens- und Fähigkeitsbereichs (PCK; Shulman, 1986) – an einem technologiebezogenen fachdidaktischen Wissensund Fähigkeitsbereich (TPACK) orientiert werden, das über die technisch fachliche (TCK) und technisch pädagogische Komponente (TPK) hinausgeht (Mishra & Koehler, 2006). So wurden Kompetenzbereiche herausgearbeitet, in denen konkrete Basiskompetenzen identifiziert und beschrieben werden. Diese sind im Orientierungsrahmen DiKoLAN (Digitale Kompetenzen für das Lehramt in den Naturwissenschaften) integriert, der sowohl die Möglichkeit der Erweiterung als auch Anschluss an Fach- bzw. Bildungswissenschaften und die zweite Phase der Lehrerbildung bietet. Neben dem Orientierungsrahmen DiKoLAN werden die Kompetenzen am Beispiel des Kompetenzbereichs ,Mess- und Datenerfassung‘ vorgestellt, weil dieser für die Naturwissenschaften von besonderer Bedeutung ist.“

3.10.4 Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“ Das Strategiepapier der Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“ (KMK, 2016) möchte feststellen, „welche positiven Perspektiven mit der Digitalisierung auch im Bildungsbereich verbunden sein können – das heißt, welche Möglichkeiten sie bietet, die Kompetenzen junger Menschen im Bereich der schulischen, beruflichen und der hochschulischen Bildung besser denn je entlang der gesamten Bildungskette zu fördern und zu entwickeln, so dass diese die Chancen der Digitalisierung bestmöglich nutzen und gleichzeitig ihre Risiken und Gefahren kritisch reflektieren und bewerten können“. Als interessante Publikationen zu digitalen Basiskompetenzen, Orientierungshilfen, inkl. Praxisbeispielen, aber auch spezifische zielgerichtete Ansätze für Lehramtsstudierende der Chemie sind kürzlich erschienen (Becker, MeßingerKoppelt, & Thyssen, 2020), (Zimmermann & Melle, 2019). Insgesamt wird überlegt, wie die Lehre an Hochschulen von dem enormen Technologieschub der Digitalisierung profitieren kann. Dabei wird es nicht allein darum gehen, dass die Lehrenden bestehende Vorlesungen als Video ins Netz stellen oder den Hörsaal durch Kommunikationssysteme wie Zoom (zoom, 2020) ersetzen. Dies ist in einer Ausnahmezeit wie der Corona-Pandemie eine temporär sehr sinnvolle Maßnahme (auch die in der Ergänzung zum CV erwähnten Lehraufträge an der Universität Bonn und der Universität in Lyon wurden den Jahren 2020 und 2021 im Sommersemester 2020 und im Oktober über elektronische Medien verwirklicht). Statt zur Hochschule zu fahren, können Online-Lehrveranstaltungen eine sehr sinnvolle Maßnahme sein, um z. B. die Klimaziele (CO2-Produktion) zu erreichen und die Kosten des Studiums für Hochschulen und Studierende zu senken. Ein solcher Ersatz ist aber noch keine automatische Verbesserung der Lehre gegenüber der im herkömmlichen Präsenzmodus.

3.10  Nutzung von Digitaltechnologien

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Diese Erkenntnis ist inzwischen weit verbreitet und aktuelle Publikationen zu diesem Thema beleuchten die Risiken, aber auch den Gewinn, den digitale Medien für die Lehre haben können (Huwer & Banerji, 2020), wie z. B. als Lernbegleiter zur Strukturierung von Lernprozessen, als Anreicherung kognitiver Lernprozesse, als Lerngegenstände oder als Experimentalwerkzeuge zur Messwerterfassung.

3.10.5 E-Learning – Fernstudium Auch vor der Corona-Pandemie wurde intensiv über die Möglichkeiten von E-Learning diskutiert, wobei vor allem die Frage, wie die Lehre und das Lernen von den neuen technischen Möglichkeiten profitieren könnten, im Vordergrund stand. Es ist bekannt, dass diese Diskussion auch von zahlreichen Bedenken beeinflusst wurde. Die sog. Corona-Krise hat der Diskussion eine enorme Dynamik und breite Akzeptanz verliehen, die genutzt werden muss. Dabei sollte beachtet werden, dass in Corona-Zeiten aus naheliegenden Gründen das E-Learning sehr schnell mit distant learning gleichgesetzt wurde. Dies ist aber keinesfalls korrekt, denn auch E-Learning kann in einem Seminarraum oder Hörsaal stattfinden. In einem Bereich der Hochschullehre, dem Fernstudium, ist das distant learning bereits seit langer Zeit eine täglich geübte Praxis und hat sich bewährt. Früher wurde im Fernstudium vornehmlich über die Briefpost kommuniziert, heute findet in diesem Teil der Hochschullehre die Kommunikation sehr viel eleganter und schneller zu fast 100 % über Digitalmedien statt. Es wird sich daher automatisch die Frage stellen: Wo wäre bei einer Hochschule, die ihre Lehrveranstaltungen digital über das Internet abwickelt, noch der Unterschied zu einer Fernhochschule? Da ein Fernstudium gegenüber einem Präsenzstudium eine Reihe von Vorteilen bietet, z. B. finanzielle, muss sehr genau definiert werden, wo der Vorteil eines Präsenzstudiums liegt und wie es aussehen muss, um die zusätzlichen Kosten und die geringere Flexibilität zu rechtfertigen. Auch stellt sich die Frage, warum das Fernstudium privaten Hochschulen überlassen wird. Deshalb ist auch wichtig, die Corona-Krise zu nutzen, denn Krisenzeiten bieten immer auch neue Chancen. Durch Krisen werden innovative Ideen gefördert und bisherige Wahrheiten werden infrage gestellt. Diese Erkenntnis gilt nicht nur für den Umgang mit Gefahrstoffen, sondern auch für die Frage, wie Lehre verändert bzw. verbessert werden kann.

3.10.6 Gefahrstoffkundevorlesungen – EvaExam – ScanKlausuren Ein gewisser digitaler Fortschritt kann bezüglich der Gefahrstoffkundevorlesungen dadurch erreicht werden, dass die Gefahrstoffkundeklausuren als Scan-Klausuren (System EvaExam) (HDA & HRZ, 2020) durchgeführt werden. Dabei wird nicht nur die Erstellung und Auswertung der Klausuren rationalisiert, ja sogar fehlerfreier, EvaExam stellt auch Informationen zum Ergebnis der Klausuren zur Verfügung,

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

die z. B. auch Aussagen über die Qualität einzelner Fragen einer Klausur erlauben. Damit wird neben der Digitalisierung und Rationalisierung auch ein kleiner Schritt in Richtung Verbesserung und Qualitätssicherung (Best Practice) in der Lehre erreicht.

3.10.7 LMS-Moodle IT-Systeme wie Moodle, das als zentrales Learning Management System (LMS) bereits zur Verfügung steht und bereits an tausenden Lernorten weltweit im Einsatz ist, werden sehr schnell lokal selbst entwickelte Systeme ablösen. An der Technischen Universität Darmstadt hat Moodle z.B. ein in die Jahre gekommenes IT-System abgelöst. Moodle entspricht sehr gut der Lebenswelt der Studierenden und bietet auch den Lehrenden die Möglichkeit, Vorlesungen, Kurse und Seminare individuell zu gestalten und zu dokumentieren. Derartige Systeme werden den Studierenden helfen, auch ihrerseits individuelle Lernwege zu beschreiten, um ihr Ziel eines erfolgreichen Hochschulabschlusses zu erreichen.(https://moodle.org/) "Nach Login […] stehen den Lehrenden und Studierenden lehrveranstaltungsbegleitende Online-Kursräume zur Verfügung. Innerhalb dieser kann Studierenden ein bedarfsgerechter, zeitunabhängiger und auch mobiler Zugriff auf unterschiedliche Lernmöglichkeiten angeboten werden." (HDA & HRZ, 2020).

3.10.8 Digitalpakt für die Lehre [07/2020] Die Präsidenten*innen und Rektoren*innen der deutschen Technischen Universitäten fordern in einem Positionspapier von der Politik einen Digitalpakt auch für die Hochschullehre, inkl. einer finanziellen Unterstützung für die Neuorientierung und Entwicklung verschiedener Formen inkl. möglicher Hybridformen (TU9, 2020) (TU9-Allianz)12. Aus diesem Positionspapier: „Welche Art der Lehre wollen und können wir künftig anbieten? Welche Vorteile erwachsen aus digitalen Formaten? Welche Formen der Präsenzveranstaltungen haben sich überlebt? Welche Qualitätsansprüche müssen wir an digitale Formate formulieren? Welche Chancen liegen in hybriden Formaten der Wissensvermittlung? […] Es müssten sich nicht mehr 800 oder mehr Menschen – unabhängig von Corona – in einen Hörsaal drängen, um eine bestimmte Vorlesung zu hören. Sie könnten die digital aufbereiteten Veranstaltungen an dem Ort nutzen, der zu ihrem Leben passt, asynchron zu dem, wie es die anderen machen. Durch 12 TU9-Allianz = Allianz

führender Technischer Universitäten in Deutschland: Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, Technische Universität Berlin, Technische Universität Braunschweig, Technische Universität Darmstadt, Technische Universität Dresden, Leibniz Universität Hannover, Karlsruher Institut für Technologie, Technische Universität München und Universität Stuttgart.

3.10  Nutzung von Digitaltechnologien

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,proctored exams‘ können wir diese Vorteile auf Prüfungen ausdehnen und damit auch die internationale Mobilität fördern.“ „Studierende könnten ihre Präsenz an der Universität auf die wertvollen synchronen und auch hybriden Formate wie Projektarbeiten, Seminare, Übungsgruppen und Praktika fokussieren, in denen sie sich in kleinen Gruppen mit Professor*innen, Assistent*innen, Tutor*innen und ihren Kommilitonen*innen komplizierte Zusammenhänge moderner Fächer erarbeiten. […]“ „Gegen all diese Vorteile gibt es auch Einwände. Es existiert eine starke Allianz von Befürworter*innen der traditionellen und umfassenden Präsenzlehre, wie sie seit Jahrhunderten erfolgreich angeboten wurde, nicht zuletzt aufgrund fehlender technologischer Alternativen und für deutlich geringere Studierendenzahlen. Wir wollen nicht das Eine durch das Andere ersetzen, sondern Präsenzlehre ergänzen, digitale Lehre weiterentwickeln und einsetzen – dort, wo sie sich bewährt. Universität wird anders sein als sie in Vor-Corona-Zeiten war, wir fordern jetzt eine staatliche Förderung in den Ausbau der Universitäten als zukunftsweisende Bildungseinrichtungen mit moderner digitaler Infrastruktur, angepassten räumlichen Konzepten für neue Lehrformate, einer sich weiterentwickelnden, die Vielfalt der Optionen abbildenden Hochschuldidaktik und einem innovativen Immatrikulationssystem, das das Studieren an verschiedenen Standorten ermöglicht.“

3.10.9 Flipped Classroom An diversen Hochschulen werden z.  B. sog.  Flipped-Classroom-Konzepte gefördert (Weber, 2020). „,Flipped Classroom‘ wird von Lehrenden eingesetzt, um die Vermittlung von neuen Lerninhalten individueller, anschaulicher, aktiver, kollaborativer, interaktiver und ökonomischer zu gestalten. […] Die ,Flipped Classroom‘ Unterrichtsmethode (oder auch ,Inverted Classroom‘) kehrt die Lernaktivitäten in den klassischen Präsenzveranstaltungen um. Die Studierenden eignen sich in Selbstlernphasen anhand von Lernmaterialien (meist digital über eine Lernplattform z. B. Moodle), ortsunabhängig und im eigenen Lerntempo Lerninhalte an. In den Präsenzveranstaltungen an der Hochschule erfolgt in der Lehrveranstaltung die Vertiefung der Lerninhalte in interaktiver Form (z. B. durch Diskussionen, Gruppenarbeiten, Anwendung der Lerninhalte).“

3.10.10 Vorlesungs-App Pingo Eine weitere digitale Möglichkeit, um die Interaktion und Kooperation zwischen den Dozenten*innen und den Studierenden während einer Vorlesungsveranstaltung im Hörsaal zu stimulieren und zu verbessern, ist, eine Vorlesungs-App wie Pingo (Paderborn, 2022) so zu nutzen, dass vom Vortragenden vorbereitete Fragen während der Vorlesung oder direkt im Anschluss gestellt und mithilfe von Klicks auf Smartphone oder Tablet spontan beantwortet werden. Bei vom Vortragenden

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

gestellten Fragen melden sich normalerweise nur einzelne Mutige mit einer Antwort. Mit Pingo antworten alle Anwesenden. Selbst bei Hybridveranstaltungen können so die im Hörsaal und die zuhause sitzenden Studierenden gleichberechtigt teilnehmen. Die Dozenten*innen bekommen so ein direktes Feedback, ob und in welchem Maße Inhalte verstanden wurden, und die Studierenden bekommen in einer computerspielähnlichen Situation ebenfalls eine Rückmeldung über ihren Verständnisstand. Dieses Werkzeug entspricht auch einem Eingehen auf die Lebenswelt der jungen Menschen. Richtige Antworten können den Studierenden ein Erfolgserlebnis bieten, das für einen Motivationsschub sorgen kann (Belohnungsprinzip). Motivation kann auch helfen, die Studierenden, die Bedenken bezüglich ihrer eigenen Leistungsfähigkeit haben und letztlich ihr Studium abbrechen, nicht zu verlieren.

3.10.11 Verzicht auf Investitionen in digitale Werkzeuge Ein Land wie Deutschland kann sich den Verzicht auf Investitionen in digitale Werkzeuge nicht mehr leisten. Talente müssen entwickelt werden, besonders leistungsfähige Studierende sollten sich nicht selbst überlassen werden und die Studienabbruchrate muss so weit als möglich gesenkt werden.

3.11 Best Practice in Vorlesungen 3.11.1 Dual Career Netzwerk Deutschland (DCND) Das Dual Career Netzwerk Deutschland (DCND) (DCND, 2020) hat einen BestPractice-Leitfaden zur bundesweiten Etablierung einheitlicher Qualitätsstandards von Dual Career Services für den Bereich der Hochschulen veröffentlicht. Der Leitfaden soll als Orientierungsrahmen zur bundesweiten Etablierung einheitlicher Qualitätsstandards an deutschen Hochschulen dienen. Es erscheint erstaunlich, dass der Anstoß zu Qualitätsregeln an deutschen Hochschulen von einer Organisation kommt, die ihre Kernaufgabe in der Unterstützung von Partnerinnen und Partner von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sieht – Partnerinnen und Partner, die wegen des Mobilitätszwangs, dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterliegen, ihre eigene Karriere unterbrechen müssen, wenn sie an den neuen Wohnort mitziehen. Das DCND möchte diesen Partnerinnen und Partner helfen, ihre berufliche Karriere auch am neuen Standort fortsetzen zu können. Einige Hochschulen nutzen den Best-Practice-Leitfaden des DCND, obwohl noch nicht überall ein formales Best-Practice-Verfahren zur Verfügung steht und auch noch keine Best-Practice-Fachgruppe für die Lehre eingerichtet wurde. Eine solche Gruppe würde den Lehrenden Beratung, Training und auch Besuche in Vorlesungsveranstaltungen anbieten, um eine nachhaltige Qualitätsverbesserung zu erreichen. Aufgrund der jahrelangen Erfahrung in der Hochschullehre im In- und Ausland sowie beim Aufbau von Qualitätssicherungssystemen in der Forschung (Kramer &

3.11  Best Practice in Vorlesungen

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Pohl, 2006), (Pohl, Simon, & Kramer, 2008) haben sich für eine bescheidene Best Practice der Gefahrstoffkundevorlesungen eine Reihe von Ideen herausgebildet. Bei der Erstellung dieses Buches und den damit verbundenen Recherchen kamen weitere Gedanken hinzu. Alles zusammen mündet in den folgenden zehn Best-Practice-Grundregeln für die Gefahrstoffkundevorlesungen.

3.11.2 Zehn Best-Practice-Grundregeln Als weiteres Grundprinzip ergeben sich für den Aufbau und die Präsentation der Gefahrstoffkundevorlesungen die folgenden zehn Best-Practice-Grundregeln: 1. Übersicht geben zum Inhalt und den Zielen der Gefahrstoffkundevorlesungen I und II, zu Beginn der ersten Veranstaltung und in der Vorlesungsankündigung (Vorlesungsverzeichnis) Was wird von den Studierenden erwartet? Warum findet der Kurs statt? Warum ist es eine Pflichtveranstaltung für Chemiker*innen? 2. Jede einzelne Vorlesungsveranstaltung optimal starten emotional positiv eingestellt und motiviert sein – für entspannte Atmosphäre sorgen falls möglich, spannenden Einstieg finden (Geschichte) Ziel jeder einzelnen Vorlesungsveranstaltung kurz zu Beginn beschreiben Was hofft der/die Lehrende, dass es die Studierenden heute „mit nach Hause nehmen“? Vortrag so gestalten, dass die Studierenden sich auf den Lehrstoff konzentrieren und nicht nebenher E-Mails und andere elektronische Nachrichten lesen und verschicken 3. Unterrichtsmaterialien gut lesbar und in verständlicher Sprache (Vernehmbarkeit, Qualität, Haltung, Sprechgeschwindigkeit, Bewegungen, Gesten, Augenkontakt usw.) Qualität der Folien beachten (schlichtes Design, nicht zu lange Aufzählungen) Qualität der visuellen Hilfen beachten (siehe auch Kap. 4) Informationen strukturieren – nach Strukturen suchen, Kategorien bilden Sprache und Inhalt dem Wissensstand der Studierenden anpassen Folien der Veranstaltungen nach jeder Veranstaltung in IT-System der Hochschule einstellen Zusätzliche Informationen sollten immer im IT-System der Hochschule verfügbar gemacht werden. Falls Studierende Informationen vermissen, werden sie ermuntert, auch über E-Mail darauf aufmerksam zu machen. 4. weniger Anonymität den Studierenden zuwenden (Blickkontakt, lebendig nicht starr vortragen) Studierende bewusst wahrnehmen und ansprechen – mehr über Studierende wissen (Was studieren sie? Woher kommen sie?). Dadurch wird Unterricht zielgenauer und berücksichtigt besser das Vorwissen.

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

Bei kleinen Gruppen wäre die Kenntnis der Namen wichtig, persönliche Beziehung hilft. Beachtung der Interessen der Studierenden 5. Möglichkeit sicherstellen, mit den Studierenden auch außerhalb der Vorlesung zu kommunizieren, z. B. über E-Mail 6. positives Feedback geben – Fragen willkommen heißen Selbst Fragen stellen und loben, wenn Mitarbeit und korrekte Antworten gegeben werden 7.  Studierende sollten Gelegenheit bekommen, ihren Wissenszuwachs zu erkennen, d. h. Studierende sollten spüren, dass sie etwas gelernt haben Anmerkung: In kleinen Gruppen ist das kein Problem, in großer Gruppe (GFK I ca. 90 Studierende) nur beschränkt möglich (siehe 5., 6. und 8.). Es wäre toll, wenn es ein IT-System (Handy-App) gäbe, das die Möglichkeit bietet, Fragen einzustellen, und den Studenten die Möglichkeit bietet, durch gute Antworten, z. B. auch Pluspunkte zu sammeln. Das würde auch mit großer Zahl funktionieren und würde gut mit der Lebensrealität der Studierenden harmonieren. 8. während der Vorlesung (auch Online-Vorlesung) Fragen erlauben und willkommen heißen auch zu Fragen am Ende der Veranstaltung ermuntern, notfalls mit anonymen Zetteln Beantwortung bei nächster Veranstaltung Tempo der Demonstration der Folien kontrollieren, nicht zu schnell 9. Hilfe beim Lernen und Verstehen, soweit möglich multimodaler Unterricht – möglichst viele Sinne einsetzen, d. h. auch Videos einsetzen neue Sachverhalte aktiv mit bereits vorhandenem Wissen verknüpfen Betonung wichtiger Informationen und Ideen neue Informationen aktiv wiederholen bzw. wiederholen lassen möglichst wenige Ausschweifungen, beim Kern bleiben Flipped Classroom wäre theoretisch eine weitere Möglichkeit, d. h. zuhause wird neues Wissen erworben – Studierende studieren zuhause Unterlagen und sehen auch Videos. Im Unterricht wird dann versucht, z. B. in Übungen zu klären, was Sache ist. Eine Methode, die mit den vielen Studierenden der Gefahrstoffkunde eher nicht funktioniert. wichtige Informationen am Ende der Veranstaltung kurz wiederholen 10. nicht nur Pflichtlernstoff des Curriculums vermitteln, auch Beispiele aus der realen Welt besprechen Links zur Verfügung stellen, die sie sich zuhause ansehen können (Transferwissen) soll motivieren, aber auch den kompetenten Umgang mit Web-(Medien-) Inhalten trainieren Lernort variieren, wenn möglich z. B. Besuch in Industrie oder Behörden

3.11  Best Practice in Vorlesungen

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 Best-Practice-Grundregeln 

1 2 3 4 5

Übersicht geben zum Inhalt und den Zielen der Vorlesungen jede einzelne Vorlesungsveranstaltung optimal starten Unterrichtsmaterialien gut lesbar und in verständlicher Sprache weniger Anonymität – Studierende bewusst wahrnehmen und ansprechen Möglichkeit sicherstellen, mit den Studierenden auch außerhalb der Vorlesung zu kommunizieren 6 positives Feedback geben 7 Studierende sollten Gelegenheit bekommen, ihren Wissenszuwachs zu erkennen 8 während der Vorlesung (auch Online-Vorlesung) Fragen erlauben 9 Hilfe beim Lernen und Verstehen 10 nicht nur Pflichtlernstoff des Curriculums vermitteln, auch Beispiele aus der realen Welt besprechen

3.12 Motivation durch Stipendien Wichtig ist, die Motivation der Studierenden auf unterschiedliche Weise zu erhöhen. Ein Weg besteht darin, dass Studierende durch eine gezielt eingesetzte finanzielle Förderung angespornt werden. Es ist so möglich, eine hohe Motivation aufrechtzuerhalten bzw. die Studierenden, die ihr Potenzial noch nicht ausgeschöpft haben, dazu anzuregen, dies zu tun.

3.12.1 Beispiel Deutschlandstipendium Ein sehr sinnvolles und wirksames Programm ist deshalb das Deutschlandstipendium, das die Bedingungen dafür bietet, dass Studierende sich voll auf ihr Studium konzentrieren, anstatt sich mit Nebenbeschäftigungen über Wasser zu halten. Zur Verfügung steht u. a. das sog. Deutschlandstipendium. „Über das Deutschlandstipendium werden seit dem Sommersemester 2011 Studierende sowie Studienanfängerinnen und Studienanfänger gefördert, deren Werdegang herausragende Leistungen in Studium und Beruf erwarten lässt. Sie erhalten 300 € monatlich – die eine Hälfte vom Bund und die andere Hälfte von privaten Stiftern. Dieses Bündnis aus zivilgesellschaftlichem Engagement und staatlicher Förderung ist das Besondere am Deutschlandstipendium. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten erhalten das einkommensunabhängige Fördergeld von monatlich 300 € für mindestens zwei Semester und höchstens bis zum Ende ihrer Regelstudienzeit. So können sie sich erfolgreich auf ihre Hochschulausbildung konzentrieren". https://www.tu-darmstadt.de/deutschlandstipendium/ Die Hochschulen sind bisher noch sehr unterschiedlich bei der Einwerbung von Stipendien. Erfolgreich ist z. B. das sog. Matching-Verfahren, welches die Interessen der Studierenden und der Förderer bestmöglich zusammenbringt – eine Voraussetzung für erfolgreiche Partnerschaften!

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

3.13 Nationale und internationale Vernetzung der Lehrenden Auch die nationale und internationale Vernetzung von Hochschulen wird auch auf dem Gebiet der Lehre einen immer größeren Raum einnehmen, denn ein wichtiges Element, eine sich stetig optimierende Lehre zu erreichen, ist auch, die Möglichkeiten zu verbessern, von anderen, auch anderen Unterrichtskulturen, zu lernen, d. h. interkulturelle Erfahrungen in der Lehre zu sammeln und in der eigenen Lehre umzusetzen. Dabei sollte beachtet werden, dass es nicht nur um den Austausch von Ideen und Konzepten gehen sollte, sondern auch darum, in aktiven Partnerschaften gemeinsam etwas zu erreichen, das man allein nicht erreicht hätte. Auch die Corona-Krise hat sehr klar werden lassen, dass ein ernstes Problem niemals allein gelöst werden kann, sondern nur in einer gemeinsamen Anstrengung. In den meisten Lebensbereichen sind Partnerschaften erfolgreicher als der Versuch, etwas allein zu erreichen. Wichtige Entwicklungen beginnen zwar immer mit einer Einzelperson, aber um eine wichtige Entwicklung erfolgreich umsetzen zu können, werden immer Mitstreiter benötigt. Streng genommen sind Menschen niemals allein, denn jeder Mensch ist ein sog. Superorganismus, der selbst ohne die Mikroorganismen (Mikrobiome), die auf und in ihm wohnen, nicht lebensfähig ist (Dietert, 2016) – im Übrigen eine Schlussfolgerung, die interessanterweise mit der von Alva Noë (Noe, 2010, S. 117) übereinstimmt. In seinem Buch „Du bist nicht Dein Gehirn“ zitiert er Susan Hurley, die die Menschen als dynamische Singularitäten bezeichnet, denn die Daseinsform der Menschen bringt eine kontinuierliche Abhängigkeit von ihrer Umwelt mit sich. So wird auch die erfolgreiche Nutzung der Digitaltechniken davon abhängen, wie gut vernetzt die Zukunft gestaltet wird. In diesem Zusammenhang sei auch nochmals auf das Aktionsprogramm BNE der UN hingewiesen, das sehr intensiv auf eine globale Vernetzung der Bildungseinrichtungen hinarbeitet (siehe Abschn. 3.7).

3.13.1 Vernetzung von Bildungseinrichtungen mit Industrie und Behörden Neben einer Vernetzung der Bildungseinrichtungen wäre auch eine bessere Vernetzung von Hochschulen mit Industrie und Behörden anzustreben. In England am Imperial College (Kramer, 2014) hatten im Department Biochemical Toxicology die Master- oder PhD-Studierenden jeweils einen Industrie-Mentor an ihrer Seite, mit dem sie alle drei Monate die neuen Ergebnisse besprachen. Diesen MentorTerminen wurde mit viel Eifer entgegengearbeitet, vor allem, weil diese Treffen von den Studierenden als sehr hilfreich empfunden wurden.

3.13  Nationale und internationale Vernetzung der Lehrenden

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3.13.2 Attraktivität deutscher Hochschulen für ausländische Absolventen Aufgrund der Erfahrungen in England, aber auch durch die jahrelange Lehrerfahrung in Frankreich (Kramer, 2014), wird der nationale und internationale Austausch auch im Hinblick auf Best Practice in der Lehre als sehr wichtig eingestuft. Er wird auch helfen, deutsche Hochschulen für Studierende anderer Länder noch attraktiver zu machen, als dies heute der Fall ist. Wer sich die Publikationen US-amerikanischer Nobelpreisträger anschaut, wird feststellen, dass sie immer sehr viele sehr internationale Namen in der Autorenzeile enthalten! Das sind zumeist Doktoranden und Postdocs, die an diesen Hochschulen studiert haben oder unbedingt dort eine gewisse Zeit lernen und arbeiten wollten. Berkeley in Kalifornien, als Universitätsstadt ist sie, gemessen an ihrer Einwohnerzahl, mit deutschen Hochschulstandorten vergleichbar. Nicht vergleichbar ist dagegen die Zahl der Nobelpreisträger, die dort an der University of California (UC) gearbeitet haben (Wikipedia, 2020). Die Nobelpreisträgerzahlen, allein für die Chemie, sehen in Berkeley bis 2020 so aus: • Alumni: 12 • long-term academic staff: 13 • short-term academic staff: 15 Allein 40 Nobelpreisträger zählt die UC Berkley in der Chemie! Diese außerorentlich große Zahl hat sehr viel damit zu tun, dass diese Universität junge und „hungrige“ Menschen anzieht, die dort fast um jeden Preis von dem Ruf der UC Berkeley profitieren wollen. So ist es verständlich, dass tausende ausländische Studierende in den USA selbst die Studiengebühren von über 10.000 US$ und die hohen Lebenshaltungskosten akzeptieren, um dort studieren zu dürfen, oder dass Postdoc-Studierende häufig akzeptieren, ausgenutzt zu werden, um ihre Karriere wirksam zu befördern, aber indirekt auch um weltweit bekannten Kapazitäten zu interessanten Forschungsergebnissen zu verhelfen. Für die amerikanischen Universitäten ist dies nicht nur wichtig, um in der Forschungswelt Spitzenplätze zu belegen, sondern auch eine sehr wichtige Finanzierungshilfe, die intensiv genutzt wird. Diese Art der Ausnutzung entspricht nicht den europäischen Werten, sie ist aber real und die Universitäten in Europa müssen einen Weg finden, diese Art der Konkurrenz auszugleichen.

3.13.3 Erasmus-Programm der EU Ein bereits bestehendes EU-Programm, das auch zur Internationalisierung deutscher Hochschulen gedacht ist, ist das Erasmus-Programm (Kommission, 2020). Die Europäische Kommission sieht in ihrem Vorschlag für den mehrjährigen Finanzrahmen der kommenden Programmgeneration von 2021–

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

2027 eine Verdoppelung des Erasmus und der Budgets auf 30 Mrd. € vor. Das Programm soll andere bestehende Förderprogramme integrieren, seine Zugänglichkeit soll erleichtert, der Verwaltungsaufwand gesenkt, der Mechanismus und die Bestimmungen für den Einsatz der Mittel im internationalen Teilbereich sollen deutlich vereinfacht werden. Die internationale Dimension ermöglicht Studierenden und Hochschulpersonal aus aller Welt die akademische Mobilität („aus Europa, nach Europa“).

3.13.4 Start-up-Unternehmen – Finanzierung der Hochschulen Eine weitere Konsequenz der Spitzenforschung an Hochschulen sind auch vermehrte Ausgründungen zukunftsträchtiger Start-up-Unternehmen. Auch diese dienen nicht nur der Zukunft der Wirtschaft des Landes und der jungen Menschen, sondern auch der Finanzierung der Hochschulen. Eine größere Autarkie der Hochschulen in Deutschland sowie eine gesteigerte staatliche Förderung entsprechender Aktivitäten wären auch im Sinne der Nachhaltigkeit der Bildungsinvestitionen in Deutschland. Die wissenschaftliche Güte in Deutschland kann sich international sehen lassen, man kann mehr daraus machen! Eine gesteigerte Förderung der Hochschulen und ihrer Forschung muss allerdings auch beinhalten, dass der Staat und damit die jeweilige Politik sich bei der inhaltlichen Regulierung der Hochschulen zurückhalten. „Vor allem im biomedizinischen Bereich haben restriktive Gesetze bewirkt, daß wissenschaftliche Arbeit in erheblichem Umfang eingeschränkt oder ins Ausland verlegt wurde“ (Singer, 2002, S. 187).

3.13.5 Finanzierungsquelle Weiterbildungsmarkt Eine mögliche Finanzierungsquelle für deutsche Universitäten könnte der Weiterbildungsmarkt sein, denn mit dem Studienabschluss an der Hochschule ist die Aus- und Weiterbildung der Absolventen nicht beendet. Ein sehr einfaches Beispiel ist der Sachkundenachweis nach §11 der Chemikalien-Verbotsverordnung, der mit erfolgreichem Abschluss der Gefahrstoffkunde I und II erworben wird. Dieser Sachkundenachweis wird nach den neuen gesetzlichen Regelungen nicht mehr lebenslang zuerkannt, denn seit 2019 muss der Sachkundenachweis nach jeweils sechs Jahren aufgefrischt werden. Warum sollten die Absolventen nicht nach an ihre Hochschule zurückkehren, um diese Auffrischung zu erhalten? Warum müssen sie private Anbieter nutzen, um Zertifizierungskurse zu belegen?

3.14 Praktische Umsetzung fachdidaktischer Erkenntnisse Von den Erkenntnissen der Fachdidaktiken der Naturwissenschaften und der Medizin sollte auch die Toxikologie bzw. Gefahrstoffkunde profitieren. Durch sie sollte eine nachhaltige Entwicklung der Studierenden unterstützt und das Lernen

3.13  Nationale und internationale Vernetzung der Lehrenden

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in Zusammenhängen gefördert werden. Die Studierenden sollten ausgehend von ihrer Fachkompetenz Chemie/Biochemie die erforderlichen Fähigkeiten erwerben, die es ihnen ermöglichen, mithilfe ihrer toxikologischen und gesetzlichen Kenntnisse einer Berufstätigkeit nachgehen zu können, die in einem sicheren und zeitgemäßen Umgang mit chemischen Stoffen resultiert. Als ein praktisches Hilfsmittel für die Dozenten*innen, sich bei der Erstellung der einzelnen Vorlesungsveranstaltungen die jeweiligen didaktischen Ziele bewusst zu machen, wird vorgeschlagen, bei der Auswahl, Festlegung und Gestaltung der Vorlesungsinhalte neben der Beschreibung des Lernstoffs gedanklich auch sog. Basiswissen‚ Aufbauwissen und Transferwissen bewusst einzubauen. Diese Punkte dienen der bewussten didaktischen Strukturierung der Vorträge. Es bleibt den Lehrenden überlassen, wie und ob sie diese didaktische Struktur an die Studierenden kommunizieren.

3.14.1 Basiswissen Das Basiswissen umfasst das fachinhaltliche solide Grundwissen der Gefahrstoffkunde. Die Kenntnis dieser Punkte ermöglicht das einfache Bestehen der Prüfungen (Klausuren) und damit auch die Erreichung des formalen Sachkundenachweises („Giftschein“). Für die erleichterte Prüfungsvorbereitung der Studierenden hat sich z. B. bewährt, Vorlesungsfolien, die Basiswissen darstellen, mit einem roten Punkt (in der Fußzeile) zu kennzeichnen. Die Botschaft des roten Punktes: „Dieser Lernstoff ist für das Bestehen der Prüfung absolut notwendig!“

3.14.2 Aufbauwissen Das Aufbauwissen zeigt auf, welche Überlegungen und Fragen angestellt und beantwortet werden müssen, um als Chemiker oder Chemikerin im Umgang mit Gefahrstoffen kompetent eine Sicherheitsbetrachtung des eigenen Tuns in Labor oder Betrieb, aber auch in Bezug zu Kollegen, Mitarbeitern, Konsumenten und Anwendern, anstellen zu können. Die Zusammenhänge und Informationen, die zum Verständnis von Gefährdungen und Risiken benötigt werden, um so auch Stoffbewertungen, Abläufe im Labor und Betrieb oder ethische Fragestellungen durchdenken zu können, werden deshalb unter Aufbauwissen einsortiert. Aufbauwissen ist für Studierende, die mehr wissen und verstehen wollen, als für das einfache Bestehen der Klausuren und das Erreichen des Sachkundenachweises erforderlich ist. Die Kenntnis dieser Punkte ermöglicht das Erreichen eines guten bis sehr guten Prüfungsergebnisses. Im Abschn. 3.2 wurde festgestellt, dass ein wichtiges Ziel der Lehre sein muss, bei den Studierenden das Verstehen zu erreichen, dass gleichzeitig aber

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

auch die Kritik an diesem neuen, verstandenen Wissen gelehrt werden muss. Es stellt sich daher die Frage, ob man kritisches Denken lehren kann. In der Gefahrstoffkundevorlesung wird dies über das Aufbauwissen versucht, denn zur Kompetenz gehören beide Punkte, das Verstehen und das kritische Denken (urteilsfähiges Selbstdenken), was beides selbstverständlich ohne das Basiswissen nicht möglich ist.

3.14.3 Transferwissen Das Transferwissen spielt für das Bestehen der Klausuren und Prüfungen keine Rolle, da es nicht geprüft wird. Die Präsentation von Transferwissen verfolgt mehrere Ziele. Transferwissen betrifft z. B. solche Inhalte, die nicht nur für das Berufsleben, sondern auch für das Privatleben wichtig sind, also auch Informationen und Zusammenhänge, die zur Allgemeinbildung von Studierenden gehören, die an einer deutschen Hochschule Chemie oder Biochemie studiert haben. Es wird in den Vorlesungsveranstaltungen auch dazu aufgefordert, derartige Inhalte in den „nicht-chemischen“ Freundesund Bekanntenkreis dieser jungen Menschen zu tragen, deshalb die Bezeichnung „Transferwissen“. Die Verwendung von Transferwissen entspricht auch den Best-Practice-Regeln für Vorlesungen in der Art, dass in den Lehrveranstaltungen nicht nur der Pflichtlernstoff des Curriculums vermittelt werden soll, sondern auch Beispiele aus der realen, z. B. der nicht-chemischen Welt, vermittelt werden sollen. Die Punkte des Transferwissens sollen auch die Information transportieren, dass das vielfach als langweiliger Ballast angesehene Fach Gefahrstoffkunde eine hohe Allgemeinbildungsrelevanz besitzt und deutliche Alltagsbezüge speziell für Chemikerinnen und Chemiker bietet. Mit der bewussten Berücksichtigung von Transferwissen soll auch die Möglichkeit geschaffen werden, mit den Studierenden in eine direktere Interaktion zu kommen, die dazu führen soll, den Lerninhalt des jeweiligen Themas greifbarer zu machen – greifbarer dadurch, dass bewusst Gefahrstoffe aus dem privaten Lebensumfeld der Studierenden oder aus Medienberichten verwendet werden, wie z.  B. Alltagschemikalien, Genussmittel, Tattoo-Pigmente oder Drogen. Dabei wird darauf geachtet, problemorientiert (inkl. Problemlösung) vorzugehen und die Studierenden zu viel Interaktion und Kooperation zu motivieren. Die Beschäftigung mit Transferwissen soll auch den kompetenten Umgang mit den Inhalten der Medien, insbesondere der Internetmedien, üben. Interessanterweise verfolgt auch der im Abschn. 3.8.3 besprochene didaktischmethodische Kommentar zum Umgang mit Gefahrstoffen im Chemieunterricht der Schulen eine solches Konzept, ohne es allerdings direkt anzusprechen. Mit diesem Konzept wird auch das Ziel verfolgt, den Studierenden eine motivierende Begeisterung für den Wissens- und Erfahrungszuwachs, den sie in den Gefahrstoffkundevorlesungen erhalten, zu vermitteln. Hierzu werden auch Fotos und andere visuelle Darstellungen verwendet, die außer dem semantischen

3.14  Praktische Umsetzung fachdidaktischer Erkenntnisse

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auch den visuellen Teil des Gedächtnisses ansprechen. Diese Punkte sollen dem/ der Lehrenden helfen, die Veranstaltungen bewusst nach diesen Punkten zu strukturieren und aufzubauen, den Studierenden werden sie in den Vorlesungsunterlagen nicht offengelegt. Durch diese Motivationshilfe und durch die „interessanten“ Zusatzinformationen (Transferwissen), die man auch als eine Art Kontextualisierung bezeichnen könnte, soll auch erreicht werden, dass die entscheidenden Inhalte (Basiswissen und Aufbauwissen) nicht nur für die Klausuren gepaukt werden (Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis), sondern durch die Verknüpfung mit diesen zusätzlichen Inhalten, die erhöhte Konzentration in der Vorlesung und das spätere Erzählen im Freundeskreis auch im Langzeitgedächtnis verankert werden. Als solches Transferwissen können auch einzelne Videos dienen, die im Internet verfügbar sind und kurz in die Vorlesung eingebaut werden oder zum Heimstudium, durch Angabe des Links, empfohlen werden. Beispiele gibt es im Abschn. 5.3.5 und in der Ergänzung zum CV (Kramer, 2014). Im Kap. 4 und 5 werden die Gefahrstoffkundevorlesungen I und II so dargestellt, wie sie nach der Berücksichtigung der zuvor diskutierten Punkte inhaltlich und strukturell aufgebaut werden können.

3.14.4 Regeln der Rhetorik Um das Verständnis der Studierenden während der Vorlesungsveranstaltungen zu befördern, muss sehr darauf geachtet werden, dass die Grundregeln der Rhetorik berücksichtigt werden. So werden z. B. am Imperial College in London alle Lecturer in Rhetorikkursen trainiert, bevor sie ihre Vorlesungen halten dürfen (Kramer, 2014). Die in London trainierten Regeln sind die folgenden: 1. Beachtung der Kenntnisse und der Interessen der Zuhörer 2. Tempo der Demonstration der Folien 3. Klarheit und Ordnung des Vortrags 4. Betonung wichtiger Informationen und Ideen 5. Sprache (wissenschaftlich korrekt, verständlich) 6. Sprechweise (Vernehmbarkeit, Haltung, Sprechgeschwindigkeit, Bewegungen, Gesten, Augenkontakt usw.) 7. Nutzung und Qualität visueller Hilfen (Demos, Gegenstände, Slides/Folien usw.) 8. Kontrolle der Nervosität Siehe aber auch die in dieser Schrift erarbeiteten Best-Practice-Regeln. Eine weitere nützliche Informationsquelle mit zahlreichen wertvollen Praxistipps ist das Informationsportal Hochschullehre der Universität Bremen. Unter der Überschrift "Visualisieren und Präsentieren" werden u.a. wichtige Hinweise gegeben, wie Power-Point-Präsentation gestaltet weren sollten. (Uni, 2022)

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

3.14.5 Lernorte außerhalb des Hochschulcampus Der übliche Lernort der Gefahrstoffkundevorlesungen I und II sind Chemiehörsäle der Hochschulen. Als zusätzlicher, praxisorientierter Lernort sollte ein weiterer, externer Lernort angeboten werden, am besten bei einem Chemie- und Pharmaunternehmen oder einer Fachbehörde, um Toxikologie und Rechtskunde in einer authentischen Umgebung im wahrsten Sinn des Wortes auch begreifbar zu machen, wodurch auch das Erinnerungsvermögen positiv beeinflusst wird. Die Kollegen*innen dieser Unternehmen und Institutionen berichten über ihre Arbeit und beschreiben z. B. an ihren Arbeitsplätzen ihr jeweiliges Spezialgebiet. Auch das eine oder andere Experiment kann verfolgt werden. Dieses Angebot kann keine Pflichtveranstaltung sein, sollte aber für jeden Jahrgang angeboten werden. Die Studierenden stellen viele Fragen und gewinnen auch eigene Einsichten. In der Regel empfinden die Studierenden derartige Veranstaltungen als eine sehr wertvolle und anschauliche Ergänzung zu den Inhalten der Vorlesung. Schlussfolgerung: Ein Tag Aufbauwissen und Transferwissen!

3.14.6 Prüfungs- bzw. Klausurvorbereitung – Hinweise für Studierende Eine Vorlesungsfolie ist nur eine sehr kurzgefasste Version dessen, was in der Vorlesung besprochen bzw. erklärt wurde. Um ein gutes Verständnis des Inhalts der Folien zu erreichen, ist es im Allgemeinen erforderlich, noch andere Quellen hinzuziehen, z. B. Lehrbücher, denn es wird in jeder Prüfung/Klausur auch geprüft, ob der Inhalt auch verstanden wurde. Im Studium geht es in allen Fächern, auch in den Nebenfächern, um den Erwerb einer Kompetenz. Kompetenz entsteht aber nur durch Verständnis. Im Fach Gefahrstoffkunde erwerben die Studierenden neben der Fachkompetenz auch den sog. Sachkundenachweis (mit bestandenen Klausuren und dem Bachelorabschluss), der einen amtlichen Kompetenznachweis darstellt und zur Ausübung bestimmter Tätigkeiten berechtigt. Das Verständnis aller fachlichen Inhalte nur auf Basis von Vorlesungsfolien zu erwerben ist schwieriger, als in Vorlesungen und Seminaren den Erklärungen der Dozenten*innen zu folgen und sich dabei Notizen zu machen, die später beim Lernen und Vorbereiten der Prüfungen/Klausuren das Verstehen erleichtern! Auch besteht in den Vorlesungen die Möglichkeit, Verständnisfragen zu stellen. Erfahrungsgemäß wurden an vielen Schulen die Absolventen nicht für eine Optimierung ihrer Lerntechnik unterrichtet. Die jungen Bachelorstudierenden sollten deshalb nicht vergessen, sich um die Optimierung ihrer individuellen Lerntechnik zu bemühen, denn das Lernen großer Mengen eines neuen Lernstoffs in relativ kurzer Zeit (deutlicher Unterschied zur Schule) besteht aus mehreren Schritten und muss individuell angepasst werden. Grundsätzlich besteht das Lernen im Studium im Minimum aus drei Schritten:

3.14  Praktische Umsetzung fachdidaktischer Erkenntnisse

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1. Durchlesen der Unterlagen (z. B. Vorlesungsfolien, Mitschrieb) zur Grundorientierung, damit man weiß, um was es geht 2. Im zweiten Schritt muss erreicht werden, den gesamten Lernstoff inhaltlich zu verstehen. In diesem Schritt kann das gemeinsame Erarbeiten des Lernstoffes in einer Lerngruppe hilfreich sein. 3. Als dritter Schritt erfolgt das Auswendiglernen der Teile, die man im zweiten Schritt als wichtig und voraussichtlich prüfungsrelevant herausgefunden hat. Die Schritte 2 und 3 sind deshalb wichtig, weil ihr Ziel ist, sich ein gedankliches Grundgerüst mit Quervernetzung der Inhalte zu erarbeiten. Dieses Grundgerüst unterstützt nicht nur das Verständnis, sondern auch das Gedächtnis, denn an ihm kann man auch die weniger wichtigen Dinge „aufhängen“. Im Prinzip heißt das, dass jeder Lernstoff mindestens dreimal auf jeweils etwas unterschiedliche Weise durchgearbeitet werden muss. Bei weniger Aufwand oder bei suboptimaler Lerntechnik ist jede Prüfung/ Klausur Glückssache!

3.15 Ziele der Gefahrstoffvorlesungen I (Toxikologie) und II (Rechtskunde) Formelles Qualifikationsziel: Sachkundenachweis nach §11 Chemikalien-Verbotsverordnung („Giftschein“) Die Gefahrstoffkundevorlesungen sollen den Studierenden eine Einführung in die Möglichkeiten und Verfahren bieten, die für die Ermittlung und Bewertung von Gefährdungen durch gefährliche chemische Stoffe zur Verfügung stehen. Damit verbunden sind die daraus abgeleiteten Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und zum Risikomanagement, inkl. Arbeits- und Bevölkerungsschutzmaßnahmen und der gesetzlichen Regelungen zum Inverkehrbringen und Umgang mit diesen sog. Gefahrstoffen. Erarbeitet werden auch die gefahrstoffrechtlichen Grundlagen insbesondere der Gefahrstoffverordnung und der Chemikalien-Verbotsverordnung, einschließlich relevanter Verbote und Beschränkungen. Es sollen auch Verantwortungs- und Problembewusstsein durch den Kompetenztransfer in den Alltag des Chemikers und der Chemikerin für das eigene Handeln entwickelt werden. Die Kompetenzorientierung der Wissensvermittlung steht deshalb im Fokus dieses Buches.

3.15.1 Kompetenzorientierte Wissensvermittlung • Wissen Warum ist Gefahrstoffkunde wichtiger Teil des Chemiestudiums? Bedeutung von Gefahr/Gefahrenabwehr, Risiko, Grundlagen der Toxikologie, Toxikodynamik, Toxikokinetik (Resorption, Distribution, Metabolismus, Elimination, …)

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3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

• Können Fähigkeit, Schadwirkungen chemischer Stoffe auf lebende Organismen und Ökosysteme zu beurteilen • Wollen Verantwortungs- und Problembewusstsein müssen entwickelt werden • Machen Handeln in Studium und Beruf, kompetentes Arbeiten und Führen Die Studierenden sollen die Fähigkeit erwerben, Informationen zu Schadwirkungen chemischer Stoffe auf lebende Organismen und das Ökosystem auf der Basis objektiver, wissenschaftlicher Kriterien, d. h. einer naturwissenschaftlichmedizinischen Vorgehensweise, zu beurteilen. Die Studierenden sollen aber auch die Fähigkeit erwerben, neben dieser Gefährdungsbeurteilung die regulatorischen, d. h. gesetzlichen Notwendigkeiten zu erkennen, die sich aus der jeweilig ermittelten gesundheitlichen oder physikalisch-chemischen Gefährdung ergeben. 

Universitäre Gefahrstoffkundevorlesungen unterteilen sich in zwei Teile 

1. Gefahrstoffkundevorlesung I (Toxikologie) 2. Gefahrstoffkundevorlesung II (Rechtskunde) Dieses Buch möchte darlegen, welche Erkenntnisse unterschiedliche Wissenschaften zu einer verbesserten Lehre der Gefahrstoffkunde beitragen können und welche Konsequenzen dies für die Gefahrstoffkundevorlesungen I (Toxikologie) und II (Rechtskunde) haben sollte, immer vor dem Hintergrund, dass Chemie- und Biochemiestudierende nicht zu hauptberuflichen Gefahrstoffexperten ausgebildet werden. Die Studierenden sollen aber ein fundiertes Basiswissen der Gefahrstoffkunde (Toxikologie und Gefahrstoffrecht) erwerben können, das sie dazu befähigt, den sicheren Umgang mit Chemikalien (Gefahrstoffen) zu gewährleisten, Gefahren besser beurteilen zu können und Verantwortung für sich, ihre Mitstudierenden im Praktikumslabor, aber auch für ihre Mitarbeiter und Kollegen bei der späteren Berufsausübung zu tragen. Ein weiteres Ziel der Vorlesungsveranstaltungen der Gefahrstoffkunde muss sein, den Studierenden zu vermitteln, dass alle Entscheidungen, die bei einer Gefährdungs- oder Risikobeurteilung getroffen werden, nicht mit Glauben oder Annahme zu tun haben dürfen, sondern immer evidenzbasiert sein müssen, denn die Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen sind ausgesprochen weitreichend. Nur mit qualitativ hochwertigen Daten lassen sich sinnvolle Entscheidungen treffen.

3.15  Ziele der Gefahrstoffvorlesungen I (Toxikologie) …

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 Übersicht  Als absoluter wissenschaftlicher Grundsatz gilt auch in der Gefahrstoffkunde: „In God we trust, all others must bring data“ (William Edwards Deming, 1900–1993).

Den Studierenden muss aber nicht nur vermittelt werden, wie sie in ihrem eigentlichen Berufsfeld mit Gefahrstoffen sicher und regelkonform umgehen können, sie müssen auch auf ihre Verantwortlichkeiten bezüglich der übrigen Mitmenschen und der Umwelt hingewiesen werden. Regeln zur Gefahrenvermeidung und Gefahrenabwehr bewirken stets auch eine Einschränkung der menschlichen Freiheiten. Das bedeutet, dass bei der kompetenzfördernden Wissensvermittlung auf dem Gebiet der Gefahrstoffkunde den Studierenden die Sinnhaftigkeit bzw. Verhältnismäßigkeit unterschiedlicher Maßnahmen und Vorschriften immer verständlich erklärt werden müssen. Zusätzlich zum Fachwissen muss auch vermittelt werden, in welchem Zusammenhang die individuell gemachten Erfahrungen und das eigene Verhalten stehen.

3.15.2 Qualifikationsziele und Kompetenzen Das formelle Qualifikationsziel ist der sog. Sachkundenachweis nach §11 der Chemikalien-Verbotsverordnung, der nach erfolgreicher Teilnahme (bestandene Klausuren) an den Gefahrstoffkundevorlesungen I und II erreicht wird. Die kompetenzorientierte Wissensvermittlung geht darüber hinaus, wobei die fachgebundene Kompetenz kurz als Wissen, Können und Wollen beschrieben werden kann, aus dem sich dann das fachkundige Machen ergibt.

Wissen In der Gefahrstoffkunde I (Toxikologie) (Kap. 4) wird Grundwissen zu den folgenden Themen vermittelt: Gefahr/Gefahrenabwehr, Risiko, Toxikologie, spezielle Toxikologie und Toxikodynamik. Zusätzlich werden auch toxikologische Prüfverfahren, die in der Regulatorischen Toxikologie zur Anwendung kommen, so beschrieben, dass die Aussagekraft der Ergebnisse verstanden wird. Zur Auflockerung und um den Lernstoff besser begreifbar zu gestalten, werden zu all diesen Punkten auch ausgewählte Stoffbeispiele besprochen. Können Die Studierenden werden nach dem Besuch der Vorlesungen verstehen, warum die Gefahrstoffkunde einen wichtigen Teil ihres Studiums darstellt. Sie erwerben die Fähigkeit, die Schadwirkungen chemischer Stoffe auf Menschen und das Ökosystem auf der Basis objektiver Kriterien, d.  h. naturwissenschaftlichmedizinischer Grundlagen, zu beurteilen.

3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

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Gefahrstoffkunde – Fachgebundene Kompetenz  Wissen

• Warum ist Gefahrstoffkunde wichtiger Teil des Chemiestudiums? • Bedeutung von Gefahr/Gefährdung, Gefahrenabwehr/Gefahrenvermeidung • Bedeutung von Risiko (Risikoabschätzung, Risikobewertung, Risikomanagement) • Grundlagen der Toxikologie, Toxikodynamik, Toxikokinetik (Resorption, Distribution, Metabolismus, Elimination) Können

• Fähigkeit, Schadwirkungen chemischer Stoffe auf Lebewesen und Ökosysteme zu beurteilen Wollen

• Verantwortungs- und Problembewusstsein Machen

• Handeln in Studium und Beruf, kompetentes Arbeiten und Führen

Wollen Die Studierenden werden ein Verantwortungs- und Problembewusstsein entwickeln, das ihnen im weiteren Studium und im späteren „Alltag der Chemiker*innen“ für das eigene Handeln von großem Nutzen sein wird. Machen Die Studierenden werden verstehen, dass das kreative Lösen von Problemen, das Erkennen und Anwenden innovativer Techniken und Prozessen, das Anleiten von Lernenden und das Anleiten von Mitarbeiter*innen sowie die kompetente Koordination der eigenen Arbeiten mit anderen Einheiten innerhalb und außerhalb der Institution oder des Unternehmens, neben dem eigentlichen Fachwissen, wichtige Aufgaben sind, die erledigt werden müssen. 

Wissen, Verstehen (Anwenden), Wollen und Machen (Tun)  „Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun.“ Wilhelm Meisters Wanderjahre – J. W. von Goethe (1749–1832)

3.16 GFK-Vorlesungsveranstaltungen 3.16.1 Umsetzung in der Vorlesungspraxis In den Kap. 4 und 5 werden die Themengebiete für die Vorlesungsveranstaltungen so dargestellt, dass daraus mühelos Folien für Gefahrstoffvorlesungen erstellt werden können. Die Inhalte werden, wo nicht selbsterklärend, näher erläutert und

3.15  Ziele der Gefahrstoffvorlesungen I (Toxikologie) …

109

durch die fettgedruckten Einfügungen „Aufbauwissen“ und „Transferwissen“ werden auch Hinweise auf die beabsichtigten didaktischen Ziele gegeben (vgl. Abschn. 3.14). Basiswissen wird in diesem Buch nicht extra gekennzeichnet. Form und Inhalt bieten den Lehrenden eine praktische Hilfe beim Aufbau und bei der Weiterentwicklung von Gefahrstoffvorlesungen. Wie die Zusammensetzung und Reihenfolge der einzelnen Vorlesungsveranstaltungen erfolgt, hängt von den örtlichen Begebenheiten und der zur Verfügung stehenden Zeit für Vorlesungs- und Seminarveranstaltungen ab. Wichtige Praxistipps sind auch im Abschn. 3.11.2 zusammengefasst. Den Studierenden soll diese komprimierte Form helfen, sich auf leicht verdauliche Weise das notwendige Wissen und die erforderliche Kompetenz auf dem Gebiet der Gefahrstoffkunde zu erarbeiten. Die Vorlesungsfolien der Dozenten*innen werden besser verstanden, die Suche nach Erklärungen und Hintergründen in diversen dicken Büchern und Publikationen kann eingespart werden. Die Reihenfolge der Themenbereiche gibt einen Hinweis darauf, wie die Themengebiete im Verlauf des Semesters auf die Vorlesungstermine aufgeteilt werden können. An diese Reihenfolge müssen sich die Lehrenden selbstverständlich nicht halten, sie hat sich aber bewährt. Inhaltliche Hauptquelle für den toxikologischen Teil: Lehrbuch „Toxikologie“ (Arand et al., 2019).

3.16.2 Abbildungen (visuelle Unterstützung) Während der Vorlesungsveranstaltungen steht den Studierenden nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung, den Inhalt einzelner Vorlesungsfolien zu erfassen. Sehr nützlich sind deshalb geeignete Abbildungen, die als visuelle Unterstützung dienen und sich motivierend und gedächtnisverstärkend auf die Studierenden auswirken, insbesondere wenn die Abbildungen emotional ansprechen. 

„Bilder sagen mehr als 1000 Worte“ 

• Bilder verarbeitet das Gehirn schneller als Wörter • Zeit für Erklärungen lässt sich durch Bilder verkürzen • Bilder, die emotionale Informationen transportieren, sind besonders wirksam • Bilder lockern auf • Bilder können überzeugen • Bilder sind im wahrsten Sinn des Wortes anschaulich Nicht alle Abbildungen, die die Lerninhalte in den Vorlesungsveranstaltungen visuell unterstützen können, sind in diesem Buch enthalten, das hat vor allem bildrechtliche Gründe, da für ein Buch deutlich andere Regelungen gelten als für die Vorlesungsunterlagen an Hochschulen. In diesem Buch sind deshalb vor allem

110

3  Vermittlung von Wissen und Kompetenz

eigene Darstellungen enthalten sowie Abbildungen, für die eine Nutzungsvereinbarung erzielt werden konnte. Zusätzlich sind Abbildungen enthalten, für die kein Urheberrechtsschutz beansprucht wird (Public Domain, gemeinfrei). Für weitere nützliche Abbildungen werden vereinzelt Hinweise gegeben, wo sie leicht zu finden sind.

3.16.3 Vorschlag für die Kursbeschreibung in der Vorlesungsankündigung (Vorlesungsverzeichnis) In den Vorlesungsverzeichnissen der Hochschulen werden alle Lehrveranstaltungen angekündigt und so beschrieben, dass die Studierenden sich ein realistisches Bild über Inhalt und Ziel der Veranstaltungen machen können. Aus diesem Grund wird hier auch ein Vorschlag für eine mögliche Kursbeschreibung für ein Vorlesungsverzeichnis eingefügt.

Qualifikationsziele und Kompetenzen Das formelle Qualifikationsziel ist der sog. Sachkundenachweis nach §11 der Chemikalien-Verbotsverordnung, der nach erfolgreicher Teilnahme (bestandene Klausuren) an den Gefahrstoffkundevorlesungen I und II erreicht wird. Die kompetenzorientierte Wissensvermittlung geht darüber hinaus, wobei die fachgebundene Kompetenz kurz als Wissen, Können, Wollen und Machen beschrieben werden kann (Details und Beschreibung, was damit gemeint ist, siehe 3.15.2 „Qualifikationsziele und Kompetenzen“). Inhaltliches Konzept der Gefahrstoffkundevorlesung II (Rechtskunde) Inhaltlich richtet sich das Konzept der Rechtskundevorlesung auch an den Vorstellungen der GDCH-Studienkommission aus. Wichtige rechtliche Aspekte im Hinblick auf die beruflichen Anforderungen an Chemiker*innen in der Arbeitswelt werden so vermittelt, dass die Teilnehmer*innen einerseits einen groben Überblick über geltende Vorschriften des deutschen und europäischen Chemikalienrechts gewinnen, andererseits in die Lage versetzt werden, sich bei „Bedarf“ gezielt in entsprechende Vorschriftentexte einzuarbeiten. Wichtigste geltende deutsche und europarechtliche Vorschriften des Chemikalien- und (arbeitsschutzorientierten) Gefahrstoffrechtes werden vorgestellt und es wird vermittelt, wie sie miteinander verzahnt sind. An diesen Beispielen werden nicht nur Vorschrifteninhalte, sondern auch der Aufbau von Rechtsvorschriften und Grundzüge ihrer Methodik vermittelt. Im Fokus stehen REACH und die CLP-VO, das ChemG, die GefStoffV und die ChemVerbotsV. Weitere themenangrenzende Rechtsvorschriften (zu Bioziden, Biostoffen, gefährlichen Abfällen, Gefahrgütern usw.) werden in Grundzügen behandelt. Außerdem wird vermittelt, wie Vorschriften des staatlichen und berufsgenossenschaftlichen Rechts durchgesetzt werden (Sanktionen bei Verstößen).

3.16 GFK-Vorlesungsveranstaltungen

111

Die Inhalte der Veranstaltung umfassen somit den „Vorschriftenteil“ der Bekanntmachung von Hinweisen und Empfehlungen zum Sachkundenachweis gemäß §11 der Chemikalien-Verbotsverordnung des BMU. Zusammen mit der Veranstaltung „GFK I Toxikologie“ kann die „GFK II Rechtskunde“ die Grundlage für den Erwerb der eingeschränkten Sachkunde für das Inverkehrbringen von gefährlichen Stoffen und Gemischen gemäß §11 ChemVerbotsV bilden (GDCH, 2021).

Teil IV

Mustervorlesungen

4

Mustervorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

4.1 Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I) (Bender, 2011), (Stöffler, 2020), (Krug, Oberdörster, & Muhle, 2019)

4.1.1 Ziele der Gefahrstoffvorlesungen I und II 1. formelles Qualifikationsziel: Sachkundenachweis nach §11 ChemikalienVerbotsverordnung („Giftschein“) 2. kompetenzorientierte Wissensvermittlung – Wissen Warum ist Gefahrstoffkunde ein wichtiger Teil des Chemiestudiums? Bedeutung von Gefahr/Gefahrenabwehr, Risiko, Grundlagen der Toxikologie, Toxikodynamik, Toxikokinetik (Resorption, Distribution, Metabolismus, Elimination …) – Können Fähigkeit, Schadwirkungen chemischer Stoffe auf lebende Systeme und Ökosystem zu beurteilen – Wollen Verantwortungs- und Problembewusstsein müssen entwickelt werden – Machen Handeln in Studium und Beruf, kompetentes Arbeiten und Führen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P.-J. Kramer, Toxikologie und Rechtskunde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66661-6_4

115

116

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

4.1.2 Vorbemerkung In dieser Einführungsveranstaltung soll den Studierenden ein grundsätzliches Verständnis dafür vermittelt werden, was unter den Begriffen Gefahr, Schadstoff, Gefahrstoff und Toxikologie verstanden wird. Gleichzeitig soll auch Interesse für die gesamte Gefahrstoffkundevorlesung geweckt werden, damit möglichst viele Studierende dieses Angebot aktiv nutzen, statt sich lediglich auf die Erreichung eines „Scheins“ zu konzentrieren oder Credit Points zu sammeln. Die wesentlichen Grundlagen für die toxische Wirkung von Stoffen auf den menschlichen Körper werden so vermittelt, dass die Studierenden diese einschätzen können. Sie lernen, angemessen mit daraus resultierenden Gefährdungen und Risiken umzugehen. Im Bedarfsfall (z. B. Unfall im Labor) sollten sie in der Lage sein, sich ein realistisches Bild von der Situation zu machen, um korrekte Entscheidungen treffen zu können oder gegebenenfalls rechtzeitig einen passenden Toxikologieexperten zu Rate zu ziehen (GDCH, 2021). Auch auf die Verantwortung, die auf die erfolgreichen Absolventen*innen des Chemie- bzw. Biochemiestudiums als künftige Führungskräfte zukommt, wird in dieser Einführung und in den folgenden Vorlesungsveranstaltungen wiederholt hingewiesen und an Beispielen verdeutlicht.

4.1.3 Gefahr – Gefährdung – Gefahrstoff Wortfamilie „Gefahr“ Substantive mit dem Wortstamm „gefahr“ Gefahr, Gefährdung, Gefährder, Gefahrenquelle, Gefahrensignal, Gefahrenlage, Gefahrenklasse, Gefahrenabwehr, Ansteckungsgefahr, Einsturzgefahr, Erstickungsgefahr, Vergiftungsgefahr, Abstiegsgefahr, Absturzgefahr, AIDSGefahr, Anschlagsgefahr, Ansteckungsgefahr, Aquaplaninggefahr, Blitzgefahr, Brandgefahr, Bruchgefahr, Eigengefahr, Einsturzgefahr, Erkältungsgefahr, Erstickungsgefahr, Erdbebengefahr, Explosionsgefahr, Feuergefahr, Fluchtgefahr, Frostgefahr, Gesundheitsgefahr, Gewittergefahr, Glatteisgefahr, Glättegefahr, Hauptgefahr, Hochwassergefahr, Infektionsgefahr, Inflationsgefahr, Insolvenzgefahr, Krebsgefahr, Kriegsgefahr, Lawinengefahr, Lebensgefahr, Regenbogengefahr, Rückfallgefahr, Rückschlaggefahr, Rutschgefahr, Selbstmordgefahr, Seuchengefahr, Sicherheitsgefahr, Staugefahr, Steinschlaggefahr, Sturzgefahr, Suchtgefahr, Suizidgefahr, Tiergefahr, Terrorgefahr, Terrorismusgefahr, Todesgefahr, Torgefahr, Überflutungsgefahr, Überhitzungsgefahr, Überschwemmungsgefahr, Übertragungsgefahr, Unfallgefahr, Verdunkelungsgefahr (Verdunklungsgefahr), Vereisungsgefahr, Vergiftungsgefahr, Verkehrsgefahr, Verletzungsgefahr, Verwechslungsgefahr, Virengefahr, Waldbrandgefahr, Wiederholungsgefahr, …

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

117

Gefahr und Sprache Warum sind Worte, die den Wortstamm „gefahr“ enthalten, so enorm häufig und wichtig im menschlichen Leben? • weil ständig Gefahren drohen („Gefahr für Leib und Leben“)! • Erst wenn ein Mensch tot ist, drohen ihm keine Gefahren mehr! Jedes Leben ist ständigen Gefahren ausgesetzt → Leben ist gefährlich • zentrales Thema für jedes Lebewesen → Gefahrenabwehr • Biologie und menschlichen Gesellschaften → zahllose Gefahrenabwehrstrategien • trotz ständiger Gefahren → Überleben • Gefahr durch chemische Stoffe • Schäden Mensch → Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Belastbarkeit • Schäden Umwelt → Gewässer, Luft, Böden, Organismen, … • nationale und internationale Abwehrkonzepte und Verfahren • → Gefahren werden kontrollierbar und auf akzeptiertes Maß reduziert

Sauerstoffparadoxon – Beispiel für ständige Lebensgefahr (Biologie) • ohne Sauerstoff → nur wenige Minuten überleben – Jede einzelne Zelle benötigt ständig Sauerstoff. • mit Sauerstoff → hochwirksames Zellgift – ständige Gefährdung durch reaktive Sauerstoffspezies (ROS) – ursächliche Gefährdung durch ROS in Zellen selbst hergestellt – wenn zelleigene Gefahrenabwehr versagt – wenn Redoxgleichgewicht in Zelle gestört ist – Schädigung der Zelle bis hin zum Zelltod – oxidativer Stress – Pathogenese schwerer Erkrankungen Anmerkung: siehe auch Erklärung im Abschn. 2.1

Gefahrenwahrnehmung (Menschen) bzw. Gefahreneinschätzung • was Menschen bzgl. Gefährlichkeit einer Aktivität oder einer Situation denken • Denken wird durch vorhandenes Wissen und gemachte positive oder negative Erfahrungen bestimmt. • Gefahrenwahrnehmung und Gefahreneinschätzung werden durch Lernprozesse bestimmt. • Wahrnehmung von Gefahrenlagen – mit klassischen fünf Sinnen Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen – Schwierigkeiten, wenn Anzeichen/Signale von Gefahrenlagen mit fünf Sinnen nicht wahrgenommen werden können

118

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Meinungsbildung – Wissenschaft/Experten • Messungen, Daten, unabhängige, sachlich kritische Diskussionen sind entscheidend • Kognition: appelliert an langsames Denken, rational, anstrengend, evtl. unangenehm

Meinungsbildung – Gesellschaft/Laien • Kognition: schnelles Denken bevorzugt, weniger anstrengend, intuitiv, gefühlsgesteuert, automatisch, angenehm, bestätigt/bestärkt bereits vorhandene Meinungen • statt an Fakten orientiert man sich an Umfeld, an bestehenden moralischen und religiösen Überzeugungen → unterschiedliche Wahrnehmung • Mehrheit wird von komplexen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht erreicht • Hypothese: das bessere Argument setzt sich durch → leider naiv, idealistisch, falsch • Aussagen, die man schon kennt, und häufig gehörte Argumente sind glaubhafter • Menschen bilden Urteile und Ansichten nicht auf Basis gesicherter Fakten, sondern auf Basis von Geschichten • Menschen halten sich aber immer für objektiv und unbeeinflusst

Aufbauwissen

Wissenschaftskommunikation – Wissende vermitteln Wissen an Unwissende Informationsdefizitmodell/Sender-Empfänger-Prinzip • setzt voraus: Bereitschaft zu lernen und Vertrauen in Vortragende • Ok in Studium, Weiterbildung, Wissenschaft Kommunikation mit Öffentlichkeit • Informationsdefizitmodell nicht ok (statt Lernbereitschaft → Bestätigungs­ bedürfnis) • TV, Radio, Presse → Bevormundung • Talkshow: Nebeneinander von Meinungen, keine Zusammenführung • soziale Netzwerke im Internet – jeder ist Sender und Empfänger • kein Gefühl von Bevormundung • Fakes werden deutlich häufiger geteilt als Facts (gesicherte Informationen) • Häufigkeit erzeugt Glaubwürdigkeit • Vielzahl von Bestätigungen auch unsinniger Argumente (s. o. Bestätigungs­ bedürfnis) • „Expertenbashing“ (Populisten, Wissenschaftsfeindlichkeit, Verschwörungstheorien, …)

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

119

Transferwissen

Beispiel für Schwierigkeiten Gefahreneinschätzung

mit

Gefahrenwahrnehmung

bzw.

• Frühjahr 2020: Virus SARS-CoV-2 – Bevölkerung immunnaiv • Menschen konnten Virus nicht unmittelbar wahrnehmen (fünf Sinne ungeeignet) • Inzidenz von 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner nicht sichtbar • Probleme für Gesundheitsämter, aber keine Kranken und keine Särge in Umgebung • Erfahrung: keine wahrnehmbare gesundheitliche Gefahr • Stattdessen Wahrnehmung: freiheitliche Grundrechte in Gefahr! • Reale Gefahrenlage erkannten – Ärzte*innen und Pfleger*innen in Kliniken durch tägliche Erfahrung – Virologen aufgrund ihrer Ausbildung • Für Schadstoffe (Gifte) gilt dasselbe Grundproblem (fünf Sinne ungeeignet) • Kompetenzfördernde Ausbildung notwendig, um Gefahr zuerkennen

Gefahr durch chemische Stoffe • Schadstoffe (Gifte) • Schäden Mensch: Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Belastbarkeit • Schäden Umwelt: global threat, z. B. Biodiversitätsverlust, Trinkwasser vergiftet • Gefahrenabwehrkonzepte und Verfahren (national und international) – Gefahren kontrollierbar machen – Gefahren auf akzeptiertes Maß reduzieren – trotz Umgang mit Gefahrstoffen gesund überleben

Nationale und internationale Gefahrenabwehrkonzepte und -verfahren • Handhabung und Regulierung von Schadstoffen in Rechtsstaaten • klare, rechtlich abgesicherte Regeln • hierzu dienen – Richtlinien – Verordnungen – Gesetze

120

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Warum sind klare Regeln, Verordnungen und Gesetze hilfreich? Im akuten Schadensfall, bei dem eine drohende Gefahr zur Realität wird, entsteht • hoher Entscheidungs- und Zeitdruck – zuvor erlernte und eingeübte Abwehrmaßnahmen mindern den Druck – verbindliche Regeln, Verordnungen und Gesetze zeigen, was zu tun ist • im Chaos des Ernstfalls wissen Beteiligte, was zu tun ist, und können Schäden minimieren

Rechtfertigungsdruck im Schadensfall Ohne klare Regeln, die eingeübt, akzeptiert und eingehalten werden, entsteht immer • hoher Rechtfertigungsdruck bzgl. der getroffenen Maßnahmen – möglicherweise dramatische Folgen für Verantwortliche – stets werden folgende Fragen gestellt Wurden richtige Entscheidungen getroffen? Wurden die richtigen Maßnahmen eingeleitet? Wurden Fehler gemacht, wer war für die Fehler verantwortlich? • Klare Vorschriften und Regeln vermeiden Rechtfertigungsdruck! • Wer nach gesetzlichen Vorschriften und Regeln handelt, muss sich nicht rechtfertigen! Menschliches Versagen – human factor 

 • • • • •

Wenn Regeln im Chemielabor nicht eingehalten werden. Wenn die Einhaltung der Regeln nicht kontrolliert wird. Wenn nichts passiert (kein Schadensfall). Wenn auf Nichteinhaltung keine Strafe folgt. Was sind die Konsequenzen? – Regeln werden für überflüssig gehalten, Gefahr wird angezweifelt. – Regeln werden immer öfter nicht eingehalten. – Persönliche Freiheit wird höher bewertet als persönliche Schutzausrüstung. – Regelverstoß gilt als mutig und intelligent, wird auch nachgeahmt. – Normalität → Gehirn signalisiert: Aufmerksamkeit nicht mehr nötig – Wenn’s dann kracht: „Menschliches Versagen“!

Chemischer Stoff vs. Schadstoff Wie wird aus einem chemischen Stoff ein Schadstoff? • durch toxikologische Bewertung • durch Beobachtung bei Schadensereignissen (Epidemiologie)

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

121

Daten zeigen, dass durch Stoff • Schädigung menschlicher Organismus und/oder • Schädigung Umwelt angenommen werden muss! • Schadstoff

Gefahrstoffkunde (Dangerous Materials Science) Gefahrstoffkunde versucht zu klären, wie chemische Stoffe, die sich in der Regulatorischen Toxikologie oder durch Schadensereignisse als Schadstoffe erwiesen haben, gehandhabt bzw. kontrolliert werden müssen. • Ziel ist, Gefährdungen von Menschen, Tieren und der Umwelt auf ein akzeptiertes Maß zu reduzieren oder zu vermeiden (Risikominimierung)

Schadstoff vs. Gefahrstoff – Wie wird aus einem Schadstoff ein Gefahrstoff? Ein Schadstoff, der, gemäß staatlichen Regeln, als gefährlich eingestuft ist, ist ein Gefahrstoff. • Gefahrstoff → rechtlicher Begriff • Schadstoff → wissenschaftlicher Begriff (im Allg. Fremdstoff)

Voraussetzung, dass ein chemischer Stoff 1. wissenschaftlich als Schadstoff und 2. rechtlich als Gefahrstoff behandelt wird: Toxikologische/ökotoxikologische Bewertung von Daten zeigt oder legt nahe → Schädigung des menschlichen Organismus und/oder der Umwelt Deshalb ist Gefahrstoffkunde eine Kombination aus: • Toxikologie/Ökotoxikologie: toxikologische und ökotoxikologische Bewertung • Rechtskunde: gesetzliche Bewertung und Handhabung Anmerkung: Dies hat zur Folge, dass die Gefahrstoffkunde an den meisten Hochschulen auch in dieser Aufteilung gelehrt wird. Ebenfalls eine Folge dieser Aufteilung ist, dass im ersten Teil der Gefahrstoffkundevorlesung (GFK I, Toxikologie) mehr von Schadstoffen gesprochen wird, während im zweiten Teil (GFK II, Rechtskunde) der Begriff Gefahrstoff vorherrschend Verwendung findet.

122

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

4.1.4 Toxikologie Toxikologie – Toxikologische Kernfragen • Was machen chemische Stoffe/Substanzen mit dem Organismus? • Welche Gesundheitsschäden können resultieren, bei welchen Substanzmengen (Dosis, Exposition) treten sie auf? • Wie können Gesundheitsschäden verhindert werden? Toxikologie – Was ist das? • Toxikologie ist die Lehre von den gesundheitsschädigenden Wirkungen chemischer Stoffe/Substanzen, insbesondere auf den Menschen (Schadstoffe, Gefahrstoffe). – Die Toxikologie versucht, gesundheitsschädigende Wirkungen festzustellen und zu quantifizieren, und bietet somit die Möglichkeit, nicht nur eine Gefährdung durch chemische Stoffe zu definieren, sondern daraus auch eine Risikobewertung zu entwickeln. – Es geht der Toxikologie darum, Schäden zu erkennen, möglichst zu verhüten und eventuell gezielt behandeln zu können. – Die Toxikologie ist die Grundlage für die Chemikaliensicherheit in sehr vielen Arbeitsbereichen und für sehr viele Produkte. Hierzu zählen beispielsweise Industriechemikalien, Arzneimittel, Lebensmittel, Pflanzenschutzmittel sowie Produkte wie Reinigungsmittel, Kleidung, Kinderspielzeug und Kosmetika.

Unterschied Schadstoff vs. Toxin • Was ist ein Schadstoff? Ein Schadstoff ist ein Stoff/eine Substanz, der/die bei einer (relativ) niedrigen Exposition (Dosis) Organismen schädigt. Man kann zwischen endogenen und exogenen Schadstoffen unterscheiden. • Was ist ein Toxin? Ein Toxin ist ein von lebenden Organismen produzierte Schadstoff (biogener Schadstoff, biogenes „Gift“) Anmerkung: Das Wissen um Grundlagen wie den Unterschied zwischen Toxizität, Gefährdung und Risiko sind zentral für das Verständnis der Aufgaben der Gefahrstoffkunde und der damit verbundenen gesetzlichen Regulierungen (Gundert-Remy & Kramer, 2019), (Neubert D., 2019). Deshalb muss in der Vorlesung viel Wert auf die folgenden Definitionen gelegt werden, d. h., sie werden im Verlauf der Vorlesungsveranstaltungen wiederholt.

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

123

• Toxizität Vermögen (innewohnende Eigenschaft) von chemischen Stoffen, lebende Organismen zu schädigen. In der Toxikologie sind damit in der Regel exogene Schadstoffe gemeint, die von außen kommend auf den Organismus einwirken (Fremdstoffe). • Gefährdung Innewohnende Eigenschaft einer Substanz, bei einer bestimmten Exposition einen Schaden zu verursachen • Risiko Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmter schädigender Effekt bei definierten Expositionsbedingungen eintritt • Sicherheit Wahrscheinlichkeit, mit der unter definierten Bedingungen kein oder ein akzeptables Risiko zu erwarten ist (reziprok zum Risiko)

Toxikologische Welt Damit die Studierenden eine gewisse Orientierung erhalten, sollte ihnen auch vermittelt werden, wo in Deutschland toxikologisch gearbeitet wird. • Universitätsinstitute für Toxikologie (und Pharmakologie) • Forschungsinstitute, z. B. Fraunhofer (ITEM Hannover), Leibnitz (IfADo Dortmund), Max Planck (MPI Dortmund) • Kommerzielle Auftragsinstitute/Beratungsfirmen (CROs  = Contract Research Organisations) • Toxikologische Abteilungen in Bundes- und Landesbehörden • Laboratorien, Abteilungen und Institute der Industrie

Aufbauwissen

Toxikologie – Interdisziplinäre Wissenschaft Die Toxikologie ist aber nicht nur eine Wissenschaft, die in den unterschiedlichsten Institutionen angewandt wird, sie ist auch eine Wissenschaft, die sehr unterschiedliche Bezugsdisziplinen in ihre Arbeit einbinden muss, um zu eigenen Schlussfolgerungen zu kommen. Sie ist deshalb auch eine ausgesprochen interdisziplinäre und integrative Wissenschaft (Abb. 4.1). Was ist ein Gift? Was ist ein Schadstoff? Aureolus Philippus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, auch als Paracelsus (1493–1541) bekannt, meinte in seiner 3. Kärntner Defension „Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ Das bedeutet: Jeder Stoff kann ein Schadstoff sein, ob ein Stoff kein Schadstoff ist, hängt allein von der Dosis (Exposition) ab. Diese Erkenntnis begleitet die Toxikologie bis heute auf Schritt und Tritt. Damit hat der unter dem Namen Paracelsus bekannte Arzt und Alchemist bereits vor ca. 500 Jahren etwas erkannt, das noch heute, trotz aller modernen Wissenschaften, noch unverändert Gültigkeit besitzt (Abb. 4.2)!

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

124

Transferwissen

Kochsalz Als Beispiel für die Erkenntnis von Paracelsus wird den Studierenden ein Stoff genannt, dem sie täglich begegnen, das Kochsalz (NaCl): „Sie haben in der Mensa heute alle Kochsalz zu sich genommen, denn ohne Kochsalz hätte Ihnen das Essen nicht geschmeckt und außerdem benötigt Ihr Organismus dringend die Natriumionen. Zuviel Kochsalzeinnahme kann aber schädlich sein, ja sogar tödlich enden!“ • Täglich zu viel Kochsalz (chronische Einnahme) verursacht Bluthochdruck, Gefäß- und Herzkreislauf-Erkrankungen und im Darm wird das Mikrobiom negativ beeinflusst, was zu Entzündungen und Autoimmunerkrankungen führen kann. • Einmal zu viel Kochsalz (akute Einnahme), z. B. von 15 g Kochsalz, kann für ein Kleinkind bereits tödlich sein.

PATHOLOGIE

Beschreibung morphologischer Veränderungen

CHEMIE

Synthesche/ natürliche Substanzen

Substanz, Konzentraonen, Metabolite

ANALYTISCHE CHEMIE

PHYSIOLOGIE PHARMAKOLOGIE

RECHTSMEDIZIN

Wirkungslokaon, Mechanismen auf organischer und zellulärer Ebene

Ursache von Vergiungen Entdeckung

TOXIKOLOGIE

Akute Vergiung, Therapie, Giinformaon

Molekulare Mechanismen, Metabolismus, Kinek (ADME)

Chemische Mutagenese

BIOCHEMIE

INNERE MEDIZIN, PÄDIATRIE, ANÄSTHESIE

GENETIK

Abb. 4.1  Toxikologie – Angewandte Wissenschaft mit zahlreichen Bezugsdisziplinen

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

125

Abb. 4.2  Paracelsus. (© Adobestock)

4.1.5 Toxizität Grundvoraussetzung einer toxischen Wirkung Wenn diese Grundlagen verstanden sind, kann der grundsätzliche Mechanismus einer toxischen Wirkung beschrieben werden. Die Grundvoraussetzung einer toxischen Wirkung ist, dass ein Organismus gegenüber einem Schadstoff oder einem Toxin exponiert wird. Exposition • Definition in Toxikologie Ausgesetztsein des Organismus gegenüber Umwelteinflüssen, insbesondere gegenüber schädigenden Wichtige Parameter der Exposition: • Dosis • Dauer und Art und Weg der Aufnahme/Einwirkung • Stoffwechsel/Verteilung Pragmatischer Ansatz zur Bestimmung der Exposition • Messung der Konzentration im Blutplasma/-serum

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

126

Lu , L

MWEL

el, Trinkwasser, Arzneimi el, …

EXPOSITION

Haut, Magen-Darm-Trakt, Atmung, Injekon, … Aufnahme Verteilung zum Ziel hin

Ausscheidung

BIOVERFÜGBARKEIT

Gi ung

Verteilung vom Ziel weg Entgi ung

SCHADSTOFF

Abb. 4.3  Entstehung einer toxischen Wirkung (1). (Eigene Darstellung)

SCHADSTOFF

REAKTIONST YPEN Nichtkovalente Bindung Kovalente Bindung Wasserstorücken Enzymasche Reakon

SCHADSTOFF

ZIELMOLEKÜL REAKTION ERGEBNIS

ZIELMOLEKÜL Protein, F

Fehlfunk on Zerstörung Neubildung

säure, Makromolekül, DNA (Base), …

ZIELEIGENSCHAFTEN Reak vität Zugänglichkeit sche Funk on / Rolle

Abb. 4.4  Entstehung einer toxischen Wirkung (2). (Eigene Darstellung)

Exposition kann über mehrere Wege („Eingangspforten“) geschehen: Haut, Magen-Darm-Trakt, Atmung, Injektion. Danach entscheidet die sog. Bioverfügbarkeit über den weiteren Fortgang. Zu Anfang geht es darum, ob der Stoff in den Organismus aufgenommen wird, um systemisch wirken zu können, oder ob er nur lokal an der Oberfläche verbleibt. In diesem Sinn stellt auch der Magen-DarmTrakt eine äußere Oberfläche dar (Abb. 4.3 und 4.4). Danach entscheidet die Verteilung der Substanz auf verschiedene Kompartimente des Organismus, ob der Schadstoff zum Ziel hin oder vom Ziel weg verteilt wird und ob der Fremdstoffwechsel den Stoff „giftet“ oder ob er ihn „entgiftet“.

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

127

Mögliche Ziele des Schadstoffes sind Makromoleküle wie Proteine, Lipide oder DNA. Die Reaktionstypen, die bei der Verbindung des Schadstoffes mit dem Zielmolekül eine wichtige Rolle spielen, sind die nichtkovalente Bindung, die kovalente Bindung, Wasserstoffbrücken und enzymatische Reaktionen. Das Ergebnis dieser Reaktionen kann sein: die Fehlfunktion oder Zerstörung des Makromoleküls oder auch dessen Neubildung.

Aufbauwissen

Um die letztendliche Schadwirkung eines Schadstoffs beurteilen zu können, muss überlegt werden, welche Eigenschaften ein bekanntes oder theoretisch mögliches Zielmolekül (-organ) hat, welche chemische Reaktivität, welche Zugänglichkeit es hat und ob es eine kritische (lebenswichtige) Funktion oder Rolle im Organismus besitzt oder nicht. Es ist deshalb wichtig, den Studierenden zu vermitteln, dass es zahlreiche sehr unterschiedliche Ziele (targets) auf molekularer Ebene, auf Zellebene oder auf der Ebene der Organe und Gewebe gibt, die zum Teil sehr spezifisch geschädigt bzw. beeinflusst werden können. Speziell für Chemiker*innen und Biochemiker*innen, im Unterschied zu Biologen*innen, ist deshalb wichtig, sich bei ihrer Arbeit, z. B. der Synthese neuer Verbindungen, darüber klar zu werden, wie und mit welchen chemischen Strukturen in Organismen der synthetisierte Stoff chemisch reagieren kann.

Akute und chronische Toxizität – Expositionszeitraum/ Einwirkungsdauer (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1190 f.) Von akuter Toxizität wird dann gesprochen, wenn die Exposition und/oder die Zeit zwischen Schadstoffeinwirkung und toxischer Wirkung 1. Nur eine kurze Zeitspanne betrifft (Sekunden bis wenige Tage). Beispiel: toxisches Lungenödem (schwere Atemnot, Erstickungsangst, Tod) nach Heroinintoxikation oder durch Einatmen von Lösungsmitteln wie Toluol im chemischen Labor 2. Während man von chronischer Toxizität dann spricht, wenn es sich bei der Exposition und/oder der Zeit zwischen Schadstoffeinwirkung und toxischer Wirkung um eine lange Zeitspanne (Wochen bis Jahre) handelt Beispiel: Lungenfibrosen und -krebs durch Einatmen von Asbeststaub auf Baustellen

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

128

Aufbauwissen

Bei den Studierenden soll ein Verständnis dafür entwickelt werden, dass der Dauer der Exposition sowie der Zeit bis zum Auftreten der Wirkung eine entscheidende Bedeutung zukommt. Deshalb wird vermittelt, dass man zumindest berücksichtigen muss, ob die beabsichtigte Verwendung des Stoffes eher zur akuten Toxizität oder eher zur chronischen Toxizität passt. Die genannten Beispiele dienen auch diesem Zweck, werden aber regelmäßig auch durch Stoffe, die aktuell in den Medien diskutiert werden, ergänzt.

Wirkungsweisen von Schadstoffen Die Reaktion des Schadstoffes mit dem Zielmolekül kann in unterschiedlicher Weise erfolgen: direkt reversibel spezifisch lokal



indirekt



unspezifisch



irreversibel



systemisch

• direkt: Schadstoff wirkt direkt • indirekt: Schadstoff wirkt erst nach metabolischer Aktivierung • reversibel: Schaden wird repariert, nur temporär • irreversibel: Schaden irreparabel, bleibt bestehen • spezifisch: bestimmtes Zielmolekül, Zielzelle, Zielorgan wird geschädigt • unspezifisch: allgemein zelltoxische Substanz (z. B. HCL, NaOH) • lokal: Schädigung nur an der Einwirkungsstelle (z. B. Hautreizung) • systemisch: Stoff verteilt sich im Organismus und kann an verschiedenen Stellen wirken

Aufbauwissen

Für die Risikobetrachtung ist von großer Bedeutung, die Frage zu klären, ob eine Schädigung reversibel oder irreversibel ist und ob der Stoff nur lokal an der Einwirkungsstelle schädigt oder ob er resorbiert wird und sich im Organismus verteilt, um auf diese Weise eine systemische Wirkung zu entfalten. Eine Schädigung des Zentralnervensystems (ZNS) oder der Augen ist in der Regel irreversibel. Eine Schädigung der Haut oder der Leber ist häufig reversibel, Letzteres, weil diese Gewebe über eine ausgeprägte Reparaturkapazität und Regenerationsfähigkeit verfügen, während dies für das ZNS und die Augen nicht zutrifft.

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

129

Beispiel Brennspiritus Brennspiritus kann im Auge lokal zu schweren Schäden führen (Schutzbrille). Auch die üblichen Vergällungsmittel Methylethylketon (2-Butanon), Isopropylalkohol (2-Propanol) und Denatoniumbenzoat haben eine gewisse Toxizität, die dann reversibel ist, wenn die Dosis nicht zu hoch ist: • Methylethylketon: Augenreizung, Benommenheit, Schläfrigkeit • Isopropylalkohol: Schwindel, Kopfschmerzen, Bradykardie, Verwirrtheit, Kreislaufkollaps • Denatoniumbenzoat: bitterste bekannte Substanz, verursacht Ataxie (Bewegungskoordination gestört), Benommenheit, Tremor • Methanol: Früher wurde Brennspiritus auch mit Methanol vergällt, das allerdings irreversible neurotoxische Wirkungen inkl. Blindheit verursacht und deshalb durch die genannten Stoffe ersetzt werden musste. • Methanolvergiftungen spielen heute noch eine beträchtliche Rolle, vor allem beim unprofessionellen Schwarzbrennen. Der niedrigere Siedepunkt des Methanols bewirkt, dass es vor allem im sog. Vorlauf enthalten ist, der verworfen werden sollte.

Einfluss von biologischen, chemisch-physikalischen Faktoren und Umweltfaktoren Die toxische Wirkung eines Stoffes hängt nicht nur von seiner intrinsischen Toxizität ab, sondern von seinen allgemeinen chemischen und physikalischen Faktoren, aber von Umweltfaktoren und besonders auch von den Eigenschaften und der Konstitution des Organismus (biologische Faktoren), auf den er einwirkt. • Chemische/physikalische Faktoren – Chemisch-molekulare Eigenschaften – Physikalisch-chemische Stoffeigenschaften (z. B. Lipophilie) – Chemische Stoffeigenschaften – Chemische Reaktivität – Konformation (räumliche Anordnung) (z. B. allosterische Effekte) • Biologische (individuelle) Faktoren – Speziesdifferenzen – Geschlecht und Alter – Hormonelle Effekte – Gesundheitliche Konstitution (Krankheiten) – Genetische Faktoren (z. B. Polymorphismen, Enzymdefekte) – Toxikokinetik (Aufnahme, Verteilung, Stoffwechsel, Ausscheidung) – Fremdstoffstoffwechsel (Phase I und Phase II), Enzyminduktion

130

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

• Umweltfaktoren – Ernährung – Lebensstil – Stress – Klima

4.1.6 Regulatorische Toxikologie (Gundert-Remy & Kramer, 2019)

Aufbauwissen

Entwicklung der Regulatorischen Toxikologie Die Regulatorischen Toxikologie ist ein Arbeitsgebiet, das erst im 20. Jahrhundert begonnen hat, sich zu entwickeln. Zunächst hatte man auch in Deutschland der Entwicklung, Herstellung und Verbreitung von Arzneimitteln und Industriechemikalien freien, weitgehend unkontrollierten Lauf gelassen. Erst diverse Katastrophen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie die Thalidomid-Katastrophe bei Arzneimitteln (1961) und die Chemieunfälle von Oppau (1921; Abb. 5.12), Seveso (1976) und Bhopal (1984) oder der Störfall in Basel (1986) erzeugten das Bewusstsein, dass chemische Stoffe, Produktionsprozesse und die Lagerhaltung auf ihre Sicherheit überprüft werden müssen. In der direkten Folge dieser Katastrophen wurden weltweit und auch in der Bundesrepublik Deutschland Rechtsvorschriften erarbeitet und die großen Chemie- und Pharmakonzerne bauten toxikologische Expertise in ihren Unternehmen auf. Auch an den Universitäten hat sich außer der Grundlagenforschung auch eine angewandte Forschung auf dem Gebiet der Toxikologie entwickelt. Zuvor hatten andere Wissenschaften wie Pharmakologie und Biologie ein wenig Toxikologie sozusagen nebenher betrieben. Die ständige Weiterentwicklung der Rechtsvorschriften und der Prüfverfahren führte zum heutigen Stand der Regulatorischen Toxikologie. Für die Zukunft wird erwartet, dass in vitro- und in silico1-Verfahren die Regulatorische Toxikologie drastisch verändern werden. Auch die Verfahren der künstlichen Intelligenz (KI) werden dabei eine große Rolle spielen, um z. B. riesige, bisher inkonsistente Datenbestände auszuwerten und um toxische Potenziale vorherzusagen. Neben den experimentellen und theoretischen Toxikologen*innen werden auch Toxikologieinformatiker*innen eine wichtige Rolle spielen.

1 in

silico meint virtuelle Verfahren, die in einem Computer ablaufen.

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

131

• Regulatorische Toxikologie unterscheidet sich von anderen Arbeitsgebieten der Toxikologie, wie z. B. – Forensische Toxikologie (Aufklärung von Vergiftungsfällen) – Klinische Toxikologie (Therapie von Vergiftungsfällen) oder – Molekulare/Biochemische Toxikologie (Aufklärung von Mechanismen).

Die Regulatorische Toxikologie • wird weitgehend durch nationale und internationale Gesetze, Verordnungen und Richtlinien reguliert • fokussiert auf die Bewertung von Gefährdungen und Risiken und die hierzu notwendigen Untersuchungen und Verfahren • liefert wesentlichen Beitrag zum Gesundheitsschutz und gesundheitlichen Verbraucherschutz

Regulatorische Toxikologie – Komponenten • Toxikologische Prüfungen – experimentelle Toxikologie (Modelle: in silico (IT), in vitro (MOs oder Zellkultur), in vivo (Tiermodelle) • GLP (Good Laboratory Practice) (Qualitätssicherung/Dokumentation) • Nationale und internationale Prüfrichtlinien (z. B. EU, OECD2, ICH3) • Gesetze (ChemG, AMG4, Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz, u. a.) • Epidemiologie (Meldepflichten, Datenbanken)

Toxikologische Stoffprüfungen – Typen/Endpunkte – Design • Akute Toxizität (Einmaldosis) • Subakute/subchronische Toxizität (Behandlung ein, zwei oder vier Wochen bis drei Monate) • Chronische Toxizität (Behandlung sechs bis 12 Monate, verschiedene Tierspezies) • Kanzerogenität (klassische Behandlungsdauer zwei Jahre, Nager) • Reproduktionstoxizität (Fruchtbarkeit, embryofetale und peripostnatale Toxizität) • Genetische Toxizität (Testbatterie von in vitro- und in vivo-Tests) • Spezielle Toxizität (lokale Verträglichkeit, Phototoxizität, Immunotoxizität)

2 OECD = Organisation

for Economic Co-operation and Development.

3 ICH =

The International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use. 4 AMG = Arzneimittelgesetz.

132

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

• Molekulare Toxizität (Genomics, Proteomics, Metabolomics, …) • Ökotoxizität (z. B. aquatische und terrestrische Prüfverfahren) • in silico-/Computertoxikologie (QSAR5-Systeme, Expertensysteme)

Toxikologische Prüfungen – in vivo – Applikationswege Im Tierversuch stehen die Applikationswege zur Verfügung, über die auch Menschen mit den Stoffen exponiert werden können. In der Regel wird der Applikationsweg verwendet, der der menschlichen Exposition entspricht oder am nächsten kommt. • oral • parenteral (d. h. Umgehung des Verdauungstraktes) – dermal (Haut) – Inhalation (Atemtrakt) – Injektion i.v.: intravenös s.c.: subkutan i.m.: intramuskulär

Toxizitätsprüfung – Klassisches Studiendesign – Wiederholte Verabreichung Für viele Fragestellungen der Regulatorischen Toxikologie ist es notwendig zu erfahren, welche toxischen Wirkungen eine Substanz bei einer wiederholten Exposition entwickelt. Wiederholte Exposition bedeutet die tägliche Verabreichung des Prüfmaterials über wenige Tage bis zu einem Jahr, im Fall von Kanzerogenitätsstudien bis zu zwei Jahre. Ein typischer Studientyp, um die Frage zu klären, welche Wirkungen nach einer wiederholten Verabreichung eintreten können, ist eine Vier-Wochen-Studie an der Ratte (Tab. 4.1). Toxikologische Prüfungen – Aufgaben • Befundermittlung, Befunderklärung, Befundbewertung • Wirkmechanismen (mechanism of action) • Wirkungsweise (mode of action) • Ermittlung von Gefährdung/Risiko (Risikominimierung, Nutzen-Risiko-Analyse) • Pharma- und Chemieforschung: Vorhersage von Schädigungen • Erfüllung gesetzlicher Vorgaben

5 QSAR = quantitative

structure-activity relationship, quantitative Struktur-Wirkungs-Beziehung.

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

133

Tab. 4.1  Studiendesign typische 4-Wochen Studie Ratte. (In Anlehnung an OECD Guideline 407) BAUSTEINE Behandlungsperiode

4 Wochen

Spezies

Wistar rat HsdCpb:WU

Gruppen

4

Dosen Za

Basieren auf Resultaten von Dosisfindungsstudie en / Geschlecht / Gruppen

5M + 5W = 10

Satelliten ere / Kontrolle + Hohe Dosis (TK)

3

Tierzahl gesamt

20M + 20W = 40 (+ 12 TK Tiere)

Mortalität, Verhalten, klinische Symptome

Täglich

KGW, FV, WV

Wöchentlich

Hämatologie, klinisch chemische Analyse, Urinanalyse (Standardparameter)

In Woche 4

Ophthalmologie

Vor Behandlung und nach 4 Wochen

Se

Alle Tiere

on

Organgewichte

Standardorgane

Histopathologie

A

Toxikokine k (TK)

Tag 1 und 28, 1 Stunde, 3 / 6 und 24 Stunden nach Behandlung

en, alle Organe

Ziele der Regulatorischen Toxikologie – Befundbewertung – Toxikologisches Profil Toxikologen*innen in Industrie und Behörden sind vornehmlich im Bereich der Regulatorischen Toxikologie tätig. Deshalb steht als Ziel ihrer Tätigkeit nicht die Publikation ihrer Studien im Vordergrund, sondern die Befundbewertung (Befundermittlung, Befunderklärung) im Rahmen von Prüfberichten und Gutachten. Dabei spielt die Ermittlung und Charakterisierung des „toxikologischen Profils“ eines Stoffes oder eines Stoffgemisches eine entscheidende Rolle. Das „toxikologische Profil“ eines Stoffes beinhaltet die folgenden Informationen • Zielorgane/Zielgewebe des Stoffes • Expositions-(Dosis-)Wirkungs-Verhältnis • Reversibilität (Reparatur) bzw. Irreversibilität von Schäden • Feststellung einer untoxischen Dosis Letzteres ist der sog. NOEL (no observed effect level) (siehe Abb. 4.5) bzw. NOAEL (no observed adverse effect level), die als wichtige Größen in fast jede Berechnung von akzeptablen Dosen/Expositionen, in Gefährdungsbeurteilungen und in die Erstellung von Grenzwerten eingehen. Die grafische Darstellung

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

134 WIRKUN 100

Dosis-Wirkungs-Kurve A: ohne Schwellenwert B: mit Schwellenwert (NOEL)

A B

DOSIS

0

NOEL

no observed effect level

Abb. 4.5  NOEL (no observed effect level). (Eigene Darstellung) AKTION

BETEILIGTE BEREICHE

Ursachenerkennung

Wissenscha , Toxikologie

Gefährdungsabschätzung

Wissenscha , Toxikologie

Risikoabschätzung

Wissenscha , teilweise Toxikologie

Risikobewertung

staatliche / halbstaatliche Fachgremien, Einstufung teilweise Toxikologie

Risikomanagement

Poli k, Ämter, Verordnungen, Gesetze, Grenzwerte

Abb. 4.6  Ziel der Toxikologie, Gesunderhaltung der Menschen, Risikominderung

von NOEL und NOAEL ist vergleichbar, der Unterschied besteht nur in der Bezeichnung der Ordinate, „toxische Wirkung“ für NOAEL statt „Wirkung“ für NOEL. "Wirkung" bedeutet jede Art von Wirkung, auch eine Wirkung, die nicht als Schädigung betrachtet wird, im Fall von Pharmazeutika z.B. auch eine gewünschte pharmakologische Wirkung. Der Befundbewertung toxikologischer Prüfungen und der daraus abgeleiteten Gefährdungsbeurteilung folgen verschiedene Stufen der Risikobetrachtung, die mit Maßnahmen wie z. B. einer Grenzwertsetzung das Ziel verfolgen, das erkannte Risiko zu minimieren oder zu vermeiden. Das Ziel ist die Gesunderhaltung der Menschen (Abb. 4.6).

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

135

Aufbauwissen

Bei der Befundbewertung ist nach Möglichkeit auch der Wirkmechanismus (mechanism of action) zu klären und wenn dies nicht möglich ist, die Wirkungsweise (mode of action). Ohne diese Information kann eine Übertragbarkeit der Effekte vom Modellorganismus auf den menschlichen Organismus nicht zuverlässig erfolgen. Im Mittelpunkt stehen die Ermittlung und die Beurteilung einer möglichen Gefährdung und danach eines möglichen Risikos als eine Grundlage für die Nutzen-Risiko-Analyse. Das Ergebnis der Befundbewertung in einem Prüfbericht der Regulatorischen Toxikologie hat im Unterschied zu wissenschaftlichen Publikationen in Fachjournalen eine unmittelbare Auswirkung, z. B. auf die Zulassung eines Arzneimittels zur Prüfung am Menschen oder auf die Kennzeichnung und Einstufung einer Industriechemikalie. Deshalb sind an der Gesamtbewertung toxikologischer Prüfungen nicht nur die Autoren der toxikologischen Prüfberichte, sondern auch Gutachter, akademische Gremien und Behörden beteiligt.

4.1.7 Qualitätssicherung – Gute Laborpraxis (GLP) (Kramer & von Landenberg, 2003), (Gundert-Remy & Kramer, 2019) Die GLP ist bei der Durchführung von allen Sicherheitsprüfungen chemischer Stoffe im Deutschen Chemikaliengesetz (ChemG) gesetzlich vorgeschrieben (BMU, 2020, S. $19a). Dies schließt alle chemischen Stoffe ein, auch z. B. Arzneimittel. Dabei muss gewährleistet sein, dass während der Prüfung international einheitliche Standards eingehalten wurden, dass aber auch die Bewertung selbst nach Regeln verläuft, die international anerkannt werden. Prüfungen, die nach den Regeln der GLP durchgeführt werden, entsprechen diesen Standards. Die in der OECD erarbeiteten und von ihr publizierten GLP-Grundsätze (OECD, 1999) garantieren, dass sämtliche Rohdaten einer Prüfung sowie die Versuchsplanung und der Bericht mindestens 15 Jahre sicher archiviert werden. Die Rohdaten und die Dokumente müssen gewährleisten, dass mit ihrer Hilfe die Studie lückenlos und in allen Einzelheiten (inkl. z. B. der Chargennummern der verwendeten Reagenzien) von Fachleuten nachvollzogen werden kann.

Aufbauwissen

Die „gute Laborpraxis“ (GLP, Good Laboratory Practice) wird oft als ein Qualitätssicherungssystem gesehen, stellt aber eigentlich ein Programm dar, das sich auf die Ordnungsmäßigkeit der Planung, der Durchführung und der Dokumentation und die Einhaltung der gültigen Richtlinien fokussiert (compliance system). GLP verhindert nicht, dass beispielsweise das falsche Prüfmodell oder unzureichende Dosierungen geprüft wurden, was echte Qualitätsmängel wären. Es ist deshalb streng genommen kein Qualitätssicherungssystem, obwohl es oft als ein solches bezeichnet wird.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

136

 Bitte nie vergessen:

Eine sinnvolle Qualitätssicherung kostet nicht Zeit und Geld, sondern spart Zeit, Geld und Frust! Das gilt auch für Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten in der Chemie und Biochemie!

4.1.8 Toxikologie – Toxikologische Epidemiologie Für Industriechemikalien ist die Epidemiologie neben der Klinischen Toxikologie der einzige Weg, Humandaten für eine Gefährdungsbeurteilung zu gewinnen, denn diese Substanzen dürfen an Menschen nicht experimentell geprüft werden (klinische Studien sind mit Industriechemikalien nicht erlaubt). Es bleiben für eine toxikologische Bewertung nur die Daten der Regulatorischen Toxikologie (in vitro- und in vivo-Modelle) oder die Auswertung klinischer Toxikologiedaten aus Unfällen oder eben die Auswertung epidemiologischer Daten. Die Toxikologische Epidemiologie ist auch deshalb für Chemiker und Chemikerinnen von Bedeutung, weil sich durch Meldepflichten und Datenbanken, zahlreiche Vorschriften ergeben, die beachtet werden müssen. Um den Studierenden die Möglichkeit zu geben, eigene individuelle Risikoabschätzungen mit den Zahlen der Wissenschaft, d. h. in diesem Fall der Epidemiologie, zu vergleichen, dienen die beiden folgenden Tabellen (siehe auch Anmerkung im Anschluss an die Tab. 4.2 und 4.3).

Tab. 4.2  Risiken Epidemiologie USA 2000 URSACHEN / AKTIVITÄTEN

TODESFÄLLE / MIO. PERSONEN/JAHR

Rauchen (1 Päckchen Zigare en/Tag)

4.400

Fallschirmspringen

2.000

Brustkrebs

320

Motorfahrzeuge

220

Unfälle zuhause, Selbstmord, Mord

100

Fußgänger im Verkehr

38

Ve

14

Vi

ungen (unabsichtlich) s

5

Flugzeugabsturz

1

Insekten ch

0,2

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

137

Tab. 4.3  Todesfälle/43.654 Verstorbene/Berlin 1991 URSACHEN / AKTIVITÄTEN

TODESFÄLLE / 43.654 VERSTORBENE

Herzinfarkt (Übergewicht)

3.936

Rauchen (Lungenkrebs)

1.601

Krankheiten der Atmungsorgane

1.515

Alkohol (Leberzirrhose)

1.055

Falsche Ernährung (Magenkrebs)

631

Autofahren (tödliche Unfälle)

404

AIDS

272

Asbest

1

Anmerkung Es wurden in diesen Risikotabellen aus didaktischen Gründen bewusst keine Prozentwerte verwendet, sondern absolute Zahlen. Das Verständnis absoluter Zahlen ist erfahrungsgemäß sehr viel eingängiger als die Vorstellung von Prozentanteilen, die eine Art Bruchrechenaktivität voraussetzt, die Zeit benötigt und vom Zuhören ablenkt. Wenn also, wie in diesem Fall, auch eine spontane emotionale Beeindruckung bei den Empfängern der Botschaft beabsichtigt ist, sind absolute Zahlen den Prozentwerten vorzuziehen. Die Werte der beiden Tabellen wurden 2008 erarbeitet, die ursprünglichen Quellen dieser Werte sind nicht mehr bekannt. Den Studierenden wird gesagt, dass diese Zahlen nicht aktuell sind und diskutiert werden können, dass die Größenordnungen aber sicher korrekt und mit den heutigen Verhältnissen vergleichbar sind.

4.1.9 Gefahrstoffrecht – EU-Regelungen EU-Regelungen • In einem gemeinsamen Markt (Binnenmarkt) müssen sicherheitsrelevante Rechtsvorschriften zu Produkten und zum Transport von Produkten einheitlich sein! • Regulatorische Toxikologie ist auch in der Bundesrepublik Deutschland komplett supranational auf EU-Ebene reguliert! • Das komplette System ist auf EU-Ebene harmonisiert. • Obwohl historisch gewachsene Rechtssysteme der EU-Mitgliedsstaaten nicht identisch sind, müssen – gemeinsame Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Sicherheit chemischer Stoffe in ihrem Vollzug harmonisiert sein. • Deshalb wurden auf EU-Ebene etabliert – Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) – EU-Lebensmittelbehörde (EFSA) – EU-Chemikalienbehörde (ECHA) • Diese sind den nationalen Behörden vorgeschaltet!

138

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Aufbauwissen

Die Regulatorische Toxikologie ist der Bereich der Toxikologie, mit dem sich Chemiker und Chemikerinnen am meisten vertraut machen sollten, denn er hat die größte Auswirkung auf ihre Tätigkeit. Es ist für die Studierenden deshalb auch wichtig, eine gewisse Vorstellung davon zu bekommen, mit welchen experimentellen Ansätzen (Modelle: in silico, in vitro, in vivo) und Endpunkten man das Gefährdungspotenzial eines chemischen Stoffes feststellen kann. Daher müssen im Rahmen der GFKVorlesungsveranstaltungen die wichtigsten Arten der toxikologischen Prüfungen (Experimentelle Toxikologie) kurz dargestellt werden und ein Gefühl dafür entwickelt werden, welche Aussagen zum Gefährdungspotenzial eines chemischen Stoffes sie jeweils erlauben. Dies ist in den betreffenden Kapiteln dieses Buches umgesetzt.

4.1.10 Beispiele biogener, geogener und anthropogener Schadstoffe Biogene Stoffe (Toxine) • Bakteriengifte (Bakterientoxine, Exotoxine) • Pilzgifte (Mykotoxine) • Tier- und Pflanzengifte

Geogene Stoffe • Metalle, Metalloide, Schwermetalle • Mineralische Stäube • Gase (Brände, Gärungsprozesse, Vulkanismus)

Anthropogene Stoffe (künstliche, von Menschen erzeugte Stoffe) • Industriechemikalien • Pharmazeutika (Medikamente) • Agrarchemikalien (Pestizide und Düngemittel) • Baustoffe und Bauhilfsstoffe • Lebensmittelzusätze und -zubereitungsprodukte • Reinigungs- und Desinfektionsmittel • Lifestyle-Stoffe (Rauchen, Drogen, Ernährung, Kosmetik, Tattoos, …) • Rückstände von Verbrennungsprozessen (Gase, Stäube) • Textilien und Textilzusätze (Ausrüster) • Kunststoffe

139

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

Aufbauwissen

Die Einteilung in biogen, geogen und anthropogen bezieht sich auf den Ursprung des Stoffes. Viele dieser Stoffe müssen auch als anthropogen betrachtet werden, denn die Exposition des Menschen entsteht sehr häufig erst durch die menschliche Aktivität und die Verwendung bzw. Produktion dieser Stoffe durch den Menschen, denn Menschen nutzen die Natur und die Geologie in großem Umfang. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen biogenen, geogenen und anthropogenen Stoffen etwas willkürlich und dient lediglich dem menschlichen Drang, Dinge in bestimmten Schubladen unterzubringen. In einer Vorlesung zur Toxikologie ist auch wichtig, den Studierenden neben den theoretischen Grundlagen auch Beispiele für toxische Stoffe aus der Natur (biogene und geogene Stoffe) und aus der menschlichen Produktion (anthropogene Stoffe) zu zeigen und stichprobenartig zu besprechen. Dabei wird das Ziel verfolgt, den Studierenden auch ein realistisches Bezugssystem zu vermitteln, in das sie die chemischen Stoffe einordnen können, denen sie später in der beruflichen Praxis, aber auch schon während der Praktika im Studium begegnen. Diese Stoffe können auch dazu dienen, die Vorlesung unterhaltsamer und attraktiver zu gestalten, d. h., die Dozenten*innen sollten selbst entscheiden, an welcher Stelle und zu welchem Zweck sie in die Vorlesung eingebaut werden. Wichtig für den Arbeitsschutz und damit zum Fragenkatalog des Sachkundenachweises sind von den genannten Stoffen nur Kohlenstoffdioxid, Methan und Formaldehyd und die Erstickungs- und Reizgase, die allerdings an anderer Stelle der Gefahrstoffkundevorlesungen noch im Detail besprochen werden.

Biogene Schadstoffe (Toxine) (Westendorf & Barth, 2019) Stoff

Vorkommen

Wirkung

Aflatoxine

Schimmelpilze

Leberkrebs

Nicotin*

Tabak

Kreislaufversagen

Amanitin (Amatoxine)

Knollenblätterpilz

akutes Leberversagen

Aconitin*

Eisenhut (siehe Abb. 4.7)

Herzstillstand, Atemlähmung

Atropin*

Tollkirsche, Bilsenkraut

Krämpfe

Digitalis*

Fingerhut

Herzschädigung

Botulinustoxin*

Konserven

Atemlähmung

Tetanustoxin*

Erdreich

Krämpfe

*

als Arzneimittel genutzte Toxine

140

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Abb. 4.7  Eisenhut, die giftigste heimische Pflanze. (Quelle: gemeinfrei Gaibi, 2006)

Transferwissen

Was ist die giftigste Pflanze in Deutschland? Was ist das giftigste Meerestier? Seewespe, Chironex fleckeri (benannt nach dem Toxikologen Hugo Flecker) • Würfelquallentoxin • Giftmenge eines Tieres kann 30–100 Menschen töten • mehr Tote als durch Haie (1100 vs. 140 in den letzten 20 Jahren) • bis zu 60 Tentakeln, jede bis zu 3 m lang • Sehorgane, acht mit scharfen Linsen Giftcocktail der Seewespe: Proteine/Peptide (Toxinhauptmasse) • Polypeptid mit 27–49 Aminosäuren (durch zwei bis drei intramolekulare Disulfidbrücken stabilisiert) • wirkt ähnlich wie Indianerpfeilgift Curare, Muskellähmung durch anhaltende Depolarisation der Synapsen • höhermolekulare Peptide (Proteine) – Zytolysine – Struktur noch nicht aufgeklärt • kardiotoxische Effekte durch Hämolyse, massive K-Freisetzung (Hyperkaliämie, Asystolie) (extrem schnell) aus Erythrozyten (RBC) • zytolytische Hautnekrosen (Zerstörung von Hautzellen) Zusätzlich: Histamin, Serotonin (zwei Neurotransmitter) und Prostaglandine (Hormone) • Lähmungen der Skelett- und Herzmuskulatur und der Atmung • Tod innerhalb weniger Minuten

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

141

Darmstädter Echo 10. Oktober 2015 Würfelqualle tötet eine 20-jährige, deutsche Touristin auf thailändischen Ferieninsel. Gegenmaßnahmen bei Reisen z. B. nach Thailand, Australien

einer

• Haushaltsessig (5–10%ig), um Nesselzellen bzw. Nesselschläuche zu inaktivieren • Box Jellyfish Antivenom (20 ml/Amp.) • Produzent: Commonwealth Serum Laboratories Melbourne • Gegenserum aus Blut von immunisierten Schafen vor allem gegenüber kardiotoxischen Effekten wirksam • Intravenöse Gabe von Zinkgluconat • Verlangsamt Freisetzung von Kalium aus Erythrozyten

Vergleich diverser biogener Schadstoffe mit geogenen und anthropogenen Schadstoffen Zur Übersicht und um ein Gefühl für die sehr unterschiedliche Toxizitäten zu entwickeln, wird eine Übersicht akuter Toxizitäten gezeigt (Tab. 4.4). Ziel ist zu zeigen, dass z. B. Kaliumcyanid zwar ein starkes Gift ist, im Vergleich zu TCDD oder Botulinustoxin aber eine sehr bescheidene Toxizität aufweist. Tab. 4.4  Stoffvergleich – Akute Toxizität STOFF

HERKUNFT

TOXIZITÄT MLD g / kg

MOLEKÜL MASSE

Botulinustoxin

Bakterium

0,00003

900.000

Tetanustoxin

Bakterium

0,0001

150.000

Rizin

Pflanze (Ricinus)

0,02

66.000 30.000

Crotoxin

Klapperschlange

0,2

TCDD

Verbrennung

1

Tetrodotoxin

Kugelfisch

10

319

Aflatoxin B1

Schimmelpilz

10

312

Alpha-Conotoxin

Kegelschnecke

10

1710

Am

Knollenblä erpilz

100

919

Pflanze

500

334

n

Strychnin n

320

Eisenhut

1000

645

Arsenik

Synthese

1000

198

Niko n

Pflanze

1000

162

Kaliumcyanid

Synthese / Salz

2000

65

Thallium

Mineral

11.000

204

(MLD (LDL0) = minimal letale (tödliche) Dosis)

142

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Geogene Schadstoffe Als geogene Stoffe sind vor allem Blei und Quecksilber zu nennen, aber auch Gase wie CO2, Methan und Formaldehyd. Dabei wird auch dargestellt, dass letztere sowohl als geogene Gase wie auch als anthropogene Gase betrachtet werden, je nachdem, wie und wo es zu einer Exposition kommt. Anmerkung: Blei und Quecksilber werden in der Vorlesungsveranstaltung zur Neurotoxizität näher besprochen. Geogene/anthropogene Stoffe – Gase (Kehe, 2019) Erstickungsgase • HCN, CO, CO2, CH4, Ethan, Butan, Stickstoff, Wasserstoff, Helium, … Reizgase – Irritation der Atemwege und Schleimhäute (z. B. Augen) • Anorganische saure Gase + Ozon und Phosgen (beim Schweißen) • Chlorwasserstoff (HCl) • Bromwasserstoff (HBr), Fluorwasserstoff (HF), Stickoxide (NOx) • Schwefeldioxid (SO2), Phosphorpentoxid (P2O5) • organische Reizstoffe • Formaldehyd, Acroleindampf (Siedepunkt 52 °C), CS-Gas (Polizei früher) • Rauch-/Verbrennungsgase • enthalten Cocktail von Schadstoffen • Inhalation, Haut- und Augenexposition

Bestandteile von Industrieemissionen in Deutschland • Stickstoffmonoxid (NO) • Stickstoffdioxid (NO2) • Schwefeldioxid (SO2) • Methan (CH4) • Benzol • Kohlenmonoxid (CO) • Kohlenstoffdioxid (CO2) • Ammoniak (NH3) • Schwefelwasserstoff (H2S) • flüchtige organische Verbindungen (VOCs) • Formaldehyd (CH2O) • Blei (Pb) und andere Schwermetalle • Feinstaub (PM10) • Reifenabrieb • Brände, u. a. • z. B. auch Kochen, Backen (Abb. 4.8 und 4.9)

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

143

Abb. 4.8  Luftverschmutzung Industrieschornstein. (Quelle: Public Domain (Service, 2013))

Abb. 4.9  Dunst (Feinstaub) in der City. (Quelle: Public Domain (Griffin, 2022))

Luftschadstoffe – Hauptemittenten in Deutschland • Großfeuerungsanlagen – CO2- und SO2-Emissionen • Verkehr und Großfeuerungsanlagen – NOx-Emissionen • Landwirtschaft – NH3-Emissionen • Landwirtschaft – CH4-Emissionen • Lösemittelanwendung und Verkehr – NMVOC6-Emissionen • Kleinfeuerungsanlagen und Verkehr – CO-Emissionen (CO) • Kleinfeuerungsanlagen für Festbrennstoffe – POP7-Emission persistente organische Verbindungen • Schwermetallemissionen Verkehr (für As, Cd, Ni), Industrie- oder Großfeuerungsanlagen (für Pb, Cr, Cu, Hg) und Kleinfeuerungsanlagen (für Zn)

6 NMVOC =  flüchtige organische Verbindungen ohne Methan (non-methane volatile organic compounds). 7 POP = persistent

organic pollutant.

144

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

• Gesamtstaubemission (TSP = total suspended particles) inkl. Feinstaub Industrieanlagen, Verkehr, Kleinfeuerungsanlagen und landwirtschaftliche Prozesse

Transferwissen

Luftschadstoffe – Beispiel Vulkanismus Ca. 70 Vulkanausbrüche/Jahr CS2, CO2, CO, SO2, HCl, HF, Gestein, Staub, Schwermetalle, … Ständige Nachrichten über Vulkanausbrüche und Erdbeben im Internet verfügbar, z. B. im Vulkane Net Newsblog (News, 2020) Nyos-See (Kratersee, Maar) in Kamerun • große Menge Kohlenstoffdioxid im Wasser nahe der Sättigung gelöst • Das Wasser im Nyos-See ist thermisch geschichtet: Schichten von warmem Wasser an der Oberfläche liegen über kalten, dichteren Schichten am Seeboden. Bei einem Druck von circa 20 bar in 200 m Tiefe kann das kalte Wasser mehr als zehnmal so viel CO2 speichern wie das Oberflächenwasser. Die ständige Gaszufuhr aus dem Untergrund führt mit der Zeit zu einem hohen Gehalt an CO2 im Tiefenwasser. • 21. August 1986 um 21:30 Uhr: kleiner Vulkanausbruch; dadurch CO2-Ausgasung durch Umschichtung (kalt/warm) • Der See setzte schlagartig rund 1,6 Mio. t CO2 frei. CO2 ist unsichtbar und geruchsarm (Schierloh, Braun, & Bemdels, 2019) und schwerer als Luft. • Das CO2 strömte in Bodennähe in nördliche Richtung in zwei naheliegende Täler und tötete Menschen und Tiere in bis zu 27 km Entfernung vom See. • Etwa 1700 Menschen und Tausende von Tieren starben (Abb. 4.10). Gut zu erkennen ist der beim Ausbruch überschwemmte Uferstreifen des Sees. Vulkaneruptionen • Ständig sind ca. 20 bis 30 Vulkane sicht- und messbar aktiv. • Aschewolken steigen mehrere Kilometer hoch in die Atmosphäre, starke Luftströmungen verteilen Material weiträumig (z. B. Eyjafjallajökull auf Island, durch ihn war Flugverkehr über weiten Teilen Europas gesperrt, u. a. auch in Deutschland; Abb. 4.11). Weltweit sind über 1.900 Vulkane bekannt (Vulkane, 2022), die nicht als 'erloschen' betrachtet werden.

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

145

Kohlenstoffdioxid – CO2 CO2 spielt auch am industriellen Arbeitsplatz eine besondere Rolle und wird deshalb, was Vorkommen, Toxizität und Bedeutung anbelangt, näher besprochen. CO2-Toxizität für Menschen Der CO2-Anteil im menschlichen Körper ist vor allem im venösen Blut groß und täglich werden immerhin 700 g CO2, d. h. >350 l, ausgeatmet. Die Gefährdung durch verschiedene CO2-Konzentrationen im Blut kann wie folgt dargestellt werden: 2,5 Vol-%  >5 Vol-%  >8 Vol-%  15 Vol-% 

  kein Problem → → Kopfschmerzen, Schwindel, Herzfrequenzanstieg → Atemnot und Bewusstlosigkeit, sog. CO2-Narkose → schlaganfallähnliche Lähmungen, Tod

Abb. 4.10  Nyos-See in Kamerun nach der Katastrophe. (Quelle: Public Domain (United States, 1986))

Abb. 4.11  Vulkaneruption. (Quelle: Public Domain (rawpixel, 2022))

146

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Am Arbeitsplatz sind zwei Grenzwerte maßgeblich: 1. AGW (Arbeitsplatzgrenzwert): 5000 ppm = 0,5 Vol-% 2. MAK-Wert für Kohlenstoffdioxid: 5000 ppm = 0,5 Vol-% Zum Vergleich: Die Normalkonzentration in der Erdatmosphäre beträgt 0,037 Vol.-%.

Aufbauwissen

Ein CO2-Gehalt von 0,15 Vol.-% der Raumluft soll generell nicht überschritten werden. Es wird deshalb auch für die Klassenräume in Schulen häufiges Lüften empfohlen. In unbelüfteten Räumen ist CO2 immer kritisch, weil CO2 schwerer ist als Luft. Ein bekanntes Beispiel, um die Gefährdung durch CO2 bewusst zu machen, sind die zahlreichen Todesfälle von Küfern in schlecht belüfteten Weinkellern, in denen der neue Wein gärt. Das bei der Gärung entstehende CO2 ist völlig geruchsfrei und die sehr schnelle Vergiftung wird erst bemerkt, wenn es zu spät ist. Deshalb gingen vorsichtige Küfer immer mit einer brennenden Kerze in den Weinkeller. Sobald die Kerze erlöschte, wurde sofort der Rückweg angetreten.

Methan • keine eigene Toxizität, aber Schäden durch Sauerstoffmangel (Erstickung) und Explosion • geruchlos, leichter als Luft (dadurch geringere Erstickungsgefahr als CO2) • Methanvorkommen im gesamten Weltall • auf der Erde ständig neu gebildet (biologische und geologische Prozesse) Methan entsteht in der Natur immer, wenn organisches Material ohne Sauerstoff abgebaut wird. Gehalt in Atmosphäre: ca. 1,9 ppmv – Hauptbestandteil: Erdgas, Biogas, Grubengas, Verrottungsprozesse – Tierhaltung (speziell Wiederkäuer) – Nassreisfelder – Mülldeponien – vulkanische Aktivitäten >600 Mio t/Jahr • Meeresgrund (Sedimentschichten) und Permafrostböden: sog. Methaneis8 (Methanhydrat), ca. 1012 t

8 Gashydrate = eisartige

Einschlussverbindungen, bilden sich nur bei hohen Gaskonzentrationen und tiefer Temperatur und hohen Druckbedingungen.

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

147

• Aufnahme von Methan – erhöhte Atemfrequenz (Hyperventilation) und Herzfrequenzen – kurzzeitig zu niedriger Blutdruck – Taubheit in Extremitäten – Schläfrigkeit, mentale Verwirrung und Gedächtnisverlust, evtl. Ersticken

Formaldehyd (Seidel, Lampen, & Steinberg, 2019, S. 603 f.) Formaldehydquellen • photochemischer Abbau von Methan in Atmosphäre (Ausgasung < 600 Mio t Methan/Jahr) • Industrie • Produktion: weltweit ca. 21 Mio t/Jahr • Holzwerkstoffe, Textilien • Papier, Kunststoffe/Schäume • Verbrennungen (unvollständig) • Zigarettenrauch, Autoabgase • Nahrung (1 Apfel enthält ca. 5 mg Formaldehyd) • endogener Stoffwechsel (ca. 50 g/Tag/Mensch) (T½: 1,5 min)

Toxizität des Formaldehyds Akute Symptome bei steigender Exposition • Schleimhautreizung (Auge, Nase) • Tränenfluss, Unbehagen • brennende Nase und Kehle • Atmungsstörungen • Pneumonie (Lungenentzündung) • Lungenödem Chronische Schäden • Allergien (Kontaktdermatitis, Kontakturtikaria) • Asthma • Schleimhautreizungen • ZNS-Störungen

TCDD – 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (Dioxin) (Seveso-Gift) • Entstehung bei Verbrennung von chlor- und kohlenwasserstoffhaltigen Verbindungen (z. B. Müllverbrennung) • Wirkung Agonist für den Arylhydrocarbonrezeptor (abgekürzt Ah-Rezeptor)

148

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

• Kontakt mit TCDD: Chlorakne, Symptom einer schweren Dioxinvergiftung • Schwere Dioxinvergiftung kann auch zu schweren Organschäden, insbesondere der Leber führen • Mutagene Wirkung nicht nachgewiesen • Missbildungen beim Nachwuchs (teratogene Wirkung) nicht klar • Krebserzeugende Wirkung gilt als sicher, da nicht mutagen wohl Tumorpromotor (nicht abschließend geklärt) • Anreicherung in Leber und Fettgewebe (gefunden in vielen Spezies) • Letale Dosis Mensch nicht bekannt • Trotz umfangreicher und jahrelanger Forschung weltweit, viele offene Fragen!

4.1.11 Absichtliche Intoxikationen (Vergiftungen) der Menschen Chemiewaffen – Giftgase (Thiermann & Zöller, 2019) Menschen hatten nicht erst in der Neuzeit die Idee, ihre Mitmenschen mithilfe von toxischen Gasen zu töten. Die Spartaner 431–404 v. Chr. verwendeten beispielwiese Schwefeldioxid als Kampfmittel. Zu einer gewissen Perfektion wurden Kampfstoffe im Ersten Weltkrieg eingesetzt: Chlor, Phosgen, Cyanwasserstoff (Blausäure) oder Arsin. Aber auch in neuerer Zeit, z. B. 1988, wurden im Irak Sarin, Tabun, Senfgas gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt und 2013 verwendete auch Syrien das Nervengift Sarin (Phosphorsäureester ähnlich E605, hemmt Acetylcholinesterase). Um die Wirkung noch heimtückischer zu gestalten, wurde z. B. Bis(2-chlorethyl)sulfid (Senfgas, Lost, Gelbkreuzgas, …) als Aerosol hergestellt, da Aerosole auf der Haut, der Kleidung und in der Gasmaske länger verweilen. Giftmord als Mittel der Politik Heute leider noch immer Giftmorde als Mittel der Politik • 20.–21. Jahrhundert – Arsenik ist out, Giftmörder und Geheimdienste verwenden lieber Thallium, Polonium oder Rizin • 1978 – Georgi Markow (bulgarischer Autor/Dissident), „Regenschirmattentat“ in London (Rizin) • 2004 – Jassir Arafat (PLO-Chef) (Polonium-210) – Mordversuch an Viktor Juschtschenko, Ukraine (TCDD, 2,3,7,8-Tetrachlordi benzodioxin) • 2013 – Post an Barack Obama mit Rizin abgefangen • 2018 – Sergej und Yulia Skripal in Salisbury

4.1  Einführung in die Gefahrstoffkunde (Toxikologie I)

149

• 2020 – Alexej Nawalny mit Nervengift Nowitschok (Acetylcholinesterasehemmer)

Warum Gift als politische Waffe? • • • • • • • •

Gift hört man nicht und sieht man nicht. Gift ist sehr wirksam. Gift ist oft schwer nachweisbar, Tod wird oft als natürlich diagnostiziert. Mit Gift kann man das Opfer verdächtigen, es selbst genommen zu haben. Mörder kann weit weg sein, wenn das Opfer stirbt. Gift macht es schwierig, den Mörder zu identifizieren. Mörder muss nicht mit ansehen, was er getan hat. Gift zeigt der Familie, den Freunden, wie qualvoll man sterben könnte.

Absichtliche Selbstintoxikationen (Vergiftungen) der Menschen Tabakrauch • Hauptstromrauch (HSR): Verbrennung bei 950 °C – weitgehend vollständige Verbrennung (4000 Substanzen – 40 Karzinogene) • Nebenstromrauch (NSR) – unvollständige Verbrennung, hohe Toxizität und Kanzerogenität (NSR >> HSR) • Passivrauchen: exhalierter HSR + NSR Hinweise auf Keimzellmutagen! • Inhaltsstoffe – karzinogene (krebserzeugende) Stoffe – (blut-)toxische Stoffe – neurotoxische Stoffe – reizende Stoffe – Alterung der Haut Zum Thema Alterung der Haut durch Rauchen: beeindruckende Fotos von Zwillingen, die unterschiedlich lang geraucht haben in „Spiegel Gesundheit“ (Spiegel, 2013). Weitere Selbstintoxikationen Abschließend wird den Studierenden in dieser Einführungsvorlesung noch eine Übersichtsfolie präsentiert, die einige Beispiele der Selbstintoxikation zeigt, d. h., dass Menschen sich absichtlich vergiften, allerdings ohne sich darüber wirklich bewusst zu sein, da der Genuss im Vordergrund steht. Einzelne dieser Selbstintoxikationen werden in den folgenden Vorlesungsveranstaltungen dargestellt und erklärt. • Rauchen (Nicotin, kanzerogene Substanzen, …) • Alkohol trinken (Bier, Wein, Spirituosen, …) • Kaffee-/Tee trinken (Coffein, Theophyllin, Theobromin, …)

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

150

• Rauschdrogen (Heroin, Kokain, LSD, Ecstasy, Speed, …) • Überdosierung von Pharmaka (Antidepressiva, …) • Tattoo stechen (z.  B. Allergene, Kanzerogene, zelltoxische Substanzen, phototoxische Substanzen, …) 

Einschätzung von Risiko  Allgemein gilt: Wenn der wahrgenommene Nutzen groß ist, wird das Risiko als gering gesehen (und umgekehrt)!

Anmerkung: Die Auswahl der näher besprochenen toxischen Substanzen soll neben dem Wissen um verschiedene toxische Endpunkte auch Auswirkungen auf das Verhalten der Studierenden in ihrem Alltag bewirken, auch in der Hoffnung, dass sie als Multiplikatoren in ihrem Freundeskreis die Botschaft weitergeben, ganz nach dem Motto „Überraschen Sie Ihre Freunde mit neuem Wissen“.

4.2 Toxikokinetik und Fremdstoffmetabolismus (Mückter & Derendorf, 2019), (Arand & Oesch, 2019), (Bode, 2010) Ziele dieses Teils der Vorlesung • Was sind die Kernfragen der Toxikokinetik? • Klärung der Begriffe Bioverfügbarkeit, Halbwertszeit und ADME • Fremdstoffmetabolismus

Aufbauwissen

Der menschliche Organismus steht Gefahren, die von Schadstoffen drohen, nicht wehrlos gegenüber. Wie alle Lebewesen hat er Abwehrmechanismen entwickelt, die ihn vor den Gefahren schützen, die von den chemischen Stoffen ausgehen, die auf ihn einwirken. Er kann die Aufnahme blockieren, eine beschleunigte Ausscheidung veranlassen, die chemische Struktur des Stoffes so verändern, dass er keinen Schaden mehr anrichten kann, oder ihn so im Organismus verteilen, dass er sich in den Geweben anreichert, in denen er weniger Schaden anrichten kann, z. B. im Fettgewebe. Die Aufgabe ist nicht einfach, denn der Organismus weiß nicht, welcher Fremdstoff auf ihn einwirken wird. Es gibt unendlich viele Fremdstoffe und das bedeutet, dass die Strategie sehr flexibel sein muss. Das Arbeitsgebiet, das sich in der Toxikologie mit diesen Prozessen beschäftigt, ist die Toxikokinetik.

4.2  Toxikokinetik und Fremdstoffmetabolismus

151

4.2.1 Kernfragen der Toxikokinetik Toxikodynamik vs. Toxikokinetik: prinzipieller Unterschied • Toxikodynamik – Wirkungen des Stoffes auf den Organismus • Toxikokinetik – Wirkungen des Organismus auf den Stoff

Was macht der Organismus mit Fremdstoffen? Fremdstoffe sind chemische Stoffe, gegenüber denen der Organismus exponiert wird, die für ihn eine Gefahr darstellen können. 1. Wird der Fremdstoff in den Körper aufgenommen? Wenn ja, in welchem Ausmaß (AUC9, Bioverfügbarkeit)? 2. Wie wird der Stoff im Körper verteilt? Wird der Stoff in einem Gewebe oder Organ des Körpers angereichert (akkumuliert)? 3. Wird der Stoff an bestimmte Strukturen im Blut gebunden? (Erythrozyten, Plasmaproteine wie Albumin) Welcher Anteil des Stoffes bleibt im Blut ungebunden (free fraction) und ist somit für mögliche Wirkungen verfügbar? 4. Wird der Stoff chemisch verändert (verstoffwechselt)? Wenn ja, welche Stoffwechselprodukte entstehen? 5. Auf welchem Weg wird der Stoff wieder ausgeschieden? (Urin, Galle, Atmung, Fäzes, Haut, Haare) 6. Wie lange dauert es, bis der Stoff seine maximale Konzentration im Körper (Blutplasma) erreicht hat (Tmax) und wie hoch ist die höchste Konzentration (Cmax)? 7. Wie lange verbleibt der Stoff im Blutplasma? Welchen Wert hat seine Halbwertszeit (T½)? Die Toxikokinetik konzentriert sich im Allgemeinen auf die Bestimmung der Parameter Tmax, Cmax, AUC (Bioverfügbarkeit, systemische Exposition) und die Halbwertszeit T½. Mit der Kenntnis dieser Parameter ist es möglich, einen Vergleich der Substanzbelastung von Versuchstieren und Menschen und damit eine Abschätzung des Gesundheitsrisikos von Gefahrstoffen auf der Basis von toxikologischen Daten durchzuführen.

9 AUC = area

under the curve, Fläche unter der Kurve.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

152

4.2.2 Bioverfügbarkeit/Halbwertszeit Der Parameter AUC ist ein Maß für die Bioverfügbarkeit F eines Stoffes (Abb. 4.12). Die absolute Bioverfügbarkeit ergibt sich aus dem Verhältnis von AUC nach oraler Exposition und intravenöser Exposition. Bei intravenöser Verabreichung ist die Bioverfügbarkeit definitionsgemäß 100 %. Berechnung der Bioverfügbarkeit: F = AUCp.o./AUCi.v. Die Halbwertszeit (T½) (Plasmahalbwertszeit) ist die Zeitspanne, in der die Menge eines exponierten Stoffes durch das Ergebnis von Metabolismus und Ausscheidung auf die Hälfte abgesunken ist. • Eliminationskinetik 1. Ordnung (Elimination ist von Plasmakonzentration abhängig) exponentieller Abfall der Plasmakonzentration • T½  = Zeitspanne, in der die Plasmakonzentration um die Hälfte abgenommen hat • T½  = „hybrider“ Parameter, hängt nicht nur von der Eliminationsleistung, sondern auch von der Verteilung ab • T½ umso länger, je größer das Verteilungsvolumen; umso kürzer, je größer die Clearance

KONZENTRATION des Wirkstoffs im Blut

i.v.-Gabe Cmax

(p.o.) Bioverfügbarkeit F = AUC AUC (i.v.)

p.o.-Gabe

ZEIT

Abb. 4.12  Bioverfügbarkeit – AUC, Vergleich i.v.-Gabe und p.o.-Gabe. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Flexikon, 2020a)

4.2  Toxikokinetik und Fremdstoffmetabolismus

153

Kinetik bei wiederholter Gabe – Steady State • Gleichgewicht zwischen Plasmakonzentrationsanstieg und Eliminationsgeschwindigkeit • Bedingung: Eliminationskinetik 1. Ordnung, d. h. Elimination ist von der Plasmakonzentration abhängig

Aufbauwissen

Für eine Risikoabschätzung ist es von Bedeutung zu wissen, ob die Gefährdung, die von einem Schadstoff ausgeht, durch ein hohes Cmax oder durch eine ausgedehnte systemische Exposition verursacht wird, die am einfachsten durch den Parameter AUC bestimmt wird. • Funktionelle Wirkungen werden in der Regel durch eine kurzzeitige Maximalkonzentration (Cmax) ausgelöst. Beispiel: typische Nebenwirkungen von Arzneimitteln auf Zentralnervensystem (ZNS) und kardiovaskuläres System (CV) • Morphologisch sichtbare Wirkungen (Organläsionen) werden in der Regel durch den AUC ausgelöst. Beispiel: Chronischer Alkoholkonsum führt zu Leberzirrhose. In toxikologischen Studien werden gemäß der Prüfrichtlinien in der Regel drei unterschiedliche Dosen der Prüfsubstanz verwendet: 1. eine untere nichttoxische Dosis, bei Pharmazeutika eine Dosis im Bereich der therapeutischen Humandosis 2. eine höchste, klar toxische, aber nicht tödliche Dosis Die toxische Wirkung ist eine Voraussetzung, um ein sog. toxikologisches Profil der Substanz beschreiben zu können. 3. Zwischen den beiden Extremen liegt eine Dosis im geometrischen Mittel, die zur Beschreibung der Dosis-Wirkungs-Beziehung dient. In der hohen toxischen Dosis werden häufig Expositionen erreicht, die sowohl die Giftungs- wie die Entgiftungsreaktionen sättigen. Toxikokinetische Daten werden deshalb immer benötigt, um die Toxizitätsergebnisse korrekt einordnen zu können.

4.2.3 ADME (Aufnahme, Verteilung, Metabolismus, Ausscheidung) Themen der Toxikokinetik (ADME) 1. Aufnahme (Resorption, Absorption, absorption) 2. Verteilung (Distribution, distribution) 3. Stoffwechsel (Metabolismus, metabolism) 4. Ausscheidung (Exkretion, excretion)

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

154

Die Abkürzung ADME steht für Aufnahme (Absorption), Verteilung (Distribution), Stoffwechsel (Metabolismus) und Ausscheidung (Exkretion), die im Folgenden besprochen werden.

Aufnahme von Fremdstoffen – Membranpassage Die Aufnahme von Fremdstoffen in den Organismus erfolgt über Grenzflächen oder Schranken (Epithelien/Passage durch Membranen). Die Epithelien wie das Flimmerepithel der Bronchien (Lunge), das verhornte Plattenepithel der Haut (Epidermis), das unverhornte Plattenepithel der Mundhöhle oder das Bürstensaumepithel im Darm sind die wichtigsten (Abb. 4.13). In allen Epithelien müssen Fremdstoffe eine Membranpassage bewältigen. Die Membranpassage (Phospholipide, Lipidmembranen) können chemische Stoffe auf verschiedene Weise bewältigen. 1. Einfache (passive) Diffusion Transport entlang eines Konzentrationsgefälles. Je ausgeprägter das Konzentrationsgefälle ist, desto schneller die Diffusion. Diffusion ist auch abhängig von der Molekülgröße und physikalischchemischen Eigenschaften wie der Löslichkeit des Stoffes, aber auch von der Größe der aufnehmenden Grenzfläche und der Blutzirkulation an der Stelle der Resorption. Eine vergrößerte Fläche und ein erhöhter Blutfluss an der Stelle der Resorption, z. B. Epithel in Lungenalveolen und Darmschleimhaut, erzeugen eine schnellere Diffusion. Die Diffusion benötigt keine Stoffwechselenergie.

AUFNAHME

VERTEILUNG KAPILLARENDOTHEL

VENE

ARTERIE

i.v.

INJEKTION

i.m. s.c.

INHAL ATION

Lunge

GEWEBE ORAL

Magen Darm

DERMAL

Haut

Leber

Abb. 4.13  Aufnahme (Zufuhrwege) und Verteilung von Fremdstoffen – Expositionsformen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Mückter & Derendorf, 2019)

4.2  Toxikokinetik und Fremdstoffmetabolismus

155

2. Erleichterte (passive) Diffusion Sie funktioniert im Prinzip wie die Diffusion, nur dass der Transfer von Stoffen durch die Grenzfläche (Membran) besser und schneller erfolgt, als dies eigentlich aufgrund der Größe, Form, Polarität usw. möglich wäre. Dies wird ermöglicht, indem größere Moleküle wie Glucose durch Carriermoleküle oder kleinere polare Moleküle und Ionen durch Tunnelproteine (Kanäle bzw. Poren) die Membran leichter durchdringen können. Der Prozess ist strukturspezifisch, sättigbar, hemmbar und benötigt keine Stoffwechselenergie. 3. Aktiver Transport Transport entgegen dem Konzentrationsgefälle, strukturspezifisch, sättigbar, hemmbar, benötigt Stoffwechselenergie (in Form von ATP) Beispiel ist die Natrium-Kalium-Pumpe: Natrium-Ionen werden aktiv gegen ein Konzentrationsgefälle ins Zelläußere und Kalium-Ionen gegen ihr Konzentrationsgefälle ins Zellinnere transportiert. 4. Pinozytose (Zelltrinken) Transfer durch Membraneinstülpungen, d. h., Flüssigkeitströpfchen und darin gelöste Substanzen werden unspezifisch in die Zelle aufgenommen, in Form von Vesikeln; benötigt Stoffwechselenergie (in Form von ATP). Anmerkung: Einige Viren verwenden diesen Mechanismus für den Zelleintritt, indem sie Rezeptoren auf der Zellmembran missbrauchen. (Aufbauwissen) 5. Phagozytose (Zellfressen) Transfer durch Membraneinstülpungen, d. h. größere Partikel wie Mikroorganismen oder Zelltrümmer abgestorbener Zellen werden auf diesem Weg z. B. durch Makrophagen aufgenommen, verdaut und damit entsorgt; benötigt Stoffwechselenergie (in Form von ATP). Lipidmembranen ohne „Poren“ • nur für lipophile, nichtionisierte Substanzen; polare Substanzen diffundieren sehr langsam oder gar nicht • Blut – Hirn – Schranke (Blut → Liquor, Blut → Gehirn) • Schleimhaut des Magen-Darm-Traktes (Mundschleimhaut, Tubuli der Niere, Haut) Lipidmembranen mit „Poren“ • für lipophile und hydrophile Stoffe durchlässig • Blut → Leber • Leber → Galle • Lunge • Plazenta • Blut → Milch • Kapillaren in Haut und Muskeln • Schleimhäute Auge, Nase, Harnblase • Glomerulus der Niere (Filtration)

156

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Tab. 4.5  Grenzflächen (Epithelien) (Reichl & Schwenk, 1997). Zahlenwerte sind nur zur Veranschaulichung, müssen von Studierenden nicht gewusst werden! GRENZFL ÄCHE BZW. ORGAN

m2

Mundhöhle

0,02

Magen

0,1 – 0,2

Dünndarm

100 – 200

Rektum (Mastdarm)

004 – 007

Alveolarraum Lunge

80 – 100

Haut

1,5 – 2

Blutkapillaren

6.000 – 8.000

Anmerkung: Zahlenwerte sind nur zur Veranschaulichung, müssen von Studierenden nicht gewusst werden!

Aufbauwissen

Grenzflächen Die Grenzflächen, die bei der Resorption überwunden werden müssen, unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Architektur, sondern auch vor allem über ihre Oberfläche (Tab. 4.5).

Resorption im Magen-Darm-Trakt (GI, Gastrointestinaltrakt) Der gesamte Verdauungstrakt, d. h. Mund und Rachen, Speiseröhre, Magen, Dünndarm, Dickdarm und Rektum, ist mit Membranen ausgestattet, die nur sehr wenige Poren besitzen und daher primär für lipophile Substanzen leicht passierbar sind. Für wasserlösliche Stoffe und Nahrungsbestandteile sind spezifische passive und aktive Transportmechanismen vorhanden wie z. B. die oben erwähnten passiven Carriersysteme für essenzielle Nahrungsbestandteile (z. B. Fe und Ca), die allerdings auch toxische Stoffe (z. B. Cd und Pb) transportieren können, aber auch die Pinozytose (Zelltrinken) wird von den Zellen der Mikrovilli zur Aufnahme von gelösten Nährstoffen aus der Nahrung genutzt. Resorption – Atemtrakt • Relevant für Gase und Partikel • Alveole: ∅ 0,2 mm • Alveolen/Lunge 300 Mio. • Gesamtoberfläche: 80–100 m2 Resorption – Haut • Keine wirksame Barriere für lipophile Substanzen (z. B. CCl4, Benzol) • Manche Lösungsmittel begünstigen die Hautresorption anderer Stoffe (z. B. DMSO).

4.2  Toxikokinetik und Fremdstoffmetabolismus

157

Tab. 4.6  Durchblutung verschiedener Organe ORGAN/GEWEBE

VOLUMEN l (Liter)

DURCHBLUTUNG ml / min / kg

KOMMENTAR

Lunge

0,5

5000

gut durchblutet

Gehirn, Herz, Leber, Nieren

6

6600

gut durchblutet

Muskulatur, Haut

33

60-120

schlecht durchblutet

14,5

10

schlecht durchblutet

12,5

20

schlecht durchblutet

gewebe Knochen, Knorpel

Anmerkung: Zahlenwerte sind nur zur Veranschaulichung, müssen von Studierenden nicht gewusst werden!

Resorption von Fremdstoffen hängt ab von • Löslichkeit – Substanz muss gelöst sein • Lipophilie (KOW-Wert) • Ladung und Polarität (pH, pKa) • Molekulargewicht

Verteilung von Fremdstoffen Nach der Aufnahme über Lunge, Magen-Darm-Trakt und Haut verteilen sich die meisten Fremdstoffe nicht gleichmäßig im Organismus, sondern reichern sich unterschiedlich in Organen und Geweben an. Diese Verteilung beruht auf unterschiedlichen physikalisch-chemischen Eigenschaften, aber auch auf dem unterschiedlichen Volumen der Gewebe (Kompartimente) und der Intensität der jeweiligen Durchblutung (Tab. 4.6). Eine häufig verwendete und bewährte Methode die Verteilung eines Stoffes zu verfolgen ist die Ganzkörperautoradiographie, für die in der Vorlesung visuelle Unterstützung gegeben wird. Ausscheidung (Exkretion) • • • • •

Ausscheidung über Darm (Faeces, Stuhl) Ausscheidung über Niere Ausscheidung über Leber Abatmen über Lunge nur bei unpolaren flüchtigen Substanzen Ausscheidung mit Körpersekreten wie Schweiß, Haare, Speichel, … (Abb. 4.14)

Endpunkte und Verfahren der Toxikokinetik in Industrielabors • ADME-Studien • Kinetik/Bioverfügbarkeit • Ganzkörperautoradiographie (Verteilung) • Metabolitenprofile • Metabolitenisolierung

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

158 INHAL ATION

INGESTION

LUNGE

BLUTKREISLAUF

MAGEN DARM

EXHAL ATION

DERMALE RESORPTION

INJEKTION

FAECES STUHL

Galle

Leber

HAUT

Niere

Andere Organe, z. B. Gehirn

URIN

SCHWEISS HA ARE

Abb. 4.14  Expositions- und Ausscheidungswege. (Eigene Darstellung)

• Metabolitenstrukturaufklärung • in vitro-Metabolismusstudien • Drug-Drug- und Drug-Food-Interaktion mechanistische Studien mit gereinigten Enzymen Cytochrom P450, Glutathion-S-Transferasen (GSTs) • Charakterisierung von (Iso-)Enzymen • in vivo-/in vitro-Induktionsstudien (Enzyminduktion) • Monitoring von kovalenter Bindung

Fremdstoffmetabolismus Fremdstoffmetabolismus kann prinzipiell in zwei Phasen unterteilt werden: 1. Phase I (Funktionalisierung: Oxidation – Reduktion – Hydrolyse) 2. Phase II (Konjugation) Beispiel: Benzol Phase I:  O  xidation von Benzol → Phenol Phase II:  K  onjugation von Phenol → Phenylglucuronid

→ Ausscheidung Niere Aufbauwissen

Warum Fremdstoffmetabolismus? Weil Nahrung, auch pflanzliche, immer auch Stoffe enthält, die für den menschlichen Organismus Schadstoffe darstellen. Dies ist darin begründet, dass Pflanzen nicht weglaufen können, sich aber trotzdem vor Fressfeinden schützen müssen. Wie schützt sich die Pflanze? Sie schützt sich durch sog. sekundäre Pflanzenstoffe wie z. B. Nicotin und Coffein.

4.2  Toxikokinetik und Fremdstoffmetabolismus

159

• Sekundäre Pflanzenstoffe sind keine Nährstoffe, müssen aber als Fremdstoffe metabolisiert werden, um sie ausscheiden zu können und um toxische Wirkungen zu vermeiden. – Enzyme zur schnellen Entgiftung und Ausscheidung der Fremdstoffe (Fremdstoffmetabolismus)

Ein ideales fremdstoffmetabolisierendes System erfüllt folgende Anforderungen • ausreichende Wasserlöslichkeit der Metaboliten zur effizienten Ausscheidung über Galle oder Niere • keine biologische Aktivität der Metaboliten, die toxische Wirkungen verursachen können • breite Substratspezifität des Enzymsystems, damit auch neu auftretende Fremdstoffe metabolisiert werden können

Phase I: Überblick Enzyme Oxidoreduktase • Cytochrom-P450-abhängige Monooxygenasen (CYP) • flavinabhängige Monooxygenasen (FMO) • Monoaminoxidasen (MAO) • Cyclooxygenasen (COX) • Dihydrodioldehydrogenasen • DT-Diaphorase (NQO) • Alkohol- und Aldehyddehydrogenasen (ADH, ALDH) Hydrolasen • Esterasen • Amidasen • Glucuronidasen • Epoxidhydrolasen (EH)

Cytochrom-P450-abhängige Monooxygenasen (CYP) • Hauptexpressionsort: Leber • große Superfamilie von strukturell miteinander verwandten Enzymen • in Eukaryoten: CYPs = membranständige Enzyme im glatten ER10 • assoziiert mit Cytochrom-P450-Reduktase • überträgt ein Sauerstoffatom eines O2-Moleküls auf ein Substratmolekül (Monooxygenase) • prosthetische Gruppe: Hämin (Fe3+), nach Reduktion zum Häm (Fe2+): Aufnahme von O2 (oder CO, diagnostische Bedeutung wg. charakteristischer Absorption bei 450 nm → CYP450) • Anzahl der CYP-Gene beim Menschen: ca. 60 Isoenzyme, z. B. CYP 3A4 10 glattes

ER = glattes endoplasmatisches Retikulum (Fettsäuresynthese, Membranlipidsynthese, …).

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

160

CYP-Nomenklatur Beispielenzym: CYP3A4 (eines der wichtigsten CYPs) CYP = Superfamilie, 3 = Familie, A = Unterfamilie, 4 = Isoenzym Vorkommen der CYPs vor allem Leber, dort der meiste Fremdstoffwechsel, aber auch Niere, Haut und alle anderen Organe Aufbauwissen

Diese Enzyme haben ursprünglich die Aufgabe, Fremdstoffe zu entgiften. In einigen Fällen führt die von diesen Enzymen katalysierte Reaktion zu Metaboliten, die eindeutig schädlicher sind als die jeweilige Muttersubstanz. In dieser Vorlesungsveranstaltung werden deshalb Stoffe als Beispiele für Entgiftung und Giftung gezeigt und besprochen (Parathion, Benzol, Aflatoxin B1, aromatische Amin- und Nitroverbindungen sowie polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe).

Phase-II-Reaktionen: Konjugation (Tab. 4.7) • In Phase-II-Reaktionen werden an Fremdstoffe sehr gut wasserlösliche Substrate angeknüpft, dadurch werden die Fremdstoffe wasserlöslich und können im Urin ausgeschieden werden. • Als wasserlösliche Substrate für Konjugationsreaktionen dienen eine ganze Reihe von körpereigenen Stoffen – Phase-II-Reaktionen sind essenziell für die Ausscheidung von Fremdstoffen via Niere oder Galle – in der Regel Entgiftung (Bioinaktivierung), aber auch Ausnahmen! Tab. 4.7  Phase II – Reaktionen – Überblick REAKTION

KONJUGATIONSAGENS

FUNKTIONELLE GRUPPEN

Glucuronidierung

A vierte Glucuronsäure (UDPGA)

OH (Phenole, Alkohole) COOH (arom. u. aliph. Säuren) NH2 (arom. Amine und Amide) SH (Mercaptane)

erung

Ak viertes Sulfat (PAPS)

OH (Phenole, Alkohole) NH2 (arom. Amine)

Glutathionkonjuga on

Glutathion (GSH)

Elektrophile Zentren (Epoxide, Alkyl-, Allyl- und Benzylhalogenide, Chinone)

Acetylierung

Ak viertes Acetat (Acetyl-CoA)

NH2 (Amine, Hydrazine, Aminosäuren)

Methylierung

Ak viertes Methionin (SAM)

OH (Phenole, Katechole) NH2 (aliph. u. arom. Amine)

Verschiedene Aminosäuren

COOH (arom. u. aliph. und alipha sche Carbonsäuren)

Aminosäurekonj

on

4.3  Zielorgantoxizität – Zielorgane

161

Phase II: Glucuronidierung und Sulfatierung • Die Bildung von Glucuroniden ist die quantitativ wichtigste Phase-II-Reaktion beim Menschen, aber auch die Sulfatierung ist häufig. Beispiele: Paracetamol: UDP-Glucuronsäure + Paracetamol → P-Hydroxyacetanilid-ßglucuronid → Urin Phenol: PAPS + Phenol → Phenylsulfat → Urin

4.3 Zielorgantoxizität – Zielorgane Wie in der Tab. 4.6 ersichtlich, werden einige Organe besonders gut durchblutet. Dies hat für diese Organe auch die Folge, dass Schadstoffe, die über das Blut transportiert werden, diese Organe besonders intensiv schädigen können. Wenn dies für einzelne Organe zu spezifischen Schäden führt, wird von Zielorganen gesprochen.

4.3.1 Leber, Niere, Nervensystem und Lunge In den Vorlesungen zu Leber, Niere, Nervensystem und Lunge werden vier wichtige Zielorgane stellvertretend für alle Organe näher besprochen, denn erstens sind diese Organe besonders häufig betroffen, von Fremdstoffen geschädigt zu werden, und zweitens sind diese Organe absolut lebenswichtig. Ihre Schädigung ist für den Gesamtorganismus fatal. Allerdings ist dies eine Vereinfachung für diese Vorlesung, denn auch die übrigen Zielorgane (Zielorgantoxizität) sind für die Gefährdungs- und Risikoermittlung von immenser Bedeutung. Es ist wichtig zu wissen, ob ein Schadstoff eine unspezifische allgemeintoxische Wirkung besitzt oder ob er bestimmte Organe, sog. Zielorgane, spezifisch schädigt.

Leber Die Leber ist ein häufig betroffenes Zielorgan, was zum einen an ihrer intensiven Durchblutung, aber auch an der Art des durch sie fließenden Blutes (Mischblut) und an ihrer intensiven fremdstoffmetabolisierenden Aktivität liegt. Die Leber ist in toxikologischen Prüfungen das häufigste Zielorgan. Die Lebertoxizität (Hepatotoxizität) ist auch die häufigste Ursache, weshalb Medikamente wieder vom Markt genommen werden müssen (Details im Abschn. 4.4). Nieren Die Nieren sind ein häufiges Zielorgan, was ebenfalls an ihrer intensiven Durchblutung liegt, aber auch daran, dass in ihr Schadstoffe gleichzeitig metabolisiert und konzentriert werden (Details im Abschn. 4.5).

162

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Nervensystem Das periphere (PNS) und das zentrale Nervensystem (ZNS) sind extrem wichtige Zielorgane, vor allem deshalb, weil Schädigungen häufig irreversibel sind (Details im Abschn. 4.6). Lunge Die Lunge ist häufig Zielorgan von inhalierten Stoffen, kann aber aufgrund der ausgeprägten Durchblutung auch Zielorgan für Schadstoffe sein, die über andere Aufnahmewege in den Blutkreislauf gelangt sind (Details im Abschn. 4.7). Haut Eine Sonderrolle spielt das größte (1,8 m2) und schwerste (4,5 kg) Organ des Menschen, die Haut. Sie ist die wichtigste Barriere des Organismus gegenüber der umgebenden Umwelt und schützt den Organismus vor vielfältigen physikalischen, chemischen und mikrobiologischen Schädigungen. Sie ist kein Zielorgan im herkömmlichen Sinn, aber sie ist das Angriffsziel aller von außen auf den Organismus einwirkenden, chemischen Stoffe, weshalb sie im Rahmen der Gefahrstoffvorlesungen ebenfalls als wichtiges Zielorgan besprochen wird (Details im Abschn. 4.8).

4.3.2 Als Zielorgantoxizitäten werden in der CLP-Verordnung (EU-Kommission, 2008) neun Zielorgane genannt 1. Hepatotoxizität (Leber), Kardiotoxizität (Herz, Kreislauf) 2. Nephrotoxizität (Nieren) 3. Pneumotoxizität (Lunge) 4. Enterotoxizität (Magen-Darm-Trakt) 5. Gonadotoxizität (Reproduktionsorgane, Ovarien, Hoden) 6. Hämatotoxizität (Blut, Knochenmark, lymphatische Organe) 7. Myelotoxizität (Muskeln) 8. Neurotoxizität (zentrales und peripheres Nervensystem und Augen) 9. Ototoxizität (Ohren, Hör- und Gleichgewichtsorgan) Die Organe eines Organismus sind alle wichtig, aber einzelne werden als besonders wichtig wahrgenommen, weil sie entweder häufig betroffen sind oder weil es sich, wenn sie geschädigt werden, immer um eine irreversible und fatale Wirkung handelt. Letzteres betrifft z. B. die Augen, denn einen Schaden an den Augen kann der Organismus in der Regel nicht reparieren, eine zerstörte Retina (Netzhaut) führt zur Blindheit und die ist endgültig.

4.4  Organtoxizität Leber (Hepar)

163

4.4 Organtoxizität Leber (Hepar) (Wätjen & Kahl, 2019), (Cojocel & Keller, 2019) Ziele dieses Teils der Vorlesung • Warum ist die Leber ein lebenswichtiges Organ? • Warum ist die Leber häufig Zielorgan für Schadstoffe? • Diagnose von Leberschäden • Welche Leberschäden muss man sich merken? Anatomie der Leber Gewicht beim Erwachsenen: ca. 1,5 kg (Abb. 4.15) • Lage: rechts im Oberbauch, gut geschützt durch Brustkorb, ein deutlicher Hinweis auf die Wichtigkeit der Leber • obere Fläche mit dem Zwerchfell teilweise verwachsen • untere Fläche grenzt an die Baucheingeweide

Speiseröhre LEBER

Rippen

Milz Gallenblase Portalvene Magen Leberarterie Darm

Abb. 4.15  Leber und benachbarte Organe. (Quelle: Public Domain NCI (Bliss, 2013))

164

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Abb. 4.16  Leberläppchen (Lobuli hepatis) – Mikroskopische Sicht. (Quelle: Public Domain (Open Stax, 2013))

Blutversorgung der Leber Die Leber gehört neben Lunge und Nieren zu den am besten durchbluteten Organen (1,5 l Blut/min). Gegenüber anderen Organen und Geweben wird der Leber das Blut von zwei sehr unterschiedlichen Blutgefäßen zugeführt! 1. Leberarterie (Arteria hepatica) Sie liefert sauerstoffreiches Blut, das aber nur 20–25 % des zugeführten Blutes beträgt. 2. Pfortader (Vena portae) Sie liefert die übrigen 75–80 % des Blutes, allerdings ist dies sauerstoffarmes, venöses Blut aus dem Bereich des Magens, Dünndarms, Dickdarms, Pankreas und der Milz.

4.4  Organtoxizität Leber (Hepar)

165

Um die Funktionsweise und die möglichen Schädigungen der Leber zu verstehen, ist es daher unvermeidlich, die Architektur der Leber den Studierenden in groben Zügen zu erklären. Leberläppchen Die ca. 500.000 Leberläppchen (Lobuli hepatis) bilden die morphologische Struktureinheiten der Leber. In den sechs Ecken jedes Leberläppchens liegen jeweils Äste der Pfortader, der Leberarterie und der Gallengänge (periportales Feld). Das Blut fließt von dort zur Zentralvene. Die Abb. 4.16 zeigt ein solches Leberläppchen (∅ 1–2 mm).

Aufbauwissen

Intrahepatische Gallengänge Die von den Leberzellen (Hepatozyten) produzierte Galle wird in die zwischen den Hepatozyten liegenden Gallenkanälchen (Canaliculi) ausgeschieden und fließt in gegengesetzter Richtung. Von den Gallenkanälchen wird die Gallenflüssigkeit in die beiden großen intrahepatischen Gallengänge (linker und rechter Ductus hepaticus) überführt. Die Galle erreicht danach den Ductus hepaticus communis, der die Galle aus der Leber herausleitet. Zwischen den Malzeiten wird die Galle in der Gallenblase gespeichert. Extrahepatische Gallengänge Die Abb. 4.17 Teil A zeigt eine Leber mit Gallenblase, den Magen und die extrahepatischen Gallengänge. Das extrahepatische Gallengangsystem besteht aus den Lebergängen (hd), die Galle von der Leber in den Ductus hepaticus communis (chd) und über den Gallenblasengang (Ductus cysticus, cd) zur Gallenblase sowie durch den Hauptgallengang (cbd) und über den Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse in den Zwölffingerdarm ableiten. Die Abb. 4.17 B zeigt die Hepatozyten, die in Leberplatten angeordnet sind, die durch sinusförmige Räume getrennt sind (Sinusoide), die strahlenförmig um eine zentrale Vene verlaufen. Gallenkanälchen auf der Oberfläche benachbarter Hepatozyten leiten die Galle in die Gallengänge, die parallel zu Pfortader und Leberarterien verlaufen und die periportalen Felder (Glisson-Dreiecke) bilden. Gegenstromprinzip Die eigentlichen Leberzellen (Hepatozyten) sind polar, d. h., sie bilden in den Sinusoiden (Blutbahnen) der Leberläppchen Monolayerstrukturen, die auf der einen Seite von Blut und auf der anderen von Gallenflüssigkeit umströmt sind. Blut und Galle strömen in entgegengesetzter Richtung. Das ist wichtig, weil hierbei ein wirksames Gegenstromprinzip wirksam wird. Das Gegenstromprinzip kennen Chemie- und Biochemiestudierende bereits aus

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

166

Technologien wie der Destillation oder der Dialyse. Die Hepatozyten entnehmen auf der Blutseite dem Blut zahlreiche Substanzen, während sie Abbauprodukte auf der Gallenseite abgeben. Da vieles dabei über eine konzentrationsabhängige Diffusion verläuft, ist es wichtig, auch geringe Konzentrationen aufnehmen und abgeben zu können. Durch das Gegenstromprinzip wird dies über die gesamte Strecke zwischen Portalfeld und Zentralvene erreicht. Sinusoide – Kupffer-Zellen Um beispielsweise geschädigte Leberzellen, alte Erythrozyten oder Bakterien aus dem Blut zu filtern, sind auf der Oberfläche des Endothels der Sinusoide die sog. Kupffer-Zellen, die ihre Zellfortsätze in das Lumen der Sinusoide hineinragen lassen und so eine Art Netz ausgelegt haben (Abb. 4.18). Die Kupffer-Zellen sind als Makrophagen (Immunzellen) zur Phagozytose (Zellfressen) befähigt. Sie bauen das aufgenommene Material ab und geben die Abbauprodukte an die Hepatozyten weiter, die die weitere Verwendung (Synthesen, d. h. Recycling wertvoller Bausteine, bzw. Ausscheidung) übernehmen.

A

Hepatozyten

B

Gallenkanälchen

Leber

Gallengang

Gallenblase ZENTRA VENE

PORTALVENE

Ex sche Gallengänge

Glisson-Dreieck Leberarterie Sinusoid

Abb. 4.17  Zelluläre Architektur der Leber. (Quelle: Open Access US NIH National Library of Medicine (Zorn, 2008))

4.4  Organtoxizität Leber (Hepar)

167

Hepatozyten Lym

Disse-Raum

Lym Lym

SINUSOID

Lym

Disse-Raum

Endothelzellen des Sinusoids Kupffer-Zellen Ito-Zellen

Abb. 4.18  Sinusoid – Kupffer-Zellen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an (Tsutsui & Nishiguchi, 2014))

4.4.1 Aufgaben der Leber Die Leber ist ein Organ mit sehr speziellen Eigenschaften und von herausragender Bedeutung in der Gefahrenabwehr. Sie ist auch die größte Drüse des Organismus. Zu ihren wichtigsten Aufgaben zählen: • Zentrales Metabolismuskontrollorgan des Intermediärstoffwechsels (Auf- und Abbau von Substanzen, Anabolismus/Katabolismus) Metabolismus endogener (körpereigener Stoffe) und exogener Stoffe (Fremdstoffe), Synthese körpereigener Substanzen, Abbau und Modifizierung, Verwertung der Nahrung, Energiegewinnung usw. • Schadstoffe werden in ungiftige Substanzen umgewandelt (Entgiftung), z. B. Ammoniak in Harnstoff oder Ethanol in Acetyl-CoA, welches zur Synthese zahlreicher köpereigener Stoffe verwendet wird. • Cholesterinsynthese (Baustein für Gallensäuren und Steroidhormone wie Glucocorticoide, Mineralocorticoide, Androgene, Östrogene und Gestagene • Nahrungsfette werden in Fettsäuren und Glycerin zerlegt. • Nahrungseiweiße werden zu Aminosäuren abgebaut. • Stärke und Zucker werden zu Glucose abgebaut. • Proteinsynthese, aus Aminosäuren werden zahlreiche Proteine (z. B. Albumin, Globuline [außer Gamma] und Gerinnungsfaktoren wie Fibrinogen und Prothrombin) sowie Enzyme synthetisiert • Energiestoffwechsel (fuel metabolism), Energie vor allem aus Fettstoffwechsel und Glucose • Immunorgan, aktiviert T-Zellen (wie Lymphknoten), recycelt geschädigte und alte Erythrozyten durch Kooperation von Kupffer-Zellen (Lebermakrophagen) und Hepatozyten, stabilisiert das Lebergewebe

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

168

• Speicherorgan für z. B. Fett, Glykogen, Vitamine (A, D, E, K, B12 und Folsäure) und Spurenelemente (Eisen, Kupfer, Zink und Mangan), Regulation von Hormonen, z. B. Insulin • Ausscheidungsorgan, Stoffwechselprodukte werden über das Blut und die Nieren (Urin) oder mit der Gallenflüssigkeit über den Darm ausgeschieden • Drüse (exokrines Organ) (siehe Abb. 4.19) Drüsenfunktion, größte Drüse des Körpers, Sekretion von ca. 1 l Galle/Tag

Drüsentypen Als Drüsen werden Zellen (Becherzellen in Bronchien, Schleim), Zellkomplexe (z. B. Langerhans-Inseln in Bauchspeicheldrüse, Insulin) und Organe (z. B. Bauchspeicheldrüse, Verdauungssaft) bezeichnet, die Sekrete bilden und abgeben (Sekretion). Unterschieden werden exokrine und endokrine Drüsen. • Exokrine Drüsen geben ihr Sekret über einen Ausführungsgang an die Außenwelt (z. B. Schweiß- und Talgdrüsen in der Haut) oder in Körperhöhlen (z. B. Verdauungssekret der Bauchspeicheldrüse) ab. • Endokrine Drüsen (innersekretorische Drüsen, Hormondrüsen) besitzen die keinen Ausführungsgang. Sie geben (Inkrete, Hormone) direkt in eine Körperflüssigkeit (Blut, Lymphe) oder im Falle der parakrinen Sekretion in den Interzellularraum ab.

HAUTZELLEN

DRÜSENZELLEN, endokrin

DRÜSENZELLEN, exokrin

Blutgefäß

Blutgefäß

Abb. 4.19  Drüsentypen, links exokrin (z. B. Galle), rechts endokrin (Hormone). (Eigene Darstellung in Anlehnung an (Stanka, 2013))

4.4  Organtoxizität Leber (Hepar)

169

Nach der Konsistenz des Sekrets können seröse Drüsen (flüssige Sekrete) und muköse Drüsen (viskos-schleimige Sekrete) unterschieden werden.

Gallenflüssigkeit Die Gallenflüssigkeit (ca. 0,7 l/Tag) wird durch Hepatocyten gebildet, ihre Bestandteile sind • Salze der Gallensäuren (konjugiert an Glycin und Taurin) – dienen der Fettverdauung (notwendig zur Fettabsorption) • Cholesterin – wichtiger Bestandteil aller Membranen und eine Ausgangssubstanz der Steroid- und Gallensäurebiosynthese • Lecithine – wichtige Zellmembranbestandteile • Bilirubin – Abbauprodukt des Blutfarbstoffs Hämoglobin, in der Galle an Glucuronsäure konjugiert • Steroidhormone – konjugiert an Glucuronsäure • Fremdstoffe – konjugiert an GSH oder Glucuronsäure

Metabolismus Alle Fremdstoffe, zu denen neben den Nährstoffen auch die Schadstoffe gehören, die über den Magen-Darm-Trakt in den Organismus aufgenommen werden, müssen zunächst durch die Leber, bevor sie in den übrigen Organismus gelangen. Die enorme Kapazität der Leber, Fremdstoffe zu verändern, wird als Fremdstoffmetabolismus (Phase I und II) (siehe auch Abschn. 4.2) bezeichnet. Dieser Fremdstoffmetabolismus dient primär dazu, Schadstoffe zu entgiften und so zu verändern, dass sie schnell wieder ausgeschieden werden können, damit sie keinen Schaden anrichten. Obwohl dies in der Mehrheit der Fälle eine sehr effektive Entgiftung darstellt, führen die gleichen metabolischen Veränderungen in zahlreichen Fällen auch zu einer Aktivierung (Giftung) von Substanzen, die erst durch diese metabolische Veränderung zu einem Schadstoff werden.

4.4.2 Leberschädigung – Hepatotoxizität Leberfunktionsproben Um eine Hepatotoxizität festzustellen, stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung, wie die sog. Leberfunktionsproben und die Histopathologie. Als Leberfunktionsproben werden Verfahren bezeichnet, die darauf beruhen, dass die Schädigung der Hepatocyten zum Austritt von Zellinhaltsstoffen führt, wie z. B. Enzymen. Die Aktivitäten der ausgetretenen Enzyme können im Blutserum zur Diagnostik von Leberzellschädigungen gemessen werden.

170

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

In der Routinediagnostik sind am gebräuchlichsten: • AST/ASAT (Aspartataminotransferase) bzw. alte Nomenklatur GOT (Glutamat-Oxalacetat-Transaminase), in Geweben des Körpers weit verbreitet, jedoch in hohen Konzentrationen in der Leber • ALT/ALAT (Alaninaminotransferase) bzw. alte Nomenklatur GPT (GlutamatPyruvat-Transaminase), spezifische Aktivität in der Leber am höchsten: Aktivitätsanstieg im Serum  =  weitgehend spezifisches Kennzeichen eines Leberzellschadens • GLDH (Glutamatdehydrogenase), weitgehend leberspezifisches Enzym • γ-GT (Gamma-Glutamyltransferase), vor allem in Leber, Niere, Bauchspeicheldrüse, Milz und Dünndarm, Erhöhung der Aktivität im Serum in der Regel Hinweis auf Leberschaden, inkl. Cholestase (Stau von Gallenflüssigkeit in den Gallengängen) • AP (Alkalische Phosphatase), Erhöhungen vor allem bei Cholestase

Weitere Leberfunktionsproben • Konzentrationen der Gerinnungsfaktoren II, VII, IX, X im Serum – diese Faktoren werden in Hepatozyten synthetisiert, bei Schädigung der Leberzellen Konzentration im Serum erniedrigt • Serumalbumin – Albumine werden in der Leber synthetisiert, bei Schädigung der Leberzellen Konzentration im Serum erniedrigt • Serumbilirubin (Ikterus) – Schädigung der Erythrozyten (Hämolyse) • Störungen des Galleabflusses – Ammoniakgehalt im Blut – ungenügende Entgiftung von Ammoniak zu Harnstoff ergibt Hinweis auf Schädigung der Hepatozyten 

Manchen „läuft eine Laus über die Leber“, anderen kommt „die Galle hoch“  Schlechte Laune: Was hat die Leber mit schlechter Laune zu tun?

Früher dachte man, dass die Leber der Sitz der Gefühle ist. Das ist gar nicht so falsch! wenn Leberfunktionen gestört → Entgiftung klappt nicht mehr richtig → Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Konzentrationsstörungen und Übelkeit Galle hochkommen, Galle übergehen, Gift und Galle spucken, warum ist man dann wütend?

Bauchschmerzen im rechten Oberbauch: Erkrankungen der Gallenblase, Gallensteine, Gallenblasenentzündung, ein Gallengangverschluss, alles sehr schmerzhaft, Schmerzen nerven!

4.4  Organtoxizität Leber (Hepar)

171

Aufbauwissen

Erscheinungsformen toxischer Leberschäden – Vorwiegend zytotoxisches Bild • akute Leberzellnekrose (Nekrose = Zelltod), schwerste Form der Zellschädigung Beispiele: CCl4 , Paracetamol, α-Amanitin • akute hepatozelluläre Hepatitis Beispiele: Halothan, Isoniazid • Steatose (Fettleber) > 5 % Fett; vermehrte Ablagerung von Triglyceriden Beispiele: Ethanol, Methotrexat • Zirrhose, Zerstörung der Leberarchitektur, Ersatz der Leberzellen durch Bindegewebe Beispiele: Ethanol, CCl4, Arsen • intrahepatische Cholestase, Störung des Galleflusses durch Störung der Gallebildung akute Cholestase Beispiele: Östrogene, anabole Steroide chronische Cholestase Beispiel: Chlorpromazin Akute Leberzellnekrose (Nekrose = Zelltod) Die Nekrose ist die schwerste Form der Zellschädigung. Zellen sterben, es folgt eine Entzündungsreaktion, die eigentlich eine Aufräumaktion ist, denn die angelockten Immunzellen übernehmen das Abräumen von Zelltrümmern der untergegangenen Zellen. Der nekrotische Zelltod ist gekennzeichnet durch • Schwellung der Mitochondrien und der gesamten Zelle • ATP-Erschöpfung wegen Stopp der Mitochondrienfunktion • Aktivierung von Proteasen, Endonucleasen und Phospholipasen • Zerstörung der Plasmamembranen • Cytoplasma und Zellorganellen werden in den Extrazellularraum freigesetzt. • Als Folge werden Makrophagen (Fresszellen) angelockt, um diese Materialien zu beseitigen, was zu einer lokalen Entzündungsreaktion führt. • klinische Symptome – leicht: Transaminaseanstieg – schwer: Leberversagen mit Ikterus (Gelbsucht), schwersten Gerinnungsstörungen und Leberkoma • Beispiele: CCl4, Brombenzol, Allylalkohol, Dimethylnitrosamin, Paracetamol Je nach Schadensausmaß heilt eine Leberzellnekrose durch Zellteilung überlebender Leberzellen komplett ab oder aber der abgestorbene G ­ ewebeteil

172

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

wird durch Bindegewebe (Narbe) ersetzt, was mit entsprechenden Funktionseinschränkungen einhergeht und im schlimmsten Fall zur Zirrhose führt. Apoptose – Programmierter Zelltod Von der Nekrose abzugrenzen ist die Apoptose. Sie bezeichnet das „normale“ (physiologische) und kontrollierte Absterben einzelner Zellen, im Dienst des gesamten Organismus. Über den Mechanismus der Apoptose (programmierter Zelltod) begehen einzelne Zellen Selbstmord (Suizid). Im Gegensatz zur Nekrose führt die Zelle selbst diese Art des Zelltods durch, sie ist somit Teil des Zellstoffwechsels und dient z. B. der Entwicklung von Geweben und dem Recycling von Zellmaterial. Auslöser der Apoptose können innerhalb oder außerhalb der Zelle sein. So führt ein irreparabler Schaden des genetischen Materials der Zelle (DNA) zur Einleitung der Apoptose, aber auch Immunzellen können die Apoptose von Zellen anregen, wenn diese beispielsweise als Tumorzellen oder als virusinfizierte Zellen erkannt wurden. Unter dem Mikroskop können Apoptose und Nekrose daran unterschieden werden, dass apoptotische Zellen schrumpfen und ein geordneter Abbau der DNA durch Endonucleasen stattfindet, während nekrotische Zellen anschwellen und ihre Zellmembran zerstört wird.

4.4.3 Hepatotoxische Schadstoffe Beispiel Tetrachlorkohlenstoff (Tetrachlormethan, CCl4) • gewerbliches Lösemittel bei Maschinenreinigung (früher Feuerlöschmittel, Reinigungsmittel im Haushalt) • ADME: orale oder inhalative Aufnahme Verteilung in ZNS, Leber, Niere und Fettgewebe, z. T. Exhalation über Lunge • Leberschaden: nach Latenzphase von ein bis drei Tagen mit vergrößerter, druckempfindlicher Leber, dunklem Urin, Ikterus (Gelbsucht), massivem Transaminaseanstieg und Gerinnungsstörung • Mechanismus: – toxische Leberzellnekrose: Lipidperoxidation, verursacht durch das Trichlormethylradikal (·CCl3) (gebildet durch P450-Oxidase/Dehalogenierung)

Beispiel Paracetamol (N-Acetyl-4-aminophenol) Analgoantipyretikum (schmerzstillend, fiebersenkend) • beim Erwachsenen: > 10 g toxisch, > 15 g letal

4.4  Organtoxizität Leber (Hepar)

173

O HN

O CH3

HN

UDPGlucuronylTransferase

Glucuronat

O CH3

HN

CH3

Sulfotransferase OH

SO4

PARACETAMOL CYP2E1

O HN

O CH3

N GSH

O CH3

HN

CH3

Zellproteine

Glutathion-SSG Transferase

S-Protein

OH

O

Mercaptursäure

NAPQI

OH Kovalente Bindung

Abb. 4.20  Paracetamol – Metabolismus (NAPQI, N-Acetyl-p-benzochinonimin). (Eigene Darstellung)

Mechanismus Toxische Leberzellnekrose: kovalente Bindung an Makromoleküle, Oxidation über CYP 2E1 zu N-Acetyl-p-benzochinonimin (NAPQI), welches kovalent an Leberproteine bindet, wenn nicht genügend GSH (Glutathion) zur Konjugation und Ausscheidung vorhanden ist. Die Leberschädigung durch Paracetamolüberdosierung führt beispielsweise in den USA jährlich zu mehr als 100 Todesfällen (Abb. 4.20).

Transferwissen

Paracetamol ist ein klassisches Lehrbuchbeispiel für den Einfluss des Metabolismus auf die Toxizität eines chemischen Stoffes. In niedrigen Dosierungen toxikologisch völlig unbedenklich (Entgiftung durch Konjugation, UGT11 und SULT12), dagegen bei hohen Dosen tödliche Toxizität dadurch, dass durch Sättigung eines Stoffwechselweges bzw.

11 UGT = UDP-Glucuronyltransferase. 12 SULT = Sulfotransferase.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

174

Mangel eines Substrates ein völlig neuer Metabolit (NAPQI) entsteht und dieser zu einer lebensbedrohenden Situation führt (wegen kovalenter Bindung an Leber- und Nierenproteine). Das P450-Enzym (CYP 2E1) ist durch EtOH induzierbar, was bedeutet, dass Alkoholkonsum die Schadwirkung von Paracetamol verstärkt! Paracetamol: Vergiftungssymptome (vier Stadien) 1. Stadium 1 (bis 24 h) GIT (Übelkeit, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Blässe, Oberbauchschmerzen) 2. Stadium 2 (nach 24 h) Leberschädigung (GOT, GPT), Abfall der Gerinnungsfaktoren, Bilirubin 3. Stadium 3 (3.–4. Tag) Leberversagen, Ikterus, metabolische Azidose, Hypoglykämie, hämorrhagische Diathese und hepatische Enzephalopathie 4. Stadium 4 (nach 5 Tagen) Leberzellnekrosen, Krämpfe, Kollaps, Atemdepressionen, Coma hepaticum Beispiel: Amatoxine (Westendorf & Barth, 2019, S. 1077 f.) • verantwortlich für die Knollenblätterpilzvergiftung • Prototyp: alpha-Amanitin • Hemmung der RNA-Polymerase II – dadurch Hemmung der Proteinsynthese

• lange Latenzzeit (6–24 h, meist 8–12 h) • Mechanismus: toxische Leberzellnekrose: Hemmung der Proteinsynthese – zwei Phasen:

1. schwere Reizung des Gastrointestinaltraktes (Brechdurchfall) 2. schwere Schädigung der Leber (3. Tag) • letale Dosis: 0,1 mg/kg (1 Pilz = 8–20  mg) • Letalität: ca. 15 % (Kinder: 50 %) Beispiel: Halothan • Akute hepatozelluläre Hepatitis (Entzündung der Leber) kann zu akutem Leberversagen führen; wird häufig durch Virusinfektionen verursacht, kann aber auch durch die Einwirkung chemischer Schadstoffe entstehen Beispiel Halothan • 2-Brom-2-chlor-1,1,1-trifluorethan

4.4  Organtoxizität Leber (Hepar)

175

• Inhalationsnarkotikum • In 1:10.000 bis 1:100.000 Fällen (Patienten mit Allgemeinanästhesie): oft schwer verlaufender Leberschaden mit massivem Anstieg der Serumtransaminasen und des Serumbilirubins → Halothanhepatitis • Mortalität: 70 % • Mechanismus: Sensibilisierung scheint zugrundezuliegen: – selten bei Erstexposition – Latenz zwischen Narkose und Hepatitis bei wiederholter Exposition verkürzt – begleitende Überempfindlichkeitserscheinung: Fieber, Schüttelfrost

Beispiel Ethanol • • • • • •

Ethanol stimuliert den Fettumsatz der Leberzellen Anhäufung freier Fettsäuren in Leberzellen Stimulierung der Lipidsynthese Hemmung der Fettoxidation gestörte Bildung und Freisetzung von Lipoproteinen chronische Toxizität: Fettleber →Fettleber-Hepatitis →Zirrhose Aufbauwissen

Die Leber hat trotz der starken Durchblutung zwei ernste Probleme zu lösen, die eng mit den Fremdstoffen, die auf die Leber einströmen und mit der Sauerstoffversorgung zusammenhängen, denn das der Leber zugeführte Blut 1. ist nicht wie bei anderen Organen ein rein arterielles und deshalb sauerstoffreiches Blut, sondern es ist gemischt aus venösem und arteriellem Blut. Dies bedingt zumindest partiell Probleme der Sauerstoffversorgung der Zellen und die Leber 2. enthält ständig Fremdstoffe, die die Leberzellen (Hepatozyten) direkt treffen und gleichzeitig unschädlich gemacht werden müssen. Anmerkung: Das von der Leber abführte Blut gelangt über die drei Lebervenen in die Vena cava inferior, die untere Hohlvene, und von dort in die rechte Herzvorkammer. Die vielfachen und auch sehr unterschiedlichen Aufgaben der Leber, verbunden mit ihrer ausgeprägten „Frontstellung“, zeigen, dass einer prinzipiell immer möglichen Schädigung der Leber durch chemische Stoffe in der Toxikologie eine außerordentlich intensive Aufmerksamkeit geschenkt werden muss.

176

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Sie zeigt auch, dass die hohe Regenerationsfähigkeit der Leber eine Grundbedingung für das Überleben des Organismus ist und deshalb eine reversible Schädigung u. U. akzeptiert werden kann.

Lebertumoren Wie in jedem Organ oder Gewebe können theoretisch alle vorhandenen Zelltypen entarten und Tumoren bilden. Wichtig ist auch der Zusammenhang zwischen Erkrankungen wie Zirrhose (EtOH) und Tumorbildung sowie Ernährung (Schimmelpilz) und Arzneimitteleinnahme (Hormone, Anabolika) und Lebertumoren. Aufbauwissen

Häufigste Lebertumoren • hepatozelluläres Karzinom Ein bösartiger Tumor, der direkt von den Leberzellen (Hepatozyten) ausgeht. In Asien und Afrika ist eine häufige virale Vorerkrankung die Hepatitis B, in Europa dagegen besteht eine direkte Beziehung zur Leberzirrhose (chronischer EtOH-Genuss). Schadstoffverursacher: Das stärkste Leberkarzinogen ist das Schimmelpilzgift Aflatoxin B1! • Hämangiom häufiger gutartiger Tumor der Leber, der von Zellen der Blutgefäße ausgeht Ursache weitgehend unbekannt, Behandlung in der Regel nicht erforderlich • Hämangiosarkom bösartiger Tumor, der von Endothelzellen von Blutgefäßen ausgeht Schadstoffverursacher: Vinylchlorid • Leberadenom relativ häufiger, gutartiger Tumor der Leber, ausgehend von Drüsengewebe Schadstoffverursacher: hormonelle Kontrazeptiva, anabole Steroide • Cholangiokarzinom (Gallengangskarzinom) bösartiger Tumor, der von Gallengangszellen ausgeht, in Asien oft auch verbunden mit Parasitenbefall Schadstoffverursacher: Thoriumdioxid (radioaktives Isotop, früher in der Röntgendiagnostik verwendet)

4.5  Organtoxizität Nieren

177

4.5 Organtoxizität Niere (Cojocel & Keller, 2019) Ziele dieses Teils der Vorlesung • • • •

Warum ist die Niere ein lebenswichtiges Organ? Warum ist die Niere häufig Zielorgan für Schadstoffe? Diagnose von Nierenschäden Welche Nierenschäden muss man sich merken?

Die Niere ist ein Schlüsselorgan, dem auch in der Toxikologie eine besondere Rolle zukommt. Es ist deshalb erforderlich, diesem Organ die volle Hälfte einer Vorlesungsveranstaltung zu widmen. Die beiden Nieren gehören neben Lunge und Leber zu den am besten durchbluteten Organen, was ein Hinweis ist auf ihre vielfältigen und außergewöhnlich wichtigen Aufgaben als Ausscheidungsorgan, aber auch als Organ, das entscheidend an der Regulation wichtiger physiologischer Prozesse beteiligt ist. Aus diesen Gründen sind Schädigungen und daraus folgende Erkrankungen der Nieren besonders folgenreich.

4.5.1 Anatomie/Architektur der Niere Die Studierenden müssen Grundkenntnisse zur Anatomie der Niere erwerben, denn nur mit diesen Kenntnissen kann ihre Funktion und auch die Art und Weise sowie die Häufigkeit ihrer Schädigung durch Schadstoffe verstanden werden. Die Nieren sind ein paariges Organ. Beide Nieren liegen in der Lendengegend hinter der Bauchhöhle (retroperitoneal). Eine Niere wiegt ca. 120–200 g und ist ca. 12 cm lang, 6 cm breit und 3 cm dick. Die Form ist bohnenförmig (Abb. 4.21). Bei der Beschreibung der Anatomie einer Niere wird in der Regel zwischen Nierenrinde, Nierenmark und Nierenbecken unterschieden. Wenn weiter ins Detail gegangen wird, um die Funktion der Niere als Ausscheidungsorgan zu erklären, muss die Architektur der kleinsten funktionellen Einheit der Niere, des Nephrons, beschrieben werden.

Nierenrinde (Cortex) Enthält die Nierenkörperchen (Glomeruli), in denen das Blut filtriert wird (Ultrafiltration), und gewundene Abschnitte, die Nierenkanälchen (Tubuli), in denen die für den Organismus wichtigen Substanzen wieder rückresorbiert werden. Nierenmark (Medulla) Enthält ca. zehn bis 20 Nierenpyramiden (Sammelrohre + Henle-Schleife). Die Spitze jeder Pyramide bildet die sog. Nierenpapille.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

178

VENE

ARTERIE

Niere

Harnleiter

Blase Harnröhre

Abb. 4.21  Lage der Nieren inkl. Harnleiter (Ureter), Harnblase (Vesica urinaria) und Harnröhre (Urethra). (Eigene Darstellung)

Nierenbecken (Pelvis) Im Nierenbecken wird der Harn gesammelt und in den Harnleiter abgeführt. Über die beiden Harnleiter wird er kontinuierlich in die Harnblase geleitet, von wo er von Zeit zu Zeit über die Harnröhre ausgeschieden wird (Abb. 4.22). Nephron Eine Niere besteht aus ca. 1 Mio. Nephronen, der harnbildenden Grundeinheit der Niere, auch als kleinste Nierenfunktionseinheit bezeichnet (Abb. 4.23). Jedes Nephron bildet zunächst den Primärharn, indem es viel Flüssigkeit und Stoffe aus dem Blut abfiltriert und anschließend die Bestandteile des Primärharns wieder zurückgewinnt, die der Organismus noch benötigt. Das Endprodukt jedes Nephrons ist der Sekundärharn. Der harnbildende Teil eines Nephrons besteht aus einem Nierenkörperchen und dem Tubulussystem. Zum Nierenkörperchen gehören der Glomerulus und die Bowman-Kapsel. In den Kapselraum wird der Primärharn filtriert.

4.5  Organtoxizität Nieren

179

Abb. 4.22  Niere und Nebenniere. (Quelle: Public Domain National Cancer Institute (Hoofring, 2007))

Nebenniere Bindegewebe Fe schicht NIERE

Nierenbecken Harnleiter

Nierenarterie

GLOMERULUS

Nierenvene Harnleiter

TUBULUS

Abb. 4.23  Nephron schematisch (Nierenkörperchen + Nierenkanälchen). (Quelle: Eigene Darstellung)

Primärharn • Ultrafiltration im Glomerulus: Das Ultrafiltrat wird als Primärharn bezeichnet (etwa 170–180 l/Tag, entspricht ca. 120 ml/min/Niere). • Primärharn enthält alle löslichen Bestandteile des Blutes mit Ausnahme fast aller Eiweißstoffe, welche im Blut zurückbleiben. • Moleküle > 60 kD werden zurückgehalten, Moleküle bis 5 kD passieren ungehindert, Moleküle 15–60 kD passieren eingeschränkt. • Im Primärharn sind wertvolles Wasser und viele lebenswichtige niedermolekulare Substanzen enthalten, wie z. B. Glucose, Aminosäuren und Ionen.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

180

Efferente (abführende) Arteriole Nierenkörperchen (Glomerulus)

BowmanKapsel

Proximaler Tubulus Sammelrohr

Juxtaglomerulärer Apparat Distaler Tubulus Afferente Arteriole Henle-Schleife Bogenarterie Sammelrohr Bogenvene

Peritubuläre Kapillaren

Abb. 4.24  Nephron – Physiologie. (Quelle: Public Domain (Radons, 2012))

Nierenkanälchen (Tubuli) Im Bereich der Nierenkanälchen (Tubuli), vor allem im proximalen Tubulus, müssen ca. 178 l Wasser inkl. der genannten lebenswichtigen Substanzen rückresorbiert werden. Der täglich ausgeschiedene Sekundärharn beträgt im Schnitt ca. 2 l. Das Tubulussystem wird vereinfacht in drei Abschnitte aufgeteilt: 1. Proximaler Tubulus: beginnt in der Bowman-Kapsel und verläuft zunächst gewunden und dann gerade absteigend 2. Henle-Schleife: dünnere, u-förmige Fortsetzung des proximalen Tubulus mit einem absteigenden und einem aufsteigenden Schenkel 3. Distaler Tubulus: dickerer, gerade aufsteigender Teil, der schließlich über ein Verbindungsrohr mit anderen Tubuli in ein Sammelrohr mündet; von dort fließt der Sekundärharn über das Sammelrohr ins Nierenbecken

Aufbauwissen

Als Ergänzung zum Grundwissen über die Niere, ihren Aufbau und ihre Funktionen sollen den Studierenden, denen das Verständnis besonders wichtig ist, weitere Details und Erklärungen angeboten werden.

4.5  Organtoxizität Nieren

181

Erklärungen zu Abb. 4.24 Nephron: 1. Nierenkörperchen (Glomerulus) Der Glomerulus besteht aus einem kapillaren Arterienknäuel. Unter konstantem Druck (50 mm Hg), d. h. unabhängig vom aktuellen Blutdruck, wird im Glomerulus das Blut ultrafiltriert (siehe unten „Interne Blutdruckregulation der Niere [Autoregulation]“). Die Ultrafiltration des Blutplasmas erfolgt durch Poren der Kapillarendothelien (70–90 nm) und schlitzförmige Spalten der auf den Kapillaren sitzenden, speziellen Zellen, den Podozyten. 2. Efferente (abführende) Arteriole führt das ultrafiltrierte Blut vom Glomerulus weg 3. Bowman-Kapsel Der durch Ultrafiltration im Glomerulus entstandene Primärharn (insgesamt ca. 180 l pro Tag!) tropft in eine blinde Aussackung des proximalen Tubulus, die Bowman-Kapsel. 4. Proximaler Tubulus Der proximale Tubulus ist sehr reich an Mitochondrien, was auf einen besonders hohen Stoffwechselaufwand hinweist. Dieser wird benötigt für die aktive Rückresorption von Wasser und allen wertvollen Stoffen, wie z. B. Glucose und Aminosäuren, die im Körper verbleiben sollen. Dies führt zur starken Konzentrationserhöhung aller im Harn verbleibenden Stoffe, wodurch auch die Konzentration von Schadstoffen stark erhöht wird. Dies ist die Ursache, weshalb die Zellen des proximalen Tubulus zumeist das Ziel für Schädigungen durch Schadstoffe darstellen. 60–80 % der filtrierten Flüssigkeitsmenge werden im proximalen Tubulus zurückgewonnen, 20–40 % gelangen in die Henle-Schleife. 5. Sammelrohr Das Sammelrohr ist ein feines Rohr, das dem Abfluss des Harns aus den Nephronen dient. Die Sammelrohre verlaufen von der Nierenrinde durch das Nierenmark und münden in den Nierenpapillengang und dieser wiederum über einen Nierenkelch in das Nierenbecken. 6. Distaler Tubulus Dies ist der letzte Abschnitt eines Tubulussystems, an ihn schließt sich ein kurzes Verbindungsstück zum Sammelrohr an. Im distalen Tubulus wird NaCl über einen NaCl-Transporter, der von dem Nebennierenrindenhormon Aldosteron gesteuert wird, in die Tubuluszelle geschleust und anschließend an das Blut abgegeben. Am Ende des

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4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

distalen Tubulus ist der Harn hypoton, d. h., er hat einen geringeren osmotischen Druck als das Blut. 7. Henle-Schleife Die Aufgabe der Henle-Schleife besteht in der Konzentrierung des Harns durch Rückresorption von Wasser im absteigenden dünnen Schenkel der Schleife. Im aufsteigenden dicken Teil der Henle-Schleife befinden sich die Macula-densa-Zellen, die den Natriumchloridgehalt im Primärharn messen (siehe 13). 8. Sammelrohr siehe 5 9. Peritubuläre Kapillaren Über diese Kapillaren verläuft der Sauerstoff- und Stoffaustausch im Nephron. 10. Bogenvene In ihr fließt das sauerstoffarme Blut, das die Niere verlässt. 11. Bogenarterie In ihr fließt das Blut, das Nierengewebe mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. 12. Afferente Arteriole Sie führt das zu filtrierende Blut dem Glomerulus zu. 13. Juxtaglomerulärer Apparat Er ist ein wichtiges Steuerungszentrum für den Wasser- und Elektrolythaushalt im Nephron. Er befindet sich dort, wo der aufsteigende Teil der Henle-Schleife mit den vom Glomerulus wegführenden (efferente Arteriole) und den zum Glomerulus hinführenden Blutgefäßen (afferente Arteriole) zusammentrifft. Das Ziel dieses direkten Kontakts ist eine Feinregulation der Harnproduktion und des Ionenhaushalts.

4.5.2 Aufgaben der Nieren Die wichtigsten Aufgaben der Nieren • Abwehr von Gefahren durch die Ausscheidung von gelösten endogenen Stoffwechselprodukten (z. B. Harnstoff) und exogenen Schadstoffen • Regulation des Ionen- und Wasserhaushaltes (Osmoregulation) • Regulation des Säuren-Basen-Gleichgewichtes (pH-Wert, Elektrolyte) • Zwischenstoffwechsel für Zucker (Gluconeogenese) • Rückresorption wichtiger Substanzen wie Wasser, Glucose und Aminosäuren • Regulation des Blutdrucks (Barorezeptoren und Renin-Angiotensin-System) • Regulation der Bildung roter Blutkörperchen (Erythrozyten) • endokrine Funktion (Hormondrüse) durch die Synthese von Erythropoietin, Renin oder die Aktivierung von Vitamin D

4.5  Organtoxizität Nieren

183

Aufbauwissen

Konzentrierung des Harns – Mechanismen Die Konzentrierung des Primärharns in den Nierenkanälchen erfolgt durch Rückresorption von Wasser, Ionen, Salze, Aminosäuren, Zucker und andere Kohlenhydrate sowie kleine Proteine. Dabei wird das Wasser zum größten Teil durch Osmose (passive Diffusion) rückresorbiert, während wertvolle gelöste Stoffe wie Glucose, Na+, K+, Ca2+, Cl−, HCO3 und HPO4 zum größten Teil durch aktiven Transport (d. h. Energieverbrauch) rückresorbiert werden. Abfallprodukte (ausscheidungspflichtige Stoffe) verbleiben im Urin und werden ausgeschieden. Die energiesparende Rückresorption des Wassers durch Osmose wird dadurch ermöglicht, dass nach dem aktiven Rücktransport von Na+ aus dem Tubulus der osmotische Druck in der Umgebung des Nierenkanälchens zunimmt und infolge der großen Wasserpermeabilität der Wand des kapselnahen Tubulus und des unterschiedlichen osmotischen Drucks folgt dann das Wasser dem rückresorbierten Na+ osmotisch nach. Interne Blutdruckregulation der Niere (Autoregulation) Um eine gleichbleibende Filtration zu erreichen, besitzt die Niere eine eigene interne Blutdruckregulation (Autoregulation), die von neuraler oder endokriner Beeinflussung unabhängig ist. Im Blutdruckbereich zwischen rund 75 und 180 mmHg bleibt sie weitgehend unabhängig von der Höhe des aktuellen Blutdrucks. Die Autoregulation ist Aufgabe des juxtaglomerulären Apparates, der mithilfe der Macula-densa-Zellen, die den Natriumchloridgehalt messen, Einfluss auf die zu- und abführenden Arteriolen besitzt. Der zur Filtration notwendige Staudruck wird durch die größere Weite der eintretenden Arteriole (afferente Arteriole) im Vergleich zur austretenden Arteriole (efferente Arteriole) erreicht. Durch diesen Staudruck wird Blutflüssigkeit durch die feinen Poren der Kapillarwände in die Bowman-Kapsel gedrückt. Der Filtrationsdruck setzt sich aus der Differenz der hydrostatischen Drücke in den Kapillaren und dem Innenraum der Bowman-Kapsel abzüglich der Differenz der kolloidosmotischen Drücke in Blutplasma und Ultrafiltrat zusammen. Der kolloidosmotische Druck wirkt dem hydrostatischen Druck entgegen und hält so das Wasser in den Blutgefäßen. Zusätzlich produziert ein weiterer Teil der Macula densa das Hormon Renin. Renin reguliert einerseits über das Hormon Angiotensin den Blutdruck im Blutkreislauf und andererseits das Hormon Aldosteron. Aufgabe des Aldosterons ist, den Wasserhaushalt und den Blutdruck zu regulieren. Aldosteron veranlasst die Niere, Natrium zurückzuhalten und Kalium vermehrt auszuscheiden. Dadurch erhöht sich das Flüssigkeitsvolumen in den Gefäßen, wodurch auch der Blutdruck steigt und ungewollter Salzverlust verhindert wird. Man spricht deshalb insgesamt über das ReninAngiotensin-Aldosteron-System.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

184

4.5.3 Nierenschädigung (Nephrotoxizität, Nephropathie) 

„Das geht mir an die Nieren“ Die Nieren waren den Menschen

bereits in der Antike als besonders verletzlicher Teil des Körpers bekannt, dessen Erkrankungen besonders unangenehm und schmerzhaft sein können, man denke nur an Nierenkoliken. Auch Biker wissen, dass man die Nieren schützen muss, weil es sonst schmerzhaft wird. Wenn mir etwas en die Nieren geht, dann tut mir das sehr weh und ist gefährlich. Eine höhere Empfindlichkeit der Niere gegenüber Schadstoffen, die dieses Organ häufig zum Zielorgan werden lässt, besteht wegen • der guten Blutversorgung, denn daraus resultiert eine ständig hohe Exposition der Niere gegenüber Stoffen aller Art, • der Harnkonzentrierung im Nephron (180 auf 2 l!), denn diese führt zu einer teilweise sehr hohen Konzentration von toxischen Stoffen, die auf die Zellen des Tubulussystems einwirken, • der Aktivität verschiedener Enzyme, die durch metabolische Aktivierung, z. B. diverser CYP450-Isoenzyme, reaktive Metaboliten entstehen lassen.

Nierendiagnostik – Traditionelle Methoden/Parameter • Harnvolumen • pH-Wert-Messung • Proteinkonzentration, Ausscheidung von Proteinen im Harn (Proteinämie) • Zuckerkonzentration, Ausscheidung von Zucker im Harn (Glukosämie) • Harnsedimente (Zellen, Zelltrümmer, Kristalle) (Zentrifugation) • Harnstoffkonzentration im Blut • Kreatiningehalt im Plasma • Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) • Kreatinin-Clearance (Maß für die Klärungsleistung – Plasmavolumen pro Zeiteinheit, das von Kreatinin geklärt wurde) (Kreatinin ist ein harnpflichtiges Stoffwechselprodukt des Kreatins, welches bei der Energieversorgung der Muskeln eine wichtige Rolle spielt.) • Biopsie (Morphologie, Histopathologie) zur direkten lichtmikroskopischen Auswertung von Zellschäden

Aufbauwissen

Diese traditionellen Methoden haben den großen Nachteil, dass sie erst ansprechen, wenn bereits Nierenzellen signifikant geschädigt wurden. Deshalb sind Parameter sehr wichtig, die in der Lage sind, einen noch nicht eingetretenen, aber bereits sich abzeichnenden Schaden an Nierenzellen anzukündigen und gleichzeitig auch einen Hinweis auf den Ort der Schädigung geben.

4.5  Organtoxizität Nieren

185

Hierfür eignen sich einige neue Protein- und Enzymmarker, die mit neuartigen molekularbiologischen Methoden gefunden und anschließend validiert wurden. Da sie im Urin nachweisbar sind und somit keine Blutentnahme erforderlich machen, werden sie als Urinbiomarker bezeichnet. Zwei bewährte Beispiele: • Kim-1 (kidney injury molecule-1) ist ein Transmembranprotein in Zellen des proximalen Tubulus, das im Fall einer Schädigung überexprimiert wird • NGAL (neutrophil gelatinase-associated lipocalin, lipocalin-2) ist ein Glykoprotein, das aus Leukozyten stammt (Neutrophile)

4.5.4 Nephrotoxische Schadstoffe im Überblick – Beispiele Die schädigenden Stoffe können exogener und endogener Herkunft sein.

Endogene Stoffe • Myoglobin • Hämoglobin

Exogene Stoffe Metalle (Schwermetalle) • Cadmium • Nickel • Blei • Chrom Halogenierte Kohlenwasserstoffe • Tetrachlorkohlenstoff (CCl4) • Chloroform Antibiotika • Aminoglykoside • Cephalosporine • Penicilline Herbizide • Paraquat • Diquat

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Mykotoxine (Pilzgifte) • Ochratoxin A • Aflatoxin B1 Zytostatika • Cisplatin (Störung der mitochondrialen Atmung, Auswirkung auf aktive, energieverbrauchende, tubuläre Transportprozesse + Lipidperoxidation) • Methotrexat (Antimetabolit, Folsäureantagonist) Illegale Drogen • Methamphetamin (Crystal Meth)

Transferwissen

Melaminskandal Als „Chinesischer Milchskandal“ beziehungsweise „Melaminskandal“ wird ein 2008 aufgedeckter Lebensmittelskandal in China bezeichnet (Abb. 4.25). Dabei wurden stickstoffhaltige Kunstharzgrundstoffe, namentlich Melamin, in Milchprodukte eingemischt, um so trotz verdünnter Milch einen hohen Proteinanteil vorzutäuschen. Diese Täuschung war möglich, da die Qualitätsanalyse von Milchpulver auf der Proteinbestimmung mit der Kjeldahl-Reaktion beruhte. Diese Methode misst den Stickstoffgehalt, wobei Melamin, wie die Formel zeigt, fast nur aus Stickstoffatomen besteht und so einen hohen Proteinanteil vortäuschen kann. Möglicherweise wurde bereits über Jahre unbemerkt Milch mit Kunststoffvorprodukten gestreckt, denn Melamin ist akut nicht giftig (Skinner, Thomas, & Osterloh, 2010). Die gepanschten Lebensmittel wurden aber 2008 auch in Säuglingsnahrung verwendet und führten zu Nierensteinen und massivem Nierenversagen, sodass knapp 300.000 Babys erkrankten und sechs Säuglinge starben (Wiki, Chinesischer Milchskandal, 2020). Melamin (1,3,5-Triazin-2,4,6-triamin) Geruchloses, weißes Pulver • Hauptverwendung: Melaminharze → Duroplaste, Leime und Klebstoffe • geringe akute Toxizität LD50 Ratte, oral > 3000 mg/kg KGW • Toxizität nach wiederholter Gabe: unter anderem Bildung von Blasensteinen • erhöhte Proliferation des Blasenepithels • Ablagerungen in den Nieren (Kristalle in den proximalen Tubuli) • Nierenversagen

4.5  Organtoxizität Nieren

187

Abb. 4.25  Melamin

NH2 N H2 N

N N

NH2

Nephrotoxische Schadstoffe – Cadmium • Verwendung (nimmt ab): ca.  60  % des Cd-Bedarfs für Legierungen (Korrosionsschutz), Herstellung von Trockenbatterien, Farbpigmenten • Vorkommen: ubiquitär in der Umwelt • ADME: lange Halbwertszeit (10–30 Jahre) wegen Bindung an Metallothionein • orale Aufnahme von Cd-Verbindungen über lange Zeit führt zu irreversiblen Nierenschäden • Proteinurie, Glukosurie, fortschreitende Nierenfibrose • Schädigung des Tubulussystems und des Glomerulus • toxisch relevant: freier Anteil, nicht an Metallothionein (MT) gebunden. MT schützt den Organismus vor einer ausgeprägten Toxizität inkl. Nephrotoxizität, verlängert allerdings auch die Plasmahalbwertszeit • Bei einer Cd-Konzentration in der Nierenrinde von 200 µg/g Gewebe ist bei 10 % der Population, bei 300 µg/g bei 50 % mit Nierenschäden zu rechnen.

Nephrotoxische Schadstoffe – Blei • Verwendung: Batterien (Bleiakkumulatoren, Farben, Rostschutzmittel, früher: Wasserleitungen u. Antiklopfmittel) • ADME: Aufnahme • oral über Gastrointestinaltrakt nur 5–15 % (bei Kindern bis 50 %) • inhalativ >70 % Verteilung • im Blut an Erythrozyten gebunden und rasch verteilt • Speicherung in Knochen und Zähnen • Plasmahalbwertszeit bis 30 Jahre • Elimination renal (75 %), biliär (15 %), Haare, Nägel, Schweiß (10 %) • toxische Wirkung • akut – Bleikoliken, neurologische Symptome wie Schlaflosigkeit, Apathie, Regungslosigkeit/Starrheit und Aggressivität • chronisch – drei Organsysteme stehen bei der Bleitoxizität im Vordergrund: Nervensystem, hämatopoetisches System und Niere

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Nephrotoxische Schadstoffe – Aminoglykosidantibiotika Der toxische Mechanismus dieser Stoffgruppe eignet sich didaktisch sehr gut, um Studierenden eine nephrotoxische Wirkung zu erklären. Geeignete Abbildungen, die folgenden Punkte bildhaft darzustellen, sind zahlreich im Internet verfügbar. • von Bodenbakterien gebildet (Streptomyces-Arten) • breites Wirkungsspektrum gegen gramnegative Bakterien • sehr polar und schwer membrangängig, Aufnahme im Darm über Pinozytose • eingeschränkte Anwendung wegen kritischer Nephrotoxizität (reduzierte glomeruläre Filtrationsrate [GFR], Serumkreatinin, Glukosurie, Proteinurie) • Zielzelle: proximale Tubuluszelle • Mechanismus: Aufnahme in Lysosomen (trapping), Schwellen der Lysosomen, Platzen, Freiwerden lysosomaler Enzyme, Nekrose (Zelltod) • Beispiele: Gentamycin, Streptomycin

Methamphetamin (Crystal Meth) Nierenversagen wegen • Rhabdomyolyse schnelle Zerstörung von Skelett- und Herzmuskel Myoglobin wird frei, wirkt toxisch auf Nephrone • akute interstitielle Nephritis • Entzündung des Interstitiums (extrazelluläre Matrix und Flüssigkeit im Umfeld der Nierentubuli) • Nekrose Tubuluszellen (Zelltod), Nierenversagen • nekrotisierende Vaskulitis* (Entzündung der Blutgefäße) allgemeine Entzündung von Blutgefäßen, häufig in Niere, Nephrotoxizität, Glomerulonephritis Siehe auch Abschn. 4.1.10 „Organtoxizität Haut“, denn der Crystal-MethKonsum, und damit die gesundheitsschädliche Folge der nekrotisierenden Vaskulitis, wirken sich dramatisch auf das Aussehen der Haut aus.

4.6 Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie) (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1201), (Fischer, 2019)

4.6.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung – – – –

Was macht das Nervensystem so besonders? Welche Unterschiede zwischen ZNS und PNS sind toxikologisch relevant? Welche Arten der Schädigung? neurotoxische Schadstoffe

4.6  Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie)

189

4.6.2 Aufgaben des Nervensystems Über eine hoch spezialisierte Zellstruktur bewältigt das Nervensystem 1. Steuerung von Organfunktionen 2. Empfang, Verarbeitung und Weiterleitung von Information (Reaktion auf Umwelt) 3. Umsetzung der Information (Aktion in Umwelt)

4.6.3 Anatomie Nervensystem Zwei Möglichkeiten der Einteilung: anatomisch und funktionell 1. anatomische Unterscheidung (Architektur) a) zentrales Nervensystem (ZNS) (Gehirn + Rückenmark) b) peripheres Nervensystem (PNS) (sensorische und motorische Nerven) 2. funktionelle Unterscheidung a) somatisches Nervensystem (willkürlich) b) vegetatives Nervensystem (unwillkürlich, autonom)

Mechanismen der Signalübertragung 1. direkte Nervenimpulse zur Übertragung von Informationen und Signalen durch 2. elektrische Impulse: Membranpotenziale 3. chemische Impulse: Neurotransmitter (Serotonin, Dopamin, Glutamat, Acetylcholin, u. a.) 4. indirekte Impulse durch Hormone

4.6.4 Nervenzelle (Neuron) – Struktur 1. Fortsätze a) viele Dendriten (bis zu 10.000) b) Axon, kann sehr lang sein, bis zu >1 m, z. B. bei sensorischen Neuronen! 2. hoher Bedarf an Sauerstoff und Glucose 3. keine Teilungsfähigkeit im erwachsenen Organismus (Abb. 4.26)

Aufbauwissen

Man stelle sich vor, dass eine Nervenzelle so klein ist, dass man sie nur im Mikroskop bei 1000-facher Vergrößerung sehen kann, dass aber ihr Axon, also ein wichtiger Teil derselben Zelle, bis zur 1 m lang sein kann

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

190

(Abb. 4.27). Der Zellkörper einiger Motoneuronen befindet sich im Rückenmark, das Axon reicht vom Rückenmark bis zu den Zehen im Fuß, wo sich auch die Synapse befindet. Die Empfindlichkeit dieses Axons liegt auch an dieser Architektur, denn die Versorgung mit Sauerstoff und Glucose auf dieser langen Strecke ist nicht einfach.

Abb. 4.26  Neuron (Nervenzelle). (Eigene Darstellung)

Dendriten Zellkörper

AXON

Synapse

GEHIRN

Spinalganglion Weiße Substanz Graue Substanz Motorisches Neuron

Sensorische Nervenendigung/ REZEPTOR Sensorisches Neuron

PERIPHERER NERV

Abb. 4.27  ZNS-PNS – Nervenleitung, langes Axon. (Eigene Darstellung)

Motorische Nervenendigung/ MUSKEL

4.6  Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie)

191

4.6.5 Zentralnervensystem (ZNS)/Gehirn Das menschliche Gehirn ist ein sehr komplexes Organ. • • • •

100 Mrd. Neuronen pro Neuron ca. 10.000 Synapsen →100 Billionen Verschaltungen 10 Billionen (10 × 1012) Rechenoperationen/Sekunde! Faktor 1000 schneller als leistungsfähige Hochleistungscomputer!!!

Das Gehirn arbeitet auf Grundlage chemischer Prozesse und reagiert deshalb auf zahlreiche Chemikalien empfindlich, was zur Störung der Normalfunktionen führen kann. Das Grundproblem der Schädigung von Nervenzellen (Neuronen) im Gehirn ist, dass geschädigte oder abgestorbene Neuronen nicht erneuert werden können. Der durch einen Untergang von Neuronen frei gewordene Platz im Gewebe wird nicht repariert, sondern durch Bindegewebszellen gefüllt. Neurotoxisch bedingte Schädigungen des Gehirns sind deshalb dauerhaft (irreversibel) und kumulativ. Eine weitere Problematik ist, dass eine allgemeingültige Routinebehandlung für Erkrankungen neurotoxischer Art nicht existiert. Aus diesem Grund ist Prävention, d. h. die Vermeidung neurotoxischer Schäden, unbedingt erforderlich.

Transferwissen

Botschaft an junge Studierende – Nutzung der Möglichkeiten des Gehirns – Entwicklung des Gehirns 1. und 2. Phase der Pubertät: In dieser Phase der Entwicklung des ZNS besteht die größte Chance für eine Optimierung, aber auch das größte Risiko bzgl. der Entwicklung der Hirnleistung. 3. Phase Pubertät (17–25 Jahre) In dieser Phase der Entwicklung des ZNS beginnt die Ökonomisierung der Gehirnentwicklung, das bedeutet, dass der Synapsenüberschuss langsam reduziert wird, und zwar in der Weise, dass nicht benutzte Synapsen (letztlich ca. 70 %) eingespart werden. Die Ökonomisierung des Gehirns ist ein lebenslanger Prozess, der zur Folge hat, dass ungenutzte Fähigkeiten auch wieder, zumindest teilweise, verloren gehen können. Einmal fest angelegte Verschaltungen bleiben allerdings erhalten, weshalb einmal Erlerntes wieder reaktiviert werden kann, zumindest teilweise. Es ist deshalb wichtig, bis zum Alter von 20–25 Jahren möglichst viel zu lernen und zu automatisieren (Sprachen, Musikinstrumente, Mathematik, Sport, Chemie usw.).

192

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Diese Vorlesungsveranstaltung wird genutzt, um den Studierenden eine Vorstellung zu vermitteln, wie wichtig es ist, sich mit Kindern und Heranwachsenden intensiv zu beschäftigen und sie möglichst vielseitig zu motivieren. Eine als „Feldweg“ im Gehirn angelegte Fähigkeit (optimale direkte Verschaltung) kann zur „Autobahn“ ausgebaut werden, eine in dieser Zeit nicht angelegte Fähigkeit muss über Umwege im neuronalen Netz angelegt werden. Die Verschaltung über Umwege ist durch den längeren Weg suboptimal. Als erwachsener Mensch eine Fremdsprache zu erlernen ist mühsam, außerdem wird man diese fremde Sprache trotz aller Mühen niemals fehlerfrei beherrschen. Dieselbe Fremdsprache als Kind zu lernen, geht schnell und mühelos und je nach gesellschaftlicher und schulischer Umgebung kann sie fehlerfrei beherrscht werden. Dieses Prinzip gilt in gleicher Weise z. B. für Sportarten und Musikinstrumente. Lernen ist in jungen Jahren also deutlich einfacher als im fortgeschrittenen Alter, aber auch im Alter ist Lernen noch möglich. Der Grund ist, dass der Hippocampus eines der wenigen Hirnareale ist, in dem auch nach dem weitgehenden Abschluss der Gehirnbildung noch neue Neuronen und vor allem neue Synapsen gebildet werden können (das gilt nicht nach Schädigung). Den Hippocampus selbst könnte man etwas salopp und in der zeitgenössischen Computersprache auch als Arbeitsspeicher unseres Gehirns bezeichnen. Im Hippocampus kommen Informationen aus verschiedenen sensorischen Organen an, werden genau analysiert und bewertet und, wenn als wichtig bewertet, zur Speicherung an die Gehirnrinde weitergegeben. Das bedeutet, dass Lernen nicht im Alter von 20–25 Jahren beendet ist, obwohl im Großteil der Großhirnrinde (Cortex und Neocortex) die Bildung neuer Neuronen oder Synapsen sehr reduziert ist und nur noch teilweise in Amygdala und Hippocampus nachgewiesen werden kann. Immer gilt, dass angelegte Verschaltungen bei Nichtbenutzung wieder abgebaut werden!

Reizübertragung im ZNS Die Reizübertragung im ZNS erfolgt zumeist über Botenstoffe (chemische Substanzen), sog. Neurotransmitter. Im ZNS stehen zu diesem Zweck mehrere Dutzend Neurotransmitter zur Verfügung. Jede Nervenzelle ist zumeist nur für einen Neurotransmitter ausgerüstet. Unterschiedliche Neuronentypen (Spezialisierung) synthetisieren unterschiedliche Neurotransmitter mit jeweils unterschiedlicher Funktion: • biogene Amine: Katecholamine (Dopamin, Adrenalin, Noradrenalin), Serotonin und Acetylcholin (ACh) • Aminosäuren: Gamma-Aminobuttersäure (GABA), Glycin

193

4.6  Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie)

NORADRENALIN ACh

SEROTONIN Angst Reizbarkeit

Leistungssteigerung Aufmerksamkeit

Erkennen mmung Gefühl Mo v

on

Unterstützung Antrieb

Libido Appe t Aggression

Freude Antrieb

DOPAMIN

Abb. 4.28  ZNS – Neurotransmitter – Synapse. (Eigene Darstellung)

SENDENDES NEURON

SENDENDES NEURON

Neuro-

er

metabolisierende Enzyme

SYNAPSE

Transporter Neurotransmi er

EMPFANGENDES NEURON

onsenzyme

EMPFANGENDES NEURON

Rezeptor ZELLULÄRE ANTWORT

Abb. 4.29  Synapse. (Quelle: Public Domain (NIDA, 2014))

Die bekanntesten Neurotransmitter sind Serotonin, Dopamin und Acetylcholin. Die Neuronennetzwerke, die diese Neurotransmitter nutzen, werden als serotonerg, dopaminerg und cholinerg bezeichnet. Die Neurotransmitter werden in der Synapse der sendenden Nervenzelle gebildet und in den sog. Vesikeln gespeichert, sozusagen auf Vorrat (Abb. 4.28).

194

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Synapse • Kontaktstelle zwischen Nervenzelle und anderen Zellen (Sinnes-, Muskel- oder Drüsenzellen) oder zwischen Nervenzellen untereinander (Abb. 4.29) • elektrisches Aktionspotenzial kommt an und wird in chemisches Signal (Neurotransmitter) umgewandelt, danach wieder in elektrisches Signal umgewandelt

Aufbauwissen

Die Übertragung des Impulses von einer Nervenzelle auf eine weitere Nervenzelle erfolgt dadurch, dass in der Synapse des sendenden Neurons durch ein ankommendes Aktionspotenzial Neurotransmitter aus ihren Vesikeln über die präsynaptische Membran in den synaptischen Spalt freigesetzt werden und somit die postsynaptische Membran des empfangenden Neurons erreichen können. Diese Membran befindet sich in der Regel auf den Dendriten der empfangenden Nervenzelle. Auf der postsynaptischen Membran befinden sich Rezeptoren, die genau zu den Transmittermolekülen passen (Schlüssel-Schloss-Prinzip). Dort wirken sie auf die empfangende Zelle erregend oder hemmend, abhängig vom Transmitter oder auch von den empfangenden Rezeptoren. Der entstehende Impuls wird von der postsynaptischen Nervenzelle empfangen und zusammen mit weiteren eingehenden Signalen verarbeitet. Nach der Signalübertragung durch die freigesetzten Neurotransmitter müssen die Neurotransmitter wieder aus dem synaptischen Spalt entfernt werden, damit die Synapse für den nächsten Reiz wieder zur Verfügung steht. Insbesondere für die Transmitter, die eine schnelle Kommunikation bewerkstelligen, hilft dabei die präsynaptische Membran mit Transportproteinen, die für die Wiederaufnahme (Re-Uptake) des Transmitters ins sendende Neuron sorgen. Dort kann der Neurotransmitter wiederverwertet oder abgebaut werden (Recycling).

Beispiel – Reizübertragung in cholinerger Synapse In Abb. 4.30 ist die Reizübertragung dargestellt. Stimulus/Impuls-Regulation (cholinerge Synapse) • nach Impuls durch ACh → Deaktivierung von ACh • ACh wird hydrolysiert durch ACh-Esterase → Cholin → Ende des Stimulus • Cholin wird in Synapse aufgenommen und mit Acetyl-CoA reaktiviert

4.6  Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie) Abb. 4.30  Reizübertragung. (Eigene Darstellung)

195

IMPULS KTIONSPOTE

FREISETZUNG NEUROTRANSMITTER ACETYLCHOLIN (ACh)

STIMULUS * cAMP

(Second Messenger) erhöht

IMPULS IN ZIELZELLE INITIIERT

Schnelle Regulation an den Synapsen Erfolgt durch 1. Hemmung Freisetzung Neurotransmitter 2. Blockierung Rezeptoren (z. B. ACh, Monoamine) 3. Hemmung Rücktransport Neurotransmitter (sog. Re-Uptake-Hemmer, z. B. bei Serotonin und Dopamin) 4. Blockierung abbauender Enzyme: z. B. ACh-Esterase, Monoaminoxidasen (MAO)

Aufbauwissen

Synapsenwachstum bzw. Verschaltung von Neuronen • geschieht in Phasen • abhängig davon, dass sie ‚benötigt‘ werden • Nervenwachstumsfaktor (NGF) lässt Aussprossungen (Axon, Dendriten) der Neuronen wachsen bzw. überleben, wenn Kontakt zum Ziel (Synapsen) ausreichend (Abb. 4.31).

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

196 SYNAPSENWACHSTUM

im Stirnlappen

im visuellen Cortex

0

2

4

6

8

10

20

ZEIT in Jahren

Abb. 4.31  Synapsenwachstum. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an (Stangl, 2009))

Transferwissen

Langsame Regulation an Synapsen (während jugendlicher Entwicklung) • Zu- und Abnahme der Synapsendichte in Großhirnrinde (rasante Zunahme von Geburt bis 20 Jahre, danach Reduktion) • Kindheit bis ca. 13 Jahre: rasante Zunahme Synapsendichte und Dendriten (Maximum wahrscheinlich bei sechs Jahren) – Synapsenüberschuss! (Schaltungen) – stille Synapsen im noch nicht ausgereiften Gehirn Nur Schaltungen, die benutzt werden, überleben (use it or loose it!) 1. Phase Pubertät (11–13 Jahre) und davor viele neue Synapsen und Dendriten > Überschuss! (Schaltungen) – Verdichtung der Neuronen in Hirnrinde, Verstärkung der Isolierung – enorme Steigerung der Gehirnleistung (Lernfähigkeit) – gesteigerte emotionale Erregbarkeit – Neugierde, Detailliebe, sehr genau wissen wollen 2. Phase Pubertät (14–16 Jahre) – Synapsenüberschuss wird langsam reduziert (je nach Nutzung) – größere Risikobereitschaft (besonders in Peergroup) – schwache Kontrolle von Gefühlen und Verhalten – Mut für Neues, tolle Ideen, hohe Streitbereitschaft, Konkurrenzgebaren 3. Phase Pubertät (17–25 Jahre) – Synapsenüberschuss wird reduziert (letztlich um ca. 70 %) – bessere Selbstkontrolle, höhere emotionale Stabilität – bessere Kritik- und Teamfähigkeit – enorme kognitive Leistungsfähigkeit

4.6  Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie)

197

Zentralnervensystem (ZNS) besteht nicht nur aus Neuronen! Wichtige Bindegewebszellen (Gliazellen) sichern Funktion: • Astrozyten Embryonalentwicklung, Metabolisierung von Neurotransmittern, Hormonen, Wachstumsfaktoren, Zytokinen • Oligodentrozyten Myelinproduktion (elektrische Isolierung Axon) • Mikrogliazellen immunkompetente Zellen, spezialisierte Makrophagen • Verhältnis Neuronen:Gliazellen = ca.  1:10

Aufbauwissen

Die Reizleitung erfolgt durch eine elektrische Erregung. Aus diesem Grund muss das Axon gegenüber dem wässrigen Milieu des Organismus gut isoliert sein. Die Isolierung durch eine Myelinummantelung wird durch Oligodendrozyten im ZNS und Schwann-Zellen im PNS produziert. Oligodendrozyten (von gr. oligos –  wenig; dendron –  Baum; zytos – Zelle) zählen zu den Gliazellen. Sie können mehrere Neurone gleichzeitig mit einer Myelinisolierung versorgen, während eine Schwann-Zelle nur ein Neuron im peripheren Nervensystem (PNS) versorgt. Eine Krankheit, bei der das eigene Immunsystem (Autoimmunerkrankung) diese Myelinummantelung zerstört ist die → multiple Sklerose.

4.6.6 Peripheres Nervensystem (PNS) Zum peripheren Nervensystem zählen alle Nervenfasern des Nervensystems außerhalb des ZNS, es besteht aus über 100 Mrd. Nervenzellen. Dieses System verbindet das ZNS mit den Muskeln und den Organen, um Informationen zwischen dem ZNS und dem übrigen Körper auszutauschen (Abb. 4.32).

Aufbauwissen

Afferente und efferente Neuronen Zum einen leitet das periphere Nervensystem sensorische Informationen von den Geweben an das ZNS. So erhält das Gehirn z. B. die Information, dass die Umwelt kalt oder warm ist. Auch Empfindungen wie Schmerzen, Hunger oder Müdigkeit meldet das periphere Nervensystem an das Gehirn. Für die Meldungen des PNS an das ZNS sind die sog. afferenten Neuronen zuständig. Zum anderen überbringt das periphere Nervensystem den Organen, Muskeln und Drüsen auch die sog. motorischen Befehle des ZNS. Es über-

198

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

mittelt der Hand beispielsweise den Befehl, einen Gegenstand zu greifen. Für die Meldungen des ZNS an das PNS sind die sog. afferenten Neuronen zuständig. Über die Axone der Nervenzellen werden die sensorischen Informationen geleitet, viele Axone zusammen bilden einen peripheren Nerv. Nerven, die das Gehirn verlassen, werden Hirnnerven genannt, solche, die das Rückenmark verlassen, werden Spinalnerven genannt. Hirnnerven sind z. B. der Sehnerv und der Riechnerv, aber auch der sehr lange Vagusnerv, der bis in den Bauchraum reicht. Spinalnerven versorgen den gesamten übrigen Körper. Gemäß der Arbeitsweise wird das periphere Nervensystem auch in das somatische und das vegetative Nervensystem aufgeteilt. Dies gilt sowohl für Hirnnerven wie für Spinalnerven. Das somatische Nervensystem ist für alle willkürlichen Vorgänge verantwortlich, das vegetative Nervensystem ist für alle unwillkürlichen Vorgänge und damit auch für das Gleichgewicht im Organismus (Homöostase). Das vegetative System wird weiter unterteilt in das sympathische und das parasympathische System (Abb. 4.33). Sympathikus: zuständig für körperliche und geistige Aktivität Parasympathikus: verantwortlich für die Prozesse im Körper bei Ruhe und Entspannung

Abb. 4.32  PNS – Neuron mit Schwann-Zellen. (Eigene Darstellung)

Dendrit

Zellkern

Soma

AXON

RanvierSchnürring

Schwann-Zelle

Myelinscheide

sche Sy Endknöpfchen

4.6  Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie)

199

ZENTRALNERVENSYSTEM

NS

VEGETATIV (autonom)

SOMATISCH (willkürlich)

SYMPATHISCH

ACh

Sensibles Endorgan

Efferent (ZNS › Peripherie)

PARASYMPATHISCH

ACh

ACh

NA

ACh

Muskel quergest

Ganglion Nervenknoten

Muskel

Afferent (Peripherie › ZNS)

(Skele )

(Eingeweide) ACh = Acetylcholin NA = Noradrenalin

Abb. 4.33  Nervensystem (ZNS + PNS). (Eigene Darstellung)

4.6.7 Schädigung Nervensystem Die Neurotoxikologie untersucht, welche Gefahren dem peripheren und zentralen Nervensystem von chemischen Stoffen drohen. Auf die komplexen biochemischen Prozesse im Nervensystem können Gefahrstoffe schädigend einwirken, indem sie z. B. Rezeptoren aktivieren, blockieren oder die Wiederaufnahme der Neurotransmitter hemmen.

Schädigung des ZNS durch chemische Stoffe

1.

Zellkörper und Axon (Neuronopathie) (Abb. 4.35) direkt: Tod gesamter Nervenzellkörper

(Beispiel: Methyl-Hg)

2.

indirekt: Störung O2- und Nährstoffversorgung

(Beispiele: CO, Cyanid)

3.

Axon (Axonopathie)

(Beispiele: Acrylamid, EtOH, MeOH)

Myelinscheide (Myelinopathie)

(Beispiele: Methyl-Hg, Pb)

Störung elektrische Leitung, weil „elektrische Isolierung“ defekt, diffuse Ausfallerscheinungen 4.

Synapse

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

200

(Beispiele: Nicotin, Kokain, Botox) a) Störung Neurotransmitter/Rezeptoren b) Hemmung Freisetzung Neurotransmitter c) Blockierung Rezeptoren (z. B. ACh, Monoamine) d) Hemmung Rücktransport Neurotransmitter (sog. Re-Uptake-Hemmer, z. B. bei Serotonin und Dopamin) e) Blockierung abbauender Enzyme: z. B. ACh-Esterase, Monoaminoxidasen (MAO)

Abb. 4.34  Kokain – Wirkmechanismus. (Quelle: Public Domain (NCBI, 2021))

PRÄSYNAPTISCHES NEURON DOPAMIN KOKAIN gespeichertes Dopamin Kokainblocker DopaminRe-UptakeTransporter

Rezeptor

Abgabe

SYNAPTISCHER SPALT

POSTSYNAPTISCHES NEURON

Transferwissen

Kokain Die Hauptwirkung des Kokains erfolgt an den dopaminergen Synapsen dadurch, dass es den sog. Dopamin-Re-Uptake hemmt. Dies bedeutet, dass Dopamin länger und stärker wirken kann (Abb. 4.34).

4.6  Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie)

201

Neuron Axon

Myelinscheide

Synapse Muskel NORMALER ZUSTAND

MYELINOPATHIE

NEURONOPATHIE

AXONOPATHIE

Abb. 4.35  Neurotoxizität PNS – Lokalisation der Schäden. (Eigene Darstellung in Anlehnung an (Abraham, Acs, & Albu, 2016))

Schädigungen im peripheren Nervensystem (PNS) Schädigungen im peripheren Nervensystem (PNS) sind im Prinzip immer Schädigungen der Nervenzellen (Neuronen), die in unterschiedliche Kategorien, je nach Stelle des Schadens, unterteilt werden können (Abb. 4.35). Aufbauwissen

Reparatur von Schäden im peripheren Nervensystem (PNS) Im PNS ist die Reparatur von Neuronen möglich. Wenn z. B. nach einer Schnitt-Schädigung eines Neurons, welches einen Muskel innerviert, der Zellkörper überlebt, kann das Axon regenerieren (Abb. 4.36). Das abgetrennte Stück des Axons wird von Schwann-Zell-Lysosomen und Makrophagen entfernt (Recycling). Vom proximalen Ende des Axons (nahe Zellkörper) wächst das Ersatzaxon entlang einer Röhre, die von Schwann-Zellen gebildet wird, in Richtung des Muskels, mit einer Geschwindigkeit von ca. 2–5 mm pro Tag. Wenn dieses Axon tatsächlich den Muskel findet, kann die vorherige Funktion komplett wiederhergestellt werden.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

202

Neuron Axon

Myelinscheide Axone Schwann-Zellen

Synapse Muskel NEURON

NORMAL

SCHADEN

REPARATUR

REPARIERT

Abb. 4.36  Reparatur im PNS. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an (Stevens & Lowe, 1992))

4.6.8 Neurotoxische Schadstoffe Siehe (Tab. 4.8).

Blei (Schäfer, Eisenhans, & Schümann, 2019, S. 765 f.) • metallisches Blei: Staub, Geschosse, Bleigießen • Bleisalze: Farben (Mennige, Pb3O4), Glasuren (Bleisilikate), Bleiglas, alte Wasserrohre: TwVO: 0,04 mg/l (TwVO = Trinkwasserverordnung) 0,28  mg/l (lang. Stehen), 0,02 mg/l (nach 10 min) • Lebensmittel: Gemüse, Innereien, Muscheln (0,2 mg/kg) • Batterien • Benzin (Bleitetraethyl)/Autoabgase bis 1988 (Normal) 2000 (gesamte EU) Die dosisabhängige Toxizität von Blei muss in deutlich unterschiedliche akute und chronische Symptome unterteilt werden. In der akuten Toxizität hoher Einmaldosen stehen Koliken, Übelkeit, erniedrigte Herzfrequenz und eine Bleienzephalopathie, d. h. Kopfschmerzen, Desorientierung, Schlaflosigkeit, Erbrechen, Apathie, Regungslosigkeit, Überaktivität und Aggressivität, im Vordergrund.

4.6  Organtoxizität Nervensystem (Neurotoxikologie)

203

Tab. 4.8  Beispiele neurotoxischer Schadstoffe

1

Lösungsmittel

2

Metalle

Hg, Pb, Cd, Bi, Mn, Tl, Sn,…

3

Pestizide

Lindan, PCB, Organophosphatpestizide,…

4

Medikamente

Zytostatika (MTX, 5-FU, …), Thalidomid, …

Benzol, Toluol, Xylol, Tetrachlorethylen, …

5

Endogene Toxine

Glutamat, …

6

Exogene Toxine

Schlangen, Frösche, Kröten, Insekten, Pilze, Bakterien, Algen, Pflanzen

7

Genussmittel

Ethanol, Nicotin,.

8

Drogen

Speed (Amphetamin + Methamphetamin),…

9

Kampfstoffe

Tabun, Sarin, Soman, Cyclosarin, …

In der chronischen Toxizität einer längeren Exposition niedriger Dosen sind die hauptsächlichen Symptome Nervenschäden, Anämie (Blutarmut), Magenbeschwerden, Depression, Intelligenzdefizit sowie Übererregbarkeit und Konzentrationsstörungen.

Bleifreies Benzin

Die Studierenden wissen oft nicht, warum heute bleifreies Benzin an den Tankstellen verkauft wird. Dies bietet die Gelegenheit zu berichten, was Blei im menschlichen Organismus bewirkt, aber auch wie langwierig und umstritten der jahrelange Prozess von der 1. Ursachenerkennung und Gefährdungsabschätzung (Wissenschaft, Toxikologie) über die 2. Risikoabschätzung (Wissenschaft, teilw. Toxikologie) und 3. Risikobewertung (staatliche/halbstaatliche Fachgremien, Einstufung) bis zum 4. Risikomanagement (Gesetz, Verordnung, Verbot) verlief, letztlich mit dem Ziel der Gesunderhaltung der Menschen und der Minimierung des erkannten Risikos. Bleifreies Benzin in Deutschland 1972  1975 

 eutschland senkt Bleianteil im Benzin auf 0,4 g/l D Umweltbundesamt (UBA) startet Kampf gegen Blei in Benzin

Bleikonzentration im menschlichen Blut in Deutschland >140 µg/l 1976  1983  1988  1994 

 eutschland senkt Bleianteil im Benzin auf 0,15 g/l D in München erste Zapfsäule mit bleifreiem Benzin Deutschland verbietet Blei in Normalbenzin Bleikonzentration im Blut in Manila 235 μg/l, Kairo 300 μg/l

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

204

T½ Blei = >20 Jahre (lagert vor allem in Knochen)

1996  bleihaltiges Superbenzin wird in Deutschland eingestellt, wegen mangelnder Nachfrage 2000  Blei im Benzin wird in gesamter EU verboten 2013  Bleikonzentration im menschlichen Blut in Deutschland  5 µm

Impa

on

1 – 5 µm Se

on

FASERIGE PARTIKEL Interzep on

Diffusion

< 0,5 µm

Luftröhre und Bronchien Die mukoziliäre Clearance, d. h. der Zilienschlag des Flimmerepithels, zusammen mit dem dünnflüssigen Bronchialsekret (Schleim) der Becherzellen, befördert partikuläre, aber auch unerwünschte Fremdstoffe in Richtung obere Atemwege und zum Magen-Darm-Trakt oder zum Abhusten (Sputum).

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

218 PARTIKEL

KEHLKOPF Schleim Zilien Flimmerepithel Becherzellen

Abb. 4.43  Aufbau Bronchialschleimhaut – Flimmerepithel. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Medizinfo, 2020)

Diese mechanische Abwehr, kombiniert mit der Abwehr diverser Krankheitserreger durch Komponenten der Immunabwehr wie Immunglobulin A, Lysozym, Interferon und Komplementfaktoren, bildet eine effektive erste Verteidigungslinie nicht nur gegen Fremdstoffe, sondern auch gegen infektiöse Bakterien- und Virenpartikel (Abb. 4.43).

Alveolarbereich In diesem Bereich sind mehrere Prozesse von entscheidender Bedeutung für den Umgang mit gelösten und ungelösten Schadstoffen. Die Zellen, die maßgeblich daran beteiligt sind, sind die Makrophagen, die sich in den Alveolen frei bewegen können. 1. Makrophagen nehmen durch Endozytose, d. h. Pinozytose oder Phagozytose, Partikel, größere Moleküle, Flüssigkeitströpfchen, Viren o. Ä. auf. 2. „Beladene“ Makrophagen versuchen, die aufgenommenen Schadstoffe oder Partikel abzubauen (Degradation). Im Erfolgsfall entstehen lösliche Abbauprodukte. – gelöste Bestandteile → Lymphdrainage/Blutstrom – ungelöste Bestandteile → Zwischengewebe → Lymphdrainage →Lymphknoten → Blutstrom (interstitielle lymphatische Clearance) – ungelöste Partikel → beladene Makrophagen → mukoziliäre Rolltreppe von Bronchiolen (alveoläre Clearance), ein wichtiger, aber sehr langsamer Prozess, der überladen werden kann → Staublunge – → Bronchien → Luftröhre → Abhusten (Sputum), Verschlucken (Faeces)

4.7.4 Schädigung von Lunge und Atemwegen Lunge und Atemwege sind durch luftgetragene Schadstoffe direkt und ständig betroffen und können daher auf vielfältige Weise geschädigt werden. Eine Übersicht gibt z. B. Abb. 4.44.

4.7  Organtoxizität Lunge

219

WASSERLÖSLICHKEIT GUT Ammoniak Chlorwasserstoff Formaldehyd, Acrolein

Reizung der Epithelien Nase (Lu röhre)

ho ohe he he K Ko Konzentr on nzzeen nttrra on on lange Einwirkung

Verätzung Entzündung Ödeme

WASSERLÖSLICHKEIT MITTEL Schwefeldioxid Chlor Brom Säurechloride

Reizung der Epithelien Lu röhre Bronchien Bronchiolen

ho ohe he he K Ko Konzentr on nzzeen nttrra on on lange Einwirkung

s Bronchospasmen

WASSERLÖSLICHKEIT SCHLECHT S ckstoffdioxid Phosgen, Isocyanate Ozon

Reizung der Alveolen

ho ohe he he K Ko Konzentr on nzzeen nttrra on on lange Einwirkung

Lungenödem Lungenfibrose Lungenkrebs

Abb. 4.44  Schädigung von Lunge und Luftwegen – Abhängigkeit von Wasserlöslichkeit. (Eigene Darstellung)

Fließende Übergänge! Auch weniger gut wasserlösliche Gase/Dämpfe können nach Inhalation hoher Konzentrationen bereits die oberen Luftwege schädigen, bevor sie die Lungenperipherie mit der Alveolarregion erreichen und ein Lungenödem hervorrufen.

Toxisches Lungenödem Flüssigkeitsansammlung in Lunge durch Austreten von Blutflüssigkeit (Plasma) aus Kapillargefäßen in Zwischengewebe und in Lungenbläschen (Alveolen) • • • • • •

Schädigung von Membranen von Alveolen und Blutkapillaren Austritt von Blutplasma in Zwischenzellraum und Alveolarraum Bildung stabiler Schäume, behinderter Gasaustausch Anstieg der CO2-Konzentration (respiratorische Azidose) Beschleunigung der Atmung Begünstigung der Schaumbildung (Surfactant)

Schadstoffe, durch die beispielsweise ein Lungenödem erzeugt wird: Phosgen, Ozon, Cadmiumoxidstaub, Isocyanate

Chronische Obstruktion (COPD) Chronisch entzündliche Prozesse in Bronchiolen werden z. B. durch Rauchen, Stäube usw. verursacht. Dies führt zu einer Atemflussbehinderung, Schleimhautatrophie und immunologischen Überreaktion mit Zerstörung der Bronchialstruktur (COPD), was letztlich zu einem Lungenemphysem führt.

220

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Lungenemphysem/COPD Aufbauwissen

Das Lungenemphysem ist eine chronische Erkrankung, die sich trotz verschiedener Behandlungsmöglichkeiten nicht wieder zurückbildet. Meist tritt ein Lungenemphysem im Zusammenhang mit einer chronisch obstruktiven Bronchitis auf. Beide Erkrankungen werden unter dem Begriff COPD (chronic obstructive pulmonary disease) zusammengefasst. Bei einem Lungenemphysem sind die Lungenbläschen (Alveolen), an denen der Austausch von Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid stattfindet, teilweise zerstört und überdehnt, sodass ihre innere Oberfläche verkleinert ist. In der Folge ist die Ausatmung erschwert, weil die kleinen Bronchiolen, welche in die Lungenbläschen münden, in sich zusammenfallen. Außerdem kommt es zu einer zunehmenden Überblähung der Lunge (Lungenstiftung, 2020).

Lungenemphysem (Beschreibung) • irreversible Überblähung der Alveolen • mögliche Ursachen: – Elastizitätsverlust der Lunge durch entzündliche Veränderungen – Obstruktion der zuführenden Luftwege • Luft kann nicht mehr vollständig entweichen (Rückstau) • Überblähen der Alveolen, Kollabieren der Bronchiolen durch erhöhten Druck beim Ausatmen • verminderter Gasaustausch – Zyanose (Haut bläulich), Atemnot, „Fassthorax“, später (Rechts-)Herzinsuffizienz Der statistisch häufigste Auslöser für COPD und Lungenemphysem ist Zigarettenrauch!

Aufbauwissen

Lungenfibrose Der Begriff Lungenfibrose ist ein Sammelbegriff für zahlreiche unterschiedliche Erkrankungen. Allen diesen Erkrankungen ist gemeinsam, dass Lungengewebe chronisch entzündet ist. Wie bei chronischen Entzündungen üblich, wird das eigentliche Gewebe, hier die Lungenbläschen, in Bindegewebe umgebaut (fibrosiert), was in der Pathologie als massive, diffuse, interstitielle Bindegewebsproliferation (hochgradige interstitielle Fibrose) bezeichnet wird. Das Lungengewebe ist sozusagen vernarbt und verhärtet.

4.7  Organtoxizität Lunge

221

Tab. 4.10  Lungenfibrose vs. Lungenemphysem LUNGENFIBROSE

LUNGENEMPHYSEN

Strukturveränderung des Lungengerüstes infolge von Bindegewebseinlagerung

Irreversible Erweiterung der distal der terminalen Bronchioli befin räume

Einlagerung/Vermehrung von Kollagen

Abbau von Kollagen, Schädigung des Bindegewebes Überblähung der Alveolen

Verkleinerung der inneren Oberfläche

Bronchiolen

Freisetzung von lysosomalen Enzymen, Entzündungsmediatoren und Wachstumsfaktoren, die Fibroblasten zur Kollagenprodukon anregen

Freisetzung von Elastase aus Lymphozyten (Gleichgewicht zwischen Proteasen und An proteasen gestört)

Problem ist das Einatmen

Problem ist das Ausatmen

Die Funktion der Lunge, der Gasaustausch, wird dadurch eingeschränkt, was zu einer verminderten Sauerstoffaufnahme führt. Durch die verminderte Elastizität des Lungengewebes wird zusätzlich die Atemarbeit erschwert, der Atem wird kurzatmig und oberflächlich (Tab. 4.10). Lungenfibrose/Lungenemphysem Vergleich Siehe (Tab. 4.9).

Tumoren in Atemwegen Lungenkrebs (Bronchialkarzinom) und andere werden in GFK I „Mutagenese und Kanzerogenese“ im Detail besprochen. Kanzerogenese natürlicher und künstlicher Mineralfasern • kritische Abmessungen: Länge > 5 µm, Durchmesser < 3 µm, Verhältnis von Länge:Durchmesser > 3 • Biobeständigkeit • Risiko umso höher, je länger, dünner und beständiger die Fasern sind • Asbest • Glas-, Schlacken-, Steinwolle

Transferwissen

Die Auswirkung von Kohlestaub bzw. Zigarettenrauch wird den Studierenden anhand einer Reihe von Fotos vor Augen geführt (Abb. 4.45, 4.46 und 4.47).

222

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Abb. 4.45  Links: Kohlestaubablagerungen in Lungenspitze. Rechts: Mikroskopisch: normales Lungenbläschen. (Eigene Fotos)

Abb. 4.46  Schwarze, netzartige Kohlestaubeinlagerungen aus dem Tabakrauch. Rechts: Mikroskopisch: Abwehrzellen des Körpers, die den Kohlestaub aus den Lungenbläschen entfernen sollen. (Eigene Fotos)

4.7.5 Prüfmethoden Inhalation Zur Bestimmung des Gefährdungspotenzials von Umweltstoffen, Medikamenten und Chemikalien sind Tierversuche erforderlich. Applikationsweg (hier inhalativ) ist von besonderer Bedeutung. Deshalb ist es manchmal erforderlich, Stoffe inhalativ in Tieren zu testen.

4.7  Organtoxizität Lunge

223

Abb. 4.47  Links: Raucherlunge mit einem Krebsknoten. Rechts: Mikroskopisch: Krebszellen wuchern in den Lungenbläschen und füllen diese aus. (Eigene Fotos)

Abb. 4.48  Inhalation – Nasenbeatmung („noseonly“). (Eigene Darstellung)

AEROSOL R

Tiermodelle – Inhalation Die unterschiedlichen experimentellen Methoden der Inhalationsexposition im Tiermodell werden in dieser Vorlesungsveranstaltung nicht besprochen, da dies technologisch hochkomplexe Verfahren sind, die eine sehr weit gehende Spezialisierung voraussetzen. Es wird ein Inhalationssystem näher erläutert, bei dem zumeist Ratten, die obligate Nasenatmer sind, nur über die Nase beatmet werden, das sog. nose-only exposure system (Abb. 4.48).

4.8 Organtoxizität Haut (Merk, 2019) Ziele dieses Teils der Vorlesung • Warum ist die Haut ein lebenswichtiges Organ? • Warum und wann ist die Haut häufig Zielorgan für Schadstoffe? • Diagnose von Hautschäden • Welche Hautschäden muss man sich merken?

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

224

Melanozyten EPIDERMIS

DERMIS

FETTGEWEBE

Schweißdrüse Blutgefäße

Haarfollikel Talgdrüse

Abb. 4.49  Haut – Aufbau. (Quelle: Public Domain US National Institute of Health (NIH, 2010))

4.8.1 Anatomie der Haut Die Haut besteht aus der Oberhaut (Epidermis) mit der äußersten Hornschicht (Stratum corneum), dem Stratum granulosum/spinosum und der Basalmembran, dem bindegewebigen Corium (Dermis, Lederhaut) und zusätzlich dem subkutanen Fettgewebe der Unterhaut (Subcutis) (Abb. 4.49).

Hautschichten und Funktionen • Epidermis (Oberhaut) – Hornhaut (mehrschichtiges, verhorntes Plattenepithel), keine Blut- und Lymphgefäße – Mechanischer Schutz (Stratum corneum, abgestorbene Hornzellen) – Schutzbarriere z. B. gegenüber Infektion durch Mikroorganismen und Viren – Keimschicht (Basalzellen) darunterliegend, liefert Nachschub für die Hornschicht und erneuert diese etwa alle vier Wochen – Keratinozyten produzieren das Keratin, ein Protein und Hauptbestandteil der Hornschicht. Keratinozyten sind auch wichtig als metabolisierende Zellen zur Metabolisierung von Fremdstoffen und Zytokinen, aber auch Substanzen wie Vitamin A.

4.8  Organtoxizität Haut

225

• Dermis (Lederhaut) – Bindegewebe (Kollagen), Zerreißfestigkeit, Elastizität (Lederhaut) – Nervenendigungen (z. B. Temperatur- und Schmerzempfinden) – Drüsen (Schweiß, Talg) – Immunabwehrzellen (Makrophagen, Lymphozyten, Granulozyten, ...) – Stratum papillare Versorgung der Epidermisbasalzellen (Keimschicht) Basalzellen liefern Nachschub für Hornschicht (Turnoverzeit vier Wochen) Melanozyten (Pigmentzellen für Lichtschutz) – Stratum reticulare Blutgefäße (Gefäßkapillaren), Lymphgefäße, Schweißdrüsen, Haarfollikel, Nerven • Subcutis (Unterhaut) – Fettgewebe, Wärme- und Kälteisolierung, Energiespeicher – Nerven, Blutgefäße, Lymphgefäße – lockeres Bindegewebe (Verschiebeschicht)

4.8.2 Aufgaben der Haut Die Haut ist die wichtigste Barriere des Organismus gegen die umgebende Umwelt. Sie schützt den Körper vor Hitze, Kälte, Licht, Verletzungen und Infektionen. Die Barrierefunktion kann grob unterteilt werden in eine physikalische, biochemische, biologische und eine immunologische Barrierefunktion. Die Haut ist aber auch ein Ausscheidungs-, Metabolismus-, Immun-, Sinnes- und Wärmeregulationsorgan. Schädigungen der Haut durch chemische Stoffe können deshalb auf sehr unterschiedlichen Mechanismen beruhen (Tab. 4.11). Tab. 4.11  Haut – Bestandteile und Funktionen Größe | Gewicht | Dicke

70 kg

Bestandteile

Oberhaut (Epidermis), Lederhaut (Corium), Unterhaut (

Barrierefun

on

1,8 m2 | ca. 4 kg | 1,5 – 4 mm s)

· PHYSIKALISCH: Epidermis (Hornschicht, Diffusionsbarriere für polare Stoffe) · BIOCHEMISCH: Lipide (inkl. Talg), Enzyme, an m de · BIOLOGISCH: Hautmikrobiom (mikrobielle Flora) · IMMUNOLOGISCH: Makrophagen, Langerhans-Zellen, Mastzellen, T-Lymphozyten

Perkutane Resorp on

Lipophile Stoffe leicht, geringe Wasserlöslichkeit erforderlich, Alter und Lokalisa on

Fremdstoffmetabolismus

Keranozyten metabolismusfähig, Cytochrom-P450-Isoenzyme u.a.

Ausscheidungsorgan

Rela v ger t ve, aber (Haare) bedeutsame forensische Bedeutung (Metalle, Drogen)

Wärmeregulator, Schutz gegen Wasserverlust, Sinnesorgan, Immunkompetenz

Wird in dieser Vorlesungsveranstaltung nur erwähnt, aber nicht näher ausgeführt

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

226

Aufbauwissen

Haut in Zahlen Zellen 3.000.000/cm2 Schweißdrüsen 100/cm2 Kälterezeptoren (Hand) 5/cm2 Wärmerezeptoren (Gesicht) 25/cm2 Tastrezeptoren (Hand innen) 25/cm2 Talgdrüsen 15/cm2 (keine auf Handinnenseite und Fußsohle) Schmerzrezeptoren 

50–200/cm2

Haut – Ausscheidung • Haare und Schweiß können ein Weg der Ausscheidung für Fremdstoffe sein • Haare: Pb, As, Cd, Th, Drogen, Opiate, Kokain, Cannabis, Amphetamine, Ecstasy – Haare als „Fahrtenschreiber“ von Intoxikationen Wachstumsgeschwindigkeit des Haarschaftes und Lokalisation des Stoffes im Haar mit Aufnahmezeitpunkt und Expositionsdauer korrelieren. • Schweiß: Pb, Cd, Ni, Aminopyrin, Sulfadiazin, Harnstoff

4.8.3 Schädigungen der Haut – Arbeitsschutz Schädigungen der Haut werden grundsätzlich unterschiedlich bewertet und auch gekennzeichnet 1. Hautreizung (skin irritant) reversible Schädigung der Haut (Epidermis) 2. Haut-Korrosion (ätzend) irreversible Schädigung der Haut, d. h. Nekrosen (Zelltod) durch Epidermis (Oberhaut) bis in Dermis (Lederhaut)

Hautreizung (Achtung)

Korrosion (Gefahr)

4.8  Organtoxizität Haut

227

Haut – Art und Mechanismen der Schädigung • Reizung – Lösemittel • Verätzung – starke Säuren und Basen – Alkylanzien – Metallhalogenide • Schädigung von Hautzellen (Keratinozyten, Melanozyten, LangerhansZellen) inkl. Transformation zu Tumorzellen • Allergie – Kontaktallergene, Farbstoffe (inkl. Tattoo-Farben) • Phototoxizität (phototoxische Reaktion) – durch Lichtenergie angeregte Moleküle binden kovalent an DNA-Basen: Zytotoxizität, evtl. mutagene und kanzerogene Wirkung – dosisabhängig, alle Individuen betroffen, wenn Strahlung und Substanz ausreichend hoch – besondere Bedeutung: Psoralene, auch Tetrazykline, Farbstoffe • Photoallergie – dosisunabhängig, nicht voraussagbar, Chlorpromazin, bestimmte Sulfonamide • Schädigung von Zellen der Blutgefäße in der Haut, die zur sog. nekrotisierenden Vaskulitis13 führen

Starke Säuren und Laugen – Schädigungsmechanismus (pH ≤ 2 und pH ≥ 11,5) Starke Säuren verursachen Verätzungen. Starke Laugen verursachen nicht nur Verätzungen, sondern lösen die Haut geradezu auf. Aufbauwissen

Wirkung starker Säuren auf die Haut Struktur und Funktion von Proteinen hängt von ihrer korrekten räumlichen Struktur (Konformation) ab. Die Konformation entsteht durch stabile Wasserstoffbrückenbindungen und ionische Wechselwirkungen. Eine Säure bewirkt durch eine Übertragung von Protonen, dass die Wasserstoffbrückenbindungen gelöst und ionische Wechselwirkungen verändert werden. Dadurch verändert sich die Konformation der Proteine, sie verlieren ihre

13 nekrotisierende Vaskulitis,

eine Blutgefäßentzündung, bei der Blutgefäßzellen untergehen.

228

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

biologische Funktion. Für die betroffenen Zellen bedeutet das, dass sie ihre Struktur und Stoffwechselprozesse nicht länger aufrechterhalten können und sterben. Dieser Zelluntergang bedeutet für die Haut eine Verätzung. Wirkung starker Laugen auf die Haut Durch Einwirkung einer Lauge wirken nicht Protonen, sondern Hydroxidionen auf die Proteine ein. Die dadurch verursachten Ladungsänderungen bewirken zunächst ebenfalls eine Änderung der Konformation und somit einen Verlust der jeweiligen biologischen Funktion. Zusätzlich reagieren Laugen aber auch mit den Lipiden der Zellmembranen. Diese Lipide sind Ester aus einem Alkohol (z. B. Glycerin) und einer Fettsäure, die durch starke Laugen einer Verseifung (Saponifikation) unterliegen, also der irreversiblen Hydrolyse der Fettsäureester. Durch die Spaltung der Lipide lösen sich die Zellmembranen auf, starke Laugen verursachen daher nicht nur Verätzungen, sondern lösen die Haut geradezu auf. Der Tropfen einer starken Lauge verätzt nicht nur die Haut, er frisst ein Loch in die Haut.

4.8.4 Absichtliche Schädigung der Haut Als Aufbauwissen werden zwei Beispiele verwandt, die Studierende der Chemie oder Biochemie unbedingt kennen sollten. Dabei handelt es sich nicht um berufsbedingte Expositionen am Arbeitsplatz, sondern um Expositionen im Privatleben, denen sich Menschen aussetzen, weil sie sich davon schönere Gefühle oder einen schöneren Körper versprechen. Beispiele 1. Crystal Meth (illegale Droge) 2. Tattoos (Körperschmuck) In der Vorlesungsveranstaltung an einer Hochschule, in der diese Beispiele verwendet werden, können zur Verdeutlichung der toxikologisch relevanten Wirkungen auch Fotos gezeigt werden, die erfahrungsgemäß den Studierenden ein klares Bild vermitteln. In einem kommerziellen Buch ist das aus Gründen des Urheberrechts und der Persönlichkeitsrechte nicht möglich. Aus diesem Grund werden in diesem Buch beispielhaft Zitate eingefügt, mit deren Hilfe entsprechende Bilddokumente schnell gefunden werden können.

4.8  Organtoxizität Haut

229

Beispiel – Crystal Meth Die illegale und vielfach konsumierte Droge Crystal Meth verursacht vor allem neurotoxische Effekte, aber auch eine üble Blutgefäßentzündung, die sog. nekrotisierende Vaskulitis. Die zerstörende Wirkung dieser durch Meth verursachten Blutgefäßentzündung betrifft sehr stark die Niere, aber auch das gesamte Blutgefäßsystem des Organismus. Besonders augenfällig ist diese Art der Schädigung beim Blutgefäßsystem der Haut. Eine Fotosammlung des Sheriffs von Multnomah County in Oregon, USA, zeigt dies sehr eindrücklich (County, 2005) (Rose, 2019). Beispiel – Tattoos Eine sehr spezielle und direkte Exposition der Haut mit Fremdstoffen bedeutet die intradermale Applikation von Chemikaliencocktails beim Stechen von Tattoos. Früher waren Tattoos nur sehr begrenzten Bevölkerungsgruppen vorbehalten, heute sind sie zu einer Modeerscheinung geworden, die sich bei etwa 40 % der unter 40-Jährigen findet. Eine detaillierte Darstellung der toxikologischen Sicht auf Tattoos ist in Abschn. 6.2 enthalten.

4.8.5 Toxizitätsprüfung Haut Vorbemerkung Die Studierenden der Gefahrstoffkunde müssen nicht wissen, mit welchen einzelnen Prüfverfahren Stoffe auf ihre reizende, irritierende und ätzende Wirkung auf die Haut geprüft werden können. Die Studierenden sollten aber wissen, dass dazu eine lange Reihe von validierten Verfahren, vor allem alternative in vitroVerfahren, zur Verfügung steht, die in internationalen Richtlinien beschrieben ist. Deshalb sollten sie die folgende unvollständige, aber beeindruckende Liste gesehen haben. Prüfverfahren auf hautschädigende Wirkung • Informationssuche – Literatur und Datenbanken – Analogieschlüsse, z. B. starke Säure oder Base • in silico-Verfahren – quantitative structure-activity relationships (QSARs) for the prediction of skin and eye irritation (MultiCase [KI-System], TOPCAT) • in vitro-Prüfungen – Test No. 430: in vitro skin corrosion: transcutaneous electrical resistance test (TER-Test) – Test No. 431: in vitro skin corrosion: human skin model test – Test No. 435: in vitro membrane barrier test method for skin corrosion

230

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

– Test No. 439: in vitro skin irritation: reconstructed human epidermis test method – Test No. 442E: in vitro skin sensitisation – Test No. 498: in vitro phototoxicity – reconstructed human epidermis phototoxicity test method • in vivo-Prüfungen – Test No. 404: acute dermal irritation/corrosion – Test No. 406: skin sensitisation guinea pig maximisation test and Buehler test – Test No. 429: skin sensitisation: local lymph node assay (LLNA)

4.9 Organtoxizität der Augen (Beyer & Merk, 2019)

4.9.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • Warum und wann sind die Augen Zielorgan am Arbeitsplatz? • Diagnose von Augenschäden • Welche Augenschäden muss man sich merken?

4.9.2 Auge – Anatomie • • • • • • •

Hornhaut (Kornea) Lederhaut (Sklera) Regenbogenhaut (Iris) Aderhaut (Chorioidea) Netzhaut (Retina) Glaskörper (Corpus vitreum) Pupille (Abb. 4.50)

4.9.3 Auge – Exposition • beabsichtigte Exposition – Kosmetika – künstliche Augenwimpern 1930er Jahre: enthielten p-Phenylendiamin schwere Schäden (Nekrosen, Ulzerationen, Erblindungen, Todesfälle) – Augentattoos • unbeabsichtigte Exposition – Arbeitsplatz (chemische und physikalische Einwirkungen)

4.9  Organtoxizität der Augen

231

Abb. 4.50  Auge – Querschnitt (Mensch). (Quelle: gemeinfrei (de Groot, 2012))

4.9.4 Auge – Schädigung – Arbeitsschutz • Sehkraft abhängig von optimaler Zusammenarbeit von optischen Systemen, Photorezeptoren und Sehnerv • Schädigung möglich, sowohl lokal als auch systemisch – lokal (exogene Kontamination) Augenreizung und Augenirritation (ätzend) (Säuren, Basen, Lösungsmittel, Tenside, Oxide, …) Membranlyse, Koagulation, Saponifikation, Reaktion mit Makromolekülen – systemisch Chloroquin (Antimalariamittel) → Keratopathie (Degeneration der Hornhaut) 2,4-Dinitrophenol → Katarakte (Linsentrübung) Methanol → Azidose →  Ödem an Netzhaut → Sehnervschädigung → Erblindung Schwefelkohlenstoff → Netzhaut und Sehnerv → Erblindung

232

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

4.9.5 Toxizitätsprüfung – Auge Die Studierenden der Gefahrstoffkunde müssen nicht wissen, mit welchen einzelnen Prüfverfahren Stoffe auf ihre reizende, irritierende und ätzende Wirkung auf die Augen geprüft werden können. Die Studierenden sollten aber wissen, dass dazu eine lange Reihe von validierten Verfahren, vor allem alternative in vitroVerfahren, zur Verfügung steht, die in internationalen Richtlinien beschrieben ist. Deshalb sollten sie die folgende unvollständige, aber beeindruckende Liste gesehen haben.

Sequenzielles Vorgehen, damit in vivo vermeidbar • Informationssuche (physikalische-chemische Eigenschaften) – Literatur und Datenbanken – pH ≤ 2 und pH ≥ 11,5 (ätzend) • in silico-Verfahren – quantitative structure-activity relationships (QSARs) for the prediction of skin and eye irritation (MultiCase [KI-System], TOPCAT) (Patlewicz, Rodford, & Walker, 2003) • in vitro-Prüfungen – Zellkulturtest Kurzzeitexposition zur Identifizierung von Augenschädigungen (STE) OECD-Richtlinie 491: short time exposure in  vitro test method for identifying chemicals inducing serious eye damage – Prüfung an Hornhaut von Rinderaugen (Schlachthof) OECD-Richtlinie 437: bovine corneal opacity and permeability test method (BCOP) – Prüfung am isolierten Hühnerauge OECD-Richtlinie 438: isolated chicken eye (ICE) test method – Prüfung an künstlich rekonstruierter Hornhaut OECD-Richtlinie 492: reconstructed human cornea-like epithelium (RhCE) • in vivo-Prüfungen – (Kaninchenauge) (Draize-Test) heute sehr selten OECD Richtlinie 405: acute eye irritation/corrosion

4.10 Mutagenität/Genotoxizität (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1199 f.), (Bürkle & Debiak, 2019), (Schwarz, Braeuning, Marquardt, & Schulte-Hermann, 2019)

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

233

4.10.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • Mutagenität – Warum eine Gefahr? • Begriffe wie Mutation, Erbgut, DNA-Replikation, Zellzyklus, Mitose, Meiose und DNA-Repair werden kurz(!) erklärt und beschrieben • Mechanismen – Erzeugung von Mutationen • Prüfmethoden auf mutagene Wirkung • Warum wird Mutagenität als eine besondere Toxizität bewertet?

4.10.2 Grundlagen Erbgut/Mutation/Mutagenität Vorbemerkung Wegen sehr heterogener Grundlagenkenntnisse müssen zunächst alle Studierenden auf einen vergleichbaren Basiswissensstand gebracht werden, weshalb Begriffe wie Mutation, Erbgut, DNA-Replikation, Zellzyklus, Mitose, Meiose und DNARepair kurz erklärt und beschrieben werden müssen. Danach können die für die Toxikologie wichtigen Reaktionen besprochen werden, die für die Erzeugung von Mutationen notwendig sind, und es kann eine Antwort gegeben werden auf die Frage, warum Mutationen eine Gefahr darstellen.

Erbgut – DNA – Chromosomen Aufbauwissen

Definition des Begriffs Mutation im Verlauf der Zeit, zeigt wie sich selbst die Sprache und das Verständnis an den wissenschaftlichen Fortschritt anpassen. • Duden, 14. Auflage, 1958: • Sprunghaft auftretende, erbliche Änderung eines Merkmals • Duden, 23. Auflage, 2004: • Spontan entstandene oder künstlich erzeugte Veränderung im Erbgefüge • Duden, 27. Auflage, 2017: • spontane oder künstlich erzeugte Veränderung im Erbbild In der Toxikologie sind nicht die Begriffe Erbgefüge oder Erbbild, sondern es ist der Begriff Erbgut gebräuchlich. Für die Mutagenität ist deshalb die folgende Definition wichtig: • Mutagenität eines Stoffes ist seine erbgutschädigende Wirkung.

234

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Gleichzeitig gilt • DNA ist der Träger des Erbgutes eines Organismus. • DNA ist identisch in jeder Zelle eines Organismus.

DNA – Chemische Struktur Die DNA (deoxyribonucleic acid) (deutsch: DNS, Desoxyribonucleinsäure) ist aus sog. Nucleotiden aufgebaut. Jedes DNA-Nucleotid besteht aus: • Phosphatgruppe • Zucker Desoxyribose • eine von vier organischen Basen (Heterozyklen) Purinbasen: Adenin (A) und Guanin (G); Pyrimidinbasen: Thymin (T) und Cytosin (C) Durch die Verbindung der Desoxyribosen über Phosphatbrücken entsteht ein Strang der DNA, zwei solcher Stränge (Doppelstrang) bilden das Rückgrat der DNADoppelhelix. In jedem Nucleotid ist die Base an das C-Atom 1 der Desoxyribose gebunden. Je ein Nucleotid des einen Stranges verbindet sich mit einem Nucleotid des anderen über Wasserstoffbrücken, wobei immer eine Purinbase sich mit einer Pyrimidinbase verbindet. Diese Basenpaare bestehen immer aus A-T oder T-A und G-C oder C-G. Die beiden Stränge der Helix verlaufen gegenläufig: Dem 5‘-Ende des einen Stranges liegt antiparallel das 3‘-Ende des komplementären Stranges gegenüber. Diese Enden entsprechen den C5- bzw. C3-Atomen der Desoxyribose. Im Ergebnis handelt es sich bei der DNA um ein Polynucleotid, das aus sehr vielen Nucleotiden besteht und zwei komplementäre Stränge besitzt (Abb. 4.51). Abb. 4.51  DNAGrundstruktur und Basenpaarung. (Quelle: Public Domain (Price Ball, 2020))

5'-Ende ADENIN

THYMIN 3'-Ende

PHOSPHAT DESOXYRIBOSERÜCKGRAT

GUANIN

CYTOSIN

3'-Ende 5'-Ende

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

235

Transferwissen

Entdeckung der DNA Johann Friedrich Miescher gelang 1869 im Labor von Felix Hoppe-Seyler (Universität Tübingen) die erste Isolierung und Aufreinigung von DNA. Er erkannte, dass dieses neue Makromolekül eine Säure sein musste und weder ein Protein noch ein Lipid sein konnte. Da er die Substanz aus den Zellkernen von Leukozyten (Eiterzellen) isoliert hatte, nannte er sie Nuclein. Die weitere Charakterisierung und auch erste Hinweise auf die Bedeutung dieser neuen Substanz gelang Albrecht Kossel, einem deutschen Mediziner und Biochemiker. Besonders beeinflusst hatten ihn die Vorlesungen von Felix HoppeSeyler an der Universität Straßburg. Er setze in Straßburg die Arbeiten von Friedrich Miescher fort. Zusammen mit seinen Mitarbeitern gelang es ihm, die Basen Cytosin, Thymin, Adenin und Guanin als zentrale Bestandteile zu identifizieren. Auch erste Erkenntnisse zur weiteren Struktur und Funktion wurden erkannt, was 1910 zum Nobelpreis für Physiologie und Medizin führte. DNA-Doppelhelix-Story – Skandal Auch die Verheimlichung der wahren Ideengeber bzw. Datenproduzenten gehört dazu. Die Motivation für Betrug in der Wissenschaft liegt häufig in der Möglichkeit, Ruhm und Ehre oder eine attraktive Arbeitsstelle durch sensationelle Befunde zu erhalten. Die als Entdecker der DNA-Doppelhelix gefeierten James Watson, Francis Crick und Maurice Wilkins (Watson & Crick, 1953) (Nobelpreis 1962) behaupteten stets, dass ihnen klar war, dass die DNA aus zwei komplementären Strängen bestehen würde und die Basis für eine Verdoppelung der Information darstellt: „It has not escaped our notice that the specific pairing we have postulated immediately suggests a possible copying mechanism for the genetic material“ (Watson & Crick, 1953). Was sie verschwiegen war, dass sie zunächst andere Vermutungen hatten und dass die entscheidende Analyse zur Aufklärung der DNA-Struktur nicht ihnen gelang, sondern einer Kollegin, Rosalind Franklin, die mittels Röntgenstrukturanalyse den entscheidenden Beitrag lieferte. Die drei Wissenschaftler haben Franklin gemobbt und bestohlen. Sie starb 37-jährig 1957 an den Folgen der Röntgenstrahlen, die sie bei ihrer Arbeit benutzte. Auch in der Nobel-Dankesrede, die James Watson hielt, wird Rosalind Franklin mit keinem Wort erwähnt! Auch die Tatsache, dass die Publikation 1953 in Nature entscheidend auf den Röntgenbildern von Franklin beruht, wurde geleugnet! (Aisslinger, 2022). Wissenschaft war noch nie frei von Betrug!

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

236 Tab. 4.12  Genetischer Code

GENETISCHER CODE ERSTE BASE

T

ZWEITE BASE C

A

G

Phenylalanin

Serin

Tyrosin

Cystein

T

Phenylalanin

Serin

Tyrosin

Cystein

C

C

A

DRIT TE BASE

T

Leucin

Serin

STOPP

STOPP

A

Leucin

Serin

STOPP

Tryptophan

G

Leucin

Prolin

Hi din

Arginin

T

Leucin

Prolin

Hi din

Arginin

C

Leucin

Prolin

Glutamin

Arginin

A

Leucin

Prolin

Glutamin

Arginin

G

Isoleucin

Threonin

Asparagin

Serin

T

Isoleucin

Threonin

Asparagin

Serin

C

Isoleucin

Threonin

Lysin

Arginin

A

START Methionin

Threonin

Lysin

Arginin

G

Valin

Alanin

Aspartat

Glycin

T

Valin

Alanin

Aspartat

Glycin

C

Valin

Alanin

Glutamat

Glycin

A

Valin

Alanin

Glutamat

Glycin

G

G

Genetischer Code • Codon: drei Nucleotide oder Basen • Basentriplett • verschiedene Basen können kombiniert werden • drei Plätze hat jedes Codon zur Verfügung • 64 Möglichkeiten zur Codierung von 20 proteinogenen Aminosäuren • Beispiel: ATG bzw. AUG (RNA): Methionin und Startsignal (siehe auch Tab. 4.12)

Transferwissen

Auch mit der Entdeckung des genetischen Codes ist eine unerfreuliche Geschichte verbunden: Der genetische Code wurde 1961 durch den deutschen Biochemiker Heinrich Mattaei geknackt, im Labor von Marshall W. Nirenberg, USA, der dafür 1968 den Nobelpreis erhielt.

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

237 Chromosomenarm Kinetochor Telomer Centromer

CHROMATID

CHROMOSOM IN METAPHASE

Sonderform – d.h. verdoppelt, beide Chromosomen „Schwesterchromaden“ Gene sch (exakt repliziert)

sch!

HOMOLOGES CHROMOSOMENPAAR

2 Ein-Chromad-Chromosomen sch, stammen von Eltern! Chroma den nicht Genvarianten = Allele

Abb. 4.52  Chromosom/Chromatid. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Chemgapedia, 2020)

In den Zellen von Eukaryoten (Zellkern, Nucleus), zu denen neben den Menschen auch alle Pflanzen, Tiere und Pilze gehören, ist der Großteil der DNA im Zellkern (lat. nucleus, daher nucleäre DNA oder nDNA) als Chromosomen organisiert, die im Zellkern liegen (Abb. 4.52).

Genom/Gene Die Gesamtheit aller Gene eines Organismus wird als Genom bezeichnet. Ein Gen ist ein Sequenzabschnitt auf der DNA, in dem die Information für ein Protein codiert ist. Bei Eukaryoten wie dem Menschen ist die gesamte Information, die einen Organismus ausmacht, auf der DNA codiert und in den Chromosomen verpackt. Der Chromosomensatz des gesunden Menschen besteht aus 46 Chromosomen, wobei 44 Chromosomen als Paare vorliegen, plus die beiden zusätzlichen Geschlechtschromosomen X und Y. Chromosomensatz (Karyogramm) des Menschen Körperzellen (somatische Zellen) • • • • • •

22 homologe Chromosomenpaare 22 Chromosomen von Mutter 22 Chromosomen von Vater Zwei heterologe Chromosomen ein X-Chromosom ein Y-Chromosom – 46 Chromosomen (Abb. 4.53)

238 Abb. 4.53  Karyogramm Mensch (männlich). (Quelle: Public Domain (NHGRI, 2005))

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

1

2

3

6

7

8

13

14

19

4

9

5

10

11

12

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18

20

21

22

x/y

Aufbauwissen

Die Auswertung chromosomaler Aberrationen erfolgt am Mikroskop. Es wird also die Morphologie von Chromosomen beurteilt. Wie bei allen Befunden, die auf der Betrachtung von morphologischen Veränderungen beruhen, kann auch in diesem Fall keine Aussage darüber getroffen werden, durch welche Schädigung (Mechanismus) die Veränderung erfolgte. Dies hat zur Folge, dass Aberrationen auch fälschlicherweise als mutagene bzw. genotoxische Wirkung beurteilt werden, obwohl sie durch einen völlig anderen Mechanismus entstanden sein können. Dies hat sehr wichtige Auswirkungen auf die Risikobetrachtung (Kramer, 1993).

Transferwissen

Geschlechtschromosomen Neben XY (männlich) und XX (weiblich) sind z. B. auch X0 (TurnerSyndrom) und XXY (Klinefelter-Syndrom) möglich, die auch in Deutschland auftreten, nicht immer klar erkannt werden und deshalb den Betroffenen oft unerklärliche Probleme bereiten. „Das Klinefelter-Syndrom, auch Klinefelter-Reifenstein-Albright-Syndrom, [1] mit dem Karyotyp 47, XXY ist eine der häufigsten Formen angeborener Chromosomenanomalien im männlichen Geschlecht und die häufigste Ursache von Hypogonadismus. […] Das klassische Klinefelter-Syndrom tritt bei etwa 1–2 von 1000 männlichen Neugeborenen auf. […] In Deutschland leben somit etwa 41.000–82.000 Jungen bzw. Männer mit dem Klinefelter-Syndrom. Schätzungen zufolge werden jedoch lediglich 25 % aller Personen mit dem Klinefelter-Syndrom zeitlebens diagnostiziert.“ (Wiki, Klinefelter Syndrom, 2020)

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

239

Wie unterscheidet sich das Erbgut (Genom) von Menschen und Menschenaffen? Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans, sozusagen die nächsten Verwandten der Menschen, teilen mit den Menschen etwa 98–99 % des Erbgutes. Nur eine geringe Zahl von sog. chromosomalen Rearrangements, z. B. Translokationen, und eine Chromosomenfusion sind die wesentlichen Unterschiede. Die großen Menschenaffen haben 48 statt der 46 Chromosomen der Menschen, d. h., sie haben ein homologes Chromosomenpaar mehr. Diese Tatsache unterstützte zunächst die Genetiker, denen eine Verwandtschaft des Menschen mit den Menschenaffen nicht gefiel. Es konnte aber gezeigt werden, dass das menschliche Chromosom Nr. 2 ein verschmolzenes Chromosom ist und bei den großen Menschenaffen die zwei ursprünglichen Chromosomen (2A und 2B) noch vorhanden sind. Man nimmt deshalb an, dass sich vor einigen Mio. Jahren, als die Evolution von Menschen und Menschenaffen verschiedene Wege ging, bei der menschlichen Evolution die beiden Chromosomen 2A und 2B zu einem Chromosom verschmolzen. Das Chromosom 2 des Menschen entspricht z. B. den Chromosomen 2A und 2B des Schimpansen so sehr, dass eine Fusion sehr naheliegend ist (De Grouchy, 1987) (Fan, Newman, Linardopoulou, & Trask, 2002). Die Veränderung des Erbgutes (DNA und Chromosomen) von Keimzellen und somatischen Körperzellen hat weitreichende Folgen für den Gesamtorganismus. Derartige Veränderungen in Keimzellen führen zu Erbkrankheiten und solche in somatischen Körperzellen führen zu Krebs.

Zellzyklus – DNA-Replikation Jede Art von Wachstum oder Erhaltung eines Organismus bedingt, dass Zellen sich teilen, d. h. verdoppeln, aus einer Zelle entstehen zwei Tochterzellen, die die identische Erbgutinformation besitzen. Da sich dieser Vorgang ständig wiederholt, spricht man von einem Zellzyklus, in dem sich verschiedene Phasen aneinanderreihen (Abb. 4.54). Damit eine Zelle sich teilen kann, muss zunächst die vorhandene Erbinformation (DNA) verdoppelt werden. Dies geschieht in der S-Phase (S = Synthese). Dieser Synthesevorgang wird Replikation genannt, bei der an jedem Strang ein neuer komplementärer DNA-Strang gebildet wird.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

240

DNA-

on

S Knospung

G2

Spindelbildung

START

M G1

Cytokinese

TOCHTERZELLE

Wachstum

MUTTERZELLE

Abb. 4.54  Zellzyklus schematisch. (Eigene Darstellung)

Aufbauwissen

DNA-Replikation Die DNA-Replikation wird den Studierenden anhand der Abb. 4.55 erläutert. Damit die Replikation starten kann, wird die DNA-Doppelhelix durch das Enzym Topoisomerase zunächst entwunden und im Reißverschlussverfahren durch ein weiteres Enzym, die Helicase, getrennt. Einzelstrangbindende Proteine lagern sich direkt dahinter an, damit die Einzelstränge sich nicht wieder verbinden. Der Helicase folgend synthetisiert die DNA-Polymerase an jedem der beiden Einzelstränge einen neuen komplementären DNA-Tochterstrang. Die DNA-Polymerase benötigt kleine Startsequenzen, RNA-Moleküle, sog. Primer, die von dem Enzym Primase gebildet werden. Für die Synthese eines neuen Stranges verwendet die DNA-Polymerase den frei in der Zelle vorhandenen Nucleotidpool und verbindet die Nucleotide zu den neuen Einzelsträngen. Die Verdoppelung der beiden gegenläufigen Einzelstränge verläuft unterschiedlich, denn die DNA-Polymerase kann einen neuen Strang nur in einer Richtung synthetisieren. Deshalb wird nur einer der beiden Tochterstränge fortlaufend synthetisiert (Leitstrang). Damit beide Stränge der Doppelhelix dennoch gleichzeitig und insgesamt in eine Richtung synthetisiert werden, wird der gegenläufige Tochterstrang (Folgestrang) aus Fragmenten zusammengebaut. Die DNA-Polymerase verdoppelt nur ein kurzes DNAStück von 100–200 Nucleotidbausteinen. Dieser DNA-Abschnitt wird zunächst rückwärts, also entgegen der Helicase gebildet. Dann löst sich die DNA-Polymerase von der DNA, springt in Richtung der inzwischen weitergewanderten Trennungsstelle und produziert erneut einen kurzen

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

241

Abb. 4.55  DNA-Replikation – Replikationsgabel. (Quelle: Public Domain Ladyofhats, (Ruiz & Biech, 2008))

DNA-Abschnitt. Diese so entstandenen, zunächst noch unverbundenen DNA-Teilabschnitte sind die Okazaki-Fragmente (benannt nach Ehepaar Tsuneko und Reiji Okazaki). Die DNA-Polymerase benötigt für diese wiederholten Anlagerungen immer neue Primer. Die DNA-Polymerase entfernt im Anschluss die Primer und füllt die entstandenen Lücken mit passenden Nucleotiden auf. Nach der Polymerase beenden die DNA-Ligasen die Replikation, indem sie die Okazaki-Fragmente verbinden. Im Ergebnis enthält der neue Doppelstrang die identische Nucleotidsequenz wie der ursprüngliche DNA-Doppelstrang und bei der Teilung der Zelle erhalten beide Tochterzellen die identische Erbinformation. Die DNA-Polymerase verknüpft bis zu 7000 Nucleotide pro Sekunde. Trotz dieser hohen Geschwindigkeit müssen Kopierfehler unbedingt vermieden werden, denn die Folge wären ernste Schäden für die Tochterzellen, z. B. Mutationen, die zur Tumorbildung führen. Deshalb erfolgt die Replikation unter einer strengen Qualitätskontrolle. Diese Kontrollaufgabe übernehmen besondere Enzyme, die hinter der Replikationsgabel „korrekturlesen“ und falsche Nucleotide durch korrekte Nucleotide ersetzen. Die erreichte Fehlerquote liegt ungefähr bei einem Fehler pro 1 Mrd. verbundene Nucleotide, was ungefähr einem Schreibfehler auf ca. 500.000 DIN-A4-Seiten entsprechen würde. Es ist wichtig, bei den Studierenden ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie komplex die Prozesse sind und mit welch enormer Geschwindigkeit sie ablaufen, z. B. 5000 einfache DNA-Strangbrüche pro Stunde pro Zelle, die alle möglichst fehlerfrei repariert werden müssen! 2 × 105 reparierte Basenpaare pro Stunde pro Zelle und das bei ca. 30 Billionen Zellen/Mensch. Während der Exposition gegenüber genotoxischen/kanzerogenen Stoffen (oder auch UV-Strahlen) werden diese Reparaturraten noch deutlich erhöht.

242

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Abb. 4.56  Mitose (Prinzip). (Quelle: Public Domain (Mysid, 2009))

Zellteilung – Mitose In der M-Phase (Mitose) des Zellzyklus erfolgt die Teilung des verdoppelten Erbguts der Mutterzelle, um dann in der Cytokinese die Zelle in zwei genetisch identische Tochterzellen zu trennen (Abb. 4.56). Die eigentliche Mitose besteht aus vier Phasen, allerdings werden oft auch die Interphase und die Cytokinese hinzugerechnet. • Interphase Interphase ist nicht Teil der Zellteilung, sie beschreibt den Zeitraum zwischen zwei Zellteilungen. • Mitose – Prophase Chromatin beginnt zu kondensieren, einzelne Chromosomen werden sichtbar. Nucleolus und Kernhülle lösen sich auf. – Metaphase Von den beiden Zellpolen wird ein sog. Spindelapparat gebildet. Die Chromosomen sind maximal kondensiert und lassen sich aufgrund von Größe und Form unterscheiden. An den Centromeren werden die Chromosomen in die Äquatorialebene gezogen (Abb. 4.57). – Anaphase In dieser Phase teilen sich die Centromere. Die Schwesterchromatiden jedes Chromosoms werden getrennt und wandern zu den Polen (Verkürzung der Mikrotubuli). – Telophase Um die Chromosomen an jedem Pol bildet sich eine neue Kernhülle. Die Chromosomen entspiralisieren sich und werden wieder zu Chromatin. • Cytokinese (Zellteilung) Teilung der Mutterzelle in zwei Tochterzellen

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

243

Abb. 4.57  Mitose – Metaphase. (Quelle: Public Domain (Ladyofhats, 2009))

Mutationstypen • Genmutationen • Punktmutationen (einzelne Basenpaare) kleine Deletionen (drei bis sechs Basenpaare) • Chromosomenanomalien • strukturelle Aberrationen – Translokationen, dicentrics, Brüche usw. • numerische Aberrationen – Genommutationen (Chromosomenzahl) – Polyploidie (vervielfachter Chromosomensatz) – Aneuploidie (veränderte Anzahl einzelner Chromosomen) (z. B. Trisomie 21 – Down-Syndrom) • indirekte DNA-Schäden • DNA-Reparatur Punktmutation (Basenpaarmutation) (Abb. 4.58). • veränderte Peptidkonfiguration (z. B. Enzym) • Aktivitätsverlust • neuer, mutierter Organismus

Mutationen = Sinnveränderung • Man bohrt nicht in der Nase  • Man bahrt nicht in der Nase  • Max bohrt nicht in der Nase  • Man bohrt in der Nase   

 riginal O Punktmutation, Basenaustausch Punktmutation, Basenaustausch Deletion

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

244

NORMALE SEQUENZ C T C … .. … G A G

5'

3'

5'

3'

5'

T T C … .. … A A G

3'

5'

G A G

3'

5'

A A G

3'

3'

DNA

mRNA

VERÄNDERTE SEQUENZ

AMINOSÄURE

POLYPEPTID

Glutaminsäure

5'

Lysin

GLU LYS

Abb. 4.58  Punktmutation (Basenpaarmutation), falscher Einbau der Aminosäure LYS statt GLU. (Eigene Darstellung)

DNA-Schäden/DNA-Reparatur DNA-Schäden spielen eine Hauptrolle in der Mutagenese, Karzinogenese und im Alterungsprozess. • DNA-Schäden werden durch exogene Stoffe oder durch endogene Prozesse und Stoffwechselvorgänge hervorgerufen. • Die deutliche Mehrheit der Mutationen in menschlichen Geweben hat ihren Ursprung in endogenen DNA-Schäden. Die endogene DNA-Schädigung erfolgt ständig und spontan, ohne Beeinflussung von außen. Die Auswirkungen endogener DNA-Schädigungen auf die Bildung von Tumoren und anderen Erkrankungen ist beträchtlich. • Da exogene Stoffe die gleichen DNA-Schäden (z. B. DNA-Addukte) verursachen wie endogene Stoffe ist es für die Risikobetrachtung und für präventive Maßnahmen wichtig zu wissen, wie die Reparatur dieser Schäden und die Wechselwirkung zwischen den endogenen Prozessen und den exogenen Stoffen abläuft. • Endogen sind vor allem reaktive Sauerstoffspezies (ROS14) beteiligt, die Lipidperoxide, chemisch reaktive Substanzen wie Aldehyde und eine chemische DNA-Instabilität (z. B. Depurinierung) hervorrufen. 14 ROS = reactive

oxygen species.

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

245

Aufbauwissen

Sauerstoffparadoxon Jede menschliche Zelle ist auf eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff angewiesen. Gleichzeitig ist der Sauerstoff ist ein sehr wirksames Zellgift (Davies, 2016)! Allein der Prozess der mitochondrialen Energiegewinnung (Atmungskette) produziert mehr reaktive Sauerstoffspezies (ROS) als durch exogene Sauerstoffexposition entstehen können. Die ROS sind ein zentrales Problem jeder Zelle, denn sie verändern Lipide, Proteine und Nucleinsäuren und zerstören dadurch deren physiologische Funktion. Während der Sauerstoff als stark zelltoxische Substanz ständig in jeder Zelle in Schach gehalten werden muss, ist es eine der Strategien mutagener und kanzerogener Substanzen, dieses Gleichgewicht zu stören.

Endogene Schädigung der DNA Als Mechanismen stehen im Vordergrund: 1. Oxidative DNA-Schädigung 2. Lipidperoxidation 3. Endogene alkylierende Stoffe 4. DNA-Hydrolyse 5. Hydrolytische Desaminierung Zu 1: Oxidative DNA-Schädigung In lebenden Zellen werden ständig ROS (reactive oxygen species, reaktive Sauerstoffspezies) gebildet. Zu ROS zählen: Superoxidanion (O2−), Wasserstoffperoxid (H2O2), Hydroxylradikale (·O) und Singulettsauerstoff (1O2). Neben Lipiden und Proteinen wird auch DNA oxidiert, was zu verschiedenen DNA-Schäden führt: oxidierte Basen, Einzel- und Doppelstrangbrüche. Die oxidative Schädigung der DNA ist die häufigste Schädigung (siehe Beispiel Cytosin, Abb. 4.59). Zu 2: Lipidperoxidation Mehrfach ungesättigte Fettsäureanteile von Phospholipiden sind extrem oxidationsempfindlich. Kurzlebige Lipidhydroperoxide sind die initialen Produkte dieser Oxidation. Entweder werden sie durch die Glutathionperoxidase reduziert oder sie reagieren mit Metallen und erzeugen Epoxide und Aldehyde (Crotonaldehyd, Acrolein, Malondialdehyd). Aldehyde reagieren mit DNA unter Bildung von zyklischen Produkten, die die Bildung von korrekten Basenpaaren behindern. Malondialdehyd (MDA) gilt als die am stärksten mutagene Substanz dieser Gruppe.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

246 NH2

NH2 H3C N

N

N O

DNA-Methyltransferase

N

H

O

H

CYTOSIN

METHYLCYTOSIN

+ H2O

+ H2O Cy dindesaminase

NH3

Cy dindesaminase

NH3

O

O H3C NH

NH N

O

O

H

H

URACIL Uracil-DNAGlykosidas

DN

N

REPARATUR

METHYLURACIL = THYMIN

PUNKTMUTATION

Abb. 4.59  Beispiel für Basenveränderung (Methylierung von Cytosin). (Eigene Darstellung nach Kleine, 2009, cc-by-sa.3.0)

Zu 3: Endogene alkylierende Stoffe DNA wird sehr häufig auch durch alkylierende Stoffe geschädigt. DNANucleotide können an allen Positionen, die einer chemischen Alkylierung zugänglich sind, durch alkylierende Chemikalien verändert werden. Die wichtigste endogen methylierende Substanz ist das S-Adenosylmethionin (SAM). SAM besitzt eine reaktive Methylgruppe, die physiologisch bei der enzymatischen DNA-Methylierung eine zentrale Rolle spielt, die für Regulation der Genexpression entscheidend ist. Zu 4: DNA-Hydrolyse Die glykosidischen Bindungen zwischen Basen und Desoxyribose sind unter bestimmten Bedingungen wie z. B. erhöhter Temperatur, Alkylierung von Basen und durch die Katalyse von N-Glykosylasen labil. Diese Reaktionen führen zu sog. abasischen Stellen (Depurinierung, Depyrimidinierung).

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

247

Zu 5: Hydrolytische Desaminierung Die DNA-Basen sind gegenüber der hydrolytischen Desaminierung empfindlich. Cytosin und sein Homolog, das 5-Methylcytosin, sind die hauptsächlichen Ziele dieser Schädigung. 5-Methylcytosin gilt als die 5. Base der DNA. Sie paart mit Guanin. Die CpG-Sequenzen sind vor allem an der Regulation der Genexpression beteiligt, indem sie die Genexpression unterdrücken (gene silencing). Bei spontanen Mutationen ist vor allem das 5-Methylcytosin betroffen, da es deutlich leichter desaminiert werden kann und die Reparatur des Schadens länger dauert (De Bont & van Larebeke, 2004). Gefahrenabwehr: Damit Leben erhalten wird, müssen diese Schäden möglichst fehlerfrei repariert werden, dies ist jedoch nicht der Fall, weshalb weitere Mechanismen (z. B. immunologische) zur Verfügung stehen, um Zellen mit nicht fehlerfrei reparierter DNA zu erkennen und notfalls zu entfernen. Durch den enormen Anteil der endogenen DNA-Schädigungen an der Bildung von Tumoren würde eine relevante Verminderung der endogenen Schäden deutlich mehr Wirkung zeigen als die Reduktion der Exposition gegenüber exogenen Schadstoffen. Dies zeigt deutlich die Wichtigkeit und medizinische Bedeutung der Forschung auf dem Gebiet der endogenen DNA-Schädigung und -Reparatur (siehe auch Tab. 4.13).

Exogene Schädigung der DNA Die exogene DNA-Schädigung, also durch äußere Einflüsse verursacht, verläuft über dieselben Mechanismen wie die endogene Schädigung. Dieses Grundprinzip gilt für alle Schädigungen von Organismen, d. h. Schadstoffe erfinden keine neuen Mechanismen der Schädigung, sie nutzen immer die in der Natur bereits vorhandenen Mechanismen. Mutagenität/DNA-Reparatur Die Zellen verfügen über mehrere DNA-Reparatur-Mechanismen. Für die Gefahrstoffkundevorlesung soll es genügen, eine relativ einfache Variante, die sog. Excisionsreparatur, zu erklären und darauf hinzuweisen, was passiert, wenn dieser Reparaturmechanismus fehlt oder beschädigt wird. (Excision = Herausschneiden)

Tab. 4.13  Endogene DNA-Schädigung – Frequenz SCHÄDIGUNGSMECHANISMU S on durch ROS

E REIGNISSE / TAG / ZELLE ohne Angabe

Alkylierung 7-Methylguanin

4000

Alkylierung 6-Methyladenin

600

Alkylierung 6-Methylguanin

10 – 30

Deaminierung Cytosin

100 – 500

Hydrolyse, Depurinierung, Depyrimidinierung

10.000

248

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Abb. 4.60  Excisionsreparatur. (Quelle: Public Domain (LadyofHats, 2011))

Aufbauwissen

Mit der Excisionsreparatur (siehe Abb. 4.60) werden kleinere Schäden von wenigen Basen repariert, die durch Oxidation, Alkylierung oder Desaminierung entstanden sind. Dabei wird die fehlerhafte Base entfernt und durch die passende ersetzt. Die Excisionsreparatur wird gestartet, wenn eine Glykosylase ein fehlerhaftes Basenpaar bzw. eine Unebenheit in der DNA-Struktur erkennt. Durch Endonucleaseaktivität eines Proteinkomplexes wird die veränderte Base herausgeschnitten. Danach spaltet eine Phosphodiesterase einige Nucleotide vor und hinter der defekten Stelle jeweils eine Phosphodiesterbindung. Im entstandenen Fragment werden die Basenpaarungen durch eine Helicase getrennt. Die entstandene Lücke wird nun mit einer Polymerase und den passenden Nucleotiden wieder aufgefüllt und die noch offenen Bindungen des Fragments an die DNA werden durch Ligasen geschlossen.

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

249

Transferwissen

Xeroderma pigmentosum (Mondscheinkrankheit) Was passiert, wenn z. B. die Reparatur von UV-Schäden der DNA nicht funktioniert? Dies zeigt sich deutlich bei einem genetisch bedingten Fehlen der Excisionsenzyme. Dieser Gendefekt führt zu der Erkrankung Xeroderma pigmentosum (auch Mondscheinkrankheit genannt). Einen wirklichen Eindruck, wie dieser Reparaturdefekt sich für die betroffenen Menschen auswirkt, kann aus Gründen der Nutzungsrechte und des Personenschutzes nicht direkt gezeigt werden. Die folgende Literaturstelle soll als Ersatz dienen: Halpern, Hopping, & Brostoff, 2019. Die Erkrankten können DNA-Schäden, die durch UV-Licht entstanden sind, nicht reparieren. Die Folgen sind bleibende Mutationen und dadurch auffällige Läsionen der Haut und die Bildung von sog. aktinischen Keratosen, die bereits Vorstufen eines bösartigen Plattenepithelkarzinoms darstellen.

Zusammenfassung DNA-Schädigung • DNA-Schädigung passiert ständig (auch ohne zusätzlichen Chemikalieneinfluss). • Schädigungen werden (effizient) repariert und (meist) nicht als Mutation vererbt. • Reparatur selbst kann fehlerhaft oder defekt sein und führt somit zu Mutationen. • Verschiedene Mutationen haben unterschiedliche Auswirkungen. • Mutationen in Keimzellen haben andere Konsequenz als Mutationen in Körperzellen (siehe Abb. 4.61).

Genetische Toxikologie (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1199 f.) Worin besteht bei Mutationen die Gefahr für den gesamten Organismus und warum sind mutagene Stoffe Gefahrstoffe? DNA-Schaden – Mutationen – Keimzellen – Erbkrankheiten DNA-Schäden und daraus folgende Mutationen in Keimzellen (Eizellen, Spermien) können, falls sie nicht repariert (cross-link repair) oder aussortiert (Apoptose) werden, zu genetisch bedingten Krankheiten (Erbkrankheiten) führen (Abb. 4.61).

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

250

SCHADSTOFF

DNA SCHADEN

DNA interstrand cross-link repair

MEIOSE 1

MEIOSE 2

APOPTOSE

MUTIERTE KEIMZELLE

BEFRUCHTUNG F1

ERBKRANKHEIT Abb. 4.61  Mutationen in Keimzellen. (Eigene Darstellung)

DNA-Schaden – Mutation Aufbauwissen

Nicht alle genetisch bedingten Krankheiten sind im engeren Sinn Erbkrankheiten, da sie nicht von den Eltern (Vorfahren) auf die Nachkommen übertragen wurden, sondern spontan oder durch mutagene Einwirkung entstanden sind. Auch Krebs könnte man zu den genetisch bedingten Krankheiten zählen, da auch Krebs durch Mutationen entsteht. Spontane Mutationen und Krebs sind normalerweise keine vererbbaren Krankheiten, obwohl es auch Dispositionen für bestimmte Krebsarten gibt, die vererbt werden können, z. B. für Brustkrebs. Erbkrankheiten können wie folgt unterteilt werden 1. chromosomale Erkrankungen numerische oder strukturelle Veränderungen von Chromosomen 2. monogene Krankheiten Ein verändertes einzelnes Gen ist für diese Art der Erkrankung verantwortlich. Da ein Gen immer ein Protein (z. B. Enzym) codiert, ist die Veränderung oder das Fehlen dieses Proteins für die Erkrankung verantwortlich.

251

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

DNA

Veränderung einzelner Gene 1

Strukturveränderung eines Chromosoms 2

Veränderung der Chromosomenanzahl 3

GENMUTATION

CHROMOSOMENMUTATION

GENOMMUTATION

Abb. 4.62  DNA-Schaden – Mutationstypen. (Eigene Darstellung)

Abb. 4.63   Erbkrankheiten – Lokalisierung auf Chromosomen. (Quelle: Public Domain (Пєткoв, 2017))

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

252

3. polygene Störungen Die Mehrheit der Erbkrankheiten ist nicht auf einzelne veränderte Gene, sondern auf das Zusammenspiel mehrerer Gene zurückzuführen. Auch diverse Lifestyle-Faktoren spielen bei diesen Erkrankungen eine wichtige Rolle.

Transferwissen

Zahlreiche Erbkrankheiten können auf dem jeweils zuständigen Chromosom lokalisiert werden (siehe Abb. 4.63). Über 6000 genetisch bedingte Erkrankungen sind bekannt und ständig werden neue identifiziert. Ca. einer von 50 Menschen ist von einem monogenetisch bedingten Defekt und einer von 263 Menschen ist von einer chromosomalen Störung betroffen. Etwa 65 % aller Menschen haben irgendeine Art von Gesundheitsproblem, das auf einer genetischen Mutation beruht (Wiki, 2020). Polymikrogyrie – Beispiel einer monogenen Erbkrankheit Genetik • autosomal-dominant vererbt von einem nur leicht betroffenen oder symptomlosen Elternteil • Mutationen im aGPCRs-Gen: 16p13.11-Mikrodeletion, d. h. ein kleines Stück DNA fehlt im längeren Teil des Chromosoms 16 am Genlocus 13.11. • aGPCR = Adhäsions-G-Protein-gekoppelter Rezeptor • physiologische Funktion: • Zelladhäsion und -migration; ermöglicht Zellen • Signale von außen aufzunehmen und umzusetzen Ursache/Symptomatik • abnorme neuronale Zellmigration • exzessive Faltung der Hirnrinde • Fehlentwicklung von Großhirn • Mikrozephalie • mentale Retardierung • Epilepsie • auffälliges Verhalten • Gang- und Sprachstörung • Kleinwuchs • faziale Dysmorphien (veränderte Gesichtszüge), schräg abwärts verlaufende Lidspalten, kurze Nase, tiefsitzende Ohren, breiter Mund und schmale Oberlippe

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

253

SCHADSTOFF

ERFOLGREICHE REPARATUR

ÜBERLEBEN

DNA SCHADEN

KEINE REPARATUR

APOPTOSE

MUTATIONEN

Programmierter Zelltod

TUMOR / KREBS Abb. 4.64  DNA-Schaden – Konsequenzen – somatische Zellen. (Eigene Darstellung)

DNA-Schaden – Mutationen – somatische Zellen (Körperzellen) Durch Schadstoffe können in einzelnen somatischen Zellen DNA-Schäden hervorgerufen werden. Um weitere ernste Schäden für den Gesamtorganismus zu vermeiden, kann entweder die DNA repariert werden oder die Zelle kann, falls dies nicht gelingt, in den programmierten Zelltod (Apoptose) geschickt und ihre wertvollen Bestandteile können recycelt werden. Erst wenn diese Mechanismen nicht greifen, kann eine Mutation auf Tochterzellen übertragen werden. Zellen mit mutierten Genen werden entweder vom Immunsystem als fremd erkannt und entfernt oder, falls auch dies nicht der Fall ist, den Weg der Karzinogenese einschlagen und sich zu einem Tumor entwickeln (Abb. 4.64).

4.10.3 Prüfung auf mutagene/genotoxische Wirkung Die Prüfung auf genetische Schädigungen ist deshalb aus zwei Gründen wichtig 1. Schutz der Nachkommen vor vererbten Krankheiten 2. Schutz des lebenden Organismus vor der krebserregenden Wirkung Eine Vielzahl von in vitro- und in vivo-Verfahren zur Routinemutagenitätsprüfung steht zur Verfügung, die vor allem drei Arten von Prüfmodellen nutzen (Kramer, 1998)

254

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

1. Bakterien z. B. Ames-Test 2. Säugerzellen in vitro z. B. Genmutation, Chromosomenmutation, DNA-Repair, Schwesterchromatidaustausch, Comet 3. Tiere in vivo Genmutation, Chromosomenmutation, Mikrokerne Zusätzlich werden auch weitere Möglichkeiten genutzt: • • • •

Mensch (Humanlymphozyten) (inkl. Monitoring) Drosophila, Hefen isolierte DNA (biochemischer Ansatz) in silico (IT-Technologie), z. B. QSAR (quantitative structure-activity relationship)

DNA-Schaden – Genetische Endpunkte In diesen Prüfmodellen ist es möglich, die folgenden Arten von Mutationen zu erfassen: • Genmutationen • Chromosomenmutationen • Genommutationen • indirekte DNA-Schäden

Testbatterie Mutagenitätsprüfung Verschiedene genetische Endpunkte in verschiedenen Zielzellen • Ames-Test, Genmutationen in Bakterien (in vitro) • Chromosomenaberrationstest in Säugerzellen (in vitro) • Mikrokerntest, Mutationen im Knochenmark (Erythrozyten) der Ratte oder Maus (in vivo) • Comet-Assay, DNA-Strangbrüche in Säugerzellen in vitro und in vivo Die unterschiedlichen Mechanismen und Endpunkte bewirken, dass die Prüfung auf Mutagenität nicht auf ein Testsystem fokussiert sein darf. Um alle Möglichkeiten zu erfassen, ist es notwendig, eine Batterie von Testverfahren zu benutzen, die in der Summe alle Punkte annähernd abdecken muss.

Mutagenitätsprüfungen • Genmutationen • Punktmutationen (einzelne Basenpaare) – kleine Deletionen (drei bis sechs Basenpaare) • Chromosomenmutationen

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

255

– Fehlverteilung der Chromosomen – Translokationen, dicentrics, Brüche usw. – Genommutationen (Chromosomenzahl) – Polyploidie (vervielfachter Chromosomensatz) – Aneuploidie (veränderte Anzahl einzelner Chromosomen) (z. B. Trisomie 21 – Down-Syndrom) • indirekte DNA-Schäden • DNA-Reparatur

Testung Testbatterie • Zur Erfassung verschiedener Mutationsarten wird eine Testbatterie benötigt. • in Testbatterie ist vorteilhaft viele, sich schnell teilende, kleine Individuen • Extrapolation der Ergebnisse von einfachen Testsystemen (z. B. Bakterien) auf „kompliziertere“ Systeme (z. B. Mensch) ist rein prinzipiell schon schwierig. Standardtestsysteme der Mutagenitätsprüfung sind der Ames-Test, die Chromosomenanalyse in Säugerzellen und der Mikrokerntest.

Ames-Test – Genmutation in Bakterien Bakterien: Mutanten von Salmonella typhimurium Leberhomogenat: S9-Mix, Rattenleber, arochlorinduziert (Fremdstoffmetabolisierung) (Abb. 4.65). Testsubstanz-Lösung Bakterien-Suspension Leberhomogenat

Auszählen en der

MISCHEN

Flüssiger Agar

INKUBIEREN 2 Tage bei 37 Fester Agar

PL AT TE OHNE TESTSUBSTANZ ONTROLLE

Abb. 4.65  Ames-Test – Prinzip. (Eigene Darstellung)

Bakterienkolonien

PL AT TE MIT TESTSUBSTANZ

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

256

Ames-Test – Prinzip • Testorganismen: Bakterienmutanten (Punktmutation in Histidin-Gen) • Ames-Test, Bakterienstämme von Salmonella typhimurium (His-Auxotrophie) oder Escherichia coli (Tryptophan-Auxotrophie) • keine His-(bzw. Try-)Synthese (Mangelmutanten, Auxotrophie) • Defekt im DNA-Reparatur-System • Defekt in Zellmembran (verkürzte Lipopolysaccharide) • aufgebracht auf Nährboden (Agar) mit sehr wenig His • Behandlung mit Testsubstanz • Ergebnis positiv: Koloniebildung, einzelne Bakterien wachsen, denn sie haben die Fähigkeit zur Synthese der entsprechenden Aminosäure zurückerlangt (Revertantenauxotrophie15 rückgängig gemacht, wieder prototroph16) *kann alle benötigten organischen Wachstumsfaktoren selbst synthetisieren Stärken und Schwächen des Ames-Tests Stärken • schnell und leicht durchzuführen • empfindlich • hohe Vorhersagekraft für Karzinogene • weit verbreitet, gut validiert, breit akzeptiert Schwächen • Extrapolation von Bakterium zum Menschen sehr weit (Metabolismus, DNAReparatur, Zellaufbau, Chromosomen) Ames-Test – Prädiktion (Vorhersage) Abhängig von Datenbasis gilt für Vorhersage von Nager-Karzinogenen • Empfindlichkeit 45–91 % • Spezifität 57–97 %

Chromosomenanalyse Die Mitose aller Zellen wird in der Metaphase durch Behandlung mit einem Spindelgift (Colchizin, Herbstzeitlose) gestoppt. Dies bewirkt erstens eine Art Synchronisierung, denn alle Zellen werden an der gleichen Stelle gestoppt, zweitens verteilen sich die Chromosomen ohne Anbindung an die Spindel in der

15 auxotroph = benötigt 16 prototroph = selbst

einen oder mehrere lebenswichtige Stoffe von außen.

zur Herstellung aller lebenswichtigen Stoffe befähigt.

4.10 Mutagenität/Genotoxizität

257

Abb. 4.66  Metaphasechromosomen Mensch, Mikroskopsicht/sortiert. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Thieme, 2020)

Zelle und drittens sind die Chromosomen in dieser Phase optimal kondensiert und lassen sich so sehr gut im Mikroskop untersuchen (Abb. 4.66). Die Analyse von Chromosomenmutationen (Aberrationen) erfordert einerseits eine sehr zuverlässige Herstellung der mikroskopischen Präparate und andererseits ein technisch sehr gut trainiertes Personal, um alle chromosomalen Aberrationen zu erkennen (Abb. 4.67).

Mikronucleustest – Prinzip Eine technisch vereinfachte Version der Chromosomenanalyse ist der sog. Mikrokerntest. Bei ihm macht man sich zunutze, dass Chromosomenbruchstücke oder eine Schädigung des Spindelapparates nach der Zellteilung als kleine, runde Kerne in Tochterzellen beobachtet werden können (Abb. 4.68). Genetische Schäden, die mit dem MNT erfasst werden können: 1. strukturelle Chromosomenaberrationen (Klastogenität) 2. numerische Chromosomenaberrationen (Aneuploidie und Polyploidie)

Beispiele für Mutagene • Tabakrauch (polyzyklische Kohlenwasserstoffe, …) • Azofarbstoffe (Textil-/Lederindustrie, Tattoo, …) • Toner (Fotokopiergeräte) • Lebensmittel • Mykotoxine (Aflatoxin) • Nitrosamine • Pyrolyseprodukte z. B. in gerösteten/gegrillten Nahrungsmitteln • Autoabgase (Chinone u. Nitro-PAHs) • Haarfärbemittel (aromatische Amine) • Pestizide (Dichlorphos, Methylbromid, …)

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

258

CHROMOSOMENANALYSE CHIN. HAMSTER

MENSCH

normale Chromosen

beschädigte Chromosen

Abb. 4.67  Chromosomenanalyse Chinesischer Hamster (links) und Mensch (rechts). (Eigene Fotos)

MITOSEPHASE

INTERPHASE Cytochalasin B (Teilungsblock)

PROPHASE

METAPHASE

ANAPHASE

TELOPHASE

chemische Behandlung chromosomale strukturelle A on

chromosomale on numerische A

Abb. 4.68  Prinzip Mikronucleustest (Mikrokerntest). (Eigene Darstellung in Anlehnung an Yamamoto, 2014)

4.11 Karzinogenese/Karzinogenität

259

Aufbauwissen

Es ist wichtig, die Prinzipien verstanden zu haben, nach denen die Prüfverfahren funktionieren. Die Mutagenität bzw. die Karzinogenität eines Stoffes kann nicht mit einem Test oder einem Endpunkt geklärt werden. Eine Testbatterie ist notwendig. Die Batterie von Prüfverfahren, mit der die unterschiedlichen Mutagenitätsendpunkte erfasst werden können, verwenden routinemäßig sowohl in vitro- (z. B. Bakterien- und Säugerzellkulturen) und in vivo-Modelle (Tiere). Die wichtigsten Prüfverfahren der Basisbatterie müssen in der Gefahrstoffkundevorlesung als Basiswissen vermittelt werden, werden aber nicht im Detail besprochen, weil damit für Chemiker und Chemikerinnen kein wirklich kompetenzfördernder Aspekt verbunden ist. Wichtig ist auch, den Zusammenhang von Mutagenität und Kanzerogenität zu verstehen, denn alle Mutagenitätstests haben letztlich ihre große Bedeutung nur dadurch gefunden, dass sie nicht als Mutagenitätstests gefragt sind, sondern als Kanzerogenscreeningtests wertvolle Dienste leisten. Die eigentlichen Kanzerogenstudien sind sehr langwierige Studien (zwei Jahre Behandlung plus ein Jahr Vorbereitung und Auswertung und Berichterstattung). Mit einem preiswerten in vitro-Test bereits nach wenigen Tagen einen Hinweis auf kanzerogene Wirkung zu erhalten, ist deshalb von wirtschaftlich, aber auch wissenschaftlich großer Bedeutung.

4.11 Karzinogenese/Karzinogenität 4.11.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • Entstehung/Entwicklung von Tumoren, z. B. vom normalen Epithelgewebe zum Karzinom • Tumortypen (gutartige und bösartige) • Warum wird Karzinogenität als eine besondere Toxizität bewertet? • Welche Mechanismen führen zur Krebserzeugung? • Welche Auswirkungen hat eine krebserzeugende Wirkung? • Karzinogene, wie werden sie erkannt? (Prüfmethoden)

4.11.2 Grundlagen Karzinogenität (Tumor, Krebs) (Schwarz, Braeuning, Marquardt, & Schulte-Hermann, 2019) Wie in der Abb. 4.69 dargestellt, sind Mutationen eine Voraussetzung für die Bildung von Tumoren.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

260

SCHADSTOFF

ERFOLGREICHE REPARATUR

ÜBERLEBEN

DNA SCHADEN

KEINE REPARATUR

APOPTOSE

MUTATIONEN

Programmierter Zelltod

TUMOR / KREBS Abb. 4.69  Mutation – Tumor. (Eigene Darstellung)

Stufen einer Tumorentwicklung Die Entwicklung eines Tumors, z.  B. vom normalen Epithelgewebe zum Karzinom, erfolgt in zahlreichen Stufen. In der Gefahrstoffkundevorlesung wird dies, wie in der toxikologischen Lehre üblich, aus didaktischen Gründen in drei prinzipiell unterscheidbaren Stufen dargestellt (Abb. 4.70). 1. Stufe Initiation (mutagene Wirkung, Genotoxizität) Direkt mit der DNA reagierende Substanzen (Mutagene) wie Aflatoxin, Benzo[a] pyren, Dimethylnitrosamin, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Nitrosamine verursachen Veränderungen an den DNA-Basen. Die irreversible Veränderung an der DNA wird dann zur Mutation, wenn die Zellen sich teilen und die Veränderung in die Tochterzellen übernommen werden. Die Zellteilung führt also zur Fixierung des Schadens. Diese Fixierung ist notwendig und wegen der Gegenmaßnahmen der Zellen ist in der Regel eine einmalige Dosis zwar theoretisch (keine Wirkschwelle für mutagene und kanzerogene Stoffe!) ausreichend, aber nicht realistisch. Um eine Initiation zu verursachen, sind meist mehrere wiederholte Mutationen erforderlich. Die Mutationen können direkt im „normalen“ Genom der Zellen erfolgen, können aber auch sog. Onkogene oder Onkoviren aktivieren oder zur Inaktivierung von Tumorsuppressorgenen führen. 2. Stufe Promotion (selektive Wachstumsstimulation der initiierten Zellen) Im Gegensatz zu einer erfolgreichen Initiation ist die Promotion ein reversibler Vorgang und stark dosisabhängig, man spricht sogar von einem Dosis-WirkungsSchwellenwert.

4.11 Karzinogenese/Karzinogenität 1

INITIATION

2

261 PROMOTION

3

PROGRESSION

Mutagener chemischer Stoff = MUTAGENE

Stammzelle

Gene sch veränderte Zelle (Genmuta onen, Chromosomenaberra onen, ...)

Sele ves klonales Wachstum

Muta onen in Protoonkogenen, Tumorsuppressor-Gene NORMALE ZELLEN

PRÄNEOPLASTISCHE LÄSION (Tumorvorstufe)

KLINISCHER KREBS

INVASIVE METASTASEN

Abb. 4.70  Drei-Stufen-Modell Karzinogenese. (Eigene Darstellung)

Eine Promotorwirkung ist dann erfolgreich, wenn sie über Wochen, Monate oder Jahre andauert. Zunächst entsteht ein Mikrotumor. Die Nahrung und die Hormone beeinflussen die Promotion. Das Beispiel eines sehr wirksamen Promotors ist das Arzneimittel Phenobarbital, früher ein viel verschriebenes Schlafmittel, heute noch zur Epilepsiebehandlung und zur Narkosevorbehandlung eingesetzt. 3. Stufe Progression (Entartung) Natürlich erfolgen im betroffenen Organ (Gewebe) die drei Stufen nicht nur streng sequenziell, sondern auch gleichzeitig. Während der Progression wird die Zellteilung durch Promotoren stimuliert und weitere genetische Veränderungen werden durch Mutationen verursacht und fixiert. Die fortgesetzte Vermehrung (Proliferation) der DNA-geschädigten Zellen führt somit zur Auslösung weiterer DNA-Schädigungen, die letztlich ein autonomes Wachstum der Zellen bewirken. Der Tumor, z. B. in Epithelgewebe das Karzinom, ist erreicht.

Kanzerogenes Potenzial Die erste und deshalb wichtige Stufe der Initiation lässt sich mit den verschiedenen Mutagenitätskurzeittests erfassen. Man erhält deshalb mithilfe dieser Tests nicht die Information über eine kanzerogene Wirkung der Prüfsubstanz, sondern lediglich über ihr mögliches kanzerogenes Potenzial, dies allerdings viel früher als nach entsprechenden Tierversuchen oder epidemiologischen Studien.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

262

Aufbauwissen

Darmkrebs An einem malignen Tumor, dem Darmkrebs, konnte schon vor Jahren gezeigt werden, dass verschiedene aufeinanderfolgende Mutationen in diversen Genen (MMR17-Gene, Onkogene, Tumorsuppressorgene) notwendig sind, um aus einem normalen, gesunden Darmepithel ein Tumorgewebe entstehen zu lassen. Zunächst wird ein außerplanmäßiges Zellwachstum induziert, danach wird durch weitere Mutationen ein gutartiger Tumor (Adenom) und im weiteren Verlauf ein bösartiger Tumor (Karzinom) erzeugt. Die Bestandteile des Tabakrauchs sind deswegen gute Kanzerogene, weil sie sowohl potente Initiatoren und Promotoren als auch Substanzen enthalten, die die Progression fördern, sozusagen eine ideale Kombination, um Krebs in unterschiedlichen Geweben, nicht nur im Lungengewebe, zu erzeugen. Eine weitere Optimierung der Krebsausbeute wird durch den gleichzeitigen Genuss von Alkoholika erreicht, da Ethanol als Lösungsvermittler die Resorption von zahlreichen krebserregenden Substanzen erhöht und auch selbst ein epidemiologisch nachgewiesenes kanzerogenes Potenzial besitzt. In der Vorlesung wird den Studierenden deshalb eine kleine „PartyGeschichte“ erzählt, die diese Punkte enthält, frei nach dem Motto: Wie schädige ich mich selbst am effektivsten?

Tumor – Definition –Nomenklatur

4.11.3 Definition Tumor Ansammlung von Zellen, welche in größerer Zahl als vorgesehen an irgendeiner bestimmten Stelle im Körper auftreten. Phänotyp von Tumorzellen: Maligne Tumorzellen zeigen gegenüber normalen Körperzellen eine Reihe von Veränderungen.

Charakteristika von malignen Tumorzellen, die sie von normalen somatischen Zellen unterscheiden • gehorchen keinen wachstumshemmenden Signalen, die sie von Nachbarzellen erhalten • können sich unbegrenzt teilen (replikative Unsterblichkeit)

17 MMR-Gene = mismatch

repair genes (überwachen die genetische Stabilität).

4.11 Karzinogenese/Karzinogenität

263

• entgehen ihrer immunvermittelten Zellzerstörung, indem sie diverse Gene abschalten, deren Genprodukt sie erkennbar machen würden • widerstehen dem programmierten Zelltod (Apoptose) • unterstützen tumorfördernde Entzündungsprozesse • deregulieren die zelluläre Energieproduktion • Cytoskelett ist oft reduziert, sie haften viel schlechter an anderen Zellen als normale Zellen • dringen in andere Gewebe ein (invasives Verhalten) und verteilen sich unplanmäßig im Organismus (Streuung von Zellen – Metastasen) • fördern die Bildung neuer Blutgefäße (Angiogenese) zur eigenen Versorgung • unterlaufen Genomkontrollmechanismen (Genominstabilität und Mutationen), sie verfügen oft über einen aneuploiden Chromosomensatz, d. h., die normale Chromosomenzahl ist verändert • Tumorzellen sind in der Zellkultur im Gegensatz zu normalen Zellen weitgehend unabhängig von – Wachstumsfaktoren wie EGF18, FGF19, NGF20 – Unterlage (Matrix) zum Wachsen, sie können sich frei in einer Flüssigkeit vermehren

Nomenklatur gutartig (benigne)/bösartig (maligne) In den Tab. 4.14, 4.15 und 4.16 werden die Eigenschaften gutartiger und bösartiger Tumoren gegenübergestellt. Definitionen von Differenzierung, Dedifferenzierung und Dysplasie • Differenzierung – Ausbildung spezialisierter Zellfunktionen, ausgehend von omnipotenter embryonaler Zelle zu ausdifferenzierten Zellen – Beispiel: embryonale Zelle → Epithelzelle Darmwand • Dedifferenzierung – Verlust spezialisierter Zellfunktionen – Rückentwicklung ausdifferenzierter Zellen Richtung embryonalem Zustand (Dysplasie) Epithelzelle Darmwand → dys-/neoplastische Leberzelle → Lebertumorzelle – Beispiel Leberkrebs: teilweise embryonal/hyperproliferativ, teilweise verbliebene Leberzellfunktionen – Mit neuen Techniken soll erreicht werden, derartige Wirkungen besser vorherzusagen (Fella, et al., 2005). • Dysplasie – zelluläre und gewebliche Abweichung von der Norm

18 EGF = epidermal 19 FGF = fibroblast 20 NGF = nerve

growth factor.

growth factor.

growth factor.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

264

Tab. 4.14  Epithelien (Oberflächen, Grenzflächen) wie z. B. an der Oberfläche der Haut oder der Darmwand GUTARTIG BENIGN -om

BÖSARTIG MALIGN Karzinom

Drüsenepithel

Adenom

Adenokarzinom

enepithel

Papillom

enepithelkarzinom

Deaminierung Cytosin

100 – 500

Hydrolyse, De-Purinisierung, De-Pyrimidinisierung

10.000

Tab. 4.15  Binde-, Stütz-, Muskel-, Knochengewebe (unter Oberfläche) -om

Sarkom

Knochen

Osteom

Osteosarkom

Muskel

Myom

Myosarkom

Fe gewebe

Lipom

Liposarkom

BLUT Knochenmark (Blut)

Leukämien

Tab. 4.16  Hauptunterschiede zwischen gutartigen und bösartigen Tumoren GUTARTIG BENIGN

BÖSARTIG MALIGN

Abgrenzung zum umgebenden Gewebe

abgekapselt, nicht invasiv

nicht abgekapselt, invasiv

Differenzierungsgrad

hoch

niedrig

Häufigkeit von Mitosen (Zellteilung)

niedrig

hoch

Wachstumsgeschwindigkeit

langsam

schnell

Fehlbildungsgrad (Dysplasie)

Niedrig

hoch

Metastasen (Tochtergeschwülste) (s. Abbildung 4.71)

keine

eine bis viele

4.11 Karzinogenese/Karzinogenität

265

Aufbauwissen

Die Dedifferenzierung und die Dysplasie bewirken, dass die Tumorzellen nicht mehr der Kontrolle des Organismus unterliegen. Die Wachstumskontrolle versagt, sie teilen und vermehren sich ungehindert und entwickeln auch neue Eigenschaften, die das Ursprungsgewebe nicht hatte. Dazu gehört, dass maligne Tumoren auch invasiv in benachbartes Gewebe eindringen. Einzelne dieser Tumorzellen verlassen den primären Tumor, dringen auch in das Blutgefäßsystem ein und wandern auf diesem Weg durch den Körper, bis sie ein eine Stelle gefunden haben, wo sie ein Blutgefäß wieder verlassen können, um eine neue Tumorzellkolonie bilden zu können. Solche Kolonien werden Metastasen genannt. Für Krebspatienten verschlechtern Metastasen die Aussicht auf eine Heilung beträchtlich. Sie sind bei Weitem die Hauptursache für die Todesfälle durch Krebserkrankungen. Im Verlauf einer Krebserkrankung bilden sich ständig neue Tumorzellkolonien oft mit einer gesteigerten Aggressivität und mit veränderten Eigenschaften, die es der Medizin und dem Immunsystem schwer machen, erfolgreich zu sein. Von Metastasen betroffen sind zumeist Lunge, Knochen und Leber (Abb. 4.71).

AUSGANGSORGAN Primärtumor

Tumorzellen INVASION

BLUTGEFÄSS

Extrazelluläre Matrix INTRAVASATION Endothelzellen

chen

ZIRKULATION

EXTRAVASATION Exosomen

KOLONISATION

Blutkapillaren

Mikrometastase

ZIELORGAN

Abb. 4.71  Der Weg vom Primärtumor zur Metastase. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Jarasch, 2020)

266

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Zusammenfassung • Es gibt gutartige (benigne) und bösartige (maligne) Tumoren (-om vs. Karzinom/Sarkom). • Unterschiede zwischen gutartig und bösartig sind klar beschrieben und sehr wichtig. • Mehrstufenmodell der Kanzerogenese: 1.  Initiation – 2.  Promotion – 3. Progression • Kanzerogene Substanzen können organspezifisch wirken (Darmkrebs, Leberkrebs, …).

4.11.4 Prüfung auf karzinogene Wirkung • Mutagenitätstests dienen als Tests auf kanzerogenes Potenzial (Testbatterie). • Kanzerogenitätsstudie in Nagern – zwei Jahre Behandlung plus ein Jahr Vorbereitung, Auswertung und Berichterstattung – Dosis: maximal tolerierte Dosis (MTD) – Tumorinzidenz – Kosten ca. 1,4 bis 2,0 Mio. € • Genotoxizitäts-(Initiations-)testverfahren • in vitro + in vivo (Kurzzeittests für Kanzerogenität) – Promotions-/Progressionstests – in vivo-Zwei-Stufen-Modelle (1. Initiation + 2. chronische Behandlung) (1. Initiation + Promotion + 2. chronische Behandlung) – Biomarkerstudien – Ratte (Proteomics) (Fella, et al., 2005)

4.11.5 Kanzerogene Stoffe Krebs und Ernährung Verschiedene Zubereitungen von Speisen und Essgewohnheiten sind als kanzerogen erkannt: • starkes Erhitzen von Speisen (Protein + Kohlenhydrate, z. B. beim Grillen) • HCA (heterozyklische Amine) und PAK (polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe) • AGEs (advanced glycation end products) Zwischenprodukte: Schiff-Basen (Imine), und Maillard-Produkte (AmadoriAddukte) • Nitrosamine (speziell bei mit Nitrit gepökeltem Fleisch und Wurst) • zu viel Essen (Übergewicht), auch im Tierversuch steigert Krebsinzidenz durch ad libitum-Fütterung und sinkt durch Futterbegrenzung

4.11 Karzinogenese/Karzinogenität

267

Abb. 4.72  Unterschiedliche Schimmelpilze auf Brot. (Quelle: AdobeStock)

Aufbauwissen

Aflatoxin B1 (biogen) (Mykotoxin – Schimmelpilzgift) Ein wichtiges Beispiel aus der Natur, das in der menschlichen Ernährung als Schadstoff eine sehr große Rolle spielt, ist das Aflatoxin B1. Das Toxin des Schimmelpilzes Aspergillus flavus kommt in jedem Haushalt vor und spielt auch bei der kommerziellen Lagerung von Lebensmitteln eine große Rolle. Aflatoxin B1 gilt als der am stärksten krebserzeugende Stoff und hat auch eine bedeutende akute Lebertoxizität (tödliche Dosis Mensch: > 1 mg/kg Körpergewicht)! Vorkommen: Reis, Nüsse, Leber, Nieren, Erdnüsse, Erdnussschrot, Baumwollsamenmehl und anderen Ölsaatrückstände, Futtermittelzusätze, gemahlene Mandeln und Muskatnüsse, Pistazien, Feigen, Getreide, Brot usw. Aflatoxin B1 wird in der Leber (Hepatozyten) in ein sehr reaktionsfähiges Epoxid umgewandelt (genotoxisch, kanzerogen). Verschimmelte Nahrungsmittel sind nicht harmlos (Abb. 4.72)!

Krebs und Ethanol • Aldehyddehydrogenase (ALDH) beeinflusst Krebsrisiko • Klar dosisabhängig, Tumorinzidenz korreliert mit Acetaldehyd • Wichtiger Anteil: Mikroflora in Mundhöhle (sehr effektive Acetaldehydproduktion) • Ethanolassoziierte Krebsarten • Mundhöhlenkarzinome (meist Plattenepithelkarzinom) • Larynx-(Kehlkopf-), Pharynx-(Rachen-), Ösophagus-(Speiseröhren-)karzinome • Pankreaskarzinom (Bauchspeicheldrüse) • Kolorektales Karzinom (Dick- und Enddarm ohne Appendix) • Leberkrebs (80 g EtOH/TagLeberkrebsrisiko vier- bis siebenfach erhöht) • Mammakarzinom (weibliche Brust) (5–11 %)

268

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Krebs und Tabakrauchen Der Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs (Bronchialkarzinom) ist weitgehend bekannt und auf jeder Zigarettenpackung aufgedruckt. Trotzdem rauchen teilweise auch Studierende der Chemie/Biochemie. Deshalb wird in diesem Teil der Vorlesung die Aufklärung forciert, obwohl dies kein Gefahrstoffthema im Sinne des Sachkundenachweises darstellt. Natürlich kann bei diesem Thema nicht auf Abbildungen verzichtet werden (Abb. 4.73, 4.74 und 4.75). Abb. 4.73  Lunge. (Quelle: Public Domain (Wiki, Lunge, 1901))

RECHTE LUNGE

(im Längsschni )

Linke Lungenspitze Lungenfell

Arterien Venen

LINKE LUNGE

HERZ Verästelungen der Lu röhre

Lungenbasis

Abb. 4.74  Staublunge (Tabakrauch), makroskopisch/mikroskopisch. (Eigene Fotos)

4.11 Karzinogenese/Karzinogenität

269

Abb. 4.75  Lungenkrebs makroskopisch/mikroskopisch, Krebszellen wuchern in Lungenbläschen. (Eigene Fotos)

Tabakrauchinhaltsstoffe – Kanzerogenität Mutagene Verbindungen + div. Tumorpromotoren + Cokanzerogene identifiziert • Kondensat – polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK): Benz[a]anthrazen, Benzo[a]pyren, Dibenz[a, h]anthrazen – Phenole und kanzerogene N-Nitrosamine: N’-Nitroso-nornicotin (NNN) und 4-(Methylnitrosoamino)-1-(3-pyridyl)-1butanon (NNK) – aromatische Amine: o-Toluidin, 4-Aminobiphenyl, 2-Naphtylamin – Benzol, Vinylchlorid, Ethylenoxid, Acrylamid • Gasphase – hauptsächlich Stickstoff (56–64 %), Sauerstoff (11–14 %), Kohlenstoffdioxid (9–13 %) und Kohlenmonoxid (2,8–4,2 %) – bedeutende toxikologische Rolle spielen Kohlenmonoxid, Stickoxide, Blausäure, Formaldehyd, Benzol und flüchtige Amine Lungenkrebs • • • •

80–90 % aller Lungenkrebsfälle sind Raucher oder ehemalige Raucher 1/10 der Raucher erkranken an Lungenkrebs im Durchschnitt 30–40 Jahre nach Rauchbeginn Lungenkrebs (Bronchialkarzinom) ist mit einem Anteil von 25 % die häufigste bösartige Krebserkrankung des Menschen. • An Lungenkrebs sterben mehr Menschen als an Brustkrebs, Prostatakrebs und Dickdarmkrebs zusammen.

270

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

• Vor der Popularität des Rauchens war Lungenkrebs eine Rarität. • Passivrauchen: 30–40 % erhöhtes Lungenkrebsrisiko • Lungenkrebsüberlebensrate: nach 5 Jahren 10 % Zum Vergleich: • Prostatakrebs – Fünf-Jahres-Überlebensrate: 80–99 % • Brustkrebs – Fünf-Jahres-Überlebensrate: 85 % (metastasierend max.10 %) • histopathologische Klassifikation: kleinzelliges und nichtkleinzelliges Bronchialkarzinom • kleinzelliges Bronchialkarzinom (SCLC = small cell lung carcinoma) (15 %) – SCLC wächst schneller, sehr aggressiv, bildet früh Metastasen – Prognose schlechter als bei nichtkleinzelliger Form, etwa 80 % bei Erstdiagnose bereits Metastasen – betrifft zu 99 % nur Raucher*innen! • nichtkleinzelliges Bronchialkarzinom (NSCLC  = non small cell lung carcinoma) (85 %) – wachsen langsamer und bilden langsamer Metastasen, Heilungschancen und Lebenserwartung besser – Plattenepithelkarzinome (40 % = häufigste Form des NSCLC) – Adenokarzinome (20 % = häufigste Lungenkrebsform der Nichtraucher) – großzellige Bronchialkarzinome (selten: 1500, weltweit >310.000 Sterbefälle pro Jahr. Hepatitis-B-Viren werden für ca. 30 % der Darmkrebsfälle als Ursache gesehen. Humane Papillomviren (HPV) und Krebs • HPV-Übertragung durch Hautkontakt (vor allem bei Geschlechtsverkehr) • Typ 16 und 18: besonders kritisch für diverse Krebsformen • Typ 6 und 11: Genitalwarzen (Feigwarzen) (ansteckend) fördernde Faktoren: geschwächtes Immunsystem, Feuchtigkeit (synthetische Stoffe), Entzündungen und Hautverletzungen (Intimrasur) HPV-verursachte Krebsformen • Zervixkarzinom (Gebärmutterhalskrebs) (ca. 70 %) • Weichteilkrebs in Mund, Rachen und Hals (ca. 15 %) • Darmkrebs (ca. 20 %) • Enddarm, Anal- und Peniskarzinome (nicht nur, aber vor allem homosexuelle Männer) (sonst eher selten) Impfstoffe gegen humane Papillomviren (HPV) • Cervarix (schützt gegen Typ 16 und 18) • Gardasil (schützt gegen Typ 6 und 11) Flächendenkende Impfung, z. B. in AUS, CDN und UK, in D noch nicht (föderales Klein-Klein). Die HPV-Impfung wird in Deutschland von der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut (RKI) seit 2014 für Mädchen im Alter von 9 bis 14 Jahren (Nachholimpfungen bis zum 18. Lebensjahr) empfohlen. Der HPV-Impf- und Immunstatus ist in Deutschland noch sehr gering (ca. 10 %). Ganz allgemein kann festgestellt werden, dass in Deutschland keine Frau an einem Zervixkarzinom sterben müsste, denn das Zervixkarzinom gehört zu den wenigen Krebsarten, die sich durch Impfung und eine regelmäßige Früherkennung zu 100 % verhindern lassen. Selbst ohne Impfung gegen HPV haben Frauen eine sehr gute Chance, ein malignes Zervixkarzinom

272

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

zu vermeiden, wenn sie die seit Januar 2020 in Deutschland flächendeckend angebotene Vorsorgeuntersuchungen (u. a. zytologischer Abstrich) in Anspruch nehmen, denn die frühen Stadien dieser Erkrankung sind gut zu behandeln. Ein metastasierendes Zervixkarzinom hat dagegen eine sehr schlechte Prognose! Kernpunkte Mutagenität – Kanzerogenität 1. Es gibt gutartige (benigne) und bösartige (maligne) Tumoren (Dignität). 2. Mehrstufenmodell der Kanzerogenese: Initiation – Promotion – Progression 3. Kanzerogene Substanzen können organspezifisch wirken. 5. Kanzerogenitätsstudie zwei Jahre Behandlungsdauer, ca. 600 Nager/Studie 6. Mutagenitätstests dienen als Tests – auf kanzerogenes Potenzial (somatische Zellen, Krebs) und – auf mutagenes Potenzial (Keimzellen, Erbkrankheiten).

4.12 Reproduktionstoxikologie (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1195 f.), (Schönfelder & Neubert, 2019)

4.12.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • • • •

Wie können Gefahrstoffe die menschliche Fortpflanzung gefährden? Schäden bei Eltern, bei Nachkommen Wie werden Schäden beurteilt, wie kann man sie erfassen? Beispiele, was lernen wir daraus?

4.12.2 Grundlagen Reproduktion Die Reproduktionstoxikologie untersucht die Gefahren, die chemische Stoffe für die Fortpflanzung des Menschen darstellen können, inkl. der Grundlagen und der Kontrolle der menschlichen Zeugungsfähigkeit und ihren Störungen. Die Erkenntnis, dass derartige Gefährdungen untersucht werden müssen, liegt nur gute 60 Jahre zurück und ist eng verbunden mit der sog. Thalidomid-(Contergan-) Katastrophe. Vor Thalidomid gab es keine Reproduktionstoxikologie. Es fehlte auch das Bewusstsein, dass es spezifische reproduktionstoxikologische Effekte geben könnte, die unabhängig von der allgemeinen Toxizität auftreten würden.

4.12 Reproduktionstoxikologie

273

Schädigung Eltern/Nachkommen Chemische Stoffe können spezifisch die menschliche Fortpflanzung (Reproduktion) schädigen. Geschädigt werden können die Eltern und/oder die Nachkommen. 1. Schädigung der Eltern reproduktive und neuroendokrine Organe, d. h. Fortpflanzungsorgane oder die Nerven-Hormon-Regulation Folgen: reproduktives Versagen, Unfruchtbarkeit, Fehlgeburt, Todgeburt, Geburtsfehler 2. Schädigung der Nachkommen Embryo, Fetus, Neugeborene, Jugendliche bis zur Ausreifung/Fortpflanzungsfähigkeit Folgen: Embryosterblichkeit, Missbildungen, geringes Geburtsgewicht, Verhaltensdefekte bei Nachkommen Reproduktionszyklus Die menschliche Fortpflanzung lässt sich anschaulich auch als ein Zyklus darstellen, den sog. Reproduktionszyklus. Beginnend mit der Geburt kann die Reproduktion einer Generation (eines Nachkommen) dargestellt werden. Der Zyklus ist beendet, wenn es wieder zu einer Geburt kommt. Im Verlauf der Reproduktion können verschiedene Indizes bestimmt werden (Abb. 4.76).

PAARUNGSINDEX

FERTILISATION

KOHABITATION

IMPLANTATION

GAMETOGENESE

EMBRYOGENESE & FÖTALENTWICKLUNG

PUBERTÄT

LAKTATION

FERTILITÄTSINDEX

ÜBERLEBENSINDEX

GESTATIONSINDEX GEBURT LEBENDGEBORE Anzahl von Jung eren

Abb. 4.76  Reproduktionszyklus. (Eigene Darstellung)

X

274

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Bei der Entwicklung der Reproduktionstoxikologie in den Jahren nach der Thalidomid-Katastrophe wurde der Reproduktionszyklus aus organisatorischen Gründen in drei Segmente unterteilt. Inzwischen wird diese Unterteilung in den internationalen Richtlinien nicht mehr verwendet. Da sie didaktisch sehr hilfreich ist, kann sie in der Gefahrstoffkunde weiterhin sinnvoll verwendet werden.

4.12.3 Drei Segmente der Reproduktionstoxikologie 1. Segment I Fertilität (Fruchtbarkeit) 2. Segment II Entwicklung von Embryo und Fetus 3. Segment III Pränatale und postnatale Entwicklung (Entwicklung kurz vor, während und nach Geburt)

Transferwissen

Der gesamte Reproduktionsprozess ist ein ungeheuer komplexer Vorgang, der auch aufgrund seiner Komplexität an sehr vielen Stellen durch chemische Stoffe schädigend beeinflusst werden kann. Als Beispiel wird den Studierenden der sehr kurze und trotzdem sehr komplexe Vorgang der Befruchtung der Eizelle (Oozyte) durch ein Spermium erklärt. Dabei wird erklärt, wie der Organismus versucht, Fehler zu vermeiden und Gefährdungen durch chemische Stoffe abzuwehren, und dabei in der Regel sehr erfolgreich ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, Respekt vor der Biologie, ihrer Komplexität und Abwehrkompetenz, aber gleichzeitig auch ihrer Empfindlichkeit zu erzeugen. Dies soll helfen, nichts als selbstverständlich anzusehen und zu verstehen, warum die Gefahrenabwehr durch die Maßnahmen der Gefahrstoffkunde auch auf diesem Gebiet eine enorm wichtige Sache ist. Die in der Vorlesung erläuterten Details des Befruchtungsvorgangs sind kein Wissensstoff für die Klausur.

Segment I – Fruchtbarkeit (Fertilität) Der Studienendpunkt Fertilität teilt sich in die männliche und weibliche Fertilitätsprüfung. Im Hintergrund beider Endpunkte sind ähnliche, aber auch verschiedene Angriffsebenen auf die Fertilität zu beachten (Abb. 4.77 und 4.78).

4.12 Reproduktionstoxikologie

275

Leydigsche Zwischenzellen

Basalmembran

Spermien Sperma de

Spermatozyten Spermatogonien

Sertolizelle

Abb. 4.77  Schnitt durch Hodentubulus, Spermatogenese. (Eigene Darstellung)

Akrosome

KOPF

Plasmamebran Nukleus Mitochondrien Zentriole

MITTELSTÜCK

Axialfilament

SCHWANZ

ENDSTÜCK

Abb. 4.78  Spermium. (Quelle: Public Domain Ladyofhats (Villarreal, 2007))

Angriffsebenen männlicher Fertilität • • • • • • •

Sexualverhalten, Libido (Geschlechtstrieb) Hormonhaushalt (Hypothalamus-Hypophysen-Hoden-Achse) Hoden (Spermienproduktion) (siehe Abb. 4.75) Sertoli-Zellen (Stütz-, Ernährungs- und Schutzfunktion) Leydig-Zellen (Testosteronproduktion) akzessorische Geschlechtsdrüsen (z. B. Prostata; Sekret) Spermien (Motilitätsbeeinträchtigung)

Angriffsebenen weiblicher Fertilität • Sexualverhalten, Libido (Geschlechtstrieb) • Hormonhaushalt (Hypothalamus-Hypophysen-Ovarien-Achse) • Eierstöcke (Ovarien) – Eizellentwicklung (siehe Abb. 4.77) (Oogenese) – Eileiter – Gebärmutter (Uterus) • Thekazellen (Androgen) • Granulosazellen (Aromatase) • akzessorische Geschlechtsdrüsen (z.  B. Paraurethraldrüse, Prostata“, Sekret) • Vagina (Motilität und Durchblutung, Sekretbildung)

„weibliche

276

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

EIERSTOCK FOLLIKEL

FOLLIKELFLÜSSIGKEIT Thekazellen OOCYTE Kumuluszellen

Granulosazelle

Abb. 4.79  Ovar (zelluläre, schematische Darstellung). (Eigene Darstellung)

Aufbauwissen

Befruchtung 500 Mio. Spermien/Ejakulation 100.000–300.000 in Zervix (Gebärmutterhals) 500–800 kommen ans Ziel und nur ein Spermium darf befruchten (Abb. 4.80) Frühe Embryonalentwicklung Nach der Befruchtung und der Kernverschmelzung beginnt mit der erste Zellteilung die frühe Embryonalentwicklung (Abb. 4.81). Das Blastula- oder Blastozystenstadium ist auch insofern interessant, als an der Blastozyste den Studierenden erklärt werden kann, was embryonale Stammzellen (Embryoblast = embryonale Stammzellen) sind und wie sie gewonnen werden können. Bis zur Blastozyste gibt es nur Zellteilungen, noch keine Differenzierung der Zellen. Damit ist bis zu dieser Phase jede Zelle, die aus den Zellteilungen der befruchteten Eizelle entstand, noch omnipotent. Die bewirkt, dass die Phase der frühen Embryonalentwicklung auch die „Alles-oder-nichts-Phase“ genannt wird. Eine Schädigung der Zellen kann nicht zu einer Fehlbildung des Embryos führen. Entweder alle Zellen sterben („nichts“) oder eine der Zellen überlebt und ein normaler Embryo („alles“) kann sich daraus entwickeln. Den weiblichen Studierenden wird dabei erklärt, dass auch dies ein Schutz des Organismus darstellt, in einer Phase, in der eine Frau noch nicht wissen kann, dass eine Befruchtung stattgefunden hat (Abb. 4.82 und 4.83).

4.11 Karzinogenese/Karzinogenität

277

Abb. 4.80  Augenblick der Befruchtung. (Eigene Darstellung)

Befruchtung

Vor-KernStadium

Kernschmelzung

30 Stunden

Zellteilung

Morulastadium

Blastulastadium

3 Tage

5 Tage

Einnistung

6 Tage

Abb. 4.81  Frühe Embryonalentwicklung (Konzeption bis Implantation). (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Edingshaus & Zell, 1988)

Abb. 4.82  Blastula/ Blastozyste Aufbau. (Eigene Darstellung)

Zona Pellucida Blastozystenhöhle Trophoblast Embryoplast

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

278

EILEITER TAG 5 TAG 1 EIERSTOCK TAG 6 - 7 EINNISTUNG Gebärmutter Eileiter Eierstock

Zervix Vagina

GEBÄRMUTTER

Abb. 4.83  Frühe Embryonalentwicklung (erste Woche), weibl. reproduktives System. (Quelle: Centers for Disease Control and Prevention, Public Domain (Wikimedia, 2020) und eigene Darstellung in Anlehnung an Vobs, 2020)

Embryoblast = ICM (inner cell mass) ist der Embryo (embryonale Stammzellen) Embryonenschutzgesetz: Embryo im Sinne des Gesetzes ist nach § 8 bereits die befruchtete, entwicklungsfähige Eizelle. Der gesamte Vorgang der frühen Embryonalentwicklung ist in Abb. 4.79 und 4.81 schematisch dargestellt.

4.12.4 Segment II – Embryonal- und Fetalentwicklung Auf die frühe Embryonalentwicklung folgt die eigentliche Embryonalentwicklung, auch Organogenese oder Embryogenese genannt. Sie beginnt mit der Einnistung des Embryos in die Gebärmutter (Uterus) und endet mit der Schließung der Gaumenplatte. Zu diesem Zeitpunkt hat der Embryo durchschnittlich eine Größe von ca. 2–3 cm (siehe auch Abb. 4.84).

4.12 Reproduktionstoxikologie

279

Plazenta Nabelschnur

Eileiter Eierstock FÖTUS

Fruchtwasser Chorion Amnion Zervix Vagina

Abb. 4.84  Weibliche Reproduktionsorgane – Fetus in Uterus. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Lehrmaterial LMU München (Sodian, 2022))

Aufbauwissen

Fehlbildung – Gestörte zelluläre Mechanismen Die Entwicklung von Organen ist sehr komplex, Organe wachsen nicht unabhängig voneinander heran, multipotente Vorläuferzellen (Stammzellen21 mit eingeschränktem Differenzierungspotenzial) bilden Pools und spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Organen. Wenn z. B. das Teilungsvermögen und die Regenerationsfähigkeit von Gewebestammzellen gestört wird, entstehen Fehlbildungen von Organen. Allgemein kann festgehalten werden, dass Teratogenität durch die schädigende Beeinflussung folgender Prozesse der Embryonalentwicklung entsteht: 1. Zelldifferenzierung 2. Zellproliferation (Zellwachstum) 3. Zell-Zell-Wechselwirkung 4. Zell-Extrazellmatrix-Wechselwirkung 5. Zellmigration 6. Apoptosen und Nekrosen (programmierter Zelltod, Zelltod)

21 Stammzellen = Zellen, die sich selbst vermehren können, die aber bei der Zellteilung sich auch in weiter ausdifferenzierte Zellen teilen können. Embryonale Stammzellen können sich in jeden Zelltyp entwickeln, adulte Stammzellen können sich nur noch in einen Zelltyp weiter differenzieren. Multipotente Stammzellen liegen dazwischen.

280

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Die Teratologie unterscheidet sensible Phasen und kritische Phasen der Embryogenese, d. h., spätestens seit Thalidomid ist bekannt, dass exogene Faktoren wie z. B. Schadstoffe zu einem bestimmten Zeitpunkt der Embryogenese nur ein ganz bestimmtes Fehlbildungsmuster hervorrufen können. Sensible und kritische Phasen sind Phasen, in denen die Fehlerrate ansteigt, weil die oben genannten Prozesse besonders schnell ablaufen müssen. Jeder Embryo muss solche Phasen durchlaufen. Entwicklung von Embryo und Fetus (embryofetale Toxizität) Die Embryonalphase, auch Organogenese genannt, ist die Phase maximaler Empfindlichkeit bezüglich Fehlbildungen. Beim Menschen betrifft dies die dritte bis achte Woche. Der Embryo hat dann eine Größe von ca. 2 cm erreicht. In dieser Phase geschieht die Differenzierung der Organanlagen. Jeder Schaden ist in dieser Phase irreparabel! Zahlreiche unterschiedliche Missbildungen sind möglich (je nach Phase). Im Rattenmodell werden die Muttertiere zwischen Tag sechs und 15 mit dem Prüfstoff behandelt und am Tag vor der errechneten natürlichen Geburt getötet und die Feten analysiert (50 % Weichteil und 50 % Skelett). Als zweite Spezies wird das Kaninchen verwendet (siehe auch Abb. 4.85, 4.86 und 4.87).

Abb. 4.85  Ratte – Siamesische Zwillinge (Skelettfärbung Alizarinrot). (Eigenes Foto)

Abb. 4.86  Kaninchen – Fusionierte Rippen (Alzarinrot). (Eigenes Foto)

4.12 Reproduktionstoxikologie

281

Abb. 4.87  Kaninchen – Asymmetrischer Wirbel im Brustkorb/Lendenbereich, rudimentäre Rippen. (Quelle: Toxikologie Merck (Gleich, 2004))

4.12.5 Teratogenität Mensch Kongenitale Fehlbildungen in Prozent der Geburten (Fehlbildungen bei der Geburt) Die über die Jahre publizierten Häufigkeitsstatistiken zeigen beträchtliche Schwankungen. Es ist nicht einfach, daraus zuverlässige Zahlen zu extrahieren, aber die folgenden Werte scheinen realistisch. • 1–3 % bei Geburt (Skelett, Organe) • 5–7 % bei sorgfältiger Nachsorge in späterem Leben, denn viele Fehlbildungen können erst später erkannt und objektiviert werden • Fehlbildungen zu 20–25 % an Kindersterblichkeit im Säuglingsalter beteiligt • Beispiel, das einen Erfolg zeigt: 1 % aller Babys in Deutschland kommt mit Herz- oder Gefäßmissbildung zur Welt (50 % wurden erkannt). Heute wird auch der Rest durch systematisches Herzscreening, d. h. Echokardiographie mit Ultraschall, erkannt. Sterblichkeit, die auf dieser Ursache beruht, wurde quasi beseitigt.

Ursachen kongenitaler Fehlbildungen •

Genmutationen

7–8 %



Chromosomenaberrationen

6–7 %



exogene Faktoren

7–10 % (Schadstoffe, Viren?)



multifaktorielle Ursachen

20–25 %



unklare Ätiologie

50–60 %

(Wilson, 1972)

282

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Aufbauwissen

Diese statistischen Zahlen sind geschätzt, wurden aber in neueren Arbeiten in ihrer Größenordnung bestätigt. Dies bedeutet, dass trotz jahrzehntelanger intensiver Forschung die Ursachen der meisten angeborenen Fehlbildungen noch unbekannt sind. Die Einwirkungsmöglichkeiten von Schadstoffen sind aufgrund der komplexen Prozesse der Embryogenese vielfältig. Für 65–70 % ist ein einzelner Ursachenfaktor nicht erkennbar, sodass für 2/3 aller Fehlbildungen davon ausgegangen wird, dass die Fehlbildungen auf spontanen Systemfehlern in der Embryogenese beruhen.

Fehlbildung und Kultur

Fehlbildungen können spontan entstehen, d. h. ohne Einfluss von außen, sie können aber auch durch chemische Stoffe verursacht werden oder auch als Folge einer Mangelernährung der Mutter auftreten. In früheren Jahrhunderten wurden für Fehlbildungen in der Regel religiöse Erklärungen kommuniziert, die für die Betroffenen und ihre Eltern eine große Belastung darstellten. Fehlbildungen können zu sehr dramatischen Situationen führen. Ein sehr einprägsames Beispiel ist Lakshmi Tatma, ein indisches Mädchen, das in der Nacht des Diwali-Festes als sog. parasitärer Zwilling geboren wurde (vier Arme und vier Beine). Sie wurde Lakshmi genannt, weil gläubige Hindus sie als eine kleine Göttin verehrten, denn auch die Göttin Lakshmi hat vier Arme. Ärzte und Familie mussten deshalb hohe Hürden überwinden, um ihr operativ zu einem verhältnismäßig normalen Leben zu verhelfen, denn diese OP war sozusagen eine Gotteslästerung. 2007 gelang in Bangalore, Indien, die erfolgreiche Operation. Eine gemeinfreie Abbildung steht nicht zur Verfügung. Im Internet kann man sich sehr leicht einen eigenen Eindruck zu diesem Fall verschaffen. Fehlbildungen, auch wie die von Lakshmi Tatma, gab es zu allen Zeiten, sie sind keine Errungenschaft der modernen Welt. Es hat sie immer gegeben, nur nicht so gehäuft wie nach Contergan. Im Mittelalter wurden fehlgebildete Menschen Monster genannt und gegen Eintritt auf Jahrmärkten zur Schau gestellt. Die Zeichnung von Ulisse Aldrovandi soll den Studierenden ein Beispiel aus dem 17. Jahrhundert zeigen (Abb. 4.88). Auch heute noch werden, selbst in Europa, Mütter, die z. B. ein Kind mit einer Gaumenspalte zur Welt bringen, beschuldigt, etwas falsch gemacht zu haben oder nicht ausreichend gottesfürchtig gelebt zu haben. Dank der modernen Medizin und Chirurgie können heute viele Fehlbildungen bereits im Kleinkindalter korrigiert werden (siehe z. B. Abb. 4.89).

4.12 Reproduktionstoxikologie Abb. 4.88  Fehlbildung Mensch – Historische Zeichnung. (Quelle: Ulisse Aldrovandi, 1696)

Abb. 4.89  Lippen-/ Gaumenspalte. (Quelle: Public Domain (CDCP, 2007))

283

284

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

4.12.6 Vier Beispiele für embryofetale Toxizität Beispiel 1: Thalidomid (Contergan) Thalidomid galt als ungefährlich und wurde deshalb schwangeren Frauen verschrieben. Es stellte sich aber heraus, dass es eine große Gefahr für die Entwicklung eines Embryos darstellt. Dies bedeutete einen Schock für die gesamte Welt und war der weltweite Startschuss für die Entwicklung der Regulatorischen Toxikologie und der Gefahrstoffkunde. Nach dieser Katastrophe gründeten alle großen Chemie- und Pharmafirmen und Behörden toxikologische Einheiten. Indikation: Schlaf- und Beruhigungsmittel, das von 1957 bis 1961 wegen seiner im Vergleich zu den damals gebräuchlichen Schlafmitteln (Barbituraten) geringen Toxizität, vor allem an Schwangere verschrieben wurde, um diesen und den Ungeborenen die ernsten Nebenwirkungen der Barbiturate zu ersparen. Aufbauwissen

Es war in dieser Zeit nicht vorstellbar, dass ein Arzneimittel mit einer ausgesprochen geringen akuten Toxizität in einem Embryo bereits bei niedriger therapeutischer Dosierung von 1–2 mg/kg KGW schwere grobstrukturelle Fehlbildungen auslösen könnte. Die Häufung ungewöhnlicher Gliedmaßenfehlbildungen fiel jedoch dem Kieler Kinderarzt Hans-Rudolf Wiedemann auf und er vermutete bereits eine externe Ursache. Mehreren Kliniken zusammen mit dem Humangenetiker Widukind Lenz gelang es Ende 1961 aus einer Reihe von möglichen Stoffen Thalidomid als Ursache zu identifizieren. Missbildungen und Letalität 1. Gliedmaßen: Amelie (fehlend), Phokomelie (verkürzt) 2. Herz und Verdauungstrakt 3. Zahl der dokumentierten Fälle mit grobstrukturellen Fehlbildungen weltweit ca. 10.000 (ca. 4000 in Deutschland) 4. erhöhte Mortalität vor allem im 1. Lebensjahr Thalidomid wird heute noch verschrieben, vor allem als wirksames Medikament bei Lepra und in der Onkologie (Krebstherapie). Thalidomid blockiert u. a. den Wachstumsfaktor VEGF (vascular endothelial growth factor). Dieser Wachstumsfaktor ist erforderlich bei der Bildung neuer Blutgefäße. Die Sprossung neuer Blutgefäße und damit die Blutversorgung wachsender Gewebe und Organe ist eine Grundvoraussetzung für die Bildung und das Wachstum von Gliedmaßen während der Embryogenese aber auch für das Wachstum von Tumoren und vor allem Metastasen. Letzteres erklärt die Verwendung in der Krebstherapie metastasierender Tumoren.

4.12 Reproduktionstoxikologie

285

Eine allgemein wachstumshemmende Wirkung ist aber auch einer der Gründe, warum alle in der Krebstherapie angewandten Zytostatika immer auch eine teratogene Wirkung besitzen.

Beispiel 2: Diethylstilbestrol (DES) Indikation: 1938–1971 Schwangerschaftserhaltung, nichtsteroidaler, selektiver Östrogenrezeptormodulator (Thole & Freyberger, 2019, S. 704 f.) Exposition: ca. 10 Mio. US-Amerikanerinnen, Hunderttausende in Europa, Kanada und Australien Toxische Wirkungen in Nachkommen • ♀ transplazentare Karzinogenese (Adenokarzinome der Vagina und Zervixkarzinome, im Alter von 8–25 Jahren) • ♂ Hodenkarzinome, reduzierte Spermiendichte, Nebenhodenzysten, Mikropenis, Bauchhoden Das Fallbeispiel DES zeigt die Problematik der Übertragbarkeit von Tiermodellen. Kein Tiermodell kann eine Wirkung nachbilden, die beim Menschen in der nächsten Generation erst nach acht bis 25 Jahren als Tumor auftritt.

Beispiel 3: Ethanol (EtOH) Was macht das in vielen Teilen der Welt legale Genussmittel Ethanol zu einer der größten Gefahren für die Menschen? EtOH ist das wichtigstes Teratogen in den Industrienationen! Anzahl neuer Fälle: ca. 0,6 % der Neugeborenen (4000/Jahr in D) (geschätzte Dunkelziffer ca. 11.000 bis 16.000/Jahr in D) Schädigungen der Nachkommen 1. Minderwuchs („Kümmerlinge“) 2. Muskelschwäche 3. Mikroenzephalie (kleineres Gehirn) 4. Missbildung innerer Organe (z. B. Herzanomalie), Genitalien und Skelett (Wirbelsäulenverkrümmung, Verwachsungen, …) 5. Gesichtsfehlbildung (sog. „Syndromgesicht“, kraniofaziale Veränderung) 6. Funktionelle Schädigungen (z. B. kognitive Behinderung, Lernschwäche, Epilepsie und Störungen des Sozialverhaltens) fetales Alkoholsyndrom (FAS) (Alkoholembryopathie): voll ausgebildet bei 2 g EtOH/kg/Tag Jede Alkoholikerin wird ein geschädigtes Kind zur Welt bringen. Für alle nichtalkoholabhängigen schwangeren Frauen: Es gibt keinen Schwellenwert und keine Toleranzgrenze für EtOH (Abb. 4.90)!

286 Abb. 4.90  Kind mit FAS, schematisch. (Quelle: Eigene Darstellung)

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Mikrozephalie

niedrige

rn

Hypertelorismus abfallende Lidachsen Epikanthus fehlendes Philtrum Schmales Lippenrot

Beispiel 4: Kokain Welche Gefahren drohen der menschlichen Reproduktion durch eine der beliebtesten illegalen Drogen? Eine der zahlreichen ungewollten pharmakologischen Wirkungen des Kokainkonsums ist seine gefäßverengende Wirkung, die sich im Organismus der Mutter, aber vor allem in dem des Ungeborenen verheerend auswirken können (Sauerstoffmangel). Mögliche Schäden der Nachkommen: • Früh- und Fehlgeburt, vermindertes Geburtsgewicht oder auch Tod des Fetus • Defekte des Zentralnervensystems, inkl. Mikroenzephalie (kleineres Gehirn), Kopfumfang kann auch geringer sein als im Durchschnitt, Hirnzysten und Hirnblutungen nach der Geburt • Gliedmaßendefekte und Herzfehler • Fehlbildungen im Bereich des Urogenitaltraktes (Nieren, Harnableitungen, Geschlechtsorgane), • funktionelle Störungen wie Verhaltensauffälligkeiten, geistige Entwicklungsstörungen

Aufbauwissen

Weil Drogenabhängige fast immer unterschiedliche Drogen (inkl. Alkohol) konsumieren und auch einen Lebensstil pflegen, der das Ungeborene schädigen kann, ist es schwierig, epidemiologisch eine reproduktionstoxikologische Wirkung spezifisch einer illegalen Droge, z. B. Kokain, zuzuordnen. Die hier angegebenen Wirkungen können deshalb auch Mischeffekte darstellen. Wegen der teratogenen Wirkung von Ethanol auf andere Drogen auszuweichen, bringt nichts!

4.12 Reproduktionstoxikologie

287

4.12.7 Erwiesene Humanteratogene Spezifische Teratogene (phasenspezifisch, speziesspezifisch, dosisspezifisch) • Ethanol • Thalidomid • Folsäureantagonisten (Aminopterin und Methotrexat) • Retinoide (Isotretinoin, Vitamin-A-Unter- bzw. Überdosierung) • Antikoagulanzien vom Typ Warfarin, Coumarin • Antiepileptika (Carbamazepin, Valproinsäure, Phenytoin) • Diethylstilbestrol

Unspezifische Teratogene • Antimetaboliten (Zytostatika) • alkylierende Substanzen (Zytostatika) • Lebensstil (Drogen + Fehlernährung + medizinische Unterversorgung,…  ) Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin

Transferwissen

Embryotoxische Viren/Bakterien/Protozoen • Röteln (Rubeolavirus) • CMV (Cytomegalievirus) • HSV (Herpes-simplex-Virus) • Windpocken (Varicellavirus) • AIDS (HI-Virus) • Bakterien (Syphilis durch Treponema pallidum) • Protozoen (Toxoplasmose durch Toxoplasma gondii) • verursachen teilweise schwere Embryotoxizität, z. B. Augenschäden, Herzfehler und geistige Behinderung

4.12.8 Segment III – Pränatale und postnatale Entwicklung Segment III umfasst die Entwicklung vor, während und nach der Geburt. Auch die Geburt selbst ist ein sehr komplexer Vorgang, der durch chemische Stoffe schädigend beeinflusst werden kann. Das Rattenmodell ist auch in der Lage, schädigende Wirkungen von chemischen Stoffen in dieser Phase zu erfassen.

288

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Entwicklung vor und nach Geburt (pränatale und postnatale Entwicklung) Gaumenschluss → Ende der Schwangerschaft • fetale Entwicklung • Wachstum Geburt → Entwöhnen (Abstillen) • Geburt • Laktation (Stillperiode) • Anpassung an Umwelt (extrauterines Leben) • Entwicklung Entwöhnung → sexuelle Reife • jugendliche Entwicklung, Wachstum • Anpassung an unabhängiges Leben • Erreichen eines vollständigen Sexualverhaltens • dynamische Entwicklung des ZNS (bis ca. 20. Lebensjahr)

Funktionelle Schäden Ein besonders wichtiges System, das sich in dieser Phase entwickelt, ist das Zentralnervensystem (ZNS). Aus diesem Grund spielen Verhaltenstests in der toxikologischen Prüfung der sog. Peripostnatalstudie eine zentrale Rolle (Verhaltenstoxikologie, behavioral toxicology). Mit dieser Prüfung kann der Einfluss von Schadstoffen auf die Ausreifung des ZNS erfasst werden. Bei Menschen mit abnormem Verhalten, z. B. aggressive Hooligans, kann nicht ausgeschlossen werden, dass ihr Verhalten auf einer Schädigung in der Fetal- und in der Peripostnatalperiode beruht. Aufbauwissen

Mechanismen der Schädigungen Die durch chemische Stoffe verursachte fehlerhafte Verwendung der genetischen Information der Zellen führt zu Problemen bei der Differenzierung der Zellen, der Zellmigration, der Zell-Zell-Kommunikation und damit zu Fehlentwicklungen in der Embryogenese, der Fetogenese und der Peripostnatalentwicklung. Während der Fetogenese und der Peripostnatalentwicklung sind vor allem funktionelle Störungen des Zentralnervensystems besonders zu beachten. Man kann deshalb in den GFK-Vorlesungsveranstaltungen die Reproduktionstoxikologie zeitlich auf die Neurotoxizität abstimmen.

289

4.12 Reproduktionstoxikologie PAARUNG

ABSETZEN HODENUNTERSUCHUNG

Spermatogenese 70 Tage

TRÄCHTIG 21 23 TAGE

14. – 21. Tag Einige Zyklen Tag 0

6

Postnatale Entwicklung 21 – 28 Tage GEBURT

15

Tag 6 bis Tag 15 Behandlung/ Organogenese

Tag 21 C-Se on

Abb. 4.91  Reproduktionstoxikologie – Rattenmodell. (Eigene Darstellung)

4.12.9 Reproduktionstoxikologische Prüfung – Studienendpunkte (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1195 f.) Ziel der Prüfungen ist, alle Phasen des Reproduktionszyklus abzudecken und die Gefahren aufzudecken, die der menschlichen Reproduktion durch chemische Stoffe drohen können. Die Phasen des Reproduktionszyklus sind somit der Fahrplan für die reproduktionstoxikologischen Prüfungen: 1. Fruchtbarkeit (Fertilitätsstörung) 2. Entwicklung von Embryo (Embryotoxizität), Fehlbildungen (Teratogenität), Tod 3. Entwicklung von Fetus (Fetotoxizität), gestörte Funktion, gestörtes Wachstum, Tod 4. Pränatale und postnatale Entwicklung (kurz vor, während und nach Geburt) Im Rattenmodell können alle Phasen abgebildet werden. Die Studienendpunkte Fertilität, Embryotoxizität und Peripostnataltoxizität können im Tiermodell geprüft werden. In dieser Vorlesung wird diesbezüglich das Rattenmodell vorgestellt (Abb. 4.91).

Symptome abnormer Entwicklung 1. Tod des Ungeborenen 2. Missbildung/Fehlbildung (Teratogenität22) 3. Wachstumsverzögerung (Retardierung) 4. funktionelle Störung (Reflexe, Verhalten, kognitive Leistung, …)

22 Teratogenität

(gr.  teras oder teratos – Monster oder Wunderding).

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

290

5. NCD (non-communicable disease) wie z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs, Diabetes, … Während der Embryofetalentwicklung werden Veränderungen erzeugt, die im späteren Leben zu Erkrankungen führen.

Aufbauwissen

Zusammenfassung der phasenspezifischen Schädigungen • Reifung der Reproduktionsorgane/Keimzellen – Zeugungsfähigkeit, Paarung, Befruchtung (Konzeption)

• Frühe Embryonalphase („Alles-oder-nichts-Phase“) – Konzeption bis Implantation (Einnistung in Uterus), Mensch 1.–2. Woche – Frühentwicklung, Schädigung des Embryos →  Tod oder volle Kompensation Abort oder Normalentwicklung, keine Fehlbildung! – Schätzung: nur ca. 1/3 aller befruchteten Eizellen gelingt erfolgreiche Entwicklung – bei zweifacher Ovulation: mehreiige Zwillinge – bei vollständiger Teilung der Blastozyste: eineiige Zwillinge – bei unvollständiger Teilung: siamesische Zwillinge • Embryonale Phase (Phase maximaler Empfindlichkeit) – Mensch: 3.(2.) – 8. Woche (Größe < 2 cm) – Differenzierung der Organanlagen (Organogenese), Schäden irreparabel! – unterschiedliche Fehlbildungen möglich (je nach Embryonalstadium) • Fetalphase (Phase möglicher Wachstumsverzögerung) – Mensch: 9.–38.* Woche (3.–9. Monat) – „nur“ Wachstum (2–45 cm!) und funktionelle Reifung von Organen und Systemen – empfindlich: Gehirn (ZNS), Urogenitaltrakt, Immunsystem, Hormonsystem, Krebs im Kindes- und Jugendlichenalter Ein wichtiger Punkt möglicher Gefahren ist, dass die verschiedenen Organsysteme sich nicht gleichzeitig entwickeln und damit auch zu verschiedenen Entwicklungsstadien unterschiedliche Organsysteme geschädigt werden können (siehe auch Abb. 4.92).

4.13  Immuntoxikologie -Toxische Wirkungen auf Komponenten … BLASTOGENESE

1

2

EMBRYOGENESE

3

4

5

6

291

FETALPERIODE in Wochen

7

8

9

16

20 36

38

Zentralnervensystem s Herzz Arme Augen e Beine Zähne h Gaumen Äußere ß Genitale a O Ohren Pränataler Tod

Grobe morphologische Defekte

Geis ger und körperlicher Entwicklungsrückstand / Kleinere morphologische Defekte

Abb. 4.92  Fehlbildungswahrscheinlichkeit – Entwicklungsstadien Mensch. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Krotmeier, 2015)

4.13 Immuntoxikologie – Toxische Wirkungen auf Komponenten des Immunsystems (Neubert & Neubert, 2019)

4.13.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • Besonderheiten des Immunsystems, wie ist es organisiert? • Was versteht man unter Immuntoxizität? • Prüfmethoden?

292

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

4.13.2 Grundlagen Immunsystem Organisation des Immunsystems Das Immunsystem wird nicht zentral von einem spezifischen Immunorgan bewerkstelligt bzw. reguliert. Jedes Gewebe oder Organ (z. B. Haut, Niere, Leber usw.) des menschlichen Organismus verfügt über ein eigenes Immunsystem. In einem komplexen Zusammenspiel mit den sog. primären und sekundären lymphatischen Organen bewirken diese Immunsysteme den Schutz des gesamten Organismus. Aufbauwissen

Diese Organisation ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Funktion der gewebe- und organspezifischen Immunsysteme nicht in erster Linie der Abwehr und Reparatur äußerer Angriffe dient, sondern ganz umfassend der Gesund- und Funktionserhaltung der einzelnen Gewebe und Organe. Zu den äußeren Angriffen zählen z. B. Krankheitserreger wie Bakterien und Viren, aber auch chemische Stoffe und mechanische Gewalt. Interne Angriffe können z. B. durch Produkte des endogenen Stoffwechsels erfolgen wie z. B. reaktive Sauerstoffspezies, die die körpereigenen Zellen selbst produzieren. Neben der Abwehr externer Angriffe dient das Immunsystem deshalb vor allem dazu, z. B. Zelluntergänge (Nekrosen, Apoptosen) und Entartungen (mutierte Zellen, Krebszellen) abzuräumen, umso die Integrität und die einwandfreie Funktion der Gewebe und Organe zu erhalten.

Angeborenes, unspezifisches Immunsystem Diese Funktion ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil des Immunsystems, der meistens als angeborenes oder unspezifisches Immunsystem bezeichnet wird. Das angeborene Immunsystem wird so bezeichnet, weil es bereits zum Zeitpunkt der Geburt aktiv ist. Es besteht aus Fresszellen, zu denen Makrophagen, Monozyten und Granulozyten gehören. Diese Zellen werden über chemische Botenstoffe an den Ort des Geschehens gelockt, z. B. zu einer Wunde (Nekrosen) oder einem Infektionsherd. Erworbenes, spezifisches Immunsystem Zusätzlich zu diesem Basisimmunsystem verfügen Wirbeltiere wie der Mensch über eine sog. adaptive Immunabwehr. Dieser Teil des Immunsystems wird so bezeichnet, weil sein Aufbau erst mit der Geburt startet und es sich im Laufe des Lebens stetig weiterentwickelt. Durch dieses System wird die Abwehr sehr gezielt an die jeweilige Bedrohung angepasst, sie schützt die Organe und den Gesamt-

4.13  Immuntoxikologie -Toxische Wirkungen auf Komponenten …

293

organismus dadurch sehr viel wirkungsvoller, z. B. vor Viren oder Tumorzellen, als es das unspezifische Basisimmunsystem kann. Das Ziel ist, schneller und gezielter auf wiederkehrende Bedrohungen reagieren zu können. Dieses spezifische System lernt lebenslang dazu und bildet ein immunologisches Gedächtnis aus. B-Zellen merken sich die Beschaffenheit der Erreger. Bei einer erneuten Infektion kann das System sehr schnell passende Antikörper produzieren und eine spezifische Abwehr aufbauen. In der Regel dauert es vier bis fünf Tage, bis diese spezifische Abwehr voll einsatzbereit ist. Das immunologische Gedächtnis bleibt danach längere Zeit bestehen.

Aufbauwissen

T- und B-Gedächtniszellen überleben in sog. Überlebensnischen des Knochenmarks. Dort werden für sie entsprechende Faktoren bereitgestellt, die ein ungewöhnlich langes Überleben möglich machen. Nachgewiesen wurden bisher Überlebenszeiten von bis zu 22 Jahren (Landsverk, et al., 2017)! Wichtige Trainingspartner des spezifischen Immunsystems sind z. B. die Mikroorganismen auf der Haut und im Darm (Mikrobiom). Es besteht im Wesentlichen aus B- und T-Lymphozyten. Sie werden im Knochenmark gebildet (Hämatopoese). Sie sammeln sich später in den Lymphknoten und der Milz.

Organe des Immunsystems Das Immunsystem ist auf viele verschiedene Gewebe und Organe verteilt und weil diese Gewebe und Organe sehr verschiedene Funktionen haben, die meistens von der Immunabwehr unabhängig sind, spielen multiple Interaktionen eine wichtige Rolle. 1. zahlreiche organspezifische Immunsysteme – Darm, Niere, Haut, … 2. primäre lymphatische Organe – Knochenmark – Thymus (Ausreifung von T-Zellen) – Funktion: Bildung von Lymphozyten 3. sekundäre lymphatische Organe – Lymphknoten und Lymphgefäße – Milz – Mandeln – verschiedene Schleimhautgewebe des Körpers lymphatische Gewebe [MALT], z. B. Darm)

(mukosaassoziierte

294

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

– Funktion: Differenzierung (Aktivierung) von reifen, noch naiven Lymphozyten durch Kontakt mit Antigenen i. B-Lymphozyten →  antikörperproduzierende Plasmazellen und B-Gedächtniszellen ii. T-Lymphozyten → T-Effektor- und T-Gedächtniszellen

Zelluläre Bestandteile des Immunsystems • Granulozyten • Makrophagen • dendritische Zellen • natürliche Killerzellen • T-Lymphozyten – T-Helferzellen – regulatorische T-Zellen – zytotoxische T-Zellen • B-Lymphozyten

4.13.3 Primäre Immunantwort Humoral • B-Lymphozyten Plasmazellen → Antikörper • Neutralisation des Antigens • B-Gedächtniszellen • Antikörper • Komplementfaktoren • Interleukine Zellulär • veränderte Körperzellen (infiziert) • T-Killerzellen • Bindung an infizierte Zellen → Lyse → Recycling des Zellmaterials • T-Zell-Aktivierung → T-Gedächtniszellen

Verlauf einer primären Immunantwort/Immunreaktion 1. Antigen* → Organismus/Immunsystem (Exposition) 2. Immunantwort nichtadaptiv (sofort) bzw. adaptiv (Tage – Wochen – Jahre) a) gefährliches Antigen als gefährlich eingestuft (→ ok) produktive Immunantwort → Entfernung des Antigens/Erregers → Immungedächtnis

4.13  Immuntoxikologie -Toxische Wirkungen auf Komponenten …

295

b) gefährliches Antigen als ungefährlich eingestuft (→ Problem) Immunevasion (immune escape) → ungenügende Schutzfunktion (Erkrankung) c) ungefährliches Antigen als ungefährlich eingestuft (→ ok) Immuntoleranz (keine Immunreaktion, auch nicht in Zukunft) d) ungefährliches Antigen als gefährlich eingestuft (→ Problem) Allergie/Autoimmunreaktion → Immungedächtnis

4.13.4 Sekundäre Immunantwort/Immunreaktion Erneute Exposition gegenüber gleichem Antigen zu 2a:  zu 2b:  zu 2c:  zu 2d: 

p roduktive Immunantwort → sofortige Gegenwehr (Minuten) ( → ok) Immunevasion → kein Immunschutz (→ Problem) Immuntoleranz → keine Reaktion (→ ok) Allergie/Autoimmunreaktion → sofortige Überreaktion

(anaphylaktischer Schock, Autoimmunschub, …) (→ Problem)

4.13.5 Haut – Sensibilisierende Wirkung (allergisierend) • Induktion durch Allergen (Sensibilisierung) (Exposition mit Antigen) Sensibilisierungsphase (fünf Tage bis mehrere Jahre) Vermeidung der Exposition potenzieller Allergene sinnvoll, ca. 10 % genetisch disponiert • Immunantwort auf dieses Antigen eigentlich normale Reaktion auf Fremdsubstanz kann fehlreguliert sein, z. B. überschießende Bildung von IgE • Allergieauslösung (erneute Exposition mit Antigen) Freisetzung z. B. IgE-vermittelter Entzündungsmediatoren, z. B. Histamin • Ekzem, Neurodermitis

4.13.6 Immuntoxizität Immuntoxizität kann wie folgt auftreten: 1. Immunsuppression – induzierte verminderte Immunfunktion 2. Immunogenität – Induktion von Antikörpern, z. B. durch Bindung an größere Moleküle 3. Überempfindlichkeit – Sensibilisierung durch chemischen Stoff überschießende Immunantwort

296

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

4. Autoimmunität – Immunreaktionen auf körpereigene Antigene – Bildung langlebiger B- und T- Gedächtniszellen gegen körpereigene Antigene – unerwünschte Immunstimulation (ständig, schubweise) Aktivierung der Wirkmechanismen des Immunsystems Schadstoffe können auch sekundär immuntoxisch wirken, wenn sie die Integrität und die einwandfreie Funktion von Geweben und Organen stören und danach die Reparatur behindern: • Verursachung von Zelltod (Nekrosen) • Induktion von programmiertem Zelltod (Apoptosen) von Immunzellen • Interaktion mit zellulären Rezeptoren, in Zielgeweben und Nicht-Ziel-Immunzellen

4.13.7 Prüfung auf immuntoxikologische Wirkung (Immuntoxikologie) Die Prüfung auf immuntoxikologische Wirkung erfolgt sowohl mittels Standardtoxizitätsstudien als auch mittels Studien, die einen spezifisch immuntoxikologischen Endpunkt besitzen.

Aufbauwissen

Standardtoxizitätsstudien (immuntoxikologisch relevante Parameter) Extension to OECD-Guideline 407, 28-day repeated dose oral toxicity test in the rat (Institóris, et al., 1998) • hämatologische Veränderungen wie Leukozytose, Granulozytopenie oder Lymphopenie • Veränderungen der Organgewichte oder der Histologie von Organen, die Zellen des Immunsystems produzieren wie Thymus, Milz, Lymphknoten und Knochenmark • Veränderungen, die sich nicht durch andere Toxizitäten erklären – Globuline im Blutserum verändert – erhöhte Inzidenz von Infektionen (Immunsuppression?) – vermehrtes Auftreten von Tumoren (Immunsuppression?) Spezifische Immuntoxikologiestudien (Beispiele) • Maximierungstest nach Magnusson-Kligman- und Buehler-Test an Meerschweinchen (OECD-Guideline 406) (Induktion und Challenge, s. u.)

4.13  Immuntoxikologie -Toxische Wirkungen auf Komponenten …

297

• lokaler Lymphknotentest (LLNA) (in vivo Maus) (Hautsensibilisierung) (OECD-Guideline 429) – AOP23 = T-Zell-Aktivierung und -Proliferation

• in vitro skin sensitisation (Hautsensibilisierung) (OECD-Guideline 442E) – AOP 01 Kovalente Bindung elektrophiler Substanzen an nucleophile Zentren in Hautproteinen – AOP 02 Inflammatorische Reaktionen/Veränderungen – AOP 03 Aktivierung dendritischer Zellen (DC) Im Gegensatz zur Arzneimitteltoxikologie spielen bei den Industriechemikalien systemische immuntoxikologische Effekte keine wesentliche Rolle. Hier steht vor allem die sensibilisierende Wirkung auf der Haut oder im Atemtrakt im Vordergrund (Hautallergene, Atemwegsallergene). Deshalb kann sich die Gefahrstoffvorlesung auf diesen Bereich konzentrieren. Um den Studierenden die sehr komplexe Immuntoxikologie zu ersparen, ist es sinnvoll, sich in der Vorlesung auf eine gängige Prüfmethode zu beschränken, die sehr oft zur Einstufung und Kennzeichnung von sensibilisierenden Gefahrstoffen verwendet wird.

Standardprüfmethode – hautsensibilisierende Wirkung Beispiel: Maximierungstest nach Magnusson-Kligman (OECD-Guideline 406) • Tierspezies: Meerschweinchen • Induktion mit Prüfsubstanz (Sensibilisierung) – Auftropfen (dermal) oder intradermale Injektion mit und ohne FreundAdjuvans (FA) – FA → verstärkt Immunreaktion des Organismus FA = Wasser-in-Öl-Emulsion von abgetöteten Mikroorganismen (Mycobacterium tuberculosis) • Ruhezeit ca. 14 Tage (Immunreaktion) • Provokation (challenge) mit Prüfsubstanz • (Auslösephase) wird zum zweiten Mal aufgetropft oder intradermal injiziert (nichtreizende Konzentration)

23 AOP = adverse

outcome pathway.

298

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

4.14 Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin (Gundert-Remy & Kramer, 2019), (Muhle & Pauluhn, 2019), (Merk, 2019)

4.14.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • Vorlesung möchte Bewusstsein schaffen für unmittelbare Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz • Kontakt der Toxikologie mit Rechtskunde

Vorbemerkung Die Toxikologie in der Arbeitswelt, die Gewerbetoxikologie, ist für angehende Chemiker und Chemikerinnen von besonderer Bedeutung, weshalb sich diese Veranstaltung der Gefahrstoffkundevorlesung besonders auf bestimmte Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz fokussiert. Zahlreiche Punkte dieser Vorlesungsveranstaltung werden im Teil der Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde) (Kap. 5) erneut aufgegriffen und im Detail besprochen. Diese Vorlesungsveranstaltung ist deshalb für die Studierenden gedacht, die in ihrem Curriculum nur die GFK-I-, nicht aber die GFK-II-Vorlesung belegen müssen. Die Vorlesung möchte ein Bewusstsein schaffen für unmittelbare Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz, aber nicht nur dort! Grundlagen Gewerbetoxikologie Was ist Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin? Die Gewerbetoxikologie ist ein Arbeitsgebiet, auf dem sich die Toxikologie und die Arbeitsmedizin überschneiden. Sie ist ein Arbeitsgebiet, das sowohl von der Toxikologie als auch von der Arbeitsmedizin bearbeitet wird. Die Gewerbetoxikologie erkennt, analysiert, bewertet und kontrolliert akute und chronische Gefahren am Arbeitsplatz, die zu Gesundheitsbeeinträchtigungen der Beschäftigten führen können. Daraus folgend befasst sie sich vor allem mit der Prävention durch die Beachtung von Schutz und Verhütungsmaßnahmen inkl. der Schulung sowie der Aufstellung von Toleranzgrenzen und der Einhaltung von Grenzwerten. Hauptaufgaben der Gewerbetoxikologie • Arbeitsplatzmessungen • Analyse von Schadstoffen • Gefährdungspotenzial (hazard) • Risikoabschätzung (risk) • Festlegen von Toleranzgrenzen • Schutzmaßnahmen • Vermeidung/Verminderung der Exposition (Grenzwerte)

4.14 Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin

299

4.14.2 Gewerbetoxikologie und Arbeitsmedizin Die Gewerbetoxikologie arbeitet eng mit Arbeitsmedizin zusammen. Die Arbeitsmedizin ist eine vorwiegend präventiv orientierte, medizinische Fachdisziplin. Sie befasst sich mit der Untersuchung, Bewertung, Begutachtung und Beeinflussung der Wechselbeziehungen zwischen Anforderungen, Bedingungen, Organisation der Arbeit einerseits sowie dem arbeitenden Menschen, seiner Gesundheit, seiner Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit und seinen Krankheiten andererseits.

Arbeitsmedizin • medizinische Fachdisziplin • vorwiegend präventiv orientiert • Arbeitsweise – Untersuchung – Bewertung – Begutachtung – Beeinflussung der Wechselbeziehung zwischen Arbeit und arbeitenden Menschen. • Arbeit: Anforderungen, Bedingungen, Organisation • arbeitende Menschen: Gesundheit, Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit, Krankheiten Es ist für die Arbeitsmedizin deshalb unverzichtbar, über Informationen zur Toxizität und zum Gefährdungspotenzial von Schadstoffen zu verfügen, um daraus zusammen mit Toxikologen und anderen wissenschaftlichen und technischen Experten eine Risikoevaluierung und ein Risikomanagement zu entwickeln.

Toxizität, Gefährdung, Risiko und Exposition Zur Gedächtnisauffrischung der Studierenden werden an dieser Stelle vier zentrale Begriffe der Gefahrstoffkundevorlesung (Toxizität, Gefährdung, Risiko und Exposition) nochmals kurz vorgestellt: 1. Toxizität: das Vermögen von chemischen Stoffen, lebende Organismen zu schädigen 2. Gefährdung (hazard): die innewohnende Eigenschaft eines Stoffes, bei einer bestimmten Exposition einen Schaden zu verursachen 3. Risiko: die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmter schädigender Effekt bei definierten Expositionsbedingungen eintritt (Abb. 4.94) 4. Exposition (Einwirkung):  das Ausgesetztsein des Organismus gegenüber „Umwelteinflüssen“, insbesondere gegenüber schädigenden Fremdstoffen (Schadstoffen) (Abb. 4.93)

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

300

AUFNAHME

VERTEILUNG KAPILLARENDOTHEL

VENE

ARTERIE

i.v.

INJEK TION

i.m. s.c.

INHAL ATION

Lunge

GEWEBE ORAL

Magen Darm

DERMAL

Haut

Leber

Abb. 4.93  Expositionsformen. (Eigene Darstellung)

Abb. 4.94  Risikoabschätzung – Hohes Risiko bei geringem Gefährdungspotenzial. Ein Smartphone in der Hand ist eigentlich nicht gefährlich. Es wird aber sehr gefährlich, wenn dies beim Fahren eines Autos geschieht. (Eigenes Foto)

Wichtige Parameter der Exposition • Dosis • Dauer und Art der Aufnahme/Einwirkung • Stoffwechsel/Verteilung

4.14 Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin

301

• (Organ-)Spezifität und Stärke der Wirkung • pragmatischer Ansatz: Messung der Konzentration im Blutplasma/-serum Der Organismus kann auf verschiedenen Wegen gegenüber einem Schadstoff exponiert werden. In der Gewerbetoxikologie spielen naturgemäß die inhalative Exposition luftgetragener Schadstoffe und die dermale Exposition von Flüssigkeiten und Lösungen die Hauptrolle. 

Allgemeiner Merksatz zu Gefährdungspotenzial und Risiko „Es ist

möglich, ein minimales Risiko einzugehen bei einem hohen Gefährdungspotenzial und umgekehrt!“

4.14.3 Arbeitsschutz/Verhütungsmaßnahmen/Kennzeichnung Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) Das ArbSchG dient dazu: „Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sichern und zu verbessern.“ ArbSchG § 4 In diesem Paragraphen schreibt das ArbSchG vor: "Der Arbeitgeber hat bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes von folgenden allgemeinen Grundsätzen auszugehen: 1. Die Arbeit ist so zu gestalten, daß eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird. 2. Gefahren sind an ihrer Quelle zu bekämpfen. 3. Bei den Maßnahmen sind der Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. 4. Maßnahmen sind mit dem Ziel zu planen, Technik, Arbeitsorganisation, sonstige Arbeitsbedingungen, soziale Beziehungen und Einfluss der Umwelt auf den Arbeitsplatz sachgerecht zu verknüpfen. 5. Individuelle Schutzmaßnahmen sind nachrangig zu anderen Maßnahmen. 6. Spezielle Gefahren für besonders schutzbedürftige Beschäftigtengruppen sind zu berücksichtigen. 7. Den Beschäftigten sind geeignete Anweisungen zu erteilen. 8. Mittelbar oder unmittelbar geschlechtsspezifisch wirkende Regelungen sind nur zulässig, wenn dies aus biologischen Gründen zwingend geboten ist."

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

302

Tab. 4.17  GHS/CLP System, Gefahrenklasse Akute Toxizität. (Quelle: Gefahrstoffkunde-Vorlesung eigene Zusammenstellung)



PIKTOGRAMM

GEFAHR

SIGNALWORT

GEFAHR

GEFAHR

KATEGORIE

1

2

3

ATE* mg / kg

≤5

> 5 – ≤ 50

> 50 – ≤ 300

Lebensgefahr

Lebensgefahr

Giig

ACHTUNG 4

5

> 300 – ≤ 2000 > 2000 – ≤ 5000 Gesundheitsschädlich

GHS nicht in EU

*ATE = acute toxicity esmates (Schätzwert akuter Toxizität). Anmerkung: Kategorie 5 im GHS-System wird in der Regel durch Extrapolaonbesmmt

4.14.4 Kennzeichnung CLP und GHS Gefährdungsbeurteilungskennzeichnung in EU (CLP) und UN (GHS) Gefahrenklasse (Tab. 4.17) Aufbauwissen

Acute toxicity estimates (ATE) – Beispiele Natriumchlorid 4000  mg/kg Aspirin 759  mg/kg Phenobarbital 150  mg/kg Parathion 7  mg/kg Strychnin 2  mg/kg Gefährdungsbeurteilungskennzeichnung – Gefahrenklasse akute Toxizität (oral) Vier EU-CLP-Kategorien (UN-GHS: fünf Kategorien) • Kategorie 1: Lebensgefahr ATE ≤ 5 mg/kg • Kategorie 2: Lebensgefahr ATE 5 mg/kg ≤ 50 mg/kg • Kategorie 3: giftig ATE 50 mg/kg ≤ 300 mg/kg • Kategorie 4: gesundheitsschädlich ATE 300 mg/kg ≤ 2000 mg/kg • GHS-Kategorie 5: von EU nicht umgesetzt ATE 2000 mg/kg ≤ 5000 mg/kg

Schätzwert akuter Toxizität: ATE – acute toxicity estimates

4.14 Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin

Gefahr

303

Achtung

Mögliche Effekte bei der gleichzeitigen Exposition mehrerer Chemikalien • unabhängige Effekte Substanzen verursachen unabhängige Toxizität (quantitativ und qualitativ). • additive Effekte Substanzen mit ähnlicher qualitativer Toxizität erzeugen einen Effekt, der gleich ist mit der Summe der individuellen Effekte, verursacht von den Einzelsubstanzen. • antagonistische Effekte Substanzen wirken entgegengesetzt zueinander in ihrer Toxizität – Antidote. • potenzierende Effekte Eine Substanz, normalerweise mit niedriger Toxizität, verstärkt die Toxizität einer anderen Substanz mehr als additiv (supraadditiv). • synergistische Effekte Zwei gleichzeitig verabreichte Substanzen erzeugen einen toxischen Effekt, der signifikant größer ist als zu erwarten. Beide Substanzen tragen zur Toxizität bei und der Effekt ist signifikant größer als bei einem additiven Effekt.

4.14.5 Toleranzgrenzen/Grenzwerte Verhütung von akuten Schäden und chronischen Erkrankungen Toleranzgrenzen und Grenzwerte sollen sicherstellen, dass akute Schäden und chronische Erkrankungen, die durch eine Exposition gegenüber Gefahrstoffen verursacht werden können, verhindert werden. Durch diese Werte werden in der Praxis am Arbeitsplatz, aber auch auf der Ebene der Rechtsprechung eindeutige Verhältnisse geschaffen. Toxizität – Gefahr – Risikogrenzwerte Toxizität von Chemikalien lässt sich nicht verändern (intrinsische/innewohnende Eigenschaft). • Gefahr/Gefährdung  = Toxizität × Dosis (Exposition) in vitro/in vivo-Modelle, Übertragbarkeit auf Menschen?

304

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

• Risiko  = Gefahr × Exposition × Wahrscheinlichkeit der Exposition, inkl. Epidemiologie • Verminderung der Exposition → Reduktion des Risikos • Verhinderung der Exposition → vermeidet Risiko – Begrenzung der Exposition/Expositionswahrscheinlichkeit – Grenzwertfestlegung

Grenzwerte (Gefahrstoffrecht – Arbeitsplatz) Begriffe aus Deutschland Für Stoffe mit einer Expositions-Wirkungs-Beziehung gelten die beiden Grenzwerte: 1. AGW (Arbeitsplatzgrenzwert) – Grenzwert in Luft am Arbeitsplatz (Luftgrenzwert) – technisches Monitoring (Messung am Arbeitsplatz) – TRGS 402: inhalative Exposition (BAuA, 2010) – Beziehung zu Sicherheit und Gefährdung am Arbeitsplatz 2. BGW (biologischer Grenzwert) – Grenzwert in biologischem Material (Blut, Urin, …) – biologisches Monitoring (Probennahme Werksarzt) – TRGS 903 Für Stoffe ohne eine Expositions-Wirkungs-Beziehung wie z. B. genotoxische Kanzerogene wurde 2013 eine völlig neue Regelung eingeführt (TRGS 910), die u. a. den bis dahin verwendeten TRK24-Grenzwert ablösten. Die veränderte Regelung sieht nun stoffübergreifende Risikogrenzen, Expositions-RisikoBeziehungen (ERB) sowie stoffspezifische Konzentrationswerte vor, die als Toleranz- und Akzeptanzkonzentrationen bezeichnet werden. Die detaillierte Darstellung ist Teil von GFK II im Abschn. 5.6.4.

Internationaler Begriff – ADI-Wert: acceptable daily intake (duldbare tägliche Aufnahmemenge) Geschätzte Menge eines Stoffes, die über gesamte Lebenszeit pro Tag aufgenommen werden kann, ohne schädigende Auswirkungen auf Gesundheit ADI = NOAEL/SF Entsprechender deutscher Begriff: TDI = tolerierbare tägliche Aufnahmemenge (NOAEL = no observed adverse effect level, SF = Sicherheitsfaktor) Beispiel TCDD (z. B. Müllverbrennung) Akzeptabler humaner Expositionswert für TCDD? (Tab. 4.18) Wie lässt sich ein solcher Wert ableiten/bestimmen? 24 TRK = technische

Richtkonzentration.

4.14 Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin

305

Tab. 4.18  Wirkung von 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD) auf Ratten DOSIS ng / kg / Ta g

E FFEKTE NOAEL

1

Keine

10

Hepa sche Porphyrie, d präneoplas sche Inseln

100

Massive Leberdegenera on, Leberkarzinome, Lungenkarzinome, Karzinome im Bereich des harten Gaumens / der Nasenhöhlen / der Zunge

ve Leberveränderungen,

LOAEL

NOAEL = No-observed-adverse-effect-level LOAEL = Lowest-observed-adverse-effect-level

Zum Beispiel unter Anwendung der Tierversuchsdaten* und eines zusätzlichen Sicherheitsfaktors (SF), z. B. 100

Akzeptabler humaner Expositionswert? ADI = NOAEL/SF = 1  ng/kg/Tag/100 = 10 pg/kg/Tag (ca. 1 ng/Tag) *ADI = acceptable daily intake, duldbare tägliche Aufnahmemenge

4.14.6 Schädigung Atemwege, Lunge, Haut und Augen In der Vorlesungsveranstaltung zur Gewerbetoxikologie müssen vor allem die Organe, die am Arbeitsplatz zumeist geschädigt werden, besprochen werden. Dies sind die Atemwege inkl. Lunge, die Haut und die Augen.

Expositionen am Arbeitsplatz durch luftgetragene Schadstoffe • Aerosole • Stäube • Rauche • Nebel • Fasern • Gase • Dämpfe

Aerosole – Definition Mehrphasige Systeme von Gasen, insbesondere Luft und darin dispers verteilten Partikeln (Schwebstoffe: Feststoffen oder Flüssigkeiten). Größenordnung der Partikel zwischen 1 und 100 nm Aerosole am Arbeitsplatz: Stäube, Rauche oder Nebel (MAK, 2005) Exposition Atemtrakt/Lunge durch Schwebstoffe • Stäube – disperse Verteilungen fester Stoffe in Gasen, insbesondere Luft, entstanden durch mechanische Prozesse oder durch Aufwirbelung

306

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

• Faserstäube – disperse Verteilungen von anorganischen oder organischen Fasern bestimmter Abmessungen in Gasen, insbesondere Luft, entstanden bei der mechanischen Bearbeitung, insbesondere von Fasermaterial, durch Aufwirbelung oder durch Erosionsprozesse an faserhaltigen Materialien • Rauche – feinste disperse Verteilungen fester Stoffe in Gasen, insbesondere Luft, entstanden durch thermische (z. B. Schweißrauch, Metall(oxid)rauch, Ruß bzw. Flugasche) oder chemische (z. B. Reaktion von Ammoniak mit Chlorwasserstoff) Prozesse • Nebel – disperse Verteilungen flüssiger Stoffe in Gasen, insbesondere Luft, entstanden durch Zerstäuben von Flüssigkeiten, durch Kondensation aus der Dampfphase oder durch chemische Prozesse (z. B. Ölnebel, Chlorwasserstoff an feuchter Luft)

Sekundäre Partikel (Stäube) – Chemische Prozesse der Entstehung Entstehen in Atmosphäre durch komplexe photochemische Reaktionen aus gasförmigen Vorläufersubstanzen wie • • • •

Schwefeloxide (SOx) Stickoxide (NOx) Ammoniak (NH3) flüchtige organische Stoffe (z. B. Methan, Fluorchlorkohlenwasserstoffe, …)

Sekundäre Partikel können an Orten gebildet werden, weit weg von eigentlicher Emissionsquelle der Vorläufergase • Exposition in deutlich größerem Gebiet (> 500 km) (NCBI 2015) • bilden wichtigen Teil der Feinstäube in Atmosphäre

Aerodynamischer Durchmesser (MMAD25) Entspricht demjenigen Durchmesser, den ein kugelförmiges Teilchen der Dichte 1 g/cm3 haben müsste, damit es dieselbe Sinkgeschwindigkeit in ruhender oder laminar strömender Luft haben würde wie das betreffende Teilchen. • Teilchen mit aerodynamischem Durchmesser < 5 µm müssen nicht zwangsläufig einen geometrischen Durchmesser < 5 µm haben. • Partikel verhält sich aerodynamisch wie eine Kugel der Dichte 1 g/cm3 mit einem geometrischen Durchmesser von 5 µm. • Anteil feiner Teilchen ist nicht gleichbedeutend mit der Masse. • Definition gilt auch für faserförmige Teilchen. 25 MMAD = mass

median aerodynamic diameter, angegeben in µm.

4.14 Gewerbetoxikologie/Arbeitsmedizin

307

Beispiel: aerodynamischer Durchmesser von 10 µm • Partikel verhält sich aerodynamisch wie Kugel der Dichte 1 g/cm3 mit geometrischem Durchmesser von 10 µm • Partikel mit aerodynamischem Durchmesser 10 µm muss nicht geometrischen Durchmesser von 10 µm haben.

Partikelbelastung – Atemwege • Einatmen von Partikeln (Staub, Feinstaub, Ultrafeinstaub, …) – Menge: ca. 100 × 109/Tag • Stäube, Rauche, Nebel – Tabakrauch 100 nm bis 1 µm – Ultrafeinstaub < 100 nm (= Nanopartikel) – Viren (20–300 nm) und Bakterien (1–10 µm) • Absinkzeit (auf Boden) (windstill, Innenraum) – Partikel mit 1 µm: > 7 Stunden Kaskadenimpaktor (Partikelmessgerät) • fraktionierende Bestimmung • Partikelmassen und Partikelgrößen(-verteilungen) – Massenverteilung des aerodynamischen Partikeldurchmessers – Feinstaubumweltmessungen UBA: PM10 und PM2,5 • Partikelanzahl durch Wägung jeder Impaktorstufe Wirkungsrelevante Partikeleigenschaften • Partikelgröße – Inhalierbarkeit und Lungendeposition • Form/Materialeigenschaften – systemische Verfügbarkeit und Persistenz in Lunge

Kanzerogenität natürlicher und künstlicher Mineralfasern • Risiko von Fasern umso höher – je länger, dünner und chemisch beständiger – je biobeständiger • kritische Abmessungen: – Länge > 5 µm, Durchmesser < 3 µm Verhältnis von Länge zu Durchmesser > 3 • Asbest • Glas-, Schlacken-, Steinwolle

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

308

Organe und ihre Schädigung werden in eigenen Kapiteln dargestellt 1. Atemwege und Lunge Abschn.  4.7 2. Haut Abschn.  4.8 3. Augen Abschn.  4.9

4.15 Ökotoxikologie 4.15.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • Unterschied darstellen zwischen Umweltschutz und Schutz des Ökosystems • Prüfmethoden der Ökotoxikologie • Konsequenzen der ökotoxikologischen Wirkung

4.15.2 Grundlagen Ökotoxikologie (Schirmer, Schug, & Tierbach, 2019)

4.15.3 Umweltschutz, Ökosystemschutz, Naturschutz Menschen denken die Welt aus ihrer menschlichen Perspektive (Anthropozentrismus26). Dies bedeutet, dass der Mensch im Zentrum steht, die Welt um ihn herum ist somit die „Umwelt“. Der Umweltschutz, also der Schutz des Lebensumfeldes des Menschen, hat deshalb zum Ziel, die menschliche Umwelt für den heutigen Menschen und für kommende Generationen lebenswert zu erhalten. Umweltschutz schließt deshalb teilweise auch den Schutz der Natur, des Ökosystems, ein, ist aber nicht das eigentliche Ziel. Der Schutz der Ökosysteme, der Naturschutz ist also nicht identisch mit dem Umweltschutz. Ökosysteme sind keine statischen Systeme, sondern ausgesprochen dynamisch, d. h. sie unterliegen einer ständigen Veränderung auch ohne menschengemachte Einflüsse. Die Komponenten der Ökosysteme, z. B. Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen, und damit auch die Dynamik der Ökosysteme werden durch menschliche Aktivitäten allerdings zusätzlich beeinflusst, wobei dieser Einfluss in der Regel als negativ angesehen wird. Inzwischen ist die Erkenntnis gereift, dass der Mensch nicht als Zentrum, sondern als Mitglied des Ökosystems von einem gut funktionierenden Ö ­ kosystem 26 Anthropozentrismus = Der

Mensch versteht sich selbst als Mittelpunkt der Welt.

4.15 Ökotoxikologie

309

abhängig ist. Deshalb tendiert der heutige Umweltschutz immer mehr zu einem Naturschutz. Der Mensch versucht, seinen Einfluss auf das Ökosystem zu vermindern, wohl wissend, dass allein die in den letzten Jahrzehnten dynamisch wachsende Anzahl der auf dem Globus lebenden Menschen diesem Bestreben klare Grenzen setzt. Die heutigen gesetzlichen Regelungen inkl. der Ökotoxikologie basieren noch auf dem ursprünglichen anthropozentrischen Umweltdenken, weshalb die Ökotoxikologie häufig auch unter dem Begriff Umwelttoxikologie zu finden ist.

4.15.4 Fragestellung der Ökotoxikologie (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1201 f.) Die Ökotoxikologie stellt die Frage: Welche Gefahren drohen, wenn Schadstoffe in das Ökosystem gelangen, z. B. in Gewässer? Die Regulatorische Toxikologie stellt die Frage, welche schädigende Wirkung ein chemischer Stoff auf den menschlichen Organismus haben kann, d. h., bezüglich der Frage einer möglichen Schädigung des Ökosystems kann sie nur sehr begrenzt eine Auskunft geben. In der Ökotoxikologie muss die Untersuchung der schädigenden Effekte deshalb auf die Teile des Ökosystems ausgedehnt werden, die als nützliche Indikatoren erkannt wurden. Mithilfe dieser Indikatoren müssen Gefahren für die Umwelt bzw. das Ökosystem erkannt und beurteilt werden. Dazu sind schädigende Wirkungen, Wechselwirkungen und der Verbleib zu untersuchen und es ist zu klären, ob sich die untersuchten chemischen Stoffe in bestimmten Kompartimenten des Ökosystems anreichern können. Im Ergebnis müssen Strategien zur Risikominimierung entwickelt werden. Die aktuellen Definitionen von Toxikologie, Ökologie und Ökotoxikologie können wie folgt vergleichend zusammengefasst werden. • Toxikologie: Die Toxikologie beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen chemischer Stoffe mit dem Organismus, insbesondere mit dem Vermögen von Substanzen (innewohnende Eigenschaft), lebende Organismen zu schädigen. • Ökologie Die Ökologie ist die Lehre, die sich mit den Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt sowie den Interaktionen von Organismen untereinander befasst. • Ökotoxikologie Die Ökotoxikologie untersucht die Auswirkung chemischer Stoffe auf die belebte Umwelt (auf allen biologischen Ebenen – vom Molekül bis zum Ökosystem), um die damit verbundenen Gefahren zu erkennen, zu bewerten und abzuwenden.

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

310

4.15.5 Eintragswege in das Ökosystem Die Eintragswege von Schadstoffen in das Ökosystem sind sehr vielfältig und in Abb. 4.95 vereinfacht dargestellt. Ökotoxikologisch bedeutende chemische Stoffe gelangen über verschiedene Wege in das Ökosystem (Luft, Wasser, Boden).

Unbeabsichtigter Eintrag in Umwelt Unfälle durch Unfälle oder diffuse Einträge, z. B. bei der Produktion, der Anwendung oder der Entsorgung. Fünf bekannte Beispiele sind: 1. Minamata: Quecksilber aus Industrieabfällen im Meer 1950er Jahre Durch die Verklappung von quecksilberhaltigen Abfällen gelangten in den 1950er Jahren nahe der japanischen Stadt Minamata größere Mengen Quecksilber ins Meer und erreichten am Ende der Nahrungskette auch den Menschen. Eine genauere Darstellung dieser Katastrophe und die toxischen Wirkungen von Quecksilber sind im Abschn. 4.6.8 zu finden. 2. Sandoz-Störfall Basel 1986 Im Industriegebiet „Schweizerhalle“ bei Basel in der Schweiz geriet eine Lagerhalle des Chemie- und Pharmakonzerns Sandoz (heute Novartis) mit Pflanzenschutzmitteln in Brand. Mit dem Löschwasser landeten die Chemikalien im Rhein und führten über eine sehr lange Strecke zu einem Fischsterben (UBA, 2011). 3. Antifaulmittel von Booten und Schiffen Ohne Antifaulmittel würde der Rumpf von Booten und Schiffen sehr schnell von zahlreichen Lebewesen besiedelt und damit die Fortbewegung stark behindern. Die Antifaulmittel, z. B. Tributylzinn (TBT), finden sich heute in großer Menge im Sediment in allen Häfen dieser Welt (Dörner, Kautz, & Schubert, 2001).

Landwirtscha

Verkehr

Haushalt

Gewerbe

Industrie

ATMOSPHÄRE

ABWASSER

AQUATISCHE ÖKOSYSTEME

BODEN

Haushalt Gewerbe Industrie

Landwirtscha Abschwemmung DEPONIE, ALTLAST

SEDIMENT z. B. An faulmi el Boote

Abb. 4.95  Eintragswege. (Eigene Darstellung)

4.15 Ökotoxikologie

311

4. Plastikmüll 2015 wurden allein in Deutschland ca. 6 Mio. t Kunststoffabfall entsorgt. In Deutschland landet ein großer Teil des Plastikmülls in der thermischen Verwertung oder im Recycling. Dies in vielen Teil der Welt nicht der Fall, weshalb große Mengen in der Umwelt landen und am Ende als Mikroplastik auch in der Nahrungskette und damit schließlich auch wieder bei den Menschen. Es ist davon auszugehen, dass bis zu 30 Mio. t davon pro Jahr weltweit im Meer landen – davon in Europa allein 3,4–5,7 Mio. t pro Jahr (UBA, 2015). 5. Herbizid Glyphosat Eine längere Abhandlung zu diesem Thema findet sich im Abschn. 6.1.

Beabsichtigter Eintrag in Umwelt Pestizide Landwirtschaft Die Landwirtschaft verbringt weltweit viele Millionen Tonnen von Pflanzenschutz- und Düngemittel absichtlich in die Umwelt. Im Gegensatz zu Plastikmüll sind diese Stoffe biologisch aktiv und verursachen deshalb Schäden im Ökosystem.

4.15.6 Allgemeine Prinzipien der Ökotoxikologie Ähnlich wie in der Toxikologie werden auch in der Ökotoxikologie verschiedene Arten der Wirkung unterschieden: die direkten und indirekten, die reversiblen und irreversiblen sowie die akuten und die chronischen Wirkungen.

4.15.7 Schäden durch Ökotoxizität Wirkungsarten • direkte Wirkungen – zielen direkt auf Lebensfunktionen des Organismus • reversibel – Störungen können durch Reparaturprozesse rückgängig gemacht werden. • irreversibel – keine Reparatur möglich • indirekte Wirkungen – infolge ökologischer Wechselbeziehungen (z. B. Räuber-Beute-Beziehungen) • akute Wirkungen – treten innerhalb kurzer Zeit auf – durch hohe Konzentrationen der chemischen Stoffe in – kurzer Zeit (meist durch Unfälle) • chronische Wirkungen – treten erst nach längeren Perioden auf – Belastung der Umwelt mit geringeren Konzentrationen über längere Zeit

312

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Aufbauwissen

Direkte Wirkungen sind die Wirkungen, die direkt auf Lebensfunktionen der Organismen zielen, während die indirekten infolge ökologischer Wechselbeziehungen (z. B. Räuber-Beute-Beziehungen) entstehen, d. h. Schadstoffe verändern komplexe ökologische Prozesse. Pestizide können z. B. die Gefährdung durch Parasiten und Mikroorganismen erhöhen, indem sie eine höhere Dichte des Zwischenwirtes (z. B. Schnecken) begünstigen. Die reversiblen Störungen können durch Reparaturprozesse rückgängig gemacht werden, während die irreversiblen irreparabel sind und folglich inklusive ihrer indirekten Wirkungen erhalten bleiben. Zumindest Letztere verlangen nach einem verantwortlichen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen zum Wohle von Menschen und Umwelt. Akute Wirkungen treten innerhalb kurzer Zeit auf, z. B. durch hohe Konzentrationen chemischer Stoffe in kurzer Zeit (meist durch Unfälle), während chronische Wirkungen erst nach längerer Belastung der Umwelt mit geringeren Konzentrationen chemischer Stoffe über eine längere Zeit entstehen.

4.15.8 Konzentrations-Wirkungs-Beziehungen Die in der Ökotoxikologie gemessenen bzw. berechneten KonzentrationsWirkungs-Beziehungen sind: EC50/ED50 Als mittlere effektive Konzentration (EC50) bzw. mittlere effektive Dosis (ED50) wird in der Pharmakologie und Toxikologie die effektive Konzentration bzw. Dosis bezeichnet, bei der ein halbmaximaler Effekt beobachtet wird. LD50/LC50 Ist die Wirkstoffdosis/Wirkstoffkonzentration, bei der 50 % der Versuchsorganismen innerhalb eines bestimmten Zeitraums sterben. NOEC Die no observed effect concentration ist die höchste Prüfkonzentration, bei der im Vergleich zu einer Kontrolle ohne Prüfsubstanz innerhalb eines angegebenen Expositionszeitraums keine statistisch signifikante Wirkung vorliegt. LOEC Die lowest observed effect concentration ist die niedrigste Prüfkonzentration, bei der im Vergleich zu einer Kontrolle ohne Prüfsubstanz innerhalb eines angegebenen Expositionszeitraums eine statistisch signifikante Wirkung vorliegt (siehe Abb. 4.96).

4.15 Ökotoxikologie

313

EFFEKT . B. MORTALITÄT IN 100

LC 50 LOEC: niedrigste Testkonzentr on mit signifikantem Unterschied zur Kontrolle

50

LOEC

NOEC: höchste Testkonzentr on ohne signifikantem Unterschied zur Kontrolle

NOEC

Ko

0 KONTROLLE 1

10

EC 10

100

on bzw. Dosis

1000

Abb. 4.96  Ökotoxikologische Konzentrationsbeziehungen. (Eigene Darstellung)

Das Ausmaß der Wirkungen wird wie in der Toxikologie durch die Stoffeigenschaften und Wirkmechanismen sowie die Exposition (zeitliche Belastung eines Organismus mit einer bestimmten Konzentration) bestimmt.

4.15.9 Ökotoxikologische Wirkung – Analogie zur Toxikologie 1. physikalisch-chemische Eigenschaften 2. Bioverfügbarkeit 3. Konzentration am Wirkort 4. Dauer und Häufigkeit der Exposition (Unfall, chronisch) 5. Expositionsweg (aus Medium oder Nahrung) 6. biologische Faktoren: Zustand der Organismen (Ernährung, Adaption an Umweltchemikalien, Lebensalter) 7. Umwandlung in der Umwelt (Abbau) 8. Zustand des Ökosystems (Pufferkapazität, Jahreszeit)

4.15.10 Ökotoxikologie – Eine Herausforderung Verschiedene Faktoren machen die Ökotoxikologie zu einer sehr komplexen Herausforderung, die kaum zu bewältigen ist: 1. sehr verschiedene Kompartimente (Boden, Wasser, Luft) 2. Vielzahl der Organismen und enorme Speziesunterschiede 3. unterschiedlicher Eintrag (Art, Menge, zeitlicher Verlauf) 4. Transportprozesse in der Umwelt (Luft, Wasser, Stäube) 5. Einfluss von Umweltfaktoren (Temperatur, Salinität [Salzgehalt], UV-Strahlung) 6. Umwandlung, Abbau (biotisch, abiotisch*)

314

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

7. Akkumulation an unterschiedlichen oft auch noch unbekannten Orten des Ökosystems *abiotischer Abbau

Photolyse • in Atmosphäre, aber auch an der Oberfläche von Gewässern und Böden • direkte Photolyse: Substanz selbst absorbiert Licht und wird danach umgewandelt • indirekte Photolyse: Reaktion mit reaktiven Spezies (Hydroxylradikale, Peroxyradikale, Singulettsauerstoff (1O2), die zuvor durch Licht gebildet wurden

Hydrolyse • Reaktion mit Wasser oder Hydroxidionen • z. B. aus C–Cl- oder C–C-Einfachbindungen können C–OH-Bindungen entstehen • Spaltung von C=O-Bindungen • im Allgemeinen weniger toxische Produkte • insbesondere in Gewässern • stark temperatur- und pH-abhängig

4.15.11 Ökotoxikologische Untersuchungsmethoden und Testsysteme Methoden, mit denen unter Standardbedingungen im Labor die toxische Wirkung von Umweltchemikalien auf Organismen wie Pflanzen, Tiere, Mikroorganismen oder auch auf komplexere Systeme untersucht werden kann. Ziele: Erfassung, Charakterisierung und Bewertung der Ökotoxizität von einzelnen Chemikalien, Chemikaliengemischen und Umweltproben. Aus den Untersuchungsergebnissen ergeben sich die Definition von Gefährdungsklassen für die Umwelt sowie eine Basis für die Risikocharakterisierung und -beurteilung von chemischen Stoffen in Bezug auf die Umwelt.

Übersicht ökotoxikologische Untersuchungsmethoden 1. Absorptionsspektren 2. physikalisch-chemische Eigenschaften a) Schmelzpunkt b) Siedepunkt c) Dampfdruck d) Wasserlöslichkeit e) Adsorption und Desorption

4.15 Ökotoxikologie

315

f) Verteilungskoeffizient (Octanol/Wasser) 3. Abbau und Akkumulation a) Biodegradation im Boden b) Bioakkumulation im Fisch 4. Ökotoxizität Prüfmethoden a) Wachstumsinhibitionstest an der Grünalge b) Daphnien: Immobilität c) Fisch: akute Toxizität d) Vögel: akute orale Toxizität e) Regen- oder Dungwurm: akute Toxizität f) Bakterien: Respirationshemmung g) Daphnien: Reproduktion (chronisch)

Prüfung auf leichte biologische Abbaubarkeit Fragestellung: Kann die Chemikalie durch Mikroorganismen zersetzt werden? Testsystem: Belebtschlamm aus Kläranlage + Wasser + Prüfsubstanz • Reaktion: C6H12O6 + 6 O2 → 6 CO2 + 6 H2O (Glukose + Sauerstoff ergibt CO2 + Wasser) (Zellatmung) • Im Test ersetzt die Prüfsubstanz die Glucose als einzige Kohlenstoffquelle. • Prinzip: Sauerstoff wird verbraucht und Kohlenstoffdioxid entsteht • Prüfdauer 28 Tage • Version 1: Manometrischer Test Endpunkt: O2-Verbrauch Messung des Druckabfalls (durch O2-Verbrauch und CO2-Adsorption) • Version 2: Geschlossener Flaschentest (closed bottle test) – Messparameter – O2-Verbrauch (Messung der O2-Konzentration in Testansatz) – CO2-Bildung (Abb. 4.97)

Entscheidungskriterien bei Prüfungen zur Abbaubarkeit Abbau 60 % (O2-Verbrauch/CO2-Bildung) und Erfüllung des Zehn-Tage-Fensters Zehn-Tage-Fenster: Von dem Zeitpunkt, an dem der Abbau 10 % überschritten hat, darf es nur noch zehn Tage dauern, bis der Abbaugrenzwert von 60 % erreicht ist. • Kriterien erfüllt: Substanz ist leicht biologisch abbaubar. • Kriterien nicht erfüllt: Substanz ist nicht leicht biologisch abbaubar.

Leichte biologische Abbaubarkeit (OECD 301) Die leichte bzw. vollständige biologische Abbaubarkeit (ready biodegradability) wird mit sehr geringen Mengen an Mikroorganismen (stark verdünnter Klärschlamm) geprüft. Häufig angewandte Testverfahren sind:

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

316 % 100

Idealisierte Abbaukurve und Konzept des 10-Tage-Fensters 50

0

TAGE 1

3

5

7

9

11

13

15

17

19

21

23

25

27

Abb. 4.97  Abbaukurve idealisiert. (Eigene Darstellung)

Manometrischer Test Dieser Test nach OECD 301F wird in speziellen Testflaschen durchgeführt, die mit einer Kappe verschlossenen sind, in der sich eine Druckmesseinheit (Manometer) und Natriumhydroxid befindet. Das NaOH wirkt als kohlenstoffdioxidadsorbierendes Mittel. Im Verlauf des Tests entsteht so durch den Sauerstoffverbrauch ein Unterdruck, der durch die aufgesetzte Manometerkappe aufgezeichnet wird und durch die Adsorption des entstehenden CO2 deutlich messbar wird. Der Druckabfall repräsentiert damit den biologischen Abbau. Dieser Test eignet sich sowohl für flüchtige als auch für unlösliche Substanzen. Aufgrund der geringen Startbiomasse an abbauenden Organismen können Adsorptionsprozesse vernachlässigt werden. Geschlossener Flaschentest (closed bottle test) Dieser Atmungshemmtest nach DIN EN ISO 10707 oder OECD 301D wird ebenso wie der manometrische Respirationstest in geschlossenen Testgefäßen durchgeführt. Anders als beim manometrischen Test enthalten die Testgefäße kein Gasvolumen. Die biologische Abbaubarkeit der Prüfsubstanz wird bestimmt, indem in regelmäßigen Intervallen über einen Zeitraum von 28 Tagen die Abnahme von gelöstem Sauerstoff direkt im Testansatz (synthetisches Nährmedium) gemessen wird (Sauerstoffelektrode). Als Positivkontrolle wird Dichlorphenol verwendet, denn es hemmt immer. Dieser Test kann auch für flüchtige Chemikalien verwendet werden. Wie beim manometrischen Test spielen aufgrund der geringen Menge der abbauenden Mikroorganismen Adsorptionsprozesse keine Rolle. Ökotoxische Prüfungen sind alle in international gültigen Richtlinien beschrieben.

4.15 Ökotoxikologie

317

Transferwissen

OECD-Guidelines ökotoxikologische Prüfmethoden • OECD 201 Wachstumsinhibitionstest Grünalge • OECD 202 Daphnien: Immobilität • OECD 203 Fisch: akute Toxizität • OECD 205 Vogel: akute orale Toxizität • OECD 207 Regen- oder Dungwurm: akute Toxizität • OECD 209 Bakterien: Respirationshemmung • OECD 211 Daphnien: Reproduktion (chronisch)

Prüforganismen Die für die Untersuchungen verwendeten Prüforganismen können gemäß ihrer ökologischen Stellung (Nahrungskette) charakterisiert werden (Tab. 4.19). Verteilung in Umwelt Die Verteilung einer Substanz in der Umwelt wird u. a. von den physikalischchemischen Eigenschaften der Stoffe bestimmt: • Molekulargewicht • Adsorptionsfähigkeit • Schmelz-/Siedepunkt • Dampfdruck • Wasserlöslichkeit/Fettlöslichkeit (Lipophilität) – Verteilungskoeffizient Octanol/Wasser (log KOW) KOW = COctanol/CWasser log KOW ist die wichtigste Messgröße der Lipophilität. log KOW ist positiv für lipophile und negativ für hydrophile Substanzen. Tab. 4.19  Ökologische Stellung der Prüforganismen Aquasches System

ÖKOLOGISCHE STELLUNG

Bakterien

Destruenten

Grünalgen

Primärproduzenten

Wasserfloh (Daphnia magna)

Primärkonsument

Fisch

Sekundärkonsument

Terrestrisches System Bakterien

Destruenten

Höhere Pflanzen

Primärproduzenten

Regenwurm

Primärkonsumenten

Vögel und Säuger

Sekundärkonsument

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

318

n-Octanol-Wasser-Verteilungskoeffizient (log KOW) • Verteilungskoeffizient zwischen Octanol und Wasser (KOW) KOW = COctanol/CWasser • wichtigste Messgröße der Lipophilität – Lipophilie ist umgekehrt proportional zur Wasserlöslichkeit der Substanz. – Bioakkumulation nimmt mit Lipophilität der Substanz zu. Chemikalien werden dann stark akkumuliert, wenn sie in der Umwelt und in Körper persistent sind und wenn sie eine hohe Lipophilität aufweisen. Bestimmung des Verteilungskoeffizienten (KOW) Octanol und Wasser werden in einen Scheidetrichter gefüllt. Die beiden Flüssigkeiten trennen sich komplett und bilden zwei getrennte Phasen. Nun wird der Stoff zugegeben und alles geschüttelt. Je nach Lipophilie löst der Stoff der Stoff sich mehr in Wasser oder Octanol. Danach werden die beiden Flüssigkeiten nacheinander abgelassen und in Wasser und Octanol wird jeweils die Menge des gelösten Stoffes analysiert und daraus der Wert KOW berechnet. Die Lipophilie ist umgekehrt proportional zur Wasserlöslichkeit der Substanz, wobei wichtig ist, dass die Bioakkumulation mit der Lipophilität eines Stoffes zunimmt, d. h., Chemikalien werden dann stark akkumuliert, wenn sie in der Umwelt und in Körper persistent sind und wenn sie eine hohe Lipophilität aufweisen.

Aquatische Toxizitätsprüfungen – Testorganismen (Abb. 4.98 und 4.99). • Zebrabärbling • Wasserfloh • Grünalge • Belebtschlamm

(Danio rerio)

(Daphnia magna)

(Desmodesmus subspicatus)

einzellige Grünalge

Belebtschlamm

1 – 3 cm

1 mm

5 µm

1 µm

Zebrabärbling

Wasserfloh

Abb. 4.98  Aquatische Prüfsysteme – Testorganismen. (Eigene Darstellung)

(Bakterien)

4.15 Ökotoxikologie

319

EINSETZEN DER TESTORGANISMEN PRÜFSUBSTANZ max. 100 mg/l RÜHREN Filter

KONTROLLE

EXPOSITION

Verdünnung (5 Konz.)

ANALYSE DER PRÜFSUBSTANZKONZENTRATION WÄHREND DER EXPOSITIONSPERIODE

EFFEKT

Abb. 4.99  Aquatische Prüfungen. (Eigene Darstellung)

Neben Bakterien (Belebtschlamm) werden in den aquatischen Prüfsystemen auch höhere Organismen eingesetzt, üblicherweise Algen, Wasserflöhe und Fische (Abb. 4.99). Aquatische Organismen können auf unterschiedliche Art und Weise gegenüber dem Prüfstoff exponiert werden.

Expositionssysteme 1. Statisches System 2. Semistatisches System 3. Durchflusssystem Die Wahl des Expositionssystems hängt vor allem von der Stabilität des Prüfmaterials im wässrigen Medium ab. Wenn Stabilität gegeben ist, kann im statischen System geprüft werden. Im semistatischen System wird z. B. alle 24 h das Prüfmedium ausgetauscht. Wenn ein schneller Zerfall des Prüfmaterials vorliegt, muss ein Durchflusssystem gewählt werden, bei dem aus einem Vorratsgefäß ständig neues Medium und auch neues Prüfmaterial nachgeliefert wird, sodass auch bei geringer Stabilität über die gesamte Versuchsdauer die Bedingungen und die Prüfstoffkonzentration konstantgehalten werden können (Abb. 4.100).

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

320 Vorratsgefäß MIT MEDIUM

Vorratsgefäß MIT PRÜFSUBSTANZ

ENTSORGUNG DES MEDIUMS

MISCHUNG Ko nuierliche Erneuerung Konstante Konzentraon

Abb. 4.100  Durchflusssystem. (Eigene Darstellung)

Begleitanalytik Bestimmung der Substanzkonzentration mittels: • high performance liquid chromatography (HPLC) • Gaschromatographie (GC) • photometrische Bestimmung Stabilitätsbestimmung: • statisch vs. semistatisch • offen vs. geschlossenes System (Tab. 4.20)

Alternativmethoden der aquatischen Toxizität • Fischembryonen für Abwasseruntersuchungen • akute Toxizität (Ersatz für Fischversuch) • Fischeitest

Tab. 4.20  Endpunkte der Routinemethoden BAKTERIEN

Hemmung des Sauerstoff verbrauchs

Inhibi ng Conc

ALGEN

Hemmung des Wachstums

Effe

ve Conc

on

EC (nach 72 Std)

WASSERFLÖHE

Anzahl schwimmunfähiger Wasserflöhe

Effe

ve Conc

on

EC (nach 48 Std)

FISCHE

Anzahl lebender / toter Fische

Lethal Concentra on

on

-IC (nach 0.5 / 3 Std)

LC (nach 96 Std)

4.15 Ökotoxikologie

321

letale Wirkung (Morphologie der Eier im Mikroskop, LC50) letale Punkte Fischeitest 1. koagulierte Eier 2. keine Anlage der Somiten 3. Schwanz nicht vom Dotter abgelöst 4. kein Herzschlag

Terrestrische Toxizitätsprüfungen 1. Wachstumstest/höhere Pflanzen (z. B. Hafer) Testsubstanz vor Aussaat der Samen mit Erde vermischt Endpunkte: Keimung und Wachstum 2. Akute Toxizität/Kompostwurm Testsubstanz auf Filter appliziert oder vor Einsatz der Würmer mit künstlicher Erde vermischt Endpunkt: Lebensfähigkeit 3. Akute u. chronische Toxizität/Vögel Testsubstanz mit der Nahrung verfüttert Endpunkt: Lebens- und Fortpflanzungsfähigkeit

Aufbauwissen

Damit die Studierenden eine Vorstellung davon bekommen, wie eine terrestrische Prüfung auf akute Toxizität durchgeführt werden kann, kann ihnen ein Lehrvideo aus dem Schweizer Ökotoxzentrum in Dübendorf bei Zürich gezeigt werden. Das Institut ist wissenschaftlich der ETH Zürich zugeordnet27.

4.15.12 Konsequenzen ökotoxikologischer Prüfungen Chemikaliengesetz • Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen vom 16. September1980 • Prüfpflicht für Substanzen, die neu auf den Markt kommen sollen • Toxikologisches Wirkprofil und mögliche Gefährlichkeit für die Umwelt soll vor der Vermarktung abgeschätzt werden • In der EU sind bisher nur ca. 25 % der Chemikalien ökotoxikologisch untersucht worden.

27 https://www.oekotoxzentrum.ch/expertenservice/testsysteme/terrestrische-testsyteme/#2236

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

322

Behördliche und gesetzliche Regelungen REACH (registration, evaluation, authorisation and restriction of chemicals) • Zusätzliche Untersuchung chemischer Altstoffe ab 2007 • Physikalisch-chemische, toxikologische, ökotoxikologische und umweltrelevante Daten müssen erhoben werden (OECD-Richtlinien). • Datenanforderungen steigen mit dem Mengenband des zu registrierenden Stoffes, d. h., je größer die Menge, die Hersteller oder Importeure auf den Markt bringen, desto umfangreicher das Prüfprogramm.

Einstufung und Kennzeichnung (GHS-System28) • Weltweit einheitliches System für die Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien • Seit 1. Dezember 2010 sind Stoffe nach GHS einzustufen (Gemische ab dem 1. Juni 2015) • Kennzeichnung mit „Gefahrenpiktogrammen“ und H-(hazard-) und P-(precautionary-)Sätzen z. B. H400 „sehr giftig für Wasserorganismen“, P235 „kühl halten“ • Harmonisierte Kriterien für die Einstufung von Gesundheitsgefährdungen, ökologischen und physikalischen Eigenschaften

Achtung, Gefahr Klassifizierung Umweltgefährdung • Akute Toxizität für Fisch, Daphnien und Algen • Abbaubarkeit • KOW oder experimentell ermittelter Biokonzentrationsfaktor – Die einzelnen Kriterien werden miteinander in Beziehung gesetzt.

Umweltrisikoabschätzung und -beurteilung • Gefahr beschreibt einen drohenden Schaden, der entstehen kann oder nicht. • Risiko berücksichtigt die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Schaden eintritt. • Das Umweltrisiko ergibt sich aus der Gefährlichkeit eines Stoffes und der Expositionswahrscheinlichkeit.

28 GHS =

globally harmonized system of classification and labelling of chemicals.

4.15 Ökotoxikologie

323

Umweltrisikoabschätzung und -beurteilung Ziel der ökotoxikologischen Umweltrisikobeurteilung ist es, durch Berücksichtigung der Ökotoxizitätsdaten von chemischen Stoffen und der Exposition in der Umwelt Schadwirkungen auf das Ökosystem abzuschätzen. Die Gefahrenbeurteilung von Stoffen stützt sich auf: 1. Expositionsabschätzung über Informationen zur ausgebrachten Menge und Verwendungsart 2. Informationen zu Stoffeigenschaften (physikalisch-chemisch, Stabilität, Abbaubarkeit usw.) 3. PEC = predicted environmental concentration voraussichtliche Umweltkonzentration, d. h., wie hoch ist die in der Umwelt gemessene oder zu erwartende Stoffkonzentration 4. Wirkungsanalyse (Toxizität) Abschätzung der Toxizität anhand von Standarddaten (Algen-, Daphnien-, Fischtest) und Unsicherheitsfaktoren 5. PNEC = predicted no effect concentration Ab welcher Konzentration sind keine Wirkungen mehr zu erwarten? • Risikobewertung – PEC/PNEC 1: chemischer Stoff ist ein Risiko für die Umwelt • Risikomanagement totaler oder teilweiser Verzicht, Anwendungsbeschränkungen, entsorgungsrechtliche Maßnahmen, Sanierungsmaßnahmen usw.

Aufbauwissen

Risikomanagement Im Rahmen des Risikomanagements sind viele Fragen zu beantworten. Das Aufgabenfeld ist ähnlich wie in der Toxikologie interdisziplinär und integrativ und erfordert die Zusammenarbeit von Chemikern, Biologen, Physikern, Geowissenschaftlern, Ingenieuren, Landwirten, Förstern und Juristen. Wenn die Basisdaten zum Verbleib eines chemischen Stoffes oder von Stoffmischungen (z. B. Abfällen) in der Umwelt, der Eintragsweg, die Verteilung und die Umwandlung in den Kompartimenten Boden, Wasser, Luft und deren Schadwirkungen auf Organismen und Lebensräume geklärt sind, müssen sehr komplexe Fragen beantwortet werden. • Was sind die Auswirkungen auf Biodiversität und Funktionen des Ökosystems? • Sind Sanierungsmaßnahmen möglich/notwendig, welche wären sinnvoll?

324

4  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde I (Toxikologie)

Auch Detailfragen, z. B. bei der Modellierung von Pestizideinträgen, müssen berücksichtigt werden: • Welche Topologie (Hangneigung, flache Fläche usw.)? • Welche Bodeneigenschaften liegen vor (Lehm, Sand usw.)? • Welche Nutzung liegt vor (Ackerland, Obstanlage, Forstwirtschaft usw.)? • Welcher Art ist das lokale Klima?

5

Mustervorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

5.1 Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II) (Gundert-Remy & Kramer, 2019), (Stöffler, 2020), (Bender, 2011).

5.1.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • Rechtsstaat, was ist das? • Vermittlung von Grundkenntnissen und Grundverständnis der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Europäischen Union (EU) • Klärung folgender Fragen: – Welche Gremien, Ämter, Institute (Bund) beschäftigen sich direkt mit Gefahrstoffen? – Welche Aufgabe haben Berufsgenossenschaften? – Welche Regeln, Gesetze und Verordnungen muss GFK II behandeln? • Rechtliche Kompetenz entwickeln für Verantwortungsbereich berufstätiger Chemiker*innen (inkl. Vorbereitung „Sachkundenachweis“)

5.1.2 Vorbemerkung Die wichtigsten Regelungen, die Chemikerinnen und Chemiker beachten müssen, um Gefahren erfolgreich abzuwehren, sind im Chemikaliengesetz, in der Gefahrstoffverordnung und in der Chemikalien-Verbotsverordnung ausgeführt. Bei der wiederholten Befragung der Studierenden musste festgestellt werden, dass überraschenderweise nur sehr begrenzte Kenntnisse zur Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Europäischen Union (EU-Recht) vorhanden sind, obwohl in den von den Kultusministerien veröffentlichten Kern© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P.-J. Kramer, Toxikologie und Rechtskunde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66661-6_5

325

326

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

curricula der gymnasialen Oberstufe die Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit, das Parlament, die Länderkammer sowie die Bundesregierung und die Europäische Institutionen im Gesetzgebungsprozess (inkl. Spannungsfeld ExekutiveLegislative) als Inhalte genannt werden. Deshalb müssen zunächst die wichtigsten Bestandteile und Grundzüge der Rechtsordnung der BRD und der Europäischen Union (EU) erklärt werden, um ein rechtliches Grundverständnis zu erzeugen. Darauf aufbauend kann dann im Einzelnen auf die gesetzlichen Regelungen zur Chemikaliensicherheit und zum Arbeits- und Bevölkerungsschutz eingegangen werden.

5.1.3 Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) Grundregeln im Rechtsstaat Die wichtigsten Grundregeln, an die sich die Regierenden im demokratischen Rechtstaat der Bundesrepublik Deutschland halten müssen, werden in der Vorlesung wie folgt vorangestellt: 1. Staatliche Gewalt ist an Gesetze gebunden. – Gewaltenteilung 2. Handeln des Staates ist durch Gesetze definiert/begrenzt. 3. Strenge Trennung von – Legislative (Gesetzgebung, Parlamente) – Judikative (Rechtsprechung, Gerichte) – Exekutive (ausführende Organe: Regierungen, Verwaltung, Polizei usw.) 4. Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger müssen garantiert sein (Freiheiten). 5. Exekutive (Regierung und Verwaltung) – kann keine Gesetze erlassen (nur Legislative) – hat aber „normsetzende Befugnisse“, d. h., sie kann von Gesetzen abgeleitete Verordnungen erlassen 6. Rechtsstaat = Staat, in dem Exekutive nur im Rahmen bestehender Gesetze handeln darf 7. Staatliche Entscheidungen müssen von unabhängigen Gerichten überprüft werden können, „unabhängig“ = kein Durchgriff durch Exekutive und Legislative

Rechtssystem Grundgesetz BRD Um diese Grundregeln staatlicherseits einzuhalten und den Rechtsanspruch der Bürger zu sichern, muss es ein sehr gut und klar strukturiert aufgebautes Rechtssystem geben. Dieses Rechtssystem basiert auf dem Staats- und Verfassungsrecht, das in Deutschland auch als „Grundgesetz“ allgemein bekannt ist. Es sichert die Grundrechte der Bürger, das Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen, die Rechte zur Begründung von Ansprüchen gegenüber dem Staat und die Organisation und

5.1  Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)

327

den rechtlichen Aufbau der BRD. Hierzu zählt der föderale Aufbau mit Bundesländern (Art. 70–75), inkl. der Aufteilung der Zuständigkeiten.

Staats- und Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland Staats- und Verfassungsrecht = Grundgesetz • Grundrechte der Bürger • Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen • Rechte zur Begründung von Ansprüchen gegenüber dem Staat • Organisation und rechtlicher Aufbau der BRD – föderaler Aufbau mit Bundesländern, inkl. Aufteilung der Zuständigkeiten – Gesetzgebung durch Parlament(e)

Deutsches Grundgesetz – Föderale Struktur (Art. 70–75) Dem Bund fallen diverse bundesgesetzliche Regelungen und Bundesaufgaben zu sowie die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet und die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit. Bundesgesetzliche Regelungen/Bundesaufgaben • • • •

Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, Währung, Zoll Verteidigung (Bundeswehr), Luftverkehr Auswärtige Angelegenheiten, …

Bundesaufgabe – Gleichwertige Lebensverhältnisse • Infrastruktur • Arbeitsmarkt • Ausbildung • Unternehmensstandort • Demographie/ländliche Räume • Engagierte Zivilgesellschaft – Integration – Teilhabe – Solidarität In Ergänzung zu den bundesgesetzlichen Regelungen kommen in Deutschland noch die sehr wichtigen Regelungen der sog. konkurrierenden Gesetzgebung hinzu. Dies sind Aufgaben des Bundes und der Länder. Diese Regelungen betreffen auch Themen, die sowohl für Chemiker und Chemikerinnen als auch die Toxikologie von großer Relevanz sind. Dazu zählen das Arbeitsrecht, der Arbeitsschutz, die Lebensmittel, die sog. Bedarfsgegenstände, die Gifte, die Luftreinhaltung und der Tierschutz.

328

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Konkurrierende Gesetzgebung (Aufgaben des Bundes + Bundesländer) • Arbeitsrecht, Arbeitsschutz • Lebensmittel, Bedarfsgegenstände, Gifte • Gesundheit • Naturschutz, Landschaftspflege • Luftreinhaltung • Tierschutz, … Durch die Zuständigkeit der Bundesländer hat diese föderale Aufteilung direkte Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit von Chemiker*innen und Biochemiker*innen in Deutschland und muss deshalb von den Studierenden verstanden werden. Zwei Rechtsbereiche in der Bundesrepublik Deutschland haben für Studierende der Chemie oder Biochemie an einer deutschen Hochschule besondere Relevanz. 1. Kulturhoheit der Länder 2. Gesundheit, Arbeitsschutz

Kulturhoheit der Länder Ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis der Länder • Sprache • Bildung • Schul- und Hochschulwesen • Rundfunk und Fernsehen • Kunst Der Bund verfügt in diesem Bereich über keine Kompetenzen! Der Bund kann keine Gesetze erlassen, keine Maßnahmen veranlassen und durchführen! Das können nur die „Länder“. Vollständige (staatliche) Souveränität der Länder, die deshalb in diesem Bereich häufig nicht „Bundesländer“, sondern „Länder“ genannt werden!

Aufgabe der Bundesländer im Bereich der Gesundheit • Krankenhauswesen • Gesundheitsämter • Prävention und Gesundheitsförderung • Giftzentren • Arbeitsschutz, Lebensmittelkontrollen • Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten • (Tiere und Menschen)

5.1  Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)

329

Der Bund verfügt in diesem Bereich nur über sehr begrenzte Kompetenzen! Der Bund kann keine Maßnahmen veranlassen und keine Maßnahmen durchführen! Das können nur die Bundesländer! Die Bundesländer erlassen auch eigene Gesetze! Für die Umsetzung der Bundesgesetze (Durchführung von Aktivitäten) sind die Bundesländer zuständig, nicht der Bund!

Gesetzgebungsverfahren (Bund) in der Bundesrepublik Deutschland Es ist erstaunlich, dass beim konkreten Nachfragen zum Gesetzgebungsverfahren bei den Studierenden trotz langer Schulzeit mehrheitlich keine wirklichen Vorstellungen vorhanden sind. Aus diesem Grund ist auch die Frage, wie Gesetze und Verordnungen auf diesen Gebieten entstehen und wie sie initiiert werden können, von Bedeutung, weshalb auch das allgemeine Gesetzgebungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland in dieser Vorlesung in aller Kürze erklärt werden muss. Gesetzesinitiative (Gesetzentwurf) nur durch bestimmte Verfassungsorgane (Art. 76 Abs. 1 GG) • Bundesregierung • Bundestagsfraktionen • Bundesrat • Abgeordnetengruppen (5 %) Gesetzgebungsverfahren Das Verfahren ist komplex und der Ablauf kann sehr verschieden sein, z. B. Unterschied zwischen Zustimmungsgesetzen und Einspruchsgesetzen, soll aber in dieser Vorlesung sehr vereinfacht dargestellt werden, damit das Grundprinzip klar wird. 1. Bundestag (erste bis dritte Lesung) 2. Bundesrat (Einspruch, Zustimmung) 3. Vermittlungsausschuss 4. Bundesregierung (Gegenzeichnung) 5. Bundespräsident (Ausfertigung) 6. Bundesgesetzblatt (Verkündigung)

Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) 1. Privatrecht (Zivilrecht) regelt Beziehungen zwischen Bürgern – BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) – Kaufverträge, Dienstverträge, Mietverträge, Werkverträge

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5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

– HGB (Handelsgesetzbuch) – Rechtsverhältnisse von Kaufleuten 2. Öffentliches Recht regelt Beziehungen zwischen Bürgern und Staat – Strafrecht – Strafgesetzbuch (StGB) – Staats- und Verfassungsrecht – Verwaltungsrecht Das zuletzt genannte Verwaltungsrecht hat eine spezielle Bedeutung für die Gefahrstoffkunde und muss deshalb kurz skizziert werden.

Aufbauwissen

Verwaltungsrecht Bundesrepublik Deutschland Allgemeines Verwaltungsrecht regelt Verwaltungsverfahren Behörden, z. B. Verwaltungsverfahrensgesetz

der

• Recht auf Akteneinsicht • Anhörungsrechte, Geheimhaltung • Beratung, öffentlich-rechtlicher Vertrag usw. Besonderes Verwaltungsrecht • Beamtenrecht • Polizeirecht, Ordnungswidrigkeitenrecht, Bußgeldrecht • Gewerberecht und Umweltrecht • Sozialrecht (Arbeitsförderung, Kranken- und Rentenversicherung, Unfallversicherung, …)

Gesetzliche Regelwerke der Bundesrepublik Deutschland (BRD) 1. Gesetzliches Regelwerk Gesetze: durch die Parlamente (Bund und Bundesländer) erarbeitet und verabschiedet (Zielvorgaben, Regelungsinhalt, wenig konkret) Verordnungen (zahlreiche Verordnungen konkretisieren ein Gesetz, gehen nicht über Gesetz hinaus, sind aber rechtlich bindend) 2. Untergesetzliches Regelwerk Konkretisierung und Interpretation der Gesetze, ohne gesetzlich bindend zu sein, d. h. keine Bußgelder, keine Behördenforderung, aber Einhaltung ist absolut notwendig. Beispiele, die in der Vorlesung besprochen werden: TRGS: technische Regeln für Gefahrstoffe TRBA: technische Regeln für biologische Arbeitsstoffe TRBS: technische Regeln für Betriebssicherheit

5.1  Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)

331

DIN-Normen (Deutsches Institut für Normung) MAK-Werte der MAK-Kommission (maximale Arbeitsplatzkonzentration)

Gremien, Bundesinstitute und Berufsgenossenschaften (chemische Stoffe) (Gundert-Remy & Kramer, 2019). Für die Erstellung und Bearbeitung des untergesetzlichen Regelwerkes sind nicht die Parlamente zuständig, sondern Gremien, Ämter und Bundesinstitute. Die Wichtigsten sind deshalb im Verlauf der Gefahrstoffkundevorlesung II näher zu besprechen: • AGS (Ausschuss für Gefahrstoffe) • BAuA (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) • BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung) • BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) • BVL (Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit) • UBA (Umweltbundesamt) • MAK-Kommission (Ständige Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe) • Berufsgenossenschaften (Sozialgesetzbuch VII)

Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) – Technisches Regelwerk § 20 GefStoffV (BAuA, 2020a). Der AGS kann bzgl. der Chemikaliensicherheit in Deutschland als das wichtigste Fachgremium bezeichnet werden, was im Verlauf der Vorlesungsveranstaltungen immer wieder in Erinnerung gebracht wird. Er besteht aus Experten aus allen Bereichen der Toxikologie, des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin. • Berufung der Mitglieder durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)1 – Mitglieder: geeignete Personen von Seiten der Arbeitgeber, Gewerkschaften, Landesbehörden, gesetzliche Unfallversicherung und Wissenschaft • AGS-Unterausschüsse (UA) – UA I Gefahrstoffmanagement – UA II Schutzmaßnahmen – UA III Gefahrstoffbewertung • AGS-Postadresse: bei BAuA2 in Dortmund • Koordinierungskreis aus AGS- bzw. UA-Vorsitzenden sowie BMAS-Vertreter strukturiert die Arbeit des AGS

1 Bundesministerium

für Arbeit und Soziales, BM 2020: Hubertus Heil.

2 BAuA = Bundesanstalt

für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund.

332

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

• Aufgaben des AGS – Beratung des BMAS in allen Fragen zu Gefahrstoffen – Ermittelt, wie die in der GefStoffV gestellten Anforderungen erfüllt werden können, und erarbeitet dazu die dem jeweiligen Stand von Technik und Medizin entsprechenden Regeln und Erkenntnisse – Erstellung und Überarbeitung der technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS) – Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW), biologische Grenzwerte und andere Beurteilungsmaßstäbe für Gefahrstoffe vorschlagen und regelmäßig überprüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist: Bei der Festlegung der Grenzwerte und Beurteilungsmaßstäbe ist sicherzustellen, dass der Schutz der Gesundheit der Beschäftigten gewahrt ist. Für jeden Stoff, für den ein Arbeitsplatzgrenzwert oder ein biologischer Grenzwert in Rechtsakten der Europäischen Union festgelegt worden ist, ist unter Berücksichtigung dieses Grenzwertes ein nationaler Grenzwert vorzuschlagen.

Technische Regeln für Gefahrstoffe (TRGS) • Teil des untergesetzlichen Regelwerkes • Rechtsgrundlage ist die GefStoffV3, § 21 Abs. 3 • technisches Regelwerk umfasst vom Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) beschlossene Regeln und Erkenntnisse • Stand der Technik • Arbeitsmedizin und Arbeitshygiene • Einstufung und Kennzeichnung • sonstige gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zu Tätigkeiten mit Gefahrstoffen • vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im Bundesarbeitsblatt bekanntgegeben

Aufbauwissen

Aufbau des technischen Regelwerkes Das technische Regelwerk gliedert sich wie folgt: • TRGS 001–099 Allgemeines, Aufbau und Beachtung • TRGS 100–199 Begriffsbestimmungen • TRGS 200–299 Inverkehrbringen von Stoffen, Zubereitungen und Erzeugnissen • TRGS 300–399 Arbeitsmedizinische Vorsorge • TRGS 400–499 Gefährdungsbeurteilung

3 GefStoffV = Gefahrstoffverordnung.

5.1  Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)

333

• TRGS 500–599 Schutzmaßnahmen bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen • TRGS 600–699 Ersatzstoffe und Ersatzverfahren • TRGS 700–899 Brand- und Explosionsschutz • TRGS 900–999 Grenzwerte, Einstufungen, Begründungen und weitere Beschlüsse des AGS

5.1.4 Bundesinstitute – Bundesoberbehörden Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) (BAuA, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2010) • Bundesoberbehörde untersteht direkt dem BMAS4 (BMAS, 2020) • Hauptsitz Dortmund, Außenstelle Chemnitz • „Ressortforschungseinrichtung“, berät das BMAS bzgl. menschengerechte Arbeitsbedingungen • BAuA agiert an Schnittstelle Wissenschaft – Politik • Die BAuA „forscht und entwickelt zu Gesundheit und Sicherheit bei der Arbeit, fördert den Wissenstransfer in die Praxis, berät die Politik und erfüllt im Gefahrstoffrecht, bei der Produktsicherheit und mit dem Gesundheitsdatenarchiv hoheitliche Aufgaben“. • Hoheitliche Aufgaben – Informations- und Meldeverpflichtungen (GPSG, Geräte- und Produktsicherheitsgesetz) – Marktüberwachung (Unterstützung für Bundesländer) – Bundesstelle für Chemikalien (REACH)5 (ChemG)6 – Bewertungsstelle für Arbeitsschutz

Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) (BfR, 2020b) • Bundesinstitut für Risikobewertung untersteht als Bundesbehörde direkt dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL)7 • Sitz Berlin, 770 Mitarbeiter (ca. 300 Wissenschaftler*innen)

4 BMAS = Bundesministerium

für Arbeit und Soziales, BM 2020: Hubertus Heil, SPD.

5 REACH = registration,

evaluation, authorisation and restriction of chemicals – Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien. 6 ChemG = Chemikaliengesetz. 7 BMEL =  Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, BM 2020: Julia Klöckner, CSU.

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

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• „Ressortforschungseinrichtung“, berät das BMEL bezüglich Lebensmittelsicherheit, Textilien, Kosmetika usw. (gesundheitlicher Verbraucherschutz) • BfR agiert an Schnittstelle Wissenschaft – Politik „Die Aufgaben umfassen die Bewertung bestehender und das Aufspüren neuer gesundheitlicher Risiken, die Erarbeitung von Empfehlungen zur Risikobegrenzung und die Kommunikation dieses Prozesses. Die Ergebnisse der Arbeit bilden die Basis für die wissenschaftliche Beratung der beteiligten Bundesministerien sowie anderer Behörden, beispielsweise des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).“ • Keine hoheitliche Funktion, ist aber in Anmelde- und Zulassungsverfahren eingebunden • „Ein wissenschaftlicher Beirat sowie mehrere Expertenkommissionen unterstützen das BfR bei seiner Arbeit.“ • Entwicklung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden • „Unabhängige“ Behörde, d. h., „in seinen Bewertungen und Empfehlungen ist das BfR frei von wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Interessen.“

Aufbauwissen

Risiken, auch Gesundheitsrisiken, rational und objektiv zu verstehen bzw. korrekt einzuordnen, verursacht stets Probleme, weshalb in den Gefahrstoffkundevorlesungen den Studierenden das eine und andere Beispiel von verschiedenen Seiten erklärt wird, auch um die Komplexität der Risikoevaluierung zu erfassen. Bekanntes Beispiel für eine Risikobewertungen des BfR: Glyphosat (Monsanto, Bayer, u.v.a.m.). BfR hat Originalstudien der Antragsteller detailliert geprüft und bewertet. Mitteilung Nr. 028/2017 des BfR vom 15. September 2017 (BfR, 2017). (siehe auch Kapitel 6 in diesem Buch)

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) (BfArM, 2020) • „Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist eine selbstständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) 8.“ • „Oberstes Ziel aller Maßnahmen ist die Erhöhung der Arzneimittel- und damit der Patientensicherheit. Auf diese Weise leistet das BfArM einen wichtigen Beitrag zur Abwehr von Gesundheitsgefahren für die Bürgerinnen und Bürger.“ 8 BM

2020: Jens Spahn, CDU.

5.1  Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)

335

• Sitz Bonn (früher Berlin) • Hoheitliche Aufgaben – Zulassung von Fertigarzneimitteln (Arzneimittelgesetz) Zusammenarbeit mit Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) – Pharmakovigilanz: Berichte zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen werden gesammelt und bewertet – Bundesopiumstelle kooperiert mit internationalen Institutionen zur Überwachung des Betäubungsmittelverkehrs • Forschung zur Verbesserung der Sicherheit von Arzneimitteln, der Risikoerfassung und Risikobewertung von Medizinprodukten

Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) (BVL, 2020) • • •

Bundesoberbehörde untersteht direkt dem BMEL9 Dienststellen Braunschweig und Berlin Gesundheitlicher Verbraucherschutz (Lebensmittel, Kosmetika, Textilien, Spielzeug, Futtermittel, Pflanzenschutzmittel, Tierarzneimittel, Gentechnik, …) • Datenbanken (Schnellwarnsystem) • Krisenmanagement • Koordination Bund – Bundesländer • Kontaktstelle zwischen EU und den Bundesländern, europäisches Schnellwarnsystem • Unterstützung neuer EU-Mitgliedsstaaten

Umweltbundesamt (UBA) (UBA, 2020) • Deutschlands zentrale Umweltbehörde, untersteht als Bundesoberbehörde direkt dem BMU10 • Hauptsitz Dessau, Nebensitz Berlin (früher Hauptsitz) • Wissenschaftliche Behörde mit sehr breitem Aufgabengebiet – Schutz der Menschen vor schädlichen Umwelteinflüssen – Schutz natürlicher Lebensgrundlagen – Beratung staatlicher, kommunaler und privater Einrichtungen – Erarbeitung von Konzepten und Maßnahmen für BMU – Nachhaltigkeitsstrategien in D, EU und EU-Nachbarn – Abfallvermeidung, Klimaschutz und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln 9 BMEL =  Bundesministerium

für Ernährung und Landwirtschaft, BM 2020: Julia Klöckner,

CDU. 10 BMU =  Bundesministerium

Svenja Schulze, SPD.

für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, BM 2020:

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5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

MAK-Kommission (DFG, 2020) • Ständige Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe • Besteht seit mehr als 60 Jahren • Aufgabe: – wissenschaftliche Politikberatung (Senat der DFG, Bundes-/Landesregierungen, Parlamente und Behörden) • Vorschläge für – maximale Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK-Werte) für flüchtige Chemikalien und Stäube – biologische Arbeitsstofftoleranzwerte (BAT-Werte) – biologische Leitwerte (BLW) – biologische Arbeitsstoffreferenzwerte (BAR) – Verfahren zur Analytik der Arbeitsstoffe in Luft und in biologischem Material – Markierung krebserzeugender, keimzellmutagener, sensibilisierender, hautresorptiver und schwangerschaftsbeeinträchtigender Stoffe

5.1.5 Berufsgenossenschaften – Organisation – Funktion • Körperschaften des öffentlichen Rechts, in paritätischer Selbstverwaltung organisiert (Unternehmen/Arbeitnehmer) • Finanzieren sich aus Beiträgen der Unternehmen (Pflichtmitgliedschaft der Unternehmen) • Sozialversicherungsträger – Träger der gesetzlichen Unfallversicherung für Unternehmen der deutschen Privatwirtschaft und deren Beschäftigte (seit 1885) – Versicherungspflicht bei zuständiger BG für alle Unternehmer

Berufsgenossenschaften – Aufgaben Verhütung (Prävention) • Arbeitsunfälle • Berufskrankheiten • Gesundheitsgefahren, arbeitsbedingt Nach Eintritt von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten • Rehabilitation, medizinische Behandlung • Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit • Wiedereingliederung • Umschulung • Zahlung von Entschädigungsleistungen (inkl. Hinterbliebene)

5.1  Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)

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Berufsgenossenschaften – Vorschriften Ziel Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren Erarbeiten und Überwachen von Vorschriften • „Vorschriften der Berufsgenossenschaften (BGV)“ • Vorschriften haben gleiche rechtliche Bindung wie staatliche Verordnungen („neben staatlichem Recht“)

Berufsgenossenschaft – Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI) (RCI, 2020b) • Gewerbliche Berufsgenossenschaft mit rund 36.000 Mitgliedsunternehmen (Chemie) Hauptverwaltung in Heidelberg • Träger der gesetzlichen Unfallversicherung für Mitarbeiter*innen dieser Unternehmen • Gesetzlicher Auftrag, Arbeitsunfälle sowie Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten (Prävention) • Unterstützung der Betriebe umfassend in allen Fragen des Arbeitsschutzes, Schulung der Versicherten, Erforschung von Unfallursachen und Prüfung technischer Arbeitsmittel • Prävention – Umsetzung von Unfallverhütungsvorschriften – Sicherheitsbestimmungen, sicheres Fahren und Transportieren – Bewegungsprogramme • Rehabilitation – Reha-Manager und Berufshelfer – Medizinische Behandlung, behindertengerechter Umbau der Wohnung – Wiedereingliederung am Arbeitsplatz • Umschulung • Zahlung von Entschädigungsleistungen • Erarbeiten und Überwachen von Vorschriften und Regeln, „Vorschriften der Berufsgenossenschaften (BGV)“ (wichtige Rolle neben staatlichem Recht)

BG-Vorschriften und -Regeln BG-Vorschriften – Beispiele • Unfallverhütungsvorschriften der BG RCI • BG-Vorschrift A1 (BGV A1) – Grundsätze der Prävention • BG-Vorschrift A4 (BGV A4) – Arbeitsmedizinische Vorsorge • BG-Vorschrift B4 (BGV B4) – Organische Peroxide • BG-Vorschrift B5 (BGV B5) – Explosivstoffe – Allgemeine Vorschrift • …

338

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Hierzu sind Durchführungsanweisungen erlassen. Durchführungsanweisungen geben an, wie Schutzziele erreicht werden können. BG-Regeln – Beispiele • BGR 104 – Explosionsschutz-Regeln (EX-RL) • BGR 190 – Benutzung von Atemschutzgeräten • …

5.1.6 Rechtsordnung der Europäischen Union (EU) (EU, 2020). Europäische Union – Geschichte – Bedeutung EWG 1957 Römische Verträge Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1. Januar 1958–1992 EU Staatenverbund 1993 Vertrag von Maastricht: EU als „Dachorganisation“ gegründet 1997 Vertrag von Amsterdam: Befugnisse EU-Parlament ausgeweitet 2002 Einführung Euro (19 Mitgliedsstaaten) 2003 Vertrag von Nizza: teilw. Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit statt Einstimmigkeit 2004 und 2007 Osterweiterung 2009 Vertrag von Lissabon: EU als „Rechtspersönlichkeit“ 2020 Austritt des Vereinigten Königreichs (Brexit). Staatenverbund (Bundesverfassungsgericht) Die Europäische Union ist kein Staat (Bundesstaat), auch kein Staatenbund, sondern ein Staatenverbund. Den Begriff Staatenverbund prägte das Bundesverfassungsgericht 2009, um zu verdeutlichen, dass die EU-Mitgliedsstaaten völkerrechtlich keinen Staat bilden, sich aber aufgrund der Übertragung von wichtigen Souveränitätsrechten auf die Union deutlich von einem Staatenbund (z. B. UNO) unterscheiden. Dies gibt Gelegenheit, den Studierenden zu erklären, wo der Unterschied zwischen einem Staatenbund (UNO), einem Staatenverbund (EU) und einem Bundesstaat bestehen. Dies ist auch wichtig, um zu verstehen, was politische Bestrebungen bedeuten, die aus der EU einen Staatenbund machen wollen. Offene Grenzen und ein einheitlicher Binnenmarkt sind dann fast unmöglich (siehe Unterschied zwischen EWG und EU).

5.1  Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)

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1. Staatenbund wie UNO – Keine verbindlichen Regeln und Gesetze im Staatenbund – Souveränität unbeeinflusst von Regeln/Verträgen 2. Staatenverbund wie EU (definiert von Bundesverfassungsgericht) – Regeln und Gesetze, die sofort im gesamten Staatenverbund gelten – Regeln, die in nationale Gesetze umgesetzt werden müssen – Große Rechtsbereiche, in denen nur Regeln und Gesetze der Mitgliedsstaaten gelten (Souveränität) 3. Bundesstaat wie BRD, USA oder Kanada – Regeln und Gesetze, die sofort im gesamten Bundesstaat gelten – Kleine Rechtsbereiche, in denen nur Regeln und Gesetze der Einzelstaaten/ Bundesländer gelten (Teilsouveränität) Es ist für die Studierenden wichtig zu begreifen, dass die EU nichts ist, was weit weg ist. Die EU-Regulierungen bestimmen im Gegenteil das berufliche Leben eines Chemikers oder einer Chemikerin jeden Tag.

Ziele und Errungenschaften der Europäischen Gemeinschaft Um einen dauerhaft funktionierenden und fairen Binnenmarkt zu gewährleisten, mussten breit gesteckte Ziele und Regeln vorangestellt werden. Dies sind zuallererst: • Wahrung des Friedens • Streben nach Wohlstand für alle • Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit • Subsidiarität, d. h. Gesetze und Regeln nur dann auf europäischer Ebene erlassen, wenn – damit verbundene Ziele von Mitgliedsstaaten nicht allein in ausreichendem Maße erreicht werden können. – ein gemeinsames Handeln nachweislich bessere Ergebnisse verspricht. Daraus ergaben sich verschiedene grundlegende Errungenschaften der Gemeinschaft: • •

Charta der Grundrechte von 2000 Sie legt die grundlegenden Rechte aller Menschen in der Union fest. Unionsbürgerschaft (seit 1993) Sie ergänzt die Staatsbürgerschaft der Mitgliedsstaaten und garantiert eine Reihe von grenzüberschreitenden Rechten. EU-Bürger*innen können überall in der EU leben, studieren oder arbeiten. • Friedliches Zusammenleben seit über 70 Jahren • Größter Binnenmarkt der Welt

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

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EG ERTRAG Nizza 2001

EU Verordnungen ons) (R Direkt wirksam Umsetzungsverbot

EU Richtlinien (Direc ves) Umsetz

Bindend onales Recht

EU Richtlinien (Direc ves) Mindeststandards Umsetz onales Recht

Abb. 5.1  EG-Vertrag Nizza. (Eigene Darstellung)

Vertrag über die Europäische Union • Basis für alle Regelungen ist der EG-Vertrag (EU). Darin wird festgeschrieben, dass die EU eine Union, d. h. eine Gemeinschaft, ist und nicht eine Gruppe von Staaten, die einen multilateralen Handelsvertrag unterschrieben haben. • Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union • Artikel 1 Durch diesen Vertrag gründen die hohen Vertragsparteien untereinander eine Europäische Union, im Folgenden als „Union“ bezeichnet (Abb. 5.1). Lissabon-Vertrag – 1. Dezember 2009 • Nachfolgevertrag für EG-Vertrag • Vertrag über Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) • Artikel 114 Verordnungen – Technische Regelungen Harmonisierung Binnenmarkt – Angleichung Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten • Artikel 153 Richtlinien – Soziale Regelungen Verbesserung Lebens- und Arbeitsbedingungen – Arbeitsschutz

5.1.7 Europäische Union – EU-Recht • „Die Europäische Union beruht auf dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. • Jede Maßnahme der EU beruht auf den Verträgen, die von ihren Mitgliedern demokratisch vereinbart wurden. • EU-Rechtsvorschriften dienen der Verwirklichung der in den EU-Verträgen festgelegten Ziele und der Umsetzung von EU-Strategien“. (EU, 2020)

5.1  Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)

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• Es gibt zwei Arten von Rechtsvorschriften – Primärrecht und Sekundärrecht – Primäres Recht der EU – Verträge über Europäische Union – (1992 in Maastricht, 1997 Amsterdam, 2001 Nizza, 2009 Lissabon), regelt Arbeitsweise und politisches System der EU – EG-Vertrag (EGV), 2002 regelt die Organe der EG, Rechtsinstrumente und Rechtssetzungsverfahren • Sekundäres Recht der EU regelt die Rechtsnormen („Gesetze“) der EU – EU-Verordnungen (regulations) unmittelbar wirksame Rechtsvorschriften in allen Mitgliedsstaaten – EU-Richtlinien (directives) müssen in den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden, um Rechtsgültigkeit zu erlangen (Mindeststandards)

Gesetzgebungsverfahren EU • Zwei Arten von EU-Gesetzen: Richtlinien und Verordnungen • Kommission verfügt über das Initiativrecht. • Kommissionsvorschlag wird EU-Parlament und Rat zugestellt. • EU-Parlament und Bürger (Initiativrecht der Bürger, 1 Mio.) können Kommission zu einer Gesetzesinitiative auffordern, d. h., letztendlich hat nur die Kommission das direkte Initiativrecht. • Gesetze müssen vom Europäischen Parlament (Bürgerkammer) und vom EUMinisterrat (Staatenkammer) gemeinsam angenommen werden. • Prozess kann bis zu drei Lesungen umfassen.

EU-Rechtsakte – Übersicht (EU, 2020) • EU-Verordnungen Verbindlicher Rechtsakt, der in allen EU-Ländern in vollem Umfang sofort gilt (ohne extra Umsetzung in nationales Recht). • EU-Richtlinien Rechtsakt, in dem ein von allen EU-Ländern zu erreichendes Ziel festgelegt wird. • EU-Beschlüsse verbindlich und unmittelbar anwendbar, für ein EU-Land oder ein einzelnes Unternehmen • EU-Empfehlungen nicht verbindlich • EU-Stellungnahmen keine rechtliche Verpflichtung und nicht verbindlich

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5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

EU-Verordnungen und Richtlinien (Chemie, Kosmetik, Pharma) Aufbauwissen

Wer erarbeitet solche EU-Verordnungen und EU-Richtlinien? • Ist das die Kommission in Brüssel, die sie unter ihrem Namen veröffentlicht? • Sind das die EU-Beamten der unterschiedlichen EU-Direktorate und Dienststellen in Brüssel? • Ist das die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) in Helsinki? • … Antwort: Es ist keine derartige EU-Dienststelle oder EU-Organisationseinheit! (eigene Erkenntnis nach über 30 Jahren Erfahrung in EU-Expertengruppen) Alle diese EU-Rechtsakte werden von Expertengruppen, die von den EUMitgliedsstaaten beschickt werden, erarbeitet. Überprüft werden sie mehrfach während ihrer Entstehung in den zuständigen Ministerien und Ämtern aller Mitgliedstaaten, bevor sie abschließend von der EU-Kommission veröffentlicht werden. EU-Verordnungen müssen von allen Mitgliedsstaaten genehmigt werden. Eine Dominanz von Brüssel durch den Erlass von EU-Verordnungen wird und wurde in einzelnen Mitgliedsstaaten zwar behauptet, dies sind aber reine Märchenerzählungen. Diese Märchen entstehen im Allgemeinen dadurch, dass Regierungen in den Mitgliedsstaaten wechseln und dann für die eine oder andere Verordnung gerne die Zustimmung ihrer Vorgänger rückgängig machen möchten. Dann reden ihre Vertreter davon, dass die EU nicht zerstört, aber in einen Staatenbund umgewandelt werden sollte. • Kommissionsvorschläge (Initiativen/Wünsche kommen im Allgemeinen aus den Mitgliedstaaten) • Vorlagen für Verordnungen und Richtlinien erstellen die Generaldirektionen der EU-Kommission. • Inhalt und Formulierung werden erarbeitet durch EU-Expertengruppen. Mitglieder: – Experten von nationalen und EU-Behörden (ECHA, EFSA, EMA) – Experten aus Industrie und Academia (von Ministerien in Mitgliedstaaten delegiert!) Wichtige gefahrstoffrelevante europäische Verordnungen Chemierelevante Beispiele • REACH-Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 • (Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe) • CLP-Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 (Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen)

5.1  Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)

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5.1.8 Deutsche Gesetze für chemische Substanzen – EU-Rechtsakte (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1203 f.) Wie macht man den Studierenden begreifbar, dass die EU nicht weit weg ist, sondern weite Teile des deutschen Rechts auf EU-Recht basieren? Am besten durch Beispiele!

Rechtliche Regelungen zum Gebrauch, zur Zulassung und zum Umgang mit chemischen Substanzen • Arzneimittel

Arzneimittelgesetz (AMG)

• Pflanzenschutzmittel

Pflanzenschutzgesetz (PflSchG)

• Kosmetikstoffe

Kosmetik-Verordnung

• Industriechemikalien

Chemikaliengesetz (ChemG)

•…

Was haben diese deutschen Gesetze und Verordnungen mit der EU zu tun? Aufbauwissen

Im Folgenden soll den Studierenden verständlich gezeigt werden, dass die Rechtssysteme der EU und der Mitgliedstaaten bereits heute sehr miteinander verwoben sind. Die zahlreichen dabei erwähnten EU-Rechtsakte sind kein Lernstoff für die Klausur, sollen aber begreifbar machen, dass die EU zwar kein Bundesstaat wie die BRD und auch kein Staatenbund wie die UN ist, dass sie aber ein Staatenverbund ist, der bereits heute sehr enge rechtliche Beziehungen beinhaltet, die weit über die Regelungen von Freihandelsverträgen hinausgehen. Deutsches Arzneimittelgesetz (AMG) („Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln“). Anpassung an folgende EU-Rechtsakte • Richtlinie 2001/82/EG (EG-Tierarzneimittelrichtlinie) • Richtlinie 2001/83/EG (EG-Humanarzneimittelrichtlinie) •  + zahlreiche „Amendments“, z. B. 2012/26/EU • Verordnung (EG) Nr. 726/2004 EU-Verfahren zur Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln • Verordnung (EG) Nr. 1234/2008 Prüfung von Zulassungsänderung • Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 Kinderarzneimittel • Verordnung (EG) Nr. 1394/2007 Neuartige Therapien • … • d. h., wo deutsch draufsteht, ist EU drin!

344

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Deutsches Pflanzenschutzgesetz 2012 („Gesetz zum Schutz der Kulturpflanzen“). Anpassung an folgende EU-Rechtsakte • Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 • Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln (PSM) „EU-Zulassungsverordnung“ • Richtlinie 2009/127/EG zur Änderung der Richtlinie 2006/42/EG betreffend Maschinen zur Ausbringung von Pestiziden „EU-Maschinenrichtlinie“ • Verordnung (EG) Nr. 1185/2009 über Statistiken zu Pestiziden „EUStatistikverordnung“ • Verordnung (EU) Nr. 547/2011 zur Durchführung der Zulassungsverordnung hinsichtlich der Kennzeichnungsanforderungen für PSM „EU-Kennzeichnungsverordnung“ d. h., wo deutsch draufsteht, ist EU drin! Deutsche Kosmetik-Verordnung („Verordnung über kosmetische Mittel“). Anpassung an folgende EU-Rechtsakte • Verordnung (EG) Nr. 440/2008 Festlegung von Prüfmethoden (REACH) • Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 EU-Agentur für chemische Stoffe • Richtlinie 76/768/EWG (EU-Kosmetik Richtlinie bis Juli 2013) • Verordnung (EG) Nr.1223/2009 ersetzt ab 11. Juli 2013 76/768/EWG • Beschluss 2006/257/EG der Kommission (Nomenklatur der Bestandteile kosmetischer Mittel) • … d. h. wo deutsch draufsteht, ist EU drin! Deutsches Chemikaliengesetz ChemG („Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen“). Anpassung an folgende EU-Rechtsakte • Verordnung (EG) 1272/2008 Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen (CLP, GHS) • Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), EU-Agentur für chemische Stoffe (European Chemicals Agency, ECHA) • Richtlinie 98/24/EG Arbeitnehmer – Gefährdung durch chemische Arbeitsstoffe • Richtlinie 2009/148/EG Arbeitnehmer – Gefährdung durch Asbest • Verordnung (EG) Nr. 440/2008 Festlegung von Prüfmethoden (REACH) • … – d. h. wo deutsch draufsteht, ist EU drin!

5.1  Einführung in die Rechtskunde (Gefahrstoffkunde II)

345

Chemikalienrecht – EU vs. Deutschland – Deutsche Rechtsordnung (Rechtssystem) bzgl. Chemikalien (Abb. 5.2).

Deutsche gesetzliche Regelung – Verordnungen und TRGS (Siehe Tab. 5.1) Chemierelevante Beispiele TRGS – Erstellt von AGS (Ausschuss für Gefahrstoffe) Deutsche gesetzliche Regelung – Bekanntmachungen Chemierelevante Beispiele

EUROPA

DEUTSCHLAND

Gesetzliches Regelwerk

REGUL ATIONS DIRECTIVES

GESETZLICHE VERORDNUNGEN / RICHTLINIEN

Untergesetzliches Regelwerk

GUIDELINES

TRGS, TRBS, …

BGR (BG-Regeln) BGI (BGonen)

CEN

DIN

Stand der Technik

Normen Empfehlungen

CEN = Comité Européen de

on

BG BGV (BG-Vorschri en)

TRGS = Technische Regeln für Gefahrenstoffe TRBS = Technische Regeln für Betriebssicherheit

Abb. 5.2  Chemikalienrecht – EU vs. Deutschland. (Eigene Darstellung)

Tab. 5.1  x Arbeitsschutzgesetz

TRGS 500

Schutzmaßnahmen

Chemikaliengesetz

TRGS 510

Lagerung in ortsbeweglichen Behältern

Gefahrstoffverordnung

TRGS 526

Laboratorien

Chemikalienverbotsverordnung

TRGS 526

Laboratorien

Gefährdungsbeurteilung

TRGS 900

Arbeitsplatzgrenzwe rte

346

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

• Bekanntmachung zu Gefahrstoffen (BekGS) 408 • Anwendung der GefStoffV nach Inkrafttreten der CLP-Verordnung • (regulation on classification, labelling and packaging of substances and mixtures) • Bekanntmachung zu Gefahrstoffen (BekGS) 409 • Nutzung der REACH-Informationen für Arbeitsschutz • erstellt durch: AGS (Ausschuss für Gefahrstoffe)

EU vs. nationale gesetzliche Regelungen Im Bereich Chemie, Pharma und Umweltschutz sind praktisch alle maßgeblichen nationalen Gesetze, Verordnungen und Vorschriften durch EU-Richtlinien und -Verordnungen vorgegeben, • d. h., wo deutsch, französisch, englisch, italienisch, spanisch, niederländisch draufsteht, ist EU drin!

5.2 Gefährdungs- und Risikobeurteilung (GefStoffV, 2021), (Neubert D., 2019).

5.2.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • Gefährdungsbeurteilung – Vermittlung der Bedeutung • Regulatorische Toxikologie als Basis der Gefährdungsbeurteilung • Gefährdungsbeurteilung zur Gefahrenabwehr • Risikoabschätzung, Risikobeurteilung, Risikominderung, Risikovermeidung • Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) • Berufskrankheiten

5.2.2 Grundlagen Gefahr vs. Gefährdung • Gefahr – kann alles sein, was potenziell Schaden oder gesundheitliche Beeinträchtigungen verursachen kann, z. B. Gefahrstoff, Fahrzeug, Mensch, …

5.2  Gefährdungs- und Risikobeurteilung

347

• Gefährdung – Bezeichnet Möglichkeit eines Schadens oder einer gesundheitlichen Beeinträchtigung (ohne bestimmte Anforderungen an Ausmaß oder Eintrittswahrscheinlichkeit) (BAuA11, 2016) – Entsteht z. B., wenn „Gefahr Mensch“ mit „Gefahr Gefahrstoff“ zusammentrifft (Gefährdung durch Gefahrstoff entsteht erst durch dessen Verwendung) • Gefährdungen – Sind abzustellen/zu vermeiden (Gefahrenabwehr) – Gefährdungen lösen Arbeitsschutzmaßnahmen aus – Arbeitsschutz ist immer Prävention! Bevor Schäden oder gesundheitliche Beeinträchtigungen eintreten!

Gefährdungsbeispiele Gefahr: Gefahrstoff • Gefährdung durch Verwendung – Exposition Einatmen Hautkontakt Explosion Gefahr: Fahrzeug • Gefährdung durch Bewegung – schlechte Sicht – schnelles Fahren – Fahrzeug überladen – Alkohol am Steuer

Gefahrenabwehr Zur Gefahrenabwehr ist es sicherzustellen, dass für alle auf dem Markt befindlichen und gehandelten chemischen Stoffe vor der Einführung in den Markt • eine Gefährdungsermittlung und • eine Gefährdungsbeurteilung

11 BAuA = Bundesanstalt

für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund.

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

348

durchgeführt und dokumentiert wurde. → zahlreiche Rechtsvorschriften zur Absicherung der Gefahrenabwehr (Risikominderung) eingeführt und sowohl europaweit wie weltweit harmonisiert

5.2.3 Warum strenge Rechtsvorschriften/strenge Regeln? • Weil ohne strenge Regeln sehr schlechte Erfahrungen gemacht wurden! • Ungebremster und weitgehend unkontrollierter chemischer pharmazeutischer Fortschritt führte zu Katastrophen, z. B.

und

– Chemiekatastrophen Seveso (1976) Bhopal (1984) Basel (1986) – Arzneimittelkatastrophen Contergan (Thalidomid)(1961). • Stets Vertuschung/Verheimlichung versucht • Behörden und Industrie mussten lernen, dass nur Regeln und deren strikte Anwendung ernste Schäden verhindern. Seveso-, Bhopal- und Basel-Reaktionen Seveso: Trichlorphenolherstellung, Zwischenprodukt (Abb. 5.3). Bhopal: Methylisocyanat +  Wasser.

von

Hexachlorophen

CH3 − NCO + H2 O → CO2 ↑ +CH3 − NH2 ↑ Basel: Glimmbrand von Berliner Blau (Eisen[III]-hexacyanidoferrat[II/III]).

Wo kann man Regeln für Gefährdungsbeurteilung nachlesen? • • • •

Arbeitsschutzgesetz + Arbeitsstättenverordnung (§§ 5, 6) Betriebssicherheitsverordnung (§ 3) Gefahrstoffverordnung (§ 6) Betriebsverfassungsgesetz (§§ 89, 90)

Cl

Cl

Cl

Cl

NaOH

Cl

OH

Cl

Cl

Abb. 5.3  Hexachlorophenentstehung

+ ∆T

Cl

O

Cl

Cl

O

Cl

5.2  Gefährdungs- und Risikobeurteilung

349

Übersicht

Menschen werden (nur) durch Schaden klug! Allerdings erst, wenn der Schaden unübersehbar ist und nicht bestritten werden kann! Denn: „Glaube versetzt Berge“ Auch offensichtliche Tatsachen werden bestritten, wenn sie nicht ins Weltbild passen Je öfter Unwahrheiten wahrgenommen werden, desto wahrer werden sie!

Aufbauwissen

Das Ziel der Gefährdungsermittlung und -beurteilung ist, die Grundlage für eine Risikobeurteilung zu liefern, um damit die Sicherheit und Gesundheit der Menschen zu sichern. Es fällt allerdings auf, dass die Regelungen am Arbeitsplatz deutlich präziser und umfangreicher sind als die für die allgemeine Bevölkerung. Dies mag am hohen Gut der individuellen Freiheiten liegen, birgt aber Risiken, die häufig unterschätzt werden.

5.2.4 Gefährdungsbeurteilung – Bedeutung • Zentrale Rolle in Arbeitsschutz und Chemikalienrecht! • Wichtige Rolle bei Vermarktung von chemischen Stoffen – Für alle auf dem Markt befindlichen und gehandelten chemischen Stoffe muss vor Einführung in Markt eine Gefährdungsbeurteilung bzw. Gefährdungsermittlung durchgeführt und dokumentiert werden. zahlreiche Rechtsvorschriften zur Regulierung dieser Bereiche (Risikominderung) europaweit und weltweit harmonisiert

Gesichtspunkte – Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung (GefStoffV § 6 Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung). Gefährdungen der Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten sind unter folgenden sieben Gesichtspunkten zu beurteilen: 1. Gefährliche Eigenschaften der Stoffe oder Gemische (toxische und physikalisch-chemische Eigenschaften) 2. Art und Ausmaß der Exposition unter Berücksichtigung aller Expositionswege 3. Informationen des Herstellers oder Inverkehrbringers zum Gesundheitsschutz und zur Sicherheit insbesondere im Sicherheitsdatenblatt (SDB) 4. Möglichkeiten einer Substitution (Gibt es Ersatz für den Gefahrstoff?)

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

350

5. Arbeitsbedingungen und Verfahren, einschließlich Arbeitsmittel und Gefahrstoffmenge 6. Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW) und biologische Grenzwerte 7. Wirksamkeit der ergriffenen oder zu ergreifenden Schutzmaßnahmen Erkenntnisse aus arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen

Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung Für die Durchführung einer Informationsermittlung und Gefährdungsbeurteilung sieht ein Schema der Berufsgenossenschaften sieben Schritte vor (Abb. 5.4): 1. Arbeitsbereiche und Tätigkeiten festlegen 2. Gefährdungen ermitteln 3. Gefährdungen beurteilen 4. Maßnahmen festlegen 5. Maßnahmen durchführen 6. Wirksamkeit überprüfen 7. Gefährdungsbeurteilung fortschreiben

Arbeitsbereiche und Tä gkeiten festlegen

Gefährdungsbeurteilung fortschreiben

1

7 Wirksamkeit überprüfen

6

DOKUMENTIEREN

Gefährdungen ermi eln

3

5 Maßnahmen durchführen

2

4

Gefährdungen beurteilen

Maßnahmen festlegen

Abb. 5.4  Gefährdungsermittlung + Gefährdungsbeurteilung – Sieben Schritte. Quelle: Eigene Abbildung in Anlehnung an (BGW, 2020)

5.2  Gefährdungs- und Risikobeurteilung

351

5.2.5 Von Informationsermittlung bis Arbeitsschutz 1. Informationsermittlung 2. Gefährdungsbeurteilung 3. Risikoabschätzung/Risikobeurteilung 4. Risikomanagement, sämtliche Maßnahmen zur systematischen – Erkennung – Analyse – Bewertung – Überwachung – Kontrolle von Risiken 5. Arbeitsschutz

Informationsquellen – Vorhandene Stoffe (Altstoffe) • Sicherheitsdatenblatt (SDB) • EU-Verordnungen (CLP, REACH) • Verordnungen der BG RCI (BGV) • Informationen und Regeln der BG RCI (BGI und BGR) • Merkblätter der BG RCI (M-Merkblätter) • Fachliteratur inkl. Epidemiologie (langjährige Erfahrung und Unfalldokumentation)

Aufbauwissen

Datenbanken • Hommel, Handbuch der gefährlichen Güter, Nachschlagewerk für Gefahrgut-Information • GESTIS (Gefahrstoffinformationssystem der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung) (ca. 9400 Stoffe) • GisChem (Gefahrstoffinformationssystem Chemikalien der BG RCI) • Gefahrstoffdatenbank der Länder (GBL) (BAuA – Datenkoordinierungsstelle) • RTECS – The National Institute for Occupational Safety and Health (NIOSH) (USA) • Toxline (Literaturdatenbank, NIH-USA) Informationen aus Datenbanken und Literatur setzen voraus, dass zuvor regulatorische Toxikologieprüfungen oder klinisch-toxikologische Untersuchungen vorlagen, deren Ergebnisse in die Datenbanken eingepflegt wurden. In den Datenbanken sind u. U. auch epidemiologische Daten, d. h. langjährige Erfahrung und Unfalldokumentationen, enthalten. Falls vorhanden, sind diese Daten ein wichtiger Bestandteil der Gefährdungs- und Risikobeurteilung.

352

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Informationsquellen, Gefährdungsbeurteilung – Neue Stoffe Woher kommen die Daten, die gesundheitliche Risiken von neuen Stoffen (Chemikalien) kennzeichnen? Grundlage der Gefährdungsbeurteilung neuer Stoffe sind in der Regel die Prüfungen der Regulatorischen Toxikologie, die sich durch die gesetzgeberischen Aktivitäten zu einem eigenen Zweig der Toxikologie entwickelt hat. Die Regulatorische Toxikologie beschäftigt sich mit der Bewertung von Toxizität und Gefährdung und den dazu notwendigen Untersuchungen und Verfahren.

5.2.6 Regulatorische Toxikologie Aufnahmewege von Gefahrstoffen am Arbeitsplatz Drei Wege, wie Gefahrstoffe am Arbeitsplatz üblicherweise in den menschlichen Körper gelangen 1. Einatmen

Gase, Dämpfe und Stäube

2. über Haut

Stäube und Flüssigkeiten

3. Verschlucken

Stäube und Flüssigkeiten

Verabreichungsformen von Gefahrstoffen in toxikologischer Prüfung 1. inhalativ

Verabreichung Prüfsubstanz über Atemluft

2. dermal

Auftragen Prüfsubstanz auf Haut (okklusiver Verband)

3. oral

Verabreichung Prüfsubstanz mittels Schlundsonde (akute + chronische Prüfungen) Trinkwasser oder Futter (chronische Prüfungen)

Aufbauwissen

Beispiel zu Bedeutung des Aufnahmeweges Einatmen von 1 g N,N-Dimethylformamid im Vergleich zur Aufnahme über Haut. dermal (Hautkontakt) • sehr schnelle vollständige Resorption und Verteilung (Sekunden) Inhalation (Einatmen, Lunge) • langsame Aufnahme • benötigt ca. 20 h Exposition für gleiche Menge Zur Beurteilung möglicher gesundheitlicher Risiken ist es nicht ausreichend, die Stoffeigenschaften zu bewerten, auch der Aufnahmeweg muss gleichermaßen berücksichtigt werden! Aber nicht nur der Aufnahmeweg und die Verteilung müssen geprüft werden, auch der Metabolismus und die Ausscheidung sind zu bewerten (Abschn. 4.2).

5.2  Gefährdungs- und Risikobeurteilung

353

Toxikologische Standardprüfmethoden (in vivo) Welches sind die in nationalen und vor allem internationalen Richtlinien (Guidelines) beschriebenen Prüfungen, die als regulatorische Toxizitätsprüfungen herangezogen werden können? 1. Akute Toxizität (oral, dermal, inhalativ) 2. Toxizität nach wiederholter Verabreichung (oral, dermal, inhalativ) inkl. Toxikokinetik (Cmax, AUC) 3. Haut- und Augenreizung (siehe Abschn. 4.8 und 4.9) 4. Kontaktallergie (allergisierende Wirkung) (siehe Abschn. 4.13)

Regulatorische, klassische Toxikologieprüfungen (Tiermodelle), sortiert nach Prüf-/Behandlungsdauer • Akute Toxizitätsprüfung – einmalige Verabreichung der gesamten Dosis – Wirkung bei Einmalgabe • Subakute Toxizitätsprüfung – Verabreichung des Stoffes über 28 Tage (vier Wochen) – Toxikologisches Profil – Ermittlung der Wirkschwelle (NOAEL12) • Subchronische Toxizitätsprüfung – Verabreichung des Stoffes über 90 Tage (drei Monate) – Toxikologisches Profil – Ermittlung der Wirkschwelle (NOAEL) • Chronische Toxizitätsprüfung – Verabreichung des Stoffes über sechs bis zwölf Monate – Toxikologisches Profil – Untersuchung möglicher Akkumulationseffekte – Ermittlung der Wirkschwelle (NOAEL) • Kanzerogenstudie – Verabreichung des Stoffes über zwei Jahre – Untersuchung möglicher krebserzeugender Wirkung

Aufbauwissen

Akute Toxizität – OECD-Prüfrichtlinien keine toxikologische Prüfung in der Regulatorischen Toxikologie ohne anerkannte Prüfrichtlinie (EU, OECD, …) und ohne Qualitätssicherung (GLP)

12 NOAEL = no

observed adverse effect level.

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

354

Prüfrichtlinien für Industriechemikalien – OECD-Guidelines (Beispiele akute Toxizität) • 423 acute toxic class-(ATC-)method (adopted 20.12.2001) • 425 up-and-down procedure (UDP) (adopted 20.12.2001) • 420 fixed dose frocedure (FDP) (adopted 20.12.2001) • 401 classical LD50-method (deleted 20.12.2002) Prüfung der akuten Toxizität Klassische LD50-Methode (p.o.) Versuchsdesign gemäß OECD-Prüfrichtlinie 401 (in Medien oft erwähnt, aber außer Kraft seit dem 20. Dezember 2002, Methode in EU verboten) • Dosisfindung mit ein bis drei Tieren (abhängig von erwartetem Toxizitätsprofil) • Drei Dosen 25, 200, 2000 mg/kg KGW (übliche Dosisstufen) • Zehn Tiere pro Dosis (gesamt 31–33 Tiere) • Berechnung Medianwert tödliche Dosis: LD50 = letale Dosis 50 Ersatz für LD50/acute toxic class-(ATC-)method (p.o.), OECD-Guideline 423 Erste Dosis abhängig von erwartetem toxikologischen Profil: 25, 200 und 2000 mg/kg KGW (üblich) Drei Tiere pro Stufe (gesamt sechs bis zwölf Tiere) → Festlegung der „toxicity class“ (Schlede, 1995) Die Übertragbarkeit der Ergebnisse von Tiermodellen auf den Menschen oder von Tierspezies zu Tierspezies muss immer wieder beleuchtet werden, auch um zu ergründen, ob Experimente an Tiermodellen überhaupt berechtigt sind. Als Beispiel der Übertragbarkeit von Tiermodellen auf den Menschen ist für die Studierenden die akute Toxizität des allgemein bekannten Gifts Strychnin interessant: Strychnin – Akute Toxizität – Speziesvergleich/Übertragbarkeit Mittlere letale Dosis von Strychnin Tierart

mittlere letale Dosis mg/kg KGW

Ratte

0,5

Katze

0,5

Hund

0,5

Schwein

0,6

Mensch

0,5

Das heißt, die mittlere letale Dosis von Strychnin ist bei Wirbeltieren bezogen auf das Körpergewicht in guter Näherung von der Tierart unabhängig ca. 0,5 mg/kg.

355

5.2  Gefährdungs- und Risikobeurteilung Tab. 5.2  Vier-Wochenstudie Ratte, Studiendesign (Bausteine) BAUSTEINE Behandlungsperiode

4 Wochen

Spezies

Wistar rat HsdCpb:WU

Gruppen

4

Dosen

Basieren auf Resultaten von D osisfindungsstudie en / Geschlecht / Gruppen

Za

5M + 5W = 10

Satelliten ere / Kontrolle + Hohe Dosis (TK)

3

Tierzahl gesamt

20M + 20W = 40 (+ 12 TK Tiere)

Mortalität, Verhalten, klinische Symptome

täglich

KGW, FV, WV

wöchentlich

Hämatologie, klinisch chemische Analys e, Urinanalyse (Standardparameter)

In Woche 4

Ophthalmologie

Vor Behandlung und nach 4 Wochen

Se

on

Alle Tiere

Organgewichte

Standardorgane

Histopathologie

A

Toxikokine k (TK)

Tag 1 und 28, 1 Stunde, 3 / 6 und 24 Stunden nach Behandlung

en, alle Organe

Toxizitätsprüfung – Wiederholte Verabreichung Für viele Fragestellungen der Regulatorischen Toxikologie ist es notwendig zu erfahren, welche toxischen Wirkungen eine Substanz bei einer wiederholten Exposition entwickelt. Ein vielfach gefordertes Prüfsystem, um diese Frage zu klären, ist die VierWochen-Studie an der Ratte. (Quelle: nach OECD-Guideline 407, Tab. 5.2). Primäre Ziele 1. Charakterisierung des toxikologischen Profils – Zielorgane/-gewebe – Expositions-Wirkungs-Beziehung – Mögliche Reversibilität toxischer Wirkungen 2. Bestimmung des NOAEL (no observed effect level) (Dosis/Exposition, bei der noch kein schädigender Effekt beobachtet wurde) Toxizität bei wiederholter Verabreichung – Dosis-Wirkungs-Kurven Die Dosis, bei der gerade keine biologisch relevante Schädigung mehr festgestellt wird, wird als NOAEL13 bezeichnet (Abb. 5.5).

13 NOAEL = no

observed adverse effect level (Wirkschwelle).

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

356 TOXIZITÄ 100 STOFF 1

75

STOFF 2

50

s = Steigung

s 25

NOAEL = No Observed Adverse Effect Level (Wirkschwelle)

s

0

LOG DOSIS (mg / kg)

NOAEL 1

NOAEL 2

Abb. 5.5  Dosis-Wirkungs-Kurve/NOAEL. (Eigene Darstellung)

Spezielle Toxizitätsprüfungen Außer den klassischen Toxizitätsprüfungen nach einmaliger und wiederholter Verabreichung sind zu einer Gefährdungsbeurteilung auch die sog. speziellen Toxizitätsprüfungen erforderlich. • Prüfung auf fruchtbarkeitschädigende Wirkungen Fertilitätsprüfung • Prüfung auf entwicklungsschädigende Wirkung Embryotoxizitätsprüfung • Prüfung auf krebserzeugende Wirkung Kanzerogenprüfung • Prüfung auf erbgutverändernde Wirkung Mutagenitätsprüfung (Genetische Toxikologie) • Prüfung auf immuntoxikologische Wirkung (Immuntoxprüfung) Diese Prüfungen wurden in den Vorlesungsveranstaltungen der Gefahrstoffkunde I besprochen und dargestellt.

5.2.7 Risikomanagement Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) Risiken am Arbeitsplatz (bzgl. Gesundheitsschädigung) • Akute gesundheitliche Risiken (einmalige Exposition) – Vergiftungen – Verätzungen – Arbeitsunfall, ….

5.2  Gefährdungs- und Risikobeurteilung

357

• Chronische gesundheitliche Risiken (wiederholte Exposition, lang andauernde Einwirkung) – Allergische Reaktionen (Asthma) – Organschäden inkl. Krebs – Berufskrankheiten – … • Brand- und Explosionsgefahren

Risikomanagement – Begriffsabgrenzungen • Risikovermeidung – Unterlassung einer risikobehafteten Aktivität • Risikoverminderung – reduziert Risikopotenzial auf akzeptables Maß • Risikobegrenzung – Festlegung definierter Obergrenzen von Risiken • Risikokommunikation – transparent und nachvollziehbar • Risikoakzeptanz – Risiko unter gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und unter Beachtung eventueller Restrisiken vertretbar • Restrisiko – bleibt nach Anwendung von Schutzmaßnahmen • Grenzrisiken, stoffübergreifend (Akzeptanz- und Toleranzrisiko) • Ampelmodell im AGS erprobt – Grün – akzeptabel – Gelb – tolerabel, aber nicht akzeptabel – Rot – nicht tolerabel Das Risiko einer Gesundheitsschädigung wird durch eine einfache Gleichung abgebildet: Risiko = stoffliche Gefährdung + Expositionswahrscheinlichkeit. Dies bedeutet in der Konsequenz • keine stoffliche Gefährdung = kein Risiko • keine Exposition (Null-Exposition) = kein Risiko – Da es jedoch in der Praxis schwierig ist, beim Umgang mit Gefahrstoffen eine Null-Exposition zu gewährleisten, werden Grenzwerte eingeführt, unterhalb derer ein Risiko als akzeptabel gering angenommen wird.

5.2.8 Der wichtigste Grenzwert am Arbeitsplatz ist der Arbeitsplatzgrenzwert (AGW14) • Eine Exposition unterhalb des AGW bedeutet kein relevantes Risiko. Allerdings ist bei einer Risikobeurteilung immer eine differenzierte Betrachtung notwendig (Abb. 5.6).

14 AGW = Arbeitsplatzgrenzwert.

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

358 RESTRISIKO < AGW

Arbeitsplatzgrenzwert AGW

RISIKO > AGW

mögliche Risikominderung notwendige Risikominderung SICHERHEIT

GEFAHR

Abb. 5.6  Kein Risiko = Sicherheit, aus Sicht des AGW. (Eigene Darstellung)

– Exposition < AGW = Sicherheit (inkl. Restrisiko, evtl. mögliche Risikominderung) – Exposition > AGW =  Gefahr (notwendige Risikominderung bzw. -vermeidung)

Wie ist der Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) zu beschreiben? Definition • Bei Einhaltung dieses Grenzwertes ist eine akute oder chronische Gesundheitsschädigung der Beschäftigten nicht zu erwarten. • Sein Wert ist die durchschnittliche Konzentration eines Stoffes in der Luft am Arbeitsplatz. • Der Wert ist zeitlich gewichtet, es ist also entscheidend, wie lange die Exposition auf diesen Wert beschränkt bleibt. Berechnungsgrundlage • Achtstündige Exposition an fünf Tagen/Woche während ALZ (Arbeitslebenszeit) am 1. Januar 2005 mit Neufassung Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) eingeführt AGW wird vom Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) festgelegt.

Von regulatorischer Toxizitätsprüfung zum Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) Fünf Schritte vom Vorversuch über die Wirkschwelle im Tiermodell (NOAEL) zum Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) (siehe auch Abb. 5.7): 1. Toxizitätsprüfung Dosisfindungsstudie zur Definition der Dosisgruppen, ggf. subakute Studie 2. Toxizitätsprüfung

5.2  Gefährdungs- und Risikobeurteilung TOXPRÜFUNG

»Range Finder« zur Defin on der Dosisgruppen, ggf. subakute Studie

359

TOXPRÜFUNG

TOXPRÜFUNG Pfad-

on subchronische Studie mit Extr mehreren Dosisgruppen oral auf (i. A. ora e) inhala v

Festlegung des Arbeitsplatzgrenzwerts (AGW)

(× 3 – 10)

experimentelle Ableitung der Wirkschwelle (NOAEL) für e

theore sche Ableitung der Wirkschwelle für den Menschen

Abb. 5.7  Von der Toxizitätsprüfung zu Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. (Eigene Darstellung)

Subchronische Studie mit mehreren Dosisgruppen (im Allgemeinen oral an der Ratte) Pfadextrapolation: oral auf inhalativ (× 3–10) 3. Toxizitätsprüfung Experimentelle Ableitung der Wirkschwelle (NOAEL) für Ratte Intraspeziesextrapolation: Ratte auf Menschen (× 5–10) Interspeziesextrapolation: Individuum auf Gesamtheit (× ~ 3) 4. Theoretische Ableitung der Wirkschwelle für den Menschen 5. Festlegung des Arbeitsplatzgrenzwertes (AGW).

5.2.9 Unfallversicherung – Berufskrankheiten Sozialgesetzbuch Regelt, was im deutschen Recht dem Sozialrecht zugerechnet wird (stufenweiser Aufbau seit 1969) Einteilung in derzeit zwölf Bücher (SGB I bis SGB XII) Nicht geregelt ist sog. soziales Recht, ist im Privatrecht (BGB) geregelt, z. B. Wohnraummietrecht, sozialer Schutz von Arbeitnehmern Später sollen eingefügt werden, sog. spezielle Gesetze: Ausbildungsförderung (BAföG), Kindergeld (BKGG), Wohngeld (WoGG), Alterssicherung der Landwirte (ALG), Elterngeld und Elternzeit (BEEG), … Sozialgesetzbuch (SGB) – zwölf Bücher 1. SGB I – Allgemeiner Teil 2. SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende 3. SGB III – Arbeitsförderung 4. SGB IV – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung 5. SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung

360

6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

SGB VI – Gesetzliche Rentenversicherung SGB VII – Gesetzliche Unfallversicherung SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe SGB IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen SGB X – Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz SGB XI – Soziale Pflegeversicherung SGB XII – Sozialhilfe

Sozialgesetzbuch VII (SGB VII) (BMJV, 2020d) Dieses Buch VII ist die Rechtsgrundlage für die gesetzliche Unfallversicherung und die Regelung der Berufskrankheiten (Berufskrankheiten-Verordnung) in der Bundesrepublik Deutschland. Die Aufgabe der Unfallversicherung ist es, mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten und nach Eintritt von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen und sie oder ihre Hinterbliebenen durch Geldleistungen zu entschädigen. • https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_7/BJNR125410996.html

Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) (BMJV, 2020a) In der Anlage 1 sind die anerkannten Berufskrankheiten gelistet. Es sind dies 1. Erkrankungen durch chemische Einwirkungen a. Metalle oder Metalloxide (Pb, Hg, Mn, Cr, …) b. Erstickungsgase (CO, H2S) c. Lösemittel, Schädlingsbekämpfungsmittel und sonstige chemische Stoffe 2. Erkrankungen durch physikalische Einwirkungen a. mechanische Einwirkung (Sehnenscheide, Meniskus, …) b. Druckluft c. Lärm, Strahlen, … d. Infektionserreger, Tropenkrankheiten, … 3. Erkrankungen Atemwege, Lunge, Rippenfell, Bauchfell, Eierstöcke a. anorganische und organische Stäube (Quarz/Silikose, Asbest/Asbestose/ Krebs) b. PAKs (polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe) 4. Hautkrankheiten a. Ruß, Rohparaffin, Teer, … (Hautkrebs)

5.2  Gefährdungs- und Risikobeurteilung

361

Aufbauwissen

Beispiel: Lungenkrebs Die arbeitsbedingte Einwirkung (Exposition) polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe (PAKs) kann unter folgenden Berufskrankheitennummern (BK-Nr.) anerkannt werden: 1. BK-Nr. 4113 „Lungenkrebs durch PAK bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 100 Benzo[a]pyren-Jahren [(μg/ m3) × Jahre]“ 2. BK-Nr. 4114 „Lungenkrebs durch Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und PAK bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis, entspricht Verursachungswahrscheinlichkeit von mindestens 50 %“ 2009–2012 wurde in Deutschland Lungenkrebserkrankungen anerkannt: 34 (PAKs) nach BK-Nr. 4113 und 53 (Asbest und PAKs) nach BK-Nr. 4114. Benzo[a]pyren-Jahre (BaP-Jahre) Benzo[a]pyren-Jahr (BaP-Jahr) ist eine Expositionsangabe, d. h. das Produkt aus Arbeitsplatzkonzentration (Dosis) und Zeit. BaP-Jahr ≙ arbeitstäglich achtstündige Einwirkung über ein Jahr von 1 μg/m3 BaP bei 240 Arbeitstagen (Schichten pro Jahr). Beispiele: 1 BaP-Jahr 10 BaP-Jahre 100 BaP-Jahre

 = 1  μg/m3 BaP · 1 Jahr

 = 10  μg/m3 BaP · 1 Jahr  = 5  μg/m3 BaP · 2 Jahre

 = 10  μg/m3 BaP · 10 Jahre  = 20  μg/m3 BaP· 5 Jahre

Normierungen der Einwirkungszeiten 1 Jahr = 12 Monate  = 240 Arbeitstage (Schichten)  = 1920 Arbeitsstunden 1 Monat = 20 Arbeitstage  = 1/12 Jahre  = 0,0833 Jahre 1 Arbeitstag = 1/240 Jahre  = 0,00417 Jahre 1 Arbeitsstunde = 1/1920 Jahre  = 0,000521 Jahre

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

362

Transferwissen

Arbeitsplatzspezifität Bei der Anerkennung (Bewertung) von Berufskrankheiten spielt die Arbeitsplatzspezifität eine zentrale Rolle. Als leicht verständliches Beispiel aus dem Alltag wird der Straßenbau (Asphalt/Teerverarbeitung) verwendet.

Spritzer Füllen des Spritzgerätes, Haftvermittler spritzen Abweiser Abweisen des Sprühnebels von Randsteinen Einbauer (von Hand) Herstellen von Anschlüssen Fertigerfahrer Führen des Einbaugerätes Schaufelmann  Verteilen des Mischgutes von Hand, Randausgleich Walzenfahrer Führen der Straßenwalze Polier (Bohlenführer) Überwachung, Steuerung am Fertiger

5.3 Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) (GefStoffV, 2021).

5.3.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung Die Verordnung zum Schutz vor Gefahrstoffen (Gefahrstoffverordnung, GefStoffV) ist ein zentrales Regelwerk für den beruflichen Umgang mit gefährlichen Stoffen. Die Studierenden erfahren in dieser Veranstaltung Sinn und Zweck der Verordnung. • Was ist ein Gefahrstoff? • Was ist der Unterschied zwischen Gefahrstoff und Gefahrgut? • Verständnis entwickeln • Chemikaliengesetz (ChemG) und Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) dienen dem Schutz der Menschen, vor allem denen, die berufsmäßig mit chemischen Stoffen umgehen. • Deshalb ist es für Chemiker*innen wichtig, Bescheid zu wissen über – Zielsetzung, Anwendung, Begriffe in ChemG und GefStoffV – Stoffe, Gemische, Erzeugnisse – Gefährlichkeitsmerkmale – Gefährdungsbeurteilung/Risiken – Schutzmaßnahmen – Unterrichtungs- und Unterweisungsverpflichtung

5.3  Gefahrstoffverordnung (GefStoffV)

363

5.3.2 Grundlagen Chemikaliengesetz (ChemG) Gefahrstoff/Gefahrgut Was ist ein Gefahrstoff und was ist ein Gefahrgut? Gefahrstoffe sind solche Stoffe, Gemische und Erzeugnisse, die bestimmte physikalische oder chemische Eigenschaften besitzen, wie z. B. entzündbar, akut toxisch, ätzend, krebserzeugend. Gefahrstoff (rechtliche Definition) (Abb. 5.8 und 5.9) • Chemischer Stoff – Stoff (Element und Verbindung) – Stoffgemisch (Zubereitung) der ein Gefährdungspotenzial aufweist • Stoff mit Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) Gefahrgut • transportierter Gefahrstoff

Transferwissen

Gefahrnummern 1 – Gefahr durch Explosion 2– Gefahr des Entweichens von Gas durch Druck oder chemische Reaktion 3– Entzündbarkeit von Flüssigkeiten (Gase/Dämpfe) oder selbsterhitzungsfähiger flüssiger Stoff 4 – Entzündbarkeit von festen Stoffen oder selbsterhitzungsfähiger fester Stoff 5 – Oxidierende (brandfördernde) Wirkung 6 – Gefahr durch Giftigkeit oder Ansteckung 7 – Gefahr durch Radioaktivität 8 – Gefahr durch Ätzwirkung 9– an 1. Stelle: umweltgefährdender Stoff; verschiedene gefährliche Stoffe 9 – an 2. oder 3. Stelle: Gefahr einer spontanen heftigen Reaktion 0 – Ohne besondere Gefahr (nur als Platzhalter der zweiten Stelle) X – Reagiert auf gefährliche Weise mit Wasser (der Zahl vorangestellt)

364

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Abb. 5.8   Gefahrgutkennzeichnung EU. Oben: Gefahr). Unten: UN-Nummer = Substanz-ID

Gefahrnummer

(Verdoppelung  = erhöhte

Abb. 5.9  GHS/CLP-Gefahrgutkennzeichnung. (Quelle: Public Domain)

5.3  Gefahrstoffverordnung (GefStoffV)

365

ChemG – § 1 Zweck des Gesetzes Schädliche Einwirkungen gefährlicher Stoffe und Gemische • Erkennbar machen • Abwenden • Menschen und Umwelt davor schützen • Ihrem Entstehen vorbeugen

Transferwissen

Mit diesem Punkt soll auf die enge Verflechtung der deutschen und europäischen Gesetzgebung verwiesen werden. Sie wird in der Klausur bzw. Sachkundeprüfung nicht geprüft. Deutsches Chemikaliengesetz (ChemG) („Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen“). „Gesetz dient der Umsetzung folgender EU-Richtlinien“: Richtlinie 67/548/EWG „Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe“, zuletzt durch Richtlinie 2013/21/EU geändert. Richtlinie 98/24/EG „Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch chemische Arbeitsstoffe bei der Arbeit“, zuletzt durch Richtlinie 2009/148/EG geändert. Richtlinie 1999/45/EG „Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Zubereitungen“, zuletzt durch Richtlinie 2013/21/EU geändert. Richtlinie 2004/9/EG „Inspektion und Überprüfung der Guten Laborpraxis (GLP)“, zuletzt durch Verordnung (EG) Nr. 219/2009 geändert. Richtlinie 2004/10/EG „Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Grundsätze der Guten Laborpraxis und zur Kontrolle ihrer Anwendung bei Versuchen mit chemischen Stoffen“, zuletzt durch Verordnung (EG) Nr. 219/2009 geändert.

ChemG – § 3 Begriffsbestimmungen Diese Begriffsbestimmungen sind wichtige Punkte in behördlichen Sachkundeprüfungen. Sie werden deshalb auch in Universitäten regelmäßig geprüft. 1. Stoff chemisches Element und seine Verbindungen in natürlicher Form oder gewonnen durch ein Herstellungsverfahren, einschließlich – Zusatzstoffe (notwendig zur Wahrung der Stabilität) – Verunreinigungen (durch angewandtes Verfahren bedingt)

366

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Ausnahme: Lösungsmittel (sie können ohne Beeinträchtigung der Stabilität und ohne Änderung der Zusammensetzung vom Stoff abgetrennt werden) 2. Gemische Gemische oder Lösungen, die aus zwei oder mehr Stoffen bestehen 3. Erzeugnis 4. Gegenstand, der bei der Herstellung eine spezifische Form, Oberfläche oder Gestalt erhält, die in größerem Maße als die chemische Zusammensetzung seine Funktion bestimmen 5. Einstufung Zuordnung zu einem Gefährlichkeitsmerkmal 6. Hersteller Natürliche oder juristische Person oder nicht rechtsfähige Personenvereinigung, die Stoff, Gemisch oder Erzeugnis herstellt oder gewinnt 7. Einführer Natürliche oder juristische Person oder nicht rechtsfähige Personenvereinigung, die Stoff, Gemisch oder Erzeugnis in Geltungsbereich dieses Gesetzes verbringt; kein Einführer ist, wer lediglich Transitverkehr unter zollamtlicher Überwachung durchführt, soweit keine Be- oder Verarbeitung erfolgt 8. Inverkehrbringen Abgabe an Dritte oder Bereitstellung für Dritte Verbringen in Geltungsbereich dieses Gesetzes gilt als Inverkehrbringen, soweit es sich nicht lediglich um Transitverkehr 9. Verwenden Gebrauchen, Verbrauchen, Lagern, Aufbewahren, Be- und Verarbeiten, Abfüllen, Umfüllen, Mischen, Entfernen, Vernichten und innerbetriebliches Befördern 10. Biozidprodukt Stoff oder jegliches Gemisch […] in der Form, in der er/es zum Verwender gelangt, dazu bestimmt […] Schadorganismen zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich zu machen, ihre Wirkung zu verhindern oder sie in anderer Weise zu bekämpfen (EU Nr. 528/2012) 11. Biozidwirkstoff Stoff, der eine Wirkung gegen Schadorganismen entfaltet (EU Nr. 528/2012)

ChemG – Wichtige Regelungen – Auswahl • • • • • • •

Einstufungs-, Kennzeichnungs- und Verpackungspflichten Verbote und Beschränkungen Maßnahmen zum Schutz von Beschäftigten Informationspflicht der Lieferanten Gute Laborpraxis (GLP) Mitteilungspflichten bei Gemischen Beteiligte Bundesbehörden

5.3  Gefahrstoffverordnung (GefStoffV)

• • • •

367

Aufgaben der Bundesstelle für Chemikalien (Fachbereich der BAuA) Aufgaben der Bewertungsstellen Informationsaustausch zwischen Bundes- und Landesbehörden Auskunftsstelle, Unterrichtung der Öffentlichkeit

Verordnungen des ChemG • Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) • Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV) • Biostoffverordnung (BioStoffV) • FCKW-Halon-Verbotsverordnung • Giftinformationsverordnung (ChemGiftInfoV) • Prüfnachweisverordnung (ChemPrüfV) • Chemikalien Straf- und Bußgeldverordnung (ChemStrOWiV)

5.3.3 Gefahrstoffverordnung – Verordnung zum Schutz vor gefährlichen Stoffen Die Gefahrstoffverordnung ist eine der wichtigsten Verordnungen, die direkt vom deutschen Chemikaliengesetz (ChemG), dem Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen, vorgesehen sind. Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) • Wie für alle Verordnungen so gilt auch für die Gefahrstoffverordnung, dass sie ständig überarbeitet wird. Für die Vorlesung ist deshalb wichtig, auf die zuletzt erfolgte Änderung zu verweisen, in einem gedruckten Buch macht das wenig Sinn. Novelle vom 26. November 2010 – Eine wichtige Änderung ist z. B. am 5. April 2017 in Kraft getreten, um sie an zwei neue EU-Verordnungen anzupassen: CLP- und REACH-Verordnung CLP-Verordnung (classification, labelling and packaging) Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 regelt Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen nach dem global harmonised system (GHS) REACH-Verordnung (registration, evaluation, authorisation and restriction of chemicals) Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 regelt Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe.

368

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Transferwissen

Deutsche Gefahrstoffverordnung dient der Umsetzung folgender EURichtlinien Auch mit diesem Punkt soll auf die enge Verflechtung der deutschen und europäischen Gesetzgebung verwiesen werden. Selbst die deutscheste Verordnung aller Verordnungen zur Sicherheit von Chemikalien ist eine Umsetzung europäischer Regeln. Sie wird in der Klausur nicht geprüft. • Richtlinie 98/24/EG zum Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch chemische Arbeitsstoffe bei der Arbeit, die durch die Richtlinie 2007/30/EG geändert worden ist • Richtlinie 2000/39/EG zur Festlegung einer ersten Liste von ArbeitsplatzRichtgrenzwerten in Durchführung der Richtlinie 98/24/EG zum Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch chemische Arbeitsstoffe bei der Arbeit, die zuletzt durch die Richtlinie 2009/161/EU geändert worden ist • Richtlinie 2006/15/EG zur Festlegung einer zweiten Liste von Arbeitsplatz-Richtgrenzwerten in Durchführung der Richtlinie 98/24/EG und zur Änderung der Richtlinien 91/322/EWG und 2000/39/EG • Richtlinie 2009/161/EU zur Festlegung einer dritten Liste von Arbeitsplatz-Richtgrenzwerten in Durchführung der Richtlinie 98/24/EG und zur Änderung der Richtlinie 2000/39/EG • Richtlinie 2004/37/EG über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Karzinogene oder Mutagene bei der Arbeit • Richtlinie 2009/148/EG über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch Asbest am Arbeitsplatz • Richtlinie 67/548/EWG zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe, die zuletzt durch die Richtlinie 2009/2/EG geändert worden ist • Richtlinie 1999/45/EG zur Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Zubereitungen, die zuletzt durch die Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 geändert worden ist • Richtlinie 98/8/EG über das Inverkehrbringen von Biozidprodukten, die zuletzt durch die Richtlinien 2010/7/EU, 2010/8/EU, 2010/9/EU, 2010/10/EU und 2010/11/EU geändert worden ist • Richtlinie 96/59/EG des Rates vom 16. September 1996 über die Beseitigung polychlorierter Biphenyle und polychlorierter Terphenyle (PCB/PCT), die durch die Verordnung (EG) Nr. 596/2009 geändert worden ist • Richtlinie 1999/92/EG über Mindestvorschriften zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit der Arbeitnehmer, die durch explosionsfähige Atmosphären gefährdet werden können, die durch die Richtlinie 2007/30/EG geändert worden ist

5.3  Gefahrstoffverordnung (GefStoffV)

369

Gefahrenabwehr • Gefahrenabwehr ist ein zentrales Thema für jedes Lebewesen. • Jedes Leben ist ständigen Gefahren ausgesetzt → Leben ist gefährlich. • Biologie und menschliche Gesellschaften → zahllose Gefahrenabwehrstrategien • Trotz ständiger Gefahren → Überleben • Gefahr durch chemische Stoffe • Schäden Mensch → Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Belastbarkeit • Schäden in Umwelt • Nationale und internationale Abwehrkonzepte und Verfahren • Gefahren werden kontrollierbar und auf akzeptiertes Maß reduziert

Regeln zur Gefahrenabwehr bewirken immer eine Einschränkung menschlicher Freiheiten!

• Allgemein Festgelegte Maßnahmen müssen ständig bezüglich ihrer Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit überprüft und ausgestaltet werden. • Gefahrstoffvorlesung Bei der kompetenzorientierten Wissensvermittlung auf dem Gebiet der Gefahrstoffe muss den Studierenden die Sinnhaftigkeit bzw. Verhältnismäßigkeit unterschiedlicher Maßnahmen verständlich erklärt werden.

5.3.4 Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) – Inhaltsübersicht • Abschnitt (§ 1–2): Zielsetzung, Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen • Abschnitt (§ 3–5): Gefährlichkeitsmerkmale, Einstufung, Kennzeichnung, Verpackung, Sicherheitsdatenblatt und sonstige Informationspflichten (Gefahrstoffinformation) • Abschnitt (§ 6–7): Gefährdungsbeurteilung und Grundpflichten • Abschnitt (§ 8–15): Schutzmaßnahmen • Abschnitt (§ 16–17): Verbote und Beschränkungen • Abschnitt (§ 18–20): Vollzugsregelungen und Ausschuss für Gefahrstoffe • Abschnitt (§ 21–24): Ordnungswidrigkeiten und Straftaten Anhang I: Besondere Vorschriften für bestimmte Gefahrstoffe und Tätigkeiten Anhang II:  Besondere Herstell- und Verwendungsbeschränkungen für bestimmte Stoffe, Zubereitungen und Erzeugnisse

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5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Gefahrstoffverordnung (GefStoffV § 1) – Zielsetzung → Gefahrenabwehr Menschen und Umwelt vor stoffbedingten Schädigungen schützen, durch 1. Regelung zur Stoffinformation 2. Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten und anderer Personen bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen 3. Beschränkung des Herstellens und Verwendens bestimmter gefährlicher Stoffe

Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) – Anwendungsbereich Gefahrstoffverordnung umfasst nicht • Lebensmittel oder Futtermittel in Form von Fertigerzeugnissen, die für den Endverbrauch bestimmt sind • Biologische Arbeitsstoffe im Sinne der Biostoffverordnung • Private Haushalte Nicht eingestuft werden auch • • • • •

Kosmetische Mittel Tabakerzeugnisse (Tabakgesetz) Arzneimittel (AMG) Medizinprodukte (Medizinproduktegesetz) Abfälle (Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz)

Gefahrstoffverordnung umfasst • Inverkehrbringen – Gefährliche Stoffe, Gemische und Erzeugnisse (§ 3a ChemG) – Biozidprodukte – Biozidwirkstoffe (siehe auch Biozidverordnung 2012) – Bestimmte Stoffe, Zubereitungen, Erzeugnisse von polychlorierten Biphenylen oder Terphenylen • Vorschriften zum Schutz der Beschäftigten – Bei Tätigkeiten, bei denen sie einer Gefährdung ihrer Gesundheit und Sicherheit durch Stoffe, Gemische oder Erzeugnisse ausgesetzt sein können

Tätigkeiten im Sinne der GefStoffV § 2, Abs. 4 Eine Tätigkeit ist jede Arbeit, bei der • Stoffe, Gemische oder Erzeugnisse im Rahmen eines Prozesses einschließlich Produktion, Handhabung, Lagerung, Beförderung, Entsorgung und Behandlung verwendet werden oder verwendet werden sollen oder • Stoffe oder Gemische entstehen oder auftreten.

5.3  Gefahrstoffverordnung (GefStoffV)

371

§ 3 ChemG – Unter „Verwenden“ wird verstanden • Gebrauchen • Verbrauchen • Lagern • Aufbewahren • Bearbeiten • Verarbeiten • Abfüllen, Umfüllen, innerbetriebliches Befördern • Mischen • Vernichten

Stoffe gemäß ChemG, § 3, Abs. 3 Definition • Chemische Elemente oder chemische Verbindungen, wie sie natürlich vorkommen oder hergestellt werden, einschließlich • Hilfsstoffe (Wahrung der Stabilität) • Verunreinigungen (durch Herstellverfahren bedingt) • Ausnahme: Lösungsmittel, wenn von Stoff abtrennbar ohne – Beeinträchtigung von Stabilität – Änderung seiner Zusammensetzung

Gemische/Erzeugnisse – Definition gemäß ChemG, § 3, Abs. 4 bzw. 5 Gemisch aus zwei oder mehreren Stoffen, bestehende Gemische oder Lösungen Erzeugnisse „Gegenstand (Stoff), der bei der Herstellung eine spezifische Form, Oberfläche oder Gestalt erhält, die in größerem Maße als die chemische Zusammensetzung seine Funktion bestimmt.“ Leitfragen (Erzeugnisse) • Hat das Material noch eine andere Funktion als lediglich weiterverarbeitet zu werden? • Warum wird das Material verkauft bzw. gekauft? Hauptsächlich aufgrund der chemischen Zusammensetzung oder wegen seiner Form, Oberfläche, Gestalt? Erzeugnis Beispiel 1 Flüssigkristalle (liquid crystal, LC) 1. Stoff

LC > 300/Jahr

2. Gemisch

LC-Mischung 10.000/Jahr

3. Erzeugnis

LC-Display (z. B. TV-Bildschirm)

372

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Erzeugnis Beispiel 2 Plastikerzeugnis 1. natürliches Rohmaterial

Rohöl

2. Stoff (Monomer)

Ethylen

3. Gemisch (Polymer)

PE-Pellets

4. Erzeugnis

PE-Folie

5. Erzeugnis

PE-Verpackung









Gefahrstoffverordnung (GefStoffV § 1) Anwendungsbereich Biozide Biozide – Was ist das? • Substanzen und Produkte, die Schädlinge und Lästlinge wie Insekten, Mäuse oder Ratten, aber auch Algen, Pilze oder Bakterien bekämpfen (nichtagrarischer Bereich!) • In vielen Bereichen des privaten oder beruflichen Lebens werden Biozide eingesetzt, z. B. – Klimatechnik – Antibakterielle Putz- und Desinfektionsmittel – Holzschutzmittel – Mückenspray – Ameisengift – …

Gefährlichkeitsmerkmale gemäß ChemG § 3a (Gefahrstoffe) 1. sehr giftig 2. giftig 3. gesundheitsschädlich 4. ätzend 5. reizend 6. sensibilisierend 7. krebserzeugend 8. fortpflanzungsgefährdend 9. erbgutverändernd 10. explosionsgefährlich 11. brandfördernd 12. hochentzündlich 13. leichtentzündlich 14. entzündlich 15. umweltgefährlich • ausgenommen ionisierende Strahlen

5.3  Gefahrstoffverordnung (GefStoffV)

373

5.3.5 Arbeitsschutz Grundsatz im §  4 Arbeitsschutzgesetz: Gefahren immer direkt an Quelle beseitigen oder entschärfen! Wo dies allein nicht zum Ziel führt. → ergänzende organisatorische und personenbezogene Maßnahmen. In der Reihenfolge des STOP-Prinzips!

Übersicht

Grundsatz im Arbeitsschutz: Gefahren immer direkt an Quelle beseitigen oder entschärfen! (Grundsatz gilt auch für die Beseitigung von Mängeln bei jeder Art von Qualitätssicherung!)

Das STOP-Prinzip im Arbeitsschutz • S (Substitution, Ersatz) – Prüfung, ob Gefahrstoffe durch weniger kritische Substanzen ersetzt werden können • T (technische Maßnahmen) – Vermeidung der Gefahr, Trennung von „Gefahr Mensch“ von „Gefahr Technik“, z. B. geschlossene Reaktionssysteme, Abschrankung von Gefahrstellen (inkl. Lichtschranken) • O (organisatorische Maßnahmen) – z. B. Zugangskontrolle, Trennung von Arbeitsbereichen, Sichtprüfungen vor jeder Benutzung, Beschränkung der Arbeitszeit bei Arbeiten mit hoher Belastung/Exposition, Arbeitspausen, … • P (personenbezogene Maßnahmen) – z. B. arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen – Benutzung persönlicher Schutzausrüstungen, Sicherheitsunterweisungen, Sicherheitstraining

Schutzmaßnahmen Grundpflichten des Arbeitgebers (I) Tätigkeit mit Gefahrstoffen erst • nachdem Gefährdungsbeurteilung nach § 6 durchgeführt wurde • wenn erforderliche Schutzmaßnahmen, d.  h. Regeln, Erkenntnisse, Empfehlungen des AGS umgesetzt wurden • nach Substitutionsprüfung: Substitution (Ersatz) gefährlicher Stoffe falls möglich (oft schwierig!)

374

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Ausschluss von Gefährdungen bzw. Reduktion auf Minimum • STOP-Prinzip einhalten – emissionsfrei/emissionsarmer Prozess – Be- und Entlüftung der Räume – Schutzausrüstung (PSA-Tragepflicht, persönliche Schutzausrüstung) Schutzmaßnahmen Grundpflichten des Arbeitgebers (II) • Funktion und Wirksamkeit der technischen Schutzmaßnahmen regelmäßig überprüfen und dokumentieren • sicherstellen, dass Arbeitsplatzgrenzwerte (AGWs) eingehalten werden • Arbeitsplatzmessungen von Gefahrstoffen nur durch Fachkundige und mit erforderlicher Einrichtung • Verfahren, Messregeln und Grenzwerte der maßgeblichen Richtlinien berücksichtigen • Tätigkeiten mit „giftigen“ und „sehr giftigen“-Stoffen nur durch fachkundiges und unterwiesenes/trainiertes Personal

Besondere Schutzmaßnahmen § 10 CMR-Stoffe (Kategorie 1 und 2) • CMR-Stoffe ohne AGW – Arbeitgeber muss ein geeignetes, risikobezogenes Maßnahmenkonzept anwenden, um das Minimierungsgebot nach § 7 Abs. 4 umzusetzen • CMR-Stoffe mit AGW – AGW-Einhaltung durch Arbeitsplatzmessung sicherstellen – spezielles Maßnahmenkonzept nicht erforderlich • Allgemein – Exposition der Beschäftigten durch Arbeitsplatzmessungen oder andere geeignete Ermittlungsmethoden bestimmen (erhöhte Expositionen bei Unfall schnell erkennen) – Gefahrenbereiche abgrenzen, Warn- und Sicherheitszeichen anbringen, einschließlich Verbotszeichen „Zutritt für Unbefugte verboten“ und „Rauchen verboten“ – wenn höhere Werte unvermeidlich • PSA-Tragepflicht, Expositionsverkürzung • keine Luftrückführung erlaubt oder 100 % Filter

Besondere Schutzmaßnahmen § 11 Brand- und Explosionsgefährdungen Besondere Schutzmaßnahmen gegen physikalisch-chemische Einwirkungen, insbesondere gegen Brand- und Explosionsgefährdungen.

5.3  Gefahrstoffverordnung (GefStoffV)

375

Vermeidung von Brand- und Explosionsgefährdungen 1. Gefährliche Mengen oder Konzentrationen von Gefahrstoffen, die zu Brandoder Explosionsgefährdungen führen können, sind zu vermeiden. 2. Zündquellen, die Brände oder Explosionen auslösen können, sind zu vermeiden. 3. Schädliche Auswirkungen von Bränden oder Explosionen auf Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten und anderer Personen sind zu verringern. • spezielle Maßnahmen bei organischen Peroxiden

Expositionsmessung am Arbeitsplatz Grundlage der Gefährdungsbeurteilung und Wirkungskontrolle Ziele • Messung der Konzentration des Gefahrstoffes in der Luft am Arbeitsplatz (TRGS 402) • Charakterisierung und Bewertung der Belastung der Beschäftigten Methoden • Stationäre Konzentrationsmessungen • Personengetragene Expositionsmessungen

Typische Gefährdungen im Labor TRGS 526 „Laboratorien“, Kap. 3 – Auswahl Es ist wichtig, den Studierenden die typischen Gefährdungen im chemischen Labor bewusst zu machen und möglichst dauerhaft in ihrem Gedächtnis zu verankern. Die Abb. 5.10 soll dabei eine Hilfe sein.

augen- und hautgefährdende Stoffe gesundheitsgefährdende Stoffe

heiße und kalte Oberflächen und Medien

brennbare Stoffe

GEFÄHRDUNGEN IM L ABOR

Apparaturen mit Über- oder Unterdruck

mechanische Gefährdungen

Abb. 5.10  Typische Gefährdungen im Labor. (Quelle: Dr. Engel BASF)

exotherme Reakonen

376

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

TRGS 526 – Laboratorien TRGS 526 – Besondere Bedingungen in Forschungslabors • Unbekannte Reaktionsverläufe • Neue Stoffe mit unbekannten Eigenschaften – Hohes Schutzniveau – Bau und besondere technische Ausstattung – (z. B. Arbeitsplätze mit Luftabsaugung) – Hohe Qualifikation des Personals (Fachkunde) – Verwendung geringer Mengen von Gefahrstoffen • Laborübliche Bedingungen

TRGS 526 – Lagerung von Gefahrstoffen – Laborspezifische Regelungen Laborübliche Bedingungen, Verwendung maximaler Mengen entsprechend des Gefahrenpotenzials • • • • • • • •

Flüssigkeiten (allgemein) < 2,5 l Flüssigkeiten (giftig, CMR) < 0,5 l Flüssigkeiten (sehr giftig) < 0,1 l Feststoffe (allgemein) < 1 kg Feststoffe (giftig, CMR) < 0,5 kg Feststoffe (sehr giftig) < 0,1 kg Gase < 50 l, kleinste mögliche Gebindegröße Gase (sehr giftig, CMR) < 10 l

Arbeitsschutz an Schulen und Hochschulen Unterrichtung und Unterweisung § 14 GefStoffV. Für den Bereich der Schulen und Hochschulen wurden spezifisch auf die Bedingungen in diesem Bereich ausgerichtete Regeln und Richtlinien erstellt. Die drei wichtigsten werden in der Vorlesung kurz erwähnt. 1. RiSU – Richtlinie zur Sicherheit im Unterricht – Die Richtlinie zur Sicherheit im Unterricht – Naturwissenschaft, Technik/ Arbeitslehre, Hauswirtschaft, Kunst und Musik (RiSU) wurde 2016 aktualisiert (RiSU, 2016). 2. DGUV-Regel – Unterricht in Schulen mit gefährlichen Stoffen – Die DGUV-Regel 113–018 „Unterricht in Schulen mit gefährlichen Stoffen“ (DGUV, 2010) ist derzeit in Bearbeitung. „Ziel dieser Regel ist es, das bestehende Gefahrstoffregelwerk in der Bundesrepublik Deutschland für die Belange des Unterrichts in allgemeinbildenden Schulen und vergleichbaren Fächern beruflicher Schulen aufzubereiten und zu konkretisieren.“

5.3  Gefahrstoffverordnung (GefStoffV)

377

– Diese Richtlinie ist der fachliche Inhalt, was auf dem Gebiet der Gefahrstoffkunde für Schüler und Schülerinnen als Gefahrstofffachwissen vermittelt werden muss. Diese DGUV-Regel zeigt sehr gut, welche Verantwortung die Lehrer für die Sicherheit der Schülerinnen und Schüler haben und wie dieser entsprochen werden muss. – In dieser Schrift wird immer wieder auf die Verantwortung hingewiesen, die die erfolgreichen Absolventen des Chemiestudiums in Zukunft haben werden, die Verantwortung der Lehrenden an Schulen ist dafür ein gutes Beispiel. 3. GUV-Regel – GUV-SR 2005 – Die GUV-Regel „Umgang mit Gefahrstoffen in Hochschulen“ (DGUV, 1998) wurde für Hochschulen, aber auch für Schulen in Vollzeitform der chemischen, biotechnischen, medizinischen und pharmazeutischen Berufe erlassen.

Transferwissen

Bezüglich des Arbeitsschutzes in Chemiepraktika der Universitäten wird den Studierenden empfohlen, sich zuhause ein sehr gut aufgebautes Video anzusehen – zuhause, weil dieses Video für die Vorlesung deutlich zu lang ist. Video „Alles wird besser“ erstellt von Chemiestudierenden der Universität Kiel (40 min) (Kiel, 2014) Typische Gefährdungen im Labor TRGS 526 „Laboratorien“, Kap. 3 – Auswahl.

Tätigkeiten mit CMR-Stoffen (§ 14[3] GefStoffV) Bei Tätigkeiten mit CMR-Stoffen ist ein Verzeichnis der Beschäftigten zu führen! → 40-jährige Aufbewahrungsfrist, bei Ausscheiden auszuhändigen Arbeitsschutz – Sorgfältiges Arbeiten „Vermutungswirkung“ Sorgfältiges Arbeiten

Bei sorgfältigem Arbeiten ist in der Regel im Labor nicht mit einer Überschreitung der Grenzwerte zu rechnen. Wer die technischen Regeln einhält, ist „automatisch“ sachlich und rechtlich auf der sicheren Seite! Dies ist zu erwarten, wenn 1. entsprechend Stand der Technik gearbeitet wird, insbesondere nach TRGS 526 („Laboratorien“).

378

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

2. fachkundiges Personal eingesetzt wird. fachkundig = Berufsausbildung, Berufserfahrung + geeignete Fortbildungs­ maßnahmen

5.3.6 Unterrichtung und Unterweisung § 14 GefStoffV mündliche Unterweisung (Themen) • alle auftretenden Gefährdungen • entsprechende Schutzmaßnahmen zusätzlich • allgemein arbeitsmedizinisch-toxikologische Beratung

Unterrichtung und Unterweisung § 14 GefStoffV/TRGS 555 GefSoffV, §14: Unterrichtung und Unterweisung der Beschäftigten • § 14 (1) „Der Arbeitgeber stellt sicher, dass den Beschäftigten (bei Tätigkeiten mit Gefahrstoffen) eine schriftliche Betriebsanweisung gemäß Satz 2, die der Gefährdungsbeurteilung Rechnung trägt, in für die Beschäftigten verständlicher Form und Sprache zugänglich gemacht wird. …“ TRGS 555: Betriebsanweisung und Unterweisung • Betriebsanweisungen sind arbeitsplatz- und tätigkeitsbezogene, verbindliche, schriftliche Anordnungen und Verhaltensregeln. • Betriebsanweisungen stellen einen wesentlichen Bestandteil der Dokumentationsverpflichtung der Gefährdungsbeurteilung dar.

Unterrichtung und Unterweisung § 14 GefStoffV – Betriebsanweisung Betriebsanweisung – Verantwortung Wer ist für Erstellung der Betriebsanweisungen verantwortlich? • § 14 Gefahrstoffverordnung Betriebsanweisung erstellt Arbeitgeber • In größeren Betrieben überträgt Arbeitgeber Pflichten auf Mitarbeiter (Beauftragte). • Übertragung erfolgt in der Regel auf Vorgesetzte, im Rahmen der Linienverantwortung

5.3  Gefahrstoffverordnung (GefStoffV)

379

Unterrichtung und Unterweisung § 14 GefStoffV • Wann? vor Aufnahme der Tätigkeit und mindestens einmal jährlich, Inhalt und Zeitpunkt sind durch Unterschrift des Unterwiesenen zu dokumentieren • Was? Inhalt der Betriebsanweisung arbeitsplatz- und gefährdungsbezogen • Wie? in verständlicher Form und Sprache (siehe auch Abb. 5.11)

Unterschri Arbeitgeber (verantw. Linie)

Abb. 5.11  Betriebsanweisung Beispiel Acetylen. (Quelle: DGUV öffentliches Formular)

380

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

5.4 Sicherheitsdatenblatt (SDB) (GefStoffV, 2021), (Stöffler, 2020), (ECHA, 2020)

5.4.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • • • •

Vermittlung der Bedeutung des SDB Aufbau und Inhalt des SDB Erstellung des SDB Verantwortlichkeiten für Erstellung und Weitergabe

5.4.2 Grundlagen Sicherheitsdatenblatt (SDB) Wenn im industriellen Bereich über Informationsermittlung, Gefährdungsbeurteilung und Risikobeurteilung gesprochen wird, steht das Sicherheitsdatenblatt als zuverlässige Informationsquelle stets an erster Stelle (siehe auch Abschn. 5.2.2). Es hat sich im Berufsalltag zur besten Zusammenfassung aller Informationen, die bei der Verwendung eines Gefahrstoffes beachtet werden müssen, entwickelt. Eigentlich ist das SDB nur für Gefahrstoffe vorgeschrieben, da die Informationen aber für jeden Stoff interessant sind, wird es inzwischen in der Regel auch für Stoffe erstellt, die nicht als Gefahrstoffe gelistet sind. Das SDB ist deshalb bezüglich der verwendeten Stoffe in Labor, Produktion, Lager und Entsorgung • eine der wichtigsten Informationsquellen für berufstätige Chemiker*innen • kein einseitiges DIN-A4-Blatt, sondern ein umfangreiches Dokument.

EU-REACH-Verordnung und SDB Die EU hat sich mit der REACH-Chemikalienverordnung zum Ziel gesetzt, innerhalb des EU-Binnenmarktes, also von Sizilien bis zum Nordkap, Regeln zu schaffen, die überall die gleiche Sicherheit zur Folge haben. Oberstes Ziel ist die Vermeidung stoffbedingter Berufskrankheiten und Unfälle. Um dieses Ziel ideal umzusetzen, muss garantiert sein, dass überall in der EU • alle Daten zu Gefahrstoffen in verständlicher und harmonisierter Form vorliegen und • alle Arbeitenden die notwendigen Schutzmaßnahmen einhalten können. Die dafür notwendigen Informationen und Daten sind in den Sicherheitsdatenblättern aufgearbeitet und gut strukturiert dargestellt.

5.4  Sicherheitsdatenblatt (SDB)

381

Zweck des Sicherheitsdatenblattes (SDB; material safety data sheet, MSDS) Lässt sich, in Stichworten, wie folgt zusammenfassen: Übermittlung sicherheitsbezogener Informationen über Stoffe und Gemische (innerhalb Lieferkette) • vermittelt berufsmäßigen Verwendern (Inverkehrbringer, Einführer und Hersteller) beim Umgang mit gefährlichen Stoffen und Gemischen – notwendige Daten und Umgangsempfehlungen für erforderliche Maßnahmen – Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz • Schutz der Umwelt • Private Verbraucher → kein Anspruch auf SDB Sicherheitsdatenblatts (SDB) – Wann? • „gefährlich“ eingestufte Stoffe • „gefährlich“ eingestufte Gemische bzw. Zubereitungen • Gemische/Zubereitungen, die gefährlich eingestufte Stoffe über bestimmte Konzentrationsgrenzen hinaus enthalten • In der Regel wird SDB auch für alle als nichtgefährlich eingestuften chemischen Stoffe, Gemische und Erzeugnisse erstellt, um Verwender über bestimmte Stoffeigenschaften zu informieren! • Außerhalb von Deutschland bzw. der EU – Internationale Leitlinie zur Erstellung des SDB: UN-Programm globally harmonised system of classification and labelling of chemicals (GHS)

Transferwissen

SDB – geschichtlicher Hintergrund • Deutschland – 1983: erste SDB-Version: DIN-Sicherheitsdatenblatt für chemische Stoffe und Zubereitungen nach DIN 52900:1983–02 – GefStoffV  +  TRGS/BekGS 220 „Sicherheitsdatenblatt“, aufgehoben Juli 2015 BekGS 220 bleibt als „Erkenntnisquelle“ weiter verfügbar (Bekanntmachung zu Gefahrstoffen) • EU – 1991 bis 31. Mai 2007: Richtlinie 91/155/EWG – 2006: Anhang II der REACH-Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 – 2010: EU-Verordnung Nr. 453/2010 – 2013: REACH-Verordnung unter Titel IV – Information in der Lieferkette 1. Juni 2013

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5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

• 2015: ECHA-Guidance: Erstellung, Weitergabe und Aufbewahrung von Sicherheitsdatenblättern für alle EU-Mitgliedsstaaten geregelt • 2020 ECHA-Leitlinien zur Erstellung von Sicherheitsdatenblättern. Fassung 4.0 (Dezember 2020) (Link: ECHA-Guidance)

SDB-Sprache/Inhalt Sprache • Sprache einfach, klar und präzise • keine Fachsprache, Abkürzungen oder Akronyme Inhalt • Datum der Erstellung bzw. der Überarbeitung Versionsnummer (S. 1) • 16 vorgeschriebene Abschnitte plus zusätzlich vorgeschriebene Unterabschnitte • alle Seiten fortlaufend nummeriert

5.4.3 SDB-Inhalt (16 Abschnitte) 1. Stoff-, Zubereitungs- und Firmenbezeichnung 2. mögliche Gefahren 3. Zusammensetzung, Angaben zu Bestandteilen 4. Erste-Hilfe-Maßnahmen 5. Maßnahmen zur Brandbekämpfung 6. Maßnahmen bei unbeabsichtigter Freisetzung 7. Handhabung und Lagerung 8. Expositionsbegrenzung und persönliche Schutzausrüstung 9. physikalisch-chemische Eigenschaften 10. Stabilität und Reaktivität 11. Angaben zur Toxikologie 12. Angaben zur Ökologie 13. Hinweise zur Entsorgung 14. Angaben zum Transport 15. Vorschriften 16. sonstige Angaben Hilfe bei der Erstellung von SDB und anderen Dokumenten durch ECHA15 (European Chemicals Agency), umfangreiches Guidance-Dokument – Anleitung

15 https://echa.europa.eu/documents/10162/23036412/sds_en.pdf/01c29e23-2cbe-49c0-aca7-

72f22e101e20.

5.4  Sicherheitsdatenblatt (SDB)

383

SDB-Inhalt (16 Abschnitte) (1–4) ABSCHNITT 1: Bezeichnung des Stoffes bzw. des Gemisches und des Unternehmens 1.1. Produktidentifikator 1.2. Relevante identifizierte Verwendungen des Stoffes oder Gemisches und Verwendungen, von denen abgeraten wird 1.3. Einzelheiten zum Lieferanten, der das Sicherheitsdatenblatt bereitstellt 1.4. Notrufnummer ABSCHNITT 2: Mögliche Gefahren 2.1. Einstufung des Stoffes oder Gemisches 2.2. Kennzeichnungselemente 2.3. Sonstige Gefahren ABSCHNITT 3: Zusammensetzung/Angaben zu Bestandteilen 3.1. Stoffe 3.2. Gemische ABSCHNITT 4: Erste-Hilfe-Maßnahmen 4.1. Beschreibung der Erste-Hilfe-Maßnahmen 4.2. Wichtigste akute und verzögert auftretende Symptome und Wirkungen 4.3. Hinweise auf ärztliche Soforthilfe oder Spezialbehandlung

Transferwissen

SDB-Beispiel – Ethanol 96 % Merck (Merckmillipore), kann während der Vorlesung aufgerufen und in einigen Punkten erläutert werden16. Daraus wird unter anderem deutlich, dass ein SDB ein sehr umfangreiches Dokument ist (EtOH 96 %: 31 Seiten), an dessen Erstellung mehrere Fachdisziplinen aktiv beteiligt sind, auch Chemiker und Chemikerinnen.

5.4.4 Erstellung des Sicherheitsdatenblatts Die Anforderungen wurden auf EU-Ebene definiert: Anhang II der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH-Verordnung), zuletzt geändert durch die Verordnung

16 https://www.merckmillipore.com/DE/de/product/msds/MDA_CHEM-159010?Origin=PDP.

384

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

(EU) Nr. 2020/878. Die Umsetzung dieser Verordnung in der Praxis wird durch die „Leitlinien zur Erstellung von Sicherheitsdatenblättern“ der ECHA erläutert. Die Version 4.0 enthält zudem Hinweise auf Übergangsfristen für die Änderungen, die 2021/2022 erforderlich wurden. In Deutschland hat der Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) in der TRGS 220 die „Nationalen Aspekte beim Erstellen von Sicherheitsdatenblättern“ beschlossen. Die neueste Fassung der TRGS 220 wurde im März 2022 im „Gemeinsamen Ministerialblatt“ und im Internet veröffentlicht.

5.5 Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV) 5.5.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • • •

Aufbau und Inhalt Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV) Verantwortlichkeiten für Erstellung und Weitergabe von chemischen Stoffen Bedeutung für Chemikerinnen und Chemiker (Sachkundenachweis) Inhalt und Forderungen der ChemVerbotsV werden in der amtlichen Sachkundeprüfung sehr gründlich und umfangreich geprüft!

5.5.2 Grundlagen der Chemikalien-Verbotsverordnung Die Chemikalien-Verbotsverordnung hat auch eine amtliche Bezeichnung, die schon sehr klar die Ziele dieser Verordnung darlegt: Verordnung über Verbote und Beschränkungen des Inverkehrbringens und über die Abgabe bestimmter Stoffe, Gemische und Erzeugnisse nach dem Chemikaliengesetz

Gliederung der Chemikalien-Verbotsverordnung • § 1 Anwendungsbereich – Verbote und Beschränkungen des Inverkehrbringens bestimmter gefährlicher Stoffe und Gemische + bestimmte Erzeugnisse, die diese freisetzen können oder enthalten – Anforderungen, die in Bezug auf die Abgabe bestimmter gefährlicher Stoffe und Gemische einzuhalten sind. • § 2 Begriffsbestimmungen – Abgabe = Übergabe oder Versand an Erwerber oder Empfangsperson – gewerbsmäßige Abgabe: wirtschaftliche Unternehmung, Gewinnerzielung • § 3 Verbote und Beschränkungen des Inverkehrbringens – Stoffe Anlage 1, Spalte 1

5.5  Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV)

385

• § 4 Nationale Ausnahmen von Beschränkungsregelungen (nach der Verordnung [EG] Nr. 1907/2006) – betrifft Asbest und asbestähnliche Stoffe • § 5 Anforderungen und Ausnahmen – Kraftstoffe, Experimentierkästen usw. • § 6 Erlaubnispflicht bei Abgabe an Dritte – Erlaubnis erhält auf Antrag, wer die Sachkunde nach § 11, Abs. 1, nachgewiesen hat, die erforderliche Zuverlässigkeit besitzt und mindestens 18 Jahre alt ist. • § 7 Anzeigepflicht bei Abgabe an Dritte – Erstmalige Abgabe oder Bereitstellung der Stoffe oder Gemische vor Aufnahme dieser Tätigkeit ist schriftlich anzuzeigen. • § 8 Grundanforderungen zur Durchführung der Abgabe – sachkundig, zuverlässig und mindestens 18 Jahre alt • § 9 Identitätsfeststellung und Dokumentation – Abgebende Person hat bei Abgabe die Identität des Erwerbers, im Falle der Entgegennahme durch eine Empfangsperson die Identität der Empfangsperson und das Vorhandensein der Auftragsbestätigung, aus der der Verwendungszweck und die Identität des Erwerbers hervorgehen, festzustellen. Stoffe Anlage 2 • § 10 Versand – Selbstbedienungsverbote und Versandhandel, Stoffe Anlage 2 • § 11 Sachkunde – Prüfung der Sachkunde durch zuständige Behörde oder eine dafür anerkannte Einrichtung. • § 12 Ordnungswidrigkeiten • § 13 Straftaten • § 14 Übergangsvorschriften – Anerkennung früherer Prüfungen oder solcher im Ausland • Anlage 1 (zu § 3) Inverkehrbringensverbote Formaldehyd, Dioxine und Furane, biopersistente Fasern und Pentachlorphenol • Anlage 2 (zu §§ 5–11) Anforderungen in Bezug auf die Abgabe (Piktogramme: GHS06 + GHS08 + Signalwort Gefahr; GHS03 + GHS02)

Transferwissen

Deutschland EU-Musterknabe? Manchmal ist es notwendig, deutsche Bürger*innen darauf hinzuweisen, dass die Bundesrepublik Deutschland in der EU nicht der „Musterknabe“ ist, den viele Bürger*innen in Deutschland vermuten:

386

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Chemikalien-Verbotsverordnung – Beispiel für Konflikt Deutschland mit EU-Regelungen Alle Verbote und Beschränkungen bei der Herstellung, Import und Verwendung von Stoffen, Zubereitungen und Erzeugnissen wurden in Anhang XVII der REACH-Verordnung (in Kraft seit 1. Juni 2007) überführt. Deutschland hatte dies lange nicht in seiner ChemVerbotsV umgesetzt. Die Folge war eine jahrelange Rechtsunsicherheit, die ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland nach sich zog! Seit 18. Dezember 2015 lag ein Referentenentwurf vor, am 27. Januar 2017 hatte dann auch Deutschland eine neue ChemVerbotsV – zehn Jahre Verspätung in einem Mitgliedstaat, der anderen EU-Mitgliedstaaten oft vorwirft, sich nicht an die Regeln der Gemeinschaft zu halten!

5.5.3 Verbote – ChemVerbotsV Verboten ist das Inverkehrbringen (§ 3) • von Stoffen und Gemischen, die in Spalte 1 der Anlage 1 bezeichnet sind, sowie • von Stoffen, Gemischen und Erzeugnissen, die diese freisetzen können oder enthalten.

Aufbauwissen

In der ChemVerbotsV stehen die Verbote (§ 3) im Vordergrund. Sie betreffen vor allem das Inverkehrbringen von Stoffen und Gemischen, die in Spalte 1 der Anlage 2 bezeichnet sind, sowie von Stoffen, Gemischen und Erzeugnissen, die diese freisetzen können oder enthalten. In der Vorlesung sollte dieser Anhang über einen Link aufgerufen werden und einige verbotene Stoffe sollten angesprochen werden. Dies sind z. B. Dioxine und Furane, biopersistente Fasern und Pentachlorphenol.

Ausnahmen, d. h. Verbot gilt nicht für • Arzneimittel, • Kosmetika, • Lebensmittel und • Pflanzenschutzmittel, weil für diese Stoffe eigene Gesetze gelten.

5.5  Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV)

387

Die Verbote gelten auch nicht für Stoffe, Zubereitungen oder Erzeugnisse zu • Forschungszwecken, • Wissenschaftlichen Lehr- und Ausbildungszwecken sowie • Analysezwecken in den dafür erforderlichen Mengen. Abgabe der Stoffe und Gemische an Wiederverkäufer, berufsmäßige Verwender oder öffentliche Forschungs-, Untersuchungs- und Lehranstalten, wenn sie die aufgeführten Angaben für mindestens fünf Jahre nachweisen können. • Ordnungsgemäße und schadlose Abfallverwertung in einer dafür zugelassenen Anlage oder gemäß einer gemeinwohlverträglichen Abfallbeseitigung muss gewährleitet sein. Ist (nach Spalte 3 des Anhangs) eine Ausnahme von einer behördlichen Genehmigung abhängig, so entscheidet die zuständige Behörde auf Antrag. Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn ausreichende Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz von Menschen und Umwelt getroffen sind, eine geordnete Entsorgung gewährleistet ist und keine Tatsachen vorliegen, aus denen sich Bedenken gegen die Zuverlässigkeit des Antragstellers ergeben.

Verbote gelten auch nicht für § 5 1. Gase der Gefahrgutklasse 2 (entzündliche, reine Gase, Gasmischungen) 2. Klebstoffe, Härter, Mehrkomponentenkleber oder Mehrkomponentenreparaturspachtel 3. Experimentierkästen für chemische oder ähnliche Versuche, die in Übereinstimmung mit DIN EN 71 hergestellt worden sind (18 Jahre) 4. Pyrotechnische Gegenstände (§ 4 Verordnung zum Sprengstoffgesetz) 5. Mineralien für Sammlerzwecke 6. Methanol oder methanolhaltige Gemische zur Verwendung in Brennstoffzellen 7. Heizöl 8. Kraftstoffe an Tankstellen oder sonstigen Betankungseinrichtungen 9. Sonderkraftstoffe, gemäß Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 mit Gefahrenpiktogramm GHS02 (Flamme) und Gefahrenhinweis H224 (Flüssigkeit und Dampf extrem entzündbar) gekennzeichnet 10. Elektronische Zigaretten und Nachfüllbehälter ChemVerbotsV – § 6 Erlaubnis- und § 7 Anzeigepflicht Betroffen sind im Prinzip Stoffe oder Gemische, die wie folgt gekennzeichnet sind 1. giftig 2. sehr giftig 3. gefährlich für Gesundheit

388

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

4. brandfördernd/oxidierend 5. hochentzündlich 6. CMR-Stoffe § 6 Erlaubnis- und § 7 Anzeigepflicht 1. Erlaubnis der zuständigen Behörde benötigt, wer – gewerbsmäßig oder selbständig im Rahmen einer wirtschaftlichen Unternehmung Stoffe oder Gemische in den Verkehr bringt, die nach der GefStoffV mit dem Piktogramm für giftig und sehr giftig zu kennzeichnen sind 2. Erlaubnis erhält, wer – Sachkunde nach § 11 nachgewiesen hat – erforderliche Zuverlässigkeit besitzt – mindestens 18 Jahre alt ist 3. Unternehmen erhalten für ihre Einrichtungen und Betriebe Erlaubnis, – wenn sie über betriebsangehörige Personen verfügen, die die Anforderungen nach Abs. 2 erfüllen. – Bei Unternehmen mit mehreren Betrieben muss in jeder Betriebsstätte eine Person vorhanden sein. Jeder Wechsel dieser Personen ist unverzüglich anzuzeigen. 4. Die Erlaubnis kann auf einzelne gefährliche Stoffe und Zubereitungen oder auf Gruppen von gefährlichen Stoffen und Gemischen beschränkt werden. Sie kann unter Auflagen erteilt werden. Auflagen können auch nachträglich angeordnet werden. 5. Keiner Erlaubnis bedürfen – Apotheken, – Hersteller, Einführer und Händler, die Stoffe und Gemische nur an Wiederverkäufer, berufsmäßige Verwender oder öffentliche Forschungs-, Untersuchungs- oder Lehranstalten abgeben. 6. Wer keiner Erlaubnis bedarf, hat zuständiger Behörde das erstmalige Inverkehrbringen von Stoffen oder Gemischen vor Aufnahme dieser Tätigkeit schriftlich anzuzeigen. – mindestens eine Person benennen, die die Anforderungen erfüllt – Jeder Wechsel dieser Person ist zuständiger Behörde unverzüglich schriftlich anzuzeigen. 7. Eine nach früheren Rechtsvorschriften erteilte Erlaubnis gilt im erteilten Umfang fort.

ChemVerbotsV – § 9 Identitätsfeststellung und Dokumentation bei Abgabe an Dritte Betroffen sind wieder Stoffe oder Gemische, die wie folgt gekennzeichnet sind 1. giftig 2. sehr giftig

5.5  Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV)

389

3. gefährlich für Gesundheit 4. brandfördernd/oxidierend 5. hochentzündlich 6. CMR-Stoffe Abgabe dieser Stoffe nur, wenn (§ 9) • Abgebender – Identität (Name und Anschrift) des Erwerbers (bzw. Abholender) +  – Verwendungszweck festgestellt hat – Erwerber kennt oder sich hat bestätigen lassen, dass dieser als – Handelsgewerbetreibender im Besitz einer Erlaubnis ist oder das Inverkehrbringen angezeigt hat – Endabnehmer Stoffe und Gemische in erlaubter Weise verwenden will und keine Anhaltspunkte für eine unerlaubte Weiterveräußerung oder Verwendung bestehen – Erwerber (natürliche Person) mindestens 18 Jahre alt ist – Erwerber, sofern er ein entsprechendes Begasungsmittel erwerben will, Erlaubnis oder Befähigungsschein gemäß Gefahrstoffverordnung vorgelegt hat • Abgebender – Erwerber unterrichtet hat über die mit dem Verwenden des Stoffes oder dem Gemisch verbundenen Gefahren notwendigen Vorsichtsmaßnahmen ordnungsgemäße Entsorgung

Abgabebuch – § 9 Identitätsfeststellung und Dokumentation Über die Abgabe dieser Stoffe und Zubereitungen (Anlage 2) ist ein Abgabebuch zu führen. • Angaben über Art und Menge der Stoffe und Zubereitungen • Datum der Abgabe • Verwendungszweck • Name und Anschrift des Erwerbers und Name des Abgebenden • Empfang der betroffenen Stoffe und Zubereitungen ist vom Erwerber oder, wenn er diese nicht selbst in Empfang nimmt, vom Abholenden im Abgabebuch oder auf einem gesonderten Empfangsschein durch Unterschrift zu bestätigen. • Abgabebuch ist vom Betriebsinhaber zusammen mit Empfangsscheinen für mindestens fünf Jahre nach der letzten Eintragung aufzubewahren.

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5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Identitätsfeststellung immer erforderlich bei Abgabe von Stoffen, die zur Herstellung von Sprengstoffen verwendet werden können • Ammoniumnitrat und bestimmte ammoniumnitrathaltige Zubereitungen • Kaliumchlorat • Kaliumnitrat • Kaliumperchlorat • Kaliumpermanganat • Natriumchlorat • Natriumnitrat • Natriumperchlorat • Wasserstoffperoxidlösungen mit einem Massegehalt von mehr als 12 %

Piktogramm (Gefahrensymbol) für explosionsgefährliche Stoffe.

Transferwissen

Ammoniumnitrat Schadensereignisse „Vor knapp 100 Jahren, am 21. September 1921, detonierte das Düngemittelwerk in Oppau bei Ludwigshafen (Abb.  5.12). Rund 400 t der Chemikalie Ammoniumsulfatnitrat flogen damals in die Luft, verwüsteten Ortschaften und töteten hunderte Beschäftigte und Anwohner des Werks. Die Wucht der Explosion war so gewaltig, dass selbst im rund 75 km entfernten Frankfurt noch Häuser beschädigt wurden. Am Ende kostete die gewaltige Explosion, eines der größten Unglücke der deutschen Chemieindustrie, fast 560 Menschen das Leben“. (Kuhn, 2020). In China kamen 2015 bei der Explosion von Ammoniumnitrat in der Hafenstadt Tianjin 165 Menschen ums Leben. In Nordkorea detonierte 2004 ein mit der Substanz beladener Zug, 161 Menschen starben und nun 2020 in Beirut, Libanon. Eine sachliche Darstellung des Ereignisses und dessen Folgen vor Ort zeigen sehr eindrücklich diverse Videos der ARDTagesschau. Wenn in der Vorlesungsveranstaltung genügend Zeit zur Verfügung steht, können Ausschnitte gezeigt und besprochen werden. Alternativ sollte empfohlen werden, sich einige der Fotos zuhause anzusehen, um in der nächsten Vorlesung kurz darüber zu sprechen (Tagesschau, 2020).

5.5  Chemikalien-Verbotsverordnung (ChemVerbotsV)

391

Abb. 5.12  1921 Oppau Explosionstrichter im Vordergrund, Ammoniumnitrat. (Quelle: Gemeinfreie Abbildung (unbekannt, Popular Mechanics Magazine, 1921))

Ammoniumnitrat wird als Düngemittel und Sprengstoff verwendet. In Beiruts Hafen sollen 2750 t der Substanz in Säcken gelagert worden sein, offenbar ohne entsprechende Sicherheitsvorkehrungen. Bei Temperaturen über 300 °C oder einer starken Initialzündung detoniert Ammoniumnitrat. Es ist ein mittelstarker Sprengstoff: Es detoniert ca. viermal stärker als Schwarzpulver. (Schwarzpulver: 75 % Kaliumnitrat, 10 % Schwefel und 15 % Holzkohle).

ChemVerbotsV – § 10 Versand Selbstbedienungsverbot für Stoffe und Gemische in Anlage 2 1. Versandhandel: diese Stoffe und Gemische dürfen nur an Wiederverkäufer, berufsmäßige Verwender oder öffentliche Forschungs-, Untersuchungs- oder Lehranstalten abgegeben werden 2. Einzelhandel: diese Stoffe und Gemische dürfen nicht durch Automaten oder durch andere Formen der Selbstbedienung in Verkehr gebracht werden

5.5.4 § 11 Sachkunde Erforderliche Sachkunde hat nachgewiesen, wer • Eine von zuständiger Behörde oder eine von der zuständigen Behörde hierfür anerkannten Einrichtung durchgeführte Prüfung nach Abs. 2 bestanden oder

392

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

eine anderweitige Qualifikation nach Abs. 3 erworben hat, z. B. Chemiehochschulstudium, bei welchem entsprechende Lehrveranstaltungen mit Prüfung durchgeführt wurden und dies in das Zeugnis der Zwischen- oder Abschlussprüfung eingetragen ist. • Nach sechs Jahren muss Fortbildung nachgewiesen werden (keine erneute Prüfung). • Approbation als Apotheker besitzt. • Berechtigung hat, Berufsbezeichnung Apothekerassistent oder Pharmazieingenieur zu führen. • Erlaubnis zur Ausübung der Tätigkeit als pharmazeutisch-technischer Assistent (PTA) oder Apothekenassistent besitzt. • Abschlussprüfung Drogist(in) bestanden hat. • Prüfung zum anerkannten Abschluss Geprüfter Schädlingsbekämpfer(in) bestanden hat. • nach früheren Vorschriften Prüfung bestanden hat. • Prüfung der Sachkunde erstreckt sich auf – allgemeine Kenntnisse über wesentliche Eigenschaften der Stoffe und Gemische – mit ihrer Verwendung verbundenen Gefahren – Kenntnis der einschlägigen Vorschriften • Sachkundenachweis gilt als erbracht – für Personen aus Mitgliedstaaten der EU oder anderen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum. – wenn sie der zuständigen Behörde nachgewiesen haben, dass sie die Voraussetzungen auf dem Gebiet der Tätigkeiten des Handels mit und der Verteilung von Giftstoffen und der Tätigkeiten, die die berufliche Verwendung dieser Stoffe umfassen, einschließlich der Vermittlertätigkeiten erfüllen.

§ 11 Sachkunde – Prüfung • Sachkundeprüfungen (DA, 2020) zuständige Behörde, z. B. Regierungspräsidien • Gemeinsamer Fragenkatalog der Länder (BLAC, 2023)

ChemVerbotsV – Pflichten der Inverkehrbringenden • behördliche Erlaubnispflichten • Anzeigepflichten • Identitätsfeststellung • Dokumentationspflichten • Sachkundenachweise

ChemVerbotsV – § 12 Ordnungswidrigkeiten 1. Ordnungswidrig im Sinne des Chemikaliengesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 7 eine Anzeige nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig erstattet.

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

393

2. Ordnungswidrig im Sinne des Chemikaliengesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig – einen von der gesetzlichen Regelung betroffenen Stoff oder Gemisch abgibt. – einen solchen Stoff oder Gemisch im Einzelhandel durch Automaten oder durch andere Formen der Selbstbedienung in Verkehr bringt oder im Versandhandel abgibt. 3. Ordnungswidrig im Sinne des Chemikaliengesetzes handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig das Abgabebuch nicht, nicht richtig oder nicht vollständig führt oder das Abgabebuch oder einen Empfangsschein nicht oder nicht mindestens fünf Jahre aufbewahrt.

ChemVerbotsV – § 13 Straftaten • Nach Chemikaliengesetz wird bestraft, wer vorsätzlich oder fahrlässig entgegen § 3 in Verbindung mit dem Anhang die dort aufgeführten Stoffe, Gemische oder Erzeugnisse in den Verkehr bringt. • Nach Chemikaliengesetz ist strafbar, wer durch eine entsprechende vorsätzliche Handlung das Leben oder die Gesundheit eines anderen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet. • Nach Chemikaliengesetz ist strafbar, wer eine entsprechende vorsätzliche Handlung begeht, obwohl er weiß, dass der Stoff oder die Zubereitung für eine rechtswidrige Tat verwendet werden soll. • Erkennt der Täter leichtfertig nicht, dass der Stoff oder die Zubereitung für eine rechtswidrige Tat verwendet werden soll, ist er trotzdem strafbar. Alle diese Punkte sind vor allem deshalb wichtig, in der Gefahrstoffkundevorlesung zu besprechen, weil bei der behördlichen Sachkundeprüfung großer Wert auf diese Punkte gelegt wird.

5.6 Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS 5.6.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • Warum Einstufung und Kennzeichnung? • Verantwortlichkeiten für Einstufung und Kennzeichnung • GHS- und CLP-Systeme plausibel erklären (inkl. Historie)

394

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

5.6.2 Grundlagen Einstufung/Kennzeichnung (Gundert-Remy & Kramer, 2019, S. 1182). Um amtliche Regeln zur Gefahrenabwehr einhalten zu können, auch ohne eine Gefahrstoffkundeausbildung absolviert zu haben, müssen die Regeln und deren Umsetzungen leicht verständlich sein. Deshalb ist eine einfache Kennzeichnung der geeignete Schlüssel, die Komplexität der Bewältigung dieser Aufgabe beträchtlich zu erleichtern. Problem • Niemand verfügt über ausreichend Kompetenz, um in allen Lebens- und Arbeitsbereichen eine Situation zu überschauen. • Viele Zusammenhänge sind nicht nur sehr komplex, sie erfordern auch viel Sachwissen. • Trotzdem müssen Menschen oft schnell und zuverlässig erfassen/wissen, woran sie sind. • nur erreichbar durch drastische Reduktion des Komplexitätsgrades Es geht darum, Gefahrstoffe und die Art und das Ausmaß ihrer Gefährdung zu erkennen, auch ohne Chemiestudium! Lösung Die einfachste Art dies zu erreichen sind: • Kennzeichnung • Einstufung Als Beispiele aus dem Alltag werden in der Vorlesung die Verkehrszeichen oder die energetische Kennzeichnung und Einstufung von elektrischen Haushaltgeräten genannt.

Grundsätze • Vor der Markteinführung muss jeder chemische Stoff gemäß seiner Gefährdungsmöglichkeit eingestuft werden. • Falls tatsächlich eine Gefährdung möglich ist, muss dieser Stoff nach strengen Regeln gekennzeichnet werden, mit folgenden Informationen • Identität des Gefahrstoffes • Art der Gefährdungsmöglichkeit • sichere Gebrauchsvorschriften • sichere Verpackung, sichere Verwendung und sicherer Transport

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

395

Transferwissen

Alte EWG/EU-Regelung Einstufung/Kennzeichnung Viele Jahre, bis zum 1. Juni 2015, waren Anforderungen in EWG/EU durch zwei EWG- bzw. EU-Richtlinien geregelt: 1. The Dangerous Substances Directive 67/548/EEC (DSD) 2. The Dangerous Preparations Directive 1999/45/EC (DPD) • DSD/DPD-System Beide Richtlinien (directives) waren in allen Mitgliedsstaaten durch Übernahme in nationale Gesetze implementiert. Die alten Gefahrensymbole (Piktogramme) waren in der gesamten EU akzeptiert und in Gebrauch. In der Vorlesung sollten sie kurz gezeigt werden, da es u. U. immer noch Gebinde gibt, auf denen sie vorkommen. Eine gute auch optische Übersicht geben die Sicherheitsbeauftragten der Universität Frankfurt (Salzner & Fischer, 2022).

5.6.3 Neue EU-Regelung – CLP-System Warum neue EU-Regelung? Alte Regelung hat gut funktioniert! • stark zunehmender weltweiter Handel und Transporte • weltweit harmonisierte Regelungen sind dringend notwendig EU-Ziele • weiterhin maßgebliche Rolle im weltweiten Handel • EU-Regeln möglichst weltweit implementieren • Zusammenarbeit mit United Nations Economic Commission for Europe (UNECE17) UNECE hat in Zusammenarbeit mit EU ein weltweites Einstufungs- und Kennzeichnungssystem erarbeitet → GHS  = globally harmonised system of classification and labelling of chemicals.

GHS – Weltweite Ziele • Arbeits- und Konsumentenschutz, Anwender werden über Gefahren durch Chemikalien informiert • Handel/Transporte erleichtern

17 UNECE = United

Nations Economic Commission for Europe.

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

396

Abb. 5.13   UN-GHS  +  EU-CLP. (Quelle: Logos in Public Domain (UN, 2008) (EUCommission, 2022a))

• gemeinsame Basis für Bewertung und Einstufung • Kommunikation der Gefährdung durch einheitliche Kennzeichnung und Sicherheitsdatenblätter (SDBs)

CLP – EU-weite Ziele • EU übernimmt von UN das GHS-System und macht daraus ihr eigenes CLPSystem (Abb. 5.13) • GHS  = globally harmonised system of classification and labelling of chemicals • CLP  =  classification, labelling and packaging of substances and mixtures

Wichtige Gründe für GHS/CLP • Behebung von Handelshemmnissen • unterschiedliche Einstufungen und Kennzeichnungen (Abb. 5.14) • Selbst bei identischen Prüfergebnissen waren die Konsequenzen sehr unterschiedlich.

GHS/CLP-System • GHS-System der Vereinten Nationen • gefährliche Chemikalien ermitteln

TOXOLOGISCHER MESSWERT: LD50 (oral, Ra e) = 257 mg / kg Einstufung DEUTSCHL AND / EUROPA: Gesundheitsschädlich CHINA: nicht gefährlich

KANADA / USA / JAPAN: gi ig

INDIEN: nicht gi ig

Abb. 5.14  Unterschiedliche Bewertung eines Stoffes vor GHS und CLP. (Eigene Darstellung)

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

397

• Anwender über jeweilige Gefahren informieren • Auf UN-Ebene entwickeltes GHS ist nicht unmittelbar rechtswirksam, wie alle Beschlüsse und Regelungen der UN • GHS muss erst durch Implementierung in nationale Gesetzgebung der einzelnen Staaten oder Staatengemeinschaften rechtsverbindlich umgesetzt werden. • Zahlreiche Staaten weltweit haben GHS bereits implementiert, allerdings wird es immer Verweigerer geben. • In der Europäischen Union sowie in mit der EU verbundenen Staaten wie der Schweiz und Norwegen geschieht die Übernahme durch die EU-CLPVerordnung 1272/2008.

EU-Verordnung – CLP – seit 1. Juni 2015 allein gültig CLP-Regulation (Regulation [EC] Nr. 1272/2008) classification, labelling and packaging of substances and mixtures, Das heißt, CLP ist eine direkt wirksame EU-Verordnung (regulation), sie ersetzt die DSD/DPD-Richtlinie (directive). → EU-Verordnung, deshalb direkter Durchgriff – keine Umsetzung in nationales Recht. CLP-Verordnung – (EG) Nr. 1272/2008 Kernpunkte • Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen • schafft Übereinstimmung von EU-Rechtsvorschriften mit GHS (globally harmonised system) der UN • GHS – Vereinte Nationen: System zur Ermittlung gefährlicher Chemikalien und zur Unterrichtung der Nutzer über Gefahrenpotenzial – von vielen Ländern der Welt übernommen – Grundlage für internationale und nationale Regelungen für Gefahrguttransporte → deshalb Harmonisierung!

CLP-Kennzeichnung – Welche Stoffe? • Lieferanten sind verpflichtet • Stoffe oder Gemische • vor dem Inverkehrbringen entsprechend der CLP-Verordnung zu kennzeichnen, wenn • Stoff als gefährlich eingestuft (Gefahrstoff) • Gemisch enthält einen oder mehrere Stoffe, die ab einem bestimmten Schwellenwert als gefährlich eingestuft sind.

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

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1. DEZ 2010

SUBSTANZEN

MISCHUNGEN

1. DEZ 2012

1. JUN 2015

Alle Substanzen eingestu und gekennzeichnet nach CLP. Beides CLP- und DSD-Einstufung im SDB. 2 Jahresfrist für Lagerprodukte, bereits im Markt.

Können eingest sein – entweder nach DPD oder CLP. Wenn nach CLP gekennzeichnet, müssen sowohl DPD- als auch CLP-Einstufungen im SDB erscheinen.

1. JUN 2017

Alle Substanzen eingestu und gekennzeichnet nach CLP. Nur CLP-Einstufung im SDB. Alle Mischungen eingestu und gekennzeichnet nach CLP. Nur CLPEinstufung darf im SDB erscheinen. 2 Jahresfrist für Lagerprodukte, bereits im Markt.

Abb. 5.15  Systemänderung – Zeitplan. (Eigene Darstellung)

Transferwissen

EU-Zeitfaktor – Langsamkeit? Bei wichtigen Systemänderungen lässt die EU ihren Mitgliedern immer viel Zeit und außerdem ist die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten erforderlich (Abb. 5.15).

CLP-Piktogramme in der EU Neun neue bzw. überarbeitete Piktogramme wurden für das GHS/CLP System erarbeitet (Tab. 5.3). Zusätzlich zu den neun Gefahrenpiktogrammen beinhaltet das CLP-System: • Signalwort (Gefahr oder Achtung) • 71 H-Sätze (hazard statements, Gefahrenhinweise) • 135 P-Sätze (precautionary statements, Sicherheitshinweise)

Tab. 5.3  Piktogramme (CLP/GHS)

GHS01

GHS02

exploFlamme dierende Bombe

GHS03

GHS04

GHS05

GHS06

Flamme über einem Kreis

Gasflasche

Ätzwirkung

Totenkopf Ausrufemit gezeichen kreuzten Knochen

Quelle: Alle Piktogramme gemeinfrei aus Public Domain (Link)

GHS07

GHS08

GHS09

Gesundheitsgefahr

Umwelt

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

399

CLP-Einstufung (EU) • Gefahrenklasse (Gefahrentyp) – z. B. entflammbar, toxisch • Gefahrenkategorie (Gefährdungsgrad) – z. B. sehr toxisch, toxisch, gesundheitsschädlich • Unter CLP sind Gefahrenklassen zumeist dieselben wie im vorherigen DSD/ DPD-System, aber – mehr Gefahrenklassen – mehr Gefahrenkategorien – unterschiedliche Einstufungsmethoden für einige Gefahrentypen kommen in Anwendung – veränderte Einstufung einiger Stoffe – erstmalige Einstufung einiger Stoffe

28 CLP-Gefahrenklassen physikalische Gefahren 2.1 Explosive Stoffe/Gemische und Erzeugnisse mit Explosivstoff 2.2 Entzündbare Gase und chemische instabile Gase 2.3 … Gefahren für menschliche Gesundheit. 3.1 Akute Toxizität 3.2 Ätz-/Reizwirkung auf die Haut 3.3 … Gefahren für Umwelt 4.1 Gewässergefährdend 5.1 Schädigt die Ozonschicht

Gefahrenkategorien Gefahrenklassen werden in Gefahrenkategorien untergliedert. CLP-System – Gefahrenklasse akute Toxizität (oral) Neue GHS/CLP-Einstufungskriterien gegenüber EU (alt), d.  h. EU Verordnung 1272/2008 gegenüber Stoffrichtlinie 67/548/EWG.

400

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

CLP-Signalworte Gefahr • schwerwiegende • Gefahrenkategorien (Gefährdungsgrad) Achtung • weniger schwerwiegende • Gefahrenkategorien (Gefährdungsgrad) EU-CLP-System – Gefahrenklasse akute Toxizität (oral) vier Kategorien (UN: fünf Kategorien) • Kategorie 1: Lebensgefahr ATE ≤ 5 mg/kg • Kategorie 2: Lebensgefahr ATE 5 mg/kg ≤ 50 mg/kg • Kategorie 3: giftig ATE 50 mg/kg ≤ 300 mg/kg • Kategorie 4: gesundheitsschädlich ATE 300 mg/kg ≤ 2000 mg/kg • GHS-Kategorie 5: von EU nicht umgesetzt ATE 2000 mg/kg ≤ 5000 mg/kg

GHS07 Signalwort: Achtung

GHS08 Signalwort: Gefahr

Akut toxische Stoffe – Beispiele (oral, verschlucken)

GHS08 Signalwort: Gefahr

Kategorie 1 Botulinustoxin (Fleischvergiftung, Konserven) Aflatoxin (Schimmelpilz) Strychnin

GHS08 Signalwort: Gefahr

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

401

Kategorie 2 + 3 Natriumcyanid (Bittermandel) Natriumfluorid Formaldehyd Acetonitril

GHS07 Signalwort: Achtung

Kategorie 4 Acetylsalicylsäure Benzaldehyd Kategorie 5 Kochsalz (von EU nicht umgesetzt) Ethanol CLP-Gefahrenklasse – Ätz-/Reizwirkung auf die Haut (1)

GHS05 Signalwort: Achtung oder Gefahr

• • • • • •

Kategorie 1A: hautätzend Ätzwirkung auf die Haut innerhalb von 3 min Kategorie 1B: hautätzend Ätzwirkung auf die Haut nach 3 min bis 1 h Kategorie 1C: hautätzend Ätzwirkung auf die Haut nach 1–4 h H314 Verursacht schwere Verätzungen der Haut und schwere Augenschäden Kategorie 2: hautreizend

Bei pH-Wert von < 2 oder > 11,5, inkl. saurer/alkalischer Reserve (Pufferkapazität) → ätzende Wirkung (corrosive) bekanntes Beispiel auch für Heimwerker*innen: Abbeizer Saure/alkalische Reserve (Pufferkapazität) • physiologische Wirkung von sauren oder alkalischen Lösungen wird nicht allein durch pH-Wert bestimmt • auch durch saure/alkalische Reserve (Pufferkapazität18)*

18 Pufferkapazität:

Bestimmung durch Titration.

402

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

• je höher saure bzw. alkalische Reserve (Pufferkapazität) eines sauren oder alkalischen Gemisches, desto potenter seine Ätzwirkung • niedrigere Werte an saurer/alkalischer Reserve (d. h. niedrige Pufferkapazität) • Annahme: keine ätzenden Eigenschaften (guidance on application of CLP criteria) Hautreizung – Einmaliger bzw. mehrmaliger Kontakt Reizung von Haut und Schleimhäuten Kategorie 2: hautreizend reversible Hautschädigung (Entzündung) innerhalb von 4 h H315 Verursacht Hautreizungen.

GHS07 Signalwort: Achtung

Ätzende und reizende Stoffe – Einstufung und Kennzeichnung entsprechend Konzentration Beispiel Salpetersäure Ein und derselbe Stoff kann abhängig von seiner Konzentration sehr unterschiedlich eingestuft, gekennzeichnet und mit H-Sätzen beschrieben sein. Als ein typisches Beispiel werden an dieser Stelle drei Konzentrationen einer wässrigen Lösung von Salpetersäure tabellarisch dargestellt (Tab. 5.5).

CLP-Gefahrenklasse – Schwere Augenschädigung/Augenreizung zwei Kategorien (UN: drei Kategorien)

Tab. 5.4  Akute Toxizität, alt gegen neu

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS Tab. 5.5  Beispiel Salpetersäure

• Kategorie 1: verursacht schwere Augenschäden – Erfahrungen am Menschen – Beobachtungen beim Tier – in vitro-Daten – Analogie zu strukturell ähnlichen Verbindungen – pH ≤ 2 oder pH ≥ 11,5, inkl. saurer/alkalischer Reserve (Pufferkapazität) – irreversible Augenschädigung bei einem oder mehreren Testtieren • Kategorie 2: verursacht schwere Augenreizung (UN: Kategorie 2A) – Erfahrungen beim Menschen – Beobachtungen beim Tier – in vitro-Daten – Analogie zu strukturell ähnlichen Verbindungen – Augenreizungsdaten aus Tierstudie

Sensibilisierung – Allergie individuelle Fehlreaktion des Immunsystems auf Fremdstoffe 1. Phase: Sensibilisierungsphase (8–15 Tage) (Induktionsphase, afferente Phase, Initiierungsphase) – Bildung von Antikörpern 2. Phase: Auslösephase (efferente Phase) (24–72 h) bei erneuter Exposition ggf. Ausbildung der Allergie – Mediatorfreisetzung (Histamin, Prostaglandine, Leukotriene u. a.) → Entzündungsreaktion

403

404

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

CLP-Gefahrenklasse – Sensibilisierung Atemwege/Haut – Allergie • Atemwegsallergene • Stoffe mit Erfahrungen am Menschen Sensibilisierungen des Atemtraktes • Beispiele: Mehl, Enzyme, Kobalt, Maleinsäureanhydrid, Phthalsäureanhydrid, Toluyldiisocyanat (TDI), Holzstaub • Hautallergene (Kontaktallergene) • Stoffe, im Tierversuch oder mit Erfahrung am Menschen hautsensibilisierend • Beispiele: Nickel, Chrom, Kobalt, Epoxidharze, Isocyanate (Isolierschäume), Acrylate/ Methacrylate, Formaldehyd (Kosmetika, Kunststoffe), Farben/Pigmente, Glutaraldehyd (Desinfektionsmittel) Atemwegsallergien H334 Kann beim Einatmen Allergie, asthmaartige Symptome oder Atembeschwerden verursachen.

GHS08 Signalwort: Gefahr

Typische Symptome Nasenjucken, Niesreiz, (allergischer) Schnupfen. (allergisches) Asthma. Hautallergien Sensibilisierung durch Hautkontakt möglich. H317 Kann allergische Hautreaktionen verursachen

GHS07 Signalwort: Achtung

Transferwissen

Kontaktallergen Nr. 1: Nickel Berühmte Beispiele, die sich gut für eine Demonstration in der Vorlesung eignen, sind: 1. nickelhaltiger Modeschmuck – Abbildung: Schillings, 2020 2. Jeanshosenknöpfe – Abbildung: imago, 2002

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

405

Piercing – Nickel Eine völlig unnötige Gefährdung der Augen stellt eine Modeerscheinung dar, das Piercing. Das Piercing am Augenlid mit Metallstickern führt leider immer wieder zu allergischen Reaktionen (Nickel) und zu Metallablagerungen im Auge. Diese spezifische Zielorgantoxizität ist selten und spielt in der Arbeitswelt der Chemiker und Chemikerinnen keine Rolle. Um mögliche Augenschäden zu vermeiden, benutzen Chemiker und Chemikerinnen grundsätzlich Schutzbrillen und sind außerdem trainiert, was zu tun ist, wenn doch etwas ins Auge gelangt sein sollte.

CLP-Einstufung von CMR-Stoffen

GHS08 Signalwort: Gefahr

Kategorie 1 A Stoffe, die aufgrund epidemiologischer Erkenntnisse diese Eigenschaft beim Menschen bereits gezeigt haben.

GHS08 Signalwort: Gefahr

Kategorie 1B Stoffe, die im Tierversuch diese Eigenschaft besitzen.

GHS08 Signalwort: Achtung

Kategorie 2 Stoffe, die im Verdacht stehen, diese Eigenschaft zu besitzen oder Stoffe, die erst bei sehr hohen Dosen diese Eigenschaft zeigen.

MAK-Einstufung von CMR-Stoffen • Kategorie 1: analog EU-Einstufung 1A • Kategorie 2: analog EU-Einstufung 1B • Kategorie 3: analog EU-Einstufung 2

406

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

• Kategorie 4: nichtgenotoxische Kanzerogene mit geringer Wirkungsstärke und vernachlässigbarem Krebsrisiko beim MAK-Wert • Beispiele: Dioxan (MAK-Wert 73 mg/m3), Formaldehyd (MAK-Wert 0,37 mg/ m3), Schwefelsäure (MAK-Wert 0,1 mg/m3) • Kategorie 5: genotoxische Kanzerogene mit geringer Wirkungsstärke mit vernachlässigbarem Krebsrisiko beim MAK-Wert • Beispiele: Ethanol (MAK-Wert 960 mg/m3) Styrol (MAK-Wert 86 mg/m3)

CLP-Gefahrenklasse – Krebserzeugende Stoffe

GHS08 Signalwort: Gefahr

Kategorien 1A und 1B H350 Kann Krebs erzeugen H350i Kann beim Einatmen Krebs erzeugen

GHS08 Signalwort: Achtung

Kategorie 2 H351 Kann vermutlich Krebs erzeugen Krebserzeugende Stoffe (1/2) – Beispiele Kategorie 1 (CLP) Kategorie 1A + 1B

GHS08 Signalwort: Gefahr

H-Satz: H350 Kann Krebs erzeugen • Asbest (Fasern) • Benzol • Butadien • Bis(chlormethyl)ether • Eichen- und Buchenholzstaub • 2-Naphthylamin

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

• Nickeloxid • Vinylchlorid Krebserzeugende Stoffe (2/2) – Beispiele Kategorie 2 Beispiele Kategorie 2

GHS08 Signalwort: Achtung

H-Satz: H351 Kann vermutlich Krebs erzeugen • Acrylnitril • Acrylamid • Benzo(a)pyren • Dimethylsulfat • Epichlorhydrin • Ethylenoxid • Hydrazin • N-Nitroso-Verbindungen • Toluidin • Styroloxid

CLP-Gefahrenklasse – Erbgutverändernde Stoffe

GHS08 Signalwort: Gefahr

Kategorie 1A und 1B Kategorie 1A: Stoffe, die beim Menschen erbgutverändernd wirken Kategorie 1B: Stoffe, die im Tierversuch erbgutverändernd wirken H340 Kann genetische Defekte verursachen

GHS08 Signalwort: Achtung

407

408

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Kategorie 2 Stoffe, die im Verdacht stehen, erbgutverändernde Wirkung zu haben (Grundlage zur Einstufung in Kategorie 2 bildet typischerweise ein positiver Ames-Test) H341 Kann vermutlich genetische Defekte verursachen Erbgutverändernder Stoffe – Beispiele Kategorie 1A bisher kein Stoff bekannt. Kategorie 1B Acrylamid Benzol Diethylsulfat Ethylenoxid Kategorie 2 Glyoxal 1,4-Hydrochinon m-Phenylendiamin

Einstufung fortpflanzungsgefährdender Stoffe Kategorie 1A und 1B

GHS08 Signalwort: Gefahr

H360 Kann die Fruchtbarkeit beeinträchtigen oder das Kind im Mutterleib schädigen H360F Kann die Fruchtbarkeit beeinträchtigen H360D Kann das Kind im Mutterleib schädigen

GHS08 Signalwort: Achtung

Kategorie 2 H361 Kann vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen oder das Kind im Mutterleib schädigen H361f Kann vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen H361d Kann vermutlich das Kind im Mutterleib schädigen

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

409

Fortpflanzungsgefährdende Stoffe – Beispiele Kategorie 1A • Kohlenmonoxid • Bleiverbindungen • Thalidomid Kategorie 1B

GHS08 Signalwort: Gefahr

• N,N-Dimethylformamid • Nickeltetracarbonyl • 2-Methoxyethanol • Ethylenthioharnstoff • Biphenyle • Cadmiumsalze, polychlorierte

Schwangerschaftsgruppen der MAK-Kommission • Schwangerschaftsgruppe A Ein Risiko der Fruchtschädigung ist beim Menschen sicher nachgewiesen und kann auch bei Einhaltung des MAK-Wertes nicht ausgeschlossen werden (Abb. 5.16). • Schwangerschaftsgruppe B Ein Risiko der Fruchtschädigung kann bei Einhaltung des MAK-Wertes nicht ausgeschlossen werden. • Schwangerschaftsgruppe C • Ein Risiko der Fruchtschädigung ist bei Einhaltung des MAK-Wertes nicht zu befürchten (in TRGS 900 „Arbeitsplatzgrenzwerte“: Bemerkung „Y“)

Brand- und Explosionsgefahr Neben den Gefahrenklassen, die einen toxikologischen Hintergrund haben, gibt es auch solche, die einen chemischen bzw. physikalisch-chemischen Hintergrund haben. Besonders plausibel wird dies bei der Brand- und Explosionsgefahr. Um die Brand- und Explosionsgefahr zu verdeutlichen ist das sog. Branddreieck ein didaktisch vielfach erprobtes und bewährtes Konzept (Abb. 5.17).

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

410 BLASTOGENESE

1

2

EMBRYOGENESE

3

4

5

6

FETALPERIODE in Wochen

7

8

9

16

20 36

38

Zentralnervensystem s Herzz A Arme Augen e Beine Zähne h Gaumen Äußere ß Genitale a O Ohren Pränataler Tod

Grobe morphologische Defekte

Geis ger und körperlicher Entwicklungsrückstand / Kleinere morphologische Defekte

Schädigung durch Thalidomid

Abb. 5.16   Sensible Phase für Missbildungen: Embryogenese (Organogenese). (Quelle: (Bochum, 2020))

Abb. 5.17  Branddreieck. (Eigene Darstellung)

VORAUSSETZUNGEN BRENNBARER STOFF

BR UND EXPLOSIONS GEFAHR SAUERSTOFF

ZÜNDQUELLE

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

411

Randbedingungen • richtiges Mischungsverhältnis • ausreichende Vermischung • ausreichende Energie der Zündquelle

Transferwissen

Youtube-Video – explosive Eigenschaften Die explosive Eigenschaft von Gemischen oder feinverteilten Stäuben lassen sich in der Gefahrstoffkundevorlesung auch über geeignete Videos „unvergesslich“ demonstrieren, z. B. durch ein Youtube-Video19 von Prof. Barkes, Universität Münster.

Physikalisch-chemische Gefährdungsfaktoren – Sicherheitstechnische Kenngrößen • Siedepunkt • Dampfdruck • Entzündlichkeit • für Feststoffe: Abbrandgeschwindigkeit • für Flüssigkeiten: Flammpunkt • für Gase: untere und obere Explosionsgrenze • Selbstentzündlichkeit • für Feststoffe: relative Selbstentzündungstemperatur • für Flüssigkeiten: Zündtemperatur • Explosionsgefährlichkeit • für Feststoffe: Ergebnisse des Fallhammer- und des Koenen-Tests (Stahlhülsentest) • für Flüssigkeiten: Ergebnisse des Fallhammer- und des Koenen-Tests (Schlagbzw. Hitzeempfindlichkeit) • oxidierende Eigenschaften • Verstaubungsverhalten

19 https://www.youtube.com/watch?v=hTsCQ9XrwAw.

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

412

Zoneneinteilung explosionsgefährdeter Bereiche – Betriebssicherheitsverordnung Einteilung explosionsgefährdeter Bereiche nach Häufigkeit und Dauer explosionsgefährdeter Atmosphäre in Zonen. Zone 0 ist ein Bereich, in dem gefährliche, explosionsfähige Atmosphäre ständig oder über lange Zeiträume vorhanden ist. Zone 1 ist ein Bereich, in dem sich bei Normalbetrieb gelegentlich gefährliche, explosionsfähige Atmosphäre bilden kann. Zone 2 ist ein Bereich, in dem bei Normalbetrieb gefährliche, explosionsfähige Atmosphäre nicht oder nur kurzzeitig auftritt.

Flammpunkt – Charakterisierung der Entzündlichkeit von Flüssigkeiten Der Flammpunkt ist die niedrigste Temperatur, bei der sich • • • •

über einer Flüssigkeit oder einem Feststoff mit Luftsauerstoff ein Gas/Dampf-Gemisch bildet, das mit einer Zündquelle gezündet werden kann (Abb. 5.18).

SÄTTIGUNGSKONZENTRATIO DAMPFDRUCK mbar

l.-%

zu fe obere Explosionsgrenze

DAMPFDRUCKKURVE

EXPLOSIONSBEREICH

untere Explosionsgrenze

TEMPERATUR ( )

5K Flammpunkt unterer Explosionspunkt

Abb. 5.18  Explosion – Dampfdruckkurve. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an BGN, 2016)

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

413

CLP-Gefahrenklasse – Entzündbare Flüssigkeiten Gefahrenkategorien 1, 2 oder 3 H224 Flüssigkeit und Dampf extrem entzündbar H225 Flüssigkeit und Dampf leicht entzündbar H226 Flüssigkeit und Dampf entzündbar

GHS02

Leicht entzündbare Flüssigkeiten Gefahrenkategorie 2. Flammpunkt unter 23 °C Piktogramm „Flamme“ (GHS02) Signalwort „Gefahr“ H-Satz 225

CLP-Gefahrenklasse – Entzündend wirkende Stoffe Entzündend wirkend (oxidierend) (früher „brandfördernd“ – typischerweise sauerstoffreiche Oxidationsmittel)

GHS03 Signalwort: Gefahr

H270 Kann Brand verursachen oder verstärken; Oxidationsmittel H271 Kann Brand oder Explosion verursachen; starkes Oxidationsmittel H272 Kann Brand verstärken; Oxidationsmittel

414

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

CLP-Gefahrenklasse – Explosive Stoffe/Gemische und Erzeugnisse

GHS01 Signalwort: Gefahr

Stoffe und Gemische (Zubereitung), die gegen • Schlag • Reibung • Feuer • anderen Zündquellen empfindlicher als Dinitrobenzol reagieren. Beispiele: Azobis(isobutylonitril) (AIBN), Dibenzoylperoxid, Ethylnitrit, Ethylnitrat, Pikrinsäure, Trinitrotoluol (TNT) • H200 Instabil, explosiv • H201 Explosiv, Gefahr der Massenexplosion • H202 Explosiv, große Gefahr durch Splitter, Spreng- und Wurfstücke Beispiele: Bleiazid, Knallquecksilber, Nitroglycerin, Pikrate

CLP-Gefahrenklasse – Akut und chronisch gewässergefährdend

GHS09 Signalwort: Achtung oder Gefahr

H400 Sehr giftig für Wasserorganismen H410 Sehr giftig für Wasserorganismen, mit langfristiger Wirkung H411 Giftig für Wasserorganismen, mit langfristiger Wirkung H412 Schädlich für Wasserorganismen, mit langfristiger Wirkung H413 Kann für Wasserorganismen schädlich sein, mit langfristiger Wirkung H420 Schädigt die öffentliche Gesundheit und die Umwelt durch Ozonabbau in der äußeren Atmosphäre

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

415

Aufbauwissen

Glyphosat – CLP-Kennzeichnung • Substance identity EC/List no.: 213-997-4 • CAS no.: 1071-83-6 • Mol. formula: C3H8NO5P • Hazard classification & labelling Danger! According to harmonised classification and labelling (CLP00) approved by European Union, substance is • toxic to aquatic life with long lasting effects and (H411) • causes serious eye damage (H318)

GHS05 Signalwort: Gefahr

GHS09 Signalwort: Gefahr

Kennzeichnungsbeispiele (Gebinde) Beispiele, wie sich UN und EU die Kennzeichnung von Produkten vorstellen, sind in Abb. 5.19 und 5.20 beispielhaft dargestellt.

chemischer Produktname und Iden fik onsnummer

Name, Adresse, Telefon des Lieferanten Signalwort

Gefährdung und Vorsichtsmaßnahmen Piktogramme ergänzende Info Nominale Menge

Abb. 5.19  Kennzeichnung Aceton. (Eigene Zusammenstellung)

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

416

LABEL Piktogramme

3

6

UN-Nummer chemischer Name und Produktiden fikator

Signalwort Piktogramme

H-Sätze (hazard) P-Sätze (p onary)

Abb. 5.20  Methanol – kombinierte Kennzeichnung. (Eigene Zusammenstellung)

Identifikation von Stoffen in EU • EG-Nummern EG-Nummern wichtige Ordnungskategorie des europäischen Chemikalienrechts (REACH-Verordnung) • sieben Ziffern; Syntax: XXX-XXX-X (z. B.: 200-001-8 Formaldehyd) • Schlüsselidentifikator eines Stoffes in IUCLID-Software IUCLID – International Uniform Chemical Information Database – kostenlos für jedermann, vor allem wichtig für Industrie, wird von ECHA (Europäische Chemikalienagentur, Helsinki, SF) gepflegt, wichtig für Einreichung von Registrierungsdossiers (REACH) • EINECS – Altstoffverzeichnis der EU European Inventory of Existing Commercial Chemical Substances ca. 100.000 Substanzen

IUCLID-6-Software • IUCLID 1–5 mussten überarbeitet werden • Auftraggeber EU und OECD (IT-Experten extern) • Data Submission Tool • (Einheitliche Struktur Daten und Registrierungsunterlagen) • EU-REACH-Regulation

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

417

• OECD-HPVC-Programm (high production volume chemicals) OECD Cooperative Chemicals Assessment Programme • u. a. Datenevaluierungsprogramme (weltweit) IUCLID-6-Software (Information) • Produktionsorte, Kontakte usw. • Substanzbezeichnung • Zusammensetzung • Referenzinformation, CAS-Nummer, IUPAC-Name und andere sog. Identifikatoren • Einstufung und Kennzeichnung als Gefahrstoff • physikalische/chemische Eigenschaften • toxikologische Eigenschaften • ökotoxikologische Eigenschaften • alle Arten von Berichten zur Substanz, wie Studienergebnisse und Bewertungen

Transferwissen

Beispiel: IARC-Kategorien für krebserregende Stoffe Neben den staatlichen und international harmonisierten Gefahrenklassen und Gefahrenkategorien gibt es auch nichtstaatliche Verfahrensweisen, krebserregende Substanzen zu kategorisieren. Ein wichtiges Beispiel sind die Kategorien der IARC20. Die International Agency for Research on Cancer (IARC) ist eine Organisation der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die zu den Vereinten Nationen (UN) gehört. Im Folgenden werden einige Beispiele gezeigt, die zeigen sollen, wie die IARC Stoffe, aber auch Aktivitäten, in ihr System eingestuft hat. Kategorie 1: krebserregend • alkoholische Getränke • Lederstaub • Luftverschmutzung • gesalzener Fisch (chinesisch) • Sonnenstrahlen • Tabakrauchen • Holzstaub • Gummifabrikation • verarbeitetes Fleisch (Wurst) • Anstreicherarbeit

20 IARC =  International

Agency for Research on Cancer, Krebsforschungsagentur der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

418

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Kategorie 2A: wahrscheinlich krebserregend • Glyphosat • rotes Fleisch • Schichtarbeit (nachts) • Nitrat/Nitrit • heiße Getränke (> 65 °C) Kategorie 2B: möglicherweise krebserregend • pickled vegetables (traditional Asian) • Textilfabrikation • Radiowellen Kategorie 3: nicht klassifizierbar • Druckertinten • Tee • Steinwolle Kategorie 4: wahrscheinlich nicht krebserregend Risikobewertung führt zu Grenzwerten. (Gundert-Remy & Kramer, 2019), (Neubert, 2019), (Lilienblum & Wollin, 2019).

5.6.4 Risikobewertung/Grenzwerte Die Toxizität von chemischen Stoffen lässt sich nicht verändern, sie ist die intrinsische, also innewohnende Eigenschaft der Stoffe. Die Gefährdung durch chemische Stoffe lässt sich hingegen durch eine Reduktion oder Verhinderung der Exposition vermindern oder vermeiden und das Risiko, dass eine Gefährdung tatsächlich eintritt, lässt sich durch die Reduktion der Expositionswahrscheinlichkeit beeinflussen. Dies wird in einer kurzen Formel verdeutlicht: Risiko = Gefährdung/Gefahr × Exposition × Expositionswahrscheinlichkeit • Reduktion der Dosis bzw. der Exposition → Reduktion der Gefährdung/Gefahr • Verminderung der Expositionswahrscheinlichkeit → Reduktion des Risikos • Verhinderung der Expositionswahrscheinlichkeit → Vermeidung des Risikos

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

419

Aus diesen Erkenntnissen ergibt sich für die Handhabung eines Risikos (Risikomanagement) die Möglichkeit für Gefahrstoffe, sog. Grenzwerte der Exposition bzw. der Expositionswahrscheinlichkeit festzulegen. → Grenzwertfestlegung (Risikomanagement) = Begrenzung der Exposition bzw. Expositionswahrscheinlichkeit

Transferwissen

Risikobewertung (Risikoevaluierung) Als bildliches Beispiel für eine Risikobewertung, d. h. für den Unterschied zwischen Gefahr/Gefährdung und Risiko, wird in der Gefahrstoffkundevorlesung die Kreuzotter (Abb. 5.21) verwendet, zweifelsohne eine gefährliche Schlange. Die Frage ist: Wann stellt diese Giftschlange ein Risiko für den Menschen dar und wann nicht? Risikobewertung – Beispiel Kreuzotter 1. Im geschlossenen Zoo-Terrarium gefährliches Tier = intrinsische Toxizität beträchtlich (Gefahr) Expositionswahrscheinlichkeit für Betrachter = 0 → kein Risiko 2. Im Wald beim Heidelbeersammeln gefährliches Tier = intrinsische Toxizität beträchtlich Expositionswahrscheinlichkeit für Heidelbeersammler vorhanden → Risiko • Die Kreuzotter ist ein „Gefahrstoff“, der aber bei geeigneter Handhabung kein gesundheitliches Risiko darstellt.

Abb. 5.21  Kreuzotter (Vipera berus). (Quelle: Public Domain (Hini, 2008))

420

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Risikobewertung in der Gesellschaft: intuitiv (individuell, gruppenweise, kollektiv) Jedes Individuum bewertet intuitiv seine persönlichen Risiken. Die Summe dieser intuitiven Risikobewertung ergibt die Risikobewertung einer Gruppe oder der Gesellschaft. Bei dieser Art der subjektiven Risikobewertung sind diverse Faktoren entscheidend: • Freiwilligkeit • Freiwillig eingegangene Risiken werden geringer eingeschätzt. • Unfreiwillige Risiken werden höher eingeschätzt. • Kontrollierbarkeit • durch eigenes Handeln Kontrolle möglich – Risikowahrnehmung minimiert (Optimismus) • durch eigenes Handeln Kontrolle nicht möglich – Risikowahrnehmung maximiert (Pessimismus) • Verantwortlichkeit • natürliche Risiken → weniger stark gewichtet (niemand verantwortlich) • anthropogene Risiken (von Menschen verursacht/verantwortet) → stärker gewichtet • Wahrscheinlichkeit • länger zurückliegendes Ereignis (Unglück) → kaum gewichtet/vergessen • frisches Ereignis (Unglück) erhöht subjektive Wahrscheinlichkeit für ähnliches Unglück (Terror, Flugzeugabsturz, …) → stark gewichtet

Beispiele für individuelle/gesellschaftliche Risikobewertungen Allgemein bekannte Risiken, die von vielen nicht besonders ernst genommen werden • Rauchen • Alkohol (EtOH) Risiken mit positiven oder negativen Risiko-Nutzen-Abwägungen • positiv: Autofahren, mit Flugzeug fliegen, Sport (z. B. Schwimmen, Fallschirmspringen) • negativ: Lebensmittelzusätze, Arzneimittelnebenwirkungen Risiken mit Ängsten verbunden, werden besonders ernst genommen • Covid-19 • Aids • Kernenergie • Gentechnik • Terror

421

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS Tab. 5.6  Todesfälle Deutschland – Schaden (Fallzahlen)

Toxikologe Biochemiker

TOXIZITÄT

Toxikologe Arzt Epidemiologe

HAZARD GEFÄHRDUNG

DOSIS EXPOSITION

RISIKO

Nutzen Kosten

Entscheider (P k)

VERMEIDUNG

MINIMIERUNG

AKZEPTANZ

Abb. 5.22  Risikobewertung Wissenschaft/Politik. (Eigene Darstellung)

In der Wissenschaft wird das Risiko berechnet und ergibt Werte, die in der Gesellschaft häufig nur mit Mühe akzeptiert werden können, weil die intuitive individuelle Risikobewertung oft völlig andere Ergebnisse liefert. Eine einfache Möglichkeit, ein Risiko in der Wissenschaft objektiv darzustellen, ist, zunächst allgemeine Fallzahlen zu erfassen und diese auf eine bestimmte Bevölkerung zu beziehen (Tab. 5.6). Die Risikobewertung der Wissenschaft in Zusammenarbeit mit den politisch verantwortlichen Vertretern der Gesellschaft wird im Bereich der Gefahrstoffe in einem mehrstufigen Prozess abgebildet (Abb. 5.22).

Risikobewertung – Wissenschaft/Politik multidimensionaler, arbeitsteiliger und gestufter Prozess, unterschiedliche Aufgaben, unterschiedliche Kompetenzen, wissenschaftlicher Prozess + gesellschaftliche Meinungsbildung (Abb. 5.22) 1. Gefährdung (Schaden) identifizieren 2. Risikoeinschätzung – wahrscheinliches Ausmaß eines Schadens feststellen katastrophal, schwerwiegend, erheblich, mittelmäßig, geringfügig

422

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

– Wahrscheinlichkeit seines Eintritts abschätzen sehr wahrscheinlich, wahrscheinlich, unwahrscheinlich, entfernt vorstellbar 3. Risikobewertung – Beurteilung, ob Risiko akzeptabel oder nicht – Beurteilung, ob Risikominderung erreichbar 4. Risikomanagement – Entscheidung → Risikobegrenzung/-vermeidung – Maßnahmen, z. B. Grenzwertfestlegung

Aufbauwissen

Risikoabschätzung bzw. Risikobewertung Soweit die Theorie, aber weitere Faktoren spielen bei der Risikoabschätzung bzw. Risikobewertung eine zentrale Rolle. Es ist eine gute Gelegenheit, den Studierenden die Problematik deutlich zu machen, in der sie während der Berufsausübung oft stehen werden, die aufgrund von Ehrgeiz und ungenügender Reflexion zu großen Misserfolgen, ja sogar Katastrophen führen kann: • Toxizitätsbewertung In der Toxikologie, als partiell biologisch-medizinische Wissenschaft, sind Daten noch mehrdeutiger als beispielsweise in der Chemie und selbst in einer relativ exakten Naturwissenschaft wie der Chemie sind Daten niemals eindeutig, denn es ist stets mehr als eine Deutung („eindeutig“) der Daten möglich und neue Daten führen im Allgemeinen auch zu neuen, andersartigen Deutungen. • Gefahridentifizierung Die Gefährdung bei einer bestimmten Exposition ist im Testmodell (z. B. Prüfung am Tier) noch relativ klar festzustellen, was dies aber für die Übertragung auf den menschlichen Organismus bedeutet, ist oft schon sehr umstritten. Der menschliche Organismus ist extrem komplex und zudem ist kein Mensch mit einem anderen Menschen identisch. Prüfmodelle, inkl. Tiermodelle, stellen immer eine mehr oder weniger starke Vereinfachung der Komplexität des Menschen dar, weshalb kein Prüfmodell eine exakte Vorhersage der toxischen Wirkung am Menschen garantieren kann. • Nutzen-Kosten-Relation Dies ist selbstverständlich ein wichtiger Faktor, der selten rein objektiv betrachtet werden kann, sondern sehr von politischen und persönlichen Einstellungen bzw. Realitäten abhängig ist. Auch die Frage der Perspektive ist entscheidend. Ein Gewerkschafter, der auch asthmakranke Kollegen vor der Exposition eines leicht reizenden Stoffes schützen möchte, sieht die Notwendigkeit, kostenaufwendig vor der Exposition eines Stoffes geschützt zu werden, anders als ein Abteilungsleiter, der

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

423

befürchtet, durch die fälligen Zusatzkosten sein Produkt nicht mehr konkurrenzfähig herstellen zu können oder auch ein völlig gesunder Arbeitskollege, der bei gleicher Exposition keinen Effekt spürt. • Tatsachenfeststellung Welche Auswirkungen sind vorhanden? Dies ist ein Punkt, der relativ klar erscheint, allerdings lassen die variable Qualität der Daten und die Größe der Stichproben (Anzahl und Art der Tiere im Experiment) immer Wünsche offen und eröffnen die Gelegenheit zu langwierigen Disputen. • Kausalitätsfeststellung Die Frage ist: Sind die festgestellten Auswirkungen tatsächlich auf den Stoff x zurückzuführen oder könnten sie auch andere Ursachen haben? Häufig ein sehr strittiger Punkt mit zahlreichen gut begründeten Argumenten, die sich oft widersprechen! Anmerkung: Es hat mehr als 30 Jahre gedauert, bis die beobachteten Schäden des Passivrauchens, z. B. bei Kindern (Krebs & Co), tatsächlich dem Rauch der Raucher zugeordnet wurden und zu einem Rauchverbot (Null-Exposition) im öffentlichen Raum führten. • Erheblichkeitsbewertung Ist der beobachtete Schaden erheblich oder eher bescheiden? Auch dieser Punkt ist sehr oft strittig! Anmerkung: Das Beispiel des bleifreien Benzins zeigt, wie lange es dauert, bis die beobachteten Schäden als ausreichend erheblich eingestuft wurden. Selbst die Schädigung des Nervensystems durch Tetraethylblei und dessen Verbrennungsprodukte Bleioxid und Bleihalogenidpartikel wurden lange Jahre als unerheblich verteidigt! • Optionen zur Risikobegrenzung verfügbar, wie zu bewerten? Auch das aktuelle Beispiel der Corona-Pandemie zeigt, wie schwer sich Politik, Verwaltung und Wissenschaft tun, sich auf gemeinsame Sicherheitsmaßnahmen zu einigen. Auch bei diesem Beispiel geht es um Grenzwerte, z. B. 50 Infizierte pro 100.000. • Null-Risiko Ein besonderer Punkt ist, dass zwar jeder Mensch schon einmal gehört hat, dass es kein Null-Risiko gibt, trotzdem möchte jedes Individuum für sich und seine Gruppe genau dieses Null-Risiko durchsetzen, vor allem da, wo eine eigene Steuerung des Risikos nicht möglich ist. • Entscheidung (z. B. über Präventionsidee oder Grenzwert) Auch an diesem Punkt prallen die Interessen und Einsichten von Wissenschaft und Gesellschaft stets aufeinander. • Aus all diesen Gründen stellt am Ende jede Entscheidung und jeder(!) Grenzwert einen Kompromiss dar, der logischerweise viele Beteiligte bzw. Betroffene nicht befriedigt.

424

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

5.6.5 Grenzwerte/Arbeitsplatzgrenzwerte Grenzwerte – Konflikte Ermessensspielräume Notwendigkeit, sehr genau zu prüfen • • • • • •

Daten- und Stichprobenqualität Auswahl der Modelle für Dosis-Wirkungs-Bewertung Extrapolation von hohen auf geringe Dosen (Expositionen) Übertragung Ergebnisse von Tierversuchen (oder in vitro) auf den Menschen wissenschaftliche Konflikte über Grenzwerte gesellschaftliche Konflikte über Grenzwerte (Null-Risiko)

Beurteilungswerte – u. a. Grenzwerte • Grenzwerte – zur Unterscheidung von zulässig/akzeptiert und unzulässig/nichtakzeptiert – müssen eingehalten werden – bei Nichteinhaltung Sanktion • Richtwerte – Orientierungswerte – sollen eingehalten werden (kein „Muss“) • Prüfwerte – lösen bei Überschreitung weitergehende Prüfung aus • Zielwerte – Überwachungswerte – sollen nach behördlicher Anordnung erreicht werden

Grenzwerte – Schwellenwerte • Grenzwerte – geben an, an welcher Stelle des Expositions-Wirkungs-Verhältnisses das Handeln seine Grenze hat • Rechtliche Festlegung – Schutzziel (Arbeiter am Arbeitsplatz, Verbraucher, Bevölkerung) – Expositionsfrequenzen (einmalig bei Unfall, häufig bei Anwendern) • Schwellenwerte – gesundheitsschädlicher Effekt nur, wenn bestimmte Dosis/Exposition (Schwelle) überschritten – Expositionen unterhalb dieser Dosis kein schädlicher Effekt – für Stoffe mit Schwellenwertwirkungen können sichere Grenzwerte abgeleitet werden • Überwachung – Nichteinhaltung löst Maßnahmen aus

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

425

Risikomanagement Mit der Festlegung eines Grenzwertes ist im Verfahren der Risikobewertung die Stufe des Risikomanagements erreicht. Bezüglich des Grenzwertes für Gefahrstoffe haben sich die Staaten der EU nach vielen Jahren auf eine Vorgehensweise, eine Definition und auch auf die Folgen, die aus Unter- und Überschreitung von Grenzwerten zu ziehen sind, geeinigt.

Basiswissen

Bezüglich Gefahrstoffen am Arbeitsplatz sind in Deutschland zwei Grenzwerttypen rechtsverbindlich: der Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) und der Biologische Grenzwert (BGW).

5.6.6 Grenzwerte für Gefahrstoffe am Arbeitsplatz 1 AGW (Arbeitsplatzgrenzwert) (Abb. 5.23) – Grenzwert in Luft am Arbeitsplatz (Luftgrenzwert) • Technisches Monitoring (Messung am Arbeitsplatz) • TRGS 402 Inhalative Exposition (BAuA, 2020b) • Beziehung zu Sicherheit und Gefährdung am Arbeitsplatz • Gefährdungszahl: gibt an, um welches Vielfache ein dampfgesättigtes Luftvolumen verdünnt werden muss, damit der AGW eingehalten wird 2. BGW (biologischer Grenzwert) – Grenzwert in biologischem Material (Blut, Urin, …) • biologisches Monitoring (Probennahme Werksarzt) • TRGS 903

Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) – Definition § 3(6) Gefahrstoffverordnung „Der Arbeitsplatzgrenzwert ist die zeitlich gewichtete durchschnittliche Konzentration eines Stoffes in der Luft am Arbeitsplatz, bei der akute oder RESTRISIKO < AGW

Arbeitsplatzgrenzwert AGW

mögliche Risikominderung notwendige Risikominderung SICHERHEIT

GEFAHR

Abb. 5.23  Arbeitsplatzgrenzwert (AGW). (Eigene Darstellung)

RISIKO > AGW

426

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

chronisch schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen nicht zu erwarten sind.“ Veröffentlichung durch Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) in TRGS 900 „Arbeitsplatzgrenzwerte“ • ca. 350 AGWs

Beurteilung von Gefahrstoffkonzentrationen in Atemluft an Arbeitsplätzen • Grundlage TRGS 402 • Technische Regel für Gefahrstoffe 402 „Ermittlung und Beurteilung der Konzentrationen gefährlicher Stoffe in der Luft an Arbeitsplätzen.“

Expositionsgrenzwert DNEL (derived no-effect level) • erforderlich für alle Stoffe über 1000 Jahrestonnen (REACH) • Definition unterhalb DNEL keine Gesundheitsbeeinträchtigung • TRGS 402 Inhalative Exposition: Stoffe ohne AGW müssen auf Basis DNEL bewertet werden Problem: Messverfahren meist nur für Stoffe mit AGW verfügbar • DNEL-Datenbank der DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung)

Maximale Arbeitsplatzkonzentration (MAK-Wert) – Definition Höchst zulässige Konzentration eines Arbeitsstoffes in der Luft am Arbeitsplatz, die • • • •

bei täglich maximal achtstündiger und wöchentlich maximal 40-stündiger Exposition Gesundheit der Beschäftigten nicht beeinträchtigt oder unangemessen belästigt

Veröffentlichung durch MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft • ca. 350 MAK-Werte Jeweils zum 1. Juli eines Jahres: MAK- und BAT-Werte-Liste veröffentlicht → Bundesarbeitsministerium → Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) überprüft Vorschläge und empfiehlt in der Regel ihre Übernahme in die Gefahrstoffverordnung.

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

427

Biologischer Grenzwert (BGW) – Definition maximal zulässige Konzentration eines Stoffes, seines Metaboliten oder eines Beanspruchungsindikators, im Blut/Urin eines Beschäftigten, bei dem eine Schädigung der Gesundheit des Beschäftigten nicht zu erwarten ist Festlegung der BGWs: achtstündige Exposition bei 40 Arbeitsstunden pro Woche Veröffentlichung durch Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) in TRGS 903 „Biologische Grenzwerte (BGW)“ • BGWs (ca. 56) gelten in der Regel für Einzelstoffe. • BGW ersetzt BAT (biologischer Arbeitsstofftoleranzwert). • BAT-Werte der DFG-Kommission dienen dem AGS als Grundlage für die biologischen Grenzwerte (BGW).

Biologischer Arbeitsstofftoleranzwert (BAT) – Biologische Leitwerte (BLW) – Definition 1. BAT (biologischer Arbeitsstofftoleranzwert) maximal zulässige Konzentration eines Arbeitsstoffes im Blut, Blutplasma, Harn oder Atemluft des Menschen beschrieben, bei dem nach aktuellem Wissen Gesundheit des Menschen nicht geschädigt wird 2. BLW (biologische Leitwerte) Bei kanzerogenen Arbeitsstoffen und bei Stoffen mit ungenügender Datenlage wurden BLWs abgeleitet. ca. 100 BATs und 11 BLWs Zum 1. Juli eines Jahres: MAK- und BAT-Werte-Liste veröffentlicht → Bundesarbeitsministerium → Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) überprüft Vorschläge und empfiehlt in der Regel ihre Übernahme in die Gefahrstoffverordnung.

Grenzwerte am Arbeitsplatz • AGW (Arbeitsplatzgrenzwert, siehe auch Tab. 5.7) Gesundheitsbasierter Grenzwert in Luft am Arbeitsplatz nach § 3 Gefahrstoffverordnung Quelle: Ausschuss für Gefahrstoffe in TRGS 900 „Arbeitsplatzgrenzwerte“ – rechtsrelevant • MAK-Wert (maximale Arbeitsplatzkonzentration) gesundheitsbasierter Grenzwerte in der Luft am Arbeitsplatz Quelle: MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft – nicht rechtsrelevant, aber Basis für Mehrheit der AGWs • TRK-Wert (technische Richtkonzentration) technisch begründete Grenzwerte in der Luft am Arbeitsplatz, speziell für kanzerogene und erbgutverändernde Stoffe ohne MAK Quelle: Ausschuss für Gefahrstoffe – nicht rechtsrelevant, seit 1. Januar 2005 abgeschafft, aber in Listen

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

428

Tab. 5.7  AGWs (Arbeitsplatzgrenzwerte) Ausschnitt aus TRGS 900

Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) = Schichtmittelwert (8 h) (5 Tage/Woche) Spitzenbegrenzung = Überschreitungsfaktoren (Kurzzeitwerte) inkl. Kategorie Kategorie I = lokale Wirkung grenzwertbestimmend Kategorie II = systemische Wirkung grenzwertbestimmend Kurzzeitwertkonzentration (15 min) = AGW × Überschreitungsfaktor Fruchtschädigung: Y = nein bei AGW; Z = ja, auch bei Einhaltung von AGW E = einatembare Fraktion (Nebel)

Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) – Hochschulpraktikum Definition und Nutzen in BGI/GUV-I 8553 (Web: DGUV). „Sicherheit im chemischen Hochschulpraktikum“ • Zur Vorbeugung gegen die Giftwirkung von Stoffen, die über die Atemwege aufgenommen werden können, ist es wichtig, diejenigen Konzentrationen in der Arbeitsluft zu kennen, bei denen nach Auffassung toxikologischer und arbeitsmedizinischer Fachleute auch bei länger dauernder Einwirkung eine Gesundheitsgefährdung nicht besteht. Diese sind die „Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW)“. • unterhalb AGW keine Gesundheitsgefährdung! • „gesundheitsbasierter Grenzwert“ • ohne Schwellenwert (Wirkungsschwelle) kein AGW!

Aufbauwissen

Im Folgenden wird den Studierenden eine Reihe von Beispielen aus der Praxis gezeigt, die zeigen sollen, wie diese Werte aussehen können. Für die Klausur sind diese Werte nicht relevant, da sie leicht recherchierbar sind! Arbeitsplatzgrenzwerte (AGWs) – Akut toxische Stoffe • AGWs leiten sich von NOAEL21-Werten ab. • (Schwellenwerte)

21 NOAEL = no

observed adverse effect level, siehe auch Abschn. 4.1.6

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

429

• H-Sätze • H330 Lebensgefahr beim Einatmen • H310 Lebensgefahr bei Hautkontakt • H300 Lebensgefahr bei Verschlucken • Beispiele aus TRGS 900 (Tab. 5.8)

Arbeitsplatzgrenzwerte (AGWs) – CMR-Stoffe (1/4) • Mutagene bzw. kanzerogene Stoffe – in der Regel keine Wirkungsschwelle → kein AGW – selbst geringe Exposition kann irreversible Schäden hervorrufen • H-Sätze H350 Kann Krebs erzeugen H340 Kann genetische Defekte verursachen H350i Kann bei Einatmen Krebs erzeugen • Allerdings: für einige wenige Kanzerogene sind Wirkungsschwellen definiert Stoff AGW (mg/m3) H-Satz Chloroform 2,5 H350 Isopren 8,4 H350 (Methyl-1,3-butadien) Piktogramm

Gefahr

Arbeitsplatzgrenzwerte (AGWs) – CMR-Stoffe (2/4) • „krebsverdächtige“ Stoffe (CLP: vermutlich krebserzeugend) • H-Satz H351 Kann vermutlich Krebs erzeugen • Beispiele Stoff AGW (mg/m3) H-Satz Tab. 5.8  Beispiel AGWs aus TRGS 900 (Gefahr)

430



5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Acetaldehyd 91 H351 Anilin 7,7 H351 Dichlormethan 260 H351 1,4-Dioxan 73 H351 Nitrobenzol 1 H351

Piktogramm

Achtung

Arbeitsplatzgrenzwerte (AGWs) – CMR-Stoffe (3/4) • vermutlich erbgutverändernde Stoffe (CLP: vermutlich genetische Defekte erzeugend) • H-Satz H351 Kann vermutlich Krebs erzeugen • Beispiele Stoff AGW (mg/m3) H-Satz Acetaldehyd 91 H351 Anilin 7,7 H351 Dichlormethan 260 H351 1,4-Dioxan 73 H351 Nitrobenzol 1 H351 Piktogramm

Achtung

Arbeitsplatzgrenzwerte (AGWs) – CMR-Stoffe (4/4) • reproduktionstoxische (bes. entwicklungsschädigende) Stoffe • H-Sätze H361 Kann Fruchtbarkeit beeinträchtigen • H360D Kann Kind im Mutterleib schädigen • H361f Kann vermutlich Fruchtbarkeit beeinträchtigen • H361d Kann vermutlich das Kind im Mutterleib schädigen • Beispiele Stoff AGW (mg/m3)H-Satz 2-Ethoxyethanol 7,6  H360FD

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS



431

Borsäure 0,5 H360FD Methoxyessigsäure 19 H360FD n-Hexan 180 H361f Toluol 190 H361d

F/f = kann Fruchtbarkeit beeinträchtigen bzw. Verdacht D/d = kann Kind im Mutterleib schädigen bzw. Verdacht Piktogramm

Achtung bzw. Gefahr

EU-Grenzwerte am Arbeitsplatz OELs (occupational exposure limit values) = EU-AGWs (EU-Arbeitsplatzgrenzwerte) Quelle: SCOEL (Scientific Committee for Occupational Exposure Limits to Chemical Agents) (Veröffentlichung: EU-Kommission) 21 Mitglieder des SCOEL mit Spezialkenntnissen in • Chemie • Toxikologie • Epidemiologie • Arbeitsmedizin • Arbeitshygiene

EU-Arbeitsplatzgrenzwerte OELs (occupational exposure limit values) zwei Typen von OELs 1. IOELVs (indicative occupational exposure limit values) Richtgrenzwerte an denen sich EU-Mitgliedsstaaten orientieren sollen 2. BOELVs (binding occupational exposure limit values) verbindliche Grenzwerte als Mindeststandard für EU-Mitgliedsstaaten

Grenzwerte am Arbeitsplatz – EU-Luftgrenzwerte (OELs) IOELVs (indicative occupational exposure limit values) (2000/39/EC und 2006/15/EC) • Erarbeitung durch SCOEL (Scientific Committee on Occupational Exposure Limit Values) • den deutschen MAK-Werten vergleichbar • zusätzlich müssen IOELVs messtechnisch überwachbar sein

432

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

• ca. 60 IOELVs • keine verpflichtende Übernahme als nationale Grenzwerte BOELVs (binding occupational exposure limit values) (in sieben verschiedenen EU-directives publiziert) • höhere nationale Grenzwerte dürfen nicht festgelegt werden • BOELVs liegen für Asbest, Benzol, Vinylchlorid, Blei und anorganische Verbindungen sowie Hartholzstaub vor

Grenzwerte am Arbeitsplatz – IOELVs (indicative occupational exposure limit values) • • • • • • • •

empfohlene Richtgrenzwerte entsprechend der Agenzienrichtlinie 98/24/EG gesundheitsbasierte Grenzwerte, die messtechnisch überwachbar sein müssen keine zwingende Übernahme als nationale Grenzwerte müssen bei nationaler Festlegung berücksichtigt werden Abweichungen zu niedrigeren und höheren Werten sind zulässig 91/322/EWG: 27 Stoffe (alte Grenzwertrichtlinie) 2000/39/EG (1. Grenzwertrichtlinie) 2006/15/EG (2. Grenzwertrichtlinie)

Grenzwerte am Arbeitsplatz – BOELVs (binding occupational exposure limit values) • verbindliche Mindestgrenzwerte für Stoffe, für die • kein gesundheitsbasierter Wert aufgestellt werden kann oder • gesundheitsbasierter Wert technisch nicht einhaltbar ist • risikobasiert • höhere nationale Grenzwerte sind nicht zulässig • technisch begründete Werte nach Art. 16 Krebsrichtlinie 2004/37/EG • Benzol 1 ppm • Vinylchlorid 3 ppm • Hartholzstäube 5 mg/m3 • verbindliche Grenzwerte nach Art. 3 Nr. 4 Agenzienrichtlinie 98/24/EG, Anhang 1 • 0,15 mg/m3

Arbeitsplatzgrenzwerte – Rechtsverbindlichkeit 1. Arbeitsplatzgrenzwerte aus TRGS 900 (AGW) 2. Arbeitsplatzgrenzwerte der EU (EU AGW = OEL) – Diese Werte müssen im Sicherheitsdatenblatt genannt sein. – Überwachung der Exposition (Arbeitsplatzmessung) Messverpflichtung – persönliche Schutzausrüstung (PSA)

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

433

• Wenn kein rechtsverbindlicher AGW oder OEL vorliegt, können auch andere Arten von Grenzwerten berücksichtigt werden: – MAK, BAT (nur Empfehlungscharakter) – innerbetrieblicher ARW (Arbeitsplatzrichtwert gemäß TRGS 901) • 2013 beruhten 72 % aller AGW oder BGW auf einem MAK- oder BAT-Wert!

GESTIS23 – Internationale Grenzwertedatenbank • Datenbank enthält (in englischer Sprache) eine Zusammenstellung von Arbeitsplatzgrenzwerten für Gefahrstoffe aus • verschiedenen EU-Mitgliedstaaten – Australien, Japan, Kanada (Ontario und Québec), Neuseeland – Schweiz, Singapur, Südkorea und den USA – erstellt und gepflegt vom Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) – Grenzwerte für mehr als 1700 Stoffe sind aufgeführt.

Transferwissen

Gestis App Verfügbar auch als App für iPhone, iPodtouch, iPad und Androidgeräte bei IFA Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung

Risikokonzept für krebserzeugende Stoffe Akzeptanz- und Toleranzkonzentration (BekGS 910) • Für krebserzeugende Stoffe wurde vom AGS ein neues Konzept entwickelt. • zwei Grenzwerte (Risikogrenzen) • Akzeptanzkonzentration • Toleranzkonzentration

23 GESTIS = Gefahrstoffinformationssystem

QR-Code.

434

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde) KREBSRISIKO BEREICH HOHEN RISIKOS anspruchvollste Maßnahmen (bis zum Verbot) 4 : 1.000

TOLERANZRISIKO BEREICH MIT TLEREN RISIKOS weniger anspruchvolle Maßnahmen

4 : 100.000

AKZEPTANZRISIKO BEREICH NIEDRIGEN RISIKOS Grundmaßnahmen

Abb. 5.24  CMR-Risikokonzept – Ampellösung. (Eigene Darstellung)

Risikokonzept Die Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW) im deutschen Gefahrstoffrecht sind so festgelegt, dass bei ihrer Einhaltung nach aktuellem Wissensstand keine Gesundheitsgefahren bestehen. Für viele krebserzeugende Stoffe lassen sich jedoch keine Grenzwerte definieren, deren Unterschreitung eine krebserregende Wirkung ausschließen würde. Für den Fall, dass sich Tätigkeiten mit derartigen krebserzeugenden Stoffen nicht vermeiden lassen, wurde vom AGS ein spezielle Risikokonzept entwickelt. Das Risikokonzept definiert gemäß dem Ampelprinzip (rot/gelb/grün) drei Bereiche (siehe Abb. 5.24). 1. hohes Risiko (roter Bereich) 2. mittleres Risiko (gelber Bereich) 3. geringes Risiko (grüner Bereich)

Aufbauwissen

Risikokonzept – Toleranzrisiko vs. Akzeptanzrisiko Die Grenze zwischen hohem Risiko und mittlerem Risiko wird als Toleranzrisiko bezeichnet. Das Toleranzkrebsrisiko von 4:1000 bedeutet,, dass statistisch von 1000 während des gesamten Arbeitslebens exponierten Personen zusätzlich vier an Krebs erkranken. Dieser Wert entspricht in etwa dem Risiko eines Beschäftigten in der Landwirtschaft, tödlich zu verunglücken, oder dem Risiko beruflich Tätiger, an Lungenkrebs zu erkranken. Oberhalb des Toleranzrisikos sollten Arbeitnehmer grundsätzlich nicht (oder nur kurzzeitig) exponiert werden (AGS, 2012).

5.6  Einstufung/Kennzeichnung CLP/GHS

435

Die Grenze zwischen mittlerem Risiko und niedrigem Risiko wird als Akzeptanzrisiko bezeichnet. Das Akzeptanzrisiko entsprach in der Einführungsphase bis 2013 einem statistischen zusätzlichen Krebsrisiko von 4:10.000, d. h. dass statistisch von 10.000 Personen vier an Krebs erkranken. 2018 wurde es wie geplant auf vier Fälle pro 100.000 verringert. Damit entspricht es der Krebswahrscheinlichkeit außerhalb des Arbeitsplatzes („allgemein verbleibendes Umweltrisiko“). Für Tätigkeiten, die sich im Bereich mittleren Risikos bewegen (unterhalb des Toleranz-, aber oberhalb des Akzeptanzrisikos), müssen die Belastungen weiterhin kontinuierlich abgesenkt werden. Das Konzept sieht einen entsprechenden detaillierten Maßnahmenkatalog vor. Unterhalb des Akzeptanzrisikos werden zunächst keine zusätzlichen Schutzmaßnahmen vom Arbeitgeber zwingend gefordert.

CM-Stoffe24 – ERBs (Expositions-Risiko-Beziehungen) Durch die Einführung der stoffspezifischen Expositions-Risiko-Beziehungen (ERBs) wurde es möglich, bei entsprechender Datenlage für jeden Stoff separat festzustellen, wie hoch die statistische Wahrscheinlichkeit ist, bei einer bekannten Belastung von täglich 8 h über 40 Arbeitsjahre an Krebs zu erkranken. • Ausarbeitung von Risikozahlen ERBs für kanzerogene Arbeitsstoffe wie z. B. Asbest, Benzol usw. • ERBs (Expositions-Risiko-Beziehungen) • vernachlässigbares, gesundheitliches Risiko bei Einhaltung der Risikozahlen • „akzeptierte“ Risiken • Bei Unterschreitung des Akzeptanzrisikos besteht ein vernachlässigbares, zusätzliches Risiko am Arbeitsplatz. • „tolerierbare“ Risiken • nicht mehr zulässiges Risiko bei Überschreitung des Toleranzrisikos

Aufbauwissen

ERBs (Expositions-Risiko-Beziehungen) für CM-Stoffe • ERB beschreibt Zusammenhang zwischen Stoffkonzentration (inhalative Aufnahme) und statistischer Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Krebserkrankung • ERB: aus experimentellen oder epidemiologischen Studien abgeleitet • → Grundlage für Extrapolation im Bereich geringerer Risiken

24 CM-Stoffe = kanzerogene

und mutagene Stoffe.

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

436

Tab. 5.9  Krebsrisiko bei Röntgenuntersuchungen, inkl. CT22 (einmalige Untersuchung)

Quelle: Prof. Jung, Zusätzliches Mortalitätsrisiko bei Röntgenuntersuchungen, Hamburg

(kann in Praxis weder tierexperimentell überprüft noch epidemiologisch beobachtet werden) • Bezugszeitraum für Risiko ist gesamte Lebenszeit (Lebenszeitrisiko) • Lebenszeitrisiko: statistische Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer berufsbedingten Krebserkrankung während des gesamten Lebens Expositions-Risiko-Beziehungen (ERBs) Beispiele (siehe auch Tab. 5.9) • Risiko eines tödlichen Unfalls (im Verlauf eines Jahres) • je nach Industriebereich 3:1000 bis 4:10.000 • im Mittel (gesunder Mensch mittleren Alters) 1:1000 • Risiko Nichtraucher für Lungenkrebs: ca. 5–10:1000 (vgl. Risiko25) • Risiken gemäß staatlicher Regelungen im Umwelt-/Lebensmittelbereich • Arsen im Trinkwasser (10 μg/l) 5 (https://doi.org/10.000/Lz26) • Dioxin in Lebensmitteln (2 pg TEQ27/kg) 1 (https://doi.org/10.000/Lz) • natürliche Strahlendosis 1:1000/Lz

Expositions-Risiko-Beziehungen (ERBs)

risikobasiertes Grenzwertkonzept für CM-Stoff

22 CT = Computertomographie 25 Risiko

(Röntgenstrahlen, digitale Detektorsysteme, Bilder errechnet).

entspricht der Wahrscheinlichkeit einer einer Lotto 6 mit Superzahl: 1: 140.000.000.

26 Lz = Lebenszeit

(70 Jahre).

27 TEQ = Toxizitätsäquivalent,

2,3,7,8-TCDD = 1 TEQ.

5.7  Europäische Chemikalienverordnung REACH

437

Tab. 5.10  Akzeptanz- und Toleranzwerte (vorgeschlagene Konzentrationen)

Toleranzrisiko 4:1000 ALZ28 Risiko oberhalb des Toleranzrisikos ist nicht akzeptabel!

Akzeptanzrisiko

Unterhalb des Akzeptanzrisikos wird Risiko akzeptiert. Oberhalb dessen wird Risiko unter Einhaltung spezifischer Maßnahmen befristet toleriert (siehe auch Tab. 5.10). längstens bis 2017 4:10.000 ALZ spätestens ab 2018 4:100.000 ALZ BekGS 910 4:100.000: Krebswahrscheinlichkeit außerhalb des Arbeitsplatzes („allgemein verbleibendes Umweltrisiko“)

5.7 Europäische Chemikalienverordnung REACH 5.7.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • REACH – Wie kann man einen chemischen Stoff in der EU registrieren? – Was muss man sich unter REACH vorstellen und was sollte man als Chemiker*in wissen? • Grenzwerte – Risikomanagement, was ist das? – Grenzwerte, was ist das? – Grenzwerte, warum werden sie benötigt? – Wie entsteht ein Grenzwert?

28 ALZ = Arbeitslebenszeit

(50 Jahre, 220 Tage/Jahr, 8 h/Tag).

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

438

Die REACH-Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 ist eine EU-Chemikalienverordnung, die am 1. Juni 2007 in Kraft getreten ist. Die Abkürzung REACH steht für registration, evaluation, authorisation and restriction of chemicals, d. h. die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien.

5.7.2 Grundlagen REACH Aufbauwissen

REACH – Warum war diese Verordnung notwendig? Durch die REACH-Verordnung konnten etwas mehr als 40 Richtlinien und Verordnungen ersetzt werden. Da Richtlinien in der EU nicht in allen Ländern identisch umgesetzt werden, eine EU-Verordnung aber sofort und ohne Änderung in allen Mitgliedsstaaten Gesetz ist, schafft diese Verordnung mit einem Schlag Klarheit für alle, d. h., es gibt in der EU nur noch eine einzige, für alle Chemikalien geltende, gesetzliche Regelung und somit eine völlige Harmonisierung des Chemikalienrechts in der EU. Um diese Harmonisierung auch abzusichern und kontrollieren zu können, wurde im Zuge der REACH-Verordnung auch die Europäische Agentur für chemische Stoffe (European Chemicals Agency, ECHA) geschaffen, die sich mit den laufenden Aufgaben im Zusammenhang mit REACH befasst. Ein wichtiger Punkt, der auch mit REACH umgesetzt werden sollte, war eine Stärkung der Verbraucherrechte.

REACH – Ziele • Die REACH-Verordnung verpflichtet alle Unternehmen, die Chemikalien herstellen oder importieren, diese ohne Ausnahme zu registrieren. • Umsetzung des Grundprinzips: „keine Daten – kein Markt“ Zu jeder auf dem Markt der EU befindlichen Chemikalie müssen Daten verfügbar sein, z. B. zur Toxikologie und Ökotoxikologie29. • Darin eingeschlossen sind Maßnahmen zur Bewertung und Beherrschung erkannter Risiken, die mit der Verwendung von Chemikalien verbunden sein können. • hohes Schutzniveau für Mensch und Umwelt, denn ohne Registrierung dürfen Chemikalien nicht in Verkehr gebracht werden • Investition in die Zukunft, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit sowie der Innovationsbereitschaft der europäischen Chemieunternehmen (siehe auch die Internetseite des europäischen Innovationsprojektes Horizon Europe: https:// ec.europa.eu/info/research-and-innovation/funding/funding-opportunities/ funding-programmes-and-open-calls/horizon-europe_en)

29 REACH-Kosten

pro Stoff: 20 T€ (> 1 t/Jahr) bis > 1 Mio. € (> 1000 t/Jahr).

5.7  Europäische Chemikalienverordnung REACH

439

• • • •

automatische Informationsweitergabe in der Lieferkette Auskunftsrechte für Verbraucher Online-Formular steht zur Verfügung Verbraucher können anfragen, welche besonders „besorgniserregenden“ Stoffe sich in Alltagsprodukten befinden • (Anfragegenerator erstellt Anfrage an Hersteller – Strichcode) • Hersteller muss Verbraucher antworten30

5.7.3 REACH – Registrierung • Kernaufgabe für Hersteller und Importeure (IUCLID-Cloud hilft) • Datenanforderungen richten sich nach hergestellter bzw. importierter Menge des Stoffes, z. B. Chemical Safety Report, wenn >10 t/Jahr • Grundsatz „ein Stoff, eine Registrierung“, d. h., Hersteller und Importeure des gleichen Stoffs müssen Registrierung gemeinsam einreichen • Registrierungsstelle: ECHA (Europäische Chemikalienagentur31) • Registrierungsdossier wird an ECHA geschickt, inkl. mögliche Schädigungen und Risikobeurteilung. • Firmen sind für die sichere Verwendung der Chemikalien selbst verantwortlich, d. h., normalerweise wird keine Zulassung der Behörde erteilt, wie sie z. B. bei Arzneimitteln oder Pflanzenschutzmitteln erforderlich ist.

REACH – Datenanforderungen Benötigte Daten sind gemäß einem Mengenband gestaffelt: Basisdaten: entsprechend VCI-Selbstverpflichtung 1–10 t pro Jahr zusätzliche Daten: vergleichbar Neustoffanmeldung nach ChemG 10–100 t pro Jahr 100–1000 t pro Jahr > 1000 t pro Jahr Erstellung Chemical Safety Assessment ab > 10 t/a und Ableitung geeigneter Maßnahmen des Risikomanagements → no data, no market REACH-Registrierung – Datenanforderungen • hergestellte bzw. importierte Menge ab 10 t pro Jahr → Hersteller/Importeur muss Sicherheit seines Stoffes selbst beurteilen und Ergebnisse einreichen (Chemical Safety Report)

30 http://www.reach-info.de/verbraucheranfrage.htm. 31 http://echa.europa.eu/de/

440

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

• Registrierungsfristen existierender Stoffe: Je nach Gefährlichkeit und Menge eines Stoffs gelten unterschiedliche Fristen. • 1. Juni 2018: alle chemischen Stoffe auf EU-Markt registriert • Für Registrierung und Anmeldung von Stoffen in Erzeugnissen gelten gesonderte Regelungen. • Informationen aus Registrierungsdaten sind öffentlich verfügbar und können auf Homepage der ECHA32 eingesehen werden. • Ausgenommen sind Informationen, die als Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse gelten.

5.7.4 REACH – Bewertung (Evaluierung) ECHA (EU-Behörde) • prüft alle Dossiers auf Vollständigkeit • prüft 5 % aller Registrierungsdossiers auf Qualität (compliance check) • inhaltliche Prüfung stichprobenartig (ECHA schreibt Jahresbericht) Nationale Behörden der EU-Mitgliedstaaten • zuständig für Stoffbewertung (substance evaluation) von ausgewählten Stoffen, Registrierungsunterlagen und Bewertungen der Unternehmen • Ergebnismöglichkeiten • Forderung, weitere Informationen nachzuliefern • Zulassungs- oder Beschränkungsverfahren • Bewertungsverfahren – Umkehr von vorherigem Verfahren • Ziel: Hauptarbeit der Evaluierung leisten Unternehmen • Behörden registrieren/regeln → sparen viel Arbeit, Zeit und Geld

5.7.5 REACH – Zulassung (Autorisierung) – Beschränkung • Chemische Stoffe unterliegen in EU keiner allgemeinen Zulassungspflicht. • REACH fordert Zulassungspflicht für „besonders besorgniserregende Stoffe“ – sog. SVHCs (substances of very high concern) • Zulassungspflicht – Verwendungsverbot – ECHA kann Notwendigkeit einer Zulassung aussprechen. – Antragstellender muss nachweisen, dass Risiken der Chemikalie beherrscht werden oder dass sozioökonomischer Nutzen der Verwendung größer als Risiko – zwingende Prüfung von Alternativen (Ersatz) (REACH-Anhang XIV)

32 http://echa.europa.eu/web/guest/home.

441

5.7  Europäische Chemikalienverordnung REACH

– GHS-Spaltenmodell zur Suche nach Ersatzstoffen – ECHA kann Herstellung, Inverkehrbringen oder Verwendungen von Chemikalien verbieten oder einschränken – Regelung heißt „Beschränkung“ REACH – SVHCs (besonders besorgniserregende Stoffe) • Behörden können ausgewählte Stoffe in einem formalen Verfahren als „besonders besorgniserregend“ identifizieren (substances of very high concern) • Dazu muss ein Stoff eines oder mehrere der folgenden Kriterien erfüllen. • krebserregend, erbgutverändernd oder fortpflanzungsgefährdend • giftig und langlebig, in Umwelt und in Organismen anreichernd • sehr langlebig in Umwelt und sehr stark in Organismen anreichernd • ähnlich besorgniserregende Eigenschaften (z. B. hormonelle Wirkung) • Besonders besorgniserregende Stoffe werden unter REACH in Kandidatenliste aufgenommen. • Bis 15. Januar 2018 wurden 181 Stoffe als besonders besorgniserregend erfasst – EU-Kandidatenliste33

5.7.6 REACH-Verfahren (Übersicht) einheitliches System für Registrierung, Bewertung und Zulassung (Abb. 5.25)

REGISTRIERUNG

EU-Hersteller, Importeure > 1 t / Jahr: · Herstellung · Eigenschaften · Verwendung · Registrierungsdossier inkl. Risikobewertung · Chemical Safety Report (> 10 t / Jahr)

BEWERTUNG

ECHA / n onale Behörden: · Compliance Checks · Bewertung der Daten · ggf. zusätzliche Prüfungen

ZUL ASSUNG

SVHC-Stoffe = Besonders besorgniserregende Stoffe (Substances of Very High Concern)

ECHA: · CMR-Stoffe (Kat. 1 und 2) · PBT-Stoffe * · vPvB-Stoffe ** · Endocrine Disruptors ››› Beschränkung (evtl.)

* PBT = persistent (P), bioakkumulierbar (B) und toxisch (T) ** vPvB = very persistent (vP), very bio-akkumulierbar (vB)

Abb. 5.25  REACH-System, PBT = persistent (P), bioaccumulative (B), **vPvB = very persistent (vP), very bioaccumulative (vB). (Eigene Darstellung) 33 http://www.echa.europa.eu/candidate-list-table.

toxisch

(T),

442

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

5.8 Stäube – Feinstäube, Nanopartikel (Krug et al., 2019)

5.8.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • Atmungssystem (Atemwege, Respirationstrakt) – Grundlagen Beispiele pathologischer Veränderungen • Klärung folgender Fragen – Was sind Aerosole, Stäube und Feinstäube? – Warum sind luftgetragene Stoffe ein Problem?

5.8.2 Respirationstrakt Grundlagen Atmungssystem/Atemwege (Respirationstrakt) Aufbauwissen

Das Atmungssystem wurde im Detail im Abschn. 4.7 dargestellt. Hier werden nur einige Punkte zur Erinnerung der Atemwege wiederholt, auch damit das Verständnis der Studierenden gefördert wird (siehe auch Abb. 5.26). Mit jedem Atemzug werden zahlreiche luftgetragene Partikel ein und teilweise auch wieder ausgeatmet. Menschen atmen jede Minute ungefähr zwölf bis 15 Mal ein und aus. Dabei werden etwa 7 l Luft ein- und wieder ausgeatmet. In der Atemluft sind außer den gasförmigen Bestandteilen immer auch Partikel enthalten. Die Größe und Form dieser Partikel entscheidet darüber, wie tief die Partikel in den Atemtrakt vordringen können. Große Partikel werden bereits in der Nase aus der eingeatmeten Luft abgeschieden, sehr kleine Partikel können bis in die Lungenbläschen (Alveolen) vordringen.

Reinigung des Atemtraktes • Luftröhre und Bronchien sind mit Flimmerepithel (Zilien) ausgekleidet (Abb. 5.27). • Staubpartikeltransport mittels Zilien und Schleim bis Kehlkopf (mukoziliärer Transport), anschließend Überführung in den Verdauungstrakt • mittlere Verweilzeit in Kehlkopf und Bronchien einige Stunden • Kehlkopf- und Bronchienüberladung löst Hustenreiz aus • Alveolen (Lungenbläschen)

5.8  Stäube – Feinstäube, Nanopartikel

443

Abb. 5.26  Respirationstrakt (Atemwege) inkl. Alveolen (Lungenbläschen). (Quelle: Public Domain (Ladyofhats et al., 2008))

• Makrophagen nehmen Staubpartikel auf (Phagozytose) • mittlere Verweilzeit in Alveolen beträgt bis zu 1 Jahr • Alveolenüberladung kann zu chronischen Lungenschäden führen (z. B. COPD) Voraussetzung für die Entfernung von Fremdstoffen und Partikeln durch das Flimmerepithel sind Impaktion (Turbulenzen), Sedimentation (Schwerkraft), Interzeption (nasse Deposition), Diffusion, elektrostatische Abscheidung (Abb. 5.28).

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

444 PARTIKEL

KEHLKOPF Schleim Zilien Flimmerepithel Becherzellen

Abb. 5.27  Aufbau Bronchialschleimhaut – Mukoziliärer Transport. (Eigene Darstellung in Anlehnung an Medizinfo, 2020)

Abb. 5.28  Pulmonale Abscheidemechanismen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Urbanetz, 2020)

DESPOSITION VON PARTIKELN

GEL ADENE PARTIKEL

> 5 µm

Impa

Elektrosta sche Abscheidung + –

on

1 – 5 µm Se

on

FASERIGE PARTIKEL Interzep on

Diffusion

< 0,5 µm

Abscheideverhalten der Staubfraktionen (Deposition) Aufbauwissen

Effizienz Flimmerepithel Die Schleimhaut besteht fast überall im Atemtrakt aus dem sog. Flimmerepithel (Zilien). Zwischen den zilientragenden Zellen sind die schleimbildenden Becherzellen angeordnet. Sie produzieren den wässrigen Schleim, der sich über die Zilien legt und so die gesamte Oberfläche der Schleim-

5.8  Stäube – Feinstäube, Nanopartikel

445

haut befeuchtet. Die Zilien schlagen ca. 1000-mal in der Minute, sodass der Schleim in Richtung Rachen transportiert wird. Die auf dem Schleim festgehaltenen Partikel (z. B. Staubpartikel und Bakterien) und Gefahrstoffe werden so aus dem Atemtrakt entfernt und Richtung Rachen befördert. Dort können sie verschluckt werden. Bei starker Staubbelastung oder z. B. bei grippalem Infekt sind die Zilien nicht in Lage, die Reinigung quasi automatisch zu bewältigen und als Ersatzmechanismus kommt es dann zum Husten.

5.8.3 Primare und sekundäre Partikel (Stäube) Stäube/Inhalation – Begriffe – Definitionen • Aerosole – dispers verteilte Partikel (Schwebstoffe: Feststoffe oder Flüssigkeiten) in Gasen, insbesondere Luft – Größenordnung zwischen 1 nm und 100 μm – Aerosole am Arbeitsplatz: Stäube, Rauche oder Nebel • Stäube – disperse Verteilung fester Stoffe in Gasen (bes. Luft), entstanden durch mechanisch/technische Prozesse oder durch Aufwirbelung • Faserstäube – disperse Verteilungen von anorganischen oder organischen Fasern bestimmter Abmessungen in Gasen, insbesondere Luft – Entstehung: mechanisch/technische Prozesse oder durch Aufwirbelung oder Erosionsprozesse von faserhaltigen Materialien • Rauche – feinste disperse Verteilung fester Stoffe in Gasen (Luft) – Entstehung durch thermische Prozesse (z. B. Schweißrauch oder Ruß) oder chemische Prozesse • Nebel – disperse Verteilungen flüssiger Stoffe in Gasen, insbesondere Luft – Entstehung: Zerstäuben von Flüssigkeiten, durch Kondensation aus der Dampfphase oder chemische Prozesse (z. B. Ölnebel, Chlorwasserstoff an feuchter Luft)

Sekundäre Partikel (Stäube) – Chemische Prozesse der Entstehung • entstehen in Atmosphäre durch komplexe photochemische Reaktionen • aus gasförmigen Vorläufersubstanzen wie

446

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

– Schwefeloxide (SOx) – Stickoxide (NOx) – Ammoniak (NH3) – flüchtige organische Stoffe (z. B. Methan, Fluorchlorkohlenwasserstoffe, …) • Sekundäre Partikel können an Orten gebildet werden, weit weg von eigentlicher Emissionsquelle der Vorläufergase. – Exposition in deutlich größerem Gebiet (>500 km) (NCBI 2015) – bilden wichtigen Teil der Feinstäube in Atmosphäre ( 50 % Nasenschleimhäute und Rachen ≥ 10  μm Kehlkopf 6–10  μm Luftröhre und Bronchien 3–6 μm sekundäre und terminale Bronchien 1–3 μm Alveolen  0,1 mm)

1000

grob 100

Mehlstaub (< 0,1 mm) Schleifstaub (< 5 µm) Rauch (< 0,1 µm)

einatembar (E-Staub) 10 1

thorakal (T-Staub) alveolar (A-Staub)

0,1

ultrafein 0,01 0,001

Abb. 5.31  Staubfraktionen – Total deponierbarer Staub. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an C. Möhlmann, BGIA)

• Tagesmittelwert 50 μg/m3 nicht überschreiten • an 35 Tagen/Jahr darf Tagesmittelwert überschritten werden • Arbeitsplatz → deutlich höhere Staubbelastungen zulässig • Grundlage ist TRGS 900 „Arbeitsplatzgrenzwerte“ • Für E-Staub ist Grenzwert von 10.000 μg/m3 im Schichtmittelwert. • Bei A-Staub liegt Grenzwert bei 1250 μg/m3. • Kurzzeitig darf Grenzwert um Faktor 2 überschritten werden.

Aufbauwissen

Warum sind Grenzwerte in Umwelt und am Arbeitsplatz so unterschiedlich? Ein Arbeitsplatzgrenzwert ist ein Wert für die zeitlich begrenzte Belastung gesunder Arbeitender (z. B. 7,5 h/Tag), während in der Außenluft auch empfindliche, z. B. asthmakranke, Personen rund um die Uhr (24 h) betroffen sein können. Das Gesundheitsschutzkonzept, die Maßnahmen (Grenzwerte) an den empfindlichen Mitgliedern der Gesellschaft ausrichten und nicht an den fitten und jungen Menschen, hat eine generelle Gültigkeit, was z. B. auch beim Infektionsschutz zu sehen ist. Nanopartikuläre Aerosole – Arbeitsschutz Was ist „Nano“ und was kann es bewirken, wenn Menschen Nanopartikeln gegenüber exponiert werden? Von Nanopartikeln spricht man, wenn die Partikelgröße sich im Nanometermaßstab bewegt (Abb. 5.32). Ein Nanometer sind 10–9 m (1 milliardstel Meter). Der Begriff bzw. die Vorsilbe Nano leitet sich aus dem lat./gr. Wort nanos (Zwerg) ab. Der Nanobereich wurde definiert als
5 µm, und Durchmesser < 3 µm und • Länge-Durchmesser-Verhältnis von > 3:1 • dringen in tiefere Atemwege vor

36 https://www.youtube.com/watch?v=nn8EGD9mO2I.

5.8  Stäube – Feinstäube, Nanopartikel

• • •

455

potenziell kanzerogen werden allgemein als WHO-Fasern bezeichnet gemäß TRGS 905 wird sog. Kanzerogenitätsindex (KI) festgelegt

Faserstäube bestehen aus anorganischen oder organischen Staubpartikeln, die eine längliche Form besitzen. Eine kritische Fraktion dieser Stäube sind solche, die biologisch schlecht oder nicht abbaubar sind und eine bestimmte Form und Größe haben. Derartige Fasern mit einer Länge von > 5 µm und einem Durchmesser von < 3 µm und einem Länge-Durchmesser-Verhältnis von > 3:1 dringen in tiefere Atemwege bis in die Lungenbläschen (Alveolen) vor und besitzen eine potenziell krebserzeugende Wirkung. Sie werden allgemein als WHO-Fasern bezeichnet. Gemäß TRGS 905 wird der sog. Kanzerogenitätsindex (KI) festgelegt.

Krebserzeugende Wirkung von Fasern (Faustregel) 1. je länger, 2. je dünner, 3. je schlanker und 4. je beständiger, umso gefährlicher Auch aus dieser Faustregel folgt, dass faserige, nanoskalige Stäube gefährlicher sind als Stäube größerer Partikel.

Asbest (altgr.: asbestos – unvergänglich) Die bekannteste Problemfaser ist Asbest. Entgegen der verbreiteten Meinung ist Asbest nicht ein bestimmter Stoff, sondern die Bezeichnung Asbest steht für eine Reihe natürlich vorkommender Mineralfasern. Wenn von Asbest die Rede ist, ist meistens Asbestzement (siehe auch Abb. 5.33) gemeint, der wohl die breiteste Anwendung gefunden hat. Sein Ausgangsmaterial ist das Mineral Chrysotil, das auch Weißasbest genannt wird. Asbesthaltige Materialien sind natürlich vorkommende, mineralische Rohstoffe, Gemische und Erzeugnisse, die Asbest enthalten. Asbest sind folgende natürlich vorkommende Silikate mit Faserstruktur (Referentenentwurf [2022] zur Verordnung zur Änderung der Gefahrstoffverordnung): 1. Aktinolith

CAS-Nummer 77.536-66-4

2. Amosit

CAS-Nummer 12.172-73-5

3. Anthophyllit

CAS-Nummer 77536-67-5

4.Chrysotil

CAS-Nummer 12001-29-5 und CAS-Nummer 132207-32-0

5. Krokydolith

CAS-Nummer 12001-28-4

6.Tremolit

CAS-Nummer 77536-68-6

456

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Abb. 5.33  Asbest (REM34Aufnahme). (Quelle: Gemeinfrei (USGS, 2006))

Asbest – TRGS 517 – Geltungsbereich • Gewinnung und Aufbereitung natürlich vorkommender asbesthaltiger mineralischer Rohstoffe in Steinbrüchen (Schotter, Splitt, Brechsand, Füller) • Weiterverarbeitung asbesthaltiger mineralischer Rohstoffe und daraus hergestellter Gemische und Erzeugnisse im Hoch- und Tiefbau (Straßen- und Gleisbau, Beton, Asphalt) • Wiederaufbereitung (Recycling) und Wiederverwertung im Straßenbau (Aufbereitung und Wiedereinbau von Recyclingmaterial, Herstellung von Asphalt) • Bearbeitung von Naturwerkstein z. B. Speckstein (Magnesiumsilikat) im Ofenbau • Kaltfräsen von Verkehrsflächen Spezielle Grenzwerte am Arbeitsplatz Allgemeiner Staubgrenzwert (ASGW) (TRGS 900) • anzuwenden für schwer lösliche bzw. unlösliche (inerte) Stäube, die nicht anderweitig reguliert sind • allgemeiner Staubgrenzwert (ASGW): Gesamtheit von A- und E-StaubFraktion

34 REM = Rasterelektronenmikroskop.

5.8  Stäube – Feinstäube, Nanopartikel

457

• E-Staub: 10 mg/m3 (Schichtmittelwert, Überschreitungsfaktor 2) • A-Staub: 1,25 mg/m3 (Schichtmittelwert, Überschreitungsfaktor 2) • nicht anwendbar für lösliche Stäube, ultrafeine und grobdisperse Partikelkonzentrationen • nicht anwendbar für nanoskalige Arbeitsplatzaerosole Asbestfaserkonzentration (TRGS 517, Tätigkeiten mit potenziell asbesthaltigen mineralischen Rohstoffen, z. B. Naturstein, Kiese und Sande, Tone) • Akzeptanzrisiko von 4:10.000 zusätzlichen Erkrankungsfällen durch Asbest bei 10.000 Fasern/m3 – Toleranzrisiko von 4:1000 zusätzlichen Erkrankungsfällen durch Asbest bei 100.000 Fasern/m3

Transferwissen

Asbest – CLP-Kennzeichnung und H-Sätze

GHS08, Gefahr oder Achtung, Systemische Gesundheitsgefährdungen

• H350 Kann Krebs erzeugen • H350i Kann bei Einatmen Krebs erzeugen • H351 Kann vermutlich Krebs erzeugen • H360 Kann die Fruchtbarkeit beeinträchtigen oder das Kind im Mutterleib schädigen • H360F Kann die Fruchtbarkeit beeinträchtigen • H360D Kann das Kind im Mutterleib schädigen • H360FD Kann die Fruchtbarkeit beeinträchtigen, kann das Kind im Mutterleib schädigen • H360Fd Kann die Fruchtbarkeit beeinträchtigen, kann vermutlich das Kind im Mutterleib schädigen • H360Df Kann das Kind im Mutterleib schädigen, kann vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen • H361 Kann vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen oder das Kind im Mutterleib schädigen • H361f Kann vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen • H361d Kann vermutlich das Kind im Mutterleib schädigen • H361fd Kann vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen und kann vermutlich das Kind im Mutterleib schädigen • H362 Kann Säuglinge über die Muttermilch schädigen

458

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

• H370 Schädigt die Organe • H371 Kann die Organe schädigen Den Studierenden wird diese beeindruckende Liste von H-Sätzen gezeigt, damit sie ein Beispiel einer wirklich multiplen Gefährdung kennenlernen. Auf wichtige Punkte werden sie hingewiesen. Aufgrund der Bedeutung dieses Gefahrstoffes ist ihm eine eigene technische Regel für Gefahrstoffe, die TRGS 517 (Tätigkeiten mit potenziell asbesthaltigen mineralischen Rohstoffen und daraus hergestellten Gemischen und Erzeugnissen) gewidmet.

Aufbauwissen

Tätigkeiten mit potenziell asbesthaltigen, mineralischen Rohstoffen z. B. Naturstein, Kiese und Sande, Tone (TRGS 517) Akzeptanzrisiko von 4:10.000 zusätzlichen Erkrankungsfällen durch Asbest bei 10.000 Fasern/m3 Toleranzrisiko von 4:1000 zusätzlichen Erkrankungsfällen durch Asbest bei 100.000 Fasern/m3 Im Folgenden lernen die Studierenden, an welcher Art von Arbeitsplätzen der Gefahrstoff Asbest eine Rolle spielt. In der Regel sind sie darüber sehr überrascht. Die technische Regel 517 zeigt auch, wo die verantwortlichen Behörden das Akzeptanzrisiko und wo sie das Toleranzrisiko sehen. Asbest – Geltungsbereich der TRGS 517 TRGS 517, S. 2: Diese TRGS gilt für Tätigkeiten mit potenziell asbesthaltigen mineralischen Rohstoffen gemäß Anlage 1 und daraus hergestellten Gemischen und Erzeugnissen und beschreibt die für diese Tätigkeiten anzuwendenden Schutzmaßnahmen. Diese TRGS gilt insbesondere für: 1. Gewinnung und Aufbereitung natürlich vorkommender asbesthaltiger, mineralischer Rohstoffe in Steinbrüchen (Schotter, Splitt, Brechsand, Füller) 2. Weiterverarbeitung asbesthaltiger mineralischer Rohstoffe und daraus hergestellter Gemische und Erzeugnisse im Hoch- und Tiefbau (Straßen- und Gleisbau, Beton, Asphalt) 3. Wiederaufbereitung (Recycling) und Wiederverwertung im Straßenbau (Aufbereitung und Wiedereinbau von Recyclingmaterial, Herstellung von Asphalt) 4. Bearbeitung von Naturwerkstein z. B. Speckstein (Magnesiumsilikat) im Ofenbau 5. Kaltfräsen von Verkehrsflächen

5.8  Stäube – Feinstäube, Nanopartikel

459

Diese TRGS gilt weiterhin für Tätigkeiten: 1. beim Auffahren und Sichern von unterirdischen Hohlräumen im asbesthaltigen Gebirge 2. mit asbesthaltigem Talkum als Füllstoff, Trenn- und Gleitmittel (z. B. bei der Kabel-, Reifen- und Gummiwarenherstellung) 3. mit asbesthaltigen Füll- und Zuschlagstoffen für weitere Zwecke (z. B. für die Asphalt- und Betonherstellung, Betonsanierung) (AGS, 2013) Gefährdungen durch Asbest Asbest ist ein eindeutig krebserregender Stoff. Die lange Liste von H-Sätzen enthält auch den H-Satz 350 bzw. 350i (kann Krebs erzeugen, kann beim Einatmen Krebs erzeugen). Feine Asbestfasern können beim Einatmen bis in die tiefen Atemwege vordringen. Die länglichen, spitzen Fasern (Abb. 5.33) können vom Flimmerepithel nicht aus der Lunge und den Bronchien heraustransportiert werden. Sie verbleiben deshalb dort lebenslang und üben einen ständigen mechanischen Reiz aus. Dadurch entsteht durch die Aktivität verschiedener Immunzellen die sog. Asbestose, eine Vernarbung des Lungengewebes, die nach Jahren zur Tumorbildung führt. Die typische Tumorform, die durch Asbest hervorgerufen wird, ist das Mesotheliom. Das große Problem für die operative Therapie des Mesothelioms liegt daran, dass die Tumorzellen flächig wachsen, quasi als Monolayer, d. h., es gibt keinen Tumor, den man herausschneiden kann.

Gesundheitsschädigung durch Stäube in Atemluft • Nasenschleimhäute und Rachen (Pharynx) • lästig, beeinträchtigen Geruch- und Geschmackssinn, Abhusten oder Verschlucken über Speiseröhre • einige Stäube (z. B. von Hartholz) verursachen Nasen- und Kehlkopftumoren • Bronchien • mukoziliärer Transport (durch Zilien bewegter Schleim) → Pharynx (Rachen) • Entwicklung von Allergien • Alveolen • ausatembar oder verbleibend • verbleibende Stäube – Aufnahme (Phagozytose) durch Makrophagen • Transport zu zilierten Bronchien (von dort mukoziliärer Transport) • durch Makrophagen zerstört → in Blut abtransportiert und ausgeschieden • durch Makrophagen nicht zerstört → Überladung der Makrophagen verbleiben in Lunge wie Quarz und Asbest, vernarben Gewebe und führen zu Silikose, Asbestose und Lungenkrebs

460

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Aufbauwissen

Die Zilien in Luftröhre und Bronchien haben zusammen mit dem Schleim der Becherzellen die Aufgabe, eingeatmete Partikel und Gefahrstoffe zu entfernen und so die Atemwege zu reinigen. Wie die Beispiele Quarz und Asbest zeigen, gelingt dies nicht immer. Ein weiterer Gefahrstoff, bei dem dies nur unzureichend gelingt, ist der Tabakrauch, speziell dann, wenn regelmäßig und viel geraucht wird. Durch den Tabakrauch werden die Zilien (Abb. 5.27) verklebt und können dadurch ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Dadurch wird auch die Entfernung weiterer, nicht mit dem Tabakrauch verbundener Schadstoffe behindert, was die Beobachtung erklärt, dass Rauchen plus berufliche Expositionen von Schadstoffen zu deutlich schnellerer und schwererer Erkrankung führen kann.

Transferwissen

Während der zweistündigen Vorlesung haben immer wieder tabakrauchanhängige Studierende den Hörsaal für eine Rauchpause verlassen. Es wurden deshalb auch Fotos in die Vorlesung eingefügt, die die selbst makroskopisch gut sichtbaren pathologischen Veränderungen der Lunge deutlich machen (Abb. 5.34). Raucherlunge – COPD Chronische obstruktive Lungenerkrankung (chronic obstructive pulmonary disease, COPD)

Abb. 5.34  Lunge Vergleich gesund vs. erkrankt (Raucherlunge). (Quelle: Public Domain USNational Institute of Health (NIH, 2013))

5.9  Einstufung von Gemischen (Zubereitungen)

461

• dauerhafte Verengung der Atemwege, besonders Ausatmung erschwert (Atemwegsobstruktion) • Atemnot, Husten und Auswurf („AHA-Symptome“), Überblähung der Lunge bis „Fassthorax“ • keine Heilung – Fortschreiten nur durch Beseitigung der Ursache (z. B. Rauchstopp) zu verhindern • Entstehung: Entzündung der kleinen Atemwege – Schleimproduktion – Zerstörung des Lungengewebes (Lungenemphysem)

5.9 Einstufung von Gemischen (Zubereitungen) (Marx-Stölting & Rotter, 2019)

5.9.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • • • •

Gemische (Stoffgemische) – was muss beachtet werden? Kennzeichnung von Gemischen Was unterscheidet Gemische prinzipiell von Einzelsubstanzen? Wie können Gefährdungen von Gemischen berechnet werden?

5.9.2 Kennzeichnung von Gemischen Zunächst gilt für Stoffgemische auch das GHS- (globally harmonised system of classification and labelling of chemicals) bzw. das CLP-System der EU, um Stoffgemische zu kennzeichnen (siehe auch Tab. 5.13).

UFI-Code (unique formula identifier) Jedes Gemisch trägt in Zukunft einen eindeutigen UFI-Code, dem Giftinformationen hinterlegt sind. Der UFI-Code ist ein eindeutiger Rezep­turi­den­ tifikator, der als 16-stelliger, alphanumerischer Code, der auf Etiketten von Produkten, die ein gefährliches Gemisch enthalten, ab 2025 enthalten sein muss. Tab. 5.13  Piktogramme GHS08, GHS02, GHS09

462

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Die Einführung erfolgte über eine Änderung der CLP-Verordnung (Anhang VIII im Jahr 2020). Im UFI-Code sind die Umsatzsteuernummer des Unternehmens bzw. eine eigene Firmennummer und eine Formulierungsnummer enthalten. So kann der UFI-Code nur einmal im europäischen Wirtschaftsraum (EWR) verwendet werden. Beispiel für die Angabe eines UFI in der Kennzeichnung eines Gemisches: UFI: TC8Q-17VS-D00J-WMY9. Der UFI-Code muss durch den Inverkehrbringer den europäischen Giftnotrufzentralen über ein Portal der ECHA37 in einer sog. PCN (poison center notification) mitgeteilt werden. Zur Erstellung steht ein UFI-Generator der ECHA zur Verfügung. Zusätzlich zum UFI-Code müssen die gefährlichen Eigenschaften eines Gemisches/einer Zubereitung durch Piktogramme gekennzeichnet sein. Diese werden auf Grundlage der • toxikologischen • physikalisch-chemischen und • umweltgefährlichen Eigenschaften bestimmt.

5.9.3 Gemische vs. Einzelsubstanzen – Toxizität Die Frage ist, wie verändern die Stoffe in einem Gemisch die Toxizität eines einzelnen Stoffes.

Toxikokinetik Zu der jeweiligen toxischen Wirkung des Einzelstoffes kommen Wechselwirkungen der Stoffe hinzu. Die einzelnen Komponenten können z. B. bei der Resorption, der Verteilung im Körper, der Biotransformation oder bei der Ausscheidung miteinander in Wechselwirkung treten. Toxizität – Additive Wirkung – Synergistische Wirkung – Potenzierung – Antagonistische Wirkung Auch die Wirkung eines Stoffes am Wirkort kann durch die gleichzeitige Anwesenheit anderer Stoffe beeinflusst werden. Die Interaktion einzelner Schadstoffe kann sehr verschieden sein. Effekte einzelner Stoffe können sich beispielsweise additiv verhalten, dann ist der Gesamteffekt gleich der Summe der Einzeleffekte. Ist der Gesamteffekt höher als die Summe der Einzeleffekte, liegt ein synergistischer Effekt vor. Eine Potenzierung liegt vor, wenn der organspezifisch toxische Effekt einer Substanz durch die Anwesenheit einer Substanz, die keine toxische Wirkung am selben Organ entfaltet, deutlich verstärkt wird. 37 ECHA = Europäische

Chemikalienagentur.

5.9  Einstufung von Gemischen (Zubereitungen)

463

Bei Kombinationswirkungen im Sinne einer Abschwächung des toxischen Effektes wird als Antagonismus bezeichnet. Ist die Wirkung z. B. additiv oder nicht additiv? Hierzu gibt es Regeln. Additive Eigenschaften • • • •

akut toxische Eigenschaften ätzende Eigenschaften reizende Eigenschaften umweltgefährliche Eigenschaften

Nichtadditive Eigenschaften • Alle anderen Eigenschaften, insbesondere CMR-Eigenschaften, sind nicht additiv.

5.9.4 Gemischrechner Die Berufsgenossenschaft bietet ein sehr hilfreiches, im Internet frei zugängliches Programm an, das die Kennzeichnung eines Gemisches korrekt ermittelt, das GisChem. Der GisChem-Gemischrechner errechnet für beliebige Stoffgemische die korrekte Einstufung und Kennzeichnung im GHS-System.

GisChem – BG RCI • Gefahrstoffsuche • GisChem interaktiv • Gefahrstoffverzeichnis • Gemischrechner • GHS-Konverter • Link: http://www.gischem.de/index.htm

BG RCI – Gemischberechnung • Gemischrechner der BG RCI ermittelt für beliebige Stoffgemische die korrekte Einstufung und Kennzeichnung im GHS-System (Abb. 5.35). • Link: https://ssl.gischem.de/gemischrechner/index.htm Ergebnis des Gemischrechners • vollständiges Kennzeichnungsetikett (nach Eingabe von Firmendaten) • Kennzeichnungsetikett: Name, Piktogramm, Signalwort und H-Sätze • vereinfachtes Kennzeichnungsetikett im Labor mit Piktogramm-PhrasenKombinationen • Auszug aus dem Sicherheitsdatenblatt (diese Daten sollten bei einem Gemisch unter dem Aspekt der Einstufung und Kennzeichnung nach CLP aufgeführt sein)

464

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Abb. 5.35  GischemGemischrechner. (Eigene Darstellung)

AN MELDUNG, DATEN

STOFF A

B

C

GEMISCH BERECHNEN

PIKTOGRAMME, UND P ÄTZE

SICHERHEIT DATENBL AT T

5.10 Tierversuche/Tierschutzgesetz Das Thema Tierversuche ist zwar sehr wichtig und sollte den Studierenden auch vermittelt werden, ist aber nicht Teil des behördlichen Fragekatalogs zur Sachkunde nach § 11 der Chemikalien-Verbotsverordnung. Fast der gesamte Stoff kann deshalb als Transferwissen betrachtet werden (Abb. 5.36).

5.10.1 Ziele dieses Teils der Vorlesung • • • •

Tierversuchsproblematik – was Chemiker*innen wissen sollten Was versteht man unter „Tierversuchen“? Was regelt das Tierschutzgesetz? Alternativen zum Tierversuch

Abb. 5.36  Versuchstier Ratte. (Quelle: Public Domain US-National Cancer Institute (Stephens, 1992))

5.10 Tierversuche/Tierschutzgesetz

465

5.10.2 Grundlagen Tierversuche im Sinne des Gesetzes sind • Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken an oder mit lebenden Tieren – Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken an Tieren oder am Erbgut von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden verbunden sein können – Vorbeugen und Erkennen von Krankheiten und Leiden, Grundlagenforschung, Prüfung von Stoffen oder Produkten auf ihre Unbedenklichkeit für die Gesundheit von Menschen und Tieren • Eingriffe oder Behandlungen, die nicht Versuchszwecken dienen – Herstellung, Gewinnung, Aufbewahrung oder Vermehrung von Stoffen, Produkten oder Organismen – ganze oder teilweise Entnahme von Organen oder Geweben zu wissenschaftlichen Zwecken Transplantation von Organen oder Geweben Kultur isolierter Organe, Gewebe oder Zellen – Aus-, Fort- oder Weiterbildungszwecke

Grundfrage – Kann mit Tierversuchen für Menschen Sicherheit erzeugt werden? Alle pharmazeutischen, chemischen und biotechnologischen Firmen führen Tierstudien durch (oder lassen sie durchführen). • bei Erforschung und Entwicklung von Arzneimitteln (ICH, AMG38) • bei Sicherheitsbewertung von Chemikalien (REACH) • zur Überprüfung der Qualität und Wirksamkeit von biologischen Präparaten (GMP) • Warum? – Tierstudien sind gesetzlich gefordert. – Behördlich akzeptierte Alternativen zu Tierstudien sind aktuell noch nicht in ausreichender Zahl verfügbar, um Tierversuche komplett zu ersetzen. – Allerdings sind beträchtliche Fortschritte zu verzeichnen und geben zu Hoffnung Anlass (Lilienblum et al., 2008) (Ukelis et al., 2008).

Aufbauwissen

Tierversuchsproblematik Tierversuche sind ressourcenintensiv, sowohl was die Kosten als auch was die Laborkapazitäten betrifft. Die liegt auch daran, dass die Dauer der

38 AMG = Arzneimittelgesetz.

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

466

regulatorischen Toxizitätsprüfungen deutlich länger ist als die möglicher alternativer Verfahren. Außer dem Kostendruck besteht auch politischer Druck, der seinen Ursprung in ethischen Bedenken hat und das Recht der Menschen in Zweifel setzt, Tiere für die menschliche Sicherheitsprüfung verwenden zu dürfen. Zusätzlich wird häufig in Frage gestellt, dass Tiermodelle eine zuverlässige Vorhersagekraft für den Menschen besitzen, denn Menschen sind offensichtlich keine 60 oder 70 kg schweren Ratten. Beispielsweise müssen zur Prüfung von Industriechemikalien im Rahmen des europäischen Programms zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) zahlreiche Substanzen umfangreich geprüft werden. Gleichzeitig ist die dafür notwendige Laborkapazität nur bedingt vorhanden. Für neuartige und kostspielige Substanzen ist es zusätzlich schwierig, die dafür notwendigen Substanzmengen zu synthetisieren, denn für Tierversuche werden größere Mengen an Testmaterial benötigt als für alternative Methoden. Verbesserungen müssen also nicht nur bei den vorgeschriebenen Tiermodellen erreicht werden, gleichzeitig müssen vermehrt alternative Prüfverfahren wie in vitro- und in silico-Modelle (inkl. Künstliche Intelligenz (KI) Systeme)  entwickelt und validiert werden. Daher sind ständige Anstrengungen notwendig, um die Teststrategien zu verbessern und unnötigen Ballast zu definieren, der abgeworfen werden kann, um den Prozess zu beschleunigen, ohne die notwendigen Sicherheitsstandards zu vernachlässigen. Für die Zeit, in der Tierversuche noch unumgänglich sind, muss gewährleistet sein, dass ihre Durchführung und Auswertung so optimal wie möglich und für die verwendeten Tiere so erträglich und artgerecht wie möglich erfolgt.

5.10.3 Tierversuche – Durchführung Wer führt Tierversuche durch oder lässt sie durchführen? • Universitäre Einrichtungen (Aus-/ Weiterbildung, Grundlagenforschung) • Forschungsinstitute wie z.  B. Max-Planck- oder Fraunhofer-Institute zur Grundlagen und angewandten Forschung • Wissenschaftliche Einrichtungen der Bundesländer und des Bundes • Alle pharmazeutischen, chemischen und biotechnologischen Firmen • Erforschung und Entwicklung von Arzneimitteln (ICH39, AMG40)

39 ICH = International

Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals

for Human Use. 40 AMG = Arzneimittelgesetz.

5.10 Tierversuche/Tierschutzgesetz

467

• Sicherheitsbewertung von Chemikalien (REACH) • Überprüfung der Qualität und Wirksamkeit von biologischen Präparaten (GMP)

Tierversuche – Staatliche Kontrolle • alle Aspekte werden kontrolliert und genehmigt: • Versuchsleiter (Qualifikation) • beteiligte Personen (z. B. technisches Personal) • Versuchsdesign/Versuchszweck (Experiment, Prüfung) • Versuchstierhaltung Käfiggrößen, Temperatur, Luftwechsel und Luftfeuchtigkeit • Herkunft und Verbleib der Tiere Wann sind Tierversuche unerlässlich? • wenn ohne Tierversuch ein entscheidendes Ziel nicht erreicht werden kann, wenn ein wissenschaftlicher Nachweis erforderlich ist • Regulation (Gesetze, Verordnungen, Richtlinien) • Stoffprüfung auf Wirksamkeit oder Schädlichkeit • Erkennen von Umweltgefährdungen • Vorbeugen, Erkennen, Behandeln von Krankheiten, Leiden, Körperschäden, physiologischen Zuständen, … • Wissenschaft/Forschung • Grundlagenforschung, wenn ohne Tierversuch wissenschaftliches Ziel nicht erreicht werden kann (wissenschaftlicher Nachweis erforderlich) Tierversuche sind nicht erlaubt für Waschmittel, Kosmetik, Tabakwaren, Waffen

5.10.4 Tierschutzgesetz (TSchG) • Tierversuche sind auf das unerlässliche Maß zu beschränken. • Schmerzen, Leiden oder Schäden dürfen Tieren nur in dem Maße zugefügt werden, als es für den verfolgten Zweck unerlässlich ist.

5.10.5 Genehmigungspflicht/Genehmigungsvorbehalt • Tierversuche mit Wirbeltieren benötigen eine „Genehmigung“ unabhängig von Schwere der Belastungen. • Ausnahme: Es genügt eine „Anzeige“, wenn – Tierversuch ausdrücklich gesetzlich vorgeschrieben oder von Behörden angeordnet (Prüfrichtlinie, z. B. OECD-Prüfrichtlinie, muss vorhanden sein)

468

5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

• Änderung genehmigter Versuche, wenn Zweck, Belastung und Tierzahl unverändert bleiben • Ausnahmen von Ausnahmen, wenn Tierversuch schwer belastend ist sowie beim Einsatz von non-human primates (Affen)

5.10.6 Genehmigungsantrag • Wer – Antragsteller, Versuchsleiter, Stellvertreter, Mitarbeiter (Durchführung und Pflege) • Was – Wiss. Problemstellung, bisherige Kenntnislage, offene Fragen, Prinzip, erwartete Ergebnisse und Antworten – nachvollziehbar, Literaturangaben, Unverzichtbarkeit, keine Alternative, Informationsquellen • Was/Woher – Tiere – Art, Rasse, Herkunft – Begründung • Wie – Tierzahl, Gruppen, biometrische Planung … • Durchführung, Dauer, Betäubung, Narkose, Analgesie, Betreuung • erwartete Belastung (Schmerzen + Leiden + Schäden) • Eingriffe und Behandlungen, Folgen, Haltung … • Belastungsreduzierung, Schmerzbehandlung, Abbruchkriterien … • Warum – Ethische Vertretbarkeit

Fragen der Behörden • Wissenschaftlichkeit? • Aktualität? • Zweckbestimmung? • Tiermodelle? Durchführung? Statistik? • Analyse? • 3R (reduce, refine, replace)? • ethische Vertretbarkeit?

Tierschutzbeauftragte(r) • Wichtige Funktion, die in jeder Versuchstiereinrichtung vorhanden sein muss, ist die des/der Tierschutzbeauftragten. • in jeder Tierversuchseinrichtung • Fachkenntnis (meistens med. vet.) • weisungsfrei, Zugang, Informationspflicht (Stellung innerbetrieblich geregelt) • Pflichten – achtet auf Einhaltung von Vorschriften, Bedingungen, und Auflagen im Sinne des TSchG – berät Einrichtung und Personal – Stellungnahme zu jedem Tierversuchsantrag (z. B. Genehmigungsantrag) – Entwicklung und Einführung von Verfahren und Mitteln zur Vermeidung oder Beschränkung von Tierversuchen

5.10 Tierversuche/Tierschutzgesetz

469

Die Tierschutzbeauftragten der Industrie und der Auftragsforschungsinstitute streben für ihre Einrichtung eine international anerkannte Akkreditierung an, die sog. AAALAC Int. Accreditation (AAALAC: Association for the Assessment and Accreditation of Laboratory Animal Care; aaalac, 2022). Anmerkung: In der Vorlesung werden zu diesem Thema eine Reihe informativer Fotos gezeigt und erklärt.

AAALAC Int. Accreditation AAALAC International ist eine private, gemeinnützige Organisation, die die humane Behandlung von Tieren in der Wissenschaft durch freiwillige Akkreditierungs- und Bewertungsprogramme fördert. Mehr als 1050 Unternehmen, Universitäten, Krankenhäuser, Behörden und andere Forschungseinrichtungen in 50 Ländern/Regionen haben die AAALACAkkreditierung erhalten und damit ihr Engagement für eine verantwortungsvolle Tierpflege und -nutzung unter Beweis gestellt (Stand 2022). Diese Institutionen nehmen freiwillig am Programm des AAALAC teil und erfüllen zusätzlich die lokalen, staatlichen und föderalen Gesetze, die die Tierforschung regeln. Das AAALAC-International-Akkreditierungsprogramm bewertet Organisationen, die Tiere in Forschung, Lehre oder Tests verwenden. Diejenigen, die die AAALAC-Standards erfüllen oder übertreffen, werden akkreditiert. Der Akkreditierungsprozess umfasst eine umfangreiche interne Prüfung durch die Institution, die die Akkreditierung beantragt. Während dieser Überprüfung erstellt die Institution ein umfassendes Dokument namens „Programmbeschreibung“, das alle Aspekte des Programms für die Tierpflege und -nutzung (Richtlinien, Tierhaltung und -management, tierärztliche Versorgung und Einrichtungen) beschreibt. Die Programmbeschreibung wird danach an AAALAC übermittelt. Anschließend überprüfen AAALAC-Gutachter (Mitglieder des AAALACAkkreditierungsrates, „AAALAC’s Council on Accreditation“) die Programmbeschreibung und führen ihre eigene umfassende Bewertung vor Ort durch. Der Besucherbericht wird dann vom gesamten Akkreditierungsrat überprüft. In der Industrie ist es inzwischen weltweit unabdingbar für die Tierversuchsabteilungen, die AAALAC-Akkreditierung zu erreichen und regelmäßig, d. h. alle drei Jahre, zu erneuern, um den Akkreditierungsstatus zu erhalten (aaalac, 2022).

5.10.7 Alternativen zu Tierversuch – 3R-Prinzip Im deutschen Tierschutzgesetz ist festgelegt, dass Tierversuche nur durchgeführt werden dürfen, wenn für die jeweilige Fragestellung keine Alternativmethoden zur Verfügung stehen. Tierversuche können nur dann genehmigt werden, wenn nachgewiesen wird, dass kein alternatives Verfahren möglich ist und der zu erwartende Nutzen des Experiments das mögliche Leiden der Tiere ethisch rechtfertigt. In der täglichen Praxis der Regulatorischen Toxikologie (Sicherheitstestung) werden sowohl in vitro-, in silico- als auch in vivo-Modelle verwendet. Der jeweilige

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5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Einsatz bzw. die Kombination der Verfahren hängen von den jeweiligen Fragestellungen ab. Offene Fragen, wie z.B. nach einem bislang unbekannten toxikologischen Profil eines Stoffes, erfordern ein Prüfsystem, das eine vergleichbare Komplexität aufweist wie der Mensch. Diese Bedingung erfüllen bisher nur Tiermodelle. Geschlossene Fragen, wie z.B. nach der Hautreizung, können mit Prüfsystemen beantwortet werden, die eine drastisch reduzierte Komplexität aufweisen.

3R-Prinzip – refinement, reduction and replacement Auch in der Prüfung chemischer Substanzen auf gesundheitliche Bedenklichkeit sind Tierversuche noch unerlässlich. Alle an diesen Prüfungen direkt und indirekt beteiligten Laboratorien und Behörden sind sich einig, dass Tierversuche auf das notwendige Minimum beschränkt werden müssen. Als Richtlinie gilt dabei das ethische Prinzip der „3R“ (BfR, 2020a) 1. replace (Ersatz, Vermeiden) 2. reduce (Reduzieren, Verringern) 3. refine (Verfeinern, Verbessern) 3R – refinement, reduction and replacement 1. refinement (Verbesserung) a. Verbesserung der Aussagekraft b. Verbesserung des Studiendesigns c. Verminderung von Stress, Schmerz oder Belastung d. Verbesserung bei der Zucht, Haltung und Pflege der Tiere 2. reduction (Reduktion) a. Reduktion der Anzahl der verwendeten Tiere bei gleicher Studienqualität b. Veränderung des Studiendesigns/Prüfmethode c. parallele Durchführung mehrerer gleicher Studien d. verbesserte Auswertung/biometrische Planung 3. replacement (Ersatz, Vermeidung) a. Entwicklung und Validierung neuer Prüfmethoden (Jahre) und anschließende Umsetzung in nationales und internationales Recht (Jahre) bis zum Ersatz eines Tierversuches b. Der große Traum der Wissenschaft ist nicht, die bisherigen Tierversuche durch Verfahren zu ersetzen, die den Tierversuchen bezüglich ihrer Vorhersagekraft gleichwertig sind. Die Wissenschaft möchte Methoden entwickeln und zur Verfügung stellen, die besser sind und die Nachteile der Tierversuche überwinden! Die Methoden wären dann nicht nur aussagekräftiger, sie wären voraussichtlich auch preiswerter und würden weniger Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen (Goldberg & Hartung, 2007).

5.10 Tierversuche/Tierschutzgesetz

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c. Allerdings zeigen die bisherigen Bemühungen nach mehr als 30 Jahren und umfangreichen Investitionen, dass das Ziel für wichtige und langwierige Studientypen wie z. B. die chronische Toxizität noch nicht in greifbarer Nähe ist. Große Hoffnung besteht aktuell in der Entwicklung hochkomplexer Systeme der Künstlichen Intelligenz (KI), mit der die unterschiedlichen theoretischen Ansätze der Vorhersage toxikologischer Wirkungen und das 'Mining' in umfangreichen Datenbanken intelligent verbunden werden könnte.

5.10.8 Warum immer noch Tierversuche? Der Wunsch, Tierversuche abzuschaffen, ist in den westlichen Industriestaaten weit verbreitet und mehr als verständlich. Es wird deshalb immer wieder die Frage gestellt, warum Tierversuche noch nicht abgeschafft sind, wo es doch so viele geeignete Alternativmethoden gibt. Darauf muss in der Vorlesung eingegangen werden. Der derzeitige Stand verfügbarer in vitro-(Alternativ-)Methoden kann in Kürze wie folgt zusammengefasst werden: • Hautkorrosion/-irritation: Ersatz absehbar, teilweise bereits erfolgt • Augenirritation: Ersatz mit Einschränkungen • Akute orale Toxizität: voller Ersatz in weiter Ferne • Hautsensibilisierung: einige Tests in Entwicklung noch weit von Implementierung • Genotoxizität/Mutagenität: In vitro-Tests existieren und werden breit angewendet, ein vollständiger Ersatz der in vivo-Tests ist unwahrscheinlich. Aktuelle Updates der ICH- und OECD-Guidelines haben sogar die in vivoTests wieder in ihrer Bedeutung gestärkt. • Reproduktions-/Entwicklungstoxizität: sehr komplexer Fragestellung, Ersatz schwierig, völlig neue Ansätze erforderlich! • Kanzerogenitätstests:  diverse Alternativen existieren, wie z.  B. die besprochenen Mutagenitätstests, die vor allem als sog.Screeningstests eingesetzt werden • Systemische Toxizität nach wiederholter Gabe: zahlreiche Ansätze, bisher Ersatz in weiter Ferne • Pharmakokinetik/Toxikokinetik: teilweise bereits ersetzt, schwieriger Rest • große Hoffnung bzgl. interessanter innovativer in vitro Methoden – 3D human cell culture (organoid, spheroid und organ on a chip-Modell) z. B. minibrain (cerebral organoid) aus Stammzellen entwickelt – Genomics- und Proteomicsanalysen (Beigel et al., 2007)

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5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

Schlussfolgerung bzgl. 3Rs (refinement, reduction und replacement) • zahlreiche Fortschritte bei Entwicklung von Alternativmethoden erreicht (replacement) • heute deutlich mehr Finanzinvestitionen in in vitro- als in vivo-Methoden! • trotzdem: kurzfristiger voller Ersatz nur für Hautirritation • Voller Ersatz für komplexe Endpunkte, z.  B. systemische Toxizität, Reproduktions- und Entwicklungstoxizität und Immuntoxizität (z. B. Hautsensibilisierung) ist sehr schwierig. Hoffnung: 3D human organ (spheroid)-Modelle, allerdings ist ein Miniorgan noch kein Miniorganismus • Hoffnung auf schnelle Lösungen zu wecken, ist nicht korrekt! • Parallelfokus: refinement & reduction

Tierversuche – Ziele der Industrie • Abschaffung von Tierversuchen, am besten vollständig • Umstieg auf Alternativmethoden bedeutet für Industrie große Einsparung von Kosten und Zeit!

Beispiel Merck KGaA (weltweiter Pharma- und Chemiekonzern) Merck KGaA (2022 Hauptversammlung) • •

Belén Garijo, CEO Merck „Ich möchte, dass Tierversuche komplett abgeschafft werden.“ Merck-Sprecher Timo Breiner: „Langfristig ist unser Ziel, den Einsatz von Tieren vollständig durch bessere, innovative Alternativen zu ersetzen.“ • Merck-Chefin Belén Garijo leitet persönlich den globalen Tierschutzausschuss des Unternehmens „Group Animal Welfare Council“

Tierversuche – Politik • 2006 EU animal testing „last ressort“ for REACH • 2013 EU animal ban for cosmetics • 2025 NL to end use of animals in safety testing • 2035 US EPA phase-out of animal testing Das Verbot der Tierversuche für Kosmetikprodukte (inkl. Inhaltsstoffe) zeigt: Die Mittel und Wege, auf denen Sicherheit zu erreichen und Risiko zu bestimmen sind,

5.10 Tierversuche/Tierschutzgesetz

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• werden nicht durch die Wissenschaft festgelegt • sondern durch die Gesellschaft und deren Regeln und Gesetze • Gesellschaft (Gesetzgeber, Legislative) definiert, was Sicherheit ist und wie sie abgesichert werden muss

5.10.9  In vitro Alternativmethoden – 3 Beispiele HET-CAM (hen’s egg-chorionallantoic membrane test) Augenirritation/-korrosion • Testsystem: befruchtete Hühnereier; entwickelt von Lüpke • neun Tage bebrütet: Nervengewebe & Schmerzempfinden noch nicht entwickelt • Präparation der CAM • 5 min Exposition der CAM mit Testsubstanz • Beobachtungen: Blutungen, Lyse, Koagulation • verschiedene Scoring-Systeme • akzeptiert bei Zulassungsbehörden in Frankreich, Deutschland, Niederlande und Großbritannien für hochgradig irritierende Stoffe

BCOP (bovine corneal opacity and permeability) Augenirritation/korrosion • Testsystem: Kornea (Hornhaut, Rind frisch isoliert, vom Schlachthof) • Korneahalter – Testsubstanz wird auf die Hornhaut gegeben – Trübung – Permeabilität (Fluoresceinlösung) – in vitro-Score/histopathologische Untersuchung • Verwendung: Kosmetik/Pharma • akzeptiert für hochgradig irritierende Stoffe bei Zulassungsbehörden in Frankreich, Deutschland, Niederlande und Großbritannien

Fischembryotest - Teratogenitätstest (Embryotoxizität) • Fischei-/Fischembryotest: etabliertes in vitro-Modell • Screeningtest für Entwicklungstoxizität (DarT, Nagel, 2002) • Vorteile: – geringe Größe, relativ leicht zu handhaben – große Anzahl transparenter Fischeier – schnelle embryonale Entwicklung (72 h) – geeignet zur Bestimmung teratogener Substanzen, z. B. Vitamin A

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5  Muster-Vorlesungen Gefahrstoffkunde II (Rechtskunde)

• aber: proteratogene Substanzen (z. B. Cyclophosphamid) werden nicht entdeckt Zusatz eines metabolisierenden Systems, des sog. metabolic activation system (MAS) Kombination des DarT mit MAS: mDarT, um auch Stoffe zu erfassen, die metabolische Aktivierung benötigen, um erkannt zu werden

5.10.10 Widersprüchlichkeit politischer Entscheidungen in EU • Kosmetikgrundstoffe dürfen nicht in Tiermodellen überprüft werden. • Alle Chemikalien müssen (in Tiermodellen) geprüft werden, auch wenn sie u. a. in Kosmetika verwendet werden! • Prüfergebnisse (Tiermodelle) dürfen für Kosmetikazulassung nicht verwendet werden!

Teil V

Zusatzinformation

Diese Zusatzinformationen sind nicht Teil der Themen für den Sachkundenachweis nach §11 der Chemikalien Verbotsverordnung. Die beiden zusätzlichen Kapitel sind deshalb insgesamt als Transferwissen zu betrachten.

6

Themen für zusätzliche Seminarveranstaltungen

Die Zeit, die für GFK-Vorlesungsveranstaltungen zur Verfügung steht, ist limitiert, denn die Pflichtinhalte sind umfangreich und müssen verständlich vermittelt werden. Für Themen, die außerhalb des Lehrplans liegen, aber für das Verständnis von Toxikologie und Gefahrstoffkunde sehr lehrreich wären, bleibt keine Zeit. Eine Möglichkeit, trotzdem etwas mehr zu erreichen, könnten zusätzliche Seminarveranstaltungen sein. In derartigen Seminarveranstaltungen könnte interessierten Studierenden angeboten werden, praxisnah die Bewertung von Risiken und Gefährdungen zu üben. Die dafür ausgewählten Themen sollten für die Studierenden attraktiv sein und eine Verbindung zu ihrer beruflichen Lebenswirklichkeit haben. Im Rahmen derartiger Veranstaltungen könnten auch aktuelle Themen näher beleuchtet werden, die sich auch als Aufbauwissen eignen könnten. Als Beispiele sollen hier zwei Themen angeführt werden: Glyphosat und Tattoos. Glyphosat ein breit in den Medien diskutiertes Thema und Tattoos ein von den Medien weitgehend übersehenes Thema, das für viele junge Menschen in Zukunft ein gesundheitliches Problem werden kann.

6.1 Glyphosat – Bewertung der Karzinogenität 6.1.1 Vorbemerkung In jedem Semester sollten in den GFK-Veranstaltungen auch Schadstoffe besprochen werden, die aktuell in den Medien und der Politik diskutiert werden. Das Problem ist, dass der zeitliche Rahmen der GFK-Vorlesungsveranstaltungen zu eng ist, denn zuallererst müssen die Pflichtthemen besprochen werden. Aktuelle Beispiele lassen sich in einem Buch nur begrenzt darstellen, weil zum Zeitpunkt des Druckes die Aktualität nicht mehr gegeben ist.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P.-J. Kramer, Toxikologie und Rechtskunde, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66661-6_6

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6  Themen für zusätzliche …

Als Kompromiss wird in diesem Buch deshalb eine Substanz als Muster gewählt, die allgemein bekannt ist, bereits seit Jahren auch in der Öffentlichkeit diskutiert wird und auch in den nächsten Jahren Gegenstand öffentlicher Diskussionen sein wird. Eine solche Substanz ist Glyphosat. An diesem Beispiel kann den Studierenden der Unterschied zwischen der Risikobetrachtung in Gesellschaft und Politik und der Risikobewertung, wie sie die Wissenschaft und die Fachbehörden durchführen, verdeutlicht werden. Das Beispiel Glyphosat eignet sich zusätzlich auch, um sowohl den umfangreichen EU-Zulassungsprozess für Pflanzenschutzmittel deutlich zu machen als auch, um die Schwierigkeiten und die Verzögerung von Entscheidungen transparent darzustellen, die bei einer solchen Zulassungsentscheidung auftreten können.

6.1.2 Zulassung von Pflanzenschutzmitteln Die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ist in der EU ein zweistufiges Verfahren (Verordnung [EU] 1107/2009). Die Wirkstoffe für Pflanzenschutzmittel werden von der EU-Kommission genehmigt. Die Pflanzenschutzmittelprodukte mit den in der EU zugelassenen Wirkstoffen werden dagegen national zugelassen. Die nationale Zulassungsstelle in Deutschland ist das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) (BMEL, 2022).

EU-Zulassung Pflanzenschutzmittel – Zweistufiges Verfahren 1. EU-Kommission: Zulassung von Wirkstoff für gesamte EU fachliche Bearbeitung: EFSA unter Mithilfe von ECHA 2. EU-Mitgliedstaaten: Zulassung der Produkte, die den Wirkstoff enthalten fachliche Bearbeitung: nationale Zulassungsbehörden EU-Zulassung der Pflanzenschutzmittelwirkstoffe In der EU legt die Verordnung (EU) 1107/2009 die Anforderungen für die Zulassung der Wirkstoffe von Pflanzenschutzmitteln fest. Bevor die einzelnen Pflanzenschutzmittel (Verkaufsprodukte) in den EU-Mitgliedsstaaten zugelassen werden können, muss der Wirkstoff eine EU-weite Zulassung erhalten. Hierzu muss eine Sicherheitsbewertung durchgeführt werden, für die die EU-Kommission verantwortlich zeichnet. Diese Sicherheitsbewertung beinhaltet eine Bewertung möglicher Gefahren für die menschliche Gesundheit und die Umwelt durch den zur Zulassung anstehenden Wirkstoff. Für die fachliche Bearbeitung von Zulassungsanträgen sind die EU-Behörden EFSA (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit) und ECHA (Europäische Chemikalienagentur) zuständig. Zulassungsverfahren Pflanzenschutzmittelprodukte in Deutschland Verantwortlich ist in Deutschland das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL). Drei deutsche Bewertungsbehörden arbeiten dem BVL zu.

6.1  Glyphosat – Bewertung der Karzinogenität

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1. Julius Kühn-Institut (JKI) in Quedlinburg prüft Wirksamkeit, Pflanzenverträglichkeit, praktische Anwendung, Nutzen. 2. Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin bewertet Auswirkungen auf Gesundheit von Mensch und Tier. 3. Umweltbundesamt (UBA) in Berlin bewertet Auswirkungen auf Naturhaushalt.

6.1.3 Glyphosat Das Herbizid Glyphosat wird in der Landwirtschaft zur Unkrautbekämpfung verwendet und z. B. von der Deutschen Bahn eingesetzt, um das Gleisbett frei von Wurzelwachstum zu halten. In der Landwirtschaft erfolgt sein Einsatz i.d.R. zwischen Ernte und Neuaussaat und ersetzt damit die mechanische Bodenbearbeitung (z.B. Pflügen).Zur Frage, wie viele Hersteller weltweit glyphosathaltige Produkte vertreiben, gibt es unterschiedliche Informationen, in jedem Fall sind sie zahlreich: ca.90, die Mehrzahl der Hersteller befinden sich in China. Die konventionelle Landwirtschaft sieht die Vorteile von Glyphosat gegenüber anderen Herbiziden darin, dass es in der Umwelt wenig Mobilität zeigt, relativ schnell verschwindet und gegenüber Tieren weniger Toxizität aufweist. In der Öffentlichkeit wird jedoch sehr an der Unbedenklichkeit von Glyphosat gezweifelt und viele Gruppen fordern ein Verbot der Substanz. Sie wollten zumindest erreichen, dass seine von 2017 bis Ende 2023 gültige EU-Zulassung nicht verlängert wird. Die ökotoxikologische Wirkung erwies sich für ein Verbot jedoch als nicht ausreichend. Einen Lichtblick sahen die Verbotsbefürworter deshalb 2015 in einer Meldung der IARC1, dass Glyphosat von dieser WHO-Organisation in die Kategorie 2A „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft wurde. (EFSA, 2015). Ziel des Glyphosat-Beispiels ist auch, dass die Studierenden die Gelegenheit erhalten sich zu überlegen, zu welcher Gefährdungs- bzw. Risikobewertung sie selbst kommen würden, nachdem sie in den vorangegangenen GFK-Vorlesungsveranstaltungen das dafür notwendige toxikologische und ökotoxikologie Grundwissen und Verstehen erwerben konnten.

Konsequenzen der IARC-Einstufung Eine krebserregende Wirkung bei einem Stoff, der in großen Mengen in die Umwelt ausgebracht wird, muss sehr schnell, zuverlässig und quasi automatisch zu einem Verbot führen, sobald seine krebserregende Wirkung amtlich, d.h. von den zuständigen staatlichen Behörden bestätigt, festgestellt wurde. Ein Verbot oder ein Versagen der Zulassung erwies sich aber auch über diesen Weg als nicht ganz einfach. Das lag daran, dass alle staatlichen Behörden innerhalb der EU, also auch der OECD (inkl. USA), festgestellt hatten, dass bei

1 IARC

– International Agency for Research on Cancer (WHO).

6  Themen für zusätzliche …

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bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung für den Wirkstoff Glyphosat nicht nur keine Zweifel an seiner gesundheitlichen Unbedenklichkeit bestünden, sondern auch eine Einstufung als krebserregend nicht gerechtfertigt wäre. Nach einer wissenschaftlichen Überprüfung hatten die Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) sowie die zuständige US-Behörde (Environmental Protection Agency, EPA) Glyphosat als „nichtkrebserregend“ eingestuft. Eine Einstufung durch die WHO-Organisation IARC hat keine regulatorische Konsequenz, da sie von allen Staaten nur als eine Empfehlung oder Orientierung betrachtet wird, insbesondere von Staaten, die nicht über eigene ausreichend kompetente Behörden verfügen.

ECHA’s Committee for Risk Assessment (RAC) (ECHA, 2017) Helsinki, 15. März 2017 – Das RAC hat die Gefährlichkeit von Glyphosat anhand der Kriterien der CLP-Verordnung bewertet. Das RAC kam zu dem Schluss, dass die derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse die folgenden Einstufungen für Glyphosat gemäß der CLP-Verordnung rechtfertigen: 1. Augenschaden 1; H318 (verursacht schwere Augenschäden) 2. Aquatic Chronic 2; H411 (giftig für Wasserleben mit langanhaltender Wirkung) Das RAC kam zu dem Schluss, dass die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht den Kriterien der CLP-Verordnung zur Einstufung von Glyphosat in spezifische Zielorgantoxizität oder als Karzinogen, als Mutagen oder Reproduktionstoxizität entsprachen. Schlussfolgerung im Jahr 2017 Das Ergebnis der Zulassungs- und Überwachungsbehörden war demnach international gesehen sehr eindeutig. Die staatlichen Behörden benutzen dabei Bewertungs- und Klassifizierungskriterien, die in jahrzehntelanger Arbeit internationaler Expertengruppen (Behörden, Industrie und Academia) harmonisiert und in Richtlinien festgelegt wurden. Die Diskussionen um ein Verbot von Glyphosat wegen karzinogener Wirkung begründen sich jedoch nicht auf diesen behördlichen Bewertungen, sondern auf der Klassifizierung durch die WHO-Organisation IARC2 in Lyon, die ein anderes Bewertungsschema und eine andere Klassifizierung benutzt. Von den Gegnern einer Glyphosat-Zulassung wurde die Klassifizierung der IARC erwartungsgemäß als sehr wichtig und aussagekräftig gewertet.

Vergleich Behörden mit der WHO-Organisation IARC Es ist deshalb für das Verständnis der Studierenden interessant, nicht nur die behördlichen Einstufungskriterien (Abschn. 5.6.3), sondern auch die IARC2 IARC

– International Agency for Research on Cancer (WHO).

6.1  Glyphosat – Bewertung der Karzinogenität

481

Kategorien für krebserregende Eigenschaften von chemischen Schadstoffen, inkl. der Einordnung von Glyphosat und einer Auswahl der von der IARC kategorisierten Stoffe oder Aktivitäten, etwas näher zu betrachten (IARC, 2022).

IARC-Kategorien bezüglich krebserregender Wirkung von Stoffen und Aktivitäten (Beispiele, nicht komplett) 1. Kategorie 1: krebserregend – Ethanol, alkoholische Getränke, Lederstaub, Luftverschmutzung, gesalzener Fisch (chinesisch), Sonnenstrahlen, Tabakrauchen, Holzstaub, Gummifabrikation, verarbeitetes Fleisch (Wurst), Anstreicherarbeit 2. Kategorie 2A: wahrscheinlich krebserregend – rotes Fleisch, Schichtarbeit (nachts), – Nitrat/Nitrit, heiße Getränke (> 65 °C), Glyphosat 3. Kategorie 2B: möglicherweise krebserregend – pickled vegetables (traditional Asian), Textilfabrikation, Radiowellen 4. Kategorie 3: nicht klassifizierbar – Druckertinten, Tee, Steinwolle 5. Kategorie 4: wahrscheinlich nicht krebserregend – bisher keine Einstufung (wird als Kategorie von IARC aktuell nicht mehr benutzt) Den Studierenden muss anhand dieses Beispiels auch plausibel vermittelt werden, dass behördliche Bewertungen und Kategorisierungen immer eine sofortige und unstrittige gesetzliche Konsequenz beinhalten, während dies bei einer Organisation wie der WHO-Organisation IARC nicht der Fall ist. IARCBeschlüsse stellen lediglich eine Orientierung und Empfehlung dar, beide sind nicht gesetzlich bindend.

Zusätzlicher Bewertungsprozess (Karzinogenität) in EU und Deutschland Deutschland 2018: Im Auftrag der EU hatten vier staatliche Institute in Deutschland Glyphosat erneut bewertet. Dabei wurden ausgewertet: • 150 neue toxikologische Studien • 300 ältere toxikologische Studien • 900 wissenschaftliche Publikationen Das Ergebnis dieser sehr umfangreichen Bewertung lautete: Glyphosat zeigt keine mutagene oder kanzerogene Wirkung.

482

6  Themen für zusätzliche …

EU-Zulassung von Glyphosat (Verordnung [EG] Nr. 1107/2009) Nach heftigen Protesten verschiedener Interessengruppen konnte die EUKommission Glyphosat im Sommer 2016 nicht wie geplant für weitere 15 Jahre wieder zulassen. Fünfzehn Jahre hätten dem seit 2009 üblichen Verfahren entsprochen. Die EU-Verordnung sagt: „Ein Wirkstoff, […] für einen Zeitraum von höchstens 15 Jahren genehmigt.“ Mittels eines Kompromisses hat die EUKommission am 12. Dezember 2017 die EU-Zulassung von Glyphosat für weitere fünf Jahre erneuert. Eine Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten hatte dafür gestimmt. Dies bedeutet, dass Glyphosat in der EU eigentlich nur bis zum 15. Dezember 2022 in Pflanzenschutzmittelprodukten verwendet werden durfte. Durch eine weitere Entscheidung wurde dieser Endtermin auf den 13. Dezember 2023 verschoben. Gemäß der EU-Regeln mussten Firmen, die eine Verlängerung der GlyphosatZulassung über den 15. Dezember 2022 hinaus erreichen wollten, drei Jahre zuvor bei der EU-Kommission einen Verlängerungsantrag stellen. Dies erfolgte 2019 durch einen Antrag seitens der Glyphosate Renewal Group.

Glyphosate Renewal Group (GRG) (GRG, 2022) Die Glyphosate Renewal Group (GRG) ist ein Zusammenschluss aus Glyphosat-Herstellerfirmen. Die GRG entstammt der früheren Glyphosat Task Force 2. Ihre Mitglieder sind: Albaugh Europe SARL, Barclay Chemicals Manufacturing Ltd., Bayer Agriculture bvba, Ciech Sarzyna S.A., Industrias Afrasa S.A., Nufarm GMBH & Co. KG, Sinon Corporation, Syngenta Crop Protection AG. Dies sind demnach acht der insgesamt ca. 90 Unternehmen, die weltweit Glyphosat herstellen und vertreiben. Die GRG stellte 2019 den Antrag auf eine erneute Zulassung des Wirkstoffs Glyphosat in der EU. Assessment Group on Glyphosate (AGG) (EU-Commission, 2022b) Die wissenschaftliche Überprüfung eines Zulassungsantrages übernimmt normalerweise ein Mitgliedsstaat, der als Rapporteur („berichterstattender Mitgliedstaat“) bezeichnet wird. Die Bewertung des Rapporteurs wird anschließend von den Zulassungsbehörden der übrigen Mitgliedsstaaten validiert. Der gesamte Prozess wird von der EFSA überwacht und gesteuert. Im Fall von Glyphosat hatten sich die Mitgliedsstaaten im April 2019 darauf geeinigt, dass wegen der ungeheuer großen Zahl von Studien und Publikationen nicht ein Staat, sondern vier Staaten gemeinsam die Rolle des Rapporteurs übernahmen: die Regulierungsbehörden von Frankreich, Ungarn, Niederlande und Schweden. Man gab dieser Gruppe den Namen Assessment Group on Glyphosate (AGG). Am 8. Juni 2020 erreichte ein Dossier aus mehreren hundert Studien und ca. 12.000 Auswertungen wissenschaftlicher Veröffentlichungen das AGG und die EFSA. Ein solches wissenschaftliches Dossier muss alle regulatorischen Dokumente und wissenschaftlichen Publikationen enthalten, die für die Erneuerung der Registrierung nach dem europäischen Pestizidgesetz* erforderlich sind

6.1  Glyphosat – Bewertung der Karzinogenität

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1. Öffentliche Literatur 2. Studienzusammenfassungen 3. Studienberichte zu Glyphosat 4. GRG-Position zu wissenschaftlichen Themen 5. Zugang zum Studium für Nichtmitglieder 6. Renewal Assessment Reports Nach der formalen Überprüfung des Dossiers übernahmen die 4 Zulassungsbehörden die Bewertung der Studien und wissenschaftlichen Publikationen, um daraus einen Entwurf des Assessment of the Renewal (RAR) zu erstellen. Nach den Regeln der EU sollte der RAR im Juli 2021 fertig sein, denn gemäß der Regeln verläuft der Prozess so, dass anschließend eine Periode der öffentlichen Konsultation zu diesem RAR eröffnet wird. Danach würde der RAR an die EFSA und die übrigen EU-Mitgliedsstaaten gegeben, um einen sog. Peer Review durchzuführen. Am Ende dieses Prozesses würde die EFSA ihre Schlussfolgerungen bzgl. der Sicherheit von Glyphosat veröffentlichen und diese an die EU-Kommission (Directorate General for Health and Food Safety) schicken. In der Tat legte das AGG der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) am 15. Juni 2021 einen Entwurf des Renewal Assessment Report (dRAR) zur Erneuerung von Glyphosat vor. Gleichzeitig übermittelte das AGG der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) den Bericht über die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von Glyphosat. Aufbauend auf den wissenschaftlichen Schlussfolgerungen der EFSA musste die Europäische Kommission nun einen Legislativvorschlag für die Erneuerung oder Nichterneuerung der Zulassung von Glyphosat erarbeiten. Ein solcher Legislativvorschlag wird gemäß der Regeln in einem Ausschuss unter dem Vorsitz der Europäischen Kommission diskutiert, an dem Experten aus allen EU-Mitgliedstaaten teilnehmen. Diese Experten stimmen schließlich darüber ab, ob ein Wirkstoff in der EU erneut zugelassen werden sollte oder nicht. Eine positive Abstimmung erfordert eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten, die für den Wirkstoff stimmen. Erst nach der erfolgreichen Erneuerung der Zulassung eines Wirkstoffes können die Produkte, die diesen Wirkstoff enthalten, in jedem Mitgliedstaat für ihre beabsichtigte Verwendung (wieder) zugelassen werden. Ein zentraler Teil des Regulierungsverfahrens zur Erlangung der Zulassung zur Verwendung und Vermarktung von Glyphosat in der EU ist also die Vorlage wissenschaftlicher Nachweise seiner Sicherheit bei den zuständigen nationalen und europäischen Behörden. Die AGG berichtete das Ergebnis ihrer Arbeit an die Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA). Bericht 2021: Glyphosat hat die Zulassungskriterien erfüllt.

Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) Bei der EFSA sind (Stand Oktober 2022) aus den EU-Mitgliedsstaaten zusammengenommen ca. 3000 Seiten Kommentare eingegangen. Die Kommentare mussten von der EFSA und den berichterstattenden Mitgliedstaaten Frankreich, Niederlande, Schweden und Ungarn verarbeitet und in einem Bewertungsbericht ver-

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6  Themen für zusätzliche …

arbeitet werden. EFSA sagt den Bericht für Mitte 2023 voraus und legte ihn im Juli 2023 vor.Die EFSA hat in ihrem Peer-Review der Risikobewertung des Wirkstoffs Glyphosat keine kritischen Problembereiche ermittelt, die in Bezug auf das von ihm ausgehende Risiko für Mensch und Tier oder die Umwelt Anlass zu Bedenken geben.

Europäische Chemikalienagentur (ECHA) 2021: Parallel zur Bewertung der EFSA startete das Committee for Risk Assessment (RAC) der ECHA seine erneute Einstufung von Glyphosat. Das RAC ist befugt, über gefährdende Eigenschaften nachzudenken, jedoch nicht über die Wahrscheinlichkeit der Exposition, also das Risiko. Die final opinion des RAC wurde im Juli 2022 publiziert und konnte in die Risikobewertung der EFSA eingehen. Die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) kam in ihrer Gefahrenbewertung in Bezug auf Glyphosat zu dem Schluss, dass Glyphosat die wissenschaftlichen Kriterien für eine Einstufung als karzinogener, mutagener oder reproduktionstoxischer Stoff nicht erfüllt. Basierend auf der EFSA-Risikobewertung muss die Kommission ihre finale Entscheidung treffen, denn die Zulassung von Glyphosat wäre am 13. Dezember 2023 endgültig abgelaufen (Stand November 2023). Die Entscheidung der EUKommission erfolgte am 16. November 2023 derart, dass die Zulassung des Wirkstoffs um weitere 10 Jahre bis 2033 verlängert wird, allerdings sollen z.B. Mengenbeschränkungen bei der Anwendung entwickelt werden. Die EUKommission musste entscheiden, weil sich die Mitgliedsstaaten nicht auf ein Verbot oder eine Zulassung einigen konnten. Sie wählte deshalb einen Kompromiss: statt 5 Jahre oder 15 Jahre entschied sie 10 Jahre mit zusätzlichen Empfehlungen für Mengenbeschränkungen. Letzteres ist sehr sinnvoll, auch weil Glyphosat sehr preiswert geworden ist (kein Patentschutz), was die Verwender dazu verleiten kann großzügig damit umzugehen.

6.1.4 Glyphosat – Diskussion mit Studierenden Die krebserregende Wirkung von Glyphosat wird wissenschaftlich nicht bewiesen werden, da die Datenlage es nicht erlaubt. Da die Gesellschaft und die Politik Risiken nicht aufgrund einer Datenlage analytisch abschätzen, sondern auf Basis von Überzeugungen, kann der Meinungsbildungsprozess letzten Endes trotzdem doch noch zu einem Verbot wegen krebserregender Wirkung führen. Eine andere Möglichkeit ist, die Diskussion zur krebserregenden Wirkung zu beenden und ein Substanzverbot doch auf anderen Kriterien zu begründen. Aufgrund wissenschaftlicher Daten, ist dies jedoch z.Z. noch nicht möglich. In Meinungsbildungsprozessen spielen die Interessen und Grundüberzeugungen der beteiligten Individuen und auch moralische und kulturelle Argumente eine ausschlaggebende Rolle. Von komplexen wissenschaftlichen Erkenntnissen wird die Mehrheit, inkl. der Medien, nicht erreicht. Als die ARD Tagesschau die Verlängerung der Zulassung am 16.11.2023 verkündete und

6.2  Tattoo – Toxikologische Bewertung

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darüber berichtete, dass die EU-Mitgliedstaaten sich nicht auf ein Verbot einigen konnten, sagte die Sprecherin zum Abschluss wörtlich: "Der Wirkstoff steht im Verdacht, krebserregend zu sein." Die entscheidenden Grundüberzeugungen und moralischen und kulturellen Argumente sind im Fall von Glyphosat die grundsätzliche Abneigung gegen Herbizide und die sie herstellenden Konzerne sowie die Argumente für ein Landwirtschaftssystem, das ohne synthetische Herbizide und Pestizide auskommt.

Diskussionsfolie Glyphosat Wissenschaft bewertet Risiken auf Basis objektiver Datenanalyse • Krebserregende Wirkung von Glyphosat ist wissenschaftlich nicht zu beweisen. • Datenlage erlaubt es nicht. Gesellschaft/Politik bewerten Risiken nicht aufgrund einer Datenlage • Stattdessen öffentlicher Meinungsbildungsprozess (Medien aller Art, Interessengruppen, Aktivistengruppen, …) für Medien gilt: Entwarnungen ziehen weniger Aufmerksamkeit auf sich als Warnungen. • Basis: Annahmen, Glauben, vor allem Geschichten • Ausschlaggebende Rolle spielen: Interessen und Grundüberzeugungen plus moralische und kulturelle Argumente • Komplexe wissenschaftliche Analysen erreichen Mehrheit nicht. Politik kann zu einem Verbot von Glyphosat wegen krebserregender oder einer anderen Wirkung gelangen. Zur Begründung dient in Europa im Unterschied zu USA das Vorsorgeprinzip. Vorsorgeprinzip heißt, dass ein wissenschaftlicher Nachweis nicht erforderlich ist, es genügt, einen begründeten Verdacht zu haben. Deutsche Bundesregierung (14. Oktober 2022, Pressemitteilung Nr. 142/2022) „Die Bundesregierung hat sich darauf verständigt, die Anwendung von Glyphosat in Deutschland zu beenden. Der Ausstiegstermin ist auf den 1.1.2024 datiert und bereits in der aktuell geltenden Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung verankert.“

6.2 Tattoo – Toxikologische Bewertung 6.2.1 Grundlagen Tattoo – Unterschiedliche Typen 1. Professionelle Tattoos kommerzielle Tattoo-Tinten, Tätowierungsmaschine (Tattoo-Gun)

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6  Themen für zusätzliche …

2. Amateur-Tattoos selbstgemachte Tusche, ohne professionelles Gerät selbst gestochen 3. Kosmetische Tattoos Kosmetiktinten, „Permanent-Make-up“ Ersatz für Lidstrich, Lippenstift und Augenbrauenstift, inkl. Augapfeltattoos 4. Medizinische Tattoos Spezialtinten, spezielle Tätowierungsgeräte, Onkokosmetik (z. B. nach BrustOPs), Markierungen, z. B. Kennzeichnung von Bestrahlungsfeldern 5. Traumatische Tattoos Metall-, Glas-, Schmutz- und Asphaltpartikel z. B. Arbeitsunfall (Explosionen) oder Fahrradunfall (Asphaltverletzungen)

Professionelles Tattoo-Stechen mit Tattoo-Gun • Motor erzeugt Drehbewegung mittels Exzenter Bewegung ähnlich Nähmaschine • Stichfrequenz 70–170/s • Stichtiefe (je nach Hautpartie) ca. 1–3 mm

Exposition/Applikationsort Lederhaut (Dermis) Um ein dauerhaftes Tattoo zu erzeugen, muss der Chemikaliencocktail mit den Farbpigmenten in die Lederhaut (Dermis) appliziert werden. • Intradermale Exposition • Kontakt mit Lymphe und Blut → systemische Bioverfügbarkeit • Exposition/Dosis: 1–2 mg Pigment pro cm2

Lederhaut (Dermis) – Funktionen (Abb. 6.1) 1. Versorgung Epidermis mit Nährstoffen 2. Abtransport von Abfallprodukten 3. Bindegewebe mit elastischen Fasern Basisstruktur für Widerstandsfähigkeit der Haut 4. Blutkapillaren und initiale Lymphgefäße 5. Nerven und glatte Muskelzellen 6. Sensoren (Tast-, Temperatur- und Schmerzwahrnehmung) 7. Immunabwehr – Immunzellen: Makrophagen, Lymphozyten, Plasmazellen, Mastzellen, Granulozyten und Monozyten 8. Haarfollikel, Schweiß- und Talgdrüsen

487

6.2  Tattoo – Toxikologische Bewertung

Melanozyten EPIDERMIS

DERMIS

FETTGEWEBE

Schweißdrüse Blutgefäße

HaarFollikel Talgdrüse

Abb. 6.1  Haut – Aufbau. (Quelle: Public Domain US National Institute of Health (NIH, 2010))

Tätowierung – Drei Schritte 1. Vorbehandlung der Haut a. Haut geschmeidig machen (Schmiermittel, Silikon- oder Petroleumsalbe) 2. Stechen des Tattoo a. Injektion in Dermis (intradermale Exposition von Chemikaliencocktail) (Pigmente, Zusatzstoffe bzw. Formulierungshilfsstoffe) b. Tattoo-Gun, ca. 70–170 Stiche/s c. Kontakt mit Lymphe und Blut (Bioverfügbarkeit) 3. Nachbehandlung der Haut („Wundheilungscreme“) a. Wundheilung hunderttausender Ministichwunden b. Schutz vor Eindringen von Mikroorganismen Tätowierungsnadel stanzt Wunde, in gestanzter Wunde entsteht nach Rückzug von Nadel kurzzeitig Vakuum → Tattoo-Tinte wird nicht injiziert, sondern angesaugt

Was ist essenziell, damit Tattoo entsteht? 1. Entzündungsreaktion – Tätowiervorgang verletzt Haut – Gewebetrauma (Zelltrümmer) 2. Heilungsprozess – Im Blut patrouillierende Monozyten wandern in großer Zahl zum Ort des Stechens (dort Differenzierung zu Makrophagen) – Makrophagen (gewebespezifische Fresszellen) i. nehmen Zelltrümmer und Pigmente auf (Phagozytose) ii. vollgefressen mit Zelltrümmern + Pigmenten

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6  Themen für zusätzliche …

Makrophagen sorgen für Abschluss der Heilung • Zelltrümmer → Abbau und Recycling → Gewebehomöostase • Pigment kann im Unterschied zu Zelltrümmern nicht abgebaut werden (biologisch/chemisch stabil) – Speicherung in Makrophagen – langlebige Zellen (30–90 Tage) – gewebeständige Zellen (ortstreu) • Tattoo fertig

Warum bleibt Tattoo stabil? • Situation in Lederhaut (Dermis) ist nicht statisch, sondern dynamisch. • Makrophagen werden alle 30–90 Tage durch neue Zellen ausgetauscht. • Dabei wird Pigment frei und wird von nächster Makrophagengeneration aufgenommen. • Pigment geht bei diesem Prozess zwar verloren, die applizierte Menge ist aber trotzdem für Jahre ausreichend. • Nicht wieder aufgenommenes Pigment gelangt über die Lymphe in den übrigen Organismus.

6.2.2 Tattoo-Tinte – Was ist drin? 1. Pigmente – anorganische Pigmente – organische Pigmente 2. Zusatzstoffe bzw. Formulierungshilfsstoffe (Chemikalien-Cocktail)

Tattoo-Pigmente 1. Anforderungen – unlöslich (Anwendungsbereich) – kräftige, attraktive Farben – lange Haltbarkeit – chemisch stabil – enzymatisch nicht abbaubar – lichtstabil – keine (wenig) Verteilung im Organismus, keine Ausscheidung 2. Herkunft – Produktion – entwickelt, produziert und registriert für industrielle Verwendung (Autolacke, Anstrichfarben, Plastikfarben, Druckertoner, …) – Pigmente nicht für Tattoos entwickelt und produziert!

6.2  Tattoo – Toxikologische Bewertung

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Anorganische Tattoo-Pigmente • Schwarzpigmente – Carbon Black (Industrieruß, Farbruß) (C.I.3 Pigment Black 7) – (allein für Reifen ca. 10 Mio. t/Jahr) – Eisenoxidschwarz (C.I. Pigment Black 11) (Mischkristall Fe2O3 + FeO) • Weißpigment – Titandioxid, TiO2 (C.I. Pigment White 6) (ca. 5 Mio. t/Jahr) – Weiß: Bariumsulfat, Zink • Klassische Buntpigmente (sehr variable Farben) – Blau: Aluminium (Lapislazuli), Kupferoxide, Cobalt-Aluminium-Mischoxid, Thénards Blau – Gelb: Cadmiumsulfid, Nickel-Titan-Gelb (C.I. Pigment Yellow 53) – Grün: Chrom(III)oxid, Bleichromat – Rot: Quecksilbersulfid, Cadmiumrot – Graumetallic: Antimon Organische Tattoo-Pigmente – Top-Produkte • Azofarbstoffe (bzw. Hydrazofarbstoffe) – C.I. Pigment Rot 170 – C.I. Pigment Orange 13 • Kupferphthalocyanine • C.I. Pigment Blau 15 (Pigment Blau 15:3 seit Januar 2023 in EU verboten, Ersatzpigmente unklar) • C.I. Pigment Grün 7 (seit Januar 2023 in EU verboten, Ersatzpigmente unklar) • Mehrheit aller farbigen, professionellen Tattoos nutzt diese Pigmente. Die Verbote erfolgen im Rahmen von REACH, also einem System das nicht für Tattoo-Chemikalien gedacht ist, sondern für Industriechemikalien. Eine Positivliste zugelassener Produkte für eine intradermale Injektion gibt es nicht, weil es keine Zulassung für Tattoo-Produkte gibt. Es ist offen, wie die Verbote kontrolliert werden sollen, da es keine Tattoo-Aufsicht gibt und diese Industriechemikalien ohne Probleme gekauft werden können. C.I. Pigment Rot 170 Azopigment (Azo-Hydrazo-Tautomerie), C.I. 12475 entwickelt in 1960er Jahren für Farben, Lacke und Kunststoffe (PVC), Produktion > 1000 Jahrestonnen CLP-Gefahrstoffkennzeichnung Gefahr

3 C.I. = colour

index.

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6  Themen für zusätzliche …

Gefahrenhinweise (hazard statements) • H317 Kann allergische Hautreaktionen verursachen • H319 Verursacht schwere Augenreizung C.I. Pigment Orange 13 Disazopyrazolon, C.I.21110. unter REACH als Industriechemikalie registriert, Produktion > 1000 Jahrestonnen. CLP-Gefahrstoffkennzeichnung liegt nicht vor! Europäische Chemikalienbehörde (ECHA) stellt fest: „ECHA has no data from registration dossiers on the precautionary measures for using this substance.” mit anderen Worten: Man hat keine Ahnung, was diese Substanz kann! Verwendung laut ECHA: “… is used in the following products: coating products, inks and toners and polymers”

C.I. Pigment Blue 15 Kupferphthalocyanin C.I. 74160. häufigstes Pigment für blauen Farbbereich in Lacken und Anstrichfarben, Kunststoffen und Druckfarben (10.0000–100.000 Jahrestonnen) hohe Temperaturbeständigkeit ausgezeichnete Echtheit gegen Licht, Wetter und chemische Einflüsse BfR*: in Haarfärbemitteln verboten → EU-Entscheidung: ab 2023 in EU für Tattoos verboten C.I. Pigment Grün 7 Polychlorkupferphthalocyanin C.I. 74260. Produktion: 1000–10.000 Jahrestonnen für Druckfarben, Anstrichmittel und Kunststoffe BfR: in Haarfärbemitteln verboten → EU-Entscheidung: ab 2023 in EU für Tattoos verboten Schlussfolgerung Die Sicherheit der Pigmente ist zum allergrößten Teil völlig unbekannt und von einzelnen Pigmenten ist sowohl eine allergene als auch eine mutagene und krebserregende Wirkung nachgewiesen. Die Tattoo-Pigmente sind Industriefarbpigmente, die in Lacken und ähnlichen Anwendungen Verwendung finden. Diese Industrieprodukte wurden nicht für die Anwendung am Menschen entwickelt, sondern z. B. als Pigmente für Autolacke und Druckerfarben. Es ist deshalb verständlich, dass die EU nach jahrelangem Zögern zumindest zwei kritische Farbpigmente für Tattoos verboten hat.

6.2  Tattoo – Toxikologische Bewertung

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Zusatzstoffe/Formulierungshilfsstoffe 1. Trägerflüssigkeit: EtOH, Glycerin, H2O, CH2O, Frostschutzmittel, … 2. Dispersionsmittel und Coatings (PEGs, Akrylate, …) 3. Konservierungsmittel, häufig Benzoisothiazolinon (allergen) 4. Bindemittel/Verdicker (Ziel → Nicht-Newton'sche Flüssigkeit), z. B. Schellack + Ammoniak, Polyvinylpyrrolidone (PVP, Povidon) Zahlreiche und oft geheime Rezepte, „künstlerische Freiheit“ der Tattoo-Artists 1. sehr variable Reinheit aller Komponenten 2. Verunreinigungen (Synthese, Lagerung, …) 3. Kontamination mit Mikroorganismen (Bakterien, Pilze) sowie mit Viren

6.2.3 Komplikationen durch intradermale Injektion von Tattoo-Pigmenten Welche Tattoo-Komplikationen sind berichtet? 1. viral Virusinfektion 2. mikrobiell bakterielle Infektion, Pilzinfektion bzw. Kombination aus beiden 3. dermatologisch Allergie, Tumor, Vernarbung, … 4. systemisch gesamtes Organsystem bzw. mehrere Organe Tattoos – Virusinfektion • Kundschaft, Arbeitsweise und Geräte der Tattoo-Artists • Hepatitis C und B, Papilloma, Herpes und HIV beschrieben • Hauptproblem Hepatitis C Epidemiologie – Tätowierte erkranken zweimal häufiger an Hepatitis C als Nichttätowierte. – Latenzzeit 20–30 Jahre – 2030–2040 tattoobedingte Hepatitis-C-Welle erwartet (schwere Lebererkrankungen wie Leberzirrhose und Leberzellkarzinom)

Tattoos – Mikrobielle Infektionen Bakterien und Pilze: frisches Tattoo (Mikroverletzungen) ist eine „optimale“ tausendfache Eintrittspforte Pilze: Aspergillus fumigatus u. a. Bakterien: oft Streptococcus pyogenes und Staphylococcus aureus, aber auch Treponema pallidum (Syphilis) und Mykobakterien

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Mykobakterien • Mycobacterium tuberculosis, M. leprae, M. chelonae, M. hämophilum, M. abscessus, … • in Wasser und Boden weit verbreitet, bei Hautläsion (Eintrittspforte) gefährlich • Infektion – sehr robuste Bakterien – Zellwand (wachsartig, fettreich) – Stoffwechsel (angepasst) – Antibiotikaresistenz – Abkapselung im Phagosom (Makrophagen) – Granulombildung – lebenslang Erkrankungsmöglichkeit! – M. tuberculosis: ca. 1/3 Weltbevölkerung infiziert • zahlreiche ernste Erkrankungen, auch systemisch!

Dermatologische Komplikationen • Granulome • Keloide (gutartige Tumoren) • Psoriasis (Schuppenflechte) • Hyperkeratosen • Lichen planus (Knötchenflechte) • Ekzeme, Ulzera, … • rote und gelbe Pigmente am problematischsten • häufig allergener Mechanismus

Systemische Komplikationen – Migration von Pigmenten Es ist bewiesen, dass ein beträchtlicher Teil (meist ca. 30–40 %) der Pigmente als Nanopartikel systemisch in den Organismus aufgenommen werden (Migration) und beispielsweise sehr lange in damit gefärbten Lymphknoten (Abb. 6.2) sichtbar sind. Auch in anderen Organen wie dem Gehirn wurden Pigmentansammlungen gefunden. Die Studierenden werden gefragt, ob sie dauerhaft gefärbte Lymphknoten und Gehirne haben möchten! • Pigmente migrieren in alle Bereiche des Körpers, inkl. Gehirn 30 % der Pigmente landen nach dem Stechen nicht im Tattoo, sondern werden stattdessen über Lymphe und Blut im Organismus verteilt. Im späteren Verlauf erhöht sich dieser Prozentsatz deutlich. • Primär migrieren die Pigmente zum nächsten regionären Lymphknoten (schwarz, persistent) – können jeden Typ der Zellfunktion beeinträchtigen – jegliche Art von Gesundheitsrisiko, inkl. Karzinogenität

6.2  Tattoo – Toxikologische Bewertung

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Abb. 6.2  Tattoo-Pigmente in menschlichem Lymphknoten. (© Prof. Wolfgang Bäumler, Universität Regensburg (Bäumler, 2022))

6.2.4 Prinzipielle Tattoo-Probleme • Exposition → intern und lebenslang (intradermale Ablagerung plus Akkumulation an anderer Stelle im Organismus) • Tinten (gegenwärtig kein wirkliches Wissen zur Sicherheit verfügbar) • Stoffe und Stoffzubereitungen sind bzgl. möglicher Gesundheitsrisiken nach intradermaler Injektion nicht geprüft. • Tätowiermittel-Verordnung (BMJV, Verordnung über Mittel zum Tätowieren einschließlich bestimmter vergleichbarer Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen [Tätowiermittel-Verordnung, TätoV], 2016) enthält – Forderung nach Mitteilung der Stoffe und der Kennzeichnung als Tätowiermittel – Verbotsliste (Azofarbstoffe, …), die auf den Kosmetik-Verordnungen beruht • Allergische Reaktionen können nach Monaten oder Jahren auftreten • Nichts kann einen potenziellen Schaden verhindern, sobald die Injektion erfolgte!

Tattoo – Datendefizit Die Langzeitwirkung auf die betroffenen Organe kann noch nicht beurteilt werden, denn die toxikologische Bewertung ist schwierig, da entsprechende Prüfungen an Tieren (intra- und subkutane Injektion) als unethisch gelten und deshalb nicht erlaubt sind, denn das Stechen von Tattoos ist freiwillig und erfolgt ohne medizinische Indikation. Zum Vergleich: Auch zur Sicherheitsprüfung von Kosmetika sind seit einigen Jahren keine Prüfungen an Tieren erlaubt! Für die Studierenden ist wichtig zu erfahren, dass kein einziges Tattoo-Pigment auf seine gesundheitliche Auswirkung nach intradermaler Injektion überprüft wurde!

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6  Themen für zusätzliche …

6.2.5 Tattoo-Entfernung mit Laser Auch die Standardmethode der Laserentfernung von Tattoos birgt eine Reihe gesundheitlicher Risiken, weil dabei die Pigmente chemisch verändert werden und neue Schadstoffe entstehen können, z. B. kann aus Cadmiumfarbstoffen das hochtoxische (krebserregende) Cadmiumoxid entstehen. Falls eine Kontaktdermatitis besteht, kann diese nicht mit Laser behandelt werden, da dadurch die Pigmente weiter verteilt werden und damit zu einer Vergrößerung des Areals führen. In diesem Fall bleibt nur die operative Entfernung, die allerdings bei einem großflächigen Tattoo nicht möglich ist (Abb. 6.3).

Tattoo-Entfernung Laser – Problem Laserlichtblitz zertrümmert Makrophagen → Pigmente werden frei. Pigmente → farblose Spaltprodukte, u. a. HCN, Benzonitril, Anilin, diverse primäre aromatische Amine (PPAs), Acrylnitril, 1,3-Butadien, … Pigmentspaltprodukte → Lymphe (Lymphknoten) → Blut Ziel: Ausscheidung bzw. Metabolisierung Viele Pigmentpartikel bleiben im Gewebe (Haut) zurück. fünf bis zehn Behandlungen (dazwischen vier bis sechs Wochen Pause) Tattoo-Entfernung – Vergleich mit Tattoo-Stechen 1. schmerzhafter 2. langwieriger 3. risikoreicher, zahlreiche Komplikationen Allergien, Blutergüsse, Schwellungen, Verfärbungen, Infektionen, Vernarbungen, … 4. teurer 5. keine Garantie auf Erfolg Abb. 6.3  Folge von Tattoo: Keloid. (Quelle: © AdobeStock)

6.2  Tattoo – Toxikologische Bewertung

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6.2.6 Zusammenfassung Weltweites unkontrollieres Humanexperiment findet statt Fiktiver Titel: Intradermale Exposition von Chemikaliencocktails Teilnehmer*innen: Tattoo-Träger*innen – viele Millionen, alleine Europa: ca. 100 Mio. Tattoo-Artists – viele Tausend Ausbildung z. B. durch Online-Kurse, ohne wirklichen Qualifikationsnachweis

Tattoo-Komplikationen – Hitliste 1. Infektionen (Entzündungen sind gewollt, Infektionen nicht!) 2. allergische Reaktionen (Spättypallergie, Kontaktallergie, zellulär) (Latenzzeit: Tage, Wochen, Monate oder Jahre nach Stechen) 3. Hautstoffwechsel Schweißproduktion zu ca. 50 % reduziert 4. Lichtschutz Haut stark reduziert (Photosensitivität) Empfindlichkeit für Sonne, im Solarium erhöht → Sonnenbrand 5. Phototoxizität/Photozytotoxizität/Photoallergie – Schwellung, Risse, Abschälung, Blasen, Narben, Keratinisierung – photoallergische Dermatitis, lichtinduzierte Urtikaria (Nesselsucht, Quaddelsucht) 6. Granuloma (Knötchen, abgekapselte Makrophagenansammlung) 7. Keloide (Bindegewebswucherung) und andere gutartige Tumoren 8. bösartige Tumoren bisher eher selten, aber beschrieben – Melanome, Basalzellkarzinom, Dermatofibrosarkom, Plattenepithelkarzinom, … 9. Schwierigkeiten in medizinischer Diagnostik – Diagnose erschwert, Beobachtung von Muttermalen oft unmöglich – Fehldiagnosen: geschwollene Lymphknoten (Malignität?), Pseudolymphome 10. MRT-Diagnostik – Störung – eisenhaltige Pigmente, z. B. Eisenoxidschwarz, reagieren (Verbrennungsgefahr) Botschaft eines Toxikologen 1. Tattoos sind dauerhaft 2. Komplikationen und Schmerzen sind dauerhaft 3. Nichts kann potenziellen Schaden verhindern, sobald Tattoo gestochen ist! 4. Es gibt keine unbedenkliche Tätowierung. 5. Tätowiermittel beinhalten „Risiken, die unter die Haut gehen“ → Think before you ink!

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