Dis/ability History Goes Public - Praktiken und Perspektiven der Wissensvermittlung 9783839448045

Experimentally tested instructions on knowledge communication for teaching dis/ability research in schools, universities

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German Pages 504 Year 2020

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Dank
EINFÜHRUNG
Dis/ability History – forschend lernen, lehren und vermitteln
Disability History Goes Public: Public Disability History als shared authority
(NICHT)BEHINDERUNG – GESCHLECHT – MACHT. KATEGORIEN, DISKURSE UND ALLTAGSPRAKTIKEN IM FOKUS DER HOCHSCHULLEHRE
Eine Aufgabe für die Lehre: Analyse der machtvollen Konstruktion von Nicht_behinderung
Biopolitik in der Hochschullehre?
Intersektionalität für Anfänger*innen – erklärt am Beispiel Behinderung und Geschlecht
Dis/ability und Gender im westdeutschen Behindertensport
PERSPEKTIVEN FÜR UNTERRICHT UND LEHRE – MEDIEN DER WISSENSVERMITTLUNG IM (LEHRAMTS)STUDIUM
Quellen für alle und von allen?
Agency von Objekten der Psychiatriegeschichte – Was Dinge für das Lehramtsstudium leisten können
Dis/Ability – Hollywood – Science-Fiction: Mit X-Men die Macht des Mediums Film vermitteln
Dis/ability History (nicht nur) der Vormoderne in der Lehre
Pelzige Bischöfe und Kopfärmler auf Kriechbänkchen – Im Medium der margins die Materialität mittelalterlicher Handschriften und Dis/ability History studieren
EXPERIMENTE – LEHR- UND LERNPROJEKTE JENSEITS DER FACHGRENZEN – ZUGÄNGE ZUM ÖFFENTLICHEN RAUM
Kulturelle Teilhabe und Heterogenität: Kunstgeschichte trifft Rehabilitationswissenschaften in der Dortmunder Stadtkirche St. Reinoldi
Dis/ability History und didaktische Perspektiven – ein Lehrprojekt an der Universität Bremen
Das (A)ndere (W)ahrnehmen – Ästhetische Forschung als Lern- und Lehrprinzip im Feld der Disability History
Akten und Aktionen. Ein interdisziplinäres Forschungs- und Inszenierungsprojekt der Geschichtswissenschaft und der Performance Studies zur Psychiatriegeschichte
Blinde und sehbeeinträchtigte Menschen im Museum: Zugänglichkeit, Vermittlung und Identitätsbildung
Shaping dis/ability? Frühneuzeitliche Prothesen als Forschungsund Vermittlungsgegenstände der Artifact History
Autorinnen und Autoren
Sachregister
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Dis/ability History Goes Public - Praktiken und Perspektiven der Wissensvermittlung
 9783839448045

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Cordula Nolte (Hg.) Dis/ability History Goes Public – Praktiken und Perspektiven der Wissensvermittlung

Disability Studies. Körper – Macht – Differenz  | Band 15

Editorial Die wissenschaftliche Buchreihe Disability Studies: Körper – Macht – Differenz untersucht »Behinderung« als eine historische, soziale und kulturelle Konstruktion; sie befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen Machtverhältnissen und symbolischen Bedeutungen. Die Reihe will neue Perspektiven eröffnen, die auch den medizinischen, pädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Umgang mit »Behinderung« korrigieren und erweitern. Sie geht aus von Phänomenen verkörperter Differenz. Fundamentale Ordnungskonzepte, wie sie sich in Begriffen von Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit, körperlicher Unversehrtheit und subjektiver Identität manifestieren, werden dabei kritisch reflektiert. Im Horizont gesellschaftlicher Entwicklungen will die Buchreihe Disability Studies zur Erforschung zentraler Themen der Moderne beitragen: Vernunft, Menschenwürde, Gleichheit, Autonomie und Solidarität. Die Reihe wird herausgegeben von Anne Waldschmidt (Internationale Forschungsstelle Disability Studies, Universität zu Köln), in Zusammenarbeit mit Thomas Macho (Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften, Humboldt-Universität Berlin), Werner Schneider (Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg), Anja Tervooren (Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen) und Heike Zirden (Berlin).

Cordula Nolte, geb. 1958, ist Professorin für die Geschichte des Mittelalters an der Universität Bremen. Zu ihren Forschungs- und Lehrschwerpunkten gehört Dis/ ability in der Vormoderne. Sie initiierte den interdisziplinären Forschungsverbund »Homo debilis«.

Cordula Nolte (Hg.)

Dis/ability History Goes Public – Praktiken und Perspektiven der Wissensvermittlung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Collage eines blinden Ausstellungsbesuchers, inspiriert durch Werke des Surrealisten Fernando Azevedo (Calouste Gulbenkian Museum, Lissabon 2013). © Patrícia Roque Martins Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4804-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4804-5 https://doi.org/10.14361/9783839448045 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Dank | 9

EINFÜHRUNG Dis/ability History – forschend lernen, lehren und vermitteln | 13

Cordula Nolte

Disability History Goes Public: Public Disability History als shared authority | 27

Sebastian Barsch

(NICHT)BEHINDERUNG – GESCHLECHT – MACHT. KATEGORIEN, DISKURSE UND ALLTAGSPRAKTIKEN IM FOKUS DER HOCHSCHULLEHRE Eine Aufgabe für die Lehre: Analyse der machtvollen Konstruktion von Nicht_behinderung | 51

Marianne Hirschberg

Biopolitik in der Hochschullehre? Alltag, Geschlecht und Behinderung im Zeitalter der Gen- und Reproduktionstechnologien | 77

Anne Klein

Intersektionalität für Anfänger*innen – erklärt am Beispiel Behinderung und Geschlecht | 115

Swantje Köbsell

Dis/ability und Gender im westdeutschen Behindertensport Eine intersektionale Analyse über die Konstruktion und Gegenwartsrelevanz zeitgeschichtlich wirkmächtiger Ungleichheitskategorien | 153

Sebastian Schlund

PERSPEKTIVEN FÜR UNTERRICHT UND LEHRE – MEDIEN DER WISSENSVERMITTLUNG IM (LEHRAMTS)STUDIUM Quellen für alle und von allen? Potentiale einer wissenschaftlich reflektierten Public Disability History für schulische und universitäre Lehre am Beispiel der „Quellen zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen“ (QGMB) | 18 3

Raphael Rössel

Agency von Objekten der Psychiatriegeschichte – Was Dinge für das Lehramtsstudium leisten können ..211

Bettina Degner, Ralph Höger

Dis/Ability – Hollywood – Science-Fiction: Mit X-Men die Macht des Mediums Film vermitteln 237

Frederike Fürst, Nane Kleymann, unter Mitarbeit von Cordula Nolte Dis/ability History (nicht nur) der Vormoderne in der Lehre

Patrick Schmidt

Pelzige Bischöfe und Kopfärmler auf Kriechbänkchen – Im Medium der margins die Materialität mittelalterlicher Handschriften und Dis/ability History studieren 281

Jan Ulrich Büttner

EXPERIMENTE – LEHR- UND LERNPROJEKTE JENSEITS DER FACHGRENZEN – ZUGÄNGE ZUM ÖFFENTLICHEN RAUM Kulturelle Teilhabe und Heterogenität: Kunstgeschichte trifft Rehabilitationswissenschaften in der Dortmunder Stadtkirche St. Reinoldi 323

Ann Kristin Thrun, Barbara Welzel

265

Dis/ability History und didaktische Perspektiven – ein Lehrprojekt an der Universität Bremen 345

Sabine Horn, Natascha Korff

Das (A)ndere (W)ahrnehmen – Ästhetische Forschung als Lern- und Lehrprinzip im Feld der Disability History 369

Bianca Frohne

Akten und Aktionen. Ein interdisziplinäres Forschungs- und Inszenierungsprojekt der Geschichtswissenschaft und der Performance Studies zur Psychiatriegeschichte 399

Alan Maciejewski, Cordula Nolte, Annika Port, Özlem Sayli, Johannes Strauß, Clara Wiebe Blinde und sehbeeinträchtigte Menschen im Museum: Zugänglichkeit, Vermittlung und Identitätsbildung 429

Patrícia Roque Martins (aus dem Englischen übersetzt von Cordula Nolte) Shaping dis/ability? Frühneuzeitliche Prothesen als Forschungsund Vermittlungsgegenstände der Artifact History 455

Mareike Heide, mit einem Beitrag von Cordula Nolte Autorinnen und Autoren 487 Sachregister 491

Dank

Dieses Buch entstand in enger Zusammenarbeit mit Jan Ulrich Büttner und Dietlind Heckelen. Als Kernteam führten die beiden fast zwei Jahre lang wesentliche Schritte des Prozesses durch, an dessen Ende ein druckreifes Manuskript stand. Zu ihren Tätigkeiten gehörten unter anderem die Mitwirkung an der Konzeptentwicklung, Recherchen, Korrespondenzen, Beschaffung von Materialien, Textprüfungen und -korrekturen, technische Unterstützung und die Mitarbeit an der Erstellung des Typoskripts. Für diese ebenso zuverlässige wie inspirierende Kooperation danke ich Dietlind Heckelen und Jan Ulrich Büttner ganz herzlich. Cordula Nolte, Bremen, im Februar 2020

Einführung

Dis/ability History – forschend lernen, lehren und vermitteln Cordula Nolte

Seit einigen Jahren etabliert sich Dis/ability History in der internationalen akademischen Welt. Die wissenschaftliche Bedeutung dieses Ansatzes hat sich zügig herauskristallisiert, denn Dis/ability erwies sich schnell als eine produktive analytische Kategorie – über die Epochengrenzen hinweg und quer durch die Gegenstandsbereiche verschiedener historischer Disziplinen. An der wachsenden Zahl von Forschungsprojekten, Tagungen und Publikationen ist abzulesen, wie sich das Forschungsfeld ausdifferenziert, erweitert und Impulse aus anderen innovativen Konzepten wie etwa Intersektionalitätsstudien oder Crip Theory aufnimmt.1 Diese Ausgestaltungsprozesse sind noch nicht abgeschlossen, so dass Dis/ability History gegenwärtig als ein vielseitiges, offenes Forschungsprogramm erscheint.2 Grundsätzlich sind sich Dis/ability Historians, trotz mancher Meinungsverschiedenheiten, einig in der Einschätzung, dass ihre Forschungen, selbst wenn sie nicht direkte Interventionen bezwecken, die Chance bieten, gesellschaftspolitische Veränderungen zu fördern. In den letzten Jahren wächst das Bewusstsein, dass Dis/ability History im Zuge der politischen Agenda, eine partizipative und inklusive Gesellschaft zu verwirklichen, unmittelbar „angewandt“ werden kann. Als ein starker Motor wirkte dabei die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008, durch deren Zielsetzungen einer inklusiven Bildungspolitik gerade auch neuartige Maßnahmen der Produktion, Vermittlung und Nutzung von Wissen und Wissenschaft angeregt wurden. Die Erkenntnis der Nutzbarkeit von Dis/ability History seitens verschiedener Akteure, die sich politisch, sozial und kulturell engagieren,

1

Anstelle einzelner beispielhafter Belege verweise ich auf die reichhaltigen Bibliographien der Bandbeiträge und auf die in Fußnote 4 genannten Forschungsverbünde.

2

Mit Bezug zur Vormoderne Frohne/Nolte/Kerth/Halle 2017, 32-40.

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hat mittlerweile zur Ausprägung der Public Disability History (bzw. Public Dis/ability History in der hier bevorzugten Schreibweise) geführt.3 Ihr Anliegen ist es, aktuelle Forschung mit laufenden Debatten und Aktivitäten zu Partizipation, Inklusion und Diversität zu verknüpfen und somit, über den Wissenschaftsbetrieb hinaus, öffentlich und politisch wirksam zu machen. Wie Public History generell versteht sich auch Public Dis/ability History gleichermaßen als eine Forschungsperspektive wie als ein Instrumentarium, geschichtliches Wissen öffentlich zugänglich zu machen. Als „öffentlich“ können dabei unterschiedliche Instanzen, Einrichtungen, Räume und Kreise aufgefasst werden. So stellen Hochschulen und Schulen Öffentlichkeiten mit spezifischen Strukturen und Reichweiten dar, eng interagierend mit der „breiten“, allgemeinen Öffentlichkeit außerhalb des akademischen Kosmos. Wie Geschichtsvermittlung in der universitären Öffentlichkeit, dem Ort der Ausbildung für im weiten Sinn „unterrichtende“ Berufe, stattfindet und wie sie auf das historische Lernen in Schulen und Bildungseinrichtungen jeglicher Art ausstrahlt, ist der Gegenstand dieses Bandes. Das Potential von Dis/ability History für forschendes Lernen, inklusive Geschichtsvermittlung und partizipative Bildungs- und Kulturprojekte tritt in der universitären, forschungsbasierten Lehre zunehmend zu Tage, wird aber längst noch nicht systematisch erschlossen und genutzt. Auch findet noch keine konsequente Verzahnung von Public History und Dis/ability History statt, obwohl dies naheliegen würde. Beide Ansätze haben offenkundig Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Ziele und das Selbstverständnis, etwa was den Anspruch auf Zugänglichkeit, Teilhabe und fachwissenschaftliche Fundierung angeht. Auch die programmatische, definitorische und begriffliche Bandbreite ist ein gemeinsames Merkmal. Gleichwohl verläuft die universitäre Verankerung der beiden Richtungen bis dato getrennt und unterschiedlich: Während der Boom von Public History zügig dazu geführt hat, dass an etlichen deutschen Universitäten neue Studiengänge bzw. Studienschwerpunkte eingerichtet wurden (Lücke/Zündorf 2018, 17-21), ist (Public) Dis/ability History noch nicht in den Curricula angekommen. Die in diesem Band mehrfach konstatierte „Konjunktur“ von Dis/ability History ist weitgehend den

3

Eine Vorreiterrolle kommt dem von Sebastian Barsch, Anne Klein, Ylva Söderfeldt und Pieter Verstraete edierten Blog Public Disability History zu, https://www.publicdisabilityhistory.org/ vom 20.12.2019. – Die Schreibweise „Dis/ability“ unterstreicht, dass es um das Wechselspiel der Kategorien und ihre Zusammengehörigkeit innerhalb eines Kontinuums geht. Vgl. Nolte 2015a, 4, basierend auf Waldschmidt 2010, 20.

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individuellen Aktivitäten einzelner Dozent*innen mit ihren Arbeitsteams, Projekten und Netzwerken zu verdanken.4 In jüngster Zeit erst öffnen sich fachwissenschaftliche und didaktische Studiengänge, Schulen, öffentliche Bildungseinrichtungen und Medien für Projekte, die inklusionsorientierten Wissenstransfer im Themenfeld Dis/ability erproben und somit Brücken zwischen Forschung, Vermittlung und praktizierter Partizipation schlagen. Derzeit noch vereinzelt, aber in wachsender Zahl werden Initiativen und Modelle mit dem Ziel entwickelt, Dis/ability-Perspektiven in universitäre und schulische Curricula zu integrieren, mit Ausstellungs- und Museumskonzepten zu verbinden, in neuartigen Medien wie Blogs und Podcasts möglichst barrierearm zu präsentieren, in künstlerischen Formen aufzuführen und performativ zu entfalten. Das Buch stellt solche Ansätze der Wissenschaftskommunikation an ausgewählten Beispielen vor. In ihrer inhaltlichen und methodischen Bandbreite, Ideenvielfalt und gestalterischen Kreativität repräsentieren sie das im Auf- und Umbruch befindliche Arbeitsfeld. Der Band versammelt Beiträge verschiedener Fächer und Ansätze: der Geschichtswissenschaft, der Kunstgeschichte, der Geschichts- und Kunstdidaktik, der Museologie und Museumspädagogik, der Inklusiven Pädagogik, der Soziologie sowie der Dis/ability Studies. Die hier dargestellten Experimente, Initiativen und Wege zielen darauf, eingebettet in konkrete Forschungskontexte das Thema Dis/ability in der universitären Lehre, im schulischen Unterricht, in Ausstellungen, künstlerischen und kulturellen Aktivitäten und medialen Formaten zu vermitteln und für Inklusionsprozesse in verschiedenen Öffentlichkeiten fruchtbar zu machen. Kritische Erfahrungsberichte über bereits realisierte oder noch laufende Projekte finden sich ebenso wie generelle, empirisch gestützte Überlegungen zum Wechselverhältnis von Forschung, Vermittlung und Anwendung in der Praxis und gezielte Vorschläge für künftige Lehr- und Lernangebote, die sich an Partizipation, Inklusion und Diversität orientieren. Der Band versteht sich somit über weite Strecken als eine praxisorientierte „Gebrauchsanleitung“ zum Wissenstransfer. Die Aufsätze geben, indem sie die praktische Umsetzung von Public Dis/ability History erörtern, zugleich exemplarisch Einblick in Themen, Methoden und 4

Anne Waldschmidt leitet die „Internationale Forschungsstelle Disability Studies“ mit einem neuzeitlichen historischen Schwerpunkt: https://idis.uni-koeln.de/forschung/projekte/disabilityhistory/ vom 20.12.2019. Vgl. ferner Gabriele Lingelbachs Arbeitsgruppe und deren Projekte, https://www.histsem.uni-kiel.de/de/das-institut-1/abteilungen/geschichte-des-19-bis-21-jahrhunderts/aktuelle-und-abgeschlossene-forschungsprojekte/forschungsprojekte/laufende-forschungsprojekte vom 20.12.2019. Für die Vormoderne: http://www.homo-debilis.de/ vom 27.12.2019.

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Quellen aktueller Forschungen mit unterschiedlichen zeitlichen Schwerpunkten vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Dabei sind sowohl Dis/ability History als auch Dis/ability Studies repräsentiert, da bewusst auf eine scharfe Grenzziehung zwischen diesen Ansätzen, die beide notwendig vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsbezogen sind, verzichtet wird. Einige Beiträge erschließen beispielhaft bislang kaum ausgeschöpfte, für den öffentlichen Wissenstransfer indes bedeutsame Quellen und Materialien (Objekte bzw. Realien, Raumausstattungen, Texte, Bilder). Tiefenscharfe, quellenzentrierte Fallstudien und Mikrohistorien stehen neben grundsätzlichen und weiterführenden Reflexionen, z.B. zur Konstruktion und zu den Diskursen von „Behinderung“ und „Nichtbehinderung“ bzw. „Nicht_behinderung“. Es entspricht der Heterogenität des Arbeitsgebiets, dass die an diesem Band beteiligten Autor*innen in vielerlei Hinsicht unterschiedliche oder kontroverse Standpunkte vertreten. Allein die Vielzahl von Schreibvarianten, die für zentrale Begriffe und Kategorien wie Dis/ability (disability, dis/Ability) oder Nichtbehinderung (Nicht_behinderung, nicht/behindert) verwendet werden, dokumentiert unterschiedliche Konzeptionen. Kreative Neu- und Umprägungen von Termini und Schriftbildern – wie A/Normalität oder Nicht/Erfüllung – machen darüber hinaus sichtbar, dass wir uns auf ungewohnten Pfaden im Neuland, abseits des Mainstream, bewegen. Sie bewirken gezielt Irritationen und Stockungen und regen dazu an, gewohnte Denkmuster, insbesondere die Annahme binärer Gegensätze, in Frage zu stellen. Der Band spiegelt die Pluralität unterschiedlicher Auffassungen, die Dis/ability Historians hinsichtlich der Gegenstände, Ausrichtung, Reichweite und disziplinären Verortung ihrer Forschungen hegen: Geht es generell um die Historizität von Ungleichheitskategorien bzw. um die variablen Konstruktionen des „Normalen“ und des „Anderen“? Stehen „Geschichten von Behinderung“ (Sebastian Barsch) im Vordergrund bzw. welcher Stellenwert kommt diesen zu? Handelt es sich um eine „grundlegende Perspektive auf die allgemeine Geschichte“ oder eher um einen „Zweig“ bzw. ein Teilgebiet der Geschichtswissenschaft?5 Zugleich zeigen sich viele Gemeinsamkeiten in den Reflexionen der Autor*innen, was ihre Erfahrungen mit den spezifischen Herausforderungen und Chancen der Wissensvermittlung im Feld von Dis/ability History betrifft. Ich fasse hier wesentliche Punkte aus den Beiträgen zusammen und verweise namentlich auf die Verfasser*innen.

5

Vgl. dazu die Beiträge von Sebastian Barsch und Bianca Frohne in diesem Band sowie Lingelbach 2017 versus Waldschmidt 2017.

Dis/ability History | 17

PUBLIC DIS/ABILITY HISTORY ALS PARTIZIPATIVES UNTERFANGEN Unter den diesem Band beteiligten Wissenschaftler*innen besteht Konsens darüber, dass Wissensvermittlung partizipativ gestaltet sein soll, auch wenn nicht alle Beiträge diesen Anspruch explizit thematisieren oder wenn sie Teilhabefragen in Hinsicht auf unterschiedliche Individuen und Gruppen erörtern. Dem generell hohen Stellenwert von Partizipation entsprechend bildet der grundlegende Beitrag von Sebastian Barsch über den shared authority-Ansatz den Auftakt des Bandes. Der Verfasser plädiert dafür, dieses Modell, bei dem Teams aus „Laien“ und „Profis“ mit verschiedenen Expertisen und unter Offenlegung ihrer jeweiligen Rollen geschichtliches Wissen für die Öffentlichkeit produzieren, in verschiedenen Kontexten, u.a. im Rahmen schulischen historischen Lernens, zu erproben. Auch wenn es sich hier um „Skizzen“ handelt: Der shared authority-Ansatz denkt konsequent und systematisch zu Ende, was in manchen Debatten eher verschwommen als Ideal entworfen wird. Andere Beiträge erörtern, ausgehend von dem Grundsatz „Nichts über uns ohne uns“, wie Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Kategorien wie Dis/ability und Gender und deren Intersektionen erforschen können (Köbsell, Frohne), oder entwickeln Formate, mit denen die Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention, „Medien für die Bewusstseinsbildung und den Wissenserwerb, für Teilhabe und Inklusion zu nutzen“ (Fürst/Kleymann), einzulösen ist. Wieder andere entwerfen Lösungen für Fragen danach, wie Forschung „in möglichst inklusive universitäre und schuldidaktische Konzepte“ (Rössel) übersetzt werden kann und welche Barrieren dabei zu beseitigen sind: Probleme der Verständlichkeit von Quellen- und Wissenschaftssprache (Rössel), physische Hindernisse und Einschränkungen der Sinneswahrnehmungen im Umgang mit Kunstwerken, Architektur und Aufführungen (Martins, Thrun/Welzel, Maciejewski et al.), aber auch Hemmungen und „Berührungsängste“ im buchstäblichen und übertragenen Sinn (Thrun/Welzel, Horn/Korff). Anhand von konkreten Maßnahmen inklusiver Vermittlung werden grundlegende, allseits bekannte Schwierigkeiten diskutiert, etwa inwieweit didaktische Angebote tatsächlich auf „gemeinsames Lernen“ zielen oder ausschließlich „Hilfsmittel“ für beeinträchtigte Mitglieder der Lerngruppe bereitstellen oder wie „das Reden über Inklusion in systemisch exkludierender Situation“ vermieden werden kann (Thrun/Welzel). Das Ideal einer „Hochschule für Alle“ wird aufgerufen (Frohne), und die Alltagsrelevanz, die bedeutenden Themen der Dis/ability History im Leben aller Menschen zukommt, wird dargelegt wird mit dem Appell, diese in die Hochschullehre aufzunehmen (Hirschberg, Klein).

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GRUNDLAGENFORSCHUNG VERMITTELN OHNE GRUNDLAGEN? Ein fundamentales Problem, mit dem universitäre Lehre und Schulunterricht konfrontiert sind, besteht derzeit darin, dass es an geeigneten, das heißt für Lehrzwecke aufbereiteten Materialien weitgehend fehlt: an Quellensammlungen bzw. Editionen mit Kommentaren und Übersetzungen, an Datenbanken, Nachschlagewerken, einführenden Kompendien und Überblicksdarstellungen (Rössel, Schmidt). Aus der Fülle publizierter Werke, ob Synthesen oder Spezialstudien, eignen sich die wenigsten ohne weiteres als Handreichungen für die Vermittlungspraxis.6 In gut lesbaren Gesellschaftsgeschichten, mit denen sich auch Anfänger*innen über einzelne Epochen orientieren können, ist Dis/ability, anders als Gender, noch nicht angekommen.7 Lehrende bewältigen dieses Desiderat am ehesten, wenn sie selbst Expert*innen im Dis/ability-Feld sind und den Lerngruppen ihre eigenen Forschungen samt der zugrunde liegenden Quellenauswahl als Werkzeuge zur Verfügung stellen können (Schmidt). Die damit notwendigerweise verbundene Beschränkung aufs eigene Spezialgebiet erscheint allerdings unbefriedigend, zumal wenn man Dis/ ability History als eine umfassende Perspektive auf Gesellschaften in größeren zeitlichen und räumlichen Dimensionen und gegebenenfalls mit komparativem Zuschnitt lehren möchte. Zutreffend konstatiert Patrick Schmidt in diesem Band, dass Dozent*innen eine holistische Perspektive abverlangt wird und dass sie sich epochenübergreifend (weiter)bilden müssen. Andernfalls droht Dis/ability History allenfalls „ein Nischenthema im Curriculum des Geschichtsstudiums“ zu werden. Außerdem garantiert nur ein weiter Horizont der Lehrenden, dass kreative Forschungsideen und eigenständige Erkundungen seitens der Lernenden – die ja als Beiträge zur weiteren Erschließung des Dis/ability-Terrains nachdrücklich erwünscht sind – nicht ins Leere führen mangels greifbarer Quellen und Forschungs-

6

Eine Ausnahme bildet Beck/Timm 2015: Nur hier finden sich didaktische Wendungen. Monika Fenn und Peter Riedel bereiten den Band „Perspektiven zum Mittelalter – Geschichte – Erinnerung – Unterricht“ vor, in dem auch Dis/ability History repräsentiert ist. Einführenden Charakter haben Themenhefte der Zeitschriften WerkstattGeschichte 65, Heft 3 (Nolte 2015b) und Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70, Heft 1/2 (Lingelbach 2019). Handbuchwissen für die Vormoderne bieten Nolte/Frohne/ Halle/Kerth 2017. Vgl. auch einschlägige Sammelbände von Bösl/Klein/Waldschmidt 2010, von Barsch/Klein/Verstraete 2013 sowie von Nolte 2009 und 2013.

7

Vgl. etwa zum Mittelalter die vorzügliche Monographie von Chris Wickham (2018).

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literatur (vgl. Schmidt zur Vergabe geeigneter Themen). Immerhin können „Leerstellen im Diskurs“ (Thrun/Welzel), so beschwerlich sie für die Praxis sind, von fortgeschrittenen, im Umgang mit Lücken versierten Studierenden als Inspiration genutzt werden, sich brachliegender Themen anzunehmen, ihre Abschluss- bzw. Qualifikationsarbeiten als genuine Forschungsleistungen zu gestalten und möglichst auch zu veröffentlichen.

THEORIEDICHTE UND KOMPLEXITÄT Weitere Schwierigkeiten für Lernende wie Lehrende können aus der hohen Theoretisierung und der Komplexität von Dis/ability History resultieren (Klein, Schlund, Rössel, Degner/Höger, Schmidt). Studierende müssen in hohem Maß reflexionsfähig sein sowie mit einer zunächst ungewohnten, uneinheitlichen und komplizierten Begrifflichkeit, sowohl im Deutschen wie im Englischen, umzugehen lernen. Vor allem sollten sie bereit sein, sich theoretische Grundlagen zu erschließen und, was oft schwerfällt, dieses abstrakte Wissen in ihren selbstentwickelten Teilprojekten anzuwenden. So gelingt es beispielsweise Studierenden nicht immer, die Erkenntnis, dass das medizinische Modell von Dis/ability nicht trägt, in konkreten Themenbearbeitungen umzusetzen (Horn/Korff). Ihr theoretisch erlangtes Wissen kann sich nicht behaupten gegenüber den wirkmächtigen Narrativen von Dis/ability als individuellem Schicksal und heilungsbedürftigem Defizit, die in Ausstellungen, Filmen und anderen Medien nach wie vor verbreitet werden und dafür sorgen, dass Stereotypen und Klischees fortleben (Martins, Barsch, Fürst/Kleymann).8 Erschwerend kommt hinzu, dass beispielsweise manche Studierende der Geschichtswissenschaft sich ungeübt im quellenkritischen Umgang mit Bildern und Objekten zeigen (Horn/Korff, Degner/Höger). Für Lehrende wiederum kann es eine Gratwanderung darstellen, komplexe Zusammenhänge angemessen differenziert darzulegen und so verständlich zu machen, dass dabei Simplifizierung und Reduktionismus vermieden werden (Klein, Horn/Korff). Intersektionale Herangehensweisen sowohl zu verstehen als auch zu erproben, kann Studierende leicht überfordern (Schlund, Köbsell, Horn/Korff). In öffentlichen Medien und Bildungseinrichtungen, bei deren Vermittlungskonzepten es wesentlich auf Komplexitätsreduktion ankommt, verschärft sich bekanntermaßen diese Problematik, „Expertenwissen in Laienwissen“ (Klein) zu überführen, noch weiter, von altersstufen- und lerngruppenspezifischen Vereinfachungen

8

Vgl. Ott 2005, Sandell u.a. 2010, Nolte 2019.

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in schulischen Didaktiken ganz zu schweigen. Zugleich bieten moderne Medienformate wie Blogs und Erklärvideos sich für einfallsreiche Vermittlungsstrategien an (Degner/Höger, Fürst/Kleymann, Horn/Korff). Lehrende wie Lernende, die damit experimentieren, sehen sich gemeinsam vor die anspruchsvolle Aufgabe gestellt, vorab definierten Zielgruppen schriftliche, bildliche und hörbare Informationen zugänglich zu machen, indem sie verschiedene Wahrnehmungskanäle ansprechen. Welche herausragende Bedeutung in der Praxis von Public Dis/ability History digitalen Medien zukommt insofern, als sie barrierearm sowie interaktiv gestaltet und genutzt werden können, braucht an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt zu werden.9

LEHRENDE ALS LERNENDE Ein neues, noch wenig erkundetes Arbeitsfeld mit anspruchsvoller Heuristik, ein empfindlicher Mangel an Basismaterialien, die Handhabung neuer didaktischer Medien – aus all dem folgt: Bei der Vermittlung von Dis/ability History sind auch Lehrende unvermeidlich Lernende. Diese Situation bietet, trotz oder gerade wegen mancher Schwierigkeiten und hoher Anforderungen, viel Potential. Das Konzept des forschenden Lernens, gewöhnlich auf Schüler*innen und Studierende gemünzt, erhält eine neue Dimension, wenn auch die Seminar- oder Klassenleitung selbst sich im Zuge ihrer Wissensvermittlung als lernend und forschend erfährt (Frohne, Thrun/Welzel, Schmidt).10 Dabei spielen sich vielfältige Lernprozesse auf verschiedenen Ebenen ab. Am Anfang kann, ganz klassisch, das Recherchieren, Sammeln, Einlesen und Einarbeiten in fremde Themen und Methoden stehen. Es kann sich aber ebenso um Explorationen von Orten und Räumen jenseits der gewohnten Lernumgebung handeln (Thrun/Welzel, Maciejewski et al.). Wer neuartige Forschungsansätze im Schnittfeld von Wissenschaft, Ästhetik und Kunst ausprobieren will, muss Suchbewegungen ins Ungewisse wagen, und die Verflechtungen zwischen kognitiven, sinnlichen, körper- und bewegungsbezogenen, performativen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgängen zu entdecken, erfordert

9

Vgl. auch Raphael Rössel in diesem Band zu Datenbanken, die Pionierleistungen darstellen und in Forschungsanträgen nicht länger als „Antragsornamente und Nebenprodukte“ figurieren dürfen.

10 Auf die Frage „Lernen ist …?“ antwortet der Astrophysiker Harald Lesch: „Schon großartig, aber Lehren ist zweimal Lernen.“ Süddeutsche Zeitung, Nr. 296, S. 23, 23.12.2019.

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Abenteuergeist und unter Umständen Körpereinsatz (Thrun/Welzel, Frohne, Maciejewski et al., Martins).11 Über die Materialität von Objekten, von dinglichen Anordnungen und räumlichen Arrangements eröffnen sich neue Zugänge, was das Bewusstsein, die Haltungen und Praktiken der damit interagierenden Personen betrifft (Degner/Höger, Thrun/Welzel, Büttner, Heide/Nolte). Und schließlich erweist es sich als produktiv, inspirierend und vertrauensfördernd für alle Beteiligten, wenn Dozent*innen sich trauen, anders als im Lehrbetrieb üblich nicht einseitig darauf zu achten, dass „gelungene“ und zu benotende Ergebnisse erzielt werden. Vielmehr führt die Orientierung an den Arbeitsprozessen selbst samt der Einsicht, dass diese die eigentliche Leistung darstellen, dazu, den Dialog und das gemeinsame Tun von Lehrenden und Lernenden als Erfolg wertzuschätzen.

FÄCHERÜBERGREIFENDES TEAMWORK Etliche der hier versammelten Autor*innen beobachten, dass Interdisziplinarität unabdingbar für innovative Lehr- und Lernmaßnahmen im Dis/ability-Feld ist. Vor allem die hier vorgestellten Pilotprojekte und Experimente sind fächerübergreifend konzipiert, und zwar vielfach jenseits traditioneller, bewährter Kombinationen (wie etwa Geschichtswissenschaft im Tandem mit Kunstgeschichte, Literaturgeschichte oder Archäologie). Es könnte weiterführen, wenn vorzugsweise Fächer, die in unterschiedlicher Weise praxis- und anwendungsbezogen sind, gekoppelt werden. Ungewöhnlich sind die Zusammentreffen von Kunstgeschichte und Rehabilitationswissenschaften (Thrun/Welzel), von Geschichtswissenschaft mit Geschichtsdidaktik und Inklusiver Pädagogik (Horn/Korff) oder mit Performance Studies (Maciejewski et al.). Eine engere Verbindung von Fachwissenschaft und Didaktik in Studium und Schulunterricht, aber auch in Museen und anderen öffentlichen Bildungseinrichtungen als derzeit üblich scheint vielversprechend, ebenso die Bildung von „multiprofessionellen Teams“ (Barsch) und die Vernetzung mit Expert*innen aus der Praxis des Archiv-, Ausstellungs- und Bibliothekswesen und des Aktivismus (Frohne, vgl. auch Rössel, Martins). Während in etlichen Aufsätzen das Studium der Geschichtswissenschaft mit oder ohne Lehramtsoption Ausgangspunkt der Überlegungen ist, entwickeln weitere Beiträge Szenarien für Studiengänge verschiedener, aber verwandter Fächer oder verstehen sich als Querschnittsangebote für Konstellationen, bei denen ganz unterschiedliche Wissenskulturen, Denkweisen und methodische Instrumentarien aufeinandertreffen; wieder andere heben die lebensweltlichen Anknüpfungspunkte 11 Vgl. den Sammelband „ArteFakte“, hg. von Parzinger/Aue/Stock (2014).

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und die das Akademisch-Fachliche weit überschreitenden, alltagsrelevanten Lerneffekte hervor, die unkonventionelle Formate auszeichnen (Hirschberg, Klein, Köbsell, Rössel, Degner/Höger, Frohne).

LEITENDES PRINZIP: „PHANTASIEVOLL UND WISSENSCHAFTLICH ZUGLEICH“ Von der Devise „phantasievoll und wissenschaftlich zugleich“ (Degner/Höger) lassen sich etliche Projekte und Entwürfe, über die in diesem Band berichtet wird, in ihren Herangehensweisen leiten. Lehrende und Lernende haben sich Zugänge zum Forschungs- und Vermittlungsfeld Dis/ability erschlossen, indem sie die im eigenen Fach eingeübten Formen des Wissenserwerbs mit ihnen fremden Methoden aus künstlerischen, kreativen, performativen, theatralen Tätigkeitsfeldern konfrontierten, sich diesen öffneten und sie sich womöglich aneigneten. Wo fachwissenschaftlich vertraute Arbeitsweisen mit ungewohnten, gar als „nicht wissenschaftlich“ wahrgenommenen Zugriffen zusammentreffen, kommt es anfänglich zu Skepsis und Abwehrhaltungen, Reibungen und Irritationen innerhalb der Teams – wobei die fachwissenschaftlichen Akteure merklich eher „fremdeln“ als ihre Partner (Degner/Höger, Thrun/Welzel, Horn/Korff, Frohne, Maciejewski et al.). Die Experimente zeigen indes: Wenn es gelingt, sich flexibel auf fremde Herangehensweisen einzulassen, Spannungen auszuhalten, umzudenken, ist der Erkenntnisgewinn immens. So reflektieren Studierende manchmal erst in solchen Begegnungen, dass auch vermeintlich objektive Forschungspositionen von „subjektiven Imaginationen geprägt“ sein können (Port in: Maciejewski et al.). Sie erfahren, dass unter Umständen gerade ein „spielerischer wie analytischer Umgang mit Fakten und Fiktionen“ (Frohne) weiterführt und dass seriöse Fachwissenschaftlichkeit und Kreativität keineswegs Gegensätze darstellen müssen. In Projekten mit performativer Dimension lässt sich am eigenen Leib erfahren: „Begegnung und Bewegung im Raum sowie Erleben sind Teil des Forschungsprozesses“ (Thrun/Welzel), und der Körper ist eine zentrale Instanz der Wissensvermittlung (ebd., Martins, Maciejewski et al., Heide/Nolte). Kooperationen, bei denen ein Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft entsteht, bewirken also fundamentale Einsichten in das Wesen, die Erscheinungsformen und die Möglichkeiten von Forschung.

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RISIKEN – AUFWAND – ERTRAG Neben der Auseinandersetzung mit fachfremden Methoden von Wissenserwerb und -vermittlung stellen auch die Offenheit und der ungewisse Ausgang von Projekten die Mitwirkenden vor Herausforderungen, die sie aus den gewohnten Abläufen nicht kennen (Thrun/Welzel, Frohne, Maciejewski et al.). Welche Wege sich als brauchbar erweisen und mit welchen Ergebnissen zu rechnen ist, lässt sich zu Beginn nicht voraussagen. Statt Erfolgsgarantien gibt es Unwägbarkeiten. Das Risiko zu scheitern will ausgehalten werden – eine Situation, die für Unruhe und Unsicherheit unter manchen Studierenden sorgt angesichts des Drucks, Prüfungserfolge zu erzielen. Sie erleben Lehrende in der Rolle von Lernenden, die kaum besser als sie selbst anweisen können, in welche Richtung es gehen soll. Hinzu kommt, dass Projekte dieser Art Veranstaltungsformate verlangen, die zu den üblichen Seminarroutinen querliegen oder nur schwer in den Rahmen von Stundenplänen, Studienordnungen und Modulkonzepten eingepasst werden können: mehrstündige Blockveranstaltungen, Workshops an Wochenenden und in der vorlesungsfreien Zeit, teils verdichtete, teils ungewohnt lose und „unordentliche“ Arbeitsstrukturen, Treffen außerhalb der Universität in Museen, Archiven, Bibliotheken, Erinnerungs- und Aufführungsorten. Für die Teammitglieder bedeutet dies hohes zeitliches Engagement, starke Verbindlichkeit (Präsenz!), intensive Kommunikation und gelegentlich Koordinationsprobleme. Zugleich begeben sie sich damit in jene öffentlichen Sphären, in die sie mit ihren Forschungen hineinwirken wollen. Die mannigfachen Übergänge, Überschreitungen von Grenzen und abgezirkelten Umgebungen werden von vielen Studierenden als bereichernd und erweiternd wahrgenommen. Es dient ihrer Berufsvorbereitung, dass sie in Kontakt mit konkreten Tätigkeitsfeldern und mit Praktiker*innen der Wissens- und Kulturvermittlung kommen. Sie erfahren zu ihrer Befriedigung, dass ihre eigene Arbeit wirksam und sinnvoll sein kann, wenn sie nicht auf Präsentationen in Form von Hausarbeiten und Referaten hinausläuft, sondern an die Öffentlichkeit gelangt. Das heißt konkret: Sie beteiligen sich an der Veränderung von Geschichtsbildern, Haltungen und Praktiken, indem sie ihre mit der Linse der Dis/ability History gewonnenen Erkenntnisse weitergeben, dass (historische) Lebenswirklichkeiten komplex, widersprüchlich, unzusammenhängend und uneinheitlich sind.

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Disability History Goes Public: Public Disability History als shared authority Sebastian Barsch

Die akademische Disziplin der Disability History hat seit je her einen diffusen Status zwischen Wissenschaft und Politik. Orientiert sie sich einerseits eindeutig an den Standards geschichtswissenschaftlicher Forschung, zielt sie andererseits darauf, gesellschaftliche Praktiken der Exklusion nicht nur in ihrem historischen Gewordensein zu analysieren, sondern durch ihre Forschungen diese Praktiken in Gegenwart und Zukunft zu mildern (Lingelbach/Schlund 2014). Dies gilt freilich nicht für alle Forschenden in gleichem Maß, gibt es doch auch einen kontroversen Diskurs innerhalb der Community der Disability Historians. Dennoch: Im Gesamt betrachtet mögen Praktiken der Disability History oft ein Anlass sein, aus dem „Sein“ ein „Sollen“ herzuleiten, behandeln sie doch generell den Umgang von Mehrheitsgesellschaften mit „ihren“ Minderheiten, die von einem als „normal“ betrachteten Zustand abweichen. Gleichwohl, schaut man genauer darauf, welchen Einfluss die Erkenntnisse auch anderer Subdisziplinen der Geschichtswissenschaften auf den öffentlichen Diskurs haben, kann nur schwer davon gesprochen werden, dass Geschichte wertfrei und politikfern sei. „‚History matters‘ has been a rallying call in the recent years, as historians have argued for the value of historical perspective in the making of policy.“ (Green 2018, 59) Obwohl der Einfluss der Geschichtsschreibung auf politische Praktiken erkannt wurde, gibt es bislang kaum Erkenntnisse darüber, wie dieser Einfluss wirksam gemacht werden kann, ob er überhaupt wirksam werden sollte und ob die verschiedenen Weisen von Politik und Wissenschaft, Diskurse zu führen, überhaupt kompatibel sind (Green 2018, 59). Auch die Vertreter*innen der Disability History, die ihre Aufgabe nicht primär darin sehen, den politischen Diskurs zu bereichern, sondern den Fokus auf die Rekonstruktion der Vergangenheiten von Menschen mit Behinderungen legen, müssen sich mit der Frage auseinanderset-

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zen, welchen Einfluss ihre Forschungsergebnisse auf die gesellschaftlich-politische Meinungsbildung haben. War Disability History seit den 1990er Jahren zunächst Betätigungsfeld einer kleinen Gruppen von Forschenden (Longmore/Umansky 2001), entwickelt sie sich neuerdings mehr und mehr zu einer MainstreamPerspektive der Geschichtswissenschaften, nicht zuletzt auch beeinflusst durch gesellschaftliche Diskurse über den Umgang mit Behinderung, die zur UN-Behindertenrechtskonvention und mit ihr letztlich zu zahlreichen Maßnahmen führten, welche die Transformation der Gesellschaft zu einer inklusiven Gesellschaft möglich machen sollen. Durch die Bedeutung, die das Phänomen „Behinderung“ in der Gegenwart erlangt hat, wächst auch die Aufmerksamkeit gegenüber der Vergangenheit. Indem Forschungsergebnisse zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen über Ausstellungen, Bücher, Filme und letztlich auch Material für den Geschichtsunterricht ihren Weg in die Öffentlichkeit finden, wird aus einer Disability History automatisch eine Public Disability History. Gleichwohl: Auch die Public History als Spezialdisziplin der Geschichtswissenschaften steht stets vor der Herausforderung, das Verhältnis zwischen Wissenschaftsorientierung und Aktivismus auszuloten. Wie Thomas Cauvin verdeutlicht, tritt dieses Spannungsfeld schon allein deswegen auf, da Public Historians dadurch, dass sie für eine weit gefasste Zielgruppe arbeiten, in gewisser Weise auch eine öffentliche Dienstleistung erbringen; diese zielt nicht nur auf die Reflexion der Vergangenheit, sondern auch auf eine Verbesserung der Gegenwart und Zukunft (Cauvin 2016, 230). Eine Public Disability History wäre dieser Lesart zufolge in einem noch stärkeren Maße Ausgangspunkt einer Empowerment-Bewegung für unterrepräsentierte Gruppen. Insofern Public History aber auch gerade nichtakademische Gruppen in den Blick nimmt, muss die Frage gestellt werden, ob dies in Zeiten zunehmender Wissenschaftsskepsis in der Bevölkerung nicht äußerst problematisch ist. Tatsächlich zeigte sich in der Vergangenheit auch, dass öffentlich wirksame Geschichtsschreibung oft gegen gesellschaftliche Narrative arbeiten musste, wie dies etwa bei der Wehrmachtsausstellung der Fall war (dazu etwa Latzel 2000). Die Verortung einer Public Disability History bedarf also einer theoretischen Reflexion über das Wissenschaftsverständnis der ihr zugrunde liegenden Forschungen, welche gleichwohl nicht ohne grundlegende wissenschaftsethische Überlegungen auskommen kann. Dies wird dadurch erschwert, dass Public History nicht nur formale Bildungsfelder wie Schule, Hochschule oder Museen mit ihren jeweiligen Publikationsorganen und Bildungsmedien adressiert. Öffentliche Geschichtsschreibung findet auch in Bereichen nonformaler Bildung (Jugendarbeit, Citizen-Science-Projekten) und in informellen Kontexten statt (Filme, Kunst, Wi-

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kipedia). Der Beitrag befasst sich mit solchen theoretischen Fragestellungen, indem zunächst das Verhältnis zwischen Public History und Gesellschaft analysiert wird, anschließend die Spezifika der Public Disability History reflektiert und unter emanzipatorischen Perspektiven herausgearbeitet werden. Die Überlegungen münden in einem Modell einer Public Disability History, welches sowohl die politischen Forderungen der Behindertenrechtsbewegung, die aus einer Disability History als emanzipatorische Geschichte resultieren, berücksichtigt als auch die epistemologischen Herausforderungen einer derart normativen Forschung kenntlich macht. Anschließend geht es um das Feld „Schule“ als „Spezialbereich“ der Public History, der durch die besondere Situation der dortigen Akteure als in administrative Vorgaben eingebundene Professionelle ebenso normativen Anforderungen genügen muss.

1. PUBLIC HISTORY UND GESELLSCHAFTLICHE VERANTWORTUNG „Public History, so könnte argumentiert werden, existiert bereits so lange wie es die Beschäftigung mit Geschichte überhaupt gibt. Doch die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich lange Zeit allein mit dem Erkenntnisgewinn durch historische Forschung und weniger mit der Vermittlung und Rezeption von Geschichte in der Öffentlichkeit beschäftigt.“ (Lücke/Zürndorf 2018, 9)

Lange Zeit wurden insbesondere im deutschsprachigen Raum alle Fragen, die sich mit einer Verbreitung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse in außeruniversitäre Felder befassten, eher in pädagogischen Bereichen wie Museumspädagogik oder Geschichtsdidaktik verortet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass auch in Deutschland analog zur Etablierung der sogenannten „New Social History“ in den USA der 1960er Jahre, die sich der Rekonstruktion einer „Geschichte von unten“ verpflichtet sah (Lücke/Zürndorf 2018, 13), die Hinwendung zur Geschichte von eher marginalisierten Gruppen beobachtet werden konnte. So entwickelten sich mit der Sozial- und Alltagsgeschichte oft unter regionaler Perspektive nicht nur alternative Zugriffe auf die Vergangenheit, sondern neue Akteursgruppen u.a. aus den sozialen Bewegungen nahmen für sich in Anspruch, Geschichte (auch ihre eigene Geschichte) kollaborativ etwa in Geschichtswerkstätten zu erforschen. Unter dem Motto „Grabe, wo du stehst“ (Lindqvist/Dammeyer 1989) ging es auch um „eine demokratische Aneignung der Geschichte durch die Betroffenen selbst“ (Lücke/Zürndorf 2018, 17). Hier äußerte sich eine massive Kritik an der bis dato dominierenden politischen Geschichtsschreibung, die zudem mit

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ihrem Blick auf umfassende Strukturen, mächtige Personen und oft mit nationaler Perspektive all die Geschichten außer Acht ließ, die für die Lebenswirklichkeiten vieler Menschen eine äußerst hohe Relevanz hatten. Mit dem Aufkommen der Geschichtswerkstätten und der „Geschichte von unten“ etablierte sich somit auch der distanzierende Blick auf hegemoniale Wissensproduktion, die weite Teile der Gesellschaft nicht repräsentierte und insbesondere auch solche Gruppen benachteiligte, aus denen selbst kaum Geschichtswissenschaftler*innen heraus rekrutiert werden konnten. Mit zunehmender Ausdifferenzierung sind mittlerweile zwar die harten „Fronten“ zwischen Wissenschaft und Laiengeschichtsschreibung aufgebrochen. Gleichwohl gilt nach wie vor, dass die Frage, was Public History im Gegensatz zur „klassischen“ Geschichtswissenschaft leisten kann und wo genau Unterschiede zwischen den beiden Zweigen liegen, kontrovers diskutiert wird. So kann einerseits behauptet werden, dass mit der Professionalisierung der Public History – etwa durch die wachsende Zahl an universitären Studiengängen mit dieser Bezeichnung – diese vor allem dadurch profiliert ist, dass nunmehr Expert*innen spezifische Fragen der Geschichtsvermittlung an die Öffentlichkeit bearbeiten. Gleichwohl gibt es Stimmen, die Public History unter Einbindung von Expert*innen, aber auch weiteren Akteuren verstehen als eine Geschichte für und über die verschiedenen Teile der öffentlichen Gesellschaft, die von diesen selbst in gesamter Vielfalt erforscht wird (Lücke/Zirndorf 2018, 21; Cole 1994, 11). Die Öffentlichkeit ist somit nicht nur Zielgruppe, sondern auch aktiver Part der Geschichtsschreibung. Kurz: Hinter der Diskussion verbergen sich letztlich auch methodische und epistemologische Fragen, die den Wert explizit wissenschaftlichen Vorgehens im Prozess der öffentlichen Wissensproduktion adressieren. So muss, wie Thomas Cauvin postuliert, einerseits deutlich herausgestellt werden, dass auch hier Standards der Geschichtswissenschaft zu gelten haben, soll Public History nicht als eine zweitklassige Geschichtswissenschaft gelten (Cauvin 2016, 11). Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung der Gefahr, dass historische Erzählungen immer auch das Potential der Manipulation in Bezug auf Identitätskonzepte ihrer Rezipient*innen bergen. Folgt man jedoch der Definition Habbo Knochs, kann Public History zudem als ein Feld betrachtet werden, bei dem Expert*innen für die Einhaltung wissenschaftlicher Standards gemeinsam mit Akteuren der Geschichtskultur mit ihren Eigeninteressen Vergangenheit erforschen. Dieser Definition zufolge untersucht die Public History „öffentliche Repräsentationen von Vergangenheit außerhalb von Fachwissenschaft, Schule und Familie sowie die damit einhergehenden Deutungen zusammen mit ihren Akteuren,

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Medien, performativen Praktiken und materiellen Objekten daraufhin [...], was für wen, wie, mit welcher Bedeutung und zu welchem Zweck als ‚Geschichte‘ konstituiert und verhandelt wird“ (Knoch 2016, 304).

Hierbei handelt es sich im Grunde also um eine „shared authority“ (Green 2018, 176) unter Berücksichtigung der jeweiligen Expertisen und Ansprüche. Green weist zudem darauf hin, dass unter der Prämisse geteilter Verantwortung durchaus auch die Rolle der Geschichtswissenschaftler*innen einer kritischen Überprüfung unterzogen werden könne, insofern mit der Beschäftigung anderer, nichtakademischer Perspektiven auf Geschichte auch eigene habituelle Praktiken und Überzeugungen sichtbar werden könnten. „How self-conscious are we about the status and privileges attached to our own professional roles? Here, I wonder if historical scholarship is somewhat ahead of the habit and dispositions of historians themselves. Historians now widely recognise that our understanding of the past is present-oriented, provisional, unstable and negotiated, yet we are often less comfortable with the implications of this understanding. That is, can we assume that our entitlement to guard or mediate access to the past is secure if we are not talking of singular, ‚authorised‘ accounts but plural, contested interpretations that are constantly being made and remade (and not just by us)?“ (Green 2018, 177)

Letztlich, dies wird selten berücksichtigt, sind auch professionelle Historiker*innen nicht gänzlich gefeit vor subjektiven Einschätzungen historischer Sachverhalte, aber auch gegenwärtiger Wertvorstellungen. Die Auseinandersetzung mit einer breiten Öffentlichkeit und dort etablierten anderen Sprachpraktiken und habituellen Grundlagen kann daher auch Reflexionsinstanz eigener Praktiken werden. Der shared authority-Ansatz bietet zudem gerade in Zeiten, in denen wissenschaftliches Denken bzw. die Wissenschaften generell zunehmend kritisch gesehen werden, den Vorteil, dass auch historische Laien in die Wissensproduktion eingebunden werden und somit Teilhabe erfahren, die jedoch einem professionellen Korrektiv unterzogen wird. Werden „postfaktische“ Haltungen und die damit verbundene Skepsis gegenüber Wissenschaft als ein Phänomen der gegenwärtigen Kulturen betrachtet, mag sich hier auch die Gefahr anbahnen, dass Geschichtsschreibung vermehrt zu Zwecken der Ideologisierung genutzt wird. Hier kann die geteilte Verantwortung gleichzeitig Partizipation marginalisierter Gruppen im Prozess der Wissensentwicklung und deren Validierung durch wissenschaftliche Standards befördern. Insbesondere durch die jüngeren politisch-gesellschaftlichen

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Entwicklungen mit dem erneuten Erstarken von nationalen Identitäten und Abgrenzungen werden auch die Geisteswissenschaften vereinnahmt, um „zweckgebundene“ Narrative zu entwickeln. Hier mag eine falsch verstandene konstruktivistische Geschichtstheorie zudem ein Einfallstor bieten, um wissenschaftlich plausible Erzählungen zu relativieren. Relativismus oder Konstruktivismus ermöglichen insbesondere in ihrer radikalen Auslegung durchaus eine Skepsis gegenüber der Wirklichkeit und der diese konstituierenden Fakten. „An extreme relativist might hold that the truth varies from person to person, a position that does not leave much room for debate.“ (Higgins 2016, 9) Allerdings, so auch Higgins, wird diese radikale Position nur selten vertreten (ebd.). Inwieweit Wissenschaftsorientierung und wissenschaftliches Denken in unseren Gesellschaften verankert ist und Einfluss auf die Wahrnehmung der Welt hat, ist eine interessante Frage, gerade auch wenn es darum geht zu erklären, wie „Wahrheit“ konstruiert wird und wie diese Wahrheitskonstruktionen von den Menschen aufgenommen und akzeptiert werden. Das Vermögen der Wissenschaften, Erkenntnis zu generieren, steht ja durchaus in der öffentlichen Kritik, wobei es hier traditionell eine Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zuungunsten der Geisteswissenschaften gibt. Der Philosoph Richard Rorty bemerkt in diesem Zusammenhang: „In our culture, the notions of ‚science‘, ‚rationality‘, ‚objectivity‘, and ‚truth‘ are bound up with one another. Science is thought of as offering ‚hard‘, ‚objective‘ truth: truth as correspondence to reality, the only sort of truth worthy of the name. Humanists […] have to worry about whether they are being ‚scientific‘, whether they are entitled to think of their conclusions, no matter how carefully argued, as worthy of the term ‚true‘.“ (Rorty 1991)

Dies gilt sicherlich für die Geschichtswissenschaft und als Teil dieser auch für die Public History mit der ihr grundlegenden – und notwendigen – Skepsis gegenüber der Objektivität ihrer Erkenntnisse bei gleichzeitig auch von öffentlicher Seite verlangter Expertise, die vergangene Wirklichkeit (und oft auch Gegenwart) möglichst verständlich zu erklären. Allerdings bleibt zu fragen, ob die von Rorty vollzogene Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften noch tragend ist, denn trotz des Postulats von Geschichte als Konstrukt gibt es auch für die Geschichtswissenschaft Objektivitätskriterien, welche in der Geschichtsdidaktik in die Theorie der „empirischen Triftigkeit“ eingebettet sind (Rüsen 1994, 82). Gleichwohl: Folgt die Public History tatsächlich explizit dem Prinzip der geteilten Verantwortung, gilt es, die Prozesse der Wissensproduktion transparent zu machen und stets auch zu hinterfragen, inwieweit öffentliche Geschichte einen politischen oder gesellschaftlichen Nutzen haben darf oder kann. Insofern die epistemologischen Grundlagen der Public History analog zu denen der Geschichtswissenschaften

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sind, muss hier auch transparent gemacht werden, dass jegliche Rekonstruktionen nur eine Perspektive auf einen Ausschnitt der Vergangenheit sind, und dass auch solche Erzählungen, die gegenwärtige Machtverhältnisse in Frage stellen, nur Perspektiven sind, denen andere entgegengestellt werden könnten. Aus der Relativität historischer Rekonstruktionen lässt sich nicht ausbrechen. Public Historians haben somit auch die Aufgabe, diesen Relativismus zu „verkaufen“, also nicht nur Inhalte zu vermitteln, sondern auch die Werkzeuge zu erklären, die gebraucht werden, um diese Inhalte zu generieren. Wenn gilt, dass die Resultate geschichtswissenschaftlichen Arbeitens dazu führen können, Mythen zu entlarven, starre Erzählungen über die Vergangenheit aufzubrechen und Sicherheiten zu hinterfragen (Dean 2018, 61), sollte der Zweifel an der Objektivität der gewonnenen Erkenntnisse gleichwohl Bestandteil jeder historischen Erzählung sein. Unter Berücksichtigung fachlicher Standards ist es daher problematisch, wenn Historiker*innen sich als Aktivist*innen verstehen – wie dies teils von Disability Historians getan wird –, die Geschichte als normativen Einflussfaktor auf Gegenwart und Zukunft „nutzen“. Im Sinne einer shared authority jedoch kann die Geschichtswissenschaft mit ihrer Öffnung in die Gesellschaft jedoch durchaus dazu beitragen, historisch gewachsene Ausgrenzungen mit den Standards wissenschaftlichen Arbeitens zu hinterfragen. Letztlich ist auch eine normative Positionierung von Geschichtswissenschaftler*innen nicht per se problematisch, denn als Teil menschlicher Gesellschaften und ihrer Sozialität verfügen auch „Professionelle“ über explizite ethisch-normative Wertvorstellungen. Public Historians sollten jedoch reflektieren, wie ihre Arbeit durch Aktivismus beeinflusst ist, und diese Reflexionen öffentlich machen (Cauvin 2016, 232). Dies mag gleichzeitig die Akzeptanz von so gewonnenen Erkenntnissen steigern. Zur gesellschaftlichen Verantwortung der Public History gehört daher auch, öffentliche Transparenz über die in den Forschungen und Darstellungen implizierten Werturteile herzustellen (Jordonova 2000, 171).

2. PUBLIC DISABILITY HISTORY ZWISCHEN BEHINDERTENRECHTSBEWEGUNG UND WISSENSCHAFT Was bedeuten diese Ausführungen für eine Public Disability History? Generell ist die Disability History als Zweig einer Historiographie, der sich aus einer sozialoder kulturwissenschaftlichen Perspektive mit Normalität und Abweichungen von Normalität befasst, verhältnismäßig jung. Gleichwohl, folgt man Douglas Bayntons berühmtem Satz „Disability is everywhere in history, once you begin looking

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for it, but conspicuously absent in the histories we write“ (Baynton 2001, 52), haben sich in den letzten Jahren in ihrem Umfeld zahlreiche neue Geschichten über Ex- und Inklusion in Vergangenheit und Gegenwart ergeben. Insofern die Studien der Disability History meist auf das sogenannte soziale Modell von Behinderung zurückgreifen, um Behinderung als eine Folge gesellschaftlicher Diskriminierung zu untersuchen und gesellschaftliche Strukturen „in Form von Barrieren, die die Bewegungsfreiheit begrenzen, politischen und sozialen Benachteiligungen, Einschränkungen in Bezug auf die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe usw.“ zu analysieren (Barsch/Lingelbach 2020, 181), ist durchaus auch ein normativer Anspruch mit diesen Studien verbunden. Wird ergänzend dazu oder alternativ die Perspektive des kulturellen Modells von Behinderung eingenommen, welches der Annahme folgt, dass gesellschaftliche „Diskriminierungen [...] auf Stereotypen und Vorurteilen basieren, auf kollektiven Vorstellungen und mit diesen korrespondierenden Praktiken“ (Barsch/Lingelbach 2020, 182), muss eine hohe Distanz zu Diskursen der Gegenwartsgesellschaft eingenommen werden. Sonst besteht Gefahr, „Opfer“ der eigenen normativen Grundannahmen, Stereotype und Vorurteile zu werden. Zunächst einmal zeigt sich hier jedoch kein von anderen Feldern der Geschichtswissenschaft völlig verschiedenes Problem. Die Analyse der eigenen Perspektivität ist, wie oben bereits angesprochen, nicht nur für Arbeit im Kontext der Public History essentiell, sondern ganz allgemein für jegliches geschichtswissenschaftliches Handeln. Problematisch wird dies allerdings wiederum dann, wenn Public History als Ausgangspunkt für das Empowerment unterrepräsentierter Gruppen gesehen wird (Cauvin 2016, 232). Die von Behindertenaktivisten erhobene Forderung „Nichts über uns ohne uns“ (Charlton 2004) hatte und hat maßgeblich Einfluss auf die Zielperspektiven der Disability History. Gefordert wurde (und wird), dass Menschen mit Behinderungen aufgrund ihrer Erfahrungen selbst aktiv in den Prozess der Wissenskonstruktion eingebunden werden müssen, um ein umfassendes Bild der mit Behinderung verbundenen Benachteiligungen zeichnen zu können. Forschende Behindertenrechtsaktivist*innen folgen damit einerseits dem Paradigma eines kritisch-emanzipatorischen Wissenschaftsverständnisses, welches um eine dezidiert politische Perspektive erweitert wurde (Mercer 2004, 120). Ziel solch betriebener Forschung lag (und liegt) somit in der Emanzipation der beforschten Gruppe (oft durch sich zur Gruppe selbst zählende Forschende), die allerdings nicht mehr als „Objekte“ beforscht werden, sondern sich selbst als „Subjekte“ forschend betrachten, wodurch Rekonstruktionen der Disability History als partizipative Forschungen verstanden werden können. Andererseits wurde diese Subjektivität selbst kritisch hinterfragt. So wurde debattiert, ob durch die Zielrichtung

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emanzipatorischer Forschung unter Bezug auf das soziale Modell von Behinderung nicht auch die geistige Freiheit der Forschenden und ihre Interpretationsfreiheit eingeschränkt werde (Davis 2000, 193). Die größere Objektivität, die im Rahmen der oben genannten. Forderung Menschen mit Behinderungen unterstellt wird, erscheint zudem aus konstruktivistischer Perspektive und auch aus Perspektive einer positivistischen Wahrheitsdefinition, die auf Aussagen rekurriert und nicht auf identitätsstiftende Positionsbestimmungen, kritikwürdig. Für Public Disability Historians ergeben sich somit erneut epistemologische Probleme, die im Spannungsfeld zwischen Aktivismus und Wissenschaftsorientierung angesiedelt sind und die Frage adressieren, ob es legitim ist, wissenschaftliche Erkenntnisse über die Vergangenheit zur Veränderung der Gegenwart zu nutzen. 2.1 Public Disability History als shared authority Ein Ausweg mag darin liegen, eine tatsächliche partizipative Forschung als eine Art Prüfsystem zu etablieren, in dem Menschen mit Behinderungen auf Basis ihrer Behinderungserfahrung mit Geschichtswissenschaftler*innen, die nicht über diese Erfahrungen verfügen müssen, gemeinsam an historischen Fragestellungen arbeiten und öffentliche Erzählungen der Disability History neu arrangieren bzw. rekonstruieren und dann durchaus mit dem Verweis auf die subjektive „Betroffenenperspektive“ kommentieren. Dieses Prüfsystem wäre gleichsam im Rahmen der oben beschriebenen shared authority ein multiperspektivischer Blick auf Geschichte, der einen allgemeingültigen Wahrheitsanspruch von sich weist. Vielmehr würde er explizit auch die subjektive Perspektive transparent machen und die damit verbundenen epistemologischen Schwierigkeiten darstellen. Ein solches Vorgehen hätte überdies den Vorteil, nicht nur eine Bereichsgeschichte zu rekonstruieren und zu präsentieren, sondern dabei gleichzeitig geschichtstheoretische Fragestellungen in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Indem die Akteure der Geschichtsschreibung nicht nur hinsichtlich ihrer Expertisen und Erfahrungen, sondern auch hinsichtlich ihrer Wünsche und Erwartungen transparent gemacht werden und diese verschiedenen Perspektiven und das damit möglicherweise verbundene intensive Ringen um Deutung ein öffentlicher Teil der „Ausstellung“ des Wissens werden (egal wo), wird letztlich auch manifest, dass „‚Geschichte‘ ein zutiefst menschliches und kulturelles Gebilde ist“ (Landwehr 2017, 232). Insofern Public Disability History explizit auch den Vermittlungsaspekt berücksichtigen muss, ermöglicht diese Offenheit als quasi didaktische Aufforderung den Rezipient*innen möglicherweise auch die „Überwindung eingefahrener Denkweisen“ und die Thematisierung „unterschiedliche[r] und vor allem vielfältige[r] Formen der Verzeitung“ (Landwehr 2017, 233).

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Die öffentliche Auseinandersetzung mit Geschichten der Behinderung in Museen, Blogs, aber auch Schulen und außerschulischen Bildungsinstitutionen muss sich somit auch damit befassen, welche Auswirkungen die Ziele der Disability History einerseits auf Einstellungen gegenüber Behinderung haben. Darüber hinaus muss bedacht werden, wie die bereits vorhandenen Geschichten über Behinderungen überarbeitet werden müssen, um Diskussionen und Kooperationen zwischen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen zu initiieren. Dabei gilt es stets, alle Prozesse und die jeweiligen Grenzen der Erkenntnis und der Zusammenarbeit in der shared authority sichtbar zu machen und geschichtswissenschaftliche Standards nicht zu verlassen. Tatsächlich wäre somit der Forderung nach partizipativer Forschung Rechnung getragen, insbesondere auch unter Offenlegung der verschiedenen Rollen, die die gemeinsam Forschenden (und Ausstellenden) mit ihren jeweiligen Expertisen und Erfahrungen bzw. politischen Wünschen innehaben. 2.2 Disability History, Exklusion und Partizipation Auch wenn die Forderungen nach partizipativer Forschung Konsens in den Disability Studies sind, zeigt sich bei genauerer Analyse der einzelnen Forschungsfelder, dass diese nach wie vor äußerst exkludierend sind und die bekannte Forderung „Nichts ohne uns über uns“ in weiten Teilen nicht umgesetzt wird. Disability History etwa wird vor allem deutlich aus einer „westlichen“ Kultur und Perspektive heraus geschrieben, und trotz des partizipativen Anspruchs wird sie meist von einer privilegierten Gruppe von Menschen, nämlich Akademiker*innen, betrieben. So produziert eine relativ kleine Gruppe das Wissen über die Lebenswirklichkeiten von Menschen mit Behinderungen in der Vergangenheit. Insbesondere wenn es um kognitive Beeinträchtigungen geht, ist der Teilhabeanspruch an Disability History noch lange nicht verwirklicht. Einer zentralen Forderung der Disability History nachkommend, müssten für eine umfassende öffentlich stattfindende Geschichtsvermittlung Menschen mit Behinderungen nicht nur als Objekte historischer Forschung, sondern auch als Subjekte ihrer (eigenen) Geschichte wahrgenommen werden. Wird dieser subjektbezogene Zugang konsequent verstanden, müssen auch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in den Prozess des Erkenntnisgewinns in der Disability History einbezogen werden. Tatsächlich findet bislang jedoch kaum solche Forschung statt, welche nach den Prinzipien inklusiven Forschens gestaltet ist (Schuppener/Buchner/Koenig 2016). Partizipative Ansätze, die auch solche Gruppen einbeziehen, können allerdings auf eine ungemein hohe Zustimmung der Zielgruppe setzen. Viele Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zeigen ein hohes Interesse daran, an solchen Forschungen beteiligt

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sein, die ihre eigene Lebenswirklichkeit betreffen und einen gewissen Nutzen für das eigene Leben versprechen (Byhlin/Käcker 2018, McDonald/Conroy/Olick 2016). Gleichwohl müssen hier ethische Fragen beachtet werden, insofern einerseits unterschiedliche Ansichten darüber existieren könnten, was als Nutzen gilt, was als wichtig und was als unwichtig klassifiziert wird. Dies mag aus einer geschichtsdidaktischen Perspektive allerdings andererseits auch wieder äußerst wertvoll sein, da das „Ringen“ um Bedeutung fundamental für die Konstruktion historischer Wirklichkeiten ist. Gleichwohl gilt gerade bei partizipativen Ansätzen mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, dass gemeinsame Arbeit auf „Augenhöhe“ die unterschiedlichen Grade an kognitiver Verarbeitungstiefe und Geschwindigkeit berücksichtigen muss, ohne dass hier Dominanzen der nichtbehinderten Beteiligten entstehen. Potentielle Unterschiede der kognitiven Fähigkeiten und Fähigkeiten zwischen Forschenden und Partner*innen im Forschungsprozess müssen daher reflektiert werden. Noch deutlicher werden ethische Fragestellungen relevant, wenn Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen oder multiplen Behinderungen Teil einer partizipativ forschenden Gruppe sind. Hier gilt es, wie Mietola, Miettinen und Vehmas betonen, solche Forschungsziele, -designs, -methoden und -praktiken zu verfolgen, die auf der Anerkennung ihres Wertes als Menschen beruhen, sie also nicht objektivieren. In besonderem Ausmaß werden nämlich diese Gruppen aus emanzipatorischen Vorhaben ausgeschlossen; das ist besonders problematisch, da ihr Ausschluss oft geradezu die kulturellen Ideologien als Schlüsselfaktoren für die soziale Ausgrenzung behinderter Menschen verstärkt (Mietola/Miettinen/Vehmas 2017). Im Zuge inklusiver historischer Forschung wurden vor allem im englischsprachigen Raum verschiedene Forschungsprojekte durchgeführt, bei denen Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen gemeinsam mit Historiker*innen ihre eigene Geschichte erforschten (Barsch/Barte 2020). Methodisch wurde hier vor allem auf Ansätze der Oral History zurückgegriffen, inhaltlich wurden etwa die Erfahrungen hinsichtlich der Institutionalisierung und Viktimisierung als „Behinderte“ rekonstruiert (Atkinson 2004, Dillon/Holburn 2003, Manning 2010). Das historische Arbeiten wurde in diesen Projekten oft als Empowermentstrategie betrachtet, um diese Gruppe „sprechfähig“ hinsichtlich ihrer eigenen Vergangenheit zu machen (Atkinson 2004, 700). Auch in einer deutschsprachigen Studie zum Ost-West-Vergleich der Einschätzung der subjektiv erlebten Vergangenheit konnte gezeigt werden, dass die Zielgruppe trotz intellektueller Benachteiligung zeitliche Orientierung in biographischer Perspektive vollziehen kann (Barsch

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2009). Derzeit werden zudem an der Universität Kiel verschiedene Formate erprobt, in denen in einem inklusiven Setting Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Regional- und Bereichsgeschichte rekonstruieren, indem sie mit Hilfe der Methode der Leichten Sprache Quellen derart übersetzen, dass sie von allen inhaltlich erfasst und anschließend beurteilt werden können (Barsch 2019). Gleichwohl kann anhand der Themenwahl, die in den Studien gewählt wurde, durchaus kritisch hinterfragt werden, ob hier nicht auch Stereotype prägend waren, denn dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen bevollmächtigt werden, ihre eigene Vergangenheit zu rekonstruieren, bedeutet eben auch, dass die Bearbeitung anderer Vergangenheiten weiterhin außen vor bleibt. 2.3 Public Disability History – ein Modell für eine shared authority Wie kann nun unter Berücksichtigung der bisher dargestellten Aspekte Public Disability History im Sinne eines shared authority-Modells betrieben werden, welches letztlich auch offen ist für die unterrepräsentierte Gruppe von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen (und letztlich für alle)? Dies kann dann gelingen, wenn die Arbeit als ein Teamprozess verstanden wird, bei dem unterschiedliche Erwartungen und Perspektiven, aber auch subjektive Erfahrungen und Wünsche, als Resultat in eine Darstellung münden, die geschichtswissenschaftlichen Standards entspricht, aber den normativen Anspruch nach Emanzipation nicht außer Acht lässt und den Widerspruch zwischen verschiedenen Positionen nicht negativ bewertet. Insofern Menschen, die in Gesellschaften leben, nicht nur wissenschaftlichen Prinzipien folgen, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft gestalten wollen, ist dies legitim. Gleichzeitig werden so Praktiken von Wissensvermittlung vor einem Transfer in die Öffentlichkeit kritisch überprüft, insofern die Dominanzen von Ausstellungsmachenden (Historiker*innen, Kurator*innen) einer Überprüfung durch Betroffene, aber auch Rezipient*innen unterzogen werden. Denn letztlich gilt nach wie vor, dass Ausstellungen und weitere öffentliche Vermittlungsversuche der Disability History gesellschaftliche Konventionen und Stereotype über Menschen mit Behinderungen als ausdauernde Helden oder Objekte des Mitleids weiter festigen. Das medizinische Modell von Behinderung dominiert in vielen Museen und Ausstellungen nach wie vor, wodurch auch die Bandbreite von Inhalten, die Teil der öffentlichen Vermittlung werden, verringert ist (Ott 2005). Eine shared authority mit klaren Rollenverteilungen im Prozess der Erarbeitung und Gestaltung von Inhalten der Public Disability History hat hier die Funktion

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eines Korrektivs. Die aus diesen Rollen erarbeiteten Perspektiven münden nicht zwangsläufig im Konsens, in eine Erzählung ohne Brüche. Vielmehr ist eine Erzählung der Disability History genau durch solche Brüche gekennzeichnet, die nicht nur wissenschaftliche Kontroversen aufdecken, sondern auch die Erwartungen und Interessen spezifischer Gruppen. Auch die Präsentation der Kontroversität der Arbeitsgruppe selbst wird somit Teil der Ausstellung. Ein Modell für die Rollenaufteilung in einem multiprofessionellen Team mit geteilter Autorität bei der Wissensproduktion könnte so aussehen: Tabelle 1: Modell für die Rollenaufteilung in einem multiprofessionellen Team Ziel: Darstellung der verschiedenen Perspektiven auf eine spezifische Disability History in der Öffentlichkeit (Blog, Ausstellung, Museum, Film, Schulbuch …) Rolle

Primäre Aufgaben

Autorität im Diskurs

Historiker*in

Forschung. Recherche. Rekonstruktion. Verfassen von Darstellungstext 1 (Wissenschaft) inkl. Skizzierung von Kontroversen mit Aktivist*in

Verweis auf fachliche Standards. Feedback zur Position der Aktivist*in unter Einbindung der Position der Aktivist*in

Aktivist*in

Einbringen von Erfahrungswissen. Setzen der politischen Agenda. Verfassen von Darstellungstext 2 (Fokus: Emanzipation) inkl. Skizzierung von Kontroversen mit Wissenschaftler*in

Einbringen von Gegenwartsperspektive und politischer Agenda. Bezug zur Position der Historiker*in

Nutzer*innen (diverse Gruppen)

Grenzen des Verstehens äußern. Feedback zu Darstellungstexten hinsichtlich Verständlichkeit und Aufzeigen der Kontroversität

Vetorecht des Verstehens. Einbringen von Fragen (fachlich und inhaltlich)

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Geschichtsdidaktiker*in

Erstellen eines methodischen und geschichtstheoretischen Konzepts. Sicherstellen, dass subjektive Aneignungsweisen und Fragen bei der Beschäftigung mit dem „Produkt“ möglich sind

Einfordern von Kontroversität und Multiperspektivität. Vetorecht bei „überwältigenden“ Darstellungen. konzeptionelle Gestaltung definieren

Quelle: Sebastian Barsch

In der Realität werden die Rollen nicht immer trennscharf voneinander zu trennen sein. Die Historikerin mit einer Behinderung kann gleichsam im privaten Leben Aktivistin sein. Im professionellen Diskurs jedoch gilt es vor allem, die Rollenklarheit zu bewahren, wozu auch gehört, Interessenskonflikte zu benennen und gegebenenfalls weitere Kontrollinstanzen einzubeziehen. Die hier skizzierten Rollenverteilungen, die nur erste Ideen abbilden, zeigen auch, dass eine wirklich partizipatorische Public Disability History ein aufwändiger und langwieriger Prozess ist. Gleichwohl besteht in einem solchen Ansinnen, welches letztlich die Aufbereitung von Geschichten über Behinderung nur in multiprofessionellen Teams möglich macht, die tatsächliche Chance, die epistemologischen Gegensätze zwischen einer auf Emanzipation ausgerichteten Disability History und einer solchen, die normative Voraussetzungen wegen der damit verbundenen epistemologischen Probleme ablehnt, miteinander in Einklang zu bringen, indem schlicht die verschiedenen Perspektiven gleichberechtigt dargestellt werden. Zwar würde eine solche Form der Darstellung nicht mehr unbedingt kohärent sein. Gleichwohl wäre sie geschichtstheoretisch präziser, da sie die Widersprüche nicht verbirgt, die während ihrer Entstehung offensichtlich wurden. Möglicherweise könnten solch offen kontroverse Erzählungen zudem die oben angedeutete Skepsis einer wie auch immer definierten Öffentlichkeit gegenüber geisteswissenschaftlicher Forschung mildern, indem eben gerade nicht „fertige“ Erzählungen präsentiert werden, die im Zweifelsfall anderen, ebenso „fertigen“ Erzählungen widersprechen. Was in der Public History nämlich oft noch fehlen mag, ist der offene Umgang mit Zweifeln an der Erkenntnis. Dies transparent zu machen, würde meines Erachtens jedoch die Glaubwürdigkeit öffentlich ausgestellter geschichtswissenschaftlicher Forschungsergebnisse erhöhen.

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3. DISABILITY HISTORY UND SCHULE Einen etwas anderen Status nimmt die Public History dann ein, wenn es um Schulen geht. Immerhin äußert sich hier durch Autorität über Lehrpläne und letztlich durch Autorität über das gesamte Schulsystem letztlich auch ein „Staatswille“. Oben angesprochene Formen partizipativer Forschung sind dabei jedoch grundsätzlich, etwa in Projekten, auch in Schulen möglich. Im schulischen Alltag allerdings werden Zugänge zur Disability History eher in Konstellationen mit zwei Statusgruppen – Lehrende und Lernende – bearbeitet werden. Während in der Disability History stetig mehr Forschungsarbeiten entstehen, gibt es bislang nur wenig Ansätze, diese Erkenntnisse auch für das schulische Lernen fruchtbar zu machen. Lehrpläne berücksichtigen das Thema Behinderung in der Regel nicht (Barsch 2011, 105-106), und auch die mittlerweile eher offenen Kernlehrpläne der meisten Regionen verweisen beim Thema „Exklusion“ meist exemplarisch eher auf die „traditionellen“ Themen wie Migration oder Frauen. Gleichwohl gibt es erste Bemühungen, das Forschungsfeld der Disability History für das historische Lernen an Schulen zu konturieren (Barsch 2011, Hellberg/Zürn 2016, Lingelbach 2016, Wolter 2016). Oft werden dabei einzelne Subdisziplinen wie die Deaf History (Barsch 2014) und spezifische epochale Zugriffe auf das Thema Behinderung und/oder Krankheit (Beck/Timm 2015) als wertvoll für den Unterrichtseinsatz betrachtet. Vereinzelt sind bislang konkrete Unterrichtsmaterialien erschienen, die jedoch meist ereignisgeschichtlich ausgerichtet sind und wenig auf historische Kompetenzentwicklung zielen (Barsch 2011, 113-115). Im schulischen Kontext muss Disability History indes nicht zwangsläufig als partizipative Perspektive betrachtet werden, d.h. die Reflexion der Differenzkategorie „Behinderung“ ist unabhängig vom Vorhandensein behinderter Lernender in den Schulklassen ein wertvoller Gegenstand, um historisches Denken zu fördern. „Insofern das Verständnis von ‚Behinderung‘ einem steten Wandel unterzogen ist und sich hier Wirkmechanismen gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse zeigen, kann die Differenzkategorie [...] auch zeigen, wie historisch gewachsene gesellschaftliche Normen, Vorstellungen und Praktiken, aber auch Stereotype und Stigmatisierungen die Gegenwart prägen. ‚Disability‘ bietet dabei ähnlich wertvolle Analyse- und Reflexionsanlässe wie die Kategorien ‚race‘, ‚class‘ oder ‚gender‘.“ (Barsch/Lingelbach 2020, 184)

„Behinderung“ als Kategorie des Geschichtsunterrichts ist ähnlich dazu geeignet, Ausgrenzungen und Konstruktionen des „Anders-Seins“ in der Geschichte zu thematisieren, historisch gewordene und gegenwärtig wirkende gesellschaftliche

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Konzepte von Norm und Normabweichung zu reflektieren, wie dies andere Differenzkategorien leisten. Insofern Schule auch als Abbild der Gesellschaft verstanden wird und die schulisch behandelten Themen und Inhalte Probleme der Gegenwart spiegeln, kann der aktive Umgang mit der Kategorie „Behinderung“ auch als Antwort auf die kontroverse Debatte um Inklusion verstanden werden. Diese kann allerdings trotz oder gerade wegen ihrer Kontroversität als aktuelles „Schlüsselproblem“ aufgefasst werden. Bei genauerer Betrachtung der Inhalte, die im Geschichtsunterricht verhandelt werden, zeigt sich etwa, dass „Differenz in den geschichtskulturellen Produkten der Vergangenheit und Gegenwart allgegenwärtig [Hervorhebung im Original, S.B.]“ ist, und Behinderung ebenso wie „Sexualität, Herkunft, Alter [...] immer schon geschichtskulturell verhandelt worden“ ist (Alavi/Barsch 2018, 194-195). Insofern Geschichtsunterricht stets in einer Gesellschaft durchgeführt wird, „die durch Heterogenität und soziale Ungleichheiten geprägt“ ist (Lücke 2012, 136), gilt es auch, diese historisch gewachsenen Ungleichheiten im Unterricht in den Blick zu nehmen. Historisches Lernen an Schulen ist letztlich eine pragmatische Wendung von Geschichtskultur, insofern gesellschaftliche Konventionen in die Anforderungen an den Unterricht eingehen. Wird die Gesellschaft und damit auch die Geschichtskultur inklusiv gedacht, kann es nicht ausbleiben, „dass Aspekte von Diversität auch Inhalte historischen Lernens werden. Dazu zählen etwa die Queer History oder die Dis/ability History.“ (Alavi/ Barsch 2018, 194) Dabei sollte aber nicht auf eine affirmative Übernahme der inklusiven Forderungen gezielt werden. Vielmehr sollte der Unterricht die Kontroversen der Disability History benennen und die Lernenden befähigen, zu eigenen Urteilen zu den dort verhandelten Fragen zu gelangen. Das gegenwärtige Ziel historischen Lernens liegt in nahezu allen Modellen im Erlangen der sogenannten narrativen Kompetenz. Dies bedeutet, dass Lernende einerseits in der Lage sein sollen, aus Quellen Geschichte zu rekonstruieren. Darüber hinaus sollen sie kompetent dafür werden, von anderen konstruierte Geschichte hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Wertungen, Deutungen und Erzählweisen zu dekonstruieren (Schreiber 2008, 204). Insofern die Kategorie „Behinderung“ immer auch Identitätsangebote und Identitätskonzepte adressiert, sollten genau diese im Geschichtsunterricht verhandelt und analysiert werden. Disability History im Kontext historischen Lernens an Schulen sollte einen besonderen Schwerpunkt auf die Rekonstruktion der verschiedenen Identitätsangebote legen, die aus verschiedenen Perspektiven in historische Erzählungen eingehen. Dann ist es – zumindest auf einer analytischen Ebene – auch möglich, die oben angesprochenen verschiedenen Rollen in einer shared authority zumindest argumentativ nachzuzeichnen. Ein Analyseschema

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für den Umgang mit Narrativen der Disability History im Unterricht könnten etwa die vier Dimensionen identitätsstiftender Narrative sein, welche die Soziologin Margaret Somers entwickelt hat. Diese fokussieren letztlich auch geschichtstheoretische Fragestellungen und thematisieren zudem Erwartungen und Perspektiven verschiedener Akteure der Disability History (Somers 1994, 618-620): • Ontologische Narrative sind die Geschichten, die soziale Akteure verwenden,

um ihrem Leben und ihren Handlungen Sinn zu geben. Derartige Erzählungen definieren die Gruppenidentät. Ein Beispiel könnten Geschichten der Disability History sein, die deutlich auf Emanzipation ausgerichtet sind und von Akteuren der Behindertenrechtsbewegung geschrieben sind. • Öffentliche Narrative entspringen kulturellen Traditionen und institutionellen Anforderungen. Hier manifestieren sich u.a. historische Mythen, etwa eine Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik als Gesellschaft, die es Menschen mit Behinderungen ermöglicht, sich frei zu entfalten. • Metanarrative adressieren Meistererzählungen, die für alle zeitgenössischen Akteure relevant sind, auch Historiker*innen. „These narratives can be the epic dramas of our time: Capitalism vs. Communism, the Individual vs. Society, Barbarism/Nature vs. Civility“ (Somers 1994, 619). Oder im Kontext von Disability History: Exklusion vs. Inklusion. • Konzeptionelle Narrativität bezieht sich auf umfassende Kategorien und Konzepte, die u.a. eine Perspektive in neueren kulturwissenschaftlichen Arbeiten sind. Hier werden Begriffe wie z.B. „Gesellschaft“ oder „Akteure“ und „Kultur“ einer umfassenden Analyse hinsichtlich der Historizität und Relativität sozialer Gruppen unterzogen, aber auch vorhandene Erkenntnisse neu bewertet. Im Kontext von Disability History wären dies etwa Agency-Konzepte und die damit verbundene Handlungsmacht von Menschen mit Behinderungen in der Vergangenheit, die in neueren Erzählungen berücksichtigt wird. Werden im Geschichtsunterricht also die öffentlich vorhandenen Erzählungen hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Identitätsangebote untersucht, kann ein solches Analyseschema den Lernenden Orientierung bieten und sie dabei unterstützen, die Perspektiven, aber auch die normativen Vorstellungen der verschiedenen Erzählungen zu reflektieren. Dabei gibt es kein „richtig“ oder „falsch“. Vielmehr liegt das Ziel des Lernprozesses darin, genau diese verschiedenen Facetten zu erkennen. Indem die „Baupläne“ verschiedener Erzählungen über Behinderung in der Vergangenheit untersucht werden, kann den Schüler*innen auch verdeutlicht werden, dass verschiedene Rollen und verschiedene Interessen unterschiedliche Erzählungen hervorbringen. In der Bewertung dieser verschiedenen Perspektiven

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liegt somit ein mögliches Lernziel, insofern auch hier die Kontroversität des Gegenstandes deutlich wird. Die Rolle der Lernenden wäre somit gleichsam, den öffentlichen Diskurs über Behinderung zu dekonstruieren, zu hinterfragen, wo Machtfaktoren diesen Diskurs bestimmen, mit welchen Interessen unterrepräsentierte Gruppen aus der öffentlichen Darstellung ferngehalten werden, wo ihre Erfahrungen verkürzt dargestellt werden etc. Auch wenn also eine Public History wie oben skizziert im Klassenzimmer nur bedingt stattfinden kann, wäre eine Public Disability History als Äußerung der Geschichtskultur einer Gesellschaft der Lerngegenstand. Letztlich wirkt sich dies auch auf die Rolle von Geschichtslehrpersonen und somit auch auf die Lehrer*innenbildung aus, wie der australische Geschichtsdidaktiker Robert Parkes schreibt: „I would argue that there is a need for our future history teachers as public historians to offer their students narratives which provide some form of temporal mooring or historical orientation in which to know themselves as historical beings. There is also need for critical perspectives that assist them to deconstruct the narratives ‚truths‘ they have inherited and taken for granted.“ (Parkes 2018, 131)

4. AUSBLICK Mit der zunehmenden Etablierung der Disability History als geschichtswissenschaftlicher Subdisziplin werden auch deren Forschungsergebnisse immer intensiver einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Eine Public Disability History wird sich somit damit auseinandersetzen müssen, wie die verschiedenen Ansprüche zwischen Emanzipation, Wissenschaftsorientierung, aber auch gesellschaftlichen Erwartungen in öffentliche Erzählungen eingebunden werden können. Dies betrifft alle Institutionen der Geschichtsvermittlung, seien es Museen, Netzmedien oder auch Schulen, die freilich einen gewissen Sonderstatus haben, da die Akteure hier in der Regel nicht freiwillig zusammenkommen. Werden Fragen der Disability History öffentlich verhandelt, müssen auch wissenschaftsethische Probleme reflektiert werden, die zuvor nur in einem relativ kleinen Kreis der Disability Historians ausgehandelt wurden. Das in diesem Beitrag vorgestellte Modell einer geteilten Verantwortung hinsichtlich der öffentlichen Darstellung von Behinderungsgeschichten ermöglicht es, die Kontroversen, die aus den verschiedenen vorhandenen Perspektiven entstehen, nicht als Manko zu betrachten, sondern gerade als den Kern geschichtswissenschaftlichen Arbeitens. Insofern der Public History immer auch eine didaktische Komponente innewohnt (womit nicht eine belehrende Haltung gemeint ist, sondern eine solche, die

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den Rezipient*innen ermöglicht, zu eigenen Urteil zu gelangen), kann ein solches Vorgehen ein Vehikel sein, um geschichtstheoretische Fragestellungen einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Dies kann in Ansätzen auch in schulischen Kontexten gelingen. Es handelt sich bei den hier dargestellten Überlegungen natürlich nur um erste Skizzen, die der Frage nachgehen, wie eine Public Disability History tatsächlich partizipativ gestaltet werden kann. Ob solche Ansätze leicht umgesetzt werden können, ist letztlich abhängig von weiteren Aushandlungsprozessen zwischen den verschiedenen Akteuren der Geschichtswissenschaft und Interessenvertreter*innen, andererseits aber auch schlicht von Ressourcen. Die Arbeit in multiprofessionellen Teams bedarf schlichtweg einer höheren Anzahl an Beteiligten als konventionelle historische Arbeit. Perspektivisch besteht jedoch die Chance, dass durch solche Ansätze Geschichten entstehen, die durch Brüche und nicht durch Kohärenz gekennzeichnet sind und gerade daher die Komplexität der Disability History in ihrer vollen Breite präsentieren.

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(Nicht)Behinderung – Geschlecht – Macht. Kategorien, Diskurse und Alltagspraktiken im Fokus der Hochschullehre

Eine Aufgabe für die Lehre: Analyse der machtvollen Konstruktion von Nicht_behinderung Marianne Hirschberg

1. EINLEITUNG Was denken wir über Behinderung und Nichtbehinderung? Was oder wer gilt als behindert oder nichtbehindert? Woran werden wir gehindert? Was hindert uns? Wir selbst oder die Umwelt? Und wie entstehen die Vorstellungen von dem, was als Behinderung oder Nichtbehinderung verstanden wird? Wenn es keine klaren Grenzen gibt, was das Eine oder das Andere ist, woher stammen dann die Begriffe? Diesen Fragen wird im folgenden Beitrag nachgegangen, und es werden Vorschläge zur Umsetzung in der Lehre gemacht. Gesellschaften sind von Aushandlungspraxen geprägt, dies betrifft besonders den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen bzw. die Erlangung von Chancen. Nicht selten handelt es sich hierbei auch um widerstreitende Diskurse und Praktiken, die sich in Machtverhältnissen ausdrücken. Vielfalt und Widersprüchlichkeiten sind damit kein Gegensatz, sondern immanenter Bestandteil gesellschaftlicher Normalitäten, sie charakterisieren heterogene Gesellschaften. Jedoch sind auch gesellschaftlich lang tradierte Konstruktionen in Verhandlung, was im Folgenden an der machtvollen Konstruktion von Nichtbehinderung untersucht werden soll. Dieser Aufsatz orientiert sich an dem Foucaultschen Diskursbegriff, der davon ausgeht, „dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu

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bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen“ (Foucault 1991, 10-11). So ist zu fragen, wie der Diskurs über Nichtbehinderung sich entwickelt hat und welche Ereignisse und Instrumente diesen markant prägen. Wie werden Behinderung und Nichtbehinderung konstruiert? Als natürliche Phänomene? Oder eher als gesellschaftliche Konstruktion oder Vorstellung? Als Nicht_behinderung – der Unterstrich markiert hier in Anlehnung an den gender gap das Kontinuum zwischen zwei Polen –, also eine beides umfassende Bandbreite von Behinderungen und Nichtbehinderungen? Werden Behinderung und Nichtbehinderung in dieser Spannweite als gesellschaftlich existierende Phänomene und aufeinander verweisende Konstruktionen wahrgenommen oder jeweils separat konstruiert? Antworten auf diese Fragen sind folgenschwer: Unterschiedliche Akteur*innen, Disziplinen bzw. Professionen haben – je nach Handlungskontext – Konstrukte oder Modelle von Behinderung entwickelt und verfolgen damit unterschiedliche Interessen. Um diese Fragen näher zu beantworten, wird anhand unterschiedlicher Modelle, Klassifikationen und Gesetzesnormen analysiert, wie Behinderung und Nichtbehinderung konstruiert werden. Dies wird exemplarisch an der aktuellen Behinderungsklassifikation der Weltgesundheitsorganisation, der Behinderungs-Definition des Sozialgesetzbuches IX (in der Neufassung des Bundesteilhabegesetzes [BTHG]) sowie der Bestimmung von Behinderung in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) als einfachem deutschen Recht veranschaulicht und aus Perspektive der Disability Studies kritisch reflektiert. Welche Macht weltweit gültige Klassifikationen hierbei haben, welche Diskurse und Praktiken diese hinter- oder auch vordergründig beeinflusst haben, wird reflektiert und zur Diskussion gestellt. Als Schlussfolgerungen aus den Konstruktionen von Behinderung und Nichtbehinderung wird herausgearbeitet, inwiefern das Konstrukt Nichtbehinderung als Normalität als eine dauerhafte gesellschaftliche Folie wirkt und unausgesprochen dominant ist.

2. VORSCHLÄGE ZUR GESTALTUNG DER UNTERRICHTSEINHEIT In diesem Beitrag werden drei Vorschläge gemacht, wie das Thema „Analyse der machtvollen Konstruktion von Nicht_behinderung“ in Bachelor-Studiengängen geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Fächer gelehrt werden kann. Es ist auch interdisziplinär als Wahlmodul vorstellbar. Je nach Zeit

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und nach Vorkenntnissen der Studierenden sind Umfang und detaillierte Erarbeitung zu variieren. So können die drei Themenblöcke: a) b) c)

Historisch-systematische Einführung zu Konstruktionen von Nicht_behinderung Disability Studies als Analyse-Perspektive Analyse der Konstruktionen und ihrer disziplinären Herkunft (Rechts-, Gesundheits- und Sozialwissenschaften)

sowohl hinsichtlich der Zeit, kürzer oder länger, als auch bezogen auf die Vertiefungsausrichtung in unterschiedlicher Weise didaktisch-methodisch erarbeitet werden. Hierzu bietet es sich an, neben diesem vorliegenden Aufsatz Hintergrundtexte der Disability Studies und der Medizin- bzw. Psychiatrie- und der Rechtsgeschichte, aber auch andere Materialien zur ergänzenden Fundierung heranzuziehen. Als Materialien können journalistische Texte wie Zeitungsartikel aus der Region als Lebensumfeld der Studierenden bzw. allgemeiner formuliert der Seminarteilnehmenden, Bildmaterialien wie Photos, Poster oder Graphiken und auch Filme zur Anschauung genutzt werden. Zeitlich lässt sich die Unterrichtseinheit unterschiedlich gestalten, beispielsweise wie folgt: i)

Komprimiert mit einem Oberseminar oder höheren Fachsemester in einer Doppelstunde (zwei reguläre Seminarsitzungen von je 90 Minuten) bei bereits fundierten Fachkenntnissen ii) Als Unterrichtseinheit über vier bis sechs Seminarsitzungen (à 90 Minuten) als Semestereinstieg bei vorhandenen Grundkenntnissen oder als zweite Einheit im Semester, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweils disziplinär begründeten Konstruktionen von Behinderung und Nichtbehinderung vertieft zu erarbeiten iii) Als vollständiges Seminar von ca. zwölf Seminarsitzungen (à 90 Minuten) in einem Semester, um grundlegend in die Thematik interdisziplinär einzuführen. Im Folgenden soll an dem komprimierten Oberseminar (i) veranschaulicht werden, wie die Unterrichtseinheit „Analyse der machtvollen Konstruktion von Nicht_behinderung“ durchgeführt werden kann. Die Unterrichtseinheit könnte in der ersten Sitzung nach einer kurzen Einführung mit einem Brainstorming an der Tafel mit der Gesamtgruppe zum Be-

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griff Nicht_behinderung begonnen werden, was sich besonders bei Gruppen bis zu 20 (30) Teilnehmenden anbietet. Hiermit soll das Hintergrundwissen der Teilnehmenden aufgegriffen werden. Der Begriff Nicht_Behinderung ist besonders durch den das Spektrum zwischen Behinderung und Nichtbehinderung verdeutlichenden Unterstrich reizvoll, um die Aufmerksamkeit des Plenums zu erhalten. Eine andere Variante wäre, mit einer Reflexion der Begriffe Nicht_behinderung, Behinderung und Nichtbehinderung in Partnerarbeit anzufangen, um mit diesen drei Begriffen Raum für die Diskussion auch persönlicherer Aspekte des Themas zu bieten. Nach einer würdigenden Rückmeldung an die Gesamtgruppe, auch nach einer kurzen Phase des Zusammentragens der Ergebnisse der Partnerarbeit, könnte der Gruppe dieser Aufsatz gegeben werden, um mit ihm offene Fragen des Brainstormings aufzugreifen. Er dient dem Erkenntnisgewinn über die zeit- und gesellschaftliche Entwicklung der Konstruktionen. Der Text sollte in Einzelarbeit gelesen und (je nach Niveau, Vorkenntnissen und Arbeitsweise) mit das Verständnis leitenden, schriftlich zu beantwortenden Fragen versehen werden. Der hiermit vorgenommene Methodenwechsel ermöglicht es, über die Konstruktion von Nicht_behinderung zu reflektieren und eigene Verständnis- sowie inhaltliche Fragen hierzu zu formulieren, die nach einer Pause in der Gesamtgruppe geklärt und auch kontrovers diskutiert werden. Hierzu können auch die im Aufsatz verwandten Referenzquellen herangezogen werden. Entscheidend ist es, die fehlende Konstruktion von Nichtbehinderung zu problematisieren und ihr Machtpotential kritisch zu erörtern. In Kleingruppenarbeit könnte abschließend herausgearbeitet werden, wie die gesellschaftlich dominante Perspektive des Ableism durch die machtvolle Leerstelle Nichtbehinderung wirkt. Das Oberseminar könnte mit der Entwicklung weiterführender Desiderata schließen, wie an die Analyse der Konstruktion von Nicht_behinderung angeschlossen werden kann. Für die beiden längeren Varianten der Unterrichtseinheit sind Vertiefungsvorschläge methodisch flexibel zu entwickeln und umzusetzen. Es können beispielsweise je nach Interesse Seminargruppen beauftragt werden, die Entwicklung der unterschiedlichen Konstruktionen zu recherchieren oder auch die Bedeutung der Disability Studies als Forschungsperspektive und als wissenschaftlicher Arm der Behindertenbewegung eigenständig zu erarbeiten. Kurzreferate oder Erörterungen sowie Filmausschnitte zur Erörterung der medialen Repräsentation der Thematik, wie das Spektrum von Behinderung und Nichtbehinderung, in welcher Weise Behinderung und Nichtbehinderung je spezifisch inszeniert werden, können hierbei herangezogen werden.

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3. WIE UND WOZU KONSTRUKTIONEN? Was wird in Bildungseinrichtungen über Behinderung, Nichtbehinderung und die Bandbreite von Nicht_behinderung vermittelt? Was wird gelehrt? Während lange das Konstrukt Behinderung im Fokus stand, soll in diesem Aufsatz die machtvolle Konstruktion von Nicht_behinderung, also des Spektrums von Behinderung und Nichtbehinderung, betrachtet und analysiert werden. Alle gesellschaftlichen Phänomene existieren nur durch ihre und in ihrer gesellschaftlichen Konstruktion. Etwas „Natürliches“ besteht nicht an sich, sondern immer nur in Beobachtung durch Menschen oder durch von Menschen konstruierte Maschinen (wie Kameras, Drohnen u.a.). Behinderung wird unterschiedlich konzeptualisiert, im Folgenden sollen deren Konstruktionen in medizinischen oder gesundheitswissenschaftlichen Klassifikationen, in sozial- oder kulturwissenschaftlichen Modellen und in juristischen Normen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Traditionell wird klassifiziert, was im öffentlichen oder im Fachdiskurs als ungewöhnlich bzw. sonderbar, auch als problematisch beurteilt wird. Dieses wird als Besonderheit, als interessantes Phänomen zum Forschungsgegenstand gemacht. Es sind zumeist Phänomene, die nicht dem herrschenden Maßstab, dem formulierten oder unbewusst verfolgten Ideal entsprechen. Seit Jahrhunderten waren dies körperliche, seelische und geistige Phänomene, je nach Ort und Zeit wurden unterschiedliche Phänomene hierzu gezählt. Im 21. Jahrhundert hat sich vor dem Hintergrund der Entstehung internationaler Fachgesellschaften seit dem 19. Jahrhundert und deren Interesse an international gültigen Regelwerken der Fokus auf Störungen und Abweichungen von dem als normal oder gewöhnlich konstruierten Phänomen verschärft (vgl. Hirschberg 2009, 32-61). Während in früheren Jahrhunderten regional große Unterschiede vorherrschten, wie mit körperlichen, seelischen und geistigen Phänomenen, die auch als Beeinträchtigungen verstanden wurden, umgegangen wurde, hat sich seit der Neuzeit die Orientierung am wirtschaftlich funktions- und leistungsfähigen, verwertbaren Körper verstärkt (vgl. Foucault 1968, 104; Dörner 2017, 692-700). Mit dieser Orientierung verbunden ist die angestrebte internationale Vereinheitlichung von Diagnosen und Klassifizierungsordnungen. Eine individuelle Beeinträchtigung wurde also in einem Dorf oder einer Stadt im Mittelalter anders konstruiert als im 20. oder 21. Jahrhundert – selbst wenn es sich um dasselbe Dorf oder dieselbe Stadt innerhalb Europas handelt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat mit ihrer Gründung nach dem zweiten Weltkrieg als Folgeorganisation des internationalen statistischen Kongresses dessen Entwicklung internationaler Klassifikationen von Krankheiten

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(und ab 1980 von Behinderungen) übernommen (vgl. Hirschberg 2009, 35). Stetig wurden diese Diagnosekataloge ausgeweitet bzw. auch den gesellschaftlichen Vorstellungen angepasst, wie besonders an der Klassifizierung von Homosexualität als Störung im Diagnostic Statistical Manual II (DSM-II) und deren späterer Aufhebung im DSM-IV deutlich wird. Das Diagnostic Statistical Manual wird von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben. Während Homosexualität noch im DSM-II (1968) als „sexuelle Orientierungsstörung“, später im DSM-III (1980) als „ich-dystone Homosexualität“, mit der ein Zustand anhaltenden Leidens an der eigenen Homosexualität bezeichnet wurde, eingeordnet wurde, wurde sie im DSM-IV-TR (2000) dann mit der Kategorie „nicht näher bezeichnete sexuelle Störung“ diagnostiziert; darunter wurde auch die Unterkategorie „andauerndes und ausgeprägtes Leiden an der sexuellen Orientierung“ (302.9) subsumiert. Gegen den Widerstand der American Psychiatric Association (APA) wurde die Kategorie 1987 aus dem DSM gestrichen, deren öffentliche Entschuldigung und erneuerte Positionierung jedoch dann 1991 erfolgte. Aus der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) wurde Homosexualität als negativ beurteilte Kategorie erst 1992 mit der zehnten Version entfernt, wohingegen allerdings daraufhin dort das Störungsbild der ich-dystonen Sexualorientierung (F66.1) im Bereich der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgenommen wurde. Auch die Verbreitung der Diagnose Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) zeigt, wie viele Akteur*innen Interesse daran haben, dieses Syndrom zu diagnostizieren, jemand diagnostizieren zu lassen und auf diese Art und Weise die Aufmerksamkeit weg von gesellschaftlichen Strukturen und der Mehrdimensionalität von Lebensverhältnissen auf individuelle Verhaltensweisen zu lenken. Mehrere Faktoren kamen zusammen, wie der frühere Vorsitzende der APA zu der von ihm selbst früher unterstützten Konstruktion ADHS kritisch darlegt: „ein veränderter Wortlaut im DSM-IV [im Verhältnis zum DSM-III]; intensive Pharmawerbung in Arztpraxen und Direktwerbung beim allgemeinen Publikum, extensive Medienberichterstattung; Druck vonseiten gestresster Eltern und Lehrer, die ein Interesse daran haben, unruhige Kinder zu bändigen; besondere Förderung und Unterstützung bei vorliegender ADHS-Diagnose; und schließlich der verbreitete Missbrauch verschreibungspflichtiger Stimulanzien zur Leistungsverbesserung am Arbeitsplatz und für mehr Freizeitspaß“ (Frances 2013, 207).

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Diese Kritik an der Inflation psychiatrischer Diagnosen formuliert Allen Frances, der an der Entwicklung des DSH-III und IV für den APA in leitender Funktion beteiligt war. Frances hat allerdings das Interesse an der Verbreitung und die Treffsicherheit, mit der die Diagnose zugewiesen wurde, unterschätzt (Frances 2013, 205-211). Die Macht, Normalität und Abweichung zuzuschreiben, verweist auf das darunterliegende Bedürfnis, Ordnungen herzustellen oder zu sichern, das speziell vor dem Hintergrund der leistungsorientierten gesellschaftlichen Matrix zu begreifen ist. Wie beide Beispiele exemplifizieren, sind Konstruktionen von Abweichungen als Störung oder Beeinträchtigung grundsätzlich räumlich und zeitlich verortet; universale, örtlich und räumlich unabhängige Störungen oder Beeinträchtigungen gibt es nicht. Sie haben, wie Foucault für Geisteskrankheiten analysiert, „ihre Wirklichkeit und ihren Wert als Krankheit nur innerhalb einer Kultur, die sie als solche erkennt“ (Foucault 1968, 93). In diesem Kontext ist auch die Schaffung von großen Irrenhäusern und weiteren Einrichtungen wie beispielsweise Armenhäusern zu begreifen, in denen die unproduktiven Bevölkerungsgruppen festgesetzt wurden. Als unproduktiv galt, wer nicht in anerkannten gesellschaftlichen Feldern arbeitete. Diese gesellschaftliche Orientierung zeigte sich weiterhin auch an der Entwicklung der Disziplinaranstalten wie Krankenhäusern, Schulen, Kasernen und Gefängnissen, in denen die Bevölkerung zu mehr Produktivität diszipliniert werden sollte (Foucault 1994, 181). Kurz zusammengefasst gibt es Phänomene, die als Störung oder Beeinträchtigung bezeichnet, diagnostiziert und klassifiziert werden. Diese Beurteilungen werden von medizinischen oder auch psychiatrischen Fachpersonen vorgenommen und können somit nur als zu einem bestimmten Zeitpunkt (selbst unter dem Anspruch der internationalen Gültigkeit) und mit räumlichem Bezug konstruierte Perspektive erachtet werden. Selbst wenn es sich immer um ein Konstrukt und nicht um einen natürlichen Gegenstand handelt, sind diese Konstruktionen von Störungen oder Abweichungen aufgrund ihres verbreiteten Einsatzes in den Feldern Medizin, Psychiatrie, Rechtswesen, Pädagogik und allen humanwissenschaftlichen Disziplinen machtvoll. Wenn Phänomene als Störungen oder Abweichungen beurteilt werden, ist die Frage, was die Bemessungsgrundlage, der Maßstab hierfür ist. Wie wird also der Maßstab konstruiert? Konkretisiert formuliert: Was wird als Nicht-Störung, Nicht-Abweichung, Nicht-Beeinträchtigung, Nicht-Behinderung – als das Eine, von dem Anderes als abweichend beurteilt wird – konzeptualisiert? Dieser Frage wird im Folgenden vertiefend nachgegangen.

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4. KONSTRUKTION VON BEEINTRÄCHTIGUNG ALS ABWEICHUNG Wenn das Andere, als das Ungewöhnliche, als abweichend von dem Einen konstruiert wird, ist das Eine der Maßstab, es ist auch als das Vorherrschende zu begreifen (vgl. Derridas Kritik an totalisierender Sprache, 1990, 102-105, mit Referenz zu Levinas’ Kritik an den Auswirkungen ontologisierenden Denkens, das die Perspektive des Einen als dominant setzt, an der alles Andere gemessen wird 1995, 39-41). Diese traditionell herrschende, ontologische Perspektive definiert die Abweichung über die Richtschnur, das Gewöhnliche, die Norm. Daher wird nun herausgearbeitet, wie das „Übliche, Normale“ konstruiert wird. Mit Jürgen Link ist die Orientierungsgrundlage präskriptiv als Normativität, beispielsweise als Ideal, oder postskriptiv als statistisch begründete Normalität zu fassen (vgl. Link 1999, 444). Normalistisch wird das „Normale“ mittels Statistiken oder Durchschnittsanalysen im Nachhinein nach der Gesamtschau auf den Gegenstand oder das Themenfeld konstituiert (vgl. Link 1999, 81). Während die eine Variante des Normalismus, die protonormalistische Strategie, sehr eng an Normativität angelehnt ist, umfasst die zweite, die Gesellschaft seit der Moderne stärker kennzeichnende Variante, die flexibel-normalistische Strategie eine größere Bandbreite von Phänomenen. Sie ist also flexibler hinsichtlich der Normalitätsgrenzen, die Vielfalt der eingeschlossenen Phänomene ist größer. Plastisch erklärt Link den Unterschied beider Strategien wie folgt: „Die normalistische Strategie mit engem Normalspektrum, breiten Bereichen der Anormalität und massiven Normalitätsgrenzen (Gefängnis-, Anstalts- und KZ-Mauern) nenne ich Protonormalismus, die heute herrschende umgekehrte Strategie mit breitem Normalspektrum, maximaler Inklusion und porösen Normalitätsgrenzen flexiblen Normalismus“ (Link 2013, 93).

Beide Varianten von Normalität sind jedoch über Grenzen konstruiert, selbst wenn diejenigen des flexiblen Normalismus als variabler oder poröser beschrieben werden. Damit sind sie auch über die Gegenüberstellung des Normalen und des Abweichenden, Nicht-Normalen, oder allgemeiner formuliert des Einen und des Anderen konstituiert. Hinsichtlich der Frage danach, was zuerst war, lässt sich jedoch in Anlehnung an Derridas Begriff der Dekonstruktion fragen, ob sich nicht das Eine nur über das Andere, das Abweichende, konstruieren lässt (1983). Zugespitzt hieße das, ohne das Andere, die sogenannte Abweichung von etwas, ließe sich dieses, das Eine, nicht als Richtschnur, als normal oder Normalität bestimmen.

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Wenn jedoch beides nur im Verhältnis zueinander zu verstehen ist, ist dieses Verhältnis instabil bzw. es wird immer wieder neu konstruiert: konstruiert je nach Raum und Zeit, nach gesellschaftlichen Erwartungen, Bedarfen, Herrschafts- und Machtinteressen unterschiedlicher Akteur*innen, die um Erkenntnisse ringen, jedoch nicht alle den gleichen Zugang zum Machtfeld der Definitionen haben. Gemäß Foucault fluktuiert Macht und unterscheidet sich von Herrschaft als manifestierter Regierungsmacht (1983, 113). Gesellschaftlich verbreitete oder dominante Perspektiven haben einen größeren Einfluss als andere Perspektiven, die nicht herrschen, oder Akteur*innen, die ihre Interessen nicht gleichermaßen durchsetzen können. Veranschaulichen lässt sich dies beispielsweise an der Konstruktion des Gesundheitsbegriffs oder auch an der Konstruktion von Behinderung und Nichtbehinderung. Wie lässt sich der Gesundheitsbegriff näher bestimmen, ohne diesen über Krankheiten oder Gebrechen abzugrenzen (vgl. die Definition von Gesundheit der WHO 1946)? Analog dazu: Wie lässt sich Nichtbehinderung beschreiben, ohne Behinderungen als Gegenüber, als Opposition zu nutzen? Während die Weltgesundheitsorganisation Gesundheit über das Fehlen von Krankheiten oder Gebrechen definiert: “Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“ (WHO 1946), ist es nicht identisch, wie sie als Gegenstück zu Behinderung „keine Behinderung“ oder „Nichtbehinderung“ konstruiert. Dies werde ich im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes zeigen. Doch nicht nur die Weltgesundheitsorganisation, auch andere Akteur*innen haben Behinderung konstruiert und machtvolle Definitionen aufgestellt. Allen gemein ist, dass sie für diejenigen, die sie entwickelt haben, bedeutsam sind. Sie versuchen, diese Definitionen zu verbreiten, ihre Perspektive auf Behinderung wirksam zu machen, wirkmächtig werden zu lassen. Hierbei ist jedoch zu unterscheiden, ob die Autor*innen von Behinderungskonstruktionen gesellschaftlich anerkannte, machtvolle Akteur*innen sind oder nicht. Seit der Neuzeit sind die Disziplinen Medizin, Psychiatrie (und ihre Nachbarwissenschaften) vorherrschend in der Konstruktion des Abweichenden: Krankheit als Abweichung von Gesundheit oder Behinderung als Abweichung von Funktionsfähigkeit. Die Durchsetzung der Interessen gesellschaftlicher Akteur*innen lässt sich auch daran aufzeigen, dass Behinderung bis 1980 mit der Krankheitsklassifikation (ICD) beurteilt wurde. Erst seit 1980 als unterschiedliche Kategorie gegenüber Krankheit gefasst, wurde Behinderung dann eigenständig klassifiziert und somit nicht mehr unter den Krankheitsbegriff subsumiert (vgl. WHO 1980, Hirschberg 2009, 46-57).

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5. BEGRIFFSKONSTRUKTIONEN: BEHINDERUNG UND NICHTBEHINDERUNG Klassifikationen sind sehr plastische Instrumente, Abweichungen zu definieren – das, was gesellschaftlich als störend beurteilt wird. Es wird deutlich, dass die Geschichte von Klassifikationen eine Geschichte der Machtverteilung und der Machtverhältnisse ist. Dörner veranschaulicht die Entstehungsgeschichte von Psychiatrien auch an der Unterscheidung, wer nicht als arbeitsfähig und vernünftig galt (vgl. 2017, 692-695). Wer spricht, wer entscheidet, was wie klassifiziert wird? Dies sind diejenigen, die Positionen erworben haben, in denen ihnen die Entscheidungsmacht zugesprochen wird, Syndrome, Phänomene als behindert oder nichtbehindert zu klassifizieren. Wer spricht durch Klassifikationen? Es spricht die anerkannte Profession, die in der historischen Abfolge der Entwicklung von Klassifikationsinstrumenten wiederkehrend hierzu beauftragt ist, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen dominanten Diskurse und der herrschenden Verhältnisse. Dies waren mehrheitlich die Professionen der Medizin und der Psychiatrie – im Anschluss an die Entwicklung der botanischen Klassifikationen (Carl von Linné), aufbauend auf den medizinischen Systematisierungen durch Thomas Sydenham im 17. Jahrhundert –, deren Einfluss im Rahmen der herrschenden Perspektive der (ehemaligen imperialistischen) dem Völkerbund angehörigen Staaten zu verorten ist (vgl. zur Entwicklung der medizinischen Klassifikationen Hirschberg 2009, 2838). 5.1 Definitionen als Machtinstrument Gemäß Gregorys Analyse sind gesellschaftliche Konstruktionen mit Macht und dem Zugang zu Ressourcen verbunden (vgl. Gregory 1997). Die jeweils als bedeutsam anerkannte Konstruktion funktioniert somit als Instrument, das zur Durchsetzung von Interessen und gesellschaftlichen Ordnungen genutzt werden kann. Die je konstruierten Definitionen werden als Instrument genutzt, um mit ihnen unterschiedliche Interessen zu verfolgen. Sie bieten einen Einblick „into the nature of the ‚powers-that-be‘ who make and then use definitions to build, maintain, and advance their position in society“ (Gregory 1997, 487). Definitionen können dazu eingesetzt werden, die gesellschaftliche Position, den eigenen Einflussbereich aufzubauen, aufrecht zu erhalten und ggf. sogar auszubauen und zu verbessern. Jedoch ist entscheidend, was definiert wird und was nicht. Was wird konkretisiert und was bleibt diffus bzw. wo besteht eine Leerstelle im Diskurs um Nichtbehinderung?

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Diskurse sind gesellschaftlich produzierte Aussagenkomplexe, die einen Gegenstand konkreter fassen, auch Behinderung, Nichtbehinderung oder Normalität. Durch einen Diskurs wird ein Wissenssystem verankert, das verschiedene, gesellschaftlich und subjektiv relevante Funktionen enthält. Bei Foucault bezeichnet der Begriff Diskurs nicht ausschließlich das Sprechen von, zu oder über einen Gegenstand, sondern auch „das gesamte Ensemble der Wissensproduktion wie Institutionen, Regelungen, Verfahren der Wissenserstellung, Ein- und Ausschlüsse von Wissen oder autoritatives Sprechen“ (Bock von Wülfingen 2007, 14). 5.2 Definitionsmacht und Behinderung Das traditionell herrschende Modell konstruiert Behinderung aus medizinischer, defizitorientierter Perspektive. Diese Perspektive lässt sich auf die seit der Neuzeit zunehmend vorherrschenden gesellschaftlichen Interessen an einer produktivitätsorientierten Verwertung der Körper zurückführen, wie einleitend bereits beschrieben worden ist. Sie ist auch durch eine ontologische Betrachtung auf Körper begründet, diese auf ihr Sosein und mit der Produktivitätsorientierung auf ihre Leistungsfähigkeit zu reduzieren (s.o.). Seit der Aufklärung als sogenanntem Zeitalter der Vernunft hat sich diese nutzenorientierte Perspektive, Menschen bezüglich ihrer Produktivität zu beurteilen, zugespitzt. Daher bezeichnet Dörner die Neuzeit gerade aufgrund der Entwicklung der Asyle und der Einsperrung von als abweichend beurteilten Bevölkerungsgruppen als „finstere Neuzeit“ im Gegensatz zur klassischen Bezeichnung des „finsteren Mittelalter“ (Dörner 2017, 692). Mit der auf die Ausbeutung der Arbeitskraft fokussierten Industrialisierung wurde die Aufgabe von Medizin und Psychiatrie umso differenzierter, als Kriterien für die Arbeitsfähigkeit bei Krankheiten wie beispielsweise die Festlegung der Normaltemperatur zur Überprüfung entwickelt wurden (vgl. Hess 1999, 224; zur Analyse des ärztlichen Blicks in den entstandenen Kliniken vgl. Foucault 1973). Machtanalytisch gefasst wurden die Körper normiert, abweichende Entwicklungen sanktioniert und die Ausführungs- und Leistungsfähigkeit überprüft, um dann passend zur bestmöglichen Ausnutzung der individuellen Fähigkeiten zur Arbeit eingesetzt zu werden (vgl. Foucault 1994, 220250, speziell 241-248). Basaglia kritisiert, dass die Intellektuellen und die akademischen Professionen, die an der Konstruktion des Einen als gesellschaftlichem Richtmaß und des Anderen als abweichendem Phänomen mitgewirkt haben, sich dem herrschenden Regime dienstbar gemacht haben (Basaglia et al. 1980). Indem er die von ihm pointiert als „Befriedungsverbrechen“ bezeichnete unterstützende Tätigkeit für

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die Unterscheidung und Bewertung des Einen und der hier zugeordneten Gruppe von passenden Menschen sowie der als anders, als abweichend, unpassend charakterisierten Menschen kritisiert, fordert er dazu auf, als individuelle Akteur*innen, aber auch als Profession oder Disziplin die gesellschaftlich machtvolle Konstruktion von beispielsweise „wahnsinnig“ nicht mitzutragen. Foucault bezeichnet die Verbindung von „Wissen und Macht“ als „Analyseraster“ (1992, 33). Diese Begriffe haben eine methodologische Funktion; es gibt nicht ein Wissen oder eine Macht, das oder die ausschließlich agiert. Das Wort Wissen hat die Funktion, „alle Erkenntnisverfahren und -wirkungen zu bezeichnen, die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel“ seien, der Begriff Macht hat die Funktion, „viele einzelne, definierbare und definierte Mechanismen“ zu umfassen, „die in der Lage scheinen, Verhalten oder Diskurse zu induzieren“ (Foucault 1992, 32). Es lässt sich festhalten, dass das medizinische, auf das Individuum ausgerichtete Modell von Behinderung nicht nur im Kontext von Medizin und Psychiatrie, sondern auch im Rahmen der wirtschaftlichen Interessen seit der Neuzeit reflektiert werden muss. Durch die Bismarck’schen Sozialgesetze Ende des 19. Jahrhunderts, die Arbeitslosen-, Invaliden-, Renten- und Krankenversicherung (vgl. Hirschberg 2009, 64), wurde der Erhalt oder die Wiederherstellung der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit nicht nur angestrebt, sondern auch (wenn auch nicht umfassend) abgesichert. Mit diesen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates wurde die definierte, konstruierte Feststellung einer Behinderung mit einem individuellen Leistungsanspruch verbunden. Eine Behinderung gilt als „naturbedingter Nachteil“, aufgrund dessen die jeweilige Person einen Nachteilsausgleich erhält (vgl. Hirschberg 2009, 263-267; mit verallgemeinerten Schlussfolgerungen für Rehabilitation und Teilhabe Welti 2005). In übergeordneter Perspektive lassen sich die bisherigen Ergebnisse dahingehend fassen, dass die gesellschaftlichen Partizipationschancen stark an die Erwerbstätigkeit eines Menschen gekoppelt sind (vgl. zur intersektionalen Analyse von Behinderung und Geschlecht Libuda-Köster/Schildmann 2016, Schildmann 2000). Auch das gesellschaftliche Bewusstsein ist an Nützlichkeit und Leistungsfähigkeit orientiert, weniger an einer wahrgenommenen Bandbreite von Nicht_behinderung oder an den gesellschaftlichen Benachteiligungsstrukturen, die im sozialen Modell von Behinderung fokussiert werden (s.u.).

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6. KLASSIFIKATIONEN, MODELLE, GESETZESNORMEN 6.1 Unterschiedliche Perspektiven auf Behinderung Mit der humanwissenschaftlichen Konstruktion von Behinderung als Forschungsgegenstand in Medizin, Psychologie, Pädagogik und weiteren Disziplinen wird auf den Hilfebedarf, die Abhängigkeit von anderen, die Linderung oder auch Verhinderung von Beeinträchtigung fokussiert. Behinderte Menschen sollen in ihren Fähigkeiten gefördert und an die nichtbehinderte Gesellschaft angepasst werden. Aus dieser Perspektive sind medizinische Klassifikationen und juristische Konstruktionen konstruiert. Sie stellen Behinderung in den Vordergrund, Nichtbehinderung wird entweder nicht oder nur – aber immerhin – indirekt thematisiert. 6.2 Konstruktion von Behinderung: Klassifikationen der Weltgesundheitsorganisation Aufgrund des Bestrebens unterschiedlicher Akteur*innen, Krankheit und Behinderung zu unterscheiden, hat die Weltgesundheitsorganisation in den 1970er Jahren die erste Klassifikation von Behinderung entwickelt, die International Classification of Impairment, Disability, and Handicap (ICIDH). Diese differenzierte in Bezug auf die körperliche Ursache (oder Folge einer Krankheit): Impairment, die individuellen Folgen für die eigene Handlungsfähigkeit: Disability, und die Auswirkungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Rollenperformanz: Handicap. Als zu linear und kausal kritisiert, wurde die Behinderungsklassifikation von einer Vielzahl von Akteur*innen und daraufhin von verschiedenen Gesundheitsfachleuten weiterentwickelt, wobei ein interaktives Verhältnis mehrerer Komponenten den früheren kausalen Ansatz ersetzen sollte. Die zweite Behinderungsklassifikation, die International Classification of Functioning, Disability, and Health (ICF) wurde von der Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation 2001 verabschiedet. In der Weiterentwicklung von der ersten zur zweiten Behinderungsklassifikation zeigt sich, dass mit dieser nicht nur Behinderung definiert, kategorisiert und klassifiziert wird, sondern Behinderung auch durch ein Pendant, Funktionsfähigkeit, kontrastiert wird. Der dritte Oberbegriff, Gesundheit, bildet allerdings keinen beide umspannenden Rahmen, sondern verdoppelt in gewisser Weise die Bedeutung von Funktionsfähigkeit als Orientierung, als das Eine, von dem Behinderung als abweichend gemessen wird (vgl. Hirschberg 2009, 202-207).

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Definiert wird Behinderung in der ICF in zweierlei Hinsichten, die miteinander verbunden sind. Zum einen bildet Behinderung den Oberbegriff von drei Komponenten, zum zweiten wird Behinderung als Ergebnis des Wechselverhältnisses mehrerer Komponenten gefasst: „Disability is an umbrella term for impairments, activity limitations and participation restrictions. It denotes the negative aspects of the interaction between an individual (with a health condition) and that individual’s contextual factors (environmental and personal factors) [Hervorhebung im Original, M.H.]“ (WHO 2001, 213). Desgleichen wird Funktionsfähigkeit als Oberbegriff von drei Komponenten und ebenfalls als Ergebnis des Wechselverhältnisses mehrerer Komponenten definiert: „Functioning is an umbrella term for body functions and structures, activity and participation. It denotes the positive aspects of the interaction between an individual and that individual’s contextual factors (environmental and personal factors) [Hervorhebung im Original, M.H.]“ (WHO 2001, 213). Beide Definitionen sind parallel konstruiert, jedoch werden nur die Komponenten von Behinderung und nicht diejenigen von Funktionsfähigkeit klassifiziert. Auch wenn Nichtbehinderung nicht explizit benannt ist, wird sie durch den Begriff Funktionsfähigkeit vertreten und ist so indirekt expliziert. Funktionsfähigkeit fungiert gleichermaßen als Normalitätswert, als Maßstab für Behinderung, von dem diese (in ihren unterschiedlichen Komponenten) als graduelle Abweichung beurteilt wird (vgl. Hirschberg 2009, 240-243). Die neue Komponente der Kontextfaktoren mit ihrer besonders hervorzuhebenden Klassifizierung der Umweltfaktoren, differenziert als Barrieren oder Unterstützungsfaktoren, betont zwar die gesellschaftliche Dimension von Behinderung, verändert jedoch nicht die generelle Konstruktion von Behinderung als Abweichung von Funktionsfähigkeit bzw. Nichtbehinderung. Insgesamt kann als Ergebnis der Diskursanalyse der ICF herausgestellt werden, dass Behinderung und Normalität variabel und flexibel in der ICF konstruiert werden, jedoch auf einer protonormalistischen Grundlage, die in der Gegenüberstellung und der einseitigen negativen Beurteilung von Behinderung begründet ist (vgl. ausführlich Hirschberg 2009, 299-308). Aus der Diskursanalyse lässt sich zudem folgern, wie Klassifikationen als gesellschaftlich geronnene Diskurse und Praktiken Behinderung produzieren und konstruieren: Doing Disability. Nichtbehinderung hingegen wird weder in den Klassifikationen noch in gesellschaftlichen Diskursen und Praktiken thematisiert oder gar als Orientierungsmaß problematisiert. Es gilt jedoch, den Widerstreit von Spannweite und Opposition zwischen Behinderung und Nichtbehinderung als gesellschaftliche Diskurse anzuerkennen,

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die durch unterschiedliche Akteur*innen und Disziplinen jeweils vertreten und verstärkt werden. 6.3 Konstruktion von Behinderung: Sozialgesetzbuch IX (in der Neufassung ab 2018 gemäß dem BTHG) Mit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im Dezember 2016 wird das Sozialgesetzbuch IX (2001) reformiert, es tritt in Stufen bis 2020 in Kraft. Daher wird im Folgenden die Konstruktion von Nicht_behinderung in der neuen Fassung des SGB IX analysiert. Zum besseren Verständnis der Weiterentwicklung werden sowohl die Definition der ersten Fassung des SGB IX als auch die aktuelle des SGB IX (in der Neufassung ab 2018 gemäß dem BTHG) dargelegt. Die neuen Begriffsbestimmungen in § 2 des BTHG sind ab dem 01.01.2018 gültig. Im Gegensatz zur indirekten Definition von Nichtbehinderung über den Begriff Funktionsfähigkeit in der ICF wird im Sozialgesetzbuch IX (2001) nur Beeinträchtigung definiert. Hierbei wird zwar der Begriff „behindert“ genutzt, jedoch ist er auf die individuelle Beeinträchtigung ausgerichtet: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX 2001) Dieses machtvolle Konstrukt enthält drei Kriterien, die Normalität charakterisieren: Die hohe Wahrscheinlichkeit, den für das Lebensalter typischen Zustand und die längere Zeitdauer als sechs Monate. Die Einschränkung der Partizipation wird als Folge dieser charakterisierten Beeinträchtigung konstruiert, ohne dass gesellschaftliche Barrieren oder generell Umweltfaktoren erwähnt werden. Nun definiert das Sozialgesetzbuch in seinem neunten Buch „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ (§ 2 SGB IX in der Neufassung ab 2018 gemäß dem BTHG) Behinderung ähnlich, jedoch mit Bezug zur Begriffsbestimmung der Behindertenrechtskonvention (s.u.): „(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. (2) Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das

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Lebensalter typischen Zustand abweicht. (3) Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“

Auf diese Definition wird in anderen deutschen Gesetzen vielfach verwiesen, sie ist die Grundlage für sozialrechtliche Leistungsansprüche in Bezug auf behinderte Menschen. Auch in der Neufassung des SGB IX (BTHG 2018) wird Behinderung über die Abweichung der individuellen Funktion, Fähigkeit oder Gesundheit vom für das Lebensalter eines Menschen typischen, als normal angesehenen Zustand definiert. Ebenso wie die SGB IX-Definition von 2001 charakterisiert das SGB IX (BTHG 2018) Behinderung durch zwei weitere Kriterien: die Alterstypik sowie die hohe Wahrscheinlichkeit, mit der eine Beeinträchtigung länger als ein halbes Jahr von der in dem jeweiligen Lebensalter angenommenen bzw. erwarteten Normalität abweicht. Diese Normalitätsorientierung – gekennzeichnet durch die drei Merkmale der Wahrscheinlichkeit, der Abweichung und der Alterstypik – grenzt die Begriffsbestimmung von Behinderung weiterhin entscheidend ein. Der Behinderungsbegriff des SGB IX entspricht eher dem Verständnis von individuellen Beeinträchtigungen der UN-BRK als dem dortigen Verständnis von Behinderung, da er eine bestimmte Mindestdauer von sechs Monaten vorsieht und körperliche, geistige und seelische Formen aufzählt. Der Begriff Barrieren wird zwar erwähnt, jedoch wird die Bedeutung von Barrieren für die Entstehung von Behinderung nicht herausgestellt. Der Behinderungsbegriff des SGB IX orientiert sich somit in beiden Fassungen, in der erneuerten Fassung weniger als in der alten, an einem medizinischen Verständnis von Behinderung. Das Kriterium der Dauer von sechs Monaten bietet nicht mehr als einen Anhaltspunkt, da chronische Erkrankungen aufgrund intensiverer oder schwächerer Schübe unterschiedlich lange dauern können. Chronische Erkrankungen lassen sich daher über das Kriterium der Dauer nicht adäquat erfassen. Das Alterskriterium erscheint nur plausibel für jüngere Altersgruppen, für Menschen höheren Alters nicht. Ältere Menschen sind häufig gebrechlich und pflegebedürftig; in dieser Altersgruppe ist es dementsprechend sogar typisch, beeinträchtigt zu sein. Die Beschreibung des Alters könnte daher eher auf die Abgrenzung zwischen Eingliederungshilfe und Pflege verweisen, also auf unterschiedliche finanzielle Budgets und deren Begründungen. Die Definition im SGB IX führt die Einschränkung gesellschaftlicher Partizipation zwar auf das Verhältnis von Beeinträchtigung und Barrieren zurück, bzw. auf die Barrieren, denen beeinträchtigte Menschen begegnen. Jedoch wird ausführlicher auf Beeinträchtigungen eingegangen, weniger auf einstellungsund umweltbedingte Partizipationseinschränkungen. Nichtbehinderung kann nur

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aus der Verneinung herausgelesen werden, was zwar nicht expliziert ist, jedoch aufschlussreich sein kann: Menschen wären gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX nichtbehindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht beeinträchtigt ist. Dies wird in der Neufassung des SGB (BTHG 2018) ähnlich formuliert. Diese Definition, 2001 in Kraft getreten und 2018 reformiert, seit 2018 anteilig an der BRK ausgerichtet, ist leitend für die Bewilligung von Leistungen für behinderte Menschen. Wie das gesamte deutsche Recht soll auch das SGB IX (BTHG) und damit auch diese Definition im Licht der am 26. März 2009 in Deutschland als einfaches Recht in Kraft getretenen Behindertenrechtskonvention gelesen werden. Inwiefern dies vollzogen wird, ist an der Rechtsprechung nicht einheitlich zu erkennen, sondern ist vielschichtig (vgl. www.reha-recht.de/ vom 30.04.2019). 6.4 Konstruktion von Behinderung: Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Die Behindertenrechtskonvention ist entwickelt worden, um die systematische und strukturelle Benachteiligung behinderter Menschen zu beantworten. Auch wenn alle vorher verabschiedeten Menschenrechtsverträge für alle Menschen und folglich auch für behinderte Menschen gelten, wurde beschlossen, dass es notwendig sei, die Rechte behinderter Menschen noch einmal explizit herauszustellen und somit auch deren Rechtsausübungsmöglichkeiten zu stärken (vgl. Degener 2009). Mit der Behindertenrechtskonvention sind die Staaten, die die Konvention unterzeichnet und ratifiziert haben, verpflichtet, das Ziel zu verfolgen, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“ (Art. 1 Abs. 1 BRK) Definiert wird nicht Behinderung, sondern die Gruppe behinderter Menschen wird charakterisiert: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ (Art. 1 Abs. 2 BRK; vgl. Hirschberg 2011) Ähnlich wie in der ICF und in der Neufassung des SGB IX (BTHG 2018) wird Behinderung hier als Ergebnis der Wechselwirkung von Beeinträchtigun-

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gen und Barrieren konstruiert. Diese Definition ist am neuesten und hinsichtlich des zeitlichen Kriteriums offener als die SGB-IX-Definition (in seiner BTHGFassung). Ebenso wie im SGB IX wird jedoch auch nur Behinderung als Charakteristikum behinderter Menschen definiert und nicht Nichtbehinderung. Diese hat allerdings nicht die Funktion eines Maßstabs, an der Behinderung als Abweichung gemessen wird. In der Behindertenrechtskonvention wird hingegen herausgestellt, dass Barrieren die Teilhabe behinderter Menschen einschränken und wie der Staat behinderten Menschen den Zugang zu allen Lebensbereichen ermöglichen muss, damit sie ihre Rechte ausführen und genießen können. Nichtbehinderung fungiert nicht als Maßstab, jedoch wird mit dem häufig verwendeten Begriff „gleichberechtigt“ verdeutlicht, dass behinderte Menschen aus Menschenrechtsperspektive gleichberechtigt mit nichtbehinderten Menschen sind.

7. DIE KONSTRUKTION DES EINEN UND DES ANDEREN AUS PERSPEKTIVE DER DISABILITY STUDIES Die Kontroverse zwischen medizinischem und sozialem Modell von Behinderung lässt sich auch als Kampf um die Definitionsmacht, um die Konstruktion von Behinderung, bezeichnen. Das soziale Modell von Behinderung wurde von der britischen Behindertenbewegung seit den 1970er Jahren entwickelt. In ihm liegt der Fokus auf den gesellschaftlichen Barrieren und Ausschlussprozessen, durch die beeinträchtigte Menschen von der nichtbehinderten Mehrheitsgesellschaft benachteiligt werden (s.u.). Mike Oliver, einer der britischen Begründer der Disability Studies, fasst zusammen, wie Behinderung in den letzten 100 Jahren konstruiert wurde: zum einen als medizinisches Problem, das möglichst geheilt oder gelindert, und zum zweiten als soziales Problem, das sozial versorgt werden soll: „In the past 100 years or so, industrial societies have produced disability first as a medical problem requiring medical intervention and second as a social problem requiring social provision. Research, on the whole, has operated within these frameworks and sought to classify, clarify, map and measure their dimensions“ (Oliver 1992, 101).

Im sozialen Modell von Behinderung, das die Disability Studies stark prägt und die Gegenüberstellung von Beeinträchtigung und Behinderung aufgreift, wird Nichtbehinderung nicht definiert. Die Union of the Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) definiert impairment als „lacking all or part of a limb, or

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having a defective limb, organ or mechanism of the body“ und disability als „the disadvantage or restriction of activity caused by a contemporary social organisation which takes no or little account of people who have physical impairments and thus excludes them from participation in the mainstream of social activities“ (UPIAS 1975). Diese grundlegende Definition analysiert die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Wirkung für beeinträchtigte Menschen, die gesellschaftlich benachteiligt und behindert werden. Von dieser Analyse gesellschaftlicher Bedingungen ist auf Ableism zu verweisen, eine diskriminierende Ideologie, durch die Körper als behindert oder auch nichtbehindert konstruiert und produziert werden. Diese gesellschaftlich wirkmächtige diskursive Strategie, die unsere Gesellschaft umfassend prägt, wird analog zu anderen Diskriminierungsstrategien wie Rassismus, Sexismus oder auch Ageism konzeptionell als Ableism gefasst. Campbell erklärt Ableism als „a network of beliefs, processes and practices that produces a particular kind of self and body (the corporeal standard) that is projected as the perfect, speciestypical and therefore essential and fully human. Disability then is cast as a diminished state of being human“ (Campbell 2001, 44). Ableism ist also eine Diskriminierungsstrategie, die sich in vielfältiger Form auswirkt und manifestiert. Auch in der Konstruktion des Einen und des Anderen ist sie wirkmächtig. Dreht man die traditionelle, gesellschaftlich dominante Perspektive um, so ist zu fragen, wie das Andere, die nichtbehinderte Andersheit für behinderte Menschen zu fassen ist. Die Konstruktion des Anderen ist verbunden mit der Konstruktion eines Standards, gegenüber dem Menschen sich ins Verhältnis setzen oder den sie – da sie ihn sogar internalisiert haben – als Maßstab für sich selbst und die eigene Identität begreifen. Goodley führt hierzu aus, dass dieser Standard, das Andere für behinderte Menschen, durch die behindernde, benachteiligende ableistische Gesellschaft konstituiert ist (2011, 79). „The big Other“ für behinderte Menschen umfasse Charakteristika wie „cognitively, socially and emotionally able and competent, biologically and psychologically stable, genetically sound and ontologically responsible“ (Goodley 2011, 79). Die Referenz auf genetische Faktoren lässt sich sowohl in der ICF (Hirschberg 2009, 195-201) als auch in der gesellschaftlichen Orientierung und suprastaatlichen Erforschung des Humangenomprojekts erkennen. In diesem Kontext kann Normalität als „sane, autonomous, self-sufficient, reasonable, law-abiding and economically viable“ konstruiert werden (Goodley 2011, 79). Dies bezeichnet Kafer pointiert als „compulsory ablebodiedness“, als herrschendes Konstrukt, durch das alle Menschen zu einer Orientierung an Nichtbehinderung/Funktionsfähigkeit verpflichtet werden und behinderte Menschen unter einem beständigen Druck stehen, ihr Sosein als Ver-

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lust, heilungsbedürftig, defizitär oder zumindest abweichend erklären oder rechtfertigen zu müssen (vgl. Kafer 2003). Verallgemeinert und in Beziehung mit anderen Diskriminierungsstrategien wie Sexismus, Rassismus, Ageism oder Classism sind weitere Faktoren wie „männlich, weiß, Mittelklasse, jung oder mittleren Alters“ als machtvoll herauszustellen (zu deren Analyse vgl. u.a. Junker/Roth 2010). Stuart Hall präzisiert die Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher Konstruktionen hinsichtlich Rassismus folgendermaßen: „Ich fasse das bisherige in einer Paradoxie zusammen: ‚Rasse‘ existiert nicht, aber Rassismus kann in sozialen Praxen produziert werden. Das ist m. E. das Kennzeichen für den ideologischen Diskurs“ (Hall 2016, 172). Die Verwobenheit von Diskursen und Praktiken verweist auf die Macht, wie etwas gesellschaftlich produziert wird: in Halls Analyse Rassismus, rassistische Verhaltensweisen, Stigmatisierungen, Benachteiligungen und Diskriminierungen. Ein Gegendiskurs oder gesellschaftlicher Gegenentwurf kann allerdings auch durch Diskurse und Praxen Raum und Bedeutung erhalten, wenn dieser von Akteur*innen verfolgt und gesellschaftlich aufgegriffen und verbreitet wird.

8. ÜBER DIE GEGENÜBERSTELLUNG VON BEHINDERUNG UND NICHTBEHINDERUNG HINAUS Während Behinderung und Nichtbehinderung als eindeutig trennbare Phänomene konstruiert werden und diese Gegenüberstellung perpetuiert wird, diskutieren die Disability Studies, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens eine Beeinträchtigung erwerben kann und Menschen immer nur zeitweilig nichtbehindert sind: „temporarily able-bodied“ (Davis 2002). Mit höherem Lebensalter steigt somit die Wahrscheinlichkeit, unterschiedliche Beeinträchtigungen zu erwerben, Barrieren zu begegnen und behindert zu werden. Als weitere Perspektive, die sich von der Gegenüberstellung von Behinderung und Nichtbehinderung abhebt, ist die Bandbreite zwischen Behinderung und Nichtbehinderung herauszustellen (Hirschberg 2009, 315). Hierbei wird betont, dass beide keine eindeutig abgrenzbaren Phänomene sind, sondern es sich um unterschiedliche Dimensionen, Grade auf einer Skala bzw. innerhalb eines breiten Spektrums handelt (vgl. auch die Analyse der ICF als flexibelnormalistisches Klassifikationsinstrument, wobei in der ICF die Pole aufrechterhalten sind und noch keine transnormalistische Strategie jenseits einer konstruierten Normalität verfolgt wird, Hirschberg 2009, 304). Zwar lassen sich die Pole als Behinderung oder Nichtbehinderung bezeichnen, jedoch ist diese Konstruktion wenig bedeutsam, weil jede individuelle Be-

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hinderung je eigene Ausprägungen hat. Das Auftreten von Behinderungen in einer Gesamtgruppe lässt sich hierbei nicht als „entweder – oder“, „entweder behindert oder nichtbehindert“ beschreiben, sondern nur in ihrer Differenz im Gesamtspektrum. Dieses Spektrum lässt sich auch als „Nicht_behinderung“ umschreiben, was allerdings sprachlich auf die Gegenüberstellung als Orientierung verweist. Von einer breiten Differenz unterschiedlicher Körper zu sprechen, die höchst variabel innerhalb von Gesellschaften sein kann, erscheint als Anforderung, eine breite Vielfalt als gesellschaftliche Differenz wahrnehmen zu können, ohne einen Vergleichsmaßstab (behindert oder nichtbehindert) zu benötigen.

9. SCHLUSSFOLGERUNGEN: MACHTINSZENIERUNG DURCH LEERSTELLE LEHREN In den anerkannten sozialrechtlichen Konstruktionen und gesundheitswissenschaftlichen Klassifikationen sind keine expliziten Definitionen von Nichtbehinderung oder Normalität enthalten. Hier besteht eine Leerstelle, die jedoch ein machtvolles Zeichen darstellt. Das Nichtdefinierte, das Unsichtbare, Nichtbehinderte beherrscht den Diskurs, ohne selbst bezeichnet zu werden. Nichtbehinderung muss somit als machtvolles Dispositiv von Funktions- und Leistungsfähigkeit, als Teil des gesellschaftlichen Ableism (vgl. Campbell 2009) gelesen werden, gerade weil Nichtbehinderung nicht durch Definitionen, sondern durch deren Fehlen thematisiert ist. Was folgt jedoch hieraus für die machtvolle Leerstelle dessen, was als Nichtbehinderung dominant regiert und durch die gesellschaftlichen Diskurse, Architektur und Manifestationen in Gesundheits-, Sprach- und Öffentlichkeitsregimen herrscht? Wie kann dieser machtvollen Leerstelle begegnet werden, wie kann sie kritisiert und entkräftet werden – über die individuellen Bestrebungen hinausgehend, sich durch die Machtinszenierung des Einen über das Andere, Nichtbehinderung über Behinderung, nicht dermaßen regieren lassen zu wollen (vgl. Foucault 1992, 12-15)? Mit Foucaults Reflexion von Kritik bedeutet „nicht regiert werden wollen, […], diese Gesetze da nicht mehr annehmen wollen, weil sie ungerecht sind, weil sie unter ihrer Altehrwürdigkeit oder unter dem bedrohlichen Glanz, den ihnen der heutige Souverän verleiht, eine wesenhafte Unrechtmäßigkeit bergen“ (1992, 13). Da Klassifikationen und Gesetzesnormen Behinderung als Abweichung konstruieren, so verbirgt sich hinter diesen altehrwürdigen Gesetzen die Unrechtmäßigkeit, Behinderung nicht als gesellschaftliches Phänomen wahrzunehmen. Die in Klassifikationssystemen enthaltene Konstruktion der Abweichung ist folglich hinsichtlich ihrer Machtverhältnisse zu be-

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fragen, wodurch die Kritik eine „Funktion der Ent-unterwerfung“ [Bindestrich durch M.H. gesetzt] erhält (Foucault 1992, 15). Die Macht von Nichtbehinderung in Frage zu stellen, erfordert mehr als nur einen kritischen Diskurs, nämlich auch Aushandlungsprozesse mit den dominanten Akteur*innen im Feld zu führen: unter Bezugnahme auf die Teilhabeorientierung des SGB IX, auf die (wenn auch noch weiter zu differenzierende) Klassifizierung von Barrieren mit der ICF und auf die staatliche Verpflichtung der Umsetzung voller, wirksamer und gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabebedingungen behinderter Menschen gemäß der BRK. Die gesellschaftliche Partizipation sozial benachteiligter Gruppen muss immer wieder neu erkämpft werden innerhalb widersprechender Diskurse und Praktiken vor dem Hintergrund der machtvollen Orientierung an Nichtbehinderung. Diese Analyse ist in Lehrformaten in geeigneter Weise aufzugreifen, ob als längere Seminareinheit oder Bildungsreihe, um die Verbindung von Wissen und Macht in Konstruktionen wie Nicht_behinderung Studierenden, Schüler*innen und anderen Bildungsteilnehmer*innen zu vermitteln. Die hierzu oben vorgeschlagenen Gestaltungsmöglichkeiten können erprobt und ergänzt oder eigene entwickelt werden. Je nach fachlichem Rahmen bieten sich geistes- und gesellschaftswissenschaftliche, philosophische, historische, soziologische, rechtliche, pädagogische oder weiterführende Seminarangebote der Disability Studies und anderer interdisziplinärer Studien – auch zu den anderen Beiträgen dieses Sammelbandes – an, um die Bedeutung der zeitlich und räumlich gebundenen gesellschaftlichen Konstruktion von Dis_ability, Nicht_Behinderung in der Lehre zu verbreiten. Besonderes Potential haben vermutlich fächerübergreifende Lehrangebote. Wenn beispielsweise Lehrende und Studierende aus Fächern, in denen üblicherweise diskursanalytisch gearbeitet wird, zusammentreffen mit Vertreter*innen der Rechtswissenschaft oder Rechtsgeschichte, die meistens andere methodische Instrumente verwenden, ist zu erwarten, dass unterschiedliche Lesarten der zugrunde gelegten Texte fruchtbare Irritationen und Reibungen hervorrufen. Gerade diese vermögen, für Erkenntnisse zu sensibilisieren, in welchem Maße Leerstellen, Nichterwähnungen, Unausgesprochenes und (Ver)Schweigen gesellschaftspolitische Wirkung entfalten.

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Biopolitik in der Hochschullehre? Alltag, Geschlecht und Behinderung im Zeitalter der Gen- und Reproduktionstechnologien Anne Klein

EINLEITUNG „In some ways, the defining feature of our days is the high level of anxiety, exhilaration, fear, or optimism. They are directly related to the speed and range of the social changes themselves, which in turn are a function of the availability and access to the new technologies.“ Braidotti 2018b, 26

Samenspende, Leihmutterschaft, In-vitro-Fertilisation und pränataldiagnostische Verfahren verändern seit Ende der 1980er Jahre die menschliche Reproduktion – und schaffen damit auch neue Möglichkeiten der Selektion. Inzwischen gehen die labortechnischen Möglichkeiten weit über die klassischen Praktiken der Fortpflanzungsmedizin hinaus, die nicht zwangsläufig an genetische Forschung gekoppelt sind. Klonen, Stammzellspende, Präimplantationsdiagnostik und insbesondere die jüngst heftig diskutierte Genschere CRISPR/Cas9 ermöglichen jedoch zielgerichtete Eingriffe in das menschliche Erbgut und die Generationenfolge. Die Praktiken sind Teil einer anwendungsbezogenen Forschung, deren Produkte seit circa 50 Jahren auf einem immer größeren transnationalen Markt zur Anwendung kommen (Tagungsbericht 2000). Während die bevölkerungspolitischen Implikationen der Gen-und Reproduktionstechnologien zurück in die Geschichte der Eugenik Ende des 19. Jahrhunderts verweisen mit ihrem Höhepunkt in der NS-Be-

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völkerungspolitik, so scheint deren Zukunft noch Science-Fiction von dystopischem Charakter zu sein. Je nach Regierungsform wird eine Gesellschaft denkbar, deren Bevölkerung auf der Grundlage von genetischem Make up, Human Enhancement und Big Data regiert werden kann (Lettow 2011, 34). Aus dem kurz angerissenen Problemzusammenhang leiten sich folgende Fragen für diesen Beitrag ab: Wie können diese „neuartige[n] Formen der [ökonomischen, A.K.] Durchdringung von Lebewesen und Körperstoffen“ (Lettow 2012, 8) zum Gegenstand der Hochschullehre gemacht werden? Welchen Beitrag liefert eine Thematisierung zum Verständnis von Behinderungskonstruktionen in westlichen Gegenwartsgesellschaften? Inwiefern ist eine historische Perspektive unabdingbar? Die These ist, dass das Forschungsfeld der Critical Disability Studies/History – ähnlich wie die Gender & Queer Studies – einen sinnvollen Rahmen bilden, um Konstruktionsweisen von „Behinderung“ und „Geschlecht“ im Kontext der Gen- und Reproduktionstechnologien zu analysieren, sowohl in ihren Alltagspraktiken wie auch hinsichtlich der „Möglichkeitshorizonte“ (Bernhard/Blösel/ Brackensiek/Scheller 2018) eines biopolitischen Zeitalters. Will man die reproduktionstechnologischen Konstruktionen von „Disability“ und „Gender“ aus der Perspektive der Disability History untersuchen, so liegt der Schwerpunkt auf dem zeithistorischen Wandel von Behinderungs- und Geschlechterkonstruktionen (Palm 2005). Technologische Neuerungen lösen soziale und mentale Veränderungen aus; sie stellen tradierte Vorstellungen von Natur, Körper, Menschsein, Würde, Recht und Ethik in Frage. Biopolitische Innovationen fordern grundlegend die bestehenden Welt- und Selbstbilder heraus und markieren somit einen spezifischen Moment in der Geschichte, den der Soziologe Ulrich Beck (1986, 25) folgendermaßen beschreibt: „In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken“, und zwar indem „die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert [werden] durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen.“ Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Studierende eines Seminars an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln (zukünftige Lehrer*innen für die Fächer Pädagogik und Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaftler*innen im Bachelor- und Masterstudium sowie Studierende aus dem interdisziplinären Masterstudiengang Gender & Queer Studies) wählten die sogenannte

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Genschere aus, um über die sozialen Folgen der Gen- und Reproduktionstechnologien nachzudenken.1 Angesichts des medialen Hypes um die soeben geborenen Zwillinge, die von He Jiankui in Shenzhen bei der In-vitro-Zeugung Gen-editiert worden waren, war das Interesse groß. Die Komplexität des Themas erschwerte jedoch spontane Äußerungen; „richtige“ Fragen zu stellen bzw. Meinungen oder gar fundierte Stellungnahmen zu äußern, erwies sich als schwierig. Eine „Schweigediskussion“2 zeigte starke emotionale Reaktionen der Studierenden und legte Assoziationen frei zu einer technologischen Zukunft mit möglichst perfekten Menschen. War das „Designer-Baby“ (Floel/Hartmann 2009) bereits Realität? Würde der labortechnisch veränderte Mensch möglicherweise „der letzte Mensch“ (Bolz 1989) sein? Und leiteten die technologischen Entwicklungen das „Ende der Geschichte“ (Jordan 2011, Fukuyama 1992) ein, wie wir sie bislang gekannt haben? In diesem Beitrag sollen Überlegungen und Vorschläge unterbreitet werden, wie die Bearbeitung des Themas „Biopolitik“ im Rahmen der Hochschullehre erfolgen kann. Die Darstellung ist von dem Gedanken geleitet, dass die Auseinandersetzung mit Gen- und Reproduktionstechnologien in der Hochschullehre voraussetzungsvoll ist. In Abschnitt 1 wird daher ein theoriegeleiteter Zugang vorgeschlagen, der eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit den Gen- und Reproduktionstechnologien ermöglicht. In Abschnitt 2 werden Vorüberlegungen zur Thematisierung der Biopolitik in der Hochschullehre vorgestellt. Abschnitt 3 vertieft dann diesen Zugang zur Lehre. Die Ausführungen folgen der von Thomas Lemke (2008) entwickelten „Analytik der Biopolitik“, die eine Untersuchung des Gegenstands im Hinblick auf Machtprozesse, Wissenspraktiken und Subjektivierungsformen vorschlägt. Das biopolitische Feld wird anhand dieser drei Dimensionen für die Hochschullehre erschlossen; ein derartiger Zugang ist nicht vorrangig lerntheoretisch oder gar didaktisch motiviert, sondern orientiert sich an der Diskurs- und Dispositivkritik des französischen Sozialphilosophen Michel Foucault. In Abschnitt 3.1 werden Machtprozesse im Hinblick auf die transnationale und institutionelle Erzeugung biopolitischen Wissens und die damit verbundenen Praktiken dargestellt. Abschnitt 3.2 gibt einen Einblick in die Inhalte und Formen gesellschaftlicher Wissenspraktiken; es wird also aufgezeigt, wie sich biopolitisches Wissen konstituiert. In Abschnitt 3.3 werden die Auswirkungen auf die Subjekte konkretisiert. Die Subjektivierungsformen verweisen auf ein emotionales

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Das Gen-Editing mit Cas9-Proteinen wird umgangssprachlich als „Genschere“ bezeichnet.

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Bei dieser Methode werden Kommentare und Reaktionen schweigend auf einem Papier festgehalten und von den anderen Seminarteilnehmenden ergänzt.

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Spannungsfeld zwischen genetischen Zuschreibungen und selbstbestimmten Reproduktionsentscheidungen. Im Fazit wird daran erinnert, dass eine biopolitische Analyse immer den historischen Kontext einbeziehen muss; der Disability History kommt so gesehen eine wissenschafts- und gesellschaftskritische Funktion zu.

1. BIOETHIK ODER BIOPOLITIK? „What means do social and cultural critics have at their disposal to make sense of and account for the structural paradoxes of a historical era?“ Braidotti 2018b, 26

Lehr-/Lernprozesse zu biopolitischen Themen sind voraussetzungsvoll. Sie müssen es ermöglichen, scheinbare Selbstverständlichkeiten zu dekonstruieren ebenso wie Hintergründe zu erschließen, beispielsweise wirtschaftliche Interessen, globale Zusammenhänge, politische Steuerung und rechtliche Rahmenbedingungen. Sprechen wir von einem „biopolitischen Zeitalter“, so impliziert dies den Verweis auf den diskurskritischen Theorieansatz des französischen Philosophen Michel Foucault (2006). Die Regierung von Lebensprozessen (biòs) war der zentrale Gegenstand seiner Antrittsvorlesungen am „Collège de France“ 1970; in der Folge arbeitete er das Konzept der „Biopolitik“ weiter aus, von den Gouvernementalitätsstudien über das Sexualitätsdispositiv bis hin zur Ethik des Selbst. In genealogischer Perspektive zeichnet Foucault eine Entwicklung nach, die ihren Ausgangspunkt in der Herrschaftskrise der Französischen Revolution nahm und ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wissenschaftliche Fundierung des „Rassen“-Diskurses ermöglichte. In dieser durch Krisen und soziale Kämpfe gezeichneten Zeit boten biologistische Erklärungsmuster dem Regierungshandeln die Möglichkeit, sowohl ererbte Privilegien wie soziale Ungleichheit zu legitimieren (Puschner 2014). In der nun entstehenden humanistischen „Normalisierungsgesellschaft“ (Foucault 2001, 302) stellte der Rassismus eine „Bedingung für die Akzeptanz des Tötens“ (ebd.) dar ähnlich wie das eugenische Denken, das die Grundlage bildete für die bevölkerungspolitischen Regierungspraktiken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Bedeutung von Leben für die Politik zu. Biopolitik beschreibt nun nicht mehr nur „eine politische Ökonomie des Lebens, deren Ziel […] in Wertschöpfung besteht und die das Leben verwaltet, sichert und bewirtschaftet“, sondern ist eng gebunden an den Liberalismus als „spezifische Kunst der Menschenführung“, die „Interventionsmöglichkeiten eröffnete, die nicht notwendigerweise die Form von

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direkten Verboten und Vorgaben annehmen“ (Lemke 2008, 81). Bedeutsam wurden nun „indirekte Mechanismen der Anreizung und Anleitung, der Vorsorge und Vorhersage, der Moralisierung und Normalisierung“, die vor allem „anregen und anreizen […] – oder eben aktivieren und autonomisieren.“ (ebd., 82) Thomas Lemke (2008, 80) betont, dass Biopolitik „eine spezifisch moderne Form der Machtausübung“ sei und damit eine historische „Konstellation [beschreibe, A.K.], in der die modernen Human- und Naturwissenschaften und die aus ihnen hervorgehenden Normalitätskonzepte das politische Handeln strukturieren und dessen Ziele bestimmen.“ So verstanden wurde „Biopolitik“ zu einem Schlüsselbegriff der intellektuellen Debatte der Gegenwart (Folkers/Lemke 2014), wegweisend für die Gender & Queer Studies sowie für die Critical Disability Studies/History (Waldschmidt 2018). Die biopolitische Analyse fordert vor allem die Bioethik zum Disput heraus, die seit den 1980er Jahren als hegemoniale Sichtweise den gesellschaftlichen Umgang mit den Gen- und Reproduktionstechnologien bestimmt. In Reaktion auf die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen im Vorfeld der am 1. April 1999 in Kraft getretenen europäischen Bioethik-Konvention entstanden in Deutschland zahlreiche Institutionen und Organisationen, deren Aufgabe es war und ist, einen interdisziplinären Wissenschaftsdiskurs zu befördern, Stellungnahmen zu strittigen Fragen zu erarbeiten sowie die Öffentlichkeit zu informieren und aufzuklären.3 Innerhalb dieses institutionellen Netzwerkes hat das im Jahr 2000 von Menschen mit Behinderungen mitbegründete „Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft“ (IMEW) einen advokatorischen Auftrag und vertritt daher eine „andere Perspektive“ auf die Lebenswissenschaften. Sigrid Graumann (2002), inzwischen Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, kritisiert, dass das der Bioethik zugrunde liegende Verständnis von „Ethik“ auf „Akzeptanzbeschaffung“ reduziert sei. Mit Kasuistik, Theorieanwendung und dem Vier-Prinzipien-Modell (Autonomie, Wohltätigkeit, Nichtschädigung und Gerechtigkeit) lägen zwar Handwerkszeuge vor, mit denen konkrete Fragen bearbeitet werden könnten. Aber eine wirkliche Kritik an technologischen Neuerungen sei nur dann „möglich, sofern die faktischen Verhältnisse als veränderbar begriffen“ (Graumann 2002) würden. In den Vereinigten Staaten, wo die Bioethik bereits seit den 1970er Jahren etabliert ist, wird in jüngster Zeit eine ähnliche Kritik laut. Als „thinning the debate, narrowing the questions“ bezeichnet Marcy Darnovsky (2018, 480) vom

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Der Deutsche Ethikrat und das Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften bieten auf ihren Webseiten eine umfangreiche Mediathek mit Publikationen zu relevanten Themen an.

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„Center for Genetics and Society“ in Berkeley/Kalifornien den bioethischen Diskurs und fordert eine ergebnisoffene Auseinandersetzung mit den Life Sciences. Darnovsky bezieht sich dabei vor allem auf die humanistische, menschenrechtliche Tradition des (amerikanischen) Liberalismus (2018, 483, 488), dessen Grundidee ähnlich gelagert ist wie die diskursethische Perspektive, mit der Jürgen Habermas (2001) um die Jahrtausendwende in der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik Stellung bezog. Eine derart diskursethisch fundierte Verständigung entspricht jedoch nicht dem Foucault’schen Verständnis von Biopolitik, da dies eben keine normativen Bezüge aufweist und vor allem auch den Liberalismus kritisch hinterfragt (Kelly 1994, 6). Für den Wissenschaftsforscher Michael Hagner (2012, 37) ist die Bioethik ein gutes Beispiel dafür, „was passiert, wenn sich eine Geisteswissenschaft auf den technokratischen Diskurs einlässt und damit selbst zu einer Technik wird.“ Andere Wissenschaftlerinnen, die sich wie Petra Gehring (2012) aus technologiekritischer, Susanne Lettow (2004) aus feministischer oder Anne Waldschmidt et al. (2009) aus Sicht der Disability Studies mit den Lebenswissenschaften auseinandersetzen, plädieren ebenfalls für einen machtkritischen Zugang im Sinne Foucaults. Die feministische Theoretikerin Rosi Braidotti (2018b, 26) betont, dass biopolitische „cartographies raise also an important set of ethical questions“, aber sie bezieht sich bei der Suche nach Antworten nicht auf neohumanistische Ansätze. Braidotti fordert vielmehr, fundamentale Fragen der Gegenwart – sie nennt zum Beispiel die Klimakrise, Drohnenattacken, Flüchtlingsbewegungen, School Shootings, Biotechnologie, Zurückdrängung des Feminismus – als Ausdruck von „our posthuman historical conditions“ (Braidotti 2013, 6) zu verstehen. Sie plädiert dafür, transdisziplinäre Netzwerke der „critical posthumanities“ (Braidotti 2018a) zu bilden und sowohl ein kritisches Wissenschaftsverständnis zu fördern wie auch aktiv in biopolitische Entwicklungen einzugreifen. Wie kann ein derart engagiertes Verständnis zum Ausgangspunkt der Hochschullehre gemacht werden? Im Folgenden möchte ich aufzeigen, wie der Komplexität biopolitischer Fragen Rechnung getragen und gleichzeitig Komplexität reduziert werden kann, um biopolitische Themen in der Hochschullehre besprechbar zu machen. Es würde den Rahmen des Beitrags sprengen, auf allgemeine didaktische bzw. geschichtsdidaktische Überlegungen einzugehen. Im folgenden Abschnitt werden daher einige spezifische Überlegungen angestellt, die für den Umgang mit biopolitischen Themen in der Hochschullehre grundlegend erscheinen.

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2. BIOPOLITIK IN DER HOCHSCHULLEHRE „One must read his genealogies [...] as a political act rather than merely a history of their development.“ Shiner 1982, 17

Die in Lehr-/Lernkontexten üblichen Schlüsselbegriffe wie Kompetenzorientierung, „conceptual change“, konstruktivistische Didaktik sind inzwischen disziplinenübergreifend relevant und markieren auch das Feld der Geschichtswissenschaft und des historischen Lernens, das durch die Public History eng an die politische Bildung gekoppelt ist (Barton 2017). In dem hier vorliegenden Kontext kommt hinzu, dass die Disability Studies/History ebenso wie die Gender & Queer Studies disziplinenübergreifend angeboten werden und diesen Studiengängen ein wissenschafts- und gesellschaftskritischer Impetus zugrunde liegt (Singer 2005, Singer 2008, Harding 1991/1994). Die Critical Disability Studies/History beziehen sich in ihren theoretischen und methodischen Zugängen häufig auf Michel Foucault; dabei spielen seine Überlegungen zur Biopolitik eine ganz besondere Rolle. Von Interesse sind nicht nur die körpertheoretischen und medizinkritischen Bezüge der Biopolitik, sondern auch die Fallstricke des liberalen Souveränitätsdenkens und die Frage, wie aus der Perspektive von „Behinderung“ eine kritische Neudefinition des Humanen erarbeitet werden kann (Tremain 2005, Waldschmidt 2007, Barsch/Klein/Verstraete 2013). In Abschnitt 1 wurde aufgezeigt, dass das Konzept der „Biopolitik“ eine erkenntniskritische Grundhaltung notwendig macht – im Unterschied zu einem bioethischen Zugang, der auf die diskursethische Behandlung biomedizinischer Problemlagen fokussiert. Eine biopolitische Herangehensweise betont die Situiertheit jeglicher Wissensproduktion. Das von der Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway (1988) eingeführte Konzept des „situated knowledge“ ist in mindestens dreierlei Hinsicht für die Hochschullehre relevant. Erstens ist es wegweisend für den sozialwissenschaftlichen Umgang mit naturwissenschaftlichen Wissensbeständen, besonders aus Sicht der feministischen und kulturwissenschaftlichen Forschung. Zweitens kommt der Leitgedanke des „situierten Lernens“ auch in der Hochschuldidaktik zur Anwendung, wenn es um die Zugänge zum Lernstoff geht. Und drittens ließe sich auf Pierre Bourdieu verweisen, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass wissenschaftliche Wissensproduktion immer die kritische Selbstreflexion des eigenen Standpunktes voraussetzt (Leitner 2000). Ein „situiertes Wissen(schaft)sverständnis“ fordert dazu auf, multiperspektivischen Zugängen und auch dem Prozesscharakter von Geschichte(n) Rechnung zu tragen.

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Im Unterschied zum „Lebensweltbezug“ in der Schuldidaktik spielen jedoch in der Hochschullehre theoretische Reflexionen eine ungleich wichtigere Rolle. Im Studium muss es vor allem darum gehen, einen wissenschaftlichen Habitus auszubilden, metakognitive Kompetenzen einzuüben und die Professionsreflexivität zu stärken im Hinblick auf die spätere berufliche Praxis. Angesichts der geringen Einbeziehung von Bürger*nnen in biopolitische Entscheidungen stellt eine Hochschullehre zu diesem Themenspektrum eine große Herausforderung dar. Lehrende müssen davon ausgehen, auf einen sehr unsystematischen, teilweise diffusen Wissensbestand zu treffen, der von skandalisierten Medienberichten und den damit verbundenen Emotionen geprägt ist. Stefan Böschen (2007, 756) spricht daher auch von „hybriden Wissensregimen“; für die Biomedizin markiert er spezifische Problembereiche wie die Unterscheidung zwischen Fakten und Werten oder die rechtlichen Auswirkungen risikopolitischer Fragen, wenn Persönlichkeitsrechte und das Recht auf Forschungsfreiheit unauflösbar in Widerspruch geraten (Böschen 2007, 757). Die in schulischen Lehr-/Lernkontexten häufig favorisierte Arbeit mit Fallbeispielen kann in die Hochschullehre nicht einfach übernommen werden (Rose 2014). Fallbeispiele sind aufgrund ihrer Konkretion hilfreich; die Bearbeitung von perspektivengebundenen Konflikten sollte jedoch nicht lösungsorientiert erfolgen, sondern die Reflexions- und Sprachfähigkeit ausbauen, das Bewussstsein für Komplexität und Paradoxien fördern sowie die Ambiguitätstoleranz ausbauen. Wie die auf Interviews mit Lehrer*innen basierende Studie von Katharina Liebsch und Ulrike Manz (2007, 39) über die Vermittlung biopolitischen Wissens in der Schule zeigt, wird häufig die Komplexität des Gegenstandes vermieden und durch vorschnelle (implizite und explizite) Bewertungen ersetzt. Es zeigte sich auch, dass naturwissenschaftliche Wissensbestände tendenziell unhinterfragt übernommen werden, während ethische Expertisen in unterkomplexer Form rezipiert werden. In der Studie wurde eine „Ausblendung des Politischen“ (Liebsch/Manz 2007, 75) in der Vermittlung festgestellt, ebenso wie ein Mangel an Erfahrung und Vorwissen bei den beteiligten Akteur*innen. Fragt man also Studierende, ob sie während ihrer Schulzeit mit biotechnologischem Wissen in Berührung gekommen sind, so mag es nicht verwundern, dass ein eher diffuses Wissensfeld zu Tage tritt. Manche erwähnen die Genetik im Biologieunterricht, die jedoch nicht im Hinblick auf ihre vergeschlechtlichten oder auch gesellschaftspolitischen Bedeutungszusammenhänge diskutiert worden sei. Zur Sprache gebracht werden auch Lektüren im Deutsch- und Englischunterricht oder Gespräche im Fach Religion. Häufig ist „Abtreibung“ ein Unterrichtsthema, ohne dass jedoch der Zusammenhang zum Embryonenschutzgesetz, den Gen- und Reproduktionstechnologien oder zu dem Recht auf selbstbestimmte Reproduktion hergestellt

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wird. Im Geschichtsunterricht werden manchmal Eugenik und Euthanasie im Nationalsozialismus thematisiert, und in den Sozialwissenschaften wird über „grüne“ Genforschung diskutiert. Historische Zugänge zur Wissenschaftsforschung oder Technikfolgenabschätzung hingegen sind kaum bekannt. Es existieren zudem kaum gute Unterrichtsmaterialien für die Schule, obwohl das Kern-Curriculum der UNESCO (2017) ein solches Ausbildungsprogramm vorsieht. Ohne an dieser Stelle eine systematische Übersicht anzustreben, kann von einer Randständigkeit des Themas im Schulunterricht ausgegangen werden. Im bayrischen Lehrplan ist „Biotechnologie/Bioethik“ lediglich als eins von 28 fächerübergreifenden Projekten für die Jahrgangsstufe zehn vorgesehen4, und die Aneignung diskurskritischer oder reflexiver Kompetenz in den Naturwissenschaften wird selten gefördert (Dittmer/Gebhard 2012). Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn es Studierenden an Deutungs- und Orientierungswissen fehlt, um die gesellschaftliche Relevanz biotechnologischer Vorgänge erfassen und bewerten zu können – und dies, obwohl gen- und reproduktionstechnologisches Wissen längst aus dem Labor in den Alltag eingesickert und Bestandteil medizinischer Vorsorgekonzepte ist (Waldschmidt/Klein/Tamayo-Korte/Dalman-Eken 2007). In der Hochschullehre sind partizipative, inklusive und diversitätssensible Seminarformen zu bevorzugen, um eine interessegeleitete Erarbeitung des Themas auf der Grundlage der Prinzipien des forschenden Lernens zu ermöglichen (Kergel/Heidkamp-Kergel 2018, Rheinländer 2015). Im ersten Abschnitt ist bereits herausgearbeitet worden, warum einer (bio-)politischen Analyse der Vorrang eingeräumt werden muss vor einer ethischen Reflexion. Theoretisches und propädeutisches Denken sind also unbedingt notwendige Voraussetzungen. Als normative Bezugspunkte einer demokratiebasierten Erarbeitung dienen zudem Paradigmen der Antidiskriminierung und gesellschaftlichen Inklusion, auch im Sinne sozialer Ungleichheit. Die mediale Vermittlung und Ratgeberwissen spielen für die kritische Bearbeitung der eigenen Wissensbestände eine große Rolle. Die Philosophin Petra Gehring (2008) betont, dass „biopolitische, biomedizinische und biotechnische Innovationen [...] Mitmachtechniken“ sind, bei denen es „um Steigerung, um Selbstüberbietung, um maximale Erneuerung der Individuen wie auch der Gesellschaft im Medium ihrer eigenen Körperlichkeit, ihrer eigenen Biologie“ geht. Insofern bietet die Wende zum Subjekt, wie sie von poststrukturalistischen Ansätzen favorisiert wird, einen guten Ansatzpunkt für die Lehre. Eigene Sichtweisen und gefühlte Bindungen können beispielsweise dekonstruiert werden, indem die in Fil-

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Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München, http://www.isbgym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/id_26207.html vom 10.06.2019.

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men genutzten Metaphern und Kollektivsymbole einer kritischen Befragung unterzogen werden. Für die Erarbeitung biopolitischer Fragen bieten Utopien im Science-Fiction einen guten Ausgangspunkt (Schätz 2012). Die eigene Betroffenheit spielt in den Disability Studies ebenso wie in der feministischen Forschung eine ganz zentrale Rolle. Sprechen wir konkret von den Reproduktionstechnologien, so ist zu beachten, dass Fragen von Geburtenplanung für einige Studierende insbesondere im Master bereits Bestandteil ihrer Lebensrealität sind; für viele entsteht die Frage nach einem Kind aber erst nach dem ersten Studienabschluss. Da auch gleichgeschlechtliche, verheiratete Paare inzwischen das Recht zur Adoption haben, sind alternative Wege der Kinderwunscherfüllung interessant. Aus Sicht von Studierenden mit Behinderungen stellen sich diese Fragen jedoch ganz anders. Da es bei den neuen Gen- und Reproduktionstechnologien immer auch um „Selektion“ im Sinne einer medizinischen Definition von „Behinderung“ oder auch „Krankheit/Erbkrankheit“ geht, fühlen sie sich ganz direkt adressiert. Denn obwohl das Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung auch für Menschen mit Behinderungen gilt, sind insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten weitestgehend von der Erfüllung eines Kinderwunsches ausgeschlossen (Achtelik 2017). Auch andere Formen der Ungleichheit sind zu beobachten, beispielsweise dürfen verheiratete heterosexuelle Paare Spendersamen nutzen, lesbische Paare jedoch nicht. Zudem können wirtschaftliche Gründe dazu führen, dass Studierende die Technologien für sich nutzen. Von privaten Hochschulen in den Vereinigten Staaten und in Spanien ist bekannt, dass Studentinnen ihre für qualitativ hochwertig erachteten Eizellen dem Markt zur Verfügung stellen, um mit den Einnahmen die Studiengebühren abzudecken (Schindele 2007). Auch in Deutschland kann es sein, dass junge Männer ihr Budget durch Samenspende aufbessern oder dass ein schwuler Mann diskriminiert wird, wenn er mit seinem Ehemann ein Kind über eine Leihmutter bekommen möchte, nachdem das Paar ein Adoptionsverfahren erfolglos durchlaufen hat. Die persönliche Betroffenheit ist nicht unbedingt sichtbar, kann aber bei der Bearbeitung biopolitischer Themen eine erhebliche Rolle spielen. Bei der Behandlung von gen- und reproduktionstechnologischen Themen in der Hochschullehre werden Gleichstellungsbegehren und Körperpraktiken – explizit oder implizit – mit adressiert. Die Bearbeitung biopolitischer Themen muss daher auf einem antidiskriminierenden Selbstverständnis fußen, um der erhöhten Verletzlichkeit von Frauen, LBQITMenschen und Menschen mit Behinderungen angemessen Rechnung zu tragen. Häufig sind persönliche Verflechtungsgeschichten mit dem Bedürfnis nach Orientierung verbunden, da biopolitische Entscheidungen als körpernah, persönlich,

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intim und riskant empfunden werden. Ein historischer Zugang kann für die notwendige Distanz sorgen, indem sichtbar gemacht wird, welche scheinbar selbstverständlichen Vorannahmen die Gegenwart prägen und wie wir als historische Subjekte in einem biopolitischen Zeitalter agieren. Dabei ist davon auszugehen, dass die Dimensionen biopolitischen Wissens, beispielsweise die gentechnologischen Laborpraktiken, nicht umfassend behandelt werden können. Interessant ist es jedoch, sich die Popularisierung biopolitischen Wissens genauer anzuschauen; dieser wohnt die Tendenz inne, die Komplexität der Gene zu reduzieren, deren Wirkungsmacht jedoch zu mystifizieren (Klein/Waldschmidt/Tamayo-Korte 2009). Insofern spielen bei der Bearbeitung biopolitischer Themen Selbstreflexionspausen eine große Rolle. Die Anliegen solcher Lehr-/Lerneinheiten können äußerst divers sein. Ziel kann es beispielsweise sein, symbolische Formen des Wissens zu erkennen und deren emotionale Kopplung beziehungsweise habituelle Verankerung zu untersuchen oder aber die ökonomischen Interessen oder die Marktorientierung, die zahlreichen biopolitischen Forschungsprojekten zugrunde liegt, genauer herauszuarbeiten. Wichtig dabei ist, dass die Kategorien „Gender“ und „Disability“ intersektional und vor allem in einer gesellschaftskritischen Ausrichtung konzipiert werden. Im folgenden Abschnitt 3 wird eine analytisch fundierte Ausrichtung der Hochschullehre vorgestellt und im Hinblick auf die Untersuchung von Machtprozessen, Wissenspraktiken und Subjektivierungsformen beispielhaft konkretisiert.

3. ANALYTIK DER BIOPOLITIK „The convergence between information and communication technologies on the one hand, and biotechnologies and genetic engineering on the other, is one of the major social manifestations of the current status of the subjects in advanced, post-industrial societies, situated as they are in a state of dispersion and fragmentation.“ Braidotti 2018b, 26

Eine Analytik der Biopolitik verortet die Gegenwartsgesellschaft auf einer Zeitlinie. Thomas Lemke (2008, 86) betont, dass es so möglich wird, sowohl historischsystematische Zusammenhänge offen zu legen wie auch projektive Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung zu erörtern. Demokratische Legitimation erfordert die po-

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tentielle Reversibilität jedes vermeintlichen Forschritts. Ein rapider technologischer Wandel erzeugt jedoch den Eindruck scheinbarer Alternativlosigkeit. Die Entwicklungen bewirken tiefgreifende Veränderungen in einer relativ kurzen Zeitspanne und lösen so ein verdichtetes Zeitempfinden aus, das sich vielfach in Angst und Unsicherheit niederschlägt (Raulff 1999). Die für die biopolitische Analyse vorgeschlagene Heuristik unterscheidet zwischen Machtprozessen, Wissenspraktiken und Subjektivierungsformen; alle drei Dimensionen unterliegen der erwähnten zeitlichen Dynamik, sind eng miteinander verwoben und wirken sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen aus – von der Makro- über die Meso- bis hin zur Mikroebene. 3.1 Machtprozesse „In fact, power produces [...] reality; [..]. The individual and the knowledge that may be gained of him belong to this production.“ Foucault 1995, 194

Unter dem Aspekt der Machtprozesse werden Ungleichheitsstrukturen, Wertehierarchien und Asymmetrien in den Blick genommen; zentral ist nach Thomas Lemke (2008, 84) die Frage, welche Lebensformen als sozial wertvoll oder als „lebensunwert“ betrachtet werden. Am Beispiel der sich stetig ausweitenden Kinderwunschindustrie kann die machtvolle Verflechtung von Forschung, Markt und Gesetzen bis hin zur qualitativen Neubewertung von Geschlechterdifferenzen und Behinderungsbildern aufgezeigt werden. Seit der ersten gelungenen In-vitro-Fertilisation haben sich die Reproduktionsmöglichkeiten völlig verändert. Als Louise Brown 1978 geboren wurde, belagerten über Wochen Journalisten das Hospital im britischen Oldham und versuchten, die Eltern dazu zu bewegen, der Welt kund zu tun, dass ihr Neugeborenes „ein ganz normales Kind“ sei. 2010 wurde der für die erste In-vitro-Fertilisation verantwortliche Physiologe Robert Edwards – sein Kollege, der Gynäkologe Patrick Steptoe, war bereits 1988 verstorben – mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet; mit seinem erfolgreichen Experiment hatte er den Grundstein gelegt für den gegenwärtig anhaltenden Boom der Fortpflanzungsmedizin (Ranisch 2018). Der Kulturforscher Andreas Bernard (2014, 15) schätzt, dass inzwischen jährlich über 10.000 Kinder in 140 spezialisierten Laboren weltweit gezeugt werden. Die Reproduktionsmedizinin ist zum machtvollen Agenten einer „biokapitalistischen“ Gegenwart geworden (Rajan 2009). Die durch nationale Gesetzeslagen und den internationalen Wettbewerb angetriebenen Praktiken unterstützen eine Forschung, die viel spekulatives Kapital freisetzt und

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Wissenschaftler*innen zum kalkulierten Tabubruch animiert. Mit dem Wandel von einer liberalen zu einer neoliberalen Gouvernementalität seit den 1990er Jahren hat sich das Primat der Ökonomie etabliert, was Thomas Lemke (2001, 8) unter Bezugnahme auf Foucault folgendermaßen erklärt: „Während der klassische Liberalismus die Regierung anhielt, die Form des Marktes zu respektieren, ist der Markt in dieser Konzeption nicht mehr das Prinzip der Selbstbegrenzung der Regierung, sondern das Prinzip, das sich gegen sie kehrt: ‚eine Art permanentes ökonomisches Tribunal‘ (Vorl. v. 21.3.1979).“ Selektive Kinderwunsch- und Fortpflanzungspraktiken bewirken die Neuverhandlung von „Geschlecht“ und „Behinderung“ ebenso wie von „class“ und „race“. Während einerseits eine Genetifizierung und Rebiologisierung ebenso wie neue Formen von Behindertenfeindlichkeit, sozialer Ungleichheit und qualitativer Bewertung der Nachkommenschaft zu beobachten sind, erweitern sich andererseits die Möglichkeiten von Sexualität, Forpflanzung, Zugehörigkeit, Partnerschaft und Familie. Schauen wir aus einer feministischen Perspektive auf diese Veränderungen, so ergibt sich ein anderes Bild, als wenn wir die neuen Formen der Elternschaft im Kontext queerer Partnerschaften betrachten. Aus Perspektive der Disability Studies/History ist die Frage wichtig, ob emanzipative Möglichkeiten einer selbstbestimmten Sexualität und Fortpflanzung den Menschen mit Behinderungen gleichermaßen zur Verfügung stehen. Gerade im Umgang mit Trisomie 21 tritt jedoch die eugenische Tendenz der Reproduktionstechnologien besonders deutlich zu Tage. Ins Fadenkreuz der Kritik geriet die Ausweitung der genetischen Erfassung durch pränatale Diagnostik anlässlich der Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik (PID).5 Sie ist erneut ein Thema der aktuellen Debatte zur Übernahme des Praena-Tests als Kassenleistung (Dedreux 2019). Die Möglichkeiten, durch pränatale Technologien zwischen vermeintlich wertvollem und nicht für wertvoll erachtetem Leben zu unterscheiden, erweitern sich im Grunde mit jedem reproduktionstechnologischen Fortschritt.

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Im Juli 2010 sprechen die Richter des Bundesgerichtshofs einen Arzt frei, der die PID in den Jahren 2005 bis 2006 angewandt hatte. Im Juli 2011 erhielt der Gesetzesentwurf für eine begrenzte Zulassung der PID die erforderliche Mehrheit im Parlament. Künftig dürfen Paare die Methode nutzen, wenn aufgrund ihrer genetischen Veranlagung eine schwerwiegende Erbkrankheit beim Kind oder eine Tot- oder Fehlgeburt wahrscheinlich ist. Durchgeführt werden darf die PID seit dem Inkrafttreten der Durchführungsverordnung im Februar 2014. Für nähere Informationen siehe Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften, http://www.drze.de/im-blickpunkt/pid/recht liche-aspekte vom 10.06.2019.

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Dass Eizellspende und Leihmutterschaft – im Unterschied zur Samenspende – in Deutschland verboten sind, ergibt sich aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 des 1990 in Kraft getretenen Embryonenschutzgesetzes. Mit der beschränkten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik im November 2011 und dem Samenspenderegister im Mai 2017 sind insofern „Rechtsinseln“ (Staeck 2017) entstanden, die das gesamte Spektrum an bestehenden reproduktionstechnologischen Möglichkeiten jedoch bei weitem nicht abdecken. Die 16 Expert*innen der Nationalen Akademie der Wissenschaften „Leopoldina“ mit Sitz in Halle (Saale) drängen auf ein Fortpflanzungsmedizin-Gesetz, da das Embryonenschutzgesetz „die reproduktionsmedizinischen Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre nicht berücksichtigt.“ (Staeck 2017) Derweil findet die Fortpflanzungsindustrie weltweit immer neue Standorte und ist mit zahlreichen Institutionen und Akteuren aktiv vernetzt; dazu gehören lokale und transnationale Vermittlungsagenturen, Samen-/Eizellbanken, Rechtsanwälte, ein Pool von Leihmüttern in Kliniken im Ausland, die Pharmaindustrie, Touristikunternehmen und Logistikunternehmen mit Kühlketten für den Transport (Wichterich 2018, 113). Leihmutter, Eizellspenderin und Wunscheltern müssen sich nicht zwangsläufig begegnen; die notwendigen Bioressourcen können auch in unterschiedlichen Ländern gekauft werden. In Tschechien, Spanien, Polen und neuerdings auch in Österreich ist die Eizellabgabe erlaubt, nicht jedoch die Leihmutterschaft. Deshalb arbeiten die Kliniken eng mit Reproduktionszentren in der Ukraine zusammen; hier kann das europäische Epizentrum des „Fruchtbarkeitstourismus“ (Wichterich 2018, 114) verortet werden. Die Bezeichnung „Eizellspende“ ist ein Euphemismus, der den Warencharakter der von Frauen geleisteten Arbeit ebenso verhüllt wie die Umgehung des Rechts, denn der Handel mit Eizellen ist ebenso wie mit anderen Körperorganen international nicht zulässig. Die Arbeitsbedingungen der Leihmütter werden von Reproduktionsunternehmen vorgegeben. Die Eizellgeberin muss sich nicht nur einem nach rassistischen Kriterien gestaffelten Auswahlverfahren unterziehen, sie erhält auch eine nach IQ, Herkunft und Hautfarbe differenzierte Entlohnung. Das Verhalten während der Schwangerschaft ist vertraglich festgelegt; die qualitative Leistungskontrolle erfolgt entlang der normativen Kriterien der zukünftigen Eltern. Da die erfolgreiche Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter bei ca. 30 Prozent liegt, werden Leihmüttern große Mengen an Hormonen verabreicht, damit möglichst viele Eizellen zur Verfügung stehen. In Indien werden teilweise drei bis fünf Embryonen in zwei Leihmütter gleichzeitig eingesetzt; sollte es bei beiden Frauen zur Schwangerschaft oder gar zu Mehrlingsgeburten kommen, wird auf Wunsch der zukünftigen Eltern die Zahl der Embryonen reduziert. Genetisch auffällige Föten werden abgetrieben, und es gab bereits Fälle, bei denen

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die Auftraggeber die Annahme eines behinderten Kindes oder eines Kindes mit dem „falschen“ Geschlecht verweigerten (Wichterich 2018, 116). Das selektive, eugenische Potential der Reproduktionsmedizin wird in der medialen Inszenierung der Kinderwunschindustrie nicht sichtbar und spielt meist auch in der Selbstwahrnehmung von Paaren mit Kinderwunsch keine Rolle. Dabei findet das Arrrangement einer selbstbestimmten Elternschaft häufig in einer legalen Grauzone statt und fußt auf sozialer Ungleichheit beziehungsweise produziert neue Ungleichheiten. Im Unterschied zu einem heterosexuellen Paar muss ein lesbisches Paar weiterhin auf eine Samenbank im Ausland zurückgreifen, was teuer ist. Die vergleichsweise restriktiven Rahmenbedingungen in Deutschland haben sich geändert durch das am 1. Juli 2018 in Kraft getretene „Gesetz zur Regelung des Rechts auf Kenntnis der Abstammung bei heterologer Verwendung von Samen“. Das Gesetz sieht einen ausdrücklichen Auskunftsanspruch mit Erreichen des 16. Lebensjahres vor. Seit dem 1. Januar 2018 existiert bereits ein sogenanntes Samenspenderegister, das die Daten der Spender für 110 Jahre speichert.6 Herkunftsgeschichten werden so rückgebunden an Abstammungsdiskurse, die sich wiederum eng an Gendiskurse koppeln lassen.

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Diese Regelung soll nicht nur die Position des Samenspenders, sondern auch die der rechtlichen Väter schützen. Eine Geltendmachung von Unterhalts- oder Erbrechtsansprüchen ist dann ausgeschlossen. Für alle zuvor erfolgten Spender gilt die bisherige rechtliche Lage inklusive der Gefahr von Ansprüchen durch Kinder und Mütter. Die instruktiven Ausführungen von Andreas Bernard zur „Figur des Samenspenders“ in „Kinder machen“ (2014, 77-122, insbesondere 87-94) sind damit veraltet.

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Abbildung 1: Eine Teilnehmerin der Lehrveranstaltung „Am I a Cyborg? Gentechnologische Reproduktionsutopien“ (2010) visualisierte mit diesem Bild ihre Assoziationen zum Seminarthema.

Quelle: Clara Immel

Die Genetisierung bietet ein machtvolles Diagnoseraster an, das gesellschaftlich akzeptierte Glaubenssätze in Richtung einer „Biologisierung des Sozialen“ (Lemke 2004, 8) verändert sowie neue Instrumente zur Bewertung zur Verfügung stellt. Obwohl sich der Gendiskurs im letzten Jahrzehnt durch einen Paradigmenwechsel seines deterministischen Verständnisses entledigt hat, ist nach Thomas

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Lemke (2017, 73) „nicht zu erwarten, dass das Konzept des ‚genetischen Körpers‘ in absehbarer Zeit grundlegend in Frage steht.“ Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Körper zukünftig noch stärker zur „Projektionsfläche und zum Vehikel eines genetischen Programms“ wird, aufgrund zweier eng miteinander verzahnter Machteffekte: Einerseits richtet sich der Fokus der Forschung weiterhin auf die genetische Verursachung von Krankheit und Behinderung, andererseits trägt die inzwischen „eingespielte Nachfragestruktur zur weiteren Konjunktur des ,genetischen Körpers‘ bei.“ (Lemke 2017, 83) 3.2 Wissenspraktiken „Knowledge is not made for understanding; it is made for cutting.“ Foucault 1991, 90

Die Dimension der Wissenspraktiken bezieht sich auf ein systematisches Wissen vom „Leben“ und vom „Lebewesen“, das auf einem „Wahrheitsregime und dessen Selektivität“ beruht. In Form von Diagnosen, Definitionen, Vokabular und Autoritäten (Lemke 2008, 83) bildet dieses Wissen die Grundlage biopolitischer Praktiken. In der Analyse wird hinterfragt, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen dieses Wissen erzeugt und gesellschaftlich wirksam wird. Wissenspraktiken sind also eng an Machtprozesse geknüpft. So werden Bewertungen transportiert, aber auch Umwertungen ermöglicht, je nachdem wer Zugang zu machtvollen Sprecherpositionen hat und welches Wissen als legitim erachtet wird. Der Wissenschaftsforscher Hans-Jörg Rheinberger (2014, 7) betont unsere „zunehmende Sensibilität für das Hergestelltsein und damit die Historizität kultureller Symbolräume und Bedeutungssysteme“, gerade auch in den Naturwissenschaften. Gentechnologisches Wissen wird im Labor „hergestellt“ und entfaltet im Alltag Handlungsrelevanz; die labortechnische Weiterentwicklung wiederum ist auf Daten aus dem Alltag angewiesen. Die Transferprozesse finden nicht reibungslos statt, sondern sind durchzogen von Kämpfen um Definitionsmacht. Das diskursive Konstrukt der Re-biologisierung von Gender-Konstruktionen, der „Genetifizierung“ von Behinderung sowie der potentiellen „Vermeidbarkeit“ von Krankheit bildet das Leitprinzip der gegenwärtigen Gen- und Reproduktionsforschung und ist auf diesem Weg, in meist vereinfachter Form, fester Bestandteil unseres Alltagswissens geworden (Liebsch/Manz 2010, Bock von Wülfingen 2015). Die 1980er Jahre können als ein Jahrzehnt reproduktionstechnologischer Transformation beschrieben werden. Durch die In-vitro-Fertilisation wurde die Fortpflanzung zu einer labortechnischen Praxis; hier bot sich das Einfallstor für

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die Genforschung, deren Diagnosemethoden die klassische Schwangerschaftssupervision durch Ultraschall und Tastuntersuchungen grundlegend veränderten (Schroeder-Kurth 1985). Die Identifikation sogenannter Risikoschwangerschaften und vor allem bereits bekannter „Hochrisikopaare“ bildete das Scharnier zur humangenetischen Beratung; die zuletzt genannte Zielgruppe stand im Fokus der Legalisierungsdebatte rund um die Präimplantationsdiagnostik um die Jahrtausendwende. Die Forschung interessiert sich jedoch für die genetischen, gesundheitsbezogenen Daten möglichst vieler Menschen, um differenzierte Anwendungen für verschiedene Nutzer*innenkreise entwickeln zu können (Wagner 2017). Von dem Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 ging der Impuls aus, die genetischen Grundlagen von Krankheit und Gesundheit zu erforschen, während sich gleichzeitig in sozialen Bewegungen zunehmend Widerstand gegen die Atomkraft und andere risikobehaftete Hochtechnologien formierte (Grill 2008). Feministinnen und Menschen mit Behinderungen kritisierten die Gen- und Reproduktionstechnologien aus verschiedenen Gründen. Während den Behindertenaktivist*innen die „Ausdehnung und Neufassung des Krankheitsbegriffs“ (Lemke 2017, 75) besonders relevant erschien, wehrten sich Feministinnen vor allem gegen die medizinische Inbesitznahme des weiblichen Körpers (Duden 2001, Duden 2002, Zipfel 1987, Streif 1996). Vom 19. bis 21. April 1985 fand in Bonn der erste Frauenkongress gegen Gen- und Reproduktionstechnologien statt (FFBIZ 1986) und zweieinhalb Jahre später, am 29./30. Oktober 1988, in Frankfurt am Main der zweite (Bradish/Feyerabend/Winkler 1989). Neben dem Engagement gegen bevölkerungspolitische Programme im sogenannten Trikont, die an die NS-Bevölkerungspolitik der „Auslese“ und „Ausmerze“ im Nationalsozialismus erinnerten (Dixon-Mueller/Germain, 1994) entwickelte sich eine zunehmende Sensibilität für die Belange behinderter Frauen und der gegen sie gerichteten antinatalistischen Politik. Seitdem sich 1980 offiziell die „Krüppelbewegung“ als soziale Bewegung konstituiert hatte, traten auch Frauen mit Behinderungen verstärkt öffentlich in Erscheinung, um ihre eigenen Belange zu thematisieren (Ewald/Hermes 1985). 1987 machte die Nachricht über Zwangssterilisationen von Mädchen und jungen Frauen mit Lernschwierigkeiten an der Universitätsklinik in Hamburg-Barmbek und in anderen Heimen Schlagzeilen (Schenk 2013, 2016). Einige Wochen zuvor waren die Akten genetischer Beratung aus der Humangenetischen Beratungsstelle am Krankenhaus in Barmbek gestohlen und an Aktivist*innen der Behindertenbewegung übergeben worden. In den Veröffentlichungen wurde die genetische Beratung als eine Methode eugenischer Selektion kritisiert (Mürner/Sierck 2009, 96). Diese Argumentationslinie wurde untermauert durch eine Publikation des Hamburger Aktivisten- und Autorenpaares Nati Radke und Udo Sierck (1989),

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die – unter anderem anhand von Medizinerbiographien – die historischen Linien von der NS-Eugenik zur humangenetischen Beratung nachzeichneten. Im Laufe der 1980er Jahre bildete sich im Kontext von Geschichtswerkstätten und sozialen Bewegungen ein wachsendes Interesse an der differenzierten Erforschung der NS-Bevölkerungspolitik heraus. Nun wurde „Geschichte als Argument“ (Topp 2013) in politischen Debatten herangezogen, um die von Menschen mit Behinderungen geforderte Anerkennung plastisch zu untermauern und Kritik zu üben an der qualitativen Bewertung von Leben im Kontext biopolitischer Machtutopien. Veranstaltungen, in denen Peter Singer den Utilitarismus propagierte (Bastian 1990) oder Peter Sloterdijk (2008, 1999) seine Idee von einem „Menschenpark“ konkretisierte, waren von aktiven sozialen Protesten begleitet; die Aufnahme des Benachteiligungsverbots von Menschen mit Behinderungen ins Grundgesetz 1994 widersprach schließlich jeder eugenischen Denktradition. Die weitere Entwicklung war dennoch widersprüchlich: Während diskriminierende Konstruktionen von Behinderung durch die gesetzliche Verankerung einer Anerkennungs- und Gleichstellungspolitik revidiert wurden, fand die Kritik der Genforschung oder auch der pränatalen Diagnostik dauerhaft keinen mehrheitlichen Rückhalt in der Gesellschaft. Zwischen Frauen mit Behinderungen, die zunächst eng mit Initiativen aus der Frauenbewegung zusammengearbeitet hatten, und nichtbehinderten Frauen kam es zu heftigen Konflikten, wenn in öffentlichen Veranstaltungen das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung eingefordert und darunter das Recht auf ein nichtbehindertes Kind verstanden wurde (Achtelik 2015, 107 und 167; Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik 2004). In dem selektiven Potential der neuen Reproduktionstechnologien lag gerade angesichts der historischen Traditionslinien eine Provokation. Die damit verbundenen Emotionen waren interessen- beziehungsweise perspektivengebunden. So war es möglich, dass der biopolitische Konflikt im Laufe der Zeit auf die Auseinandersetzung um Schwangerschaft und Fortpflanzung fokussierte, obwohl zunächst die gen- und reproduktionstechnologischen Forschungskontexte im Zentrum der Kritik standen.7 Fast 30 Jahre später sind die gen- und reproduktionstechnologischen Praktiken kaum noch Gegenstand öffentlicher Debatten; selbst die demokratiesichernden Bürgerkonferenzen, die nach den Konflikten um die europäische Bioethik-Konvention um die Jahrtausendwende stattfanden, scheinen aus heutiger Sicht einer vergangenen Phase der Geschichte anzugehören. In Deutschland bzw. vielen westeuropäischen Ländern – im Vergleich beispielsweise zum anglo-amerikanischen Kontext – ist der Forschungsrahmen zwar vergleichsweise

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Mitte der 1980er Jahre hatten noch militante Protestaktionen gegen verantwortliche Firmen und Forschungsinstitutionen stattgefunden.

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restriktiv gesteckt. Dennoch entzieht man sich auch hier nicht dem globalisierten Wettbewerb. Neue Forschungsergebnisse schaffen Fakten, und es gibt kaum zivilgesellschaftliche Räume der Verhandlung und Mitbestimmung, um die gesellschaftliche Reflexion über gen- und reproduktionstechnologische Wissensbestände voranzutreiben. Im November 2018 berichteten die Medien über die Geburt der ersten Babys, deren Erbgut verändert worden war. He Jiankui, Privatdozent an der „Southern University of Science and Technology“ in Shenzhen (China) hatte der Nachrichtenagentur „Associated Press“ mitgeteilt, er habe sieben Paaren Spermien und Eizellen entnommen und bei der In-vitro-Befruchtung die Embryonen mit der Genschere CRISPR/Cas9 (kurz: Crispr) behandelt, um sie immun gegen den HIV-Virus der Eltern zu machen. Es wurden elf Crispr-Embryonen bei sechs verschiedenen Frauen eingesetzt, aber nur eine Zwillingsschwangerschaft verlief erfolgreich; schließlich wurden die beiden Mädchen Lulu und Nana geboren. Am 26. November 2018 distanzierte sich die Universität in Shenzhen von den Aktivitäten und entließ ihren Privatdozenten.8 Schaut man sich jedoch die Forschungslandschaft an, so zeigt sich, dass He Jiankui lediglich die Werkzeuge angewendet hat, für deren Entwicklung andere bereits ausgezeichnet wurden. Im März 2018 erhielt die französische Mikrobiologin, Genetikerin und Biochemikerin Emmanuelle Charpentier, Leiterin der „Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene“ in Berlin, den renommierten Kavli-Preis für die zielgerichtete Veränderung von DNA.9 Und bereits im August 2017 war bekannt geworden, dass in einem Labor in Portland Embryonen erzeugt worden waren, denen die für die Herzmuskelschwäche (HCM) verantwortlich gemachte Gensequenz entfernt worden war. Die Embryonen wurden nach knapp fünf Tagen abgetötet; legitimiert wurde der Forschungsversuch durch die behauptete Krankheitsvermeidung (Schadwinkel 2017).10 Auch der Molekularbiologe Jiankui beruft sich auf das Recht von

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Southern University of Science and Technology Statement on the Genetic Editing of Human Embryos Conducted by Dr. Jiankui HE, http://www.sustc.edu.cn/en/ info_focus/2871 vom 10.06.2019. Der wiki-Eintrag gibt einen guten Überblick über den Verlauf der Ereignisse und die Kontroversen. https://en.wikipedia.org/wiki/ Lulu_and_Nana_controversy vom 10.06.2019.

9 Verliehen durch die Norwegische Akademie der Wissenschaften, http://kavli prize.org/sites/default/files/TKP%202018%20Press%20release%20GERMAN.pdf vom 10.06.2019. 10 Laut des ZEIT online-Beitrags erkrankt einer von 500 Menschen an einer Herzmuskelschwäche, aber nur bei 40% der Betroffenen besteht die Ursache darin, dass das Gen MYBPC3 auf Chromosom elf mutiert ist. Die Weitergabe variiert je nach Geschlecht,

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HIV-infizierten Paaren, ein gesundes Kind zu bekommen; sein Handeln geht so scheinbar konform mit dem Menschenrecht auf gesundheitliche und reproduktive Selbstbestimmung (Wichterich 2015). Gegenstimmen kritisieren jedoch, dass Gen-Editing nicht notwendig sei, da der HIV-Virus inzwischen medikamentös gut zu behandeln ist und Betroffene lange leben können, ohne dass die Erkrankung ausbricht (Uhlmann 2018). Ein Abwägen der Argumente, die bei einer Diskussion dieses Fallbeispiels vorgebracht werden, gestaltet sich schwierig. Zwar pflichten Studierende bei der Diskussion intuitiv jenen politischen Stimmen bei, die Eingriffe in die Keimbahn ächten wollen.11 Wie jedoch genau das Gen-Editing bezogen auf den HIV-Virus funktioniert und ob He Jiankuis Argument stimmig ist, wagen nur diejenigen zu beurteilen, die mit diesem Spezialwissen bereits in Berührung gekommen sind, sei es, dass sie selbst Medikamente einnehmen zur Prävention gegen den HIV-Virus oder als Schwerpunkt ihres Biologie-Studiums Genetik gewählt haben. Dass genetisches Wissen grundlegend als konstruiert betrachtet werden muss, darauf hat Lily E. Kay in ihrer Studie über die historische Entwicklung der Genforschung hingewiesen. Die Wissenschaftshistorikerin bezeichnet den genetischen Code als eine griffige Metapher, mit deren Hilfe das „Buch des Lebens“ (Kay 2002) im interdisziplinären Wissenschaftsdiskurs und auch im Alltagswissen plausibel kommuniziert werden kann. Eine diskursanalytische Auswertung der Äußerungen und Stellungnahmen, die von der Bevölkerung in das partizipative Internetforum der Aktion Mensch zu Bioethik eingespeist worden waren, zeigte zudem, dass das „Wissen der Leute“ (Waldschmidt/Klein/Tamayo-Korte 2009) – implizit oder auch explizit – eugenisch und antidemokratisch eingefärbt ist. So wird beispielsweise eine „Ethik ohne die Anderen“ (Tamayo-Korte 2009) eingefordert und es wird behindertenfeindlich argumentiert (Waldschmidt 2009), ebenso wie Ängste und Sorgen zur Sprache gebracht werden angesichts einer technogenen Zukunft, in der das Subjekt in einer totalen Art und Weise zur Disposition stehen wird (Klein 2009).

insofern sagt man, es besteht bei betroffenen Paaren ein Risiko von 50%. In Deutschland leben Schätzungen zufolge bis zu 300.000 Menschen mit einem angeborenen Herzfehler, was in den meisten Fällen nicht genetisch bedingt ist; vielfach handelt es sich um eine Gefäßverengung der Aorta. Durch verbesserte Operationstechniken direkt nach der Geburt haben sich in den letzten 25 Jahren die Überlebenschancen stark erhöht: Starben 1989 noch 20 Prozent der Neugeborenen, liegt die Zahl heute bei unter drei Prozent. 11 Vgl. zur aktuellen Debatte die Stellungnahmen auf „Gene Watch“, http://www.genewatch.org/sub-396533 vom 10.06.2019.

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3.3 Subjektivierungsformen „Genetics and biotechnologies are making people nervous about their DNA and their organic capital.“ Braidotti 2018b, 24

Foucault sagte einmal, dass er die Macht untersuche, weil er sich für das Subjekt beziehungsweise die verschiedenen Möglichkeiten und Formen der Subjektwerdung interessiere (Foucault 1987). Als dritte Dimension einer biopolitischen Analyse wird daher nach den Subjektivierungsformen gefragt. Genauer gesagt geht es darum, wie das Subjekt in Auseinandersetzung mit machtvollen Wissensbeständen sein Selbstverständnis formt, welche Konflikte es empfindet und wie es seine Gefühle adjustiert, um biopolitische Entscheidungen treffen zu können (Emmerich/Scherr 2016). Es besteht die Tendenz, „Technologien des Selbst – im Sinne von Selbstführung, von Autonomie und Selbst-Kontrolle“ zu entwickeln, die mit den „Vorgaben eines diskursiv durchgesetzten, zunehmend institutionell abgesicherten ‚flexiblen Normalismus‘“ (Hirseland/Schneider 2008) konform gehen. Die Angebote des Marktes korrespondieren mit individuellen Wünschen und bilden so die Schnittstellen eines „Herrschaftsdispositivs moderner Gesellschaften“ (ebd.). Veränderte Selbstbilder ebenso wie die Neukonstitution von Beziehungs- und Familienformen können mit dem herkömmlichen Konzept des „doing family“ nur unzureichend beschrieben werden (Beck 2014).12 Entscheidend für die Akzeptanz der neuen Gen- und Reproduktionstechnologien ist die Frage, ob reproduktionstechnologische Formate und genetische Deutungsmuster, beispielsweise in Form von Risiko-Kalkulationen, Vorsorgeuntersuchungen und Wahrscheinlichkeitsberechnungen, für das eigene Leben übernommen oder abgelehnt werden (Lemke 2008, 84; Liebsch/Mantz 2007, 39). Der Interdiskurs, der Expertenwissen in Laienwissen – und umgekehrt – übersetzt, spielt für die Subjektivierungsformen eine große Rolle (Waldschmidt et al. 2007). Neue und insbesondere risikoreiche Technologien benötigen demokratische Legitimation (Bogner 2010); „um das zu erreichen, muss sie [die Wissenschaft, A.K.] die Menschheit ‚einbeziehen‘“ (Rose 2012, 215). Es ist der gesetzliche Auftrag des Deutschen Ethikrats, der als Nationaler Ethikrat bereits im Juni 2001 ins Leben gerufen wurde, „die ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussichtlichen

12 Ein Blick lohnt sich sicher in das Sonderheft von Gender über Elternschaft und Familie/n (2019, im Druck), hg. von Peukert et al.

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Folgen für Individuum und Gesellschaft“ zu diskutieren und Empfehlungen oder Vorschläge zu entwickeln, wie verfahren werden soll in Fragen, „die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben.“13 Zu den Aufgaben des Deutschen Ethikrates gehört es auch, die Öffentlichkeit zu informieren sowie die Diskussion in der Gesellschaft zu fördern. Doch seit den heftigen Auseinandersetzungen um die am 1. Dezember 1999 in Kraft getretene europäische Bioethik-Konvention, seit der ersten Bürgerkonferenz zum Thema „Gendiagnostik“ 2001 (Schicktanz/Naumann 2003) und dem im Oktober 2002 von der Aktion Mensch gestarteten, partizipativen online-Forum „1000 Fragen zur Bioethik“ (Waldschmidt et al. 2009) sind kaum noch öffentliche Debatten über die Gen- und Reproduktionstechnologien zu verzeichnen. Aber wie kann Urteilskompetenz ausgebildet werden, wenn es allein schon an Sachkompetenz mangelt? 2004 wurden im Zuge der Diskussionen um die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) die Einstellungen von sogenannten „genetischen Hochrisikopaare[n]“ (Krones 2004) erfragt. Dabei wurde ersichtlich, dass nur wenige Menschen über die notwendigen Basisinformationen verfügten, geschweige denn den Betroffenen überhaupt bekannt war, dass sie der Trägergruppe angehörten (Wagner 2017). Für den anglo-amerikanischen Forschungskontext hat Nikolas Rose diesen Befund bestätigt. Demnach wurde die Bevölkerung in die Entscheidungen im Kontext des Humangenomprojekts nicht nur nicht einbezogen; vielmehr wurden erst gar keine politischen Mühen unternommen, um demokratische Teilhabe und Mitbestimmung zu fördern (Rose 2012, 232). Das postmoderne Nachdenken über Körper, Sexualität und Fortpflanzung bezieht sich häufig auf den Begriff der „Selbstbestimmung“, reflektiert aber bei genauem Hinsehen vor allem neue Formen der Vulnerabilität. Die Diskussion über die Technologien kann also ohne eine angemessene Berücksichtigung ihrer vielfältigen Diskriminierungspotentiale nicht angemessen geführt werden. Ein Blick auf die Mehrheitsgesellschaft zeigt, dass sich viele Bürger*innen überfordert fühlen mit den notwendigen Entscheidungen. Welche Technologien können guten

13 https://www.ethikrat.org/der-ethikrat/ vom 10.06.2019. Der Deutsche Ethikrat arbeitet auf der Grundlage des am 1. August 2007 in Kraft getretenen Ethikratsgesetzes. Die 26 Mitglieder werden hälftig von Bundesregierung und Bundestag vorgeschlagen und vom Bundestagspräsidenten berufen. Durch dieses Verfahren „sollen unterschiedliche ethische Ansätze und ein plurales Meinungsspektrum vertreten sein“. Die Unabhängigkeit soll unter anderem durch das Verbot der Mitgliedschaft in Parlament und Regierung sichergestellt werden.

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Gewissens in Anspruch genommen werden? Wo kann man seriöse Informationen bekommen? Wie kann man sich eine Meinung bilden? Wer entscheidet in familiären Settings? Welche Risiken müssen bedacht werden? Welche Werte sind prägend? Und was sollte vielleicht lieber dem Schicksal überlassen werden? Wie Julia Helene Diekämper in ihrer Analyse der Berichterstattung über Reproduktionsmedizin aus der ZEIT und dem SPIEGEL der Jahre 1992 bis 2005 feststellen konnte, liegt den Beiträgen die Annahme zugrunde, Fortpflanzung sei ein planbarer, technischer Akt, von biologischen und gesellschaftlichen Determinanten völlig losgelöst (Diekämer 2008). So schafft die reproduktionsmedizinische Forschung die Illusion einer Wunscherfüllungsmaschine, während individuelle Gefühlshaushalte beispielsweise beim „Kinderwunsch“ und bei der Familienbildung weiterhin nach traditionellen Mustern funktionieren, ganz gleich ob es sich um hetero- oder homosexuelle Paare handelt, ob es Transgender-Menschen betrifft oder mixed/abled-Beziehungen. Die seit 2017 in Deutschland stattfindende „Kinderwunschmesse“ bieten für jede denkbare Konstellation „fertility solutions“ an (Graumann 2018). Dennoch bleiben Menschen mit Behinderungen immer noch weitestgehend vom Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung ausgeschlossen. In den Hintergrund rückt auch die die Tatsache, dass die Nutzung körpernaher Technologien – auch angesichts mittelmäßiger Erfolgsraten – viel unsichtbares Leiden erzeugt und daher eine psychosoziale Begleitung dringend angeraten scheint (Lampe/Schüssler 2015). „Regenerative Arbeit“ über „Fertilitäts-Outsourcing“ (Cooper/ Waldby 2015, 90) zu organisieren, bietet die Möglichkeit, selektive Praktiken wie beispielsweise die Präimplantationsdiagnostik (PID) anzuwenden, mit der steuernd in die genetische Ausstattung des Menschen eingegriffen werden kann. Neben anderen biomedizinischen Techniken wie Vorsorgeuntersuchungen oder Herkunfts-Apps bietet die assistierte Fortpflanzung also ein wichtiges Einfallstor für die Ausweitung genetischer Erfassung, Diskriminierung und Selektion.14 Dennoch sind die Einschätzungen bezogen auf den Status von Menschen mit Behinderungen durchaus verschieden. So sieht der Disability-Forscher Tom Shakespeare (1998) keinen zwingenden Zusammenhang zwischen einer selektiven Steuerung vorgeburtlichen Le-

14 UNESCO Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und die Menschenrechte 1997, https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-03/1997_Allgemeine_Erkl%C3% A4rung_%C3%BCber_das_%20menschliche_Genom_und_Menschenrechte.pdf vom 30.07.2019; „Menschenrechtskonvention zur Biomedizin (Bioethikkonvention) des Europarates“ 1999, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffevon-a-z/g/gendiagnostikgesetz.html vom 10.06.2019.

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bens und der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen. Er erachtet steuernde Eingriffe sogar als legitim, da für ihn das Leben der Person (gekennzeichnet durch Würde und Rechte) erst mit der Geburt beginnt und die Selbstbestimmung der Frau Vorrang hat vor einer – vielfach von Lebensschützern postulierten, christlich konnotierten – Schutzwürdigkeit des Embryo. Nach Shakespeare ist eine Gesellschaft möglich, in der vorgeburtlich genetische Selektion praktiziert wird bei gleichzeitig wachsender Anerkennung von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen. Mit dieser Einschätzung steht Tom Shakespeare allerdings innerhalb der Disability Studies/History eher allein. Insbesondere im deutschsprachigen Forschungskontext werden die Gen- und Reproduktionstechnologien als diskriminierend und somit als Barriere für eine inklusive Gesellschaftsentwicklung betrachtet. Demnach geht von dem Selektionspotential der Technologien eine „symbolische Gewalt“ (Waldschmidt 2011, Moebius/Wetterer 2011) aus, die von Menschen mit Behinderungen als Feindseligkeit und Bedrohung ihrer Existenz erlebt wird. Konstatiert wird auch, dass ein genetischer Determinismus (Lemke 2004, 8) scheinbar einfache Erklärungen anbietet für komplexe soziale Lebenslagen und das Leben von Menschen mit Behinderungen in besonderem Maße affiziert (Arnade 2003). Deutungsmuster und Bewertungen, die durch die reproduktionstechnologischen Selektionspraktiken zur Anwendung kommen, spiegeln das wider, was Judith Butler (2012) als Vulnerabilität im Kontext prekärer Lebensweisen bezeichnet hat. Diese Verletzlichkeit bildet ein „ethisches Kriterium“ (Pistrol 2016, 237) in normativen Bewertungskontexten, das auf drei Prämissen beruht: Der Körper ist erstens kein „Willensorgan“, es gibt zweitens keinen „Naturzustand der Unversehrtheit“, und das Subjekt agiert drittens nicht als eine „für sich stehende[n], autonome[n] und souverän agierende[n] Entität“ (ebd., 238). Ähnlich wie in den Critical Disability Studies/History üblich, leitet Butler aus der randständigen Perspektive gesellschaftlicher Minderheiten und der prekären, liminalen Erfahrung diskreditierter und diskreditierbarer Gruppen ein Potential ab für Gesellschaftskritik. So kann eine Umwertung vorgenommen werden, die Intersubjektivität, Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Emotionalität zum normativen Bezugspunkt erklärt. Bezogen auf eine Analyse des biopolitischen Zeitalters besteht die Aufgabe nach Judith Butler (2007, 171) eben genau darin, „diese primäre Prägbarkeit und Verletzbarkeit mit einer Theorie der Macht und Anerkennung zu durchdenken.“

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FAZIT „Nothing in man – not even his body – is sufficiently stable to serve as the basis for self-recognition or for understanding other man [...]. History becomes ‚effective’ to the degree that it introduces discontinuity in our very being […] [and] deprives the self of the reassuring stability of life and nature.“ Foucault 1991, 87

Eine Analytik der Biopolitik interessiert sich für Machtprozesse, Wissenspraktiken und Subjektivierungsformen in jeweils spezifischen historischen Kontexten. Michel Foucault bezeichnet den Rassismus und die Eugenik als Leitorientierung für die biopolitische Gouvernementalität seit Ende des 19. Jahrhunderts. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich biopolitische Praktiken in Deutschland und großen Teilen der westlichen Welt unter dem Vorzeichen des Liberalismus weiterentwickelt. „Selbstbestimmung“ wurde zu einem Schlüsselbegriff der Emanzipationsbewegungen in den 1970er und 1980er Jahren und ist es zum Teil bis heute; aber mit der Ausweitung neoliberaler Regierungspraktiken seit den 1990er Jahren wurde der Begriff seines emanzipativen Bedeutungsgehaltes beraubt. „Selbstbestimmung“ (Waldschmidt 2003) wurde zur ultima ratio eines „Normalisierungsdispositivs“ (Waldschmidt 2011, 2007), dessen inhärenter „ableism“ (Campbell 2009) und dessen „Behindertenfeindlichkeit“ (Rommelspacher 1999) in der Hochschullehre zur Diskussion gestellt werden sollte. Nach Thomas Lemke kann eine Analytik der Biopolitik zum besseren Verständnis der Gegenwartsgesellschaft beitragen. Die gen- und reproduktionstechnologische Forschung bringt seit circa 50 Jahren permanent Neuerungen hervor, die wie Zäsuren eines historischen Diskurswandels gelesen werden können. In der von Ulrich Beck (1986) beschriebenen „Risikogesellschaft“ reagiert Gesellschaftsgestaltung zunehmend nur noch auf sich selbst. Sozialer Wandel stellt sich als „programmlose abstimmungsfreie Dauergesellschaftsveränderung ins Unbekannte“ (Beck 1986, 344) dar: Trotz partiell erfolgreicher Verbesserung nimmt die aufwändige Abarbeitung von Kollateralschäden überhand. Biopolitische Praktiken bringen ein Erbe aus der Vergangenheit mit und werden maßgeblich die Lebensformen nachfolgender Generationen beeinflussen. Das biopolitische Zeitalter markiert, um mit dem Historiker Reinhart Koselleck (1972, 14) zu sprechen, eine „Sattelzeit“ oder „Schwellenzeit“; biopolitische Fragen sollten daher als ein zeitgeschichtlich und interdisziplinär relevantes Querschnittsthema behandelt werden

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(Geulen 2010). Ähnlich wie beim historischen Lernen zu Extremsituationen ist dabei die Ausbildung von Sach- und Urteilskompetenz auf spezifische Art gefordert. Das, was bereits passiert und in Zukunft passieren wird, ist historisch beispiellos. Es bedarf daher der Stärkung analytischer Kompetenzen und der Vermittlung von Sach-, Deutungs- und Orientierungswissen, um die Reichweite biopolitischer Phänomene angemessen erfassen und bewerten zu können. Die Gen- und Reproduktionstechnologien haben nicht nur massive Folgen für Behinderungs- und Normalitätsdefinitionen, sondern transformieren das Leben aller Menschen. Bislang werden diese Herausforderungen des biopolitischen Zeitalters vor allem in gendertheoretischer Perspektive thematisiert (Sänger 2019). Die Positionierung der behinderungskritischen Perspektive erfolgt bislang vor allem im Kontext sozialer Bewegungen; es bedarf daher der Ausweitung und Überprüfung im akademischen Diskurs, insbesondere hinsichtlich eugenischer Praktiken und deren forschungstheoretischer Legitimation. In der Hochschullehre kann das für eine Analyse notwendige Wissen erarbeitet werden, ebenso wie Widersprüche und Ambivalenzen, kognitive Dissonanzen und Gefühle/Affekte/Emotionen zur Sprache gebracht werden können. Will man die biopolitische Konstellation zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter den Vorzeichen „normativer Entgrenzung“ (Bauer 2017, 133-218) und der „Neuvermessung der sozialen Ungleichheit zwischen den Menschen“ (Beck 2010) erkunden, bietet das Konzept der „Vulnerabilität“ (Judith Butler) dafür eine gute Grundlage. Es macht auf das Zusammenspiel diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken aufmerksam und vermag so die gesellschaftlichen Machtverhältnisse aufzudecken, die in den Ordnungen des Wissens und der Praktiken verankert sind. Gleichzeitig erinnert es stetig daran, dass die „symbolisch-sinnhafte Ebene des Selbstverständlichen und Alltäglichen [...] zur Bejahung, Verinnerlichung und Verschleierung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen führt.“ (Moebius/Wetterer 2011, 1) Eine sich derart kritisch verstehende Disability History ist anschlussfähig an feministische Positionen (Schultz/Braun 2012, 77-80) und öffnet den Blick auch für intersektionale und queere Erkundungen der Gen-und Reproduktionstechnologien, die durch die geschichtswissenschaftliche Brille betrachtet erst analytische Tiefenschärfe erhalten.

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Intersektionalität für Anfänger*innen – erklärt am Beispiel Behinderung und Geschlecht Swantje Köbsell

EINLEITUNG Intersektionalität geht davon aus, dass eine Leitkategorie zur Analyse der Lebenssituation bzw. der Identität einzelner Personen bzw. Gruppen nicht ausreicht, da diese in sich wandelnden komplexen, historisch gewachsenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen leben. In einem intersektionalen Ansatz werden Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen nicht addiert, sondern die Überschneidungen (Überkreuzungen) und Wechselwirkungen verschiedenster Ungleichheitsdimensionen im jeweils historischen Kontext in die Analyse einbezogen, um so ein umfassendes Verständnis der Gegenwart zu gewinnen. Denn: Treffen mehrere Ungleichheitsdimensionen aufeinander, können daraus ganz neue Dimensionen von Ausgrenzung und Diskriminierung, aber unter Umständen auch Privilegierungen resultieren. Der Beitrag wird zunächst die Entstehung des Intersektionalitätsansatzes in den USA wie auch seine Rezeption in Deutschland darstellen. Daran anschließend werden die beiden zentralen Strukturkategorien Geschlecht und Behinderung eingeführt und die Auswirkungen ihres Zusammenwirkens geschildert. In einem weiteren Schritt wird beschrieben, wie Lernende an das Thema Intersektionalität im Kontext von Geschlecht und Behinderung herangeführt werden können. Da eine intersektionale Betrachtung für alle Bereiche, in denen mit Menschen gearbeitet wird, von großer Bedeutung ist, bietet sich das im Folgenden Beschriebene für unterschiedlichste Lerngruppen als Lehrinhalt an: Studierende von Bachelorstudiengängen aller Lehrämter, der Sozialen Arbeit und sonstiger pädagogischer Berufe, aber auch Schüler*innen von Fachschulen. Dabei gilt es zunächst, sie dafür

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zu sensibilisieren, dass es sich bei Ungleichheitsdimensionen um das Ergebnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse handelt, in denen sie selbst leben, und zu verdeutlichen, dass diese nicht „an sich“ existieren und im Zusammenwirken massive Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit und Teilhabemöglichkeiten von Menschen haben. Dies wird sodann exemplarisch an der Intersektion von Behinderung und Geschlecht verdeutlicht.

1. INTERSEKTIONALITÄT 1.1 Entstehung in den USA Der Begriff „Intersektionalität“ wurde 1989 durch die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw geprägt, die damit die spezifische, von Sexismus wie auch von Rassismus geprägte Situation Schwarzer Frauen in den USA bezeichnete (Crenshaw 1989), die weder im (weißen) feministischen noch im (männlich dominierten) Diskurs der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung thematisiert wurde. Dadurch waren Schwarze Frauen und ihre speziellen Diskriminierungslagen faktisch unsichtbar. Zu dieser speziellen Diskriminierungslage gehört auch, „how the structural obstacles facing women of color make them particularly vulnerable to sexual violence (battery, rape, media representations). While both feminism and anti-racism have been concerned with sexual violence, both have failed to address the ways that race and gender intersect to produce this vulnerability.“ (Davis 2008, 20)

Die Unsichtbarkeit Schwarzer Frauen spiegelte sich auch in der Rechtsprechung wider, wie Crenshaw am Beispiel des Verfahrens deGraffenreid v. General Motors aufzeigte. In diesem Verfahren verklagten fünf Schwarze Frauen General Motors wegen Diskriminierung. Sie gaben an, dass sie aufgrund der Einstellungspolitik des Unternehmens, das das jeweilige Dienstalter als Grundlage für eine Entlassung oder Weiterbeschäftigung zugrunde legte, in besonderer Weise benachteiligt worden waren. Es wurde der Beweis erbracht, dass Schwarze Frauen überhaupt erst ab dem Jahr 1964 eingestellt worden waren; als dann alle nach 1970 eingestellten Personen während der folgenden Rezession entlassen wurden, waren Schwarze Frauen überproportional von Entlassungen betroffen. Das Gericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass der Arbeitgeber weder aufgrund von Rasse noch aufgrund von Geschlecht diskriminiere, denn er beschäftige sowohl Schwarze (Männer) sowie weibliche (weiße) Angestellte. Auf den Hinweis der

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Klägerinnen, das es sich hier um gleichzeitige Rassen- und Geschlechtsdiskriminierung handele, entgegnete das Gericht, dass die Zusammenführung beider Diskriminierungstatbestände eine „Büchse der Pandora“ öffnen würde (Crenshaw 1989, 25). Anhand dieses und anderer Beispiele verdeutlichte Crenshaw, dass es oft nicht ausreiche, der Analyse einer Diskriminierung lediglich eine Ungleichheitsdimension zugrunde zu legen. Hierfür sei ein Zugang nötig, der die gleichzeitigen Effekte bzw. die Interaktion von „race“1 und Geschlecht erfassen und darüber z.B. die vielfachen Gewalterfahrungen Schwarzer Frauen erklären könnte. Zur Verdeutlichung dieses Zugangs zog sie das Bild einer Straßenkreuzung (intersection) heran: „Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions. Discrimination, Iike traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars traveling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if a Black woman is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination.“ (Crenshaw 1989, 28)

Crenshaws Forderung nach einem intersektionalen Zugang traf auf bereits bestehende Kritik an der Unsichtbarkeit Schwarzer Frauen im feministischen Diskurs der USA. Bekanntheit hat in diesem Kontext die Rede Sojourner Truths erlangt, die als Sklavin geboren wurde, später entfloh, freigekauft wurde und dann als Laienpredigerin wie auch als Frauenrechtlerin aktiv war. Anlässlich einer Frauenkonferenz in Acron (Ohio, 1851) meldete sie sich zu Wort, um darauf aufmerksam zu machen, dass sich ihre Lebenssituation deutlich von der weißer Frauen unterschied: „That man over there says that women need to be helped into carriages, and lifted over ditches, and to have the best place everywhere. Nobody ever helps me into carriages, or over mud-puddles, or gives me any best place! And ain’t I a woman? Look at me! Look at

1

Der in den USA zentrale Begriff „race“ (Rasse) wird im Deutschen weitgehend vermieden, denn der Begriff wird automatisch mit dem Biologismus der Rassenideologie und -hygiene der Nationalsozialisten und dessen tödlichen Folgen assoziiert. Wenn der Begriff zur Anwendung kommt, wird er in Anführungsstriche gesetzt und oftmals mit „Ethnizität“ gepaart oder dadurch ersetzt. Damit handelt man sich allerdings das Problem ein, dass ohne „Rasse“ auch Rassismus kaum zu adressieren ist (vgl. Lutz et al. 2010, 19-22).

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my arm! I have ploughed and planted, and gathered into barns, and no man could head me! And ain’t I a woman? I could work as much and eat as much as a man – when I could get it – and bear the lash as well! And ain’t I a woman?“ (in: Grady 2019, o.S.)

Die Rede Sojourner Truths verdeutlicht, dass die durch die Sklaverei und ihre Folgen geprägte Lebenssituation Schwarzer Frauen in den USA auch ökonomische Folgen hatte, die durch die Einbeziehung von „class“ thematisiert wurde. Die Trias „race – class – gender“, die die drei großen Machtverhältnisse Rassismus, Kapitalismus und Patriarchat widerspiegelt, entwickelte sich im Folgenden zum „Mantra“ (Davis 2008, 20) der feministischen Forschung. Das Konzept der Intersektionalität ermöglichte es, die heterogenen Erfahrungen von Frauen unterschiedlicher Hautfarbe und gleichzeitig unterschiedlicher sozialer Herkunft zu benennen und damit thematisierbar zu machen. Darüber hinaus konnte mit diesem Ansatz viel besser aufgezeigt werden, welche (oftmals negativen) Effekte das Zusammenwirken der drei Kategorien produziert, als die vorherige additive Herangehensweise, „that treated each new category of difference as an additional burden for the poor woman of color.“ (Davis 2008, 20) Eine intersektionale Analyse konnte dagegen zeigen, wie durch das Aufeinandertreffen von Kategorien Effekte sowohl auf der strukturellen als auch auf der politischen und der Darstellungsebene produziert werden. Darüber hinaus versprach der intersektionale Ansatz eine neue Methodologie für die feministische Forschung, „offering the tantalizing possibility of exposing multiple positions and power inequalities as they appear in any social practice, institutional arrangement, or cultural representation.“ (Davis 2008, 21) Intersektionalität, mit der Trias „gender – race – class“, spielt in den USA vor allem im Kontext der Black Feminist Theory und der Critical Race Studies eine Rolle. 1.2 Entwicklung in Deutschland In den 1960er und 1970er Jahren waren in der damaligen Bundesrepublik ebenfalls soziale Bewegungen entstanden, die sich jeweils auf einen Aspekt menschlicher Identität und damit verbundene gesellschaftliche Benachteiligungen bezogen: die Frauenbewegung, die Schwulen- und Lesbenbewegung sowie die Behindertenbewegung. Alle drei waren weiße Bewegungen, die zunächst wenig Interesse dafür zeigten, ihre Eindimensionalität aufzugeben, aber vorgaben, jeweils für die gesamte Gruppe zu sprechen. Dagegen regte sich bald Widerstand, unter anderem in der Frauenbewegung. Schwarze, jüdische und eingewanderte Frauen begannen nachzufragen, „wen die ‚Mehrheitsfrauen‘ denn eigentlich meinten, wenn sie von ‚der‘ Frau sprachen.“ (Rommelspacher 2009, 82) Auch Frauen aus

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der Behindertenbewegung begannen, sich in den feministischen Diskurs einzumischen. Allerdings mussten sie zunächst die Erfahrung machen, dass sie nicht als (Mit-)Frauen angesehen, sondern auf das Merkmal „behindert“ reduziert wurden, für das frau sich nicht zuständig fühlte: „Frauenbeauftragte fühlten (und fühlen) sich für uns und unsere Belange nicht zuständig – schließlich gibt es Behindertenbeauftragte. Entwürfe feministischer Antidiskriminierungsgesetze berücksichtigten die Bedürfnisse behinderter Frauen ebenfalls nicht; bei Nachfragen wurden wir auf das Schwerbehindertengesetz verwiesen, das schließlich ‚für uns‘ gemacht worden sei. Viele Frauenprojekte waren nicht zugänglich und Frauenbuchläden führten kaum Literatur zu Weiblichkeit und Behinderung.“ (Köbsell 2007b, 26)

Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen gründeten die Frauen, die sich von der Frauenbewegung nicht vertreten fühlten, eigene neue Gruppierungen wie z.B. ADEFRA, einen Zusammenschluss afrodeutscher Frauen, und Krüppelfrauengruppen als lokale Zusammenschlüsse behinderter Frauen. 2 Dadurch rückten ab Anfang der 1990er Jahre in Frauenbewegung und -forschung zunehmend Differenzen zwischen „den“ Frauen in den Fokus; die „Dominanzattitüde“ des westlichen Feminismus mit Orientierung an „weißen [nichtbehinderten, S.K.], christlich sozialisierten Frauen aus der Mittelschicht“, die aus ihrer Position heraus „universelle Normen“ aufgestellt hatten (Rommelspacher 1998, 98), wurde zunehmend kritisiert. In dem Maße, in dem „andere“ Frauen sich in den feministischen Diskurs einmischten, wurde deutlich, dass es „die“ Frau nicht gibt. Hannelore Bublitz stellte 1995 (73) fest: „[V]ereinfachende Aussagen über ‚die Frauen’ und ‚das Patriarchat’ beinhalten überkulturelle und -individuelle und damit unhistorische Strukturen, die zum Verständnis konkreter Herrschaftsund Unterdrückungssituationen von Frauen wenig beitragen.“ Die Differenzfrage wurde vor allem im Hinblick auf „Frauen verschiedener Rassen, Kulturen, Religionen und Klassen“ (Bublitz 1995, 73) diskutiert. Interessant ist hier, dass behinderte Frauen in diesen Aufzählungen fast nie auftauchten, obwohl sie sich seit Mitte der 1980er Jahre vehement in feministische Diskussionen, z.B. um die selektive Abtreibung nach Pränataldiagnostik, eingemischt hatten (z.B. Waldschmidt 1990, Degener/Köbsell 1992). Diese Leerstelle des Diskurses besteht bis in die heutige Debatte um Intersektionalität fast ungebrochen fort.

2

Aus der Vernetzung der Krüppelfrauengruppen entstanden landesweite Zusammenschlüsse, aus denen 1998 das „Weibernetz e.V. – Bundesnetzwerk von FrauenLesben [sic] und Mädchen mit Beeinträchtigungen“ als bundesweite Interessenvertretung behinderter Frauen hervorging.

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Die Einmischung der unterschiedlichen Gruppierungen von Frauen, die sich durch die Frauenbewegung nicht vertreten fühlten, wie auch insgesamt eine veränderte Thematisierung von Ungleichheitsverhältnissen veränderten den Diskurs. Damit wuchs auch das Interesse daran, sich mit weiteren Ungleichheitsdimensionen wie auch den Wechselverhältnissen zwischen ihnen zu beschäftigen. Parallel zu diesen Entwicklungen veränderte sich auch der Blick auf das Zusammentreffen verschiedener Diskriminierungen im Leben einzelner Individuen, wie sich am Beispiel des Zusammenwirkens der Diskriminierungen aufgrund von Behinderung und weiblichem Geschlecht zeigen lässt. So sprachen behinderte Frauen lange Zeit von ihrer „doppelten Diskriminierung“, denn: „Wir gehören in Personalunion zwei gesellschaftlich benachteiligten Gruppen an – den Frauen und den Behinderten.“ (Schatz 1996, 16) Allerdings wurde zunehmend deutlich, dass mit dem Begriff der doppelten Diskriminierung nicht die Situation aller behinderten Frauen erfasst wurde. Zunehmend wurde deutlich, dass die Gruppe der behinderten Frauen doch weniger homogen war, als der Begriff der doppelten Diskriminierung suggerierte: „Und wenn eine von uns noch einer weiteren diskriminierten Gruppe angehört (schwarz, Lesbe, Ausländerin …) muss auch dies benannt werden. Und um der Gefahr zu entgehen, diese Frauen durch unseren Sprachgebrauch auszuschließen, sollten wir uns überlegen, ob wir anstelle von „doppelter“ nicht lieber von „mehrfacher“ Diskriminierung sprechen sollten.“ (Köbsell 1994, 90)

Zunehmend wurde deutlich, dass die additive Begrifflichkeit der doppelten Diskriminierung der Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen behinderte Menschen leben und ihre Identität entwickeln, nicht gerecht wurde: Menschen sind nicht nur Frau oder Mann, behindert oder nichtbehindert, sondern sie haben darüber hinaus eine sexuelle Orientierung, gehören Ethnien, Klassen, Religionen, Altersgruppen etc. an, die ebenfalls Einfluss auf Identitäten und Lebensrealitäten haben. Zunehmend setzte sich der 2007 von Julia Zinsmeister in ihrem gleichnamigen Buch geprägte Begriff der „mehrdimensionalen Diskriminierung“ behinderter Frauen durch. Nach dem additiven Modell müssten Diskriminierungen kumulieren, was jedoch häufig nicht passiere. Vielmehr entstünden oftmals ganz eigene Diskriminierungsformen, die ein additives Modell nicht erklären könne: „Mögen sich auch manche Nachteile statistisch als Vermehrung von Diskriminierung abbilden lassen, so liefert doch das additive Modell keine Erklärung, warum Nachteile nicht

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notwendig kumulieren, sondern sich auch relativieren oder überlagern können. […] Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass sich viele zentrale Aussagen über typische Nachteile und Problemlagen ‚der Frauen‘, ‚der Migranten‘ oder ‚der Behinderten‘ nicht eins zu eins auf die Gruppe der Migrantinnen oder behinderten Frauen übertragen lassen.“ (Zinsmeister 2010, 115)

Vergleichbare Diskursentwicklungen fanden auch innerhalb der Frauenbewegung und Frauenforschung statt. Auch hier wurde zunehmend gefordert, „die ungleichheitsgenerierenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen und die in diese eingeschriebenen ‚Normalitätsmuster', die sie zu ‚Betroffenen' und ‚Anderen' machten“, als Analysefokus zu nehmen und dabei „die ‚innere Heterogenität‘ der Gruppen“ zu beachten (Krüger-Potratz 2011, 185). Seit Mitte der Nullerjahre werden die Auswirkungen des Zusammentreffens verschiedener Ungleichheitsdimensionen in einer Person oder Personengruppe auch in Deutschland unter dem Begriff der Intersektionalität analysiert und diskutiert: „Unter Intersektionalität wird dabei verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren ‚Verwobenheiten‘ oder ‚Überkreuzungen‘ (intersections) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen.“ (Walgenbach 2012, o.S.)

Neben einer breiten positiven Rezeption und vielfachen Verwendung des Konzeptes gibt es auch kritische Stimmen, die z.B. in den intersektionalen Ansätzen in Deutschland Eurozentrismus mit Vernachlässigung der kolonialen Vergangenheit sehen und fragen, ob „angesichts der akademisch prekären Situation, in denen sich die kritischen Race Studies in der BRD befinden, […] die Diskussion über Intersektionalität zu einer Relativierung von Rassismusanalysen führen könnte“ (Walgenbach 2012, o.S.). Zentraler Ansatzpunkt der Kritik ist die Frage nach den Auswirkungen des dem Konzept immanenten Zwangs zur Verwendung von Kategorisierungen. Unterschieden werden anti-, intra- und interkategoriale Zugänge (Rommelspacher 2009, 88-92). Immer wieder wird die Frage danach gestellt, ob die Auswahl der Kategorien „race, class, gender“ ihre Berechtigung hat; ebenso wird danach gefragt, „wie die Kategorien überhaupt definiert werden und auf welcher Ebene beziehungsweise in Bezug auf wen sie diskutiert werden.“ (Rommelspacher 2009,

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81) Kritisiert wird, dass neue Kategorien somit auch immer neue Ein- und Ausschlüsse produzieren und nie alle betroffenen Individuen erfasst werden. Außerdem trage ihre Verwendung auch immer dazu bei, die als Ungleichheitsverhältnis kritisierte Kategorie bzw. das kategorisierte Merkmal ständig wiederherzustellen und fortzuschreiben (Soiland 2008, o.S.), im Sinne eines „Doing Category“. Kritisiert wird auch, dass unter der Überschrift Intersektionalität nicht mehr die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in den Blick genommen würden, sondern nur deren Auswirkungen, was zu einer „Privatisierung“ gesellschaftlicher Problemlagen führen könne (Soiland 2008, o. S.). Andere Autor*innen weisen darauf hin, dass man, solange Menschen wegen Zugehörigkeit (oder auch Nichtzugehörigkeit) zu bestimmten Kategorien Diskriminierungen ausgesetzt sind, Kategorien benennen muss, um gegen sie kämpfen zu können. So werden zumindest im politischen Bereich Kategorien noch auf längere Zeit unverzichtbar sein, um auf gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse hinzuweisen und sie bekämpfen zu können (Dederich 2014, o.S.). Im Hinblick auf die Kategorie Behinderung ist festzustellen, dass sie im deutschsprachigen Intersektionalitätsdiskurs weitgehend abwesend ist. Schildmann beschreibt die Anzahl der Textstellen, die sich damit befassen, als „sehr überschaubar“ (2018, 32); Behinderung werde „von den meisten deutschen Autorinnen [sic] der allgemeinen Intersektionalitätsforschung [...] bisher noch nicht als relevante Kategorie in Betracht gezogen.“ In den englischsprachigen Disability Studies finden sich zahlreiche Hinweise auf die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive auf Behinderung, ohne dass eine grundlegende Auseinandersetzung mit Intersektionalität erfolgt (z.B. Garland Thompson 2001, Thomas 2007, 182). Die deutschsprachigen Disability Studies haben das Konzept der Intersektionalität und seine Potentiale ebenfalls Mitte der Nullerjahre für sich entdeckt; hier wird vor allem die Intersektion von Behinderung und (weiblichem) Geschlecht untersucht (Raab 2007, Jacob et al. 2010). Hier wird der Intersektionalitätsansatz als hilfreiches Instrument angesehen, da so ein genauerer Blick auf die Prozesse, die beim Überkreuzen dieser beiden Kategorien ablaufen, möglich wird. Heike Raab verweist auf das innovative Potential des intersektionalen Ansatzes im Hinblick auf die Erforschung des Zusammenwirkens der Kategorien Geschlecht, Sexualität und Behinderung. Eine intersektionale Herangehensweise „gestattet eine Neubestimmung von Behinderung als soziokulturelles Differenzierungsverfahren jenseits dualer und hierarchischer Gegensätze. Ferner ermöglicht es eine Konzeptionalisierung von Behinderung, die weitere soziokulturelle Differenzkategorien wie Heteronormativität und Geschlecht systematisch berücksichtigt.“ (Raab 2007, 142-143)

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Die Anschlussfähigkeit an viele Fachdisziplinen sowie die Möglichkeit, mit zu untersuchen, wie sich die jeweiligen Intersektionen auf behinderte Menschen jedweden Geschlechts auswirken, macht Intersektionalität auch zu einem interessanten Untersuchungsinstrument für die interdisziplinären internationalen Disability Studies. Ungeklärt ist bis jetzt die Frage, welche Rolle der Körper im Feld der intersektionalen Forschung und Analyse bekommen soll. Einerseits verspricht dieser Zugang neue Erkenntnisse im Hinblick auf den Körper, denn alle aufgeführten Analysekategorien werden an Körpern festgemacht, auf bzw. mit Körpern ausgetragen. Dies ist bei Kategorien wie Alter und Behinderung offensichtlich, so dass einige Autorinnen, um dies thematisieren zu können, den Körper als vierte Strukturkategorie einführen: „Wir unterscheiden […] auf der Strukturebene kapitalistischer Gegenwartsgesellschaften vier Herrschaftsverhältnisse entlang der Kategorien Klasse, Geschlecht, Rasse und Körper, nämlich Klassismen, Heteronormativismen, Rassismen und Bodyismen.“ (Winker/Degele 2009, 38) Der Körper sei ebenso eine „Gesellschaft strukturierende Kategorie“ (ebd., 40) wie die anderen drei. Diese Einschätzung wird jedoch fundamental kritisiert. So stellt Waldschmidt (2010, 50) fest, dass „schon allein aus begriffssystematischen Gründen der Körper nicht als eine eigene, vierte Kategorie neben class, race, gender [Hervorhebung im Original, S.K.] gestellt werden“ kann. Er sei eben keine „Gesellschaft strukturierende Kategorie“ (Winker/Degele 2009, 40), „sondern eine durch Gesellschaft, nämlich durch class, race, gender [Hervorhebung im Original, S.K.] wie auch Gesundheit, Leistung, Ästhetik etc. strukturierte Kategorie: Vergesellschaftung geht gewissermaßen durch den Körper hindurch; Gesellschaft findet in Körpern, durch Körper und mit ihnen statt. Als Feld der Macht und Medium sozialer Ungleichheit muss somit der Körper in der Intersektionalitätsforschung – ähnlich wie Institution, Wissen, Subjekt – einen vornehmlich analytischen Status erhalten.“ (Waldschmidt 2010, 50)

Darüber hinaus würde ein solches Vorgehen Behinderung analytisch auf den Körper reduzieren und wieder als quasinatürlich ansehen – diese Sichtweise zu überwinden und Behinderung als gesellschaftliche Konstruktion zu konzeptionalisieren, ist jedoch eine unhintergehbare Entwicklung, die durch die politischen Aktionen der internationalen Behindertenbewegungen sowie unzählige Veröffentlichungen aus den Disability Studies erreicht wurde. Schildmann und Schramme (2018, 72) fassen zusammen: „Auch wenn [die Kategorie Behinderung, S.K.] immer bestimmte Verhältnisse mit anderen Strukturkategorien eingeht […], ist sie

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als eigenständige soziale Strukturkategorie anzusehen und als solche in der Intersektionalitätsforschung zu verorten.“ Anstatt unspezifische, naturalisierende „Bodyismen“ als weitere Machtstruktur einzuführen, würde es sich eher anbieten, Behinderung mit dem dahinterstehenden Ableism mit aufzunehmen. Der Begriff Ableism wurde in Analogie zu anderen „Ismen“ gebildet, die ebenfalls gesellschaftliche Machtverhältnisse bezeichnen, die zur Benachteiligung von Menschen aufgrund bestimmter tatsächlicher oder zugeschriebener Merkmale führen wie z.B. Sexismus und Rassismus. Rommelspacher (2009, 29) definiert Rassismus „als ein System von Diskursen und Praxen, die historisch entwickelte und aktuelle Machtverhältnisse legitimieren und reproduzieren.“ Als zentrale Merkmale dieses gesellschaftlichen Machtverhältnisses führt sie Naturalisierung, Homogenisierung, Polarisierung und Hierarchisierung an – diese lassen sich auf die Gruppe „der Behinderten“ übertragen: Sie gelten als „von Natur aus“ anders als die Mehrheitsgesellschaft, stehen dieser als von Grund auf verschieden gegenüber und gelten als „weniger wert“ (Johnstone 2001, 17). Das Kriterium, das hier der Bewertung als unvereinbar anders zugrunde liegt, ist die Nicht/Erfüllung von Normalitätsanforderungen im Hinblick auf bestimmte geistige und körperliche Fähigkeiten („abilities“), die als „typisch menschlich“ und damit als „natürlich gegeben und für das Menschsein zentral gesetzt [werden]“ (Maskos 2010, o.S.). Ableism ist Bestandteil dessen, was Rommelspacher „Dominanzkultur“ nennt; ein „Ensemble gesellschaftlicher Praxen und gemeinsam geteilter Bedeutungen“, das durch „spezifische Kategorien von Über- und Unterordnung“ gekennzeichnet ist (Rommelspacher 1995, 22-23). Die Zuschreibung „behindert“ führt in einer solchen Kultur zu eingeschränkter Teilhabe in vielen Bereichen. Der kulturell tief verankerte Ableism (Goodley 2014, 32) durchzieht, in der Regel unbemerkt, alle gesellschaftlichen Bereiche, wird in alle Gesellschaftsmitglieder von klein auf hineinsozialisiert und beeinflusst so Einstellungen, Haltungen und Handlungen, die in allen gesellschaftlichen Bereichen zum „Doing Disability“ (Köbsell 2016) und damit zur Konstruktion von Behinderung und Normalität beitragen. Ableism wirkt sich in allen Lebensphasen und Bereichen aus: So wird bereits vorgeburtlich anhand ableistischer Kriterien entschieden, welche Kinder geboren werden, und Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen sehen sich mit ableistischen Einstellungen und Vorhaltungen konfrontiert (vgl. McLaughlin et al. 2008). Der Einfluss von Ableism auf die Lebens- und Teilhabemöglichkeiten behinderter Menschen lässt sich für alle Altersstufen und Lebensbereiche wie Schule, Ausbildung und Berufschancen, aber auch bezüglich der kulturellen und medialen Repräsentation behinderter Menschen aufzeigen (Köbsell 2015). Ableism ist somit ein äußerst wirkmächtiges „gesellschaftliches Verhältnis“ (Rommelspacher 2009,

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29), das einen Platz in der deutschsprachigen Intersektionalitätsforschung bekommen muss (Schildmann/Schramme 2018, 74-76) – im internationalen Intersektionalitätsdiskurs ist dies bereits der Fall (Gunda Werner Institut 2019).

2. BEHINDERUNG UND GESCHLECHT In den westlichen Gesellschaften werden alle Kinder in ein System der Zwangsheteronormativität hineingeboren. Die Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht erfolgt spätestens im Augenblick der Geburt – im Zuge der Verfeinerung pränataldiagnostischer Verfahren zunehmend schon davor. Zwar ist das Personenstandsgesetz im Dezember 2018 so geändert worden, dass nun auch der Eintrag „divers“ möglich ist, wenn „das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden“ kann (Bundesgesetzblatt 2018, § 22, Abs. 3 PStG). Dennoch ist Zweigeschlechtlichkeit nach wie vor das „grundlegende soziale Klassifikationssystem in einer Welt binärer geschlechtlicher Codierung“ (Kelle 2003, 82). Die geschlechtliche Zuordnung hat somit weitreichende Konsequenzen für das Leben von Kindern, da die Geschlechtszugehörigkeit für ihre Sozialisation und Lebensgestaltungsmöglichkeiten eine große Rolle spielt. Ca. zehn Prozent der Menschen jedweden Geschlechts wird früher oder später im Lebenslauf zusätzlich das Etikett „behindert“ angeheftet – ebenfalls mit weitreichenden Konsequenzen, gehören sie damit doch zu einer Minderheit, deren gesellschaftliche Teilhabe noch längst nicht selbstverständlich ist. Sowohl Geschlecht als auch Behinderung sind gesellschaftliche Strukturkategorien, wobei letztere „eine bestimmte Art der Abweichung von der männlichen bzw. weiblichen Normalität“ (Schildmann 2003, o.S.) darstellt. 2.1 Behinderung Behinderung ist eine Strukturkategorie, in der sehr unterschiedliche Menschen zusammengefasst werden, „eine Personengruppe […], die durch unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit, häufig basierend auf gesundheitlichen Einschränkungen, und ggf. durch gesellschaftlich unerwünschte Verhaltensweisen, als von der gesellschaftlichen Normalität abweichend bewertet wird.“ (Schildmann/Schramme 2018, 48) Die Übergänge zwischen nicht/behindert sind oftmals fließend und uneindeutig. Anders als bei der Kategorie Geschlecht besteht hier die Möglichkeit, quasi über Nacht dazu zu gehören; und über die Lebensspanne erhöht sich die individuelle Wahrscheinlichkeit, eine Beeinträchtigung zu erwerben.

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Über einen langen Zeitraum wurde Behinderung als ein medizinisches Problem, als „Defekt“ der betroffenen Person gesehen; diese „Defekte“ sollten beseitigt – oder zumindest weitgehend normalisiert werden. Menschen mit Beeinträchtigungen, bei denen dies nicht möglich war, mussten sich mit dem begnügen, was ihnen die Gesellschaft gewährte; Veränderungen der gesellschaftlichen Bedingungen waren nicht vorgesehen. Diese Sicht auf Behinderung bezeichnet man als das medizinische oder individuelle Modell von Behinderung. „Individuell“, weil Behinderung hier als individuelle Tragödie gesehen und erwartet wird, dass sich das betroffene Individuum verändert bzw. an die vorgefundenen Bedingungen anpasst. Die Auswirkungen der Beeinträchtigung, wie schlechtere Bildung und Ausbildung, schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, reduzierte Mobilität etc. werden lediglich als quasinatürliche Konsequenzen angesehen. Mit diesem medizinischen Blick auf Behinderung sind Zuschreibungen und Bewertungen verbunden. Behinderung wird gleichgesetzt mit Abnormalität, Unfähigkeit, Abhängigkeit, Unattraktivität und Passivität und wird als negativ bewertet. Nichtbehinderung stellt die Gegenseite dar: Sie wird mit Normalität, Fitness, Kompetenz, Aktivität, Attraktivität und Unabhängigkeit gleichgesetzt und als „Wert an sich“ positiv bewertet (Johnstone 2001, 17). Das Geschlecht der behinderten Person spielt in dieser Sichtweise überhaupt keine Rolle; die Rolle des Körpers ist, als naturgegebenes „Material“, Träger der Behinderung zu sein. Eine andere Sichtweise von Behinderung wurde in den 1970er Jahren unter anderem von behinderten Menschen selbst entwickelt: das sogenannte soziale Modell von Behinderung, das inzwischen weit verbreitet ist. Danach ist Behinderung eine gesellschaftliche Konstruktion; ein Prozess, der Menschen mit bestimmten Merkmalen – Beeinträchtigungen vielfältigster Art – die gesellschaftliche Teilhabe, Anerkennung und den Respekt vorenthält, die Menschen ohne Schädigung selbstverständlich zustehen. Eine vorliegende Beeinträchtigung bildet so die Voraussetzung für den gesellschaftlichen Prozess des Behindert-Werdens, den man durch Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen rückgängig machen bzw. verhindern könnte. Umgangssprachlich gesagt: Behindert ist man nicht, behindert wird man. Das soziale Modell3, wie es vor allem in Großbritannien entwickelt wurde und dort sowohl in der Behindertenbewegung wie in den Disability Studies angewandt

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Das soziale Modell wird inzwischen umfassend kritisiert, dies auszuführen ist hier nicht möglich, weiterführend Waldschmidt 2005. Gleiches gilt für die Disability Studies, die sich international auf Basis des Verständnisses von Behinderung als gesellschaftlicher Konstruktion entwickelt haben, weiterführend Waldschmidt 2015.

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wird, unterscheidet zwischen Beeinträchtigung (Impairment, die funktionale Einschränkung einer Person aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung) und Behinderung (Disability, der Verlust oder die Beschränkung von Möglichkeiten, am Leben in der Gemeinschaft gleichberechtigt teilzunehmen aufgrund räumlicher und sozialer Barrieren). Im Hinblick auf Selbstverständnis und Widerstand behinderter Menschen verursachte das soziale Modell einen fundamentalen Umbruch: Nicht sie waren „falsch“ – sondern die Gesellschaft, in der sie lebten! Und wenn Behinderung eine gesellschaftliche Konstruktion war, dann war sie auch überwindbar, dann konnte und musste man gegen behindernde Strukturen kämpfen (Köbsell 2012). Aus der deutschen Behindertenbewegung heraus gab es nie eine offizielle bzw. verbindliche Formulierung des zugrunde liegenden Modells von Behinderung. Geteilt wurde die Überzeugung, dass „Behinderung […] kein medizinisches sondern ein politisches Problem“ ist (Degener 2003, 25) sowie das Infragestellen des alten, auf individuellem Leid beruhenden Behinderungsbegriffs. Gusti Steiner formulierte bereits in den 1970er Jahren: „Die Lähmung ist nicht die Behinderung! Fehlende Wohnungen, fehlende Mobilität behindern uns!“ (in: Steiner 2004, 57) Auch hier bildete die Erkenntnis, dass Behinderung keine naturwüchsige Folge von Beeinträchtigungen ist, die Grundlage für den politischen Kampf gegen behindernde Lebensbedingungen. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) von 2006 verdeutlicht in markanter Weise, wie sich das Denken über Behinderung in den letzten Jahren verändert hat. In ihr kommt nun in einem verbindlichen Menschenrechtsvertrag eine Definition von Behinderung zum Tragen, die Behinderung nicht mehr im betroffenen Individuum verortet und als zwangsläufige Folge einer vorliegenden Beeinträchtigung ansieht. In der UN-BRK wird Behinderung als Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses gefasst: Hier gelten diejenigen Menschen als behindert, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (UN-BRK 2006, Präambel, e). Behinderung wird so in einem von 177 Staaten ratifizierten Menschenrechtsdokument als Konstruktion definiert, die von den jeweiligen historischen, kulturellen und politischen Bedingungen beeinflusst wird. 2.2 Geschlecht Geschlecht ist die gesellschaftliche Strukturkategorie, die unmittelbar alle Menschen betrifft. Mit der heteronormativen binären Aufteilung in männliches und weibliches Geschlecht gehen historisch tradierte Zuschreibungen des weiblichen

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und männlichen Geschlechtscharakters einher, die die Hierarchie zwischen den Geschlechtern als logische Folge der „Natur“ des weiblichen und männlichen Menschen darstellten. Dieser „biologisch begründete Geschlechterdualismus“ (Bublitz 1995, 64) prägt das Geschlechterverhältnis und die Geschlechterrollen bis heute. Aus dem „natürlichen“ Unterschied wurden hierarchische Machtstrukturen zugunsten der Männer hergeleitet, die für die Frauen Unterdrückung und Ausgrenzung zur Folge hatten, die bis heute wirkmächtig sind. So ist das Berufsspektrum für Frauen nach wie vor stark auf „Beziehungs- und Erziehungsarbeit“ (Rommelspacher, 1998, 91) zugeschnitten, als „weiblich“ angesehene Tätigkeiten genießen weniger gesellschaftliches Ansehen und werden entsprechend schlechter bezahlt. Diese „natürliche“ Hierarchie der Geschlechter wurde zunächst von der Frauenbewegung hinterfragt und sodann von der Frauenforschung als gesellschaftlich konstruiert entlarvt. Als hilfreiches Instrument für die Analyse des Geschlechterverhältnisses erwies sich dabei das aus der angloamerikanischen Forschung übernommene Sex/Gender-System. Dort wurde es bereits seit den 1970er Jahren in der Geschlechterforschung als Analyseinstrument eingesetzt; seit den 1990er Jahren wurde diese, inzwischen stark kritisierte4, analytische Trennung auch in der deutschsprachigen Frauenforschung verwendet. Gender bezeichnet das soziale, historisch-kulturell geformte Geschlecht von Menschen, Sex das biologische. Gender, das sich unter anderem in Geschlechterrollen niederschlägt, ist gesellschaftlich konstruiert – also von Menschen gemacht – und damit veränderbar. Mit dem Gender/Sex-System wurde die „Natürlichkeit“ bzw. Naturgegebenheit von unterschiedlichen Geschlechtsrollen in Frage gestellt und Mann und Frau nicht mehr als sich ergänzend angesehen, sondern ein hierarchisches (Macht-)Gefälle zwischen Mann und Frau festgestellt. Die Trennung in Sex und Gender ermöglichte nicht nur eine methodische, in allen Bereichen der Geschlechterforschung handhabbare Unterscheidung, sondern wurde auch als Instrument der politischen Analyse und Aktion eingesetzt, mit der Zielrichtung der strukturellen Änderung der Geschlechterbeziehungen. Inzwischen wird zunehmend diskutiert und hinterfragt, inwieweit auch das biologische Geschlecht historisch und kulturell konstruiert und nicht nur Biologie ist.

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So kritisierte Judith Butler das Sex/Gender-System, da es auf Zwangszweigeschlechtlichkeit und Zwangsheterosexualität fuße, der „heterosexuellen Matrix“. Nach Butler „gibt es keinen Rückgriff auf den Körper, der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist. Daher kann das Geschlecht keine vordiskursive, anatomische Gegebenheit sein. Tatsächlich wird sich zeigen, daß das Geschlecht (sex) definitionsgemäß immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen ist.“ (Butler 1991, 26)

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Die Geschlechterforschung hat unter anderem herausgearbeitet, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern im alltäglichen Handeln, dem sogenannten Doing Gender, an dem alle beteiligt sind, ständig hergestellt werden. Die Rollenerwartungen an Männer und Frauen werden dabei nicht nur unterschiedlich bewertet, sondern auch hierarchisch gegliedert. Männer gelten auch heute noch als stark, aktiv, unabhängig und mutig; Frauen dagegen als schwach, passiv, abhängig und hilfsbedürftig, wobei die männlichen Eigenschaften positiv und die weiblichen negativ bewertet werden. Die Geschlechtsidentität ist ein wichtiger Bestandteil der Identität eines Menschen. Von dem Augenblick an, an dem das Geschlecht von Kindern bekannt ist, ist es entscheidend an ihren Lebensperspektiven beteiligt, denn sie wachsen in durchgängig geschlechtsstrukturierten Erfahrungsfeldern auf. Trotz der Diskussionen der letzten Jahre, die in einigen Bereichen Geschlechtsrollenstereotypien („typisch Junge“, „typisch Mädchen“) zurückgedrängt haben, zeigt sich im alltäglichen Handeln immer noch der Einfluss traditioneller Geschlechtsrollenbilder – von den Handelnden selbst in der Regel unbemerkt. So werden im Sozialisationsprozess weiterhin an Mädchen andere Erwartungen gerichtet und Anforderungen gestellt als an Jungen. Medien gelten inzwischen neben Familie und Schule als wichtige Sozialisationsinstanz, hier zeigt sich der Einfluss traditioneller Geschlechtsrollenbilder in besonderem Maße, vor allem in der Werbung. Doch so wichtig das Geschlecht für die Identität des Menschen ist: Liegt eine Beeinträchtigung vor, wird das Merkmal „behindert“ so dominant, dass das Geschlecht oftmals kaum oder keine Berücksichtigung findet. Dies zeigen die Berichte von Männern und Frauen, die mit einer Beeinträchtigung aufgewachsen sind, aber auch ein Blick in die heil- und behindertenpädagogische Literatur: Die Genderperspektive ist dort bis auf wenige Ausnahmen nicht angekommen. „Geschlecht behindert“, bringt der Titel eines Buches von behinderten Frauen diesen Sachverhalt nach wie vor treffend auf den Punkt (Ewinkel et al. 1985). Die oftmals angenommene Geschlechtslosigkeit behinderter Menschen ändert jedoch nichts daran, dass sie Mädchen und Frauen, Jungen und Männer sind und ihre Lebenssituation in vielen Bereichen durch das Geschlecht beeinflusst wird. Dass das Thema Behinderung und Geschlecht überhaupt als solches wahrgenommen wird, ist vor allem ein Verdienst behinderter Frauen, die seit den frühen 1980er Jahren immer wieder darauf aufmerksam gemacht haben, dass sich ihre Lebenssituation in vielen Bereichen erheblich von der behinderter Männer unterscheidet.

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3. INTERSEKTIONEN VON GESCHLECHT UND BEHINDERUNG Sowohl Geschlecht als auch Behinderung sind sowohl gesellschaftliche Konstrukte sowie Gesellschaft strukturierende Kategorien. Sie enthalten nicht nur jeweils „in sich“ eine hierarchische Bewertung (männlich/weiblich – nichtbehindert/behindert), sondern auch untereinander. Beide werden im Alltag, im Austausch mit anderen Menschen und Institutionen ständig hergestellt. Gender und Behinderung haben mit den gleichen Themen zu tun: dem Körper, der Ungleichheit, der Identität und der Sexualität. Im Gegensatz zum Geschlecht wird mit „behindert“ allerdings keine homogene, klar abgrenzbare Gruppe von Menschen bezeichnet, vielmehr wirken hier gesellschaftliche Definitions- bzw. Ausgrenzungsprozesse, die an beeinträchtigten Körpern festgemacht werden und historischen und kulturellen Bedingungen – und damit auch Veränderungen – unterworfen sind. 3.1 Intersektion: Behinderung und weibliches Geschlecht Behinderte Frauen und Mädchen verschwanden in den 1980ern in der Gruppe „der Behinderten“, sie kamen weder in der Fachliteratur zu Behinderung noch in der Frauenliteratur vor, waren damit unsichtbar (Ewinkel et al., 1985, 7). Und in der jungen – männerdominierten – Behindertenbewegung bestand kein Interesse an Geschlechterfragen; dort war das männerzentrierte, heterosexistische Weltbild der Mehrheitsgesellschaft unhinterfragt übernommen worden. Die Frauenbewegung wiederum bot, wie geschildert, behinderten Frauen auch keine Möglichkeiten, ihre Anliegen und Themen einzubringen. Die Frauen hatten früh erkannt, dass sich ihr Leben aufgrund des Zusammenspiels von Behinderung und weiblichem Geschlecht in etlichen Aspekten sowohl von dem behinderter Männer wie auch dem nichtbehinderter Frauen unterschied. So gründeten behindertenbewegte Frauen ab Ende der 1970er Jahre sogenannte Krüppelfrauengruppen und sprachen fortan von sich selbst als „Krüppelfrauen“. Sie legten damit den Grundstein für eine „Bewegung in der Bewegung“, die „Bewegung behinderter Frauen“ (Puschke 2006, 54). Anliegen der Gruppen war, die spezifischen Benachteiligungen behinderter Frauen herauszuarbeiten und damit an die Öffentlichkeit zu gehen. So sollte ein Bewusstsein für die Benachteiligungen, die speziell behinderte Frauen betrafen, geschaffen und Diskriminierungen sollten bekämpft werden. Krüppelfrauengruppen gab es in vielen Städten Westdeutschlands; ab 1982 wurden auch bundesweite Krüppelfrauentreffen durchgeführt.

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Auf dem Gesundheitstag 1981 in Hamburg traten behinderte Frauen erstmalig mit „ihren“ Themen an die Öffentlichkeit. Unter dem Titel: „Krüppelfrauen, erobern wir uns den Tag“ (Radtke 1982, 165) stellten sie dar, dass sich die Lebenssituation von Frauen, die die beiden Ausgrenzungsmerkmale „weiblich“ und „behindert“ in sich vereinen, sowohl von nichtbehinderten Frauen wie auch von behinderten Männern in wesentlichen Bereichen unterscheidet: „Wir müssen herauskriegen, wie und wo genau Unterdrückung und Diskriminierung gegen uns Krüppelfrauen deutlich wird. Wir denken, daß das nur in einer Krüppelfrauengruppe möglich ist.“ (Radtke 1982, 165) Beim Krüppeltribunal 1981, mit dem die Behindertenbewegung das Jahr der Behinderten beendete, machten die Frauen ihre besondere Lebenssituation ebenfalls zum Thema und zeigten anhand der Bereiche Schönheitsideal, Gynäkologie, Paragraph 218 und Vergewaltigung auf, wie sich hier das Zusammenspiel von weiblichem Geschlecht und Behinderung zum Nachteil für behinderte Frauen auswirkt. 1983 veröffentlichte Ulrike Schildmann die erste wissenschaftliche Arbeit zur Situation behinderter Frauen: „Lebensbedingungen behinderter Frauen. Aspekte ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung“, mit der sie wissenschaftliches Neuland betrat, denn „[g]eschlechtsspezifische Aspekte von Behinderung wurden bisher nicht erforscht.“ (Schildmann 1983, 9) Mit ihrer Untersuchung zeigte Schildmann auf, dass „davon auszugehen ist, daß in patriarchalischen Gesellschaften aufgrund der Machtverhältnisse von Männern über Frauen sowohl Normalität und Abweichung von der Normalität als auch Behinderung für Frauen und Männer unterschiedliches Gewicht bekommen. Die gesellschaftliche Unterdrückung (Behinderung) des weiblichen Geschlechts in der patriarchalisch-kapitalistischen Gesellschaft führt bei denen, die von der ‚weiblichen Normalität‘ abweichen, zu einer Potenzierung der Behinderung“. (Schildmann 1983, 41)

1985 brachten behinderte Frauen selbst ein Buch mit dem Titel „Geschlecht behindert – besonderes Merkmal Frau. Ein Buch von behinderten Frauen“ (Ewinkel et al.) heraus. Das Buch geht den bereits im Rahmen des Krüppeltribunals angerissenen Themen vertieft nach und beschäftigt sich zusätzlich noch mit Mutterschaft, Sterilisation, Sozialisation, Ausbildung und Rehabilitation. Für jedes dieser Themen wurde aus persönlicher Erfahrung beschrieben, wie sich das Zusammenspiel von Behinderung und (negiertem) weiblichem Geschlecht jeweils auswirkt. Diese Themenbereiche, an denen die „doppelte Diskriminierung“ behinderter Frauen jeweils deutlich wird, ziehen sich ab hier wie ein roter Faden durch die einschlägige Literatur.

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Die Autorinnen zeigten, wie bei denjenigen, die mit einem „besonderen“ Körper aufgewachsen waren, die Neutralisierung ihres Geschlechts ihre Sozialisation durchzogen hat, wobei es durchaus einen gewissen Spielraum gab: „Manche von uns wurden geschlechtslos, manche ein ‚bißchen‘ weiblich, manche eher männlich erzogen.“ (Ewinkel et al. 1985, 11). Behinderte Mädchen bekamen früh beigebracht, dass sie keine „richtigen Frauen“ sein würden, dass sie nicht schön und begehrenswert sind und die klassische Frauenrolle als Partnerin und Mutter für sie nicht in Frage kommt. Behinderte Mädchen lern(t)en auch, dass sie mehr Leistung als andere bringen müssen, um so selbstständig wie möglich zu sein und zwar sowohl hinsichtlich der Selbstsorge wie auch hinsichtlich der finanziellen Unabhängigkeit, da sie nicht auf die Versorgungsinstitution Ehe hoffen konnten. Allerdings benachteiligte gerade das Rehabilitationssystem, in dem viele behinderte Jugendliche ihre Ausbildungen absolvier(t)en, behinderte Mädchen und Frauen in besonderem Maße, da es an einer männlichen Normalbiographie orientiert ist: „Die ausgehandelten Nachteilsausgleiche für Behinderte waren und sind weitgehend orientiert an den Strukturen männlicher Erwerbsarbeit und Sozialversicherung und vernachlässigen weibliche Problemlagen“ (Schildmann 2009, 224). Im Ergebnis führt diese Situation dazu, dass behinderte Frauen oftmals nicht finanziell unabhängig sind, sondern am unteren Ende der Erwerbshierarchie stehen, von allen Bevölkerungsgruppen die höchste Arbeitslosenquote haben und somit häufig von Armut bedroht sind. Die Nichtanerkennung der Weiblichkeit schlug sich auch im Absprechen von Sexualität nieder. Ausgestattet mit Körpern, die als „unnormal“, „abweichend“, wenn nicht gar „ekelhaft“ angesehen wurden, waren sie keine potentiellen Sexualpartnerinnen, wurden nicht – wie nichtbehinderte Frauen – als „Sexual- und Lustobjekt des Mannes“ (Ewinkel et al. 1985, 60) gesehen. In Kombination mit der Annahme einer biologischen „Minderwertigkeit“ führte das Absprechen der Weiblichkeit dazu, dass es für behinderte Frauen schwierig war und oftmals noch ist, Unterstützung für das Austragen einer – gesellschaftlich unerwünschten – Schwangerschaft zu bekommen. Vielmehr wurden Schwangerschaftsabbrüche von ärztlicher Seite geradezu angedient und geraten, anschließend eine Sterilisation durchführen zu lassen. Diese medizinischen Eingriffe, die für nichtbehinderte Frauen in den 1980er Jahren mit hohen Hürden verbunden waren, konnten behinderte Frauen ganz einfach durchführen lassen, unterlagen sie doch nicht dem allgemeinen „Gebärgebot“, sondern eher einem Gebärverbot. Es wurde davon ausgegangen, dass behinderte Frauen behinderte Kinder zur Welt bringen, aufgrund der eigenen Beeinträchtigung für Kinder keine Verantwortung übernehmen können, ihnen in unverantwortlicher Weise die eigene Beeinträchtigung zumuten und dem Staat zusätzliche Kosten verursachen

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(Hermes 2004, 33ff). Inzwischen sind Mütter mit Beeinträchtigungen keine solche Seltenheit mehr, allerdings sind die „Fehlannahmen und Vorurteile“ (Hermes 2004, 40) gegenüber der Elternschaft behinderter Menschen tief verwurzelt und sehr beständig. Eine große Erleichterung bei der Wahrnehmung der Mutterrolle ist die nach langjährigen Kämpfen durchgesetzte Elternassistenz, auf die im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes seit 2018 ein Rechtsanspruch besteht. Für den Personenkreis der Frauen mit sogenannter geistiger Behinderung wurde das Gebärverbot besonders restriktiv durchgesetzt. Bis zur gesetzlichen Regelung durch das Betreuungsgesetz 1992, das die (Zwangs-)Sterilisation Minderjähriger verbot und die Volljähriger stark einschränkte, war die Sterilisation hier gang und gäbe (Köbsell 1987). Seitdem hat sich die Diskussion stark verändert: „Aktuell stellt sich statt der Auseinandersetzung, ob Menschen mit geistiger Behinderung Kinder haben dürfen, die Frage danach, wie in den längst existierenden Familien geistig behinderte Eltern(teile) und ihre Kinder zusammenleben und welche Unterstützung sie dabei benötigen.“ (Pixa-Kettner 2006, 9) Obwohl sie nicht als potentielle Sexualpartnerinnen wahrgenommen werden, sind behinderte Mädchen und Frauen in weit höherem Maße von sexualisierter Gewalt betroffen als andere Personengruppen (Zemp/Pircher 1996). Dieses „Tabu im Tabu“ wurde von behinderten Frauen an die Öffentlichkeit gebracht. Bereits beim Krüppeltribunal 1981 machten sie darauf aufmerksam, dass es oft die (angenommene) Hilflosigkeit einer Frau ist, die sie zum Opfer macht, wodurch behinderte Frauen, allen klischeehaften Annahmen über Opfer sexualisierter Gewalt zum Trotz, für Täter „interessant“ werden. Behinderte Frauen gelten nicht nur als hilflos, gegenüber anderen Opfern sexualisierter Gewalt befinden sie sich noch stärker in der Position, dass ihnen niemand glaubt – und oftmals sind sie von den Tätern in starkem Maße abhängig (Daniels et al. 1983, 111-112). Eine repräsentative Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bestätigte die erhöhte Vulnerabilität behinderter Frauen und Mädchen im Hinblick auf sexualisierte, aber auch andere Formen der Gewalt (Schröttle/Hornberg 2012). Auch das Recht maß lange mit zweierlei Maß: Bei angenommener „Widerstandsunfähigkeit“ des Opfers – die Regel bei behinderten Frauen – wurde ein geringeres Strafmaß angesetzt, da der Täter weniger kriminelle Energie aufzubringen habe. Und so kam es – wenn überhaupt eine Anzeige erfolgte – in aller Regel zum Freispruch des Täters (Friske 1995, 185). Dieser Tatbestand änderte sich erst durch die Strafrechtsreform 2016, mit der nach langem Kampf behinderte Frauen im Sexualstrafrecht endlich gleichgestellt wurden.

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3.2 Intersektion: Behinderung und männliches Geschlecht Im Gegensatz zu der Intersektion von Behinderung und weiblichem Geschlecht gibt es im deutschsprachigen Raum nur wenige, oft schon recht alte Arbeiten, die sich mit dem Zusammenhang von Behinderung und männlichem Geschlecht befassen. Zwar steigt seit einigen Jahren das wissenschaftliche Interesse für die Situation von Jungen, insbesondere im Hinblick auf ihren Bildungserfolg bzw. -misserfolg. Und obwohl sich auch hier ein deutlicher Zusammenhang mit der Konstruktion von (Lern-)Behinderung zeigt, ist das wissenschaftliche Interesse am Zusammenwirken von Behinderung und männlichem Geschlecht gering geblieben. Und anders als beim Zusammenspiel von Behinderung und weiblichem Geschlecht setzen sich behinderte Männer selbst nicht für die vertiefte Erforschung dieses Zusammenhangs ein. Dass es diese Forschungslücke gibt, ist seit längerem bekannt. Birgit Warzecha stellte bereits 1997 fest, dass „[d]ie Auseinandersetzung mit der Lebenssituation behinderter Männer […] noch eine Leerstelle in Theorie und Praxis“ ist. Sie versuchte eine Erklärung für diesen Umstand zu geben: „Konnten behinderte Frauen vom gesellschaftlichen Kurswert der Frauenbewegung an der

Entwicklung von Sprach-, Denk- und Handlungsräumen teilnehmen [sic] und Formen aktiver Interessenvertretung entwickeln, so scheint dies für behinderte Männer noch kaum Selbstverständlichkeit in Theorie und Praxis erlangt zu haben. […] Dennoch wage ich die These, daß die Macht der Männlichkeitsmythen ebenso destruktiv ist wie die der Weiblichkeitsmythen.“ (Warzecha 1997b, o.S.)

Neben der fehlenden Anbindungsmöglichkeit an die Frauenbewegung und dem Fehlen einer entsprechenden Männerbewegung, an die man(n) sich hätte wenden können, kann weiter vermutet werden, dass behinderte Männer insofern „echte“ Männer sind, als sie sich über private Befindlichkeiten öffentlich nicht austauschen wollen. Darüber hinaus war der „Leidensdruck“ nicht so groß wie bei den behinderten Frauen. In den meisten der Bereiche, die die Frauen im Rahmen der „doppelten Diskriminierung“ aufzeigten, hatten behinderte Männer weniger auszustehen. Sie waren nicht in gleichem Maße den Anforderungen des Schönheitsideals unterworfen und konnten im Bereich der Partner*innenwahl von Geschlechtsrollenstereotypen eher profitieren: Da zum weiblichen Rollenbild das sich um bzw. für andere Sorgen gehört, fanden behinderte Männer eher eine Lebenspartnerin als ihre weiblichen Peers einen Partner. Das System der beruflichen Rehabilitation war auf männliche Berufsbilder und Lebensentwürfe zugeschnit-

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ten, so dass behinderte Männer durchaus die Rolle des Ernährers einnehmen konnten, auch wenn sie stärker von Erwerbslosigkeit betroffen waren als nichtbehinderte Frauen und Männer. Im Hinblick auf die Vaterrolle waren die gesellschaftlichen Erwartungen niedriger als die an Mütter; solange eine nichtbehinderte Partnerin vorhanden war, die sich um die Kinder kümmern konnte, wurde die Vaterschaft behinderter Männer weit weniger in Zweifel gezogen als die Mutterschaft behinderter Frauen. Zwar gab es auch hier eugenisch geprägte Bedenken, da Männer aber die Kinder nicht austragen, sind sie in diesem Bereich auch nicht der medizinischen Kontrolle unterworfen. Themen wie Gynäkologie, Abtreibung, Sterilisation und Vergewaltigung betrafen bzw. betreffen sie überwiegend nur mittelbar. In diesem Rahmen können so auch behinderte Männer an der „patriarchalen Dividende teilhaben, dem allgemeinen Vorteil, der den Männern aus der Unterdrückung der Frauen erwächst.“ (Connell 1999, 100) So könnte man fast vermuten, dass behinderte Jungen und Männer außer der Tatsache, dass sie als behinderte Menschen insgesamt durch strukturelle und bauliche Barrieren an der gesellschaftlichen Teilhabe gehindert werden, keine besonderen, mit ihrem Geschlecht zusammenhängenden Problemlagen haben. Die langjährige Forschung zu Behinderung und weiblichem Geschlecht hat jedoch eindeutig gezeigt, dass Behinderung kein geschlechtsneutraler Zustand ist – dies wird hier offensichtlich, wenn man sich ansieht, welche Rollenerwartungen an Männer, und welche an „Behinderte“ gestellt werden – da gibt es wenig Übereinstimmung. Die US-Autoren Gerschick und Miller bezeichnen die Identität behinderter Männer als „‚embattled identities‘ because of the conflicting expectations placed upon them as men and as people with disabilities.“ (1995, 185) Sie beschreiben das Dilemma, in dem sich behinderte Männer befinden: „On the one side, contemporary masculinity privileges men who are strong, courageous, aggressive, independent, and self reliant […]. On the other side, people with disabilities are perceived to be, and treated as, weak, pitiful, passive and dependent […]. Thus, for men with physical disabilities, masculine gender identity and practice are created and maintained at the crossroads of demands of contemporary masculinity and the stigmatization associated with disability.“ (Gerschick/Miller 1995, 185)

Behinderte Jungen und Männer müssen in ihre Männlichkeit gänzlich Unmännliches wie Schwäche, Hilflosigkeit und Abhängigkeit integrieren, je nach Auftreten der Beeinträchtigung schon während der kindlichen Sozialisation oder erst später. Die männlichen Qualitäten werden über den Körper dargestellt, was Männern mit Beeinträchtigungen oft nicht möglich ist: „Thus, for men with physical disabili-

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ties, being recognized as masculine by others is especially difficult, if not impossible, to accomplish. Yet not being recognized as masculine is untenable in our culture, everybody is expected to display an appropriate gender identity […].“ (Gerschick/Miller 1995, 185) Und so werden behinderte Jungen und Männer immer wieder damit konfrontiert, dass die Betrachtung als „Behinderter“ Geschlecht neutralisiert und sie gerade in sexueller Hinsicht oftmals nicht als „echte Männer“ gelten. Dies spielt auch in der Sozialisation eine nicht unwichtige Rolle, wie Karsten Exner beschreibt: „Statt uns die Möglichkeit zu geben, eine unverkrampfte Beziehung zur eigenen Geschlechterrolle und Sexualität zu entwickeln, wurde uns beigebracht, daß wir keine Männer, sondern ‚Behinderte‘ seien.“ (1995, 12) Auch wenn grundsätzlich festzustellen ist, dass sich die Männerforschung nicht für Männer mit Beeinträchtigungen interessiert, hat es in jüngerer Zeit Arbeiten zur Intersektion Behinderung und männliches Geschlecht gegeben. Zu nennen ist hier zunächst die Studie „Lebenssituation und Belastung von Männern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland“ (Jungnitz et al. 2013), die als Vergleichsstudie zur „Frauenstudie“ von Schröttle und Hornberg (2012) durchgeführt wurde. Die Studie stellte fest, dass in Privathaushalten lebende Männer „sich in Bezug auf soziostrukturelle Merkmale und die soziale Einbindung nur geringfügig von Männern der Durchschnittsbevölkerung [unterscheiden]“ (ebd., 11); allerdings seien sie weniger vollzeitbeschäftigt. Festgestellt wurde auch, dass Männer mit Beeinträchtigungen zwar signifikant häufiger körperliche und psychische Gewalt erleben als nichtbehinderte Männer; sexualisierte Gewalt jedoch „deutlich seltener […] als Frauen“ (Jungnitz et al. 2013, 12). Zwei weitere aktuelle Arbeiten beschäftigen sich mit Männlichkeitskonstruktionen von Männern mit Lernschwierigkeiten (Heneka 2020, Zach 2015) und beschreiben, ähnlich wie Gerschick und Miller (1995), die paradoxen Anforderungen, vor die sich die interviewten Männer beim Aushandeln ihrer Männlichkeit gestellt sehen: Auf der einen Seite stehen die nach wie vor dominanten Anforderungen hegemonialer Männlichkeit (Connell 1999), auf der anderen ableistische Zuschreibungen von Kindlichkeit und Schwäche sowie strukturelle Bedingungen, die eine männliche Rolle als Brotverdiener verhindern, da in Werkstätten für behinderte Menschen nur ein Taschengeld verdient werden kann (vgl. Heneka 2020). Dies alles weist darauf hin, dass es lohnen würde, die Intersektion von Männlichkeit und Behinderung weiter zu erforschen.

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4. INTERSEKTIONALITÄT FÜR ANFÄNGER*INNEN Um eine fundierte Auseinandersetzung mit der Intersektion von Behinderung und Geschlecht führen zu können, muss zunächst eine Lerneinheit vorgeschaltet werden, in der vermittelt wird, dass es sich sowohl bei Geschlecht wie auch Behinderung um gesellschaftlich konstruierte Strukturkategorien handelt. Insbesondere bezüglich Behinderung hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass es sich um ein individuelles, „biologisches“ Defizit handelt und nicht um das Ergebnis eines gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses, womit die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, in denen diese Konstruktionen stattfinden, ausgeblendet werden (Dobusch 2015, S. 236). Die Teilnehmer*innen des jeweiligen Lehrangebotes sollten zumindest jeweils einen Text zu Behinderung und Geschlecht gelesen und durchgearbeitet haben, um zu verstehen, wie sich historisch die jeweiligen Rollen, Mythen und Zuschreibungen herausgebildet haben. Vermittelt werden muss weiter, wie sich durch den Kampf der Frauen- und Behindertenbewegung und die Arbeiten der aus diesen Bewegungen entstandenen Gender bzw. Disability Studies sowohl das Denken über Geschlecht wie über Behinderung verändert hat und welche Auswirkungen das für behinderte Menschen bzw. Frauen hatte.5 Um ein Verständnis für Intersektionalität zu vermitteln, ist es zunächst einmal wichtig dafür zu sensibilisieren, welche Kategorisierungen/Kategorien in unserer derzeitigen Gesellschaft Ungleichheit bezeichnen und welche Effekte aus ihrem Zusammenspiel entstehen können. In einem zweiten Schritt geht es dann darum zu verstehen, was diese meist negativen Effekte für das Leben der betroffenen Menschen bedeuten. Ein weiterer Schritt könnte/sollte dann sein darüber nachzudenken, durch welche Maßnahmen (individuelle Handlungen und/oder politische/gesetzgeberische Maßnahmen) diese negativen Effekte verringert werden können. 4.1 Sensibilisieren: Intersektionalität „durchspielen“ Die folgenden Vorschläge für die Umsetzung des Themas in der Lehre sind in vielen Jahren des Lehrens erprobt worden. Es muss jedoch, auch in Abhängigkeit von der zur Verfügung stehenden Zeit, für jede Lerngruppe jeweils neu einge-

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Für das Thema Behinderung könnten z. B. gelesen werden Mürner/Sierck 2015 und/oder Abschnitte aus der Zeitleiste des Online Handbuch Inklusion als Menschenrecht (Deutsches Institut für Menschenrechte [DIMR] 2019), das auch zahlreiche methodische Anregungen enthält; zum Thema Geschlecht Bublitz 2019 und/oder Küppers 2012.

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schätzt werden, welche Methoden bzw. Texte für sie am besten geeignet sind. Unabhängig davon, wieviel Zeit für die Bearbeitung zur Verfügung steht, muss eingangs sichergestellt werden, dass die Lerngruppe verstanden hat, dass es sich bei Behinderung nicht um eine individuelle, durch eine medizinische Diagnose begründete Eigenschaft handelt; entsprechend der Definition in der UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 1, Satz 2), die verdeutlicht, dass Behinderung in der Wechselwirkung von Beeinträchtigungen und Barrieren jeglicher Art (physischer wie kommunikativer oder einstellungsbedingter) entsteht. Je nach Lernsituation und zur Verfügung stehender Zeit können unterschiedliche Methoden eingesetzt werden, um mit der Lerngruppe zu erarbeiten, welche Kategorisierungen Indikatoren für gesellschaftliche Ungleichheit sind. Wenn wenig Zeit zur Verfügung steht, kann dies in Form eines Brainstormings der Gesamtgruppe erfolgen; etwas zeitintensiver ist es, wenn die Lernenden zunächst in Kleingruppen überlegen, welche Kategorisierungen sie kennen/ihnen einfallen, und wenn diese dann in der Gesamtgruppe zusammengetragen werden. Möglich ist auch, den Teilnehmer*innen zu zweit oder zu dritt ein Arbeitsblatt zu geben, in das sie die von ihnen identifizierten Kategorien eintragen, wobei sie bereits Verbindungen zwischen diesen und daraus entstehende Effekte durchspielen können. Dies kann dann in einem entsprechenden Bild an Tafel/Whiteboard/ Flipchart zusammengetragen werden. Abbildung 1: Arbeitsblatt als Vorlage für eine Lerngruppe

Quelle: Swantje Köbsell

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Wenn der Zeitrahmen weniger eng ist, kann z.B. die die Übung „Ein Schritt nach vorn“ (Deutsches Institut für Menschenrechte [DIMR] 2018, 153-158)6 durchgeführt werden, die explizit mit dem Ziel entwickelt wurde „[f]ür die ungleiche Chancenverteilung in der Gesellschaft [zu] sensibilisieren“ (ebd., 153). Sie kann – auch in Abhängigkeit von der Gruppengröße – bis zu 60 Minuten in Anspruch nehmen; darüber hinaus muss sie seitens der anleitenden Person gründlich vorbereitet werden. Dazu gehört genau zu überprüfen, ob die im „Kompass“ des DIMR (2018) vorgegebenen Rollenkarten die Dimensionen gesellschaftlicher Ungleichheit enthalten, um die es in der Lerneinheit gehen soll, oder ob die Rollen entsprechend abgeändert werden müssen. Vorgesehen ist, dass alle Mitglieder der Lerngruppe an der Übung teilnehmen: In einem Behältnis, aus dem die Karten gezogen werden können, befinden sich mehr Rollenkarten als Teilnehmer*innen, damit diejenigen, denen ihre gezogene Rolle beispielsweise „zu nah“ ist, eine weitere Karte ziehen können. Die Rollenkarten enthalten Beschreibungen wie: „Sie sind eine arbeitslose, alleinerziehende Mutter“, „Sie sind eine 17-jährige Romni, die die Grundschule nicht abgeschlossen hat“, „Sie sind 22 Jahre alt und lesbisch“ oder „Sie sind ein junger Mann, der auf den Rollstuhl angewiesen ist“ (alle DIMR 2018, 157). Die hier ausgewählten Rollen verweisen auf die Differenzdimensionen Geschlecht, Klasse, Ethnizität/race, Sexualität, Alter und Behinderung. In der vorgegebenen Spielanleitung ist der genannte Rollstuhlnutzer die einzige Rolle, bei der Behinderung eine Rolle spielt; so wäre es für die Heranführung an die Intersektionalität von Behinderung und Geschlecht sinnvoll, zumindest noch eine weibliche Person mit einer Beeinträchtigung als Rolle aufzunehmen. Nachdem die Rollenkarten verteilt sind, bekommen die Teilnehmer*innen Zeit, sich in ihre Rolle einzufühlen. Dies kann die Übungsleitung durch Fragen wie „Wie war Ihre Kindheit? […] Was haben Ihre Eltern gearbeitet? Wie sieht Ihr Alltag heute aus? […] Wie sieht Ihr Lebensstil aus?“ unterstützen (DIMR 2018, 154). Im Anschluss an diese „Eingewöhnungsphase“ stellen sich alle Teilnehmer*innen entlang einer Linie auf. Die Übungsleitung liest nun verschiedene Aussagen vor. Die Teilnehmer*innen, die dies in ihrer Rolle bejahen können, gehen jeweils einen Schritt nach vorn, alle anderen bleiben stehen. Zu den Aussagen gehören solche wie „Sie wissen, wohin Sie sich wenden können, wenn Sie Rat und Hilfe brauchen. – Sie hatten nie das Gefühl, dass Sie aufgrund Ihrer Herkunft diskriminiert werden. – Ihre sozialen und medizinischen Bedürfnisse werden ausreichend abgedeckt. […] – Sie können Freund*innen nach Hause zum Essen einladen.“ (DIMR 2018, 158). Auch hier ist vorab zu prüfen, ob für den Kontext der Intersektion Behinderung

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Dort findet sich auch die ausführliche Anleitung zu dieser Übung.

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und Geschlecht relevante Aussagen enthalten sind. Die Spielleitung entscheidet, wie viele Aussagen vorgestellt werden. Je nachdem welche Rolle die Teilnehmer*innen innehatten, konnten sie oft, gelegentlich oder kaum einen Schritt nach vorne gehen und stehen am Ende dieser Phase der Übung, die entwickelt wurde, um auf Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen, unterschiedlich weit entfernt von der Linie, von der alle gestartet sind. In der anschließenden Phase geht es nun darum aufzuarbeiten, woran es liegt, dass die unterschiedlichen Rollen in so unterschiedlichen Positionen „gelandet“ sind: Was war wichtig für das Vorankommen, was hinderlich? Welche Kategorisierungen können daraus abgeleitet/identifiziert werden? Diese Erkenntnisse können, wie bereits oben geschildert, zentral gesammelt werden; Effekte, die aus dem Zusammenspiel verschiedener Differenzdimensionen entstehen, können „durchgespielt“ werden: Welche Bedeutung hat Geschlecht im Hinblick auf Bildung? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Alter, Einkommen und Geschlecht? Welche Rolle spielt Religion im Kontext von Sexualität? Abbildung 2a: Arbeitsblatt einer Lerngruppe: Ungleichheitskategorien

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Abbildung 2b: Arbeitsblatt einer Lerngruppe: Verknüpfungen von Ungleichheitskategorien

Quelle: Swantje Köbsell

4.2 Intersektion Behinderung und Geschlecht: Stereotype für Erkenntnisse nutzen Obwohl sich das Bild behinderter Menschen in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt hat, hält sich doch die Vorstellung der Geschlechtsneutralität der Kategorisierung „Behinderung“ hartnäckig. Dass Behinderung jedoch alles andere als ein geschlechtsneutraler Zustand ist, kann mittels einer einfachen Übung in zwei Schritten verdeutlicht werden. In einem ersten Schritt werden die Teilnehmer*innen der Lerngruppe aufgefordert, den Adjektiven „weiblich“ und „männlich“ Stereotypisierungen zuzuordnen. Dies kann allein, in Kleingruppen oder im Plenum erfolgen, mittels eines vorgegebenen Arbeitsblattes, auf einem einfachen Blatt Papier oder als Tafelbild. Wichtig ist, zwischen den beiden Spalten Platz für eine weitere Spalte zu lassen, auch sollten die Teilnehmer*innen darauf hingewiesen werden, dass es hier nicht um political correctness und Beschreibungen wünschenswerter Geschlechterrollen geht, sondern tatsächlich um Stereotype. Das Ergebnis dürfte dann ungefähr so aussehen:

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Tabelle 1: stereotype Geschlechterrollen weiblich

männlich

schwach passiv abhängig unselbstständig hilfebedürftig kindlich machtlos attraktiv emotional Körper

stark aktiv unabhängig selbstständig mutig „hart“ potent attraktiv rational Geist

Quelle: Swantje Köbsell

Nun werden die Teilnehmer*innen gebeten, zwischen die Spalten „weiblich“ und „männlich“ als weitere Spalte „behindert“ aufzunehmen und dort ebenfalls stereotypisierende Adjektive einzutragen. In dem Augenblick, in dem die dritte Spalte ausgefüllt ist, wird offensichtlich, dass Behinderung alles andere als geschlechtsneutral ist: Während die Übereinstimmung zwischen den Spalten „weiblich“ und „behindert“ fast 100-prozentig ist, gibt es zwischen den Spalten „männlich“ und „behindert“ überhaupt keine – somit kann das Leben mit und Erleben von Behinderung für weibliche und männliche Personen nicht gleich sein.

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Tabelle 2: Stereotype von Geschlecht und Behinderung weiblich

behindert

männlich

schwach passiv abhängig unselbstständig hilfsbedürftig kindlich machtlos attraktiv emotional Körper

schwach passiv abhängig unselbstständig hilfsbedürftig kindlich machtlos unattraktiv

stark aktiv unabhängig selbstständig mutig „hart“ potent attraktiv rational Geist

Körper

Quelle: Köbsell 2007a, 32

4.3 Vertiefung durch forschendes Lernen Im Anschluss an diese Aktivität sollte die inhaltliche Vertiefung erfolgen. In welchem Umfang dies möglich ist, hängt wiederum von der zur Verfügung stehenden Zeit ab. Denkbar wären von Teilnehmer*innen vorbereitete Kurzpräsentationen zu den verschiedenen Aspekten der Intersektionen von Geschlecht (z.B. Sozialisation, Ausbildung, berufliche Möglichkeiten). Möglich sind jedoch auch Gruppenarbeiten mit vorbereiteten Materialien auf der Basis verschiedener Texte (z.B. Arnade 2019, Heneka 2020, Exner 1997, Bruner 2005), mit denen die Teilnehmer*innen selbsttätig verschiedene Aspekte der Intersektionen von Behinderung und Geschlecht aktiv erarbeiten und im Plenum vorstellen können. Von zentraler Bedeutung ist dabei, wo immer es möglich ist, Texte zu wählen, in denen behinderte Menschen selbst zu Wort kommen – sei es aufgrund der eigenen Positionierung als behinderte Frau oder behinderter Mann (Arnade/Exner) oder durch Zitate behinderter Interviewpartner*innen. Auch das gehört zu dem veränderten Denken von Behinderung im Sinne einer gesellschaftlich konstruierten Kategorie: Es wird nicht mehr über, sondern von und mit behinderten Menschen geforscht, die als Expert*innen in eigener Sache einbezogen werden. Wenn mehr Zeit zur Verfügung steht, könnten die Teilnehmer*innen des jeweiligen Lernangebotes als vorbereitende Hausaufgabe je einen der biographischen Texte aus dem Zeitzeugenprojekt des Bildungs- und Forschungsinstituts zum Selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos e.V.) lesen, in dessen Rahmen die Lebensgeschichten von 50 behinderten Personen aufgezeichnet wurden. Dabei

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sollte die Lehrperson darauf achten, dass sowohl Berichte von Männern wie von Frauen gelesen werden.7 Bei der Lektüre sollen die Lernenden besonderes Augenmerk darauf legen, ob die jeweilige Person in ihrem Bericht Geschlecht thematisiert und wenn ja, in welcher Weise. Mit diesem Zugang wird deutlich, dass die Männer aus der Behindertenbewegung einen geschlechtsneutralen Zugang zum Thema Behinderung hatten, während es für die Frauen sehr wichtig war, sich mit dem Thema „Behinderung und weibliches Geschlecht“ bzw. dessen Konsequenzen auseinanderzusetzen. Nach diesen sehr persönlichen Berichten können die Teilnehmer*innen auf der Webseite des Weibernetz e.V. – eines bundesweiten Zusammenschlusses behinderter Frauen, der seit vielen Jahren die politischen Interessen behinderter Frauen in zahlreichen (Bundes-)Gremien vertritt – einen Eindruck davon bekommen, welche Themen im Hinblick auf Behinderung und weibliches Geschlecht von Bedeutung sind, welche Problemlagen sich dahinter verbergen, wie diese gelöst werden sollen und welche Änderungen bereits erreicht werden konnten. Zu den Erfolgen der Bewegung behinderter Frauen gehört, dass in zahlreichen deutschen Gesetzestexten (z.B. im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz [AGG] und im Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung [BGG]), aber auch in der UN-BRK frauenspezifische Regelungen aufgenommen wurden; auch die Reform des Sexualstrafrechts gehört zu den Erfolgen der politischen Interessenvertretung behinderter Frauen (Weibernetz e.V o.J.). Anhand dieser Regelungen bzw. Paragraphen kann herausgearbeitet werden, auf welche Benachteiligungen behinderter Frauen hier jeweils reagiert wurde. Mit der Ratifizierung der UN-BRK 2009 verpflichtete sich die Bundesrepublik zu deren Umsetzung in deutsches Recht, darüber hinaus muss die Bundesregierung in regelmäßigen Abständen beim UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen über ihre Fortschritte der Umsetzung Bericht erstatten. Ergänzend zum offiziellen Bericht der Bundesregierung wird aus der Zivilgesellschaft ein sog. Schattenbericht erstellt, der die Bemühungen der Bundesregierung kritisch beleuchtet (BRK-Allianz 2013). Beide Berichte sowie andere Quellen werden vom Ausschuss zur Bewertung herangezogen. Zum Abschluss des Prüfungsverfahrens verabschiedet der Ausschuss die sogenannten Abschließenden Bemerkungen, in denen Verdienste und Versäumnisse der geprüften Nation zu-

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Die Berichte finden sich auf http://www.zeitzeugen-projekt.de/; besonders geeignet für dieses Vorhaben sind die Berichte von Sigrid Arnade, Gisela Hermes, Dinah Radtke und Sabine Schulze für die weibliche, sowie die von Horst Frehe, Ottmar Miles-Paul und Raul Krauthausen für die männliche Perspektive.

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sammengefasst werden. Deutschland hatte bis jetzt eine Staatenprüfung (UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2015). Anhand der Aussagen im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung (Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS] 2011), des Schattenberichts (BRK-Allianz 2013) und der Abschließenden Bemerkungen (Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2015) lässt sich ebenfalls erarbeiten, was die besondere Lebenssituation behinderter Mädchen und Frauen ausmacht und wie die verschiedenen politischen Akteure darauf reagieren. Mittels der genannten Materialien kann deutlich herausgearbeitet werden, dass die Intersektion von Behinderung und Geschlecht vor allem für behinderte Mädchen und Frauen weitreichende Konsequenzen hat. Diese können sowohl in Statistiken, z.B. zu Berufstätigkeit, aber auch in den Forschungsergebnissen zum Thema Gewalt gegen behinderte Frauen belegt werden. Gerade die Statistiken zeigen jedoch auch, dass nicht nur die Intersektion von Behinderung und Geschlecht, sondern auch die von Behinderung und sozialer Lage, sowie von Behinderung und dem sogenannten Migrationshintergrund einen entscheidenden Einfluss auf die Lebenssituation behinderter Menschen hat, wobei auch hier jeweils der Faktor Geschlecht eine wichtige Rolle spielt (Bundesministerium für Arbeit und Soziales [BMAS] 2016).

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Dis/ability und Gender im westdeutschen Behindertensport Eine intersektionale Analyse über die Konstruktion und Gegenwartsrelevanz zeitgeschichtlich wirkmächtiger Ungleichheitskategorien Sebastian Schlund

Intersektionalität ist en vogue. Unter dem Titel „Diese zehn Feministinnen musst du kennen“ stellte zett.de – ein zum Zeitverlag gehörendes Portal, das sich an Jugendliche und junge Erwachsene richtet – eine Reihe „feministischer Heldinnen“ vor.1 Darunter fand sich auch die Juristin Kimberlé Crenshaw, die als Begründerin des intersektionalen Feminismus bezeichnet wird und die in der sozial- und geisteswissenschaftlichen Intersektionalitätsforschung als zentrale Referenz gilt (Mackert 2016, 50-56). In Plattformen öffentlicher Debatten wie den Feuilletons auflagenstarker Tages- und Wochenzeitungen finden sich sowohl der Begriff „Intersektionalität“ als auch der ihm zugrunde liegende Zusammenhang immer häufiger (Lenz 2018, 22; Kid 2019): In der Wochenzeitung DIE ZEIT erschien anlässlich der Publikation der deutschen Übersetzung des vieldiskutierten Werks „Why I'm No Longer Talking to White People About Race“ der britischen Autorin Reni Eddo-Lodge ein partieller Vorabdruck (Eddo-Lodge 2019).2 Eddo-Lodge setzt sich darin mit ihren Erfahrungen über die wechselseitigen Verflechtungen von rassistischer und sexistischer Diskriminierung auseinander und verweist explizit auf den Intersektionalitätsansatz (Eddo-Lodge 2017, 159-165). 1

Kurt/Kücük

2019,

https://ze.tt/diese-10-feministinnen-musst-du-kennen/

vom

03.04.2019. 2

https://www.zeit.de/kultur/2019-01/rassismus-hautfarbe-weisse-white-privilege 03.04.2019.

vom

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Intersektionalität entwickelt sich mithin zu einem Schlagwort, das die akademische Analyse von Ungleichheitsstrukturen mit einem politisch-emanzipatorischen Programm verbindet. Die Grenzen zwischen den Sphären „Academia“ und „gesellschaftliche Protestbewegung“ verschwimmen dabei geradezu notwendigerweise. Dadurch wird allerdings auch die Frage aufgeworfen, wie sich universitäre Wissensproduktion und die gesellschaftlich wirksame Anwendung dieses Wissens zueinander verhalten sollen. Noch augenfälliger wird dieses Spannungsverhältnis, wenn sich die akademische Analyse nicht auf die Gegenwart, sondern auf die (jüngere) Vergangenheit bezieht. Eine doppelte Übersetzungsleistung – eine zeitliche und eine gesellschaftlich subsystematische – scheint angesichts der Komplexität steigernden (historischen) Intersektionalitätsperspektive geboten. Der vorliegende Beitrag nähert sich dieser Problemstellung anhand mehrerer Schlaglichter aus der Geschichte des Behindertensports in der Bundesrepublik: Es gilt zu eruieren, wie durch die Anwendung einer intersektionalen Perspektive neue Erkenntnisse über den Konstruktionscharakter und das Zusammenspiel der Kategorien Dis/ability und Gender im bundesrepublikanischen Behindertensport – und darüber hinaus – gewonnen werden können. Denn beide Kategorien waren und sind im Hinblick auf gesellschaftliche Hierarchien sowie auf Prozesse der Inklusion und Exklusion äußerst wirkmächtig, beide Kategorien werden maßgeblich über den Körper von Personen verhandelt – und dieser steht bei der sportlichen Betätigung im Mittelpunkt. Gerade den Sport behinderter Menschen als Untersuchungsfeld auszuwählen, erscheint zudem vielsprechend, da diesem Phänomen eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit zukommt. Dies zeigt sich nicht nur anlässlich der alle zwei Jahre stattfindenden Winter- bzw. Sommerparalympics, sondern auch im Zuge aktueller Debatten um die leistungsbezogene Optimierung menschlicher Körper durch technische Hilfsmittel (Müller 2017, 261-273). In diesem Kontext wird auch die dem Leistungssport behinderter Athletinnen und Athleten bisweilen zugeschriebene Funktion eines Experimentierfeldes hochtechnologischer Prothetik reflektiert (Harrasser 2013, 35-52). Im Lichte derartiger Utopien – oder, je nach Standpunkt: Dystopien – kann eine intersektionale Analyse der Zeitgeschichte des Behindertensports empirisches Begleitmaterial liefern, das derartigen Diskursen neben utilitaristischen Optimierungsphantasien eine kritisch-distanziertere Betrachtungsweise zur Seite stellt. Schließlich zielt der Beitrag auch darauf ab, intersektionale Diskriminierungs- und Privilegierungsmechanismen offenzulegen sowie auf fundamentale Widersprüchlichkeiten und (Binnen-)Differenzierungen der Kategorie Dis/ability hinzuweisen.

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Insbesondere die im Untersuchungszeitraum von etwa 1950 bis etwa 1990 anhaltenden Diskussionen um Binnenhierarchien zeigen deutlich, dass Dis/ability ein vielgestaltiges und komplexes Phänomen ist. Daher soll im ersten Abschnitt des Beitrags zunächst dargelegt werden, was in diesem Zeitraum unter dem Sport behinderter Menschen verstanden wurde, welche Motive mit ihm verbunden waren und in welchen organisatorischen Rahmenbedingungen er stattfand. Bei diesem knappen historischen Abriss wird bereits deutlich werden, dass Behindertensportangebote nicht zu allen Zeitpunkten für alle behinderten Menschen in gleichberechtigter Weise zugänglich waren. Der Zugang zu und die Akzeptanz in Behindertensportvereinen hing von mehreren miteinander verflochtenen Faktoren ab: der Ursache der Beeinträchtigung, der Art der Beeinträchtigung und dem Geschlecht der betroffenen Personen. Da diese Faktoren in intersektionaler Perspektive zueinander in Beziehung gesetzt und analysiert werden sollen, muss im zweiten Teil des Beitrags geklärt werden, was unter Intersektionalität verstanden wird. Daran anschließend wird sich die Analyse Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen im Behindertensport sowie der Integration von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung in die Sportangebote für behinderte Menschen widmen. Diese Abfolge entspricht zugleich der Chronologie zentraler Debatten um den Sport behinderter Menschen zwischen 1950 und 1990. Der empirischen Fundierung der theoretisch-methodischen Ausführungen zur Intersektionalitätsperspektive im dritten Teil folgt zum Abschluss eine Einordnung der Gegenwartsrelevanz und Anwendbarkeit intersektionaler Erkenntnisproduktion. Dabei wird vor allem auf zwei Aspekte einzugehen sein: erstens, weshalb der analytische Mehrwert der Intersektionalitätsperspektive in besonders hohem Maß vom Zuschnitt der Fragestellung und der Auswahl relevanter Ungleichheitskategorien abhängt; und zweitens, warum bei der Vermittlung des Ansatzes an verschiedene Adressatenkreise eher dessen heuristisches Potential im Fokus stehen sollte und weniger dessen theoretische Komplexität.

GRUNDLAGEN DES SPORTS BEHINDERTER MENSCHEN IN DER BUNDESREPUBLIK Der Sport behinderter Menschen basierte nach 1945 in erster Linie auf Erkenntnissen, die während des Zweiten Weltkriegs im Rahmen der Betreuung verwundeter Soldaten gewonnen worden waren. Sowohl konzeptionelle als auch personelle Kontinuitäten prägten den „Versehrtensport“ der frühen Bundesrepublik, wie er zeitgenössisch bezeichnet wurde. Sportmediziner und -pädagogen wie

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Arthur Mallwitz oder Hans Lorenzen verfassten Leitfäden, welche die Übungsprogramme in den lokalen Vereinen, die sich ab 1951 unter dem Dach der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Versehrtensport“ (ADV, ab 1957 „Deutscher Versehrtensport-Verband“, DVS) organisierten, maßgeblich prägten (Schlund 2017, 74-79). Beide hatten ihre Vorstellungen über die körperliche Ertüchtigung versehrter Soldaten in Lazaretten entwickelt und erprobt (Mallwitz 1943, Mallwitz 1952, Wedemeyer-Kolwe 2014). Dieses in einem militärischen Kontext produzierte Fachwissen floss nun in den zivilen Sport behinderter Menschen ein. Utilitaristische Erwägungen über die zeitgenössisch so bezeichnete „körperliche Wiederherstellung der Arbeitskraft“ standen dabei sowohl für das leitende Personal der ADV/des DVS als auch für politische Entscheidungsträger, die über eine staatliche Finanzierung des Versehrtensports entschieden, im Vordergrund. Ab 1950 war es nach dem Bundesversorgungsgesetz möglich, den Versehrtensport als „ergänzende Heilmaßnahme“ für Kriegsversehrte einzuordnen; durch eine Präzisierung des Gesetzestextes 1956 wurden bis dahin bestehende Uneinigkeiten in der föderalen Versorgungsverwaltung beseitigt: „Heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen unter ärztlicher Aufsicht können auch als Gruppenbehandlung (Versehrtensport) gewährt werden.“ (Bundesgesetzblatt Teil I 1956, 463-464). Das Verständnis dieser gesetzlich-finanziellen Dimension der Genese des bundesrepublikanischen Behindertensports ist notwendig, um die Bruchlinien und Konflikte einordnen zu können, die im dritten Teil dieses Beitrags eingehender analysiert werden: Der Versehrtensport der 1950er und 1960er Jahre war als ärztlich überwachte, therapeutische Heilmaßnahme für kriegsversehrte Männer konzipiert und nach dem Ziel ausgerichtet, diese körperlich soweit „wiederherzustellen“, um einer Erwerbsarbeit nachgehen zu können. Die Zweckdienlichkeit der sportlichen Inhalte und die Ausrichtung des Versehrtensportangebots auf eine bestimmte Personengruppe hin wurden somit in den Anfangsjahren des organisierten Versehrtensports fest verankert. Bedenkt man zusätzlich die hohe Anzahl der in den 1950er Jahren juristisch als „kriegsversehrt“ eingeordneten Personen, erklärt sich das Selbstverständnis der ADV/des DVS als Verband von Kriegsversehrten: Von 1.7 Millionen Personen mit einer anerkannten körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung waren 1950 1.5 Millionen kriegsversehrt – meist aufgrund des teilweisen oder vollständigen Verlusts von Gliedmaßen (Rudloff 2005, 522-523). Analog dazu bestanden zahlreiche Versehrtensportgemeinschaften zu Beginn nahezu ausschließlich aus kriegsversehrten Männern, die sich über die zweckdienliche Komponente des Versehrtensports hinaus oftmals schlichtweg wieder jenen Sportarten widmen wollten, die sie vor ihrer Verwundung ausgeübt hatten. Allerdings ergab sich aus diesem Bestreben ein langanhaltender Konflikt innerhalb des

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Versehrtensportverbandes: Denn der nach der offiziellen Sprachregelung im Vordergrund stehende Therapiecharakter widersprach dem Wunsch zahlreicher Versehrtensportler, sich – wie aus dem Nichtbehindertensport bekannt – in Wettkämpfen zu messen und möglichst Höchstleistungen zu vollbringen. Als eine Art Kompromisslösung orientierte sich der DVS lange Zeit an einer Terminologie, die an die Tradition des Deutschen Turnens angelehnt war. Bis 1971 wurden keine Meisterschaften ausgetragen, sondern „Sporttreffen“ oder „Turniere“, bei denen sich alle Teilnehmenden als Sieger fühlen sollten (Kosel 1971b). Gegenüber dem Leistungsgedanken im Versehrtensport bestand folglich lange Zeit eine ausgeprägte Skepsis innerhalb des Verbandes (Lorenzen 1964, 104-106; Schlund 2017, 122-138 und 332-341). Manche leichtathletischen Disziplinen wie der 100m-Lauf oder der Weitsprung waren für beinamputierte Personen zeitweise gar verboten, da sie entweder das verbliebene natürliche Bein oder das staatlich finanzierte Kunstbein vermeintlich zu stark belasteten (Belitz 1999). Rudern blieb ebenso lange Zeit untersagt, da auf dem Wasser die gesetzlich vorgeschriebene „ärztliche Überwachung“ nicht gewährleistet werden konnte (Bayerischer Versehrtensportverband 1973). Intensive Diskussionen entbrannten zudem um den Kegelsport, da im Rahmen von Kegelabenden nach Vorstellung einiger Funktionäre zu viel Alkohol und Zigaretten konsumiert würden, was kaum mit einer Therapiemaßnahme vereinbar war (Blohmke 1969). Diese in der Rückschau teils anekdotischen Episoden veranschaulichen, dass der Sport behinderter Menschen mindestens bis in die 1970er Jahre von einer zeitgenössisch typischen Defizitorientierung geprägt war. Behinderung wurde als körperlicher Defekt begriffen, den es mittels ärztlicher Behandlung und therapeutischer Maßnahmen zu lindern galt. Von einer selbstbestimmten sportlichen Betätigung behinderter Menschen kann für diese Phase ebensowenig ausgegangen werden wie von einer heute üblichen Förderung des Leistungssports als einer Art Aushängeschild im Sinne der Anwerbung neuer Mitglieder an der Basis. An eben jenen beiden Themenfeldern der Mitgliederstruktur und des zeitgenössischen Behinderungsverständnisses entzündeten sich ab Beginn der 1970er Jahre Debatten um die Reformierung des bundesdeutschen Behindertensports. Nachdem die Mitgliederzahlen im DVS in den ersten 20 Jahren seines Bestehens kontinuierlich gestiegen waren, zeichnete sich ab Mitte der 1960er Jahre eine Stagnationsphase ab, was vor allem aus dem absehbaren Rückgang sportlich aktiver Kriegsversehrter resultierte. Daher musste sich der Verband notwendigerweise jenen Gruppen behinderter Menschen zuwenden, die bislang unterrepräsentiert geblieben waren. Dies betraf insbesondere sogenannte Zivilbehinderte, also Personen, deren Beeinträchtigung nicht auf eine Kriegsverletzung zurückging. Unter

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ihnen war der Anteil von Frauen, Kindern und Personen mit einer geistigen Beeinträchtigung wesentlich höher als in der Gruppe der Kriegsversehrten. Innerhalb weniger Jahre verschob sich folglich das Mehrheitsverhältnis zwischen kriegsversehrten und zivilbehinderten Mitgliedern im DVS. Am deutlichsten wurde dieser strukturelle Wandel am sprunghaften Anstieg des prozentualen Frauenanteils: Zwischen 1969 und 1975 verdoppelte sich dieser, wenngleich auf niedrigem Niveau, von acht auf 16 Prozent (Schlund 2017, 209). In demselben Zeitraum öffneten sich zahlreiche Vereine für behinderte Kinder und richteten oftmals neue Jugendgruppen ein. Diese Entwicklung ist untrennbar mit dem Contergan-Skandal verbunden, der zum einen die Aufmerksamkeit für die Belange behinderter Kinder nicht zuletzt durch die öffentlichkeitswirksame Arbeit der Aktion Sorgenkind (heute Aktion Mensch) signifikant erhöhte (Lingelbach 2010, Crumbach 2018). Zum anderen hatten die betroffenen Kinder seit dem Ende der 1960er Jahre ein Alter erreicht, in dem zahlreiche Kinder – behindert oder nichtbehindert – in Sportvereinen aktiv werden. Ohne entscheidende Impulse aus Politik und Wissenschaft wäre die Hinwendung des DVS zu diesen neuen Zielgruppen allerdings kaum möglich gewesen. Die seit 1969 regierende sozialliberale Koalition initiierte eine Reihe gesellschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen, die generell auf die gleichberechtige Teilhabe bislang marginalisierter Personengruppen abzielten. Hierzu zählten ausdrücklich alle behinderten Menschen, nicht nur die vergleichsweise stark organisierten und vernetzten Kriegsversehrten. Die Angebote der Behindertensportvereine sollten künftig für alle behinderten Menschen, unabhängig von der Ursache und Art ihrer Beeinträchtigung oder ihrem Geschlecht, zugänglich sein. Darüber hinaus gaben Regierungsbeamte umfangreiche sozialwissenschaftliche Studien in Auftrag, die sich der Analyse der Lebensumstände behinderter Menschen widmeten – explizit auch den Entfaltungschancen behinderter Menschen in ihrer Freizeit. Zu diesem Bereich zählte der organisierte Behindertensport, den es nach Ansicht der Autoren einer wegweisenden Publikation aus dem Kontext „Erwerbsarbeit“ in den Kontext „Freizeitgestaltung“ zu überführen galt: „Behindertensport im Freizeitbereich sollte nicht heißen ‚verdammt sein zum Gesundheitssport oder zum Erhalt der Arbeitskraft‘, auch wenn dies zunächst oft die primären Motivationen sind. Die erstrebenswerteren Stadien sind vielmehr die innere Freiheit der Entscheidung für Sport und körperliche Aktivität aus Interesse und evtl. Begeisterung.“ (Tews 1976, 121)

Diese Sichtweise stand in starkem Kontrast zu den bis dahin dominanten Vorstellungen von der Zweckdienlichkeit des Behindertensports. Seit der Mitte der

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1970er Jahre begann auf Basis derartiger Neuinterpretationen durch sozialwissenschaftliche und politische Akteure ein vielgestaltiger Prozess der Diversifizierung, der mit dem Wandel der Mitgliederstruktur konvergierte. Die sportlichen Angebote sollten fortan Aspekte der spaßbetonten und selbstbestimmten Freizeitgestaltung stärker in den Fokus rücken. Wissenschaftlich begleitete Modellprojekte hoben die Bedeutung des Behindertensports als Motor der Integration verschiedener Gruppen behinderter Menschen sowie behinderter und nichtbehinderter Menschen hervor (Innenmoser 1975). Zudem begann sich die 1975 symbolträchtig zum Deutschen Behindertensportverband (DBS) umbenannte Organisation in der Förderung leistungssportlicher Angebote an den Strukturen des Nichtbehindertensports zu orientieren. Die in den 1980er Jahren einsetzende und von erhöhter medialer Aufmerksamkeit begleitete Professionalisierung des paralympischen Sports trug zu einer allmählichen Abkehr von der bis dahin gepflegten Skepsis gegenüber dem Behindertenleistungssport bei. Gleichzeitig fanden jene älteren Versehrtensportler „der ersten Stunde“ in Seniorensportgruppen weiterhin ein Angebot vor, das ihnen die Ausübung der ihnen bekannten Übungsformen in vertrauter Runde ermöglichte. Zwar spiegelten die Strukturen des „modernisierten“ DBS seit den 1980er Jahren ein sich wandelndes gesellschaftliches Verständnis von Behinderung wider – weg von der medizinischen Defizitorientierung, hin zur Ermöglichung von Partizipation und Integration. Doch blieb dieser Transformationsprozess von internen Hierarchien, Ungleichbehandlungen und Debatten um das Selbstverständnis behinderter Sportlerinnen und Sportler geprägt. Inwiefern dabei Binnenunterscheidungen innerhalb der Ungleichheitskategorie Dis/ability sowie Verflechtungen der Kategorien Dis/ability und Gender eine Rolle spielten, soll im Folgenden untersucht werden.

INTERSEKTIONALITÄT – GRUNDLAGEN UND REZEPTION Hierzu ist es zunächst notwendig, die grundlegenden theoretischen Annahmen der Intersektionalitätsperspektive zu erläutern. Ursprünglich stammt der Ansatz aus der US-amerikanischen Protest- und Emanzipationsbewegung des Black Feminism. Die öffentlichkeitswirksame Kritik an der spezifischen Diskriminierung schwarzer Frauen und die wissenschaftliche Analyse von Ungleichheitsstrukturen wurden von den Protagonistinnen eng miteinander verzahnt (Collins/Bilge 2016, 63-87). Als Ausgangspunkt einer dezidiert wissenschaftlichen Anwendung der In-

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tersektionalitätsperspektive kann die Arbeit der Juristin Kimberlé Crenshaw erachtet werden (Crenshaw 1989). Sie führte mit dem Begriff der intersection – also einer Straßenkreuzung – eine verständliche Metapher ein, die den Grundgedanken des Ansatzes verdeutlicht: Auf mehreren Ungleichheitskategorien, hier Race und Gender, basierende Diskriminierungen sind in ihrer wechselseitigen Verflechtung zu begreifen, nicht als simple Addition. Ziel intersektionaler Analyse ist folglich die Untersuchung des gleichzeitigen Zusammenwirkens von Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus oder – bezogen auf die Ungleichheitskategorie Behinderung – Ableism. Der Intersektionalitätsansatz zielt somit auf die simultane Überschneidung von Kategorisierungen ab, nicht auf deren additive Aneinanderreihung. Gleichzeitigkeit und wechselseitige Bedingung anstatt der Diagnose von Mehrfachbenachteiligungen stehen im Zentrum des Forschungsprogramms (einführend dazu Walgenbach 2012). Nachdem die Intersektionalitätsperspektive zunächst in den Rechtswissenschaften, der Soziologie und den interdisziplinären Gender Studies Anwendung fand, wurde sie in den letzten zehn Jahren vermehrt auch in der Geschichtswissenschaft rezipiert. Neben der Ausweitung intersektionaler Ansätze über disziplinäre Grenzen hinweg findet nach wie vor eine Debatte über das Verhältnis von Theorie und Empirie intersektionaler Forschung statt. Insbesondere in Fächern wie der Geschichtswissenschaft, die sich erst vergleichsweise spät intersektionalen Zusammenhängen gewidmet hat, sind dezidiert empirische Studien noch recht selten (Hehenberger/Griesebner 2010, Schnicke 2014). Umfangreicher – oft soziologisch geprägter – Literatur zu Fragen der Kategorienauswahl (Winker/Degele 2009, 15-18; Budde 2013), der verschränkten intersektionalen Analyse von Makro- und Mikroebene (Winker/Degele 2007) oder der kritischen Auseinandersetzung mit der Selbstpositionierung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern (beispielsweise Davis 2013) stehen im Vergleich wenige intersektionale Fallstudien gegenüber. Nichtsdestoweniger ist ein deutlicher Trend zu beobachten, den Intersektionalitätsansatz in die Analyse verschiedener historischer Epochen zu integrieren und somit fallspezifisch einen analytischen Mehrwert zu erzielen (Bähr/Kühnel 2018, Florin/Gutsche/Krentz 2018). Auch in der Dis/ability History haben sich bereits einige Publikationen intersektionalen Zusammenhängen gewidmet (Jacob/Köbsell/Wollrad 2010, Raab 2007, Schlund 2016). Dabei wurde deutlich, dass intersektionale Analysen von Behinderung im aktuellen wie im historischen Kontext erstens auf Unterschiede und Differenzierungen eingehen müssen, die unter dem Terminus Behinderung als vereinfachender Sammelbegriff versammelt werden. Zweitens gilt es, Behinderung mit weiteren Ungleichheitskategorien in Beziehung zu setzen, um so ein

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präziseres Bild von Diskriminierungs- und Privilegierungsmechanismen zu erhalten. Um mit dem Vokabular intersektionaler Theoriebildung zu sprechen: Intraund interkategoriale Komplexitäten prägen die je nach gesellschaftlichem und zeitlichem Kontext teils höchst unterschiedlichen Erfahrungen von Behinderung.

INTRA- UND INTERKATEGORIALE KOMPLEXITÄT DER UNGLEICHHEITSKATEGORIE BEHINDERUNG Nach Leslie McCall bezeichnet intrakategoriale Komplexität die Unterscheidungen und Binnendifferenzierungen innerhalb einer Gruppe von Personen, die eine Ungleichheitskategorie teilen. Diese Differenzierungen können teils durch multiple Zugehörigkeiten und identitätsbezogene (Selbst-)Verortungen beschrieben und erklärt werden, die Personen in sich vereinen (McCall 2005, 1773-1774). So differenziert sich das imaginierte Kollektiv „Frauen“ weiter aus, wenn beispielsweise Ethnizität oder sexuelle Orientierung einbezogen werden. Auf genau diesen Umstand machte das Combahee River Collective, dessen Mitglieder als Protagonistinnen des Black Feminism gelten, zu Beginn der 1980er Jahre aufmerksam. Indem sie sich als schwarze, teils lesbische Feministinnen definierten, grenzten sich die Autorinnen von einem weißen Feminismus ab, der ihrer Ansicht nach nicht alle Diskriminierungsformen gegen Frauen in ausreichender Weise berücksichtigte (Combahee River Collective 1982). Diese ursprünglich aus dem aktivistischen Umfeld einer Emanzipationsbewegung stammende Differenzierungsperspektive hielt in der Folge Einzug in dezidiert wissenschaftliche Anwendungsbereiche. Entsprechend symbolisiert das Analyseinstrument der intrakategorialen Komplexität die enge Verzahnung von öffentlichem Protest und sozialwissenschaftlicher Forschung, die das Phänomen Intersektionalität kennzeichnet. Auf den Bereich der zeitgeschichtlichen Dis/ability History übertragen, bietet ein intrakategorialer Fokus die Möglichkeit, das vermeintliche Kollektiv „Behinderte Menschen“ präziser und nuancierter zu fassen. Für die Zeitgeschichte der Bundesrepublik können dabei drei Faktoren ausgemacht werden, die maßgeblich über das Selbstverständnis, die gesellschaftlichen Partizipationschancen und sozialstaatlichen Zuwendungen entschieden: Die Ursache der Beeinträchtigung, die Art der Beeinträchtigung und das Geschlecht der betroffenen Personen. Was die Ursache der Beeinträchtigung anbetrifft, so kann eine Unterscheidung zwischen kriegsversehrt und – zeitgenössisch gesprochen – „zivilbehindert“ getroffen werden. Unter Zivilbehinderung fallen dabei zwar mehrere Phänomene wie eine körperliche, geistige oder seelische Beeinträchtigung seit der Geburt, durch einen Unfall oder eine Krankheit. Jedoch war für die bis mindestens in die 1970er Jahre

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hineinreichende, rechtliche Ungleichbehandlung und identitätsbezogene Selbstwahrnehmung in erster Linie die Dichotomie Kriegsversehrtheit – Zivilbehinderung ausschlaggebend. Auf die Art der Beeinträchtigung bezogen verlief (und verläuft bis heute) eine scharfe Trennlinie zwischen körperlich und geistig beeinträchtigten Personen, die sich insbesondere in den individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und der gesellschaftlichen Integration bemerkbar macht. Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung hatten und haben es wesentlich schwerer, im schulischen Bereich, auf dem Arbeitsmarkt oder in der Gestaltung ihrer Freizeit angemessen und gleichberechtigt inkludiert zu werden. Als dritte intrakategoriale Unterscheidung können die spezifischen Identitätskonstruktionen und individuellen Erfahrungen angeführt werden, die sich aus der Überkreuzung der Kategorien Gender und Behinderung ergeben. Sowohl Männlichkeitskonstruktionen als auch Vorstellungen von Weiblichkeit wurden in Kombination mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung neu verhandelt. Stark auf den Körper behinderter Menschen bezogene und auf Ästhetik abzielende Diskurse vermischten sich dabei mit gesamtgesellschaftlich hegemonialen Vorstellungen von Geschlechterrollen. Zeitgenössisch wies eine Gruppe von Autorinnen auf diese Verflechtung unter dem treffenden Titel „Geschlecht: behindert, besonderes Merkmal: Frau“ hin (Boll et al. 1985). Der hierbei anklingende Zusammenhang zwischen Identitätsformation auf der Mikroebene und übergreifenden Strukturen auf der Makroebene verweist zugleich auf die enge Verknüpfung von intra- und interkategorialer Komplexität. Denn wie Carolin Küppers ausführt, beziehen sich intrakategoriale Perspektiven innerhalb der Intersektionalitätsforschung meist auf die Identitätsebene, während interkategoriale Analysen eher gesellschaftstheoretisch umfassender auf die Strukturebene fokussieren (Küppers 2014).3 Dadurch können wechselseitige Verflechtungen zwischen Privilegierungs- und Diskriminierungsstrukturen offengelegt werden, die beispielsweise Menschen mit Behinderungen und Frauen betreffen und die sich auf die rechtliche Dimension, die Gestaltung der Arbeitsmarktpolitik oder das Sozialstaatssystem beziehen. In den folgenden Schritten gilt es, diese eher abstrakten Überlegungen anhand des bundesdeutschen Behindertensports zu konkretisieren.

3

Siehe zur Ebenenübersetzung in der Intersektionalitätsforschung Winker/Degele 2009.

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MÄNNLICHKEITSKONSTRUKTIONEN UND BEHINDERUNG Wie bereits ausgeführt, genossen kriegsversehrte Männer nach den Regelungen der Kriegsopferversorgung im Gegensatz zu allen anderen Gruppen behinderter Menschen bis in die 1970er Jahre hinein eine Vorzugsbehandlung: Ihre Teilnahme an Sportangeboten wurde durch die Versorgungsverwaltung finanziert. Legitim erschien diese Privilegierung aufgrund des sogenannten „Aufopferungstatbestandes“ (Rudloff 2003, 197). Die im Krieg erlittene körperliche Schädigung wurde höher bewertet als eine seit Geburt bestehende oder durch einen Unfall erlittene. Folglich war die Ungleichbehandlung verschiedener Gruppen behinderter Menschen bereits auf einer Makroebene angelegt. Bis in die 1970er Jahre empfanden einige kriegsversehrte Sportler zivilbehinderte Vereinsmitglieder als „Schmarotzer“, die sie „auf eigene Kosten mit durchschleppen mussten“ (WedemeyerKolwe 2011, 158). Erst mit dem sogenannten Rehabilitations-Angleichungsgesetz von 1974 löste die sozialliberale Koalition die intrakategoriale Differenzierung nach der Ursache der Beeinträchtigung auf und ermöglichte somit die finanzielle Gleichbehandlung kriegsversehrter und zivilbehinderter Sportler. Allerdings beseitigte diese behindertenpolitische Zäsur keinesfalls die bis dahin seit mehr als 20 Jahren gepflegte gruppenkollektive Selbststilisierung kriegsversehrter Männer. Denn korrespondierend zur rechtlichen Vorzugsbehandlung auf Basis des „Aufopferungstatbestandes“ etablierten kriegsversehrte Sportler in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten eine auf Kameradschaftlichkeit und Korpsgeist gründende, exklusive Gruppenidentität. Im Versehrtensport der 1950er und 1960er Jahre konvergierten zwei Sphären, die laut Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz „sprachlich und symbolisch [stark] von Maskulinitätsvorstellungen durchdrungen sind“ (Martschukat/Stieglitz 2008, 123): Militär und Sport. So wurde bei Sportfesten regelmäßig der „gefallenen“ Kameraden gedacht; Vokabeln wie „Lebenskampf“ und „Existenzkampf“ waren in den ersten beiden Nachkriegsdekaden eng mit dem Versehrtensport verbunden.4 In dieser Phase kreierten die Versehrtensportler eine an Männerbünde erinnernde Form der exklusiven Vergemeinschaftung, die über symbolische Begriffe wie „Heldenmut“ und „Ritterlichkeit“ verfestigt wurde: Es gebe keine „vollkommenere Kameradschaftlichkeit“ als jene im Versehrtensport, so ein führender Funktionär (Mierke 1952, 1). Der Kameradschaftlichkeit in den Versehrtensportvereinen kam mithin eine sinnstiftende und vergemeinschaftende Funktion zu: Durch 4

Vom „Lebenskampf“ sprachen unter anderem Mann/Brodersen/Fichtner 1952, 1; vom „Existenzkampf“ Lorenzen 1964, 106.

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den Zusammenhalt der Kriegsopfergemeinschaft der Versehrtensportler erfolgte zugleich eine Bewältigung der gemeinsamen Kriegserfahrung und der individuellen körperlichen Beeinträchtigung. Darüber hinaus fand diese „Schicksalsbewältigung“ zunächst in einem abgeschotteten, weitgehend homosozialen Raum statt, waren doch zu Beginn kaum zivilbehinderte Männer oder Frauen in den Vereinen anzutreffen. Diese (Selbst-)Abschottung ist im Kontext der zeitgenössischen Tendenz, das Thema Behinderung und Kriegsversehrtheit im öffentlichen Raum eher zu verdrängen, zu deuten, denn Kriegsversehrte wurden bisweilen als „fleischgewordenes Symbol des verlorenen Krieges“ (Wedemeyer-Kolwe 2011, 66) erachtet. Kriegsversehrte Männer internalisierten mithin eine spezifische Form der zeitgenössischen Interpretation und Marginalisierung von Behinderung, deuteten ihre Art der körperlichen Versehrtheit jedoch zugleich zu einer Art Tugend um: Denn im Vergleich zu zivilbehinderten Menschen einte kriegsversehrte Männer das „Ehrenmal“ ihrer Kriegsverwundung, die als eine Art Eintrittskarte in die Gemeinschaft der Versehrtensportgruppen fungierte (Schlund 2016).5 Innerhalb dieser Gemeinschaft herrschte oftmals eine spezifische Form von elitärem Denken, das der Distinktion körperlich weiterhin aktiver Kriegsversehrter von anderen Gruppen behinderter Menschen diente. So forderte der Vorsitzende der Essener Versehrtensportler 1962 mit eindeutigem Bezug auf die zeitgenössische Interpretation von Behinderung als Defizit: „Wir Sportler müssen unter den Versehrten die Elite sein, starker Kontrast zu den elendigen, zwielichtigen Krüppeln, die ihre versehrten Glieder zur Schau stellen und als Bettler auf der Straße oder als Asoziale zu nächtlicher Stunde am Hauptbahnhof anzutreffen sind. Elite sein heißt für uns, nicht nur Sportler sein, sondern auch charakterlich einwandfrei sein. Die Versehrten-Sportgemeinschaft darf nie ein Tummelplatz für Intriganten, Querulanten, Spesenritter sein.“ (Dieckhöfer 1962, 173)

Mithin hoben sich die Versehrtensportler, sofern sie dieser Sichtweise zustimmten, nicht nur von „elendigen, zwielichtigen Krüppeln“ ab, sondern versicherten sich durch ihre Charakterstärke und körperliche Virilität auch der eigenen Maskulinität. Denn wie Raewyn Connell anmerkt, steht „das Geschlecht auf dem Spiel […], wenn Sport nicht mehr betrieben werden kann, zum Beispiel als Folge einer körperlichen Behinderung“ (Connell 2015, 106). Mit dem Ziel, diesen „Verlust“

5

Vgl. zum „Ehrenmal“ Kriegsversehrtheit auch Möhring (2007), Kühne (1996) und Kienitz (2008).

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körperlicher Leistungsfähigkeit zu kompensieren, kann eine Bewältigungsstrategie in der Verdopplung der eigenen Anstrengungen bestehen, um herrschenden Leistungsstandards zu entsprechen. Für kriegsversehrte Sportler erfolgte die Vergewisserung der eigenen Männlichkeit durch sportliche Performanz parallel zur Selbststilisierung als „verhinderte Gesunde“6, die sich im Gegensatz zu zivilbehinderten Männern durch die empfundene Höherwertigkeit der Ursache ihrer Beeinträchtigung profilierten. Dabei verflochten sich strukturelle sozialpolitische Bevorzugungen kriegsversehrter Personen auf der Makroebene mit intrakategorialen Hierarchisierungen auf der Identitätsebene, die sich aus den Faktoren Ursache der Beeinträchtigung und Genderkonstruktionen ergaben.

WEIBLICHKEITSKONSTRUKTIONEN UND BEHINDERTENSPORT Wie oben bereits angedeutet, war der Versehrtensport der 1950er und 1960er Jahre nahezu ausschließlich „Männersache“, da sich zu dieser Zeit alle sozialstaatlichen Wiedereingliederungsangebote an Männer richteten (Bösl 2009, 217). Die vergleichsweise geringe Beteiligung von Frauen ergab sich dabei aus mehreren strukturellen Faktoren: Erstens wurde Sport – auch der Nichtbehindertensport – zu dieser Zeit in überwältigender Mehrheit von Männern betrieben. Erst seit den 1960er Jahren setzte laut Axel Schildt eine „Feminisierung des Sports“ ein (Schildt 1993, 376); im Behindertensport hielt dieser Trend erst mit etwa einer Dekade Verzögerung Einzug (Schlund 2017, 369). Zweitens stellten Frauen weniger als zehn Prozent der staatlich anerkannten kriegsversehrten Personen dar. Somit waren Frauen bereits quantitativ eine marginale Zielgruppe des auf zweckdienliche Wiederherstellung der Arbeitskraft abzielenden Versehrtensports. Wie Bernd Wedemeyer-Kolwe ausführt, waren zahlreiche der ersten Frauen in den Versehrtensportgemeinschaften die Ehefrauen kriegsversehrter Sportler, die ihre mobilitäts- oder sichtbeeinträchtigten Männer zu den Übungsabenden begleiteten (Wedemeyer-Kolwe 2011, 171). Der eher zufällige Zugang zum Sport

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So eine Selbstbeschreibung niedersächsischer Versehrtensportler, die für eine Monographie Bernd Wedemeyer-Kolwes titelgebend war (Wedemeyer-Kolwe 2010).

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erfolgte somit aus der Rolle als Begleiterin sowie aus schlichtem Zeitvertreib während des Trainings der Ehemänner.7 Neben derlei anekdotischen Episoden, die nichtsdestoweniger auf die zeitgenössischen Geschlechterrollen hindeuten, fanden auch einige wenige behinderte Frauen aus eigener Motivation den Weg in Versehrtensportgruppen. Aus intersektionaler Perspektive aufschlussreich ist die Art und Weise der Berichterstattung über diese Vorreiterinnen, die teils von den Protagonistinnen selbst verfasst wurden. Denn wesentlich stärker als bei Männern stand hier die Ästhetik der beeinträchtigten Körper im Zentrum. Als paradigmatisch kann ein Artikel in der offiziellen Monatszeitschrift des Versehrtensportverbandes gelten, der 1951 erschien und behinderte Frauen „auf die Wichtigkeit der ästhetischen Körpererhaltung aufmerksam machen“ wollte.8 Nichts sei „persönlicher als unser eigener Körper und deshalb wäre Leib und Seele verkommen zu lassen gleichbedeutend mit Selbstaufgabe. Dies dürfte schon unsere uns angeborene weibliche Eitelkeit nicht dulden“. Es gelte für behinderte Frauen, so fuhr die Autorin fort, sich insbesondere angesichts der körperlichen Beeinträchtigung ein „angenehmes Äußeres [zu] erhalten und auch weiterhin den uns Frauen eigenen Charme aus[zu]strahlen“. Da es für behinderte Frauen zudem schwieriger sei, einen Partner zu finden, stelle der Versehrtensport eine günstige Gelegenheit dar, Kontakt zu ebenfalls beeinträchtigten Männern herzustellen. Ganz ähnlich argumentierte ein ebenfalls in der Verbandszeitschrift erschienener Artikel aus dem Jahr 1954, der mit Suggestivfragen klassische zeitgenössische Geschlechterrollen mit dem vermeintlichen „Problem“ Behinderung in Verbindung setzte: „Wie soll diese Frau und mit ihr all die anderen versehrten Frauen ihre Hausarbeit verrichten? Kann man sich bei diesen Einkommensverhältnissen eine Haushaltshilfe leisten? Sollen jene Männer, die eine versehrte Frau haben, diese zusätzlichen sozialen Lasten allein tragen?“ (Inhauser 1954, 2) Die körperliche Beeinträchtigung von Frauen erscheint in dieser diskriminierenden Lesart nicht nur im Sinne einer Abwertung der vermeintlichen hausfraulichen Pflichten, sondern darüber hinaus auch als zusätzliche Belastung des Ehemannes. Bemerkenswert ist zudem, dass eine derartige Interpretation in der Zeitschrift des Versehrtensportverbandes erschien und dezidiert als Werbung für den Sport behinderter Frauen gedacht war. Diese sollten sich im Gegensatz zu kriegsversehrten

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So heißt es in einer Vereinschronik der Behindertensportgemeinschaft Göppingen: „Die Ehefrauen der Kriegsversehrten und Zivilbeschädigten, insbesondere der Blinden, mußten von Anfang an ihre Männer zu den Übungsstunden begleiten. Was lag da näher, als auch mit zu machen.“ (BSG Göppingen 2002, ohne Seitenangabe)

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Der Artikel erschien ohne Angabe einer Autorin, ist allerdings konsequent in der „Wir“Form verfasst. N.N. (1951), 3. Alle folgenden Zitate ebd.

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Männern eben nicht für die Erwerbsarbeit in Form bringen, sondern für ihre offenbar als natürliche Rolle angesehene Funktion als Hausfrau. Wenngleich schwer nachgewiesen werden kann, inwiefern derartige Werbemaßnahmen zur geringen Beteiligung behinderter Frauen an Versehrtensportangeboten beitrugen, blieb der Anteil behinderter Frauen in den Sportgruppen in den ersten beiden Nachkriegsdekaden bei sechs bis acht Prozent. Mit Beginn der 1970er Jahre setzte jedoch eine merkliche Veränderung der Mitgliederstruktur ein, die politisch gewollt war und wissenschaftlich begleitet wurde. Zivilbehinderte Menschen im Allgemeinen und behinderte Frauen im Speziellen fanden nun vermehrt Aufnahme in die von männlichen Kriegsversehrten dominierten Vereine. Den Nachholbedarf bei der Integration dieser Zielgruppen erkannten nun auch Architekten des frühen Versehrtensports wie Hans Lorenzen. Er machte 1971 „konservative Schönheitsbegriffe und Ästhetikvorstellungen“, die für behinderte Frauen offenbar länger galten als für Männer, für den vergleichsweise niedrigen Frauenanteil im Behindertensport verantwortlich (Wedemeyer-Kolwe 2011, 171). Während der Sport behinderter Männer öffentlich mittlerweile akzeptiert sei, treffe dies für Frauen noch nicht zu. Diese Skepsis gegenüber der öffentlichen Darstellung beeinträchtigter weiblicher Körper beim Sport zeigte sich in der Phase der Ausweitung von Sportangeboten für behinderte Frauen insbesondere dann, wenn deren inhaltliche Ausgestaltung diskutiert wurde. Dabei zeigte sich, auf welche Weise die spezifisch behindertensportliche Debatte um das Wettkampf- und Leistungsprinzip mit Weiblichkeitskonstruktionen zusammenhing. Als der Sportausschuss des DVS 1965 die Ausrichtung eines Sitzballturniers9 für behinderte Frauen in Erwägung zog, richteten sich Vorbehalte gegen den kompetitiven Charakter einer derartigen Veranstaltung. Das Wettkampfprinzip würde „eine Härte in das Spielgeschehen hereinbringen, die besonders bei Frauenmannschaften verhindert werden müsse“, so Hans Lorenzen (Kersten 1964, 22). Die im Behindertensport zu dieser Zeit virulenten Vorbehalte gegenüber einer Überbelastung beeinträchtigter Körper durch Leistungsorientierung überkreuzten sich folglich mit einer Form von chauvinistischem Schutzmotiv: Frauen sollte Wettkampfhärte nicht zugemutet werden. Welche Art öffentlich praktizierten Sports behinderter Frauen manche Versehrtensportfunktionäre im Gegensatz dazu befürworteten, bewies das erste Bundesfrauensportfest des DVS 1971. Um der Veranstaltung einen „typisch fraulichen

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Sitzball entspricht im Kern dem Volleyballspiel für Fußgänger und war insbesondere bei beinamputierten Personen eine der beliebtesten Sportarten.

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Charakter zu verleihen“, wie der damalige Bundesversehrtensportwart Horst Kosel festhielt, wurden gruppengymnastische Darbietungen ins Programm aufgenommen: „Allen Gruppen muß bescheinigt werden, daß sie den Beweis erbrachten, daß auch die versehrte Frau zu anmutsvollen, ästhetischen Bewegungen fähig ist.“ (Kosel 1971a, 79) Dies zeigte sich auch beim Schwimmwettbewerb, an dem 73 behinderte Frauen teilnahmen, obwohl laut Kosel einige männliche Beobachter angesichts vermeintlicher „haarkosmetischer“ Probleme davon ausgegangen waren, dass sich deutlich weniger Teilnehmerinnen ins Schwimmbecken begeben würden. Ferner wurde den insgesamt 120 teilnehmenden Frauen die Gelegenheit gegeben, „über ihre Wünsche und Probleme zu sprechen“, um ihnen zu verdeutlichen, dass sie nicht nur „‚Anhängsel‘ des Versehrtensports“ seien (Kosel 1971a, 78). Horst Kosel, der aus der Funktionärsriege des DVS zu dieser Zeit als einer der stärksten Befürworter einer bewussten Ausrichtung auf den Frauenbehindertensport bezeichnet werden kann, verweist in seinem Bericht letztlich auf die zentralen Hindernisse, die behinderte Sportlerinnen zu überwinden hatten: Neben der zeitgenössisch wirkmächtigen Zuweisung einer Geschlechterrolle, die sich in erster Linie über die Erledigung der Hausarbeit und ein ansprechendes Äußeres definierte, sahen sich behinderte Frauen mit diskriminierenden Vorurteilen bezüglich ihrer Beeinträchtigung konfrontiert. Zu einer Zeit, in der nichtbehinderte Fußballerinnen im „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF noch mit sexistischen Kommentaren herabgesetzt wurden,10 mussten sich behinderte Sportlerinnen zusätzlich Stigmatisierungen aufgrund ihres vermeintlich defizitären Äußeren erwehren. Dass „auch die versehrte Frau“, wie Horst Kosel meinte, zu „anmutsvollen, ästhetischen Bewegungen fähig“ war, schien einige Beobachter zu überraschen, symbolisiert jedoch gleichzeitig die spezifisch intersektionale Diskriminierungserfahrung behinderter Sportlerinnen.

10 Der Beitrag des ZDF-Mitarbeiters Wim Thoelke aus dem Jahr 1970 präsentierte ein Frauenfußballspiel mit zweifelhaften Kommentaren aus dem Off, wie „Junge, Junge, ja die brauchen sich gar nicht aufzuregen, die Zuschauer – die Frauen waschen doch ihre Trikots selber. Wenn die Männer in den Schlamm fallen würden, das wäre schlimm, weil dann müssten die Frauen zuhause waschen.“ (Koschyk 2015)

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MENSCHEN MIT GEISTIGER BEEINTRÄCHTIGUNG IM SPORT Während sich die Analyse von Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen im Behindertensport mit (Binnen-)Differenzierungen nach der Ursache und dem Geschlecht behinderter Menschen auseinandersetzte, soll nun die Unterscheidung nach der Art der Beeinträchtigung in den Blick genommen werden. Nachdem mit der Diversifizierung der Mitgliederstruktur seit Mitte der 1970er Jahre ein rascher Anstieg des Anteils zivilbehinderter Sportlerinnen und Sportler zu verzeichnen war, kam auch eine Debatte um die Integration geistig beeinträchtigter Menschen auf. Obwohl sich der DVS 1975 – auf politischen Druck hin – in Deutscher Behindertensportverband (DBS) umbenannt hatte und sich somit als Anlaufstelle für alle behinderten Menschen darstellte, blieben Ressentiments gegenüber geistig beeinträchtigten Personen weiterhin bestehen. Dies zeigte sich bereits im Rahmen der Umbenennungsdebatten, als kriegsversehrte Sportler dafür plädierten, den „Qualitätsname[n] Versehrtensport“11 beizubehalten, um nicht mit geistig behinderten Menschen gleichgesetzt zu werden (Wedemeyer-Kolwe 2011, 158-159). Folglich marginalisierten körperbehinderte Personen geistig behinderte Menschen aufgrund einer Binnendifferenzierung, welche die Vielgestaltigkeit identitätsbezogener Selbstbilder aufzeigt, die durch eine intrakategoriale Unterscheidung sichtbar werden. Auffallend ist dabei aus intersektionaler Perspektive, dass die in den beiden vorangehenden Abschnitten dieses Beitrags als wirkmächtig dargestellte Verschränkung von Dis/ability und Gender bezüglich geistig behinderter Menschen in den Hintergrund rückte. Daraus folgt, dass derartige kategoriale Verflechtungen nicht universell anwendbar sind, sondern intersektionale Hierarchisierungsverhältnisse immer aus ihrem spezifischen Kontext heraus erklärt werden müssen, um tatsächlich einen analytischen Mehrwert zu erzielen. Für die Untersuchung der Integration bzw. Exklusion geistig behinderter Menschen in die bundesrepublikanische Behindertensportorganisation bedeutet dies, die Kategorie Alter miteinzubeziehen. Umso mehr trifft dies zu, da ein persistentes Vorurteil gegenüber geistig beeinträchtigten Personen deren Etikettierung als „ewiges Kind“ darstellt (Schmuhl 2013, 16). Daher kann festgehalten werden, dass die zeitgenössische Konstruktion und Wahrnehmung geistiger Beeinträchtigung maßgeblich durch Konnotationen der Ungleichheitskategorie Alter aufgeladen war. Erst im An-

11 Diese Formulierung brachte der Vorstand des schleswig-holsteinischen Versehrtensportverbandes vor (Richter 1991, 33).

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schluss daran erklärt sich der Befund des weitgehenden Fehlens einer Verflechtung von geistiger Beeinträchtigung mit Gender im Kontext des Behindertensports. Es verwundert daher nicht, dass der Elternverband „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ eine treibende Kraft des Sports geistig beeinträchtigter Menschen in der Bundesrepublik war. Angesichts verbreiteter Ressentiments der körperlich Behinderten im DBS und da sich dieser „als Erwachsenen-Verband nicht kooperationsbereit“ (Schmidt 1978) zeigte, wie ein Vertreter des Verbandes Deutsche Sportjugend anmerkte, erschien die Initiative der „Lebenshilfe“ notwendig. Gemeinsam mit Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die sich mit der integrativen Dimension des Sports (geistig) beeinträchtigter Menschen und nichtbehinderter Menschen befassten, initiierte die „Lebenshilfe“ Modellprojekte, aus denen letztlich die deutsche Variante der Special Olympics hervorging (Schlund 2017, 293-300). Diese Organisation siedelte ihre Arbeit dezidiert außerhalb des Behindertensportverbands an, was die intrakategoriale Trennlinie zwischen körperbehinderten und geistig beeinträchtigten Menschen verdeutlicht. Bereits in der Entstehungsphase des organisierten Sports geistig beeinträchtigter Menschen spielten Fragen der Leistungsorientierung und der Selbstbestimmung eine zentrale Rolle. Dabei wurde zum einen diskutiert, inwiefern geistig beeinträchtigte Personen das Wettkampfprinzip überhaupt kognitiv durchdrungen hatten. Im Rahmen des Symposiums Behindertensport 1981 warf ein Teilnehmer den Organisatoren eines Sportfests für geistig beeinträchtigte Menschen in Heidelberg vor, „Normen des Hochleistungssports unreflektiert auf die Geistigbehinderten übertragen […] und damit die Identität und Bedürfnisse der Behinderten verleugnet zu haben“ (Heiden 1981, 77). Einer der profiliertesten Experten des sozialwissenschaftlich begleiteten Behindertensports, Jürgen Innenmoser, vertrat hingegen die Ansicht, dass eine betreuende Person „den Geistigbehinderten […] nicht nur zu bestimmten sportlichen Übungen ‚dressieren‘ muß, sondern daß er an diesen sportlichen Bewegungsformen von sich selbst aus teilnehmen möchte“ (Innenmoser 1981, 97). Inwiefern geistig beeinträchtigte Menschen selbst über Art und Intensität ihrer sportlichen Aktivitäten entscheiden konnten und sollten, wurde zudem vor dem Hintergrund eines Schutzmotivs diskutiert. So befürchtete die Mutter einer geistig beeinträchtigten Person zwar, ihr Kind würde bei öffentlichen Sportfesten zur Schau gestellt werden, sprach sich doch letztlich für derartige Formate aus. Das „gebrochene oder gar nicht vorhandene Selbstvertrauen“ könne somit gestärkt werden, geistig beeinträchtigten Kindern solle „die Möglichkeit gegeben werden,

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aus ihrem eingeschränkten Lebensraum herauszukommen und ihr Können in der Öffentlichkeit darzustellen, wie dies ihre gesunden Altersgenossen auch tun“ (Ebert 1981, 25-26). Die hier anklingende dichotomische Interpretation von „gesund“ und „(geistig) behindert“ weist allerdings auf eine andauernde Defizitorientierung im Sinne des medizinischen Modells von Behinderung hin, die für geistige Beeinträchtigungen länger wirkmächtig blieb als mit Bezug auf körperliche Beeinträchtigungen. Dennoch setzte in den 1980er Jahren eine Kritik an einer isolierenden Überbehütung geistig beeinträchtigter Personen ein. Gerade aufgrund der verbreiteten Ängste körperbehinderter Sportlerinnen und Sportler, mit geistig beeinträchtigten Menschen „in einen Topf geworfen zu werden“ (Grob 1979, fol. 3), wie es ein württembergischer Behindertensportfunktionär formulierte, erschien die Schaffung von Kontaktsituationen notwendig: „Geistigbehinderte Menschen sollten nicht durch Behütung davon ausgeschlossen sein, an Sportfesten […] teilnehmen zu können“, so ein Fazit des Symposiums Behindertensport (Heiden 1981, 82). Bei der Marginalisierung geistig beeinträchtigter Menschen im Sport verbanden sich folglich spezifisch auf das Phänomen geistige Behinderung zutreffende Stigmatisierungen, die sich von der Diskriminierung körperbehinderter Menschen unterschieden. Das im Vergleich zum Körperbehindertensport zudem deutlich verzögerte Aufkommen von Sportangeboten verweist auf die notwendige Berücksichtigung innerhalb der Kategorie Dis/ability versammelter, teils höchst unterschiedlicher Phänomene, Selbstbilder und Fremdzuschreibungen. Intrakategoriale Unterscheidungen nach der Ursache und der Art der Beeinträchtigung sowie interkategoriale Wechselbeziehungen zwischen Dis/ability, Gender und Alter konstituierten gemeinsam Hierarchien innerhalb der vermeintlichen Kollektivgruppe behinderter Menschen. Diese Hierarchien wiederum produzierten die eigentümliche Chronologie der bundesrepublikanischen Behindertensportgeschichte, welche sich durch eine intersektionale Perspektivierung erklären lässt.

AUFGABEN, CHANCEN UND GRENZEN INTERSEKTIONALER FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN Durch die Anwendung einer intersektionalen Perspektive konnte mit Bezug auf die Geschichte des Behindertensports ein analytischer Mehrwert erzielt werden, der die multiplen Identitätsformationen und vielschichtigen Hierarchisierungsstrukturen genauer abzubilden vermag. Mit Hilfe einer intra- und interkategorialen Differenzierungsmethodik erscheinen Ungleichbehandlungen verschiedener Per-

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sonengruppen letztlich greifbarer. So ergab sich die zeitweise wirkmächtige Hegemonie kriegsversehrter Männer in der Bundesrepublik erstens aus einer sozialund gesellschaftspolitischen Bevorzugung von Männern, von körperbehinderten Personen im Allgemeinen und von Kriegsversehrten im Speziellen auf einer strukturellen Makroebene (interkategoriale Komplexität). Diese Aufwertung wurde zweitens auf der Mikroebene durch die Identitätskonstruktion kriegsversehrter Männer und deren exklusives Verhalten gegenüber anderen Gruppen behinderter Menschen perpetuiert (intrakategoriale Komplexität). Beide Ebenen sind allerdings nicht getrennt voneinander zu betrachten. Sie stehen vielmehr in einem ständigen Austausch, so dass sich zwischen übergeordneten Makrostrukturen und Identitätsbildungsprozessen auf der Mikroebene ein ständiges, wechselseitiges Austauschverhältnis entwickelt. Die spezifische Benachteiligung von Frauen im Behindertensport ergab sich hingegen aus einer Kombination hartnäckiger zeitgenössischer Rollenbilder und der Stigmatisierung körperlich von einer vermeintlichen Norm abweichender Sportlerinnen. Entsprechend war für die offen diskriminierende Einstellung gegenüber behinderten Sportlerinnen eine interkategoriale Verflechtung von Gender und Dis/ability verantwortlich. Im Fall geistig beeinträchtigter Menschen trat diese interkategoriale Verwobenheit allerdings in den Hintergrund. Ihre Exklusion war eine Folge der intrakategorialen Bruchlinien zwischen körperlicher und geistiger Beeinträchtigung, der beharrlichen Berührungsängste zahlreicher Akteure im organisierten Behindertensport sowie ihrer stark eingeschränkten Selbstbestimmung. Dass Geschlechterfragen hierbei eine untergeordnete Rolle spielten und gegenüber der Wechselbeziehung von geistiger Beeinträchtigung und der Etikettierung als „ewige Kinder“ verblasste, ist an sich ein Befund, der auf die Chancen und Grenzen intersektionaler Analyse im Allgemeinen hinweist. Denn fraglos erhöhen intersektionale Perspektiven zunächst die Komplexität der Analyse von Hierarchisierungen und (Binnen-)Differenzierungen. Das wissenschaftliche Forschungsprogramm intersektionaler Analyse erfordert daher ein hohes Maß an Reflexion und Transparenz: Welche Kategorien für eine intersektionale Untersuchung herangezogen werden, obliegt schließlich dem Dezisionismus der Forschenden. Kategorien sind ferner stets als Konstrukte zu begreifen, die aus ihrem jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang heraus entstehen. Dieser Konstruktionscharakter und die daraus folgende Wandlungsfähigkeit von Kategorien müssen aus wissenschaftlich-distanzierter Warte anerkannt und kritisch reflektiert in die Untersuchung einbezogen werden. Dadurch kann vermieden werden, dass Kategorien als universell aufgefasst und in anachronistischer Weise in Epochen transferiert werden, in denen sie schlichtweg nicht als Struktur-

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oder Differenzkategorie funktionieren. So ist es beispielsweise problematisch, die Kategorie Race/Ethnizität ohne Weiteres ins Mittelalter zu übertragen, da Race als differenzierende und diskriminierende Kategorisierung, wie wir sie heute kennen, in erster Linie eine Erfindung des biologistischen Rassismus des 19. Jahrhunderts ist (Bühl 2016, 80-124). Analog dazu ist der Behinderungsbegriff einem ständigen Wandel unterworfen. In weiten Teilen des 20. Jahrhunderts stand die Definition von Behinderung als im Körper betroffener Personen angelegtes Defizit unhinterfragt fest. Erst durch das Aufkommen des sozialen Modells – und später des kulturellen Modells von Behinderung – rückte die rein auf medizinisches Expertenwissen rekurrierende Interpretation in den Hintergrund. Darüber hinaus verweisen Konstruktionen wie die Zuweisung eines Grades der „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ oder die teils unklaren Unterscheidungen zwischen Behinderung und chronischer Erkrankung auf die Fluidität der Ungleichheitskategorie Behinderung. Daher erfordert eine intersektionale Herangehensweise die Einordnung der Bedeutung kategorialer Konstruktionen in ihren jeweiligen gesellschaftlichen und zeittypischen Kontext. Dass diese Konstruktionen intrakategorialen Unterscheidungen und Identitätsbildungen unterliegen, ist im beschriebenen Beispiel vor allem an den Differenzierungen zwischen kriegsversehrten Männern, zivilbehinderten Personen, behinderten Frauen und Menschen mit geistiger Beeinträchtigung deutlich geworden. Folglich kann es als eine Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse intersektionaler Verhältnisse gelten, auf derartige intrakategoriale Differenzierungen aufmerksam zu machen. Gerade die Vielschichtigkeit und Wandlungsfähigkeit des Phänomens Dis/ability scheint hierfür geeignet. Entsprechend kann auch abgeleitet werden, dass sich der Abbau von Barrieren oder die Gestaltung von Diversitätsmanagement für Menschen mit Behinderung an unterschiedlichen Bedürfnisstrukturen orientieren muss. So differenziert sich die vermeintliche Kollektivgruppe behinderter Menschen stärker aus, wenn den unterschiedlichen kategorialen Wechselbeziehungen zwischen Dis/ability und beispielsweise Gender eine höhere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Darüber hinaus gilt es, die multiplen identitätsbezogenen Selbstbilder und Fremdzuschreibungen zu beachten, die sich aus intrakategorialen Distinktionen ergeben. Diese Differenzierungsleistungen sind notwendig, um die Vielschichtigkeit und Kontextabhängigkeit von Ungleichheitsphänomenen adäquat abbilden, erklären und womöglich kritisch hinterfragen zu können. Nicht zuletzt besteht die Aufgabe einer intersektionalen Dis/ability History darin, die historische Gewordenheit und Wandelbarkeit nach wie vor wirkmächtiger Dif-

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ferenzkategorien offenzulegen. Dadurch kann zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren Wissen zur Verfügung gestellt werden, das im Kontext gegenwärtiger Debatten, etwa um Inklusion im Bildungsbereich, notwendig erscheint. Insbesondere bei derartigen Vermittlungsaufgaben universitärer Forschung gilt es, einen angemessenen Zuschnitt komplexer intersektionaler Zusammenhänge zu wählen, um Personen, die mit dem Ansatz nicht vertraut sind, nicht über Gebühr mit theoretischen Ausführungen zu überfrachten. Beispielsweise lässt sich dies mit Blick auf die von Fall zu Fall variierende Zusammenstellung relevanter Kategorien veranschaulichen: Die innerhalb der Intersektionalitätsforschung geführte Debatte um die Anzahl zu untersuchender interdependenter Kategorien schlägt sich somit auf besondere Weise nieder, wenn ein nichtwissenschaftlicher oder in der Anwendung des Intersektionalitätsansatzes unerfahrener Adressatenkreis angesprochen wird. So zeigt die Erfahrung des Autors, dass Studierende das Differenzierungsangebot intersektionaler Perspektiven zwar bereitwillig aufnehmen und anwenden, mit der Umsetzung aber bisweilen an Grenzen stoßen. Denn die Entscheidung, wie viele Kategorien in ihrer wechselseitigen Verflechtung einbezogen werden sollten, setzt eine Reflexion der Tiefenschärfe und des Umfangs der eigenen Analyse voraus – und dies idealerweise zu einem frühen Zeitpunkt der Untersuchung. Entsprechend erscheint es zielführend, in der universitären Lehre und der Betreuung studentischer Arbeiten auf die Begrenzung des Kategoriensets als Möglichkeit der fokussierten Analyse hinzuweisen: Die Wechselwirkung zweier Differenzkategorien en détail zu untersuchen, ist zielführender als der Versuch, möglichst viele Ungleichheitskategorien gleichzeitig in den Blick zu nehmen. Grundsätzlich sollte die Theorie der empirischen Analyse nicht im Weg stehen, weshalb sich die Geschichtswissenschaft aufgrund des viel zitierten „Vetorechts der Quellen“ für die Adaption des Intersektionalitätsansatzes eignet: Seine heuristische Anwendung zur Erzielung eines konkreten analytischen Mehrwerts – und nicht dessen Einsatz um der schlichten Verifizierung theoretischer Annahmen willen – sollte im Vordergrund stehen. Daher sind bei der Vermittlung intersektionaler Theorieangebote Vorsicht, Maß und handlungsorientierte Konkretion geboten. Stärker noch als in wissenschaftlichen Texten ist dies sicherlich in der Vermittlung intersektionaler Phänomene und Herangehensweisen an politische und mediale Akteure sowie an die breite Öffentlichkeit gegeben. Hierbei kommt es vielmehr darauf an, für die wechselseitige Beeinflussung von Ungleichbehandlungen sowie für Analogien und Wechselbeziehungen zwischen Stereotypisierungen zu sensibilisieren. So verweist etwa das Beispiel des Behindertensports auf die Ähnlichkeiten kategorialer Konstruktionen und Zuschreibungen von Dis/ability und Gender, die im Sport zudem jeweils über Körperlichkeit repräsentiert werden.

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Das Alltagswissen und die Alltagserfahrungen der angesprochenen Zielgruppen über Geschlechterkonstruktionen sollten dabei konkret genutzt werden. Somit kann die intersektionale Forschungsmethodik gesellschaftlichen Akteuren, die sich der Kritik multidimensionaler Ungleichheitsstrukturen widmen, zur Verfügung gestellt werden.

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Perspektiven für Unterricht und Lehre – Medien der Wissensvermittlung im (Lehramts)Studium

Quellen für alle und von allen? Potentiale einer wissenschaftlich reflektierten Public Disability History für schulische und universitäre Lehre am Beispiel der „Quellen zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen“ (QGMB)1 Raphael Rössel

Zum Beginn des 21. Jahrhunderts konnte diagnostiziert werden, dass Alltagserfahrungen behinderter Menschen an zentralen Stellen der kollektiven Gedächtnisse westlicher Gesellschaften – etwa in Museen, Archiven oder im Geschichtsunterricht – keinen Platz fanden.2 In der Tat wurden bis vor kurzer Zeit von Menschen mit Behinderungen selbstverfasste Dokumente auch in Deutschland nicht systematisch archiviert. Dies bedeutet freilich nicht, dass historische Texte, die Lebenswege von behinderter Menschen reflektieren, sich nicht in staatlichen, kirchlichen, verbandlichen und institutionellen Depositorien finden lassen. Jedoch stammen diese in der Regel von nichtbehinderten Autoren, etwa von Heilpädagogen, Fürsorgern, Sozialpolitikern oder Vertretern kirchlicher Wohlfahrt. Nicht zuletzt durch die globale Behindertenbewegung hat sich dies vielerorts geändert (vgl. Dood/Jones/Sandell 2017, 87). Im Laufe der letzten gut zwanzig Jahre hat eine Vielzahl an Initiativen – dem Credo „Nothing about us without us“ (Charlton 1998) folgend – vorwiegend aktivistisches Material gesammelt und physisch wie digital zur Verfügung gestellt. Haben sich mit dieser pluralisierten Archiv- und Museumslandschaft aber bereits die Geschichtskultur und das kollektive Gedächtnis grundlegend verändert? 1 2

Für kritische Anmerkungen danke ich Michèle Wagnitz. Wie zum Beispiel Annie Delin mit Blick auf das Vereinigte Königreich feststellte (Delin 2002).

184 | Raphael Rössel

Public Historians werten es zumindest als eine notwendige Grundvoraussetzung für eine inklusive Geschichtskultur, dass Verschiedenheits- beziehungsweise Ungleichheitskategorien feste Plätze in schulischer und akademischer Lehre erhalten (Alavi/Barsch 2018, 194-195). Unter diesem Blickwickel befindet sich Geschichtskultur anscheinend im Aufbruch. Auf der einen Seite boomt die akademische Disability History, andererseits bricht sich auch im Geschichtsunterricht das Thema „Behinderung“ Bahn. Neben fachdidaktischer Forschung existieren erste Handreichungen mit Vorschlägen zur Unterrichtsgestaltung (siehe z.B. Hellberg 2016). Umso intensiver stellen sich Fragen, wie diese drei Felder – Geschichtsdidaktik, Public History und akademische Disability History – verzahnt werden und eine Öffnung der Geschichtskultur weiter vorangetrieben werden können. Selten wurde auch der Frage nachgegangen, welchen konkreten Beitrag die akademische Disability History jenseits rein forscherischer Arbeiten hierbei bieten könnte (vgl. Wolter 2016). Im Folgenden wird mit einer der traditionsreichsten geschichtswissenschaftlichen Publikationsformen, der kommentierten Quellenedition, ein Vorschlag für eine innovative Variante von Public Disability History gegeben. Die Zusammenstellung von Quellenkorpora führt zurück zum Kernmerkmal der eingangs konstatierten Pluralisierung der Archiv- und Museumsstruktur in Bezug auf Behinderungsphänomene: zur geänderten Quellenauswahl. Wer zu einem spezifischen Thema „gehört“ wird, ist eine Grundsatzentscheidung für Archivar*innen, Kurator*innen und eben auch Herausgeber*innen von Editionen. Bisher fällt eine teils programmatische Trennung zwischen der Archivierung der Stimmen nichtbehinderter Experten, etwa der Heilpädagog*innen, und behinderter Menschen, vor allem Aktivist*innen, auf. Nachfolgend wird analysiert, ob und wie – im Hinblick auf öffentliche, akademische und schulische Geschichtsvermittlung – diese Trennung gewinnbringend aufgehoben werden kann. In diesem Aufsatz wird die These vertreten, dass eine wissenschaftlich gerahmte Zusammenführung von Quellen behinderter und nichtbehinderter Menschen großes Potential für die öffentliche Vermittlung historischer Realitäten behinderter Menschen, ihrer Diskriminierung, aber auch ihrer Handlungsoptionen und Widerständigkeiten birgt. Anhand des Fallbeispiels der digitalen „Quellen zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen“ (QGMB)3 wird darüber hinaus der Frage nachgegangen, welche quelleneditorische Herausforderungen die Synthese von fachwissenschaftlicher Disability History, öffentlichkeitsorientierter Public History und des Anspruchs auf Barrierefreiheit hervorbringt. Der Fokus liegt auf der Nutzung dieses Werkzeugs in (hoch-)schulischer Lehre.

3

Online verfügbar unter: qgmb.histosem.uni-kiel.de vom 31.03.2019.

Quellen für alle und von allen? | 185

Der Beitrag plädiert nicht nur für eine engere Verzahnung von Forschung, Lehre und Öffentlichkeit, sondern präsentiert mit dem Fallbeispiel ein in dieser Form bisher nicht vorliegendes verbindendes Element von Public History, Geschichtsdidaktik und fachhistorischer Disability History. Zunächst werden in einem Überblick von ausgewählten Datenbanken, Museen und Archiven die jüngsten Integrationsversuche der Disability History in die Public History problematisiert. Es folgt die Vorstellung des innovativen Potentials der QGMB-Datenbank für (hoch-)schulische Lehre. Schließlich werden weiterhin existente Problemlagen dargelegt und Lösungsmöglichkeiten diskutiert.

QUELLENAUSWAHL ALS EMPOWERMENT? Ein zentrales Anliegen neuerer Public History Initiativen4 ist es, öffentlich vorgetragenen monolithischen Geschichtsbildern die Diversität vergangener Lebenswelten entgegenzuhalten und aus etablierten Meistererzählungen bisher Ausgeschlossenes zu benennen (Lücke/Zündorf 2018, 48-56). Weiterhin ist die Public History angetreten, die Funktionsweisen der Produktionen singulärer Geschichtsbilder aufzeigen. Diesen hinterfragenden Impetus teilt sie mit der Disability History. Auch diese zielt darauf ab, mit „Behinderung“ ein zuvor weitgehend übersehenes Phänomen als Ausgangpunkt zu wählen. Dennoch wurden trotz dieser Ähnlichkeit die akademische Erforschung von Behinderungen und ihre öffentliche Präsentation in den vergangenen Jahren bisher wenig theoretisiert und verzahnt. Dass hierzu Bedarf und Nachfrage bestehen, belegt auch die Etablierung eines eigenen Public Disability History Blogs (Barsch/Klein/Söderfeldt/Verstraete 2016). Die Diskussionen, ob und wie die Geschichte von Behinderungen öffentlich präsentiert werden kann, vollzieht sich vor allen Dingen auf zwei Ebenen: Einerseits geht es um die Auswahl von Quellen. Wie und – vor allem aus wessen Perspektive – kann die Geschichte von Behinderungsphänomenen erzählt werden? Zweitens wird gefragt, wie disziplinäre Forschung in möglichst inklusive universitäre und schuldidaktische Konzepte übersetzt werden kann. Mit den „Quellen zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen“ wird ein möglicher Weg aufgezeigt, die Erkenntnisse der akademischen Disability History durch eine öffentliche digitale Edition in die (hoch-)schulische Lehre zur Geschichte zu Behinderungen zu integrieren.

4

Hier verstanden als Reflexion jedweder Geschichtsvermittlung jenseits der Akademie (vgl. Samida 2014).

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Die Disability Studies – und damit Disability History – sind ohne die seit den 1960er Jahren bestehenden, weltweit agierenden Behindertenbewegungen nicht denkbar. Deutungskämpfe um die Vergangenheit waren und sind Teil ihrer emanzipatorischen Agitationsstruktur. Erst mit zeitlicher Verzögerung haben sich jedoch Initiativen durchgesetzt, die zentrale Orte zur Erinnerung an behinderte Menschen designieren. Die USA sind hier in vielerlei Hinsicht Vorreiter (vgl. auch Sorbello Staub 2019, 89-90). Die amerikanischen Bemühungen um ein revisionistisches Museum, welches sich mit der Geschichte von Behinderungen aus der Sicht der als behindert klassifizierten Menschen befasst, waren als erstes erfolgreich. Es bestehen mit dem digitalen Disability History Museum, dem auch eine Quellendatenbank angegliedert ist, und dem 1998 gegründeten und mittlerweile in Buffalo beheimateten Museum of disABILITY History bereits zwei zentrale Depositorien.5 Hinzukommen lokale und nationale Onlinearchive zur Geschichte der „Eugenik“-Bewegung, die ihren Fokus in der Regel auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert legen. Weiterhin existieren interaktive Plattformen wie das Disability Social History Project6, das primär auf Eingaben seiner Nutzer*innen beruht. Aufgenommen wurden hier nur eingesandte Privatdokumente. Bei dieser Quellensammlung von unten fehlt allerdings jegliche Einordnung und Gewichtung der Beiträge, die sehr ungleich eingingen und damit in einer gewissen Schlagseite der Edition endeten, bei der stärker eingegangene Teilgeschichten einiger Gruppen behinderter Menschen andere überlagerten.7 Lange waren auch in Deutschland Archive dominant, in deren Überlieferung Expert*innen oder Fürsorger*innen aus medizinischer beziehungsweise rehabilitativer Perspektive vor allem über behinderte Menschen, ihre vermeintlichen Pathologien, ihre Therapierbarkeit und ihre Beschulung sprachen. Stellvertretend sei hier das traditionsreiche Heilpädagogische Archiv an der Humboldt-Universität zu Berlin8 genannt. Ebenso können die zahlreichen Archive von Institutionen, in denen behinderte Menschen lebten und leben, wie beispielweise das Hauptarchiv

5

www.disabilitymuseum.org/dhm/index.htm vom 31.03.2019 und https://museumofdisability.org/ vom 31.03.2019.

6 7

www.disabilityhistory.org/ vom 31.03.2019. Eine Auflistung dieser und weiterer amerikanischer Projekte findet sich bei Richards 2005, 95.

8

https://www.reha.hu-berlin.de/de/lehrgebiete/arp/heilpaedagogisches-archiv-1 31.03.2019.

vom

Quellen für alle und von allen? | 187

der von Bodelschwinghschen Stiftungen in Bielefeld-Bethel, angeführt werden. Nur selten sind ihre Bestände online einsehbar.9 In Deutschland thematisierten zuerst wenige Ausstellungen aus einem soziokulturellen Blickwinkel verkörperte Andersartigkeiten. Der körperhistorischen Ausstellung „Der imperfekte Mensch“, die in den Jahren 2000 und 2001 am Deutschen Hygiene Museum Dresden installiert war, kann hier Pioniercharakter zugeschrieben werden. Immer wieder entstanden und entstehen darüber hinaus nationale wie regionale Ausstellungen zur „Euthanasie“, so zuletzt die (Wander-)Ausstellung des DFG-Erkenntnistransferprojekts „Erinnern heißt gedenken und informieren“, die in Zusammenarbeit mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors konzipiert wurde.10 Der hunderttausendfache Mord an geistig behinderten und psychisch kranken Menschen im Nationalsozialismus ist jedoch das einzige Disability-Thema, welches einen festen Platz in allen 16 Curricula des föderalistischen deutschen Schulsystems bekommen hat. Es bleibt vielfach ebenso die einzige Thematisierung von Behinderung im Geschichtsunterricht (Wolter 2016, 124). Weitere Perspektiven auf die Lebenslagen behinderten Menschen danach wie davor sind zumindest nicht kodifiziert. Hiermit droht nicht nur eine Unsichtbarmachung der Disability History anderer Epochen, sondern auch eine Festlegung des Themas „Behinderung“ allein auf die Themenkomplexe „Eugenik“ und „Euthanasie“. Auch um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, sollte Public Disability History in ihren Bemühungen eine große thematische, räumliche und periodische Bandbreite anstreben. Wie in einigen anderen westlichen Staaten, existieren auch im deutschsprachigen Raum seit wenigen Jahren feste Museen und Archive, die sich auf das Sammeln der von behinderten Menschen produzierten Quellen und Artefakte spezialisiert haben. Als Pionierleistung kann die digitale Datenbank archiv-behindertenbewegung.org gelten. Diese umfasst die zentralen Publikationen verschiedener bundesdeutscher Aktivismen der 1970er und 1980er Jahre wie Die Luftpumpe oder Die Krüppelzeitung (vgl. Lux 2017). Das größte physische Archiv bildet das in Dortmund angesiedelte Archiv der behindertenpolitischen Selbsthilfe, welches

9

Es sei hier aber auf die digital teilverfügbare Sammlung des Heilpädagogen Max Kirmsse hingewiesen.

https://www.uni-marburg.de/de/ub/recherchieren/bestaende/

sammlungen/sammlung-max-kirmsse vom 31.03.2019. 10 www.t4-denkmal.de/Vorgeschichte vom 31.03.2019.

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an das Wirken des Arbeitskreises „Der behinderte Mensch in Dortmund“ anschließt und unter anderem den Nachlass August (Gusti) Steiners verwahrt.11 Ebenso ist den meisten deutschsprachigen Oral History-Initiativen gemein, dass sie vorrangig aktivistische Bemühungen dokumentieren. Es wurden bereits einige Projekte durchgeführt, und fast alle legten ihr Augenmerk auf die Behinderten- und Selbstbestimmungsbewegungen der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Zuvorderst ist hier das von 2014 bis 2017 erstellte Projekt des Bildungsund Forschungsinstituts zum Selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos) e.V. anzuführen. In Zusammenarbeit mit dem Gedächtnis der Nation e.V. und der Bundeszentrale für politische Bildung wurde unter dem Titel „Zeitzeug*innen. Mein Leben, Meine Geschichte(n), Meine Selbstbestimmung“ eine umfangreiche Sammlung der deutschen Independent Living-Bewegung mit mehr als 50 Interviews vorgelegt.12 Erneut thematisiert wurde der Wert von Oral History speziell zur Erforschung der Behindertenbewegungen zuletzt auf der Berliner Disability Studies-Konferenz im Herbst 2018 durch den Bochumer Historiker Jonas Fischer innerhalb eines Workshopbeitrags mit dem Titel „Wofür ein ‚Gedächtnis der Behindertenbewegung‘? Überlegungen zu Archivierung und Zeitzeug*innen-Interviews“. Fischers laufendes Dissertationsprojekt zur wissenshistorischen Genese der deutschen Disability Studies aus verschiedenen Bewegungen basiert (auch) auf Zeitzeugengesprächen.13 Eine der seltenen Ausnahmen der prävalenten Verwendung von erzählter Geschichte zur Dokumentation des Aktivismus war ein Kieler Projektseminar unter der Leitung von Gabriele Lingelbach.14 Im Wintersemester 2014/2015 wurde im Rahmen der Veranstaltung „Oral History am Beispiel biographischer Interviews von Menschen mit Behinderungen“ Studierenden die Möglichkeit gegeben, lebensgeschichtliche Interviews ausgewählter Personen aus Ost- und Westdeutschland durchzuführen. Im Mittelpunkt standen vor allem grundsätzliche methodologische Fragen. Unter anderem wurde diskutiert, welchen Beitrag Oral History

11 www.archive.nrw.de/politischeArchive/ArchivderbehindertenpolitischenSelbsthilfeMOBILESelbstbestimmtesLebenBehindertere_V_/wir_ueber_uns/index.php

vom

31.03.2019. 12 http://www.zeitzeugen-projekt.de/ vom 31.03.2019. 13 Ebenfalls basierend auf Interviews sind bereits ein Schweizer Oral History-Projekt durchgeführt und das österreichische Selbstbestimmt-Leben-Archiv in Leben gerufen worden, siehe: http://bidok.uibk.ac.at/projekte/behindertenbewegung/geschichte.html vom 31.03.2019. 14 http://www.einfachgutelehre.uni-kiel.de/allgemein/studierende-interviewenmenschen-mit-behinderung/ vom 31.03.2019.

Quellen für alle und von allen? | 189

(vgl. hierzu grundlegend Hirsch 1995 und Rolph 1998) leisten kann, die für die Geschichte von Menschen mit geistigen Behinderungen häufig attestierte Quellenarmut, womit in der Regel nicht vorhandene schriftliche Selbstzeugnisse gemeint sind, zu beheben. Der teilweise von geschichtsdidaktischer Seite betonten Unzugänglichkeit oder gar Inexistenz von Quellen, die von Menschen mit Behinderungen verfasst wurden (Wolter 2016, 122), kann also nicht ohne Weiteres zugestimmt werden. In vielfach digital zugänglichen Depositorien lagern sehr wohl Selbstzeugnisse behinderter Menschen. Diese stammen in der Regel aus einem aktivistischen Kontext. Allerdings ist festzuhalten, dass diese Überlieferung in den wenigsten Fällen Menschen mit geistigen Behinderungen einschließt. Jenseits der selbstadvokatorischen Sphäre ist die Verfügbarkeit von Egodokumenten behinderter Menschen in der Tat dünn. Gerade wenn (Public) Disability History aber vermeiden soll, ein simplifizierendes Fortschrittsnarrativ der Lebenslagen behinderter Menschen oder eine Teleologie der Entwicklung von der Fremd- zur Selbstadvokation zu kreieren, sind auch andere Quellen zu berücksichtigen. Die Dominanz der Archivierung aktivistischer Quellen unter Ausblendung weiterer Stimmen ist auch problematisch in Hinblick auf gegenwärtige Grundsatzdiskussionen darüber, was Gegenstand der Disability History ist. Die Aussagekraft der Disability bzw. Dis/ability History ist weiterhin umstritten: Erforscht sie „nur“ die Lebenslagen behinderter Menschen (Disability History) oder hat sie durch die Analyse jedweder Zuschreibung von A/Normalität an verschiedene Körper nicht gar das Potential zu einer ganz neuen Art von Geschichtsschreibung (Dis/ability History)?15 Ist die Reichweite umstritten, sind sich Forscher*innen einig, dass sich die Lebensrealitäten und Handlungsspielräume behinderter – wie auch nichtbehinderter – Menschen im Wechselspiel zwischen Fremd- und Selbstbestimmung konturieren. Vorschläge, wie dieses Wechselspiel im schulischen und universitären Geschichtsunterricht vermittelt werden kann, stehen (noch) aus. Eine zentrale archivalische Datenbank, welche die Entstehung von Dominanzverhältnissen und die Handlungsmacht behinderter Menschen für den (hochschulischen) Gebrauch aufbereitet, bestand vor der Veröffentlichung der hier vorzustellenden Quellensammlung nicht.

15 Vgl. auch Waldschmidt/Lingelbach 2017, 50-52.

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PUBLIC DISABILITY HISTORY ALS INKLUSIVES, QUELLENBASIERTES HISTORISCHES LERNEN IN ÖFFENTLICHKEIT, SCHULE UND UNIVERSITÄT? Fragen der Produktion und Kontrolle von Quellen und damit einhergehende Machthierarchien sind ungelöste Streitpunkte innerhalb der Disability History. Der kanadische Historiker Geoffrey Reaume warnte zuletzt eindringlich davor, dass die akademische Disability History aktuell Gefahr laufe, eine doppelte Ausbeutung behinderter Menschen vorzunehmen (Reaume 2018, 32-34). Er zeichnet hierbei ein Bild von karrieristischen nichtbehinderten Forscher*innen, die in Quellenkonvoluten wie Patientenakten vor allem und zuerst Goldminen für eigene Forschungsprojekte sähen. Aufgrund einer fachwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Konjunktur des Themas „Behinderung“ würden sich Disability Historians große Aufstiegschancen eröffnen. Die aber mit Hospitalisierungen und Besonderung in der Regel verbundenen Exklusionsdynamiken würden im Zuge dessen durch eine ebenfalls wenig inklusive Forschung fortgeschrieben. Forschungsstellen und Projektergebnisse würden im für viele behinderte Menschen vielfach weiterhin verschlossenen akademischen Elfenbeinturm belassen. Um derartigen Vorwürfen vorzubeugen, plädiert Reaume dafür, eine Ethik der Disability History zu entwickeln. Die Erforschung der Geschichte von Behinderungen sei im besonderen Maße moralisch verpflichtet, sich an die Öffentlichkeit, insbesondere aber an die Disability Community rückzukoppeln (Reaume 2018, 34-36). Ethische Fragen, wie die akademische Disability History insgesamt mit ihren Forschungsergebnissen umgehen sollte oder könnte, sprengen den Rahmen dieses Beitrags. Doch ergeben sich aus Reaumes Intervention Fragen an eine fachwissenschaftlich aufbereitete Quellenedition, die einer Public Disability History verpflichtet ist. Wenn tatsächlich die Gefahr der Verdopplung der Exklusionsdynamiken besteht, wie können Fachhistoriker*innen bei der Konzeption einer Quellenedition ihre erworbene Expertise so einsetzen, dass dieser Vorwurf entkräftet wird? Wie können die entstehenden Ressourcen fachwissenschaftlich adäquat und gleichzeitig möglichst inklusiv, niedrigschwellig und barrierearm sein? Zunächst müssen hier technische Wegbereiter der Barrierefreiheit entwickelt und implementiert werden. Quellen müssen abrufbar, auslesbar und dabei möglichst mit allen entsprechenden Endgeräten kompatibel sein. Widersprüchlicher und problembehafteter ist die Frage, ob auch Quellen in „Leichter Sprache“ bzw. „Einfacher Sprache“ anzubieten sind. Ziel beider Projekte ist es, schwierige oder komplexe Zusammenhalte schneller und leichter verständlich zu machen. Dies soll vor allem Menschen mit geistigen Behinderungen bzw. Lernschwierigkeiten weitere Teilhabemöglichkeiten eröffnen. Verschiedene Regelwerke „Leichter

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Sprache“ sehen das Bilden kurzer Sätze und Restriktionen grammatischer Fälle und Komposita, wie auch eine Limitierung des Informationsgehalts einzelner Sätze vor. Beim Anwenden dieses Katalogs auf historische Quellen kollidieren Standards der (Geschichts-)Wissenschaft mit Inklusionsbemühungen (Alavi 2015, 172-173). In der historischen Forschung müssen aus Gründen der Nachprüfbarkeit Quellenzitate stets buchstabengetreu angegeben werden. Abweichungen von Originaltexten sind kenntlich zu machen. Der Geschichtsunterricht kennt dieses didaktische Problem bei Quellen mit fremdsprachlicher, veralteter oder heute ungebräuchlicher Sprache bereits seit langer Zeit. Didaktiker*innen haben inzwischen verschiedene Lösungsstrategien entwickelt. Der aus der Fremdsprachendidaktik entlehnte Ansatz des Scaffolding (dt. Gerüst) etwa, der verschiedene, angepasste Unterstützungsleistungen und Orientierungshilfen wie zum Beispiel Wortlisten bereitstellt, erscheint auch für inklusive Formate fruchtbar (vgl. Alavi/Barsch 2018, 203-204). Doch hat sich freilich das Ideal, das jegliche Veränderung der Quellen offengelegt und angeben werden muss, gehalten. Die Frage nach der Übersetzbarkeit von schwierigen Quellen in inklusivere Textformen bleibt weiterhin ein Desiderat der Theoriebildung innerhalb der Public Disability History. Wiederum in Kiel wurden und werden durch Kooperationen von Universität und dem Institut für inklusive Bildung Pilotprojekte in diesem Rahmen ausprobiert. Das IIB ist eines der weltweit ersten Institute, welches Menschen mit geistigen Behinderungen die Möglichkeit bietet, als ausgebildete Bildungsfachkräfte als Dozierende an universitärer Lehre teilzuhaben. Dank ihrer Expertise in der Übersetzung von schwerer in „Leichte Sprache“ haben sich Kollaborationen mit dem Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität etabliert. So wurde unter anderem bereits während der Special Olympics-Akademie 2018 in Kiel ein Quellenübersetzungskurs zur Sportgeschichte geistig behinderter Menschen angeboten (Rössel 2018). Im Rahmen eines weiteren Projektseminars wird unter der Leitung von Silja Leinung im Sommersemester 2019 eine inklusive Geschichtswerkstatt etabliert. Ebenfalls durch das Institut wird im Rahmen eines Teilprojektes des in Kiel und München beheimateten BMBF-Verbundes „Menschen mit Behinderungen in der DDR“ eine barrierefreie digitale Ausstellung sowie ein angegliedertes Open Ressource-Programm entwickelt. Das Teilprojekt ist hierbei dezidiert auch dazu angetreten, Fragen der Quellenübersetzbarkeit zu erforschen.16

16 Das seit November 2018 laufende Verbundprojekt „Menschen mit Behinderungen in der DDR“ besteht neben dem genannten Teilprojekt des Instituts für inklusive Bildung aus drei weiteren: einem Teilprojekt zur Geschichte von Familien mit behinderten Kin-

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DIE „QUELLEN ZUR GESCHICHTE VON MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN“: EIN MULTIPERSPEKTIVISCHES ARCHIV DER LEBENSLAGEN BEHINDERTER MENSCHEN IN DEUTSCHLAND NACH 1945 Zielsetzungen Ein erneuter Versuch, inklusiv und multiperspektivisch auf Lebenslagen von Menschen mit Behinderung in Deutschland nach 1945 zu blicken, ist die 2018 eröffnete Datenbank „Quellen zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen“. Kernziel dieser Edition ist es, der Öffentlichkeit und insbesondere (hoch-)schulischer Lehre eine sich stetig erweiternde Lernressource zur Verfügung zu stellen. Die QGMB wurden initiiert innerhalb des Kieler DFG-Projekts „Menschen mit Behinderung in Deutschland seit 1945. Selbstbestimmung und Partizipation im deutsch-deutschen Vergleich: Ein Beitrag zur Disability History“. Die Leitung dieses Verbundes hatte Gabriele Lingelbach inne, Projektmitarbeiter waren Jan Stoll, Sebastian Schlund und Bertold Scharf.17 Seit Beendigung dieses Projekts wird die Datenbank im Rahmen der DFG- und BMBF-Projekte von Raphael Rössel und Pia Schmüser zur Alltagsgeschichte von Familien mit behinderten Kindern in West- bzw. Ostdeutschland zwischen 1945 und 1990 fortgeführt. Die Quellensammlung umfasst somit bisher vor allem die Phase der alten Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik. Die Konzeption einer Ressource, die Forschungsergebnisse eines in Teilen hochtheoretisierten Faches wie der Disability History einer breiten, ausdrücklich auch nichtakademischen Öffentlichkeit präsentiert, war von vielen Unwägbarkeiten behaftet. Wie können zum Beispiel Diskussionen um die Konstruktion behinderter Körper oder Intersektionalität für Schüler*innen aufbereitet werden? Und: Für welche Schüler*innen überhaupt? Die Gruppe der möglichen Adressaten war zu Projektbeginn schlicht kaum bestimmbar. Am Ende der Diskussionen wurde dern (Bearbeiterin: Pia Schmüser), einem zur Mediengeschichte von Menschen mit Behinderungen in der DDR (Sebastian Balling) und einem zur Geschichte ostdeutscher Mobilitätsassistenzen (Ulrike Winkler). 17 Darüber hinaus waren folgende Personen an der Konzeption der Edition beteiligt: Ubbo Ventjer (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen) war Mitarbeiter für IT und Visualisierung, Claudia Kuhn (Universität Kiel) übernahm das Webdesign. Dem Projekt standen Thilo Paul-Stüve (Universität Kiel), Mathias Göbel (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen), Philipp Hegel (TU Darmstadt) und Anna Buch (Humboldt-Universität Berlin) in beratender Funktion bei.

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sich für eine maximal breite Variante entschieden: Theoretisch soll es möglich sein, dass Lehrende für jede Klassenstufe, jede weiterführende Schule und Hochschule aus dieser Datenbank Material schöpfen können. Sie wurde auch so konzipiert, dass sie für möglichst viele Nutzungsweisen einsetzbar ist. Wenngleich dieser Anspruch ambitioniert bleibt, hat die Zielsetzung Bestand, einen niedrigschwelligen Einstieg in die Thematik zu erlauben und trotzdem Vertiefungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dies war auch wichtig, da Lehrerinnen und Lehrer aufgrund mangelnder Unterrichtsentwürfe ihre Einheiten zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen und das entsprechende Lehrmaterial meist selbst zusammensuchen und vordidaktisieren müssen. Ein zentraler Punkt in den Überlegungen war es, dass einer kurzen Thematisierung in einer einstündigen Nebensitzung ebenso der Boden bereitet sein sollte wie auch einer ganzen Unterrichtseinheit. Die Tiefe der Datenbank sollte aber auch einer halbjährigen Projektarbeit einer gymnasialen Sekundarstufe II oder einem akademischen Pro- oder Aufbauseminar gerecht werden. Ziel war kurzum – auch vor dem Hintergrund der geringen Präsenz von Disability History in der bisherigen Lehrplanstruktur –, eine Ressource für möglichst viele Anlässe zu bieten. Auch um in dieser anvisierten Breite einen roten Faden nicht zu verlieren, wurden die Präsentation der Quellen standardisiert, die Auszeichnung vereinheitlicht und das Kommentarformat angeglichen. Offensiv wurde bei der Projektkonzeption mit dem Problem und möglichen Vorwurf umgegangen, dass jedwede Auswahl von Quellen unmöglich die Diversität der in Deutschland seit 1945 als behindert kategorisierten Menschen und ihrer vielfältigen Lebensrealitäten abbilden könnte. Der Versuch, repräsentative Quellen für eine singuläre Geschichte behinderter Menschen dieser Periode zu erheben, ist aus mehreren Gründen nicht nur fast unweigerlich zum Scheitern verdammt, sondern auch wenig sinnvoll. Zum einen wandelten sich Begriffe und Konzepte von Behinderungen stetig (vgl. Schmuhl 2010, 82-91). Waren Begriffe wie „Krüppel“ für körperbehinderte Menschen oder „schwachsinnig“ für geistig behinderte Menschen in der Nachkriegszeit prävalent, wurden sie zumindest aus dem öffentlichen Diskurs mit Ablauf der 1960er Jahre zugunsten des Begriffs „(geistig) behindert“ vertrieben. Noch später wurden diese Termini von westdeutschen Behindertenbewegungen subversiv umgedeutet. In der Bundesrepublik und der DDR entspannen sich darüber hinaus nationale Begriffstraditionen, wie die ostdeutsche Präferenz für den Begriff des „Geschädigten“ zeigt. Auf Behinderungsursachen bezogene Konzepte verloren (etwa „kriegsgeschädigt“) oder gewannen an Bedeutung (z.B. „Contergankind“, vgl. Crumbach 2018). Neue Vorstellungen zum Beispiel von Lernbehinderungen setzten sich erst mit Beginn der

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1970er Jahre durch (Pfahl 2011, 92-94). Zudem pluralisierten sich die Vorstellungen unter nichtbehinderten und behinderten Menschen, wie miteinander umzugehen sei. Zu segregierenden Grundhaltungen der Mehrheitsgesellschaften gesellten sich vermehrt integrativere, aber auch konfrontativere Ansätze vieler Gruppierungen behinderter und nichtbehinderter Menschen. Es war (und ist) also nicht nur das Ergebnis gesellschaftlich wirksamer, kulturell transportierter Benennungsprozesse, wer zu welchem Zeitpunkt auf welche Weise als behindert – oder nichtbehindert – galt. Vielmehr waren die gesellschaftlichen Positionierungen, die mit derartigen Labels einhergingen, großer Veränderung unterworfen. Jene Veränderungen der Teilhabemöglichkeiten verschiedener Gruppen von Menschen mit Behinderungen unterlagen jedoch gewissen Regelhaftigkeiten und Konjunkturen. Ziel der Plattform war daher keine vollständige Anthologie zu unterschiedlichen Gruppen behinderter Menschen, sondern der Aufbau eines paradigmatischen Fundus. Aufbau der Quellensammlung Die QGMB teilen die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in Teilbereiche ein, zeigen jedoch Querverbindungen zwischen diesen Ausschnitten auf. Aufbauend auf den Unterprojekten des initialen Verbundes sind die Quellen bisher nach den Themen „Freizeit“ (Schlund 2017), „Interessenorganisation“ (Stoll 2017), „Arbeit“18 sowie „Gesetzen“ gegliedert. Alle ausgewählten Dokumente werden in den aktuellsten Forschungsstand der Disability History eingefügt, und alle von den Bearbeitern ausgewählten archivalischen und publizistischen Quellen sind mit einem wissenschaftlichen Kommentar versehen. In den Kommentaren werden die Provenienz, Signifikanz und vielfach auch Ambivalenz des Materials für die Lebensrealitäten behinderter Menschen eingeordnet. Die Quellentexte sind teils komplett, teils in Ausschnitten übernommen. Kommentar und Quelle sind räumlich voneinander getrennt, aber durch eine Verlinkung verbunden. Hintergedanke war, sowohl eine Nähe von Quellenmaterial und Einordnung zu gewährleisten, aber auch ein framing zu vermeiden, sprich die Lesarten der Texte durch beistehende Anmerkungen bereits in eine bestimmte Richtung zu locken. Die Kommentare bieten jeweils Hinweise auf einschlägige Forschungsliteratur zum Weiterlesen. Damit eröffnet diese Form einer edierten Quellensammlung verschiedene Nutzungsmöglichkeiten. Denkbar sind sowohl ein

18 Die Dissertation von Bertold Scharf zur Zeitgeschichte der Arbeitswelten von Menschen mit Behinderungen in der DDR wird in derselben Reihe (Disability History, Campus-Verlag) erscheinen.

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close reading einzelner Texte, mit oder ohne nebenstehende fachwissenschaftliche Einordnung, wie auch größere Rechercheaufträge innerhalb der gesamten Datenbank. Diese Vielseitigkeit liegt insbesondere in der editorischen Auszeichnung der Quellen begründet. Durch die Verwendung der Text Grid-Software wurde die Tiefenstruktur der Primärtexte hervorgeholt. Diese vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte, speziell für geisteswissenschaftliche Bedarfe entwickelte virtuelle Forschungsumgebung wird auf absehbare Zeit die (deutsche) Standardsoftware bleiben. Ausgezeichnet wurden sowohl Orte, Institutionen, Personen wie auch Meta-Daten über den Editionsprozess. Eine derartige Referenzierung erlaubt Benutzer*innen nicht nur die Setzung regionaler Schwerpunkte, sondern auch Verbände oder Personen, auf die mehrfach verwiesen wird, wiederzufinden. So vermögen es die QGMB, Querverbindungen zwischen einzelnen Quellen zu stecken. Die bisher angelegte Auszeichnungsstruktur ist dabei auf eine sukzessive Erweiterung angelegt. Für die Benutzer*innen noch nicht sichtbar, wurden bereits zeitgenössische Begriffe, die für verschiedene Behinderungen verwendet wurden, referenziert. Prospektiv könnten anhand dieser Auszeichnungen im (hoch-)schulischen Unterricht Konzeptgenealogien nachvollzogen werden. QGMB ist hierbei stets auf Erweiterung angelegt und als permanente Ressource konzipiert. Im Rahmen der Auszeichnung wurden und werden alle Elemente über einen permanenten Link mit der Datenbank der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) verbunden. Die Quellensammlung ist mittlerweile im Text Grid Repository, dem Langzeitarchiv und der Generaldatenbank der mit XML/TEI referenzierten geisteswissenschaftlichen Editionen, publiziert. Grundsätzlich wurden gemeinfreie Dokumente mit einer Creative Commons-Lizenz versehen, die eine legale Weiterverwendung unter Angabe von Titel, Urheber und Fundort ermöglicht. Leider bleibt durch die nicht immer ermittelbare Rechtesituation oder eine vom ursprünglichen Rechteinhaber eventuell zurückgezogene Publikationserlaubnis die Gefahr nicht gebannt, dass Quellen auch wieder von der Datenbank entfernt werden. Um eine technische und editorische Nachhaltigkeit der Ressource zu ermöglichen, entwickelten Bertold Scharf und Jan Stoll zudem ein verbindliches Manual, die sogenannten Encoding Guidelines (Stoll/Scharf 2018), nach denen alle eingepflegten Quellen auszuzeichnen sind.

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Fallbeispiele 19: Forscherische Kommentierung als Einordnung und Einladung Was ist nun der Mehrwert der beiden zentralen Innovationen dieser Quellensammlung – ihrer fachhistorischen Kommentierung und ihrer Zusammenführung von Quellen behinderter und nichtbehinderter Menschen – für konkrete Unterrichtssituationen? Die schul- und hochschuldidaktischen Potentiale dieses Public HistoryWerkzeugs zeigen sich deutlich an bereits ausgezeichneten Beständen. Die Kommentare können im schulischen Bereich die Quellenauswertung durch Schüler*innen unterstützen, hinterfragen oder spiegeln: Unter dem Reiter „Interessenorganisation“ ist ein frühes Logo des 1958 gegründeten Eltern- und Expertenverbands Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V. gespeichert. Dieses in eine dunkle linke und eine helle rechte Seite geteilte Schwarzweißbild zeigt die Rückenansicht eines nach rechts gewandten jungen Mädchens, welches von der auf ihrem Rücken liegenden Hand eines erwachsenen Mannes im Anzug in die helle Bildhälfte geleitet wird.20 In Jan Stolls beistehender Analyse wird diese Ikonographie als Zeichen einer selbstgestellten fremdadvokatorischen Aufgabe der Lebenshilfe gedeutet, die vor allem in der Frühzeit darin bestand, geistig behinderten Kindern durch Lobbyarbeit eine (Sonder-)Schulbildung zu ermöglichen. Bildlich gesprochen sollten die behinderten Kinder durch die Lebenshilfe ins Licht geführt werden. Diesem Auftrag wohnte laut Stoll jedoch auch eine Fürsorgehierarchie gegenüber den Kindern inne; schließlich diskutierten vorrangig Expert*innen und Eltern darüber, ob, wie und in welchen Maße Bildungsangebote geschaffen werden sollten. Dabei beanspruchte diese Vereinigung stets eine Deutungshoheit über Kindeswohl und Kinderwillen (Stoll 2017, 128). Lehrer*innen hätten die Möglichkeit, die Schüler*innen zunächst selbstständig in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit die bevormundende Bildsprache herausarbeiten zu lassen. Stolls Kommentar könnte folgend als Musterlösung gezielt eingesetzt werden, um eine gegebenenfalls abweichende Interpretation einer Lerngruppe herauszufordern. Auch kann der Kommentar als Auftakt für größere Bildanalysen der Embleme von Verbänden und Organisationen dienen. So könnte etwa ein Langzeitvergleich mit den Logos integrativer ausgerichteter Elternverbände vorgenommen werden, die entgegen Teilen der Lebenshilfe die Auflösung besondernder Strukturen forderten. Ebenso erscheint auch eine Gegenüberstellung der Lebens-

19 Weitere Beispiele aus der Quellensammlung werden diskutiert bei Scharf/Rössel 2018. 20 Quelle und Kommentar sind abrufbar unter: http://qgmb.histosem.uni-kiel.de/ text.html?id=/xml/data/276b0.xml vom 31.03.2019.

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hilfe-Bilder mit Visualisierungen der bundesdeutschen Krüppelbewegung der späteren 1970er Jahre fruchtbar. Die wissenschaftliche Expertise bietet in diesem Fall einen didaktischen Impuls und unterfüttert als Sicherung bereits erarbeitete Ergebnisse der Schüler*innen. In anderen Fällen erlaubt es jedoch erst der forscherische Kommentar, auf den ersten Blick verborgene Bedeutungen und fundamentale Wandlungsprozesse aus einzelnen Dokumenten herauszulesen. Hier liegt das Potential für Lehrer*innen und Dozierende weniger in der Hinterfragung getroffener Schüler- oder Studierendenanalysen als eher in der analytischen Sichtbarmachung von Veränderungen längerer Dauer, die sich selten an einer plakativen Quelle zeigen. Wiederum sei ein Beispiel genannt: In einer offiziös gehaltenen Information vom 15.10.1975 ordnete der Verbandspräsident Eberhard Rosslenbroich gegenüber dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung an, den Deutschen Versehrtensportbund in Deutscher Behinderten-Sportverband e.V. umzubenennen.21 Dieses im Bundesarchiv Koblenz aufbewahrte, auf wenige Zeilen begrenzte Schreiben ist mehr als unscheinbar. Für nicht zur Geschichte behinderter Menschen in Deutschland forschende Fachhistoriker*innen, und damit erst recht für Schüler*innen und Studierende, ist die Quelle quasi nicht einzuordnen, weder ihre Gewordenheit noch ihre Wirkung sind verständlich. Nur dank Sebastian Schlunds Kommentar22 tritt die lange Vorgeschichte dieser Vollzugsmeldung hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es den (in der Regel männlichen) Kriegsversehrten, sich von sogenannten „Zivilbehinderten“ abzugrenzen und den „Dank des Vaterlandes“ auch in Form einer staatlich unterstützten Ermöglichung von Leibesübungen einzuklagen. Das Zusammenwirken der Faktoren Geschlecht, Art der Behinderung und Ursache der Behinderung beförderte gerade im Sport eine ausdifferenzierte Hierarchie, die nichtkriegsversehrte körperbehinderte Männer, körperbehinderte Frauen sowie insbesondere alle geistig behinderten Menschen schlechterstellte. Diese kodifizierte Dominanz bekam im Laufe der Zeit immer mehr Risse. Die QGMB bieten gerade zur Rolle kriegsversehrter Männer im Sport eine dichte Dokumentation. Sie umfasst Bilder sogenannter Versehrtensportfeste aus den 1950er Jahren wie auch Schreiben, aus denen hervorgeht23, dass die steuerliche Bevorzugung von Kriegsversehrten bei

21 http://qgmb.histosem.uni-kiel.de/text.html?id=/xml/data/2r58n.xml vom 31.03.2019. 22 http://qgmb.histosem.uni-kiel.de/text.html?id=/xml/data/2r58p.xml vom 31.03.2019. Vgl. auch Sebastian Schlunds Beitrag in diesem Band. 23 So etwa im Schreiben des Präsidenten der Versehrtengemeinschaft Bonn an den Regierungsdirektor im Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (7.9.1971), http://qgmb.histosem.uni-kiel.de/text.html?id=/xml/data/2r58b.xml vom 31.03.2019.

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der Abrechnung sportlicher Veranstaltungen lokal ausgenutzt wurde und bei Behindertensportvereinen zur Anhäufung sogenannter „Karteileichen“ führte. Versuche der namentlichen Integration aller behinderter Menschen in einen Dachverband waren erst 1975 erfolgreich, was laut Schlund einem Generationswechsel gleichkam. Erst nach und nach schwand die Dominanz männlicher Kriegsversehrter im Behindertensport, auf Funktionärsebene bestand sie noch deutlich über 1975 hinaus. Diese ostentativ bürokratische Notiz ist somit ein entscheidender Wendepunkt in Debatten der Selbstdefinition und Hierarchisierungspraktiken innerhalb des Sportes behinderter Menschen in Westdeutschland. Gerade anhand dieses Beispiels wird ein Mehrwert der fachwissenschaftlichen Disability History-Expertise für (hoch-)schulische Lehre ersichtlich. Die Kommentierung leistet hier keine ergänzende Einordnung, sondern schlüsselt komplexe Prozesse auf, die nicht allein anhand individueller Quellen verstehbar sind. Schülerinnen und Schüler, und auch Studierende, können durch eine Kontextualisierung im vorgestellten Falle auf die Fährte von Binnendifferenzierungen, Selbstund Fremdbildern auch unter Menschen mit Behinderungen gebracht werden. Kriegsversehrte Männer deuteten ihre körperlichen Beeinträchtigungen als Resultat ihrer persönlichen Aufopferung im Militärdienst und leiteten aus dieser moralische Verantwortlichkeiten des Staates ab. So wird ein Schlaglicht darauf gelegt, dass die Lebenslagen, Handlungsrahmen und auch die politischen Rhetoriken von Menschen mit Behinderungen nach 1945 höchst unterschiedlich waren. Somit wird auch einer weiteren Homogenisierung vorgebeugt, die gerade bei der seltenen Thematisierung von Disability-Themen im Geschichtsunterricht und der auch heute noch in der Öffentlichkeit verbreiteten Verwendung von Kollektivsingularen für Menschen mit Behinderungen droht. Einer ähnlichen Sichtbarmachung und Einordnung bedürfen Dokumente, die Teil standardisierter und geschlossener Kommunikationssysteme sind. Hierbei soll ein Beispiel aus den Arbeitsverhältnissen behinderter Menschen in der DDR gegeben werden, genauer aus einer Anfrage des Zentralvorstandes des Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verbands der DDR an das Ministerium für Gesundheitswesen vom 14. Mai 1980.24 In der Eingabe beschwerte sich Verbandssekretär Siebert darüber, dass Menschen mit Hörbehinderungen, zeitgenössisch „Hörgeschädigte“, die Schlosser-Ausbildung verweigert wurde. Er verwies darauf, dass auf Ministerialbestrebungen Menschen mit Hörbeeinträchtigungen nun in lärmintensiven Umgebungen nicht mehr eingesetzt werden sollten. Dies sei mit Hinweis auf mögliche Folgeschäden für die verbleibende Hörfähigkeit begründet worden. Sie-

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bert betonte, dass auch der Verband nicht wolle, dass Lärm organische Beeinträchtigungen verschärfe. Jedoch stellte er fest, dass gerade vor dem Hintergrund des nahenden „Internationalen Jahres der Geschädigten 1981“, wie das „Internationale Jahr der Behinderten“ der Vereinten Nationen in der DDR genannt wurde, eine Einschränkung der Berufswahl durch den Ausschluss hörbehinderter Menschen von zeitgenössisch durchaus attraktiven Industrieberufen ein falsches Signal senden würde. Menschen mit Hörbehinderungen wurden in sogenannten Rehabilitationszentren ohnehin nur in sehr wenigen, exakt 25 Berufsgruppen ausgebildet. Einer weiteren Verknappung widersprach Siebert daher. Die Bestrebungen müssten laut ihm vielmehr dahingehen, die zur Verfügung stehenden Berufsfelder zu erweitern. Durch Bertold Scharfs Kommentar25 werden schnell der standardisierte Charakter derartiger Eingaben und ihre geringe Wirksamkeit offensichtlich. So weist Scharf unter anderen darauf hin, dass der Gehörlosen- und Schwerhörigen-Verband der DDR ein von oben institutionalisierter Interessenverband war, dessen Protestmöglichkeiten enge Grenzen gesetzt waren. Dennoch gab es von verbandlich-selbstadvokatorischer Seite die Möglichkeit, auf Fehlentwicklungen zumindest sanft hinzuweisen. Zeitgleich gibt der Kommentar Einblick in die Verzahnung von staatlicher Lenkung, Interessenverbänden und der Berufsausbildung behinderter Menschen in Ostdeutschland. Auch dieser Kommentar kann verschieden eingesetzt werden. Im Geschichtsunterricht hilft er auch, die in Lehrplänen selten aufgegriffenen Kommunikationsstrukturen zwischen Staat und Zivilbevölkerung in der DDR transparenter zu machen. Erneut ist die fachwissenschaftliche Expertise eine Einordnungshilfe für Lehrer*innen und Schüler*innen. Man könnte eine derartige Kommentierung dafür kritisieren, dass sie auch selbst den Blick auf historische Lebenswelten behinderter Menschen verengt. Auswahl und Einordnung paradigmatischer Einzeldokumente verknappen das Panorama der Lebenswege behinderter Menschen auf generalisierte Forschungsergebnisse einzelner Akademiker*innen. Individuelle, gegebenenfalls abweichende Biographien oder Erfahrungen werden kaum bedacht. Dieser Kritik ist eine doppelte Antwort zu erteilen. Zugegebenermaßen erhebt die Präsentation eines autoritativen Kommentars stets einen Anspruch auf Deutungshoheit, der der geschichtswissenschaftlichen Forschung allerdings inhärent ist. Einerseits perpetuiert die gewählte Variante einer Edition hier selbstverständlich forscherische Narrative, ohne den Nutzer*innen die Möglichkeit zu Gegenstimmen und Nachfragen zu geben. Andererseits wird durch den niedrigschwelligen Wissenstransfer, wie

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ihn die QGMB bieten, eine breite Auseinandersetzung mit Forschungsthesen auch erst ermöglicht. Ein Zugang zur Teilhabe an Disability History wird einer breiten Öffentlichkeit jedoch nicht nur im Bereich der Thesen einzelner Projekte zur Geschichte behinderter Menschen gegeben. Weitergehend können theoretische Diskussionen innerhalb des Fachs aufgearbeitet werden, wie ein finales Fallbeispiel zeigt. Im Jahr 1970 eröffnete die Journalistin Hanne Schreiner in ihrem Welt-Artikel „Frauenarbeit und Behinderung“ arbeitsmarktliche Zusammenhänge von Behinderung und Geschlecht.26 Schreiner dokumentierte, dass die Verteilung von Um- und Weiterschulungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland sehr ungleich verlief. Wie zum Beispiel Elsbeth Bösl herausgestellt hat, war die bundesdeutsche Behindertenpolitik bis weit in die 1970er Jahre an einem Erwerbsarbeitsparadigma orientiert (Bösl 2009, 345). Politische Stichworte wie „Arbeit vor Rente“ machen deutlich, dass rehabilitative Maßnahmen und Förderprogramme zunächst ausschließlich und später vorrangig darauf angelegt waren, Arbeitskraft (wieder-)herzustellen. Die Orientierung staatlicher Leistung an Arbeitskraft hierarchisierte Menschen mit Behinderungen nicht nur entlang der Behinderungsform und der damit verbundenen (angenommenen) Möglichkeiten, an Erwerbstätigkeit zu partizipieren. Mit der Aufwertung von Erwerbstätigkeit wurden auch geschlechtliche Verteilungsdynamiken aufgerufen, wie Schreiner beobachtete. Frauen mit Behinderungen wurden nicht nur, so Schreiner, deutlich seltener Umschulungen angeboten, sondern sie wurden primär auf hauswirtschaftliche Berufe umgeschult. Diese Stellen schätzte die Autorin als wenig zukunftsträchtig ein, und sie boten laut ihr auch kaum Aufstiegschancen. Sie stellte weiterhin heraus, dass Männer in der Regel einen privilegierteren Zugang zu moderneren Weiterbildungsstätten hatten, während Frauen in maroden Gebäuden untergebracht wurden. Exklusionsprozesse berufstätiger (körper-)behinderter Frauen fußen hierbei auf der Interaktion mehrerer Ungleichheitskategorien. Das heißt: Die von Schreiner beobachteten Hierarchisierungen in der Verteilung von Umschulungsmaßnahmen lassen sich nicht allein mit Ableismus oder Sexismus erklären. Erst durch das Zusammenwirken von Geschlechts- und Behinderungsordnungen entstanden spezifische Zuweisungen an körperbehinderte Frauen. Es handelt sich daher nicht um eine verdoppelte, auch „additiv“ genannte Form der Diskriminierung, sondern eine spezifische Lebenslage erwerbstätiger körperbehinderter Frauen in Westdeutschland. Um den Blick für solche Interaktionen von Identitätskategorien bei

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Schüler*innen zu schärfen, hilft die Kommentierung, in diesem Fall durch Raphael Rössel.27 Insgesamt vereinfacht es die Kombination von archivierten Quellen und wissenschaftlichen Kommentaren, die Verschränkungen von Behinderungsphänomenen mit weiteren Vektoren sozialer Ungleichheiten sichtbar zu machen. Die QGMB bieten daher einen Beitrag zu intersektionalen28 Perspektiven der Public Disability History. Des Weiteren hilft sie, diese intersections ins Zentrum historischen Lernens in der Schule zu rücken. Der Analyse dieser Knotenpunkte gesellschaftlicher Differenz wurde bis vor kurzem auch von Seiten des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands e.V. nur eine randständige Position eingeräumt. Gerade bei vormals aus Curriculum und Geschichtskultur ausgeschlossenen oder unterrepräsentierten Themen wie Disability kommt der Fachwissenschaft eine immense Orientierungsfunktion für Lehrer*innen zu. Eine Betrachtung von Intersektionalität und/oder Disability verweist häufig auf Prozesse, die quer zu den in Lehrplan und Schulbüchern entfalteten master narratives liegen oder diesen sogar entgegenstehen. Wie der Berliner Geschichtsdidaktiker Martin Lücke betont, kommen Geschichtslehrer*innen in diesen Fällen ihre jahrelang geschulten fachwissenschaftlichen Kompetenzen zugute, um den Wert neuer Theorien vermitteln zu können (Lücke 2012, 145-146). Die QGMB-Datenbank unterstützt sie dabei, indem sie quellenbasiert Konzepte wie Intersektionalität erklärt, anwendet und ihren analytischen Mehrwert einordnet (vgl. Wolter 2016, 127). Zweifellos ist immer zu fragen, inwieweit theoretische und methodische Konzepte der Fachwissenschaft, die selbst vielfach verästelte Theorieprojekte in sich tragen und auf lange fachliche und gesellschaftliche Verständigungsprozesse verweisen, in der Seminarpraxis und sogar im schulischen Bereich Anwendung finden können. Wann, wo und in welcher Lerngruppe fruchtbar über Intersektionalität diskutiert werden kann, bleibt freilich der Einschätzung der Lehrkraft überlassen. Diese vier Fallbeispiele zeigen jeweils den Mehrwert der Kombination einer breiten Quellenauswahl mit der fachwissenschaftlichen Kommentierung. Er liegt zusammengefasst auf drei Ebenen: Erstens besteht die Möglichkeit, studentische und schulische Analysen einzelner Quellen durch den Kommentar zu erweitern, zu hinterfragen oder zu verstetigen. Die Kommentare fungieren in diesen Fällen

27 http://qgmb.histosem.uni-kiel.de/text.html?id=/xml/data/3q13z.xml vom 31.03.2019. 28 Siehe ausführlich die Beiträge von Swantje Köbsell und Sebastian Schlund in diesem Sammelband. Vgl. zu Disability History und intersektionalen Perspektiven auch Lingelbach 2018.

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als didaktische Impulse. Zweitens kann die wissenschaftliche Einordnung die Gewordenheit und die Signifikanz zunächst unscheinbarer Verwaltungsakte herausstellen. Schülerinnen und Schüler bekommen somit auch ein Gefühl für die Tiefenstruktur standardisierter Texte. Dies ist besonders wichtig bei Kommunikationspraxen, die sich deutlich von gegenwärtigen unterscheiden. Drittens kann es mit dieser Datenbank gelingen, aktuellste Theoriediskussionen, wie die Frage einer intersektionalen Wende der Disability History, weitestgehend jargonfrei und vor allem ohne die bisher übliche Verzögerungszeit in Klassenzimmern und Hörsälen bekannt zu machen. Insgesamt popularisieren die QGMB fachliche Grundsatzfragen und erlauben eine feinere Verzahnung von akademischer Disability History mit (hoch-)schulischer Lehre. Die in der Quellenedition archivierten Dokumente zeichnen sich durch ihre in Deutschland bisher so nicht gegebene Vielstimmigkeit aus. Beiträge stammen aus Gesetzesblättern, von Soziologen, Aktivistinnen, Funktionären, kritischen Pädagogen und Journalistinnen, aber auch aus dem Privatleben (nicht-)behinderter Personen. Alle diese Gruppen waren an der Formulierung, Aufrechterhaltung, aber auch Hinterfragung und Dekonstruktion von Exklusionsimperativen und Stereotypen beteiligt. Die Bedeutungen der Dokumente gehen dabei über die Lebenswelten behinderter Menschen hinaus. Gerade wenn man die Begriffspaare Behinderung und Nichtbehinderung bzw. Disability und Ability nicht als Gegensätze, sondern als Relationierungen, quasi als zwei Seiten einer Medaille sieht (vgl. Waldschmidt 2017), bleibt diese Polyphonie unabdingbar. Die Zuschreibungen von Nichtfähigkeiten und Bedürftigkeit an körperlich deviante Menschen stützen nicht zuletzt die (vermeintliche) Normalität der nichtbehinderten Akteure und brachten diese in gewisser Weise erst hervor. Die Verbindung der Quellen von nichtbehinderten und behinderten Menschen macht diese Abgrenzungen und Definitionskämpfe sichtbar. Dies beugt auch vor, Dis/ability-Phänomene zu verengen, sie der Mehrheitsgesellschaft als Probleme der vermeintlich „Anderen“ zu präsentieren, die nichtbehinderte Menschen nicht tangieren. Barrierefreiheit und Nutzungsweisen Abschließend sei auf einige ungelöste Fragen und bestehende Defizite hingewiesen. Die „Quellen zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen“ können das Versprechen der Barrierefreiheit bisher nur teilweise einlösen. Alle Quellen sind technisch auslesbar konzipiert. Eine zentrale Problemstellung konnte bisher allerdings nicht gelöst werden: Eine Variante der Quellen in „Leichter Sprache“ ist bisher nicht eingerichtet. Reflexionen der Public Disability History über die Frage der Übersetzbarkeit historischer Quellen in „Leichte Sprache“ stehen noch aus,

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ein Desiderat, dem dringend Abhilfe geschaffen werden muss. Auch gebärdensprachliche Übersetzungen von Quellen und Kommentaren fehlen bisher. Wie Gebärden etwa in Videoform mit Gewinn innerhalb einer Edition eingesetzt werden können, präsentierte nicht nur die 2019 aktivierte niederländische Archivdatenbank „displace.nl“. Es gibt allerdings auch Aspekte, die bei der Projektplanung schlicht unbedacht blieben. Ein solcher Punkt sind fehlende Möglichkeiten der Rückmeldung durch Nutzer*innen beziehungsweise nicht vorhandene Kommentarfunktionen. Auf der einen Seite ist dies bedauerlich, da eine Interaktion zwischen Forscher*innen und Nutzer*innen nicht geben ist. Allerdings sind auch ganz praktische Vorbehalte einzugestehen. Rückmeldungen müssen bearbeitet werden und bedeuten eine Mehrbelastung der Betreiber*innen, zusätzlich zur generellen Pflege, Transkription, Auszeichnung und Kommentierung der Quellen und der oft komplizierten Rechteeinholung. Die QGMB sind, wie ähnliche Editionen und Datenbanken, die einen Public History-Aspekt hervorheben, ein digitales Artefakt dezidiert fachwissenschaftlicher Projekte. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreuen diese Produkte in der Regel neben ihrer Forschung. Die Entwicklung der präsentierten Datenbank führte auch immer wieder vor Augen, dass die Pflege und Erweiterung der Plattform durchaus größeren Aufwand bedeuten. Dieses Missverhältnis wird der, auch durch diesen Sammelband belegten, immensen Bedeutung dieser Pionierarbeit bei der Verzahnung von Forschung und Öffentlichkeit nicht gerecht. Um Public (Disability) History zu verstetigen, dürfen derartige Datenbanken zukünftig keine Antragsornamente und Nebenprodukte mehr sein, sondern müssen von vorneherein als eigenständige (Teil-)Projekte konzipiert werden. Die fehlende Interaktion mit Nutzer*innen hat weitere Nachteile, es besteht nämlich auch keine Möglichkeit zur Dokumentation der Nutzungsweisen. Weder Lehrer*innen, Schüler*innen noch Studierenden ist es bisher möglich, auf der Seite selbst rückzumelden, wie sie die Sammlung benutzt haben und welche Projekte durch die QGMB ermöglicht wurden. Dass eine digitale Rückmeldefunktion durchaus lohnend sein kann, zeigte zuletzt der Blog „Dis/ability History als Lehrund Lerngegenstand“ der Bremer Historikerin Frederike Fürst.29 In dieser Ressource sind die Produkte einzelner Projektseminare in Form studentischer Videos zusammengestellt. Die Videos, die Seminarergebnisse konzise bündeln, sind dabei an Schüler*innen und die breite Öffentlichkeit gerichtet, womit Forschung,

29 https://blogs.uni-bremen.de/disabilityhistorylehrlerngegenstand/

vom

31.03.2019.

Siehe auch die Beiträge von Frederike Fürst und Nane Kleymannn sowie von Sabine Horn und Natascha Korff in diesem Band.

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akademische Lehre und schulischer Geschichtsunterricht in eine interaktive Beziehung gesetzt werden. Eine derartige reziproke Zusammenführung steht für die QGMB noch aus.

FAZIT: ZUSAMMEN, WAS ZUSAMMENGEHÖRT ODER REIFIZIERTE DOMINANZVERHÄLTNISSE? Die Produktion von Wissen über die Geschichte von Menschen mit Behinderungen ist geknüpft an Quellen und ihre Zugänglichkeit. Diese lagen und liegen vielfach in für Menschen mit Behinderungen nur schwer zugänglichen Depositorien. Die Aufbereitung von Quellen ruft somit immer auch Fragen von Macht auf. Die vorgestellte Quellensammlung ist ein Produkt der akademischen Disability History, die paradigmatische Dokumente der Lebenslagen behinderter Menschen in zwei deutschen Gesellschaften sammelt, textlich auswertet, kommentiert und für schulischen und akademischen Unterricht zur Verfügung stellt. Welche Dokumenttypen und Überlieferungsstränge auszuwählen sind, war im Entstehungsprozess ein zentraler Fragepunkt. Während der Großteil bisheriger Angebote in der Regel aus aktivistischen Überlegungen gespeist ist, die zuvor ungehörten und überhörten Stimmen behinderter Menschen der Öffentlichkeit zu präsentieren, gehen die QGMB noch einen Schritt weiter. Indem aus verschiedenen Themenkomplexen Schriftstücke sowohl behinderter als auch nichtbehinderter Akteure zusammengefasst werden, können Handlungsspielräume schlicht besser eingeordnet werden. Um die Entstehung und Auflösung von Exklusionsmechanismen anschaulich zeigen zu können, müssen diese als komplexe Aushandlungsprozesse verstanden werden. Und die Handlungsmöglichkeiten, die behinderten Menschen dabei offenstanden, so zeigen die QGMB, waren eben nicht immer fremdbestimmt. Durch diese Verbindung wird die Annahme einer vermeintlich historisch konstanten Machtlosigkeit behinderter Menschen antizipiert und entkräftet. Wenn sich zum Beispiel kriegsversehrte Männer wehrten, ihre Hegemonie im Sportbereich gegenüber körperbehinderten Frauen aufzugeben, oder auf ihrem „Aufopferungstatbestand“ pochten, wenn sie dem Bundeskanzler Vorschläge zur Besetzung der Schlüsselpositionen der Landesversorgungsämter diktierten, agierten sie durchaus machtvoll. Der größte Vorteil dieser Zusammenführung besteht kurzum darin, Behinderungsphänomene als In- und Exklusionsprozesse in ihrer Prozessualität für die Öffentlichkeit besser ausbreiten zu können und sich wandelnde Handlungsspielräume feiner darzustellen, als es bisherige Sammlungen vermögen.

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Die Edition soll daher Anreize bieten, möglichst häufig und in unterschiedlicher Intensität eingesetzt zu werden. Die Kombination aus transkribierten Dokumenten, Kommentaren und Auslesungen erlaubt es Lehrer*innen und Dozent*innen, die Datenbank passgenau zu verwenden. Die „Quellen zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen“ weisen aber auch auf ungelöste Herausforderungen hin. Besonders die Frage, wie Quelleneditionen noch inklusiver, vor allem auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten und/oder geistigen Behinderungen, werden können, harrt ihrer Beantwortung. Entstehende Forschungsprojekte versprechen hier Grundlagenarbeit. Es bleibt zentral, dass der Gebrauch kommentierter digitaler Quellensammlungen einer didaktischen Reflexion unterzogen wird (eine erste Orientierung bietet Kreutz 2019). Der zentralere Transferprozess der Ergebnisse der fachwissenschaftlichen Disability History in die Public (Disability) History und die Geschichtsdidaktik besteht – neben der Auswahl sowie dem Transkriptions- und Editionsprozess – in der Kommentierung der einzelnen Quellen. Im Anschluss an Reaume kann hier wieder nach den Implikationen einer solchen Kommentierung für die Deutungshoheit über die Geschichte behinderter Menschen gefragt werden, da die Kommentare stets eine bestimmte Lesart der entsprechenden Quelle nahelegen. Die versammelten Wissenschaftler*innen, die als Kommentator*innen auftreten, hegen zweifellos einen Anspruch auf Deutungshoheit, der jeder Heuristik innewohnt. Anders als Reaume der Akademie vorwirft, verschwinden die in den QGMB veröffentlichten Darlegungen aber nicht in den für die breite Öffentlichkeit unzugänglichen, unattraktiven oder schwer erreichbaren Fachzeitschriften und Monographien, sondern können über den Weg der schulischen und akademischen Lehre breitere Zuhörerschaften ansprechen und für diese in Deutschland immer noch junge Forschungsrichtung begeistern. Public Disability History ist mithin ein Weg, die bei Reaume befürchtete doppelte Ausbeutung behinderter Menschen zu verhüten und die Geschichtskultur inklusiver zu machen.

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Agency von Objekten der Psychiatriegeschichte – Was Dinge für das Lehramtsstudium leisten können Bettina Degner, Ralph Höger

Für Studierende des Lehramts sind Seminare zur Inklusion in den Bildungswissenschaften und in den Fächern zur Pflicht geworden, um sie gezielt auf Unterricht in heterogenen Klassen vorzubereiten. In dem diesem Beitrag zugrunde gelegten Seminar wurden angehende Geschichtslehrer*innen an fachliche Zugänge zur Inklusion herangeführt, indem sie sich in ein Teilgebiet der Disability History, nämlich die Psychiatriegeschichte, eingearbeitet haben. Dies geschah am Beispiel einer konkreten psychiatrischen Anstalt durch eine spezifische Zugangsweise über Objekte aus der Psychiatrie. Das Ziel des Seminars war produktionsorientiert: Die Studierenden vermittelten ihr erarbeitetes Wissen in Form von Fachblogbeiträgen, die im Januar 2019 veröffentlicht wurden.1 Das Seminarkonzept war somit einerseits darauf ausgelegt, Inklusion fachlich zu denken und andererseits auf ein innovatives Vermittlungsformat – einen Blogbeitrag – zu fokussieren. Als historisches Beispiel wurde die 1857 als „Kreisirrenanstalt Klingenmünster“ gegründete, randständig in einem ländlichen Gebiet in der Pfalz liegende Einrichtung gewählt. Heute führt sie nach mehreren Namenswechseln den Namen Pfalzklinikum für Psychiatrie und Neurologie (Beyer 2009). Die psychiatrische Einrichtung stellt sich in einer aktiven Gedenkarbeit ihrer Geschichte – auch und gerade in der Aufarbeitung ihrer Rolle als NS-Psychiatrie.2 Durch die Sammlung und Bereitstellung von bis dahin wissenschaftlich unbearbeiteten Objekten durch

1

https://www.public-disabilityhistory.org/2019/01/a-history-of-psychiatry-in-objects. html vom 11.03.2019.

2

https://www.pfalzklinikum.de/ueber-uns/geschichte/gedenkarbeit/ vom 11.03.2019.

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einen Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin des Hauses3 wurde es möglich, unterschiedliche Gegenstände zu erforschen, wobei einige nur ungefähr datierbar waren: Es handelte sich um eine Dienstanweisung aus dem Jahr 1903, eine Krankenakte aus der NS-Zeit, Schlüssel aus den 1950er und 1960er Jahren, Baupläne der Kinder- und Jugendpsychiatrie von 1969, einen von Patient*innen gewebten Teppich aus den 1970er Jahren, Dienstkleidung von Pflegerinnen aus der Zeit zwischen 1973 und 1998 sowie Fixiergurte und Injektionsnadeln. Abbildung 1: Fixiergurte aus dem Pfalzklinikum für Psychiatrie und Neurologie Klingenmünster (undatiert)

Quelle: © Pfalzklinikum Klingenmünster

Die Herangehensweise über die Disability History gab den Studierenden die Möglichkeit, sich am Beispiel der Anstaltspsychiatrie mit Vorgängen der Stigmatisierung und Exklusion auseinanderzusetzen, und sollte sichtbar machen, wie Menschen (an Klingenmünster auch geographisch greifbar) an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden und unter Bedingungen der Marginalisierungen ihren Alltag gestalten. Der Umgang mit psychiatrischen Erkrankungen ist immer noch ein

3

Dank sei hier ausdrücklich ausgesprochen an Andreas Dietz, der im Gedenkausschuss des Hauses aktiv ist, und Christel Flory, eine langjährige Labormitarbeiterin, die eigeninitiativ die Objekte zusammengetragen hat und als Zeitzeugin zur Verfügung stand.

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Tabuthema, dem mit einer gewissen Sprachlosigkeit begegnet wird. So sind auch die untersuchten Objekte zunächst befremdend und deren Anblick zum Teil angstauslösend. Die Herangehensweise über die Objekte ermöglichte eine Annäherung ohne vorschnelle Zuschreibungen und Täter-Opfer-Konstellationen. Der Blick auf die Agency der Objekte (d.i. Handlungsfähigkeit der Dinge) zeigte, dass es auch in exkludierenden Kontexten zahlreiche Handlungsspielräume gibt, die sich konstituieren und die veränderbar sind. So konnte konkret gefragt werden, inwiefern die Objekte an der Konstruktion von Kategorien wie „Behinderung“, „Gesundheit“ und „Krankheit“, „Abweichung“ und „Normalität“ beteiligt waren und wie sie soziale Handlungsräume modifizierten. Damit sollte essentialistischen Sichtweisen entgegengearbeitet werden. Gleichzeitig sollten die aus den unterschiedlichen möglichen Objektnutzungen erwachsenden Mehrdeutigkeiten in Prozessen der Inklusion und Exklusion sichtbar gemacht werden. Im Folgenden sollen zunächst die theoretischen Prämissen der Lehrveranstaltung erläutert werden. Diese bestehen in dem geschichtswissenschaftlichen Forschungsbereich Disability History mit dem Schwerpunkt Psychiatriegeschichte sowie in den interdisziplinären Zugängen zur Erforschung der materiellen Kultur. Dann soll ein problemorientierter Blick auf das Seminarkonzept geworfen werden, indem die Vermittlungsform Fachblog sowie die didaktischen Potentiale und Schwierigkeiten des Objektzugriffs thematisiert werden. Abschließend werden das Seminarkonzept in der geschichtsdidaktischen Inklusionsdebatte verankert und erste Überlegungen dazu formuliert, welche Potentiale dieser spezifische Objektzugriff der Disability History im Kontext schulischen historischen Lernens hat.

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Abbildung 2: Die Dienstanweisung (1903) für Pflegekräfte wurde bei Einstellung vom Anstaltsleiter übergeben und musste am Ende der Dienstzeit zurückgegeben werden. Sie ersetzte die nicht stattfindende Ausbildung, indem sie die Dienstaufgaben definierte.

Quelle: © Pfalzklinikum Klingenmünster

THEORETISCHE GRUNDLAGEN DER LEHRVERANSTALTUNG Für die Auseinandersetzung mit den historischen Objekten aus dem Kontext der Anstaltspsychiatrie wurde auf zwei Forschungsfelder fokussiert: Disability History als Teilgebiet der Geschichtswissenschaft und die Material Culture Studies, die unterschiedliche Disziplinen einschließen, ursprünglich in der Ethnologie beheimatet waren, sich aber mittlerweile nach dem material turn auch in der Geschichtswissenschaft einiger Beliebtheit erfreuen (Knoll 2014). Im Folgenden sollen kurz ausgewählte theoretische Prämissen beider Ansätze vorgestellt werden, die für die Lehrveranstaltung relevant erschienen. Ziel der Lehrveranstaltung war es, Inklusions- und Exklusionsprozesse anhand der historischen Objekte sichtbar

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zu machen. Gleichzeitig wurde danach gefragt, inwiefern Dinge und der Gebrauch von Objekten an der Konstruktion von Kategorien wie „Behinderung“, „Gesundheit“ und „Krankheit“, „Abweichung“ und „Normalität“ beteiligt waren und wie sie soziale Handlungsräume modifizierten. Disability History als relativ junges Forschungsfeld beschäftigt sich mit historischen Prozessen der Konstruktion von Behinderung. In Abkehr zum medizinischen Modell, das Behinderung als individuelles Defizit begreift, wird die Kategorie „Behinderung“ in der Disability History als ein sozio-kulturelles Konstrukt begriffen, das seinen Ursprung und Ausgangsort in einer spezifischen gesellschaftlichen Ordnung hat. Kulturelle Praktiken, sprachliche Konventionen, mediale Repräsentationsformen und spezifische Institutionen bringen das „Abweichende“ und die „Behinderung“ erst hervor (Bösl 2010, 31-33). Im Hinblick auf die Heterogenität des Phänomens vermag die Disability History eine allgemeine, klar umrissene Definition von „Behinderung“ nicht zu geben, auch eine klare Abgrenzung zu anderen Kategorien wie „Krankheit“ oder „Alter“ lässt sich kaum bestimmen. Vielmehr gibt es zahlreiche Überschneidungen und fluide Grenzbereiche (Lingelbach 2019, 8-9). Über die Bestimmung von „Abweichung“ wird auch das „Normale“ hergestellt. Beide Kategorien bedingen einander und bestimmen sich gegenseitig. „Behinderung“ ist also nie eindeutig oder homogen, sondern kann nur aus diesem Wechselspiel verstanden werden. Aussagen über „Behinderung“ zeigen somit immer auch gesamtgesellschaftliche Ordnungen an (Waldschmidt/Bösl 2017, 46). Für den Fall der Psychiatrie ist es beispielsweise das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massiv ausgebaute Anstaltswesen (Brink 2010, 17), das maßgeblichen Anteil an der Herstellung psychiatrischer „Abweichung“ hatte. Gleichzeitig war die Sichtbarwerdung der „Irrenfrage“ eine Folge gesamtgesellschaftlicher Wandlungsprozesse, die durch die Industrialisierung angestoßen worden waren (Dörner 1995, VII). Im Anschluss an das kulturelle Modell von „Behinderung“ in der Disability History ging es uns im Seminar aber auch um den Blick auf die Alltäglichkeit und lebensweltliche Erfahrung von dis/ability (Waldschmidt/Bösl 2017, 45). Für einen solchen mikrohistorischen Blick eignen sich die (Alltags-)Gegenstände aus der Anstalt besonders. Der objektgeschichtliche Zugang und die Beschäftigung mit den Dingen in ihrer Ambivalenz und Mehrdeutigkeit (siehe unten) tragen zudem zur geforderten Verkomplizierung vereinfachender, teleologischer Ausgrenzungsnarrative bei (Waldschmidt/Bösl 2017, 47). Im Blick auf Inklusions- und Exklusionsprozesse verdeutlicht die Perspektive der Disability History, dass Kategorien wie „Behinderung“ oder „Krankheit“ Teil eines historisch wandelbaren Arrangements grenzziehender Praktiken sind. Der

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Fokus auf Grenzziehungen wird für den Fall der Psychiatrie im für die Lehrveranstaltung gewählten Kontext der Institution Anstalt nochmals verschärft. Die Anstalten mit ihren Mauern, verschlossenen Türen und Fixier- und Isoliermitteln deuten bereits die Materialität der Exklusion an, die wir betonen wollten. In diesem Zusammenhang war Cornelia Brinks Ansatz, die Schwellenräume der Anstalt genauer zu untersuchen, sehr fruchtbar. Wie können die unterschiedlichen Schwellenaspekte, medizinisch-rechtliche, epistemologische und symbolische (Brink 2010, 22-26), sichtbar gemacht werden? In Abkehr vom sozialen Modell, das gesellschaftliche Großentwicklungen in den Blick nimmt und Konzepte wie den Sozialstaat, Wohlfahrtsinstitutionen und Industrialisierungseffekte fokussiert, haben die Konstruktionen von „Behinderung“ und „Anormalität“ auch eine kulturelle und alltägliche Dimension (Bösl 2010, 31-33). „Behinderungen“ werden in Alltagssituationen immer wieder neu ausgehandelt und hergestellt. Um diese alltäglichen Ein- und Ausschlüsse anhand der vorhandenen Objekte schärfer zu fokussieren, erschien das Forschungsfeld der materiellen Kultur als naheliegend. Materialitäten und insbesondere die „Dinglichkeit der sozialen Welt“ haben in den letzten Jahren in zahlreichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsbeiträgen eine besondere Aufmerksamkeit erfahren (Kalthoff et al. 2016, 11).4 Damit einher ging eine perspektivische Öffnung des Materialitätsverständnisses. Besonders spannend für den Seminarkontext war dabei die Verschiebung von der Beschäftigung mit Dingen allein hin zur Analyse des Verhältnisses von Materialität und Sozialität. Objekte rahmen soziales Handeln und werden gleichzeitig von sozialen Praxisgefügen in ihrer Funktion bestimmt. Dabei werden Sozialität und Materialität nicht als strikte Dichotomie gesehen, sondern als offenes Kontinuum, bei der es zahlreiche Übergangsformen und Hybridisierungen gibt. Kalthoff, Cress und Röhl sprechen deshalb von einer verflochtenen „Sozio-Materialität“, die sie in Anlehnung an Heidegger als eine „unhintergehbare Einbettung menschlichen Seins, Handelns und Wirkens in eine materiell konstituierte und materiell heterogene Umwelt“ konzipieren (Kalthoff et al. 2016, 26-27). Zentral für den Seminarkontext war der Fokus auf das „Handeln mit Objekten und Handeln durch Objekte“ (Kalthoff et al. 2016, 12). Daran anknüpfend stand für uns die Frage im Mittelpunkt, wie die Psychiatrieobjekte soziale Beziehungen regulierten, Rollen zuwiesen und Handlungen ermöglichten.

4

Vgl. dazu auch den Beitrag von Mareike Heide in diesem Band.

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Die Forschungsgegenstände der materiellen Kultur werden auf viele Weisen bezeichnet. Sie können als Dinge, Objekte, Sachen, Artefakte oder Zeug beschrieben werden. Jede Bezeichnung hat eine etwas andere Ausrichtung und Konnotation. Während der Artefakt-Begriff das Hergestelltsein fokussiert, wird beim „Objekt“ eher die kulturelle Bedeutung herausgestellt (Ludwig 2011). Der Begriff „Zeug“ rückt die Gebrauchsfunktion und Dienlichkeit in den Mittelpunkt und die „Dinge“ fungieren als eine Art Überbegriff (Hahn 2014, 19-20). Letztendlich haben wir die Begriffe „Ding“ und „Objekt“ im Seminar synonym verwendet. Im engeren Sinne hatten wir es bei der Auswahl mit gemachten Dingen, also Artefakten, zu tun. Für die Analyse der Gegenstände aus Klingenmünster war uns aber vor allem im Hinblick auf die Perspektive der Disability History die kulturelle Funktion und Codierung wichtig. Für die Erforschung von Dingwelten gelten andere Regeln, als sie in den klassisch textbezogenen Geisteswissenschaften in der Regel gelehrt werden. Objekte sind nicht einfach im Vorhinein lesbar (Hahn 2014, 26.). Sie entziehen sich, anders als Texte, einer klaren Bedeutungszuordnung. Vielmehr liegt die Funktion eines Objekts häufig in seinem spezifischen Gebrauch begründet. Objektbedeutungen können also nie allein aus einem isolierten Objekt erschlossen werden. Die Bedeutung ist kontextabhängig (Hahn 2014, 24) und kann sich über die Zeit wandeln. Ein solcher historischer Wandel fand beispielsweise bei Schlüsseln in der Psychiatrie statt. Im 19. Jahrhundert und weit bis ins 20. Jahrhundert herrschte hier noch vielerorts eine rigide Politik der Einschließung. Martina Wernli beschreibt anhand einer schweizerischen Sammlung, wie sich die wahrgenommene Schlüsselbedeutung in zahlreichen von Patient*innen nachgebauten Schlüsseln materialisierte. Vielen gelang mit solchen selbstgemachten Objekten die Flucht (Wernli 2019). Seit etwa zehn Jahren spielen Schlüssel in Folge einer konsequenten Open-Door-Policy in vielen psychiatrischen Kliniken dagegen nur noch eine untergeordnete Rolle (Gather et al. 2017). Außerdem können Dinge zweckentfremdet werden oder neue, nicht intendierte Funktionsweisen eröffnen. Dinge sind mehrdeutig und widerständig (Kalthoff et al. 2016, 24). Sie können damit nie ganz verstanden werden, sondern verbleiben in einem eigentümlichen Schwebezustand (Hahn 2015, 56). Dinge verändern auch die Wahrnehmung der sozialen Welt, beispielsweise indem Kleidung als „soziale Haut“ bei Tragenden und Wahrnehmenden verschiedene Empfindungen auslöst (Hahn 2014, 29). Hier sei aus dem Seminarkontext die Dienstkleidung genannt, die bis zur Psychiatriereform nicht nur Patient*innen und Pflegepersonal deutlich unterschied, sondern auch Geschlechterrollen prägte. Diese Wahrnehmungsverschiebungen können sich bei manchen Objekten bis hin zu einer auratischen Wirkung steigern. Diese liegt aber nicht im Objekt selbst, sondern in den

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zugeschriebenen Eigenschaften begründet (Hahn 2015, 53). Die Erforschung der materiellen Kultur in ihrer Beziehung zum Menschen, so konzipiert es Hans Peter Hahn, ist insbesondere eine Erforschung der lebensweltlichen Wahrnehmungen. Diese sind komplex und letztlich unkontrollierbar. Um die „Botschaften der Dinge“ zu entschlüsseln, muss also zunächst beachtet werden, dass diese Botschaften nie fest, beständig oder eindeutig sind. Entscheidend ist zwar der soziale, institutionelle und kulturelle Kontext. Die Wahrnehmungsmöglichkeiten bleiben jedoch vielfältig und ambivalent (Hahn 2015, 44). Es ist sogar möglich, dass manche Dinge im jeweiligen Kontext überhaupt nicht wahrgenommen oder vernachlässigt wurden (Hahn 2015, 14-15). Neben diesem grundsätzlichen Defizit an Verstehensmöglichkeiten war für die verwendeten Objekte im Seminar auch eine genauere Bestimmung des Gebrauchskontextes schwierig, da die Objekte aus Klingenmünster teilweise nicht exakt datiert und auf einen bestimmten Kontext zurückgeführt werden konnten. Die Gegenstände waren mehr oder weniger zufällig erhalten geblieben. Als exploratives Verfahren und analytischer Zwischenschritt erschien deshalb Neil MacGregors Vorschlag des Imaginierens und Vorstellens von Objektbedeutungen und der damit verbundenen Lebenswelten reizvoll (MacGregor 2011, 15). Dieses Vorgehen, das sich nach MacGregor aus der Unlesbarkeit und der damit einhergehenden „notwendige[n] Poesie der Dinge“ ergebe, muss jedoch vorläufig bleiben und beinhaltet ebenso notwendigerweise die Gefahr des Irrens und Fehlgehens (MacGregor 2011, 26-27). Ein solches Vorgehen, das „phantasievoll und wissenschaftlich zugleich“ sein solle (MacGregor 2011, 17), führte jedoch auch zu Einspruch bei den Studierenden, die damit die Grundlage guten wissenschaftlichen Arbeitens verletzt sahen. Das große Potential der Dinge für historische Untersuchungen besteht dagegen gerade darin, dass sie nicht nur auf die Mächtigen, Sieger und durch überlieferte Schriftlichkeit privilegierten Gruppen in der Geschichte verweisen (MacGregor 2011, 17). Daneben bieten historische Objekte auch die Möglichkeit, eine Objektbiographie zu schreiben – also den Wandel der Objektnutzung über den Zeitverlauf nachzuvollziehen. Die Objekte transportieren über ihre kontextuellen Gebrauchsweisen auch soziale Welten mit. Mit dem Verschwinden bestimmter Dinge gehen auch deren soziale Umgebungen und spezifischen Handlungsmöglichkeiten verloren. Eine weitere Analyseperspektive aus der Dingforschung und materialistischen Theorien ist das Konzept der Agency – also die ermöglichende Handlungsmacht der Dinge. Diese Perspektive wurde insbesondere in der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour stark gemacht (Kalthoff et al. 2016, 17-19), kommt aber in verschiedenen Konzeptionierungen auch in anderen Neuen Materialismen

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vor.5 Latour plädiert für „eine längere Liste von Handlungskandidaten [Hervorhebung im Original, R.H.]“ und skizziert die Handlungsmacht der Dinge als eine Form der „Assoziation“ (Latour 2001, 109-110). Dinge können in Handlungsketten menschliche Funktionen übernehmen, an die Handlungen wie im Fall eines automatischen Türschließers delegiert werden können (Latour 1996, 67). Zentral für Latour ist das Konzept des (Handlungs-)Netzwerks, in dem zahlreiche Aktanten gemeinsam Handlungen vollziehen (Gertenbach/Laux 2019, 130-139). Das Konzept einer solchen in Mensch-Ding-Netzwerken entstehenden Handlungsmacht ist umstritten und gilt manchen Wissenschaftler*innen mittlerweile als entleert (Reicherz 2013). Für den Seminarkontext erschien der Rückgriff auf das Agency-Konzept dennoch gewinnbringend. In der Konzeption der ANT und anderer Neuer Materialismen wird die Handlungsmacht nicht mehr allein an menschlichem Handeln festgemacht, sondern als ein relationales, verteiltes Geschehen betrachtet. Indem der Handlungsbegriff ausgedehnt und gradualisiert wird, können auch nicht-menschliche Entitäten als wirkmächtige Teile im Handlungsprozess verstanden werden (Kalthoff et al. 2016, 19). Das Zustandekommen einer Handlung kann damit genauer untersucht werden. Für den Seminarkontext und die Frage nach in- und exklusiven Praktiken verstanden wir die Agency der Objekte als eine Form des Mit-Wirkens und Mit-Agierens von Objekten an der Ordnung der Anstalt (Majerus 2017b, 273) und damit an der Konstruktion von Kategorien wie „Behinderung“ oder „Anormalität“. Der Blick auf den Einfluss von Objekten in dem komplexen sozialen Gefüge in der Anstalt erschien auch deshalb interessant, da es in der Psychiatriegeschichte zahlreiche festgezurrte Vorstellungen über Arzt-, Wartpersonal- und Patientenrollen gibt, die es zu hinterfragen gilt. In der jüngeren Psychiatriegeschichte gibt es bereits einige Umsetzungen dieser Perspektive. Benoît Majerus hat die Funktion von Mauern, Betten, Tabletten (Majerus 2017a) und zuletzt auch Zwangsjacken (Majerus 2017b) in psychiatrischen Institutionen genauer untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass der Blick auf die materielle Kultur in den Anstalten dazu beiträgt, die bisher unsichtbar gebliebenen Konflikte, Rollenüberschneidungen, Widerstandsformen, fragilen Machtverteilungen und unerwarteten Handlungsmöglichkeiten der unterschiedlichen Akteur*innen innerhalb der Anstalten zu beleuchten (Majerus 2017a, 168). Die Objekte dienen ihm dann analytisch als Prisma, um die vielgestaltigen Beziehungsgeflechte in den Institutionen zu erhellen und die Fixierung der Psychiatriegeschichte auf ärztliches Handeln zu unterbrechen (Maje-

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Beispielsweise in Karen Barads „Agentiellem Realismus“ (Barad 2012) oder Jane Bennetts „Enchanted Materialism“ (Bennett 2001).

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rus 2017b, 272). In diesem Sinne gebrauchten wir für den Seminarkontext die Begriffswendung „vom Objekt aus denken“. Mit dieser Blickrichtungsumkehr sollten nicht nur die verschiedenen Rahmungen des Handelns in der Anstalt durch Objekte deutlicher, sondern auch die klaren Dichotomisierungen in Handelnde und Behandelte in Frage gestellt werden. Monika Ankele hat sich intensiver mit der Rolle der Krankenbetten in der Psychiatrie auseinandergesetzt. Sie zeigt, wie sich um 1900 die Bedeutung dieses Alltagsobjekts durch die neu eingeführte „Bettbehandlung“ massiv veränderte. Die Betten wurden zum zentralen Ausgangspunkt therapeutischen Handelns und sollten die Gleichstellung psychisch und körperlich Kranker markieren sowie die Annäherung der Psychiatrie an die Allgemeinmedizin befördern (Ankele 2018, 4953). Mit den Betten wandelte sich auch die Raumverteilung der Anstalten, die Zellenstrukturen verschwanden und neue große, verbundene Wachräume entstanden (Ankele 2018, 56). Diese Fokussierung wirkte aber nicht nur auf die räumlichen Anordnungen, sondern auch auf die sozialen Beziehungen innerhalb der Anstalt: „Als nicht-menschlicher Akteur organisierte das Bett die Beziehungen der menschlichen Akteure unter- und zueinander. Es ordnete ihre Körper und differenzierte sie nach den ihnen zugeschriebenen Funktionen und Eigenschaften: Liegende von Stehenden, Kranke von Gesunden, Behandelte von Handelnden. Dabei bestätigte die Bettbehandlung durch die horizontale Lagerung der Kranken den Arzt in seiner ‚dominirende[n] Stellung […] im Rahmen des Gesammtbetriebes der Anstalt‘ […].“ (Ankele zitiert hier zuletzt den Psychiater Clemens Neisser [1861-1940], Ankele 2018, 58).

Ankele beschreibt das Bett als ein in seiner Funktion mehrdeutiges Objekt. Es diente vorrangig als Disziplinierungsinstrument, indem es den Patient*innen durch das Drängen in die Liegeposition die Krankenrolle förmlich aufzwang (Ankele 2018, 53). Es bot aber auch widerständige Potentiale und konnte als Ort des Rückzugs genutzt werden (Ankele 2018, 60-61). Zudem verweist Ankele auf „Szenographien“, also Praktiken und Arrangements, die die Wirkkraft des Objekts erst hervorbringen (Ankele 2018, 51). Bei dem „In-Szene-Setzen“ des Bettes in der Bettbehandlung, bei dem neben dem Objekt auch die Raumarchitektur und Bettenanordnungen, vor allem aber die Handlungen der Ärzte und Pflegekräfte entscheidend wurden, zeigt sich, wie wichtig die (sich wandelnden) Gebrauchskontexte für die Bestimmung der Objektbedeutungen sind.

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Die Beiträge von Majerus und Ankele zeigen eindrücklich, wie Dinge die Lebenswirklichkeiten und Handlungsräume von Menschen in psychiatrischen Institutionen gestalteten.6 Die konzeptuellen Einordnungen und empirischen Beispiele zeigen eine besondere Komplexität des objektgeschichtlichen Zugangs in Kombination mit Fragestellungen der Disability History. Diese liegt zum einen in der hohen theoretischen Dichte beider Forschungsfelder begründet. Sowohl die Disability History als auch die Material Culture Studies greifen auf eine Vielzahl theoretischer Prämissen und Debatten zurück. Zum anderen sind beide Ansätze noch relativ jung. Viele Konzepte sind noch in Bewegung, werden von unterschiedlichen disziplinären Standpunkten aus kritisiert und diskutiert und dabei beständig erweitert. Gleichwohl bietet der objektgeschichtliche Zugang gerade für Seminarzusammenhänge neue Impulse in Form von ungewöhnlichen Fragestellungen, alternativen Blickwinkeln und unverbrauchten Rahmungen. Wie diese Herausforderungen und Potentiale in Lernumgebungen nutzbar gemacht werden können, soll im Folgenden beschrieben werden.

PROBLEMORIENTIERTER BLICK AUF DAS SEMINARKONZEPT – KRITERIEN FÜR OBJEKTGESCHICHTEN Zu den geschichtsdidaktischen Potentialen von Objekten gibt es nur eine sehr eingeschränkte Forschungslage. Diese gruppiert sich um die Begriffe „gegenständliche Quellen“ oder „Sachquellen“, bezieht sich meist auf das Lernen im Museum oder das Lernen vor Ort und weniger auf das historische Lernen im Geschichtsunterricht (vgl. z.B. Fina 1977, Knigge 1983, Heese 2007 und 2017, von Reeken 2014). Das erklärt sich auch daraus, dass gegenständliche Quellen, also historische Objekte, im Geschichtsunterricht immer noch wenig eingesetzt werden (von Reeken 2014, 144). Eine didaktische Schwierigkeit von Objekten besteht darin, dass sie nicht für sich allein stehen können, da sie aus ihrem Gebrauchskontext und damit aus ihrem historischen Kontext herausgerissen sind. Damit müssen didaktisch gesehen Objekte erst einmal in ihrer Singularität wahrgenommen und erfasst werden (Objektwahrnehmung), um dann in die vergangene Gebrauchssituation und deren historischen Kontext eingebettet zu werden (Objektbegegnung). Diese Objektbegegnung vollzieht sich in einer Relation zwischen Objekt und Subjekt. 6

Für die Anwendungsbeispiele von dinggeschichtlichen Ansätzen in Pflegekontexten siehe auch die erste Ausgabe (01/2019) des neu gegründeten European Journal for Nursing History and Ethics, einsehbar unter: https://www.enhe.eu/ vom 21.03.2019.

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Das Objekt ist ein Überrest aus vergangener Zeit, das Subjekt ist in der Gegenwart verankert. Das Subjekt versteht z. B. nicht sofort die Funktion und die Gebrauchsweise des Objekts. Das Objekt wirkt in seiner spezifischen Weise auch auf das gegenwärtige Subjekt, erweckt Assoziationen und erinnert an Situationen, in denen vergleichbare Objekte (z.B. heutige Einwegspritzen) Anwendung fanden. Die Rekonstruktion des historischen Kontextes befindet sich also auch in einem Spannungsfeld von Gegenwärtigem und Vergangenem, von Konstruktion und KoKonstruktion. Bestenfalls ergeben sich aus diesen Begegnungen zwischen Objekt und Subjekt, angereichert durch vielfältige Kontextualisierungen (in Form von Texten, Bildern, Filmen), Objektgeschichten, die die Geschichte des Objekts in unterschiedlichen historischen Kontexten erzählen. Knigge (1983) nennt diese Objektgeschichten „historische Biographien des Dings“, wobei aber deren methodische und mediale Realisierung weitgehend eine Leerstelle bleibt. Auch die Frage, was gute Objekte sind, wird sehr allgemein mit der Repräsentativität für eine bestimmte Epoche beantwortet. Bei Knigge ist dies die Kogge, die nur beladen wirklich seetüchtig ist und damit die primäre Handels- und Profitorientierung der Vereinigung der Hanse auch baulich illustriert. Bei dieser Sichtweise bleibt das Objekt passiv, denn es wird vom Menschen für gewisse Zwecke geformt. Methodisch wird eine Stufenabfolge vorgeschlagen: Von der genauen Untersuchung (Messen, Wiegen etc.) und Beschreibung (Zeichnen…) des Objekts, die auch eine Benennung der Bestandteile beinhalten kann, soll wenn möglich eine haptische Auseinandersetzung über das Hantieren, das Auseinandernehmen und Wiederzusammensetzen erfolgen. Nach ersten Hypothesen zum ursprünglichen Funktionszusammenhang sollen über Zusatzinformationen die Entstehung des Objekts, dessen Datierung und seine Eigenschaften erarbeitet werden. Diese Handlungen tragen dazu bei, eine Objektbegegnung zu ermöglichen, die Funktionalitäten und Handlungsmöglichkeiten im Objekt „vorzufühlen“ und damit das Objekt als Objekt (und dessen Widerständigkeit) zu begreifen. Gleichwohl bleibt bei Knigge 1983 noch unberücksichtigt, dass die Kogge aber auch die Wirklichkeit ko-konstruierte, indem sie beispielsweise die Leerfahrt auf die Küstennähe begrenzte. Die Auskunft von Menschen, die mit dem Objekt Umgang hatten, führt zu subjektiven Bedeutungszuschreibungen und insgesamt zur Einordnung in soziale und historische Bezüge (von Reeken 2014). Quellenkritisch verweist von Reeken (2014) darauf, dass mit der dreidimensionalen Qualität von Objekten auch die „natürliche Größe“ von historischen Dingen erfahrbar wird und sich sinnliche Nähe und historische Fremdheit in ein Spannungsverhältnis begeben, das Neugierde und Forschungsdrang erwecken kann. Allerdings haben Objekte keine narrative Struktur (von Reeken 2014, 146) und lassen sich damit nur widerborstig in das narrative Paradigma der Geschichtsdidaktik einbinden. Konsens scheint zu sein,

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dass Objekte zum Sprechen gebracht werden müssen, der Weg dahin bleibt im didaktischen Umfeld aber unkonkret. Hier setzte der didaktische Anspruch des Seminars an, der sich darauf richtete, Geschichtslehramtsstudierende zu Objektgeschichten über „alte“ Dinge aus der Psychiatrie anzuleiten. Diese Objektgeschichten sollten sich theoretisch am Objektzugang aus der Disability History/Psychiatriegeschichte und den Material Culture Studies orientieren. Als Form der Objektgeschichte wurde ein Weblogbeitrag vorgesehen, der durch seine Veröffentlichung den Ernstcharakter des Schreibens und die Verbindlichkeit der Schreibstandards erhöht. Letztlich sollte über die Vorbereitung von Geschichtslehramtsstudierenden auf den Umgang mit Objekten eine im geschichtsdidaktischen Diskurs bemängelte Schwachstelle der Lehramtsausbildung verringert werden (von Reeken 2014, 148). Bei den im Seminar bearbeiteten Objekten aus der Psychiatrie handelte es sich um sehr unterschiedliche und zufällig aufbewahrte: Flachware wie ein Bauplan von 1969, die Dienstanweisung von 1903, eine Krankenakte aus der NS-Zeit, die Dienstkleidung einer Pflegerin aus der Zeit zwischen 1973 und 1998, nicht genau zuzuordnende Injektionsnadeln und Schlüssel. All diese Objekte waren in der Hand der Anstaltsleitung und des Pflegepersonals, nur ein Webteppich aus den 1970er Jahren stellte ein Patientenprodukt dar. Damit zeigt sich schon ein perspektivisches Ungleichgewicht: Der Blick auf die Patient*innen überwiegt. Das muss kein Negativurteil über die Qualität des Objekts sein, sollte bei der Rekonstruktion des Objektgebrauchs und bei der Quellenkritik des Objekts aber mitbedacht werden. Bei einigen Objekten stellt sich die Perspektive auch differenzierter dar. Die Dienstkleidung der Pflegerin zeigt nicht nur den Blick auf die Patient*innen, sondern auch den Blick der Pflegerin auf sich selbst und ihre eigene Berufsrolle, aber auch die Abgrenzung hin zu Ärzten, der Klinikleitung oder dem Verwaltungspersonal. Bei der Dienstanweisung ist die Perspektive der Klinikleitung auf die Pflegerinnen und Pfleger dominant, sie gibt dem Pflegepersonal genaue Anweisungen und schreibt – wahrscheinlich erfahrungsgesättigt – , was auf keinen Fall gemacht werden darf, z.B. in der Nacht die wichtigen Anstaltsschlüssel unter dem Kopfkissen aufzubewahren. Bei den Anweisungen zum Umgang des Pflegepersonals mit den Patient*innen zeigt sich immanent aber auch deren Einschätzung der Patient*innen. „Ein freundliches und mildes Benehmen gegen die Kranken ist Grundsatz und Gesetz des Hauses. Menschenfreundlichkeit, Sanftmut, Geduld und teilnehmendes Wesen werden vor allem vom Pflegepersonal gefordert.“ (Dienstanweisung 1903, § 12) Die Klinikleitung sieht die Patient*innen als Kranke, die deutlich jenseits von Normalität stehen und deshalb mit Nachsicht und deeskalierend behandelt werden sollen. Die Misshandlung eines Kranken als

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Schutzbefohlenen hat dementsprechend die sofortige Entlassung zur Folge (Dienstanweisung 1903, § 9). Diese Perspektive(n) herauszuarbeiten muss Teil der Objektgeschichte sein. Gesammelt wurde nicht planvoll, vielmehr wurden Mitarbeiter*innen z.B. beim Wechsel der Schließanlage auf alte Schlüssel angesprochen, im Keller fanden sich Laborgegenstände und Injektionsnadeln, und bei einer Pensionierung wurde die Dienstkleidung übergeben. Gleichwohl müssen die Objekte als bedeutungsvoll, als typisch für die Arbeit und die Beziehungen im Klinikum angesehen worden sein, d.h. gesammelt wurde nicht nur das Objekt, sondern auch Zuschreibungen, Bewertungen, Inskriptionen. Der Museologe Korff (2004, 84) formulierte diesen Aspekt von Objekten folgendermaßen: „Wir wollen mit den Dingen etwas ansehen, wir wollen, wenn wir sehen, etwas mitsehen, wir wollen sie als etwas sehen – als Repräsentant, als Indikatoren, eben als Zeichen für etwas.“ Dieses Repräsentative des Objekts muss dementsprechend herausgearbeitet und mit seiner äußeren Gestalt verbunden werden. Dabei sollte die äußere Gestalt nicht vernachlässigt werden – die differenzierte Beschreibung öffnet erst den Blick für das Repräsentative und baut Hemmnisse und Widerstände gegenüber dem Objekt ab. Beim Anblick der gebrauchten Fixiergurte hielten sich einige Studierende zunächst einmal zurück. Vielleicht tauchten bei ihnen (gewaltvolle) Bilder aus Filmen auf, die Szenen aus der Anstaltspsychiatrie darstellen. Die sinnliche Qualität und das affektive Potential der Dinge wurden hier wohl am deutlichsten sichtbar. Die Beschreibung der Gegenstände mit eigenen Worten gab den Studierenden Handlungsoptionen und Kontrolle über die Objekte zurück. Sie stellte damit auch einen Akt der Distanzierung dar. Auch das (Ab-)Zeichnen kann als Methode genutzt werden, um eine Objektbeschreibung durchzuführen. In Bauplänen kann die Platzierung der Betten eingetragen werden, um die Geradlinigkeit der Anordnung und die entstehenden Sichtachsen zu verdeutlichen. Die Raumwirkung wird dadurch zeichnerisch nachempfunden und der Raum in seiner Wirkmächtigkeit zum Leben gebracht. Die Objekte aus der Psychiatriegeschichte weisen alle Gebrauchsspuren auf, bei den Fixiergurten etwa sieht man abgewetzte Stellen im Leder. Es sind Dinge, die das Leben in einer psychiatrischen Anstalt durchlaufen haben, in sie hat sich das Leben eingeschrieben. „Gekochte Dinge“ nennt sie Korff (2004, 91). Damit sind sie für Symbolzuschreibungen sehr geeignet, so können die Fixiergurte symbolisch für Zwang und Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie stehen sowie für die dadurch entstehende Ambivalenz zwischen Schutz der Patienten und Freiheitsberaubung. Über das Repräsentative hinaus verweist das Objekt damit auf ein zentrales Thema der Psychiatriegeschichte. Eine Ambivalenz, die bis heute in Zeitungsberichten, Gesetzesänderungen und richterlichen Anordnungen präsent ist.

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Das Finden eines solchen zentralen Themas zur Einbettung der Objekte scheint zentral für eine gute Objektgeschichte zu sein: Welche Rolle spielten Zwangsmaßnahmen zu unterschiedlichen Zeiten? Mit welchen theoretischen Positionen sind sie verbunden? Welche Hürden wurden gegen die übergriffige Anwendung zum Schutz der Patienten aufgebaut? Welche Regelungsmechanismen gab es? Welche anderen Zwangsmaßnahmen existieren? Wie nehmen Patient*innen Zwangsmaßnahmen wahr? Wie werden Zwangsmaßnahmen in Film und Literatur ästhetisch verarbeitet?

OBJEKTGESCHICHTEN ALS WEBLOG Monika Ankele hat ihre oben beschriebenen Forschungsergebnisse auch in Blogform präsentiert (Ankele 2017). Für die Seminarkonzeption war ihr Beitrag ein sehr passender Ausgangspunkt. Einerseits diente er als ein erstes Beispiel dafür, wie eine Objektgeschichte im Kontext der Disability History konkret aussehen könnte. Andererseits zeigte er aber auch die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die bei der Präsentation von Forschungsergebnissen für ein Laienpublikum aufkommen können. In dieser Hinsicht ist das Format des Weblogs auch ein genuin didaktisches Medium.7 Ankeles Beitrag im Blogformat zeigt deutliche Merkmale einer geschichtswissenschaftlichen Fachlichkeit im Rahmen der Disability History. Die Therapieform „Bettbehandlung“ wird eingeführt und mit Zitaten von Psychiatern aus dem beginnenden 20. Jahrhundert datiert und erläutert. Die neue Therapieform bewirkte bauliche Veränderungen hin zu großen Krankensälen, in denen die Krankenbetten zu zentralen Akteuren wurden, indem sie Blickachsen herstellten (z.B. der hierarchische Blick des Arztes/des Pflegepersonals auf die Patient*innen). Andererseits versuchten die Patient*innen mit dem Bett zu interagieren, indem sie z.B. Puppen aus Leintuch und Kissen formten. Diese Inhalte sind sehr klar strukturiert und mit Zwischenüberschriften unterteilt. Der Beitrag bezieht sich nicht auf ein lokales Beispiel, referiert das Objekt aber im Kontext der Psychiatrie- und Medizingeschichte. Weitere sozialgeschichtliche Kontexte, wie die auch in psychiatrischen Zusammenhängen wichtigen Fragen der Kostenübernahme durch die Sozialversicherungsträger, werden nicht angesprochen. Im Seminarkontext wurde schnell klar, dass sich hinter dem kurzen Blogbeitrag eine profunde theoretische Position 7

Vgl. zur Erarbeitung von Blogs bzw. Blogseiten als Seminarprodukte auch die Beiträge von Friederike Fürst und Nane Kleymann sowie von Sabine Horn und Natascha Korff in diesem Band.

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und eine intensive historische Recherche verbarg, die mehrere Perspektiven darzustellen vermochte. Die den Text illustrierenden Bilder wurden als positiv gesehen, allerdings fehlt eine Abbildung des im Blog zentralen Krankenbettes. Auch eine Beschreibung des Krankenbettes findet sich nicht, was aber die (Un-)Möglichkeiten der Patient*innen sowie den Handlungsrahmen von Ärzt*innen und Pfleger*innen verdeutlicht hätte: Gab es eine Halterung zur Befestigung der Fixiergurte? Angemahnt wurde auch die dem Beitrag zugrunde liegende Literatur als geschichtswissenschaftlicher Standard. Einige Irritationen lösten die plakative Überschrift aus („Wie das Krankenbett zum Medikament wurde“, Ankele 2017) sowie der (etwas krampfhaft) einen Gegenwartsbezug herstellende Teaser. Möglicherweise wurde aber beides von der Redaktion des Weblogs formuliert, um bei Leser*innen Interesse zu wecken und den Beitrag durch Schlagwörter schneller recherchieren zu können. Die gegenwärtige Geschichtsdidaktik mit ihrem narrativen Paradigma strebt danach, bei Schüler*innen das Schreiben von historischen Geschichten mit spezifischen Merkmalen (Pandel 2015) zu fördern. Auch bei dem hier zugrunde liegenden Seminar stellte der Vermittlungsaspekt für angehende Lehrkräfte eine zentrale Aufgabe dar. Gewählt wurde hier die Form des Weblogs bei dem etablierten Blogjournal „Public Disability History“. Das Weblog kennzeichnet den „Siegeszug der kurzen Form“ (Gasteiner/Krameritsch 2006, 233), die sich durch eine extrem klare Strukturierung, durch pointierte und fokussierte Aussagen, die auch problemorientiert sein können, ausweist. Die Platzbegrenzung bedeutet auch eine Begrenzung der Inhalte, so dass lieber mehrere Blogbeiträge geschrieben, denn viele Unterkapitel gebildet werden. Die Sprache ist gut verständlich, denn sie soll sich an ein spezifisches, aber breites Lesepublikum wenden. Im Fall des Blogjournals besteht das Lesepublikum aus allen Personen, die in unterschiedlicher Weise in dis/ability involviert sind – nicht nur aus der akademischen Welt. Parallel zur verständlichen Sprache wird im Kontext von ability/disability und Psychiatriegeschichte auch ein beschädigungsarmes Sprechen gefordert, das respektvoll und wertschätzend mit den Patient*innen umgeht und historische Etikettierungen (wie „idiotisches Kind“) als solche entlarvt. Durch die Blogjournalsprache Englisch wenden sich die Beiträge an ein internationales Publikum, deutsche Spezifika der Psychiatriegeschichte können also nicht vorausgesetzt werden. Eine Kommentarfunktion ist bei diesem Blogjournal nicht vorgesehen, so dass Diskurse (leider) entfallen. Die kurze Form und die allgegenwärtige Präsenz von Blogs im Internet senken für die Studierenden die Hürde zur Veröffentlichung eigener Inhalte. Sie nehmen damit Teil an Meinungsbildungsprozessen und vertreten gerade in Blog-

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beiträgen dieser Art reflektiert sozialpolitische Positionen. Für sie ist der Blogbeitrag der Link, der die unmittelbare Lebenswelt mit akademischen Themen verbindet (Gasteiner/Krameritsch 2006). Methodisch gesehen standen im Seminarkontext als Hilfestellung zum Verfassen des Blogbeitrags folgende Materialien zur Verfügung: • die Gliederung des Blogbeitrags (Teaser, Foto, Beschreibung der Objekte, Kon-

textualisierung von der Mikrogeschichte zur Sozialgeschichte mit Zwischenüberschriften, Literatur) • die Zuordnung des Objekts zu einem übergeordneten Thema, z.B. die Zuordnung der Fixiergurte zum Thema Zwang oder die Zuordnung des Webteppichs zum Thema Patientenarbeit • kontextualisierende Literatur (zur Anstaltsgeschichte, zur Psychiatriegeschichte, zur Sozialgeschichte)

SPEZIFISCHE SCHWIERIGKEITEN BEIM VERFASSEN DER OBJEKTGESCHICHTEN ALS WEBLOG Trotz dieser didaktisch-methodischen Hilfestellungen ließen sich vier spezifische Schwierigkeiten der Studierenden beim Verfassen der Objektgeschichten als Weblogbeitrag herauskristallisieren. Den Studierenden fiel es schwer, vom Objekt aus zu denken. In vielen Blogbeiträgen gab es nur eine sehr knappe Objektbeschreibung, auf die eine längere Abhandlung zum historischen Kontext folgte. Beides stand unverbunden nebeneinander, hatte oft nur marginal miteinander zu tun. Vermeintlich „leichte Aufgaben“ wie die Beschreibung des Objektes und das Spekulieren und das darauffolgende Bilden von Hypothesen, die Rückbindung an die Literatur und den Forschungsstand war für viele Studierende schwierig. Didaktisch-methodisch gesehen müsste künftig die Art des Hinschauens geschult werden, die das Einbetten und Rückbinden des konkret Gesehenen an Texte und an andere Quellen mit einbezieht. Dazu müssten auch mögliche Fragestellungen geübt werden: Was macht das Objekt mit der Arzt-Pfleger-Beziehung? Was macht das Objekt mit der Arzt-Patienten-Beziehung? Oder konkretisiert: Wer hat welche Schlüsselgewalt? Was sagt das Objekt über die vielfältigen Machtbeziehungen und was über Handlungsmöglichkeiten aus? Oder konkretisiert: Inwiefern kann sich ein Patient durch das Arbeiten am Webstuhl als nützlicher, funktionierender Patient konstruieren? Welche Rollenmuster und welches Nähe-Distanz-Verhältnis drücken sich in der

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Dienstkleidung des Pflegepersonals aus? Welche Blickachsen ermöglichten die baulichen Gegebenheiten, die sich in den Bauplänen manifestieren? Den Studierenden fiel es schwer, die Mikrohistorie des Objekts in die allgemeine Sozialgeschichte einzuordnen. Die Herangehensweise vom Objekt aus bedeutet bei der Mikrohistorie zu beginnen, diese in die Lokalgeschichte einzubetten und dann auf typische Entwicklungen der Sozialgeschichte allgemein einzugehen. So zeigte sich in der Anfertigung eines ästhetisch ansprechenden Teppichs der Umbruch vom primären Ziel des ökonomischen Nutzens hin zur aktivierenden Arbeitstherapie und letztlich zur Beschäftigungstherapie mit dem Ziel der Selbstverwirklichung, was sich mit den Ideen der sozialen Integration der 1970er Jahre verbinden lässt. Die Studierenden beachteten die Interdependenzen nicht genug. Die Studierenden arbeiteten separat an „ihren“ Objekten und Objektgeschichten und unterschätzten die Querverbindungen zwischen den Objekten. Sie tauschten ihre Informationen nicht untereinander aus, so dass Interdependenzen nicht offengelegt und gegenseitige Hilfen nicht zustande kamen. So fanden sich in der Dienstanweisung sehr viele Hinweise auf die gewünschte Art der Nutzung der Schlüssel durch die Pflegerinnen und Pfleger. Diese Informationen gelangten aber nicht zur Schlüsselgruppe. Hier sind Redaktionssitzungen sinnvoll, die den Entwicklungsstand zeigen, Nachfragen ermöglichen, Querverbindungen freilegen und Bezüge markieren.

KOOPERATIONEN ÜBER VIELE INSTITUTIONENGRENZEN HINWEG Die Lehrveranstaltung verdankt ihre Umsetzung der Zusammenarbeit von ganz verschiedenen institutionellen und geschichtskulturellen Akteuren. Im Pfalzklinikum arbeiteten wir mit dem Gedenkausschuss zusammen, der dort seit 2011 besteht und sich besonders mit der Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Klingenmünster beschäftigt hat. Für den Besuch der Seminargruppe in Klingenmünster organisierte der zuständige Mitarbeiter, Andreas Dietz, ein Zusammentreffen mit der Zeitzeugin Christel Flory. Die gebürtige Klingenmünsterin Flory hatte selbst jahrzehntelang im Pfalzklinikum gearbeitet und die Gegenstände für eine später mögliche Ausstellung zusammengetragen. Ohne ihre private Initiative wäre die Arbeit mit den Objekten nicht möglich gewesen. Als langjährige Mitarbeiterin und Anwohnerin konnte sie viele anschauliche Anekdoten und Beschreibungen des

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Anstaltsalltags und Ausschnitte der Objektbiographien geben. Der Zeitzeugenvortrag am Ort des Geschehens ermöglichte dem Seminar das Erfassen der zu rekonstruierenden Lebenswelten und Kontexte. Während das dokumentarische Schriftgut der Anstalten, und insbesondere auch Patientenakten, erst in klinikeigenen Archiven und nach einer bestimmten Frist in Staatsarchive überführt werden, gibt es für historische Objekte keine regulierte Archivierungspraxis. In Deutschland verfügen viele psychiatrische Institutionen oder Trägereinrichtungen über eigene Museen, Gedenkorte und dazugehörige Ausschüsse. Diese werden oftmals gemeinsam von Historiker*innen und Fachpersonal aus den Kliniken geleitet, so dass vor Ort bereits einige Expertise zur historischen Zusammenarbeit vorhanden ist. In Klingenmünster hatten wir mit Andreas Dietz eine konkrete Ansprechperson, mit deren Hilfe wir einige Zusatzmaterialien und Informationen über die Objekte recherchieren konnten, an die wir als Außenstehende sonst nicht gelangt wären. Die Archivierung des Klinikschriftguts erschien auf den ersten Blick relativ unübersichtlich. So liegen die Akten aus Klingenmünster nur zum Teil im Landesarchiv Speyer. Andere Akten befinden sich im eigenständigen Archiv des Bezirksverbands der Pfalz in Kaiserslautern. Für uns als Außenstehende wäre die Recherche oft sehr zeitaufwändig gewesen. Durch die Kooperation konnten die Kommunikationswege deutlich verkürzt werden. In einer zweiten Exkursion besuchte die Seminargruppe das Landesarchiv Speyer. Hier lagern die Patientenakten des Pfalzklinikums. Die Seminargruppen erhielten hier nicht nur Einblick in den in den unterschiedlichen Akten beschriebenen Klinikalltag, sondern auch in das Archivwesen und die Archivordnung der Klinikbestände. Zuletzt kooperierten wir noch mit dem Fachblog „Public Disability History“. Der Blog hat ein eigenes Vermittlungskonzept und ist nicht nur für ein Spezialpublikum gedacht. Beiträge werden sowohl von Betroffenen als auch von Akademiker*innen und Aktivist*innen verfasst. Somit ist der Blog ein weiterer, eigenständiger geschichtskultureller Akteur. Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass die Studierenden sich mit ihren Blogbeiträgen selbst aktiv in die Geschichtskultur einbrachten, indem sie ein neues Thema in einem öffentlich zugänglichen Medium platzierten. Lehrer*innenbildung kann so auch ein Teil der Geschichtskultur werden, indem sie Studierende und damit spätere Multiplikator*innen anregt und anleitet, sich Kompetenzen zu erwerben, die eine Partizipation an der Geschichtskultur ermöglichen. Eine Kooperation mit so vielen unterschiedlichen Institutionen und Akteuren kann selbst einen Lernanlass bieten. Vom Sammeln und Beschreiben von Objekten, über Zeitzeugengespräche und Archivrecherche bis hin

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zur Vermittlung und Verbreitung historischen Wissens auf einer digitalen Publikationsplattform wurde ein breites Spektrum historischen Arbeitens eingeübt. Dabei liefen nicht alle Kooperationen reibungslos, und nicht alle Kommunikationswege und Absprachen gelangen – aber gerade das ist ja auch Teil wissenschaftlicher Praxis, der im Seminarkontext thematisiert und reflektiert werden kann. Die größtenteils unerschlossenen, nicht-sprechenden Objekte machten es notwendig, eine Vielzahl von zusätzlichen, ergänzenden Quellen auszuwerten und zu gewichten, um dadurch verschiedene Perspektiven auf die Objekte einzubeziehen. Die Veröffentlichung auf dem Blog erforderte es darüber hinaus, diese komplexen Analysewege transparent und in einer zugänglichen Form darzustellen. Für den Seminarkontext konnten nicht alle Aspekte wie die Kombination von unterschiedlichen Quellen, die Kommunikation mit verschiedenen geschichtskulturellen Akteuren oder Fragen nach einer geschichtskulturellen Landschaft in Bezug auf die Disability History aufgegriffen werden. Hier könnte sich jedoch für die Gestaltung ähnlicher Seminare anbieten, solche geschichtskulturellen und institutionellen Bedingungen und Anteile des historischen Arbeitens noch zentraler als Lerngegenstand zu setzen.

INKLUSION FACHLICH DENKEN In der Geschichtsdidaktik setzt sich ein konstanter Kreis mit den Herausforderungen der Inklusion für das historische Lernen auseinander. Im Folgenden soll kein Abriss der gesamten Inklusionsdebatte erfolgen, vielmehr soll versucht werden, das Seminarkonzept in dieser Inklusionsdebatte zu positionieren. Welche Anknüpfungspunkte lassen sich finden und wovon grenzt sich das Seminarkonzept ab? Im Anschluss daran werden erste Überlegungen dazu formuliert, welche Potentiale der Objektzugriff der Disability History für den Geschichtsunterricht enthält. Völkel kritisiert die Geschichtsdidaktik fundamental, indem sie ihr einen Beitrag zu ausgrenzenden Denkmustern vorwirft, da die fachdidaktische Theoriebildung sich stets auf das beziehe, was Eingang in die Geschichtswissenschaft genommen habe, nämlich die „Privilegierung der Geschichte fähiger, weißer, westeuropäischer (heterosexueller) Männer“ (Völkel 2017, 57). Bei der Psychiatriegeschichte als Teil der Disability History kann aber keinesfalls von einer Geschichte der großen, weißen Männer gesprochen werden. Vielmehr versucht die Disability History bewusst, nicht die in der Medizingeschichte lange dominant gewesenen Erfolgsgeschichten bedeutender Ärzte und Psychiater weiterzuschreiben. Der Objektzugriff bietet Möglichkeiten der Annäherung durch verschiedene, gerade nicht

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in ein dichotomes Schema zu pressende Perspektiven und Betrachtungsweisen. Völkel lehnt außerdem die Orientierung der Geschichtsdidaktik an der Narrativität ab und setzt Leiblichkeit verstanden als „Erleben empfundener Zeit“ dagegen (Völkel 2017, 99). Der Mensch sei durch seinen Leib mit Vergangenheit und Gegenwart verbunden, das Erleben werde somit Grundlage der leiblichen Reflexivität. Im Begriff „Handlungssinn“ kristallisiert sich die biographisch-relevante Zeit, wo sich Schüler*innen über die Selbstthematisierung ihrer eigenen Lebensgeschichte der Geschichte nähern. Geschichtsbewusstsein bedeutet in der Definition Völkels Zeitbewusstsein, und historisches Wissen entsteht hier über sinnliche Wahrnehmung. Ein Anknüpfungspunkt mit diesem Beitrag ist der Begriff „Leib“, der in der Disability History eine wichtige Rolle spielt (Bösl/Klein/Waldschmidt 2010). Die leiblichen (nicht körperlichen) Erfahrungen von Psychiatriepatient*innen werden in den Weblogs durchaus rezipiert. Hinzu kommt, dass die Studierenden bei ihren Recherchen selbst sinnliche Wahrnehmungen und Ängste thematisierten. Allerdings setzte die Seminarkonzeption auf narrative Produkte in Form von Weblogs, um die Erfahrungen und Erkenntnisse kognitiv zu strukturieren. Die Denkbewegung ging von der Mehrheitsgesellschaft aus, wobei gesamtgesellschaftliche Prozesse in den Blick genommen wurden, die Behinderung herstellen. Diese Perspektive der Disability History bietet viele Potentiale, um Inklusion fachlich zu denken. Gleichzeitig unterscheidet sich diese Herangehensweise von denjenigen didaktisch-methodischen Konzepten, die Lernwege differenzieren und Barrieren beseitigen wollen. Der sprachsensible Zugang (Barsch 2018) und die Leichte Sprache (Alavi 2015) oder neue Konzepte wie die Subjektorientierung (Ammerer/Helmuth/Kühberger 2015) sind wichtige didaktisch-methodische Zugänge, um inklusive Lernsettings des historischen Lernens gestalten zu können. Deren theoretische und konzeptionelle Grundlagen stammen aus anderen Fachdidaktiken wie der Fremdsprachendidaktik, aus der Erziehungswissenschaft oder aus Betroffenenbewegungen und werden für das historische Lernen adaptiert. Bei diesem Seminarkonzept wurden aber innovative geschichtswissenschaftliche Konzepte aufgegriffen und didaktisch durchdacht. Für den Hochschulkontext bedeutet dies stark zu machen, dass Inklusion im Fach verankert werden muss. Über die Disability History kann das Thema Inklusion fachlich eingeordnet und mit einer historischen Tiefendimension versehen werden (Wolter 2016). Darüber hinaus ermöglicht der objektgeschichtliche Ansatz eine lebensweltnahe Beschäftigung und zeigt die Alltäglichkeit von Inklusions- und Exklusionsprozessen. Dieser fachliche Zugriff stellt eine Besonderheit des Faches Geschichte und des historischen Lernens dar und sollte deshalb in geschichtsdidaktische Konzepte zum inklusiven Lernen einfließen. Er erlaubt außerdem eine Positionierung gegen das ausschließliche Angebot von Inklusionsmodulen, die losgelöst von den Fächern

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an Hochschulen angeboten werden. Im Gegensatz zu diesen können Inklusionsseminare im Fach auch eine fachliche theoretische Anbindung, fachliche Konzepte und spezifisch fachliche Anwendungsmöglichkeiten bieten. An die Anwendung in schulischen Kontexten wurde beim Seminarangebot nur implizit über die Beteiligung von Lehramtsstudierenden gedacht. In schulischen Kontexten ist die Beschränkung in der Theorie und bei den Begrifflichkeiten der Disability History und den Material Culture Studies unumgänglich. Andererseits bieten die Objekte wie z.B. die Schlüssel Zugänge zur Lebenswelt der Schüler*innen. Im Kontext der Schule gibt es wenige Personen mit einem Generalschlüssel (Rektor*in, Hausmeister*in), und viele Räume sind für Schüler*innen zumindest zeitweise verschlossen (Lehrerzimmer, Fachräume). Lehrer*innen öffnen und verschließen bestimmte Areale (Turnhalle, Aula), können diese Tätigkeit aber auch auf Schüler*innen delegieren. Gleichzeitig hat eine Schule oft mehrere unverschlossene Zugänge, durch die Schüler*innen und schulfremde Personen einund ausgehen können. Die Schule selbst ist also durch Ein- und Ausschlüsse geprägt, an ihr wird deutlich, dass In- und Exklusion nie so absolut gesehen werden kann, wie es auf den ersten Blick scheint. Gerade über solche Objekte wird die Vielgestaltigkeit der Exklusion greifbar. Am historischen Beispiel kann über die Objekte die Komplexität und Vielgestaltigkeit der Beziehungen in Anstalten des 19. und 20. Jahrhunderts erkennbar werden: Objekte schließen aus, ab, grenzen ein (wie die Gurte und Schlüssel). Objekte sind ambivalent, sie heilen und kontrollieren gleichzeitig (wie die Spritzen). Objekte ermöglichen aber auch Teilhabe und sollen der Integration ins Berufsleben dienen (wie die Webteppiche). Objekte gestalten also die Mehrdimensionalität von In- und Exklusion maßgeblich mit und machen sie greifbar. Die historische Situiertheit von In- und Exklusionsprozessen kann über die Objekte auch im Geschichtsunterricht thematisiert werden. Sie zeigen, dass diese Prozesse nicht so eindeutig sind, wie wir das gerne hätten, und dass sie eingebunden sind in größere Prozesse der Sozialgeschichte wie die Verwissenschaftlichung, die Herausbildung des Sozialstaats und die Modernisierung. Gleichzeitig verweisen Objekte auf kulturelle Praktiken wie die Präsentation von Behinderung. Dies alles spricht dafür, den Zugang über Objekte im schulischen Kontext historischen Lernens zu stärken. Um Objektgeschichten wie die in den Weblogs zur Psychiatriegeschichte auch im schulischen Kontext schreiben zu lassen, müssten Methodenkompetenzen und Orientierungskompetenzen spezifischer ausgebildet werden. Die Neugier, ein Objekt zu erforschen, nicht intendierte Gebrauchsweisen nachzuvollziehen, die Objekte umzufunktionieren und deren Wirkung für die Atmosphäre eines Raums wahrzunehmen, müsste systematisch methodisch geschult werden. Funktionsweisen und intendierte sowie nicht intendierte Wirkungen sollten befragt werden. An

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einigen Dingen wird deutlich, dass sie ihre Bedeutung verloren haben oder aber in neuen Kontexten eine veränderte Wirkmächtigkeit entfalten. Kurz: Objekte zeigen Wandel, und das Erkennen dieses Wandels muss erlernt werden. Objekte werden dann nicht mehr statisch wahrgenommen, sondern unter Einbezug der obigen Quellenfragen in einen fließenden historischen Kontext gebracht. Diese Quellenfragen bedeuten, die Quellenkritik an Objekten spezifischer auszurichten und im Geschichtsunterricht zu üben. Die Objektgeschichten laufen über die Beschreibung und Kontextualisierung darauf hinaus, die Kategorie „Behinderung“ als gesellschaftliches Konstrukt zu de-konstruieren. So wird erkennbar, dass Menschen nicht behindert sind, sondern in spezifischen soziokulturellen Kontexten auf verschiedenartige Weise behindert werden. In diesem Sinne kann die Disability History in der Schule einen wichtigen Beitrag zur historisch-politischen Bildung leisten, da gesellschaftliche Prozesse der Etikettierung, Stigmatisierung und Diskriminierung erkannt werden können.

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Dis/Ability – Hollywood – Science-Fiction: Mit X-Men die Macht des Mediums Film vermitteln Frederike Fürst, Nane Kleymann, unter Mitarbeit von Cordula Nolte

„Imagine a world where people of all abilities see a place for themselves. That would be a true Hollywood ending.“ Jessy Yates, Bloggerin und Schauspielerin mit Dis/Ability, in ihrer Gast-Kolumne bei „Variety“, 20191

DIS/ABILITY UND MEDIEN. ZUR ENTSTEHUNG EINER BLOGSEITE Dis/Ability ist mittlerweile ein allgegenwärtiges Thema in der Gesellschaft.2 Doch welche Vorstellungen von Dis/Ability werden uns im Alltag in den Medien vermittelt? Welches Wissen über Dis/Ability beziehen vor allem auch Kinder und Jugendliche aus medialen Inszenierungen? Welche Rolle bei der Bewusstseinsbildung spielen amerikanische Science-Fiction-Filme, die gerade unter Jugendlichen ein großes Publikum finden? Und wie kann man Diskussionen darüber anregen, dass fiktive Filmwelten viel über unsere eigene Gesellschaft aussagen? Als Mitglieder einer Gruppe von Studierenden wollten wir solchen Fragen im Rahmen des Moduls „Dis/ability History als Lehr- und Lerngegenstand“

1

Jessy Yates studiert an der „Yale School of Drama“. Für den vollständigen Beitrag siehe https://variety.com/2019/film/opinion/actors-with-disabilities-opinion-1203146408/ vom 10.03.2019.

2

Zu der in diesem Beitrag verwendeten Schreibweise Dis/Ability siehe unten.

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nachgehen. Bei dieser Veranstaltung handelte es sich um ein interdisziplinäres Projekt der Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen, in dem sowohl Studierende aus der Fachwissenschaft als auch aus der lehramtsbezogenen Didaktik gemeinsam das Themenfeld Dis/Ability erforschten und gewinnbringende Beiträge für den Schulunterricht oder auch für außerschulische Bereiche der Wissenskommunikation entwarfen.3 Das Ziel war es, ein geeignetes, innovatives Format für die Vermittlung der Dis/Ability-Thematik zu finden und verschiedene Aspekte inhaltlich, visuell und medial aufzubereiten. Die Medien, die hier im Fokus stehen sollten, waren sowohl eine eigens konzipierte Blogseite als auch ein dort eingebundenes, selbstproduziertes Erklärvideo. Innerhalb der Dis/ability History waren wir an keinerlei thematische Vorgaben gebunden. Es galt, ein eigenes Thema zu wählen, dieses unter zielgerichteten Fragestellungen zu erforschen und für einen bestimmten Adressatenkreis aufzubereiten. Hierbei mussten wir uns, zum ersten Mal in unserem Studium, akribisch mit dem Medium Erklärvideo und seiner Möglichkeit des Vermittelns sowie mit den Anforderungen an ein adressatengerechtes Produkt auseinandersetzen. Als Plattform für die Blogseiten wurde das Uni-interne Portfoliosystem P:ier verwendet, zu dem alle Studierenden einen Zugang haben, um selbst eine Blogseite zu konzipieren und untereinander diese zu teilen. Unsere Arbeitsgruppe einigte sich schnell darauf, dass wir in unserem Projekt anhand von Filmen die „Macht der Medien“ im Kontext von Dis/Ability ausloten wollten. Medien spielen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft. Sie können dazu beitragen, die Situation von Menschen mit Behinderung zu verbessern. Denn sie stellen einen wesentlichen Zugang zur Welt dar, der eine Teilhabe am öffentlichen und kulturellen Leben ermöglicht – dies gilt für Menschen mit Behinderungen wie für alle Bürgerinnen und Bürger. Überdies repräsentieren Medien in wirksamer Weise Existenz- und Verhaltensformen, prägen Einstellungen und Vorstellungen, das heißt sie tragen zur Bewusstseinsbildung bei (Degener 2015, 59), sie klären auf, setzen Erkenntnisprozesse in Gang und erzeugen Wissen. In der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK, in Kraft getreten 2008) wird Medien eine Querschnittsfunktion bei der Umsetzung „gleichberechtigter Teilhabe und Inklusion“ zugewiesen, die sich besonders in den Artikeln acht (Bewusstseinsbildung), neun (Zugänglichkeit), 21 (Zugang zu Informationen), 24 (Bildung), 29 (Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben) und 30 (Teilhabe am kulturellen Leben) zeigt. Dabei werden drei Ebenen des Mediengebrauchs angesprochen. Teilhabe in Medien, Teilhabe an Medien und Teilhabe durch Medien. (Bosse 2016b)

3

Vgl. den Beitrag von Horn/Korff in diesem Band. Ferner Nolte/Horn 2018.

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Die Teilhabe in Medien bezieht sich hierbei auf die mediale Darstellung. Der Einfluss von Medien auf die soziale Inszenierung von Behinderungen ist erheblich. Das massenmedial vermittelte Bild von Behinderung für die Öffentlichkeit wirkt sich mittelbar und unmittelbar auf Exklusions- bzw. Inklusionstendenzen aus. (Bosse 2014b, 12) Besonders über Blogs, soziale Netzwerke oder das Fernsehen bzw. Filme bilden sich Einstellungen und Haltungen gegenüber Menschen mit Behinderungen. Die mediale Zugänglichkeit stellt die Teilhabe an Medien dar. Kommunikation mittels Medien ist grundlegend für einen gleichberechtigten Zugang zu Informationen. Barrierefreie Angebote wie Untertitelung und Audiodeskription sind für eine demokratische Meinungsbildung notwendig, von der niemand ausgeschlossen sein sollte. Neben den barrierefreien Zugängen ist eine entsprechende Medienkompetenz eine wichtige Voraussetzung für eine inklusive Medienbildung und die Teilhabe durch Medien. Um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, bedarf es einer Medienbildung, welche sich durch Diversität in den Zugängen und Nutzungsweisen ausweist. Gemeinsame Erfahrungs-, Handlungs- und Kommunikationsräume sind wesentliche Bestandteile inklusiver Medienbildung. (Bosse 2014a, 149) Im Bildungssektor Schule wird Medienbildung bereits als eine Querschnittsaufgabe aller Fächer angesehen. Gelernt werden soll mit und durch Medien. Hierbei geht es um die Förderung der Mündigkeit, der Meinungsbildung und einen selbstbestimmten Umgang mit Medien. Diese Medienpädagogik, als Lehr- und Lernmittel, stellt einen wichtigen Beitrag für die Gestaltung inklusiver Handlungsfelder im Kontext Schule und darüber hinaus dar. (Degenhardt/Hilgers 2016, 81) Dabei kommt Filmen eine besondere Bedeutung zu: Jugendliche akzeptieren durch das Filmeschauen andere Rollenbilder oder setzen sich kritischer mit politischen Strömungen auseinander. „Die identitätsbildende Wirkung von Filmen kann überhaupt nicht überschätzt werden“, so der wissenschaftliche Leiter der Medienwirkungsstudie, Jürgen Grimm von der Universität Wien (Grimm 2014). Nach der Entscheidung für das Untersuchungsfeld „Medium Film“ und inspiriert durch einen produktiven Austausch im Seminarplenum wuchs die Idee, Dis/Ability im Rahmen des filmischen Genres Science-Fiction zu analysieren. Nach geläufiger Auffassung fungieren Science-Fiction-Filme als Spiegel der Gesellschaft und leisten – teils explizit, teils eher unterschwellig – Gesellschaftskritik. Sie ermöglichen es Filmemachern, die Ängste und Befürchtungen einer Gesellschaft im Hinblick auf ihre Gegenwart und Zukunft zu reflektieren. (Jung/Seeßlen 2003, 33) Mit dieser Entscheidung rückte die vorhin genannte Teilhabe in Medien in den

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Mittelpunkt des Interesses. Artikel acht der UN-Behindertenrechtskonvention zu „Bewusstseinsbildung" enthält die Aufforderung an alle Medienorgane, Menschen mit Behinderungen in einer dem Zweck dieses Übereinkommens entsprechenden Weise darzustellen. Er zielt damit auf Einstellungsveränderungen ab, geht aber deutlich darüber hinaus. Der Zweck von Artikel acht liegt darin, das Bewusstsein für die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen, ihren gesellschaftlichen Beitrag und ihre Würde zu stärken, aber vor allem Unkenntnisse, Fehlvorstellungen, Vorurteile und Klischees abzubauen. (Bosse 2016b) Bei der Beschäftigung mit zeitgenössischen amerikanischen Filmen ist es erforderlich, auch die Produktionsumstände zu berücksichtigen, gewissermaßen einen Blick hinter die Kulissen Hollywoods zu werfen. Wir beschlossen, uns auf Fragen danach zu konzentrieren, wie in der Filmindustrie mit Dis/Ability umgegangen wird und welche Verhaltensweisen von verschiedenen Seiten eingefordert werden. Was läßt sich ableiten aus gesetzlichen Grundlagen und den Meinungen verschiedener Akteure – ob able-bodied und disable-bodied –, d.h. von Schauspielerinnen und Schauspielern, Produzentinnen und Produzenten sowie Rezipientinnen und Rezipienten? Für die Filmanalyse nahmen wir uns die populäre Science-Fiction-Reihe „X-Men“ von Marvel vor, die eine Gesellschaft aus Menschen mit und ohne Mutationen inszeniert. Wir wählten daraus die drei Filme „X-Men“, „X-Men 2“ und „X-Men: Der letzte Widerstand“ (auch: „X-Men 3“) aus, um zu untersuchen, wie sie Dis/Ability bzw. Anderssein in Bezug auf Individuen, Familie und Gesellschaft darstellen. Diese Verbindung individueller und kollektiver Aspekte erschien uns filmimmanent sinnvoll und schloss überdies gut an den Seminarkontext an. Unserer Ausgangsthese nach verdeutlicht die Inszenierung von Dis/Ability bzw. Differenz in allen drei Kategorien (Individuum, Familie, Gesellschaft), dass Science-Fiction-Filme nicht so weit von der Realität entfernt sind, wie angenommen werden könnte. Zugleich regen die X-Men-Filme in herausragender Weise dazu an, über die Qualitäten, Abgrenzungen und Definitionen von Ability und Disability nachzudenken. Sie setzen sich mit der Idee auseinander, inwiefern aus verschiedenen Perspektiven eine vermeintliche Disability als befähigend und eine vermeintliche Ability als behindernd aufgefasst kann. Jeder Mutant in „X-Men“ hat durch psychische oder physische Veranlagungen Fähigkeiten, die in der Gesellschaft negativ konnotiert sind. Die als unerwünschte Abweichung vom „Normalen“, als Makel aufgefassten Mutationen können mit einer Dis/Ability gleichgesetzt werden. Für einen großen Teil der Mutanten ist diese genetische Veränderung hingegen eine Ability mit einer dementsprechend positiven Konnotation. Hier wird seitens der Gesellschaftsmehrheit also die besondere Ability der X-Men als Dis/Ability konstruiert ohne zu hinterfragen oder zu reflektieren, wie ihr Potential individuell oder für das Gemeinwesen genutzt werden kann.

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Auf Basis dieses Konfliktes ergibt sich die Schreibweise Dis/Ability, die wir in diesem Beitrag verwenden. Sie nimmt zum einen Bezug auf die geläufigere Schreibweise Dis/ability. Diese Version mit einem kleinen „a“ und Schrägstrich knüpft an die Forderung an, „dass ability und disability gemeinsam und in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu untersuchen sind.“ (Waldschmidt/Bösl 2017, 41). Zum anderen greifen wir das Leitbild der österreichischen Organisation „myAbility“ auf. Der Schreibweise von Dis/Ability mit einem großen „A“ wird hier besondere Relevanz zugemessen. Das Ziel der Organisation ist es, Studierenden und Menschen mit einer Behinderung zu helfen, wichtige Posten in österreichischen Unternehmen zu besetzen. Aus diesem Grund sehen die Gründer und Leiter der Organisation in der Dis/Ability eine Ability und nutzen deswegen die Schreibweise mit einem großen „A“. (myAbility Social Enterprise GmbH 2019) Dies entspricht der bei „X-Men“ zugrunde liegenden Idee. Abbildung 1: Hollywood im Comicstil von unserer Blogseite „Science Fiction – Als Spiegel der Gesellschaft“ (Screenshot)

Quelle: Nane Kleymann

DIS/ABILITY IN DER TRAUMFABRIK: HOLLYWOOD (K)EIN INKLUSIVES SYSTEM? Ausgehend von dem Aufruf der UN-BRK, Medien für die Bewusstseinsbildung und den Wissenserwerb, für Teilhabe und Inklusion zu nutzen, stellten wir uns zunächst die Frage, inwieweit in einer massenmedialen Branche wie der Filmindustrie tatsächlich die Realisierung dieser Ziele angestrebt wird. Die deutsche Filmwirtschaft ist indirekt dazu verpflichtet worden, Filme auch in barrierefreien Fassungen bereitzustellen. Seit 2013 ist dies eine Bedingung, um Filmförderungen

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aus öffentlichen Geldern zu erhalten. Barrierefreie Fassungen werden hierbei vollständig gefördert (Richtlinie der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien [BKM] 2017). Dies bedeutet eine wesentliche Entwicklung in der mittlerweile über 120 Jahre alten Filmgeschichte. Dachte beim Aufkommen des Kinos noch niemand daran, dass auch blinde und hörgeschädigte Kinobesucher Filme genießen können (Bosse 2016b), so stieg inzwischen der Anteil an zugänglichen Filmen signifikant an und wird sich auch auf Dauer erhöhen. Führt dies dazu, dass auch die Darstellungen aktueller Filme durch neue Haltungen bestimmt werden? In den Pionierjahren des Kinos bis zum ersten Weltkrieg gehörten Stereotype zum festen Kanon der gezeigten Streifen. Sie führten damit zum einen die Tradition der bis ins 20. Jahrhundert populären Freak Shows fort und etablierten zum anderen klischeehafte Motive wie das der „Überwindung von Beeinträchtigung“. In „Lichter der Großstadt“ (1931) etwa verliebt Charlie Chaplin sich in ein blindes Blumenmädchen, dem er vorspielt, Millionär zu sein. Als er von einem befreundeten Millionär Geld bekommt, zahlt er ihre Augenoperation. Hier wird deutlich, dass eine uneingeschränkte Akzeptanz nur dann möglich erscheint, wenn eine Beeinträchtigung überwunden wird. Das Medium Film hat seit seinen Anfängen auf das kulturelle Wissen zum Thema Behinderung zurückgegriffen und dieses zugleich geprägt. (Norden 1994, 34-36, 45-46.) Die aktuell hohe Anzahl von Spielfilmen, in denen Behinderung im Fokus steht, wie die jüngsten europäischen Produktionen „Ziemlich beste Freunde“ (Frankreich 2011) oder „Verstehen Sie die Béliers?“ (Frankreich 2015), „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ (Deutschland 2014), „Dora und die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ (Deutschland 2016), „In meinem Kopf ein Universum“ (Polen 2015), „Zugvögel“ (Belgien 2015), im weiteren Sinn auch „Border“ (Schweden 2018) ist ein Zeichen dafür, dass das Thema Behinderung bzw. Andersartigkeit zu einem festen Bestandteil der Kinowelt geworden ist. Menschen mit einer Dis/Ability sind in den vergangenen Jahren also rein quantitativ häufig präsent; dies ist nicht verwunderlich, steht doch Inklusion auch stark im Fokus gesellschaftspolitischer Diskurse. Festzuhalten ist jedoch bereits jetzt, dass Behinderung in Filmen überwiegend als individuelles Problem inszeniert wird, das mit einer Anpassung an die Gesellschaft verbunden ist. Insgesamt wird deutlich, dass weiterhin Menschen mit Behinderung nur selten auf selbstverständliche oder alltägliche Weise in die Filmstory eingebunden sind. Sie bleiben immer etwas Außergewöhnliches, wobei vermehrt mit Stereotypen und Klischees gespielt wird, auch wenn diese neuerdings genutzt werden, um deren Fehlerhaftigkeit zu entlarven (vgl. Bosse 2006, 2; Bosse 2015, 14-15). In vielen Filmen dient die Thematisierung des Andersartigen, Besonderen geradezu als Aufmerksamkeitsgarant, seitdem 1990 das Drama „Mein linker Fuß“ mit zwei Oscars ausgezeichnet wurde. In

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aktuellen Produktionen wird dies häufig fortgeführt. Menschen mit Behinderungen sind „das Ungewöhnliche“, das die Zuschauerinnen und Zuschauer anziehen soll. (Bosse 2014a, 150) Mehr noch: Die Oscarauszeichnungen der letzten Jahre zeigen, dass die Hollywood-Produktionen, die sich mit Dis/Ability auseinandersetzen, vielversprechende Anwärter auf den Preis sind. Hierbei spielen in aller Regel able-bodied Schauspielerinnen und Schauspieler disable-bodied Rollen. Bis 2017 wurden 59 Oscarnominierungen für Schauspielerinnen und Schauspieler ausgerufen, welche disable-bodied Charaktere spielten. 27 von ihnen gewannen bis 2017 einen Oscar. Zwar wurde bei den Oscars 2019 viel Wert auf Diversität gelegt, was die Laudatoren und die Nebendarstellerkategorien anbelangt. Dennoch sind allein die Oscarlokalitäten nicht für Diversität ausgelegt. Die Bühne etwa ist nur über Stufen zu erreichen, eine Rampe fehlt. Wie kann es sein, dass Diversität in Filmen dargestellt und honoriert wird, in der Realität jedoch nicht für so relevant gehalten wird, dass konkrete Maßnahmen der Inklusion ergriffen werden? Als wir im Zuge unseres Arbeitsprozesses auf diese Kluft zwischen filmischer Welt und Produktionskontext aufmerksam wurden, erschien es uns notwendig, die Ambivalenzen der „Traumfabrik Hollywood“ im Umgang mit Dis/Ability ausführlicher zu behandeln. Die USA sind ein Land, das den Gedanken der Inklusion bereits intensiv verinnerlicht hat: „Inklusion ist ein Prozess – Inklusion ist ein Prozess, der von einem System ausgeht – Ein System muss inklusiv werden, um jedem Individuum die Möglichkeit zur Partizipation zu geben.“ (Boban/Hinz 2017, 38). Es gibt kaum ein Land, in dem Menschen mit einer Behinderung so unbeschwert reisen können wie in die USA. Seit Juli 1990 existiert dort der „Americans with Disabilities Act“ (ADA), ein Behindertengleichstellungsgesetz, welches Menschen mit einer Behinderung Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt, ein barrierefreies Leben und die Möglichkeit zur Partizipation verspricht.4 25 Jahre nach Erlass des Gesetzes pries der damalige US-Außenminister John Kerry im Juli 2015 im Interview mit Redakteuren des „Guardian“ die gesetzlich eingeführten Errungenschaften: „That historic, bipartisan legislation has played a huge role in making our country more accessible and inclusive. It guarantees our citizens with disabilities equal employment opportunity. It makes our buildings more accessible. And it requires the availability of communication aids that have enabled Americans with disabilities to participate more fully in society.“ (Kerry 2015)

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Online einzusehen https://www.ada.gov/pubs/adastatute08.pdf vom 24.03.2019.

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Kerry stellte seinem Bild der Inklusion in Amerika die globale Wirklichkeit gegenüber. Er verwies auf die Rückständigkeit anderer Länder in Bezug auf den Umgang mit behinderten Menschen, die Gleichberechtigung und ein barrierefreies Leben. Kerry appellierte in diesem Zuge an die internationale Gemeinschaft und forderte sie zum Handeln auf. Ein Blick ins Innere des Landes zeigt jedoch, dass sich direkt vor ihm, im weltberühmten Los Angeles, mit der „Traumfabrik Hollywood“ eine Gesellschaft und Industrie befindet, die bis heute an der Umsetzung der inklusiven Standards scheitert. Bei der Frage nach der Macht der Medien und besonders des Films gilt es, auch den Einfluss jener Institutionen zu beleuchten, welche für die Produktion eben dieser Medien verantwortlich sind, und die Verwendung der besagten Macht zu beurteilen. Eine der vorherrschenden Meinungen ist, dass Hollywood es derzeit versäumt, seine Plattform und seine mediale Präsenz für gesellschaftlich relevante Aufklärungszwecke zu verwenden. In der jüngsten Vergangenheit standen die Verantwortlichen der großen Institutionen in Hollywood wiederkehrend in der Kritik. Hierbei ging es beispielsweise um die mangelnde Wertschätzung von afroamerikanischen Schauspielern und Schauspielerinnen (Oscars so white, 2016), die Gleichberechtigung und gleiche Bezahlung von Frauen und Männer sowie den Machtmissbrauch von Männern und die daraus resultierende #Metoo-Debatte und Time’s Up-Initiative im Jahr 2017 sowie um die Unterpräsentation von Frauen in bestimmten männerdominierten Bereichen (Golden Globes 2018: „And here are the all male nominees.“). Die Debatte um die Öffnung Hollywoods als Arbeitsmarkt für Menschen mit Dis/Abilities und die Behandlung/Verarbeitung von Themen, in denen die Dis/Ability-Community repräsentiert wird, schwingt bereits seit mehreren Jahrzehnten unterschwellig mit. Wie oben festgestellt, herrscht eine Diskrepanz zwischen der Darstellung von Dis/Ability im Film und realen gesellschaftlichen Verhältnissen. Untersucht man die Ebene der Teilhabe in Medien, sollte man zu Beginn den Fokus zunächst auf die prozentuale Präsenz von Figuren mit Dis/Ability im Film und die prozentuale Präsenz von Menschen mit einer Behinderung in der heutigen Gesellschaft legen. Aus einer Studie der MDSC-Initiative (The Media, Diversity, & Social Change) von Stacy L. Smith aus dem Jahr 2018 geht hervor, dass in den 900 untersuchten Topfilmen der Jahre 2007 bis 2016 nur 2,7 Prozent aller Charaktere als Menschen mit Dis/Ability dargestellt wurden, während 18,7 Prozent aller Amerikanerinnen und Amerikaner eine Dis/Ability aufweisen (Smith/Choueiti/Pieper 2017, 8-9). Hier wird deutlich, dass Hollywood es nicht schafft, dem Anspruch auf Realitätsnähe gerecht zu werden. Zugleich untermauert diese Unterrepräsentation die Inszenierung von Dis/ability als etwas Unge-

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wöhnlichem, Besonderem. In Bezug auf die allgemeine Thematik Dis/Ability lässt sich zumindest sagen, dass sie mittlerweile in verschiedenen Unterhaltungsformaten wie Spielfilmen oder auch erfolgreichen Fernsehserien vorkommt. Dabei veränderten sich im Lauf der Zeit die Blickwinkel und Intentionen, mit denen Charaktere mit Dis/Abilities in die Handlung integriert wurden. Beispielsweise waren in der Vergangenheit Rollen mit Beeinträchtigung ein probates Mittel, um bei den Zuschauerinnen und Zuschauern ein Gefühl der Angst zu produzieren. Körperliche Verstümmelungen und Narben im Gesicht oder auch ein hinkender Gang werden seit jeher mit der Darstellung von Monstern (Frankenstein,1931) in Verbindung gebracht. Auch wurden und werden Persönlichkeiten mit psychischen Erkrankungen gern mit gewalttätigen Eigenschaften ausgestattet oder als Figuren charakterisiert, die sich zwischen Genie und Wahnsinn bewegen. Eine weitere Art der Darstellung ist die Einbindung einer Person mit Dis/Ability in eine herzergreifende und emotionale Liebesgeschichte, in der die Protagonisten die gesellschaftlichen Grenzen und Barrieren aufbrechen und allen Hindernissen zum Trotz es schaffen, ihrer Liebe ein Happy End zu ermöglichen. Besonders diese Geschichten gelten mittlerweile in der Filmindustrie als eine Art Publikumsmagnet. In filmischen Darstellungen treffen somit die möglichen Ängste, die Faszination und auch der Unterhaltungswert von Dis/Ability aufeinander. (Anders 2014, 47-50) Ferner präsentieren Filme seit Jahrzehnten Menschen mit einer Behinderung als Opfer. Hierbei werden, um des emotionalen Effekts der jeweiligen „leidenden“ Rolle willen, vorhandene gesellschaftliche Entwicklungen ignoriert, von medizinisch-technologischen, rehabilitativen Fortschritten über erweiterte Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Behinderung bis zu neuen Definitionen und Konzepten von Dis/Ability, die etwa in Gesetzen wie dem ADA, dessen Erweiterung von 2008 (ADAAA) oder auch in der UN-Behindertenrechtskonvention in die Wege geleitet wurden. In einigen Filmen scheinen Figuren mit einer Dis/Ability vorrangig aufgrund der medialen Inszenierbarkeit des Themas in stereotypisierender und stigmatisierender Weise als Opfer der Gesellschaft und der herrschenden Umstände dargestellt zu werden. (Anders 2014, 52) Kritiker der Hollywood-Inszenierungen, insbesondere aus Kreisen der Dis/Ability-Community, erheben eine Reihe von Forderungen an die Filmemacher Hollywoods in Bezug auf die Repräsentation von Dis/Ability. Sie fordern sie beispielsweise auf, auf die Inszenierung von Freak Shows zu verzichten und auf einen eher dokumentarischen Stil auszuweichen. Darüber hinaus verweisen sie oft auf die anhaltende realitätsferne Darstellung gesellschaftlicher Praktiken. Sie erwarten von den Filmemachern, dass sie ihren Fokus auf die existierenden Ungerechtigkeiten und die ungerechten Menschen/Systeme legen und nicht auf die Rolle von behinderten Menschen als Opfer des Systems. In ihren Appellen an die

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Filmemacher halten sie es für unumgänglich, dass diese ihre machtvolle Position zur Bildung der Gesellschaft gewissenhaft nutzen sollen. (Anders 2014, 52-55) Für viele Menschen wird das Thema Behinderung noch von sehr viel Unwissenheit oder gefährlichem Halbwissen begleitet. Hier sollte die Filmindustrie ansetzen und ihren Teil zu Aufklärung der Gesellschaft beitragen. Schließlich besteht hier ein großes Potential, wie Filme und Fernsehserien ein verändertes Bewusstseins hinsichtlich Dis/Ability fördern können und welch positive Wirkung zeitgenössische mediale Bilder auf gesellschaftliche Einstellungen erzielen können. Doch nicht nur die Forderung nach einem reflektierten und aufgeklärten Umgang mit Dis/Ability in Filmen und Serien steht im Raum. Zu der Darstellung und Teilhabe in Medien gehört im gleichen Maße auch die aktive Beteiligung von Menschen mit Dis/Abilities an Filmen. Filmrollen an Schauspielerinnen und Schauspieler mit einer Dis/Ability zu vergeben, ist eine wesentliche Quintessenz des Diskurses und geht einher mit der Entwicklung des Arbeitsplatzes Hollywood und seiner Öffnung für Menschen mit Behinderungen. Denn auch wenn die Dis/Ability-Thematik in Hollywood bereits in Form von filmischen Darstellungen auf verschiedenen Wegen integriert wurde, lässt sich noch nicht von einer Inklusion von Schauspielern und Schauspielerinnen mit Behinderung sprechen. Erst 1980 ergatterte die erste US-amerikanische Schauspielerin mit einer offensichtlichen Dis/Ability, Geri Jewell, eine wiederkehrende Rolle in der Fernsehserie „The Facts of Life“ (1980-1984). (Jewell 2011, 172) Als gegenwärtiges Beispiel lässt sich an dieser Stelle der kleinwüchsige amerikanische Schauspieler Peter Dinklage nennen, der bereits seit 2011 eine tragende Rolle in der Serie „Game of Thrones“, der hochumjubelten und vielprämiierten TV-Adaption der FantasySaga von Georg R. R. Martin, innehat. Für seine Rolle des Lord Tyrion Lennister erhielt Dinklage 2011 und 2015 den Emmy Award und 2012 den Golden Globe als bester Nebendarsteller. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um den Regelfall. David Gordon Green, der Regisseur des Films „Stronger“ (2018), stand erst unlängst für das Casting von Jake Gyllenhaal für die Rolle des beinamputierten Jeff Baumann, eines Überlebenden des Attentats auf den Boston Marathon 2013, in der Kritik. „The Ruderman Family Fundation“, eine von der Ruderman-Familie geführte Organisation, die ihren Fokus auf die Inklusion von Menschen mit Dis/Abilities in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft legt5, kritisierte die Tatsache, dass die Verantwortlichen es nicht in Erwägung zogen, einen beinamputierten Mann für diese

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Für weitere Informationen https://rudermanfoundation.org/about-us/our-story/ vom 28.03.2019.

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Rolle zu casten. Schauspieler mit einer derartigen Dis/Ability erhielten nicht die Chance, für diese Rolle vorzusprechen. Green nahm während eines Zeitungsinterviews am 26. September 2017 gegenüber Gregory Wakeman von der „Metro US“ Stellung zu diesen Vorwürfen. Er begründete die Besetzung der Rolle damit, dass er bereits beim Lesen des Drehbuchs Gyllenhaal als Hauptdarsteller vor Augen gehabt habe und längst mit ihm habe zusammenarbeiten wollen. Er zeigte sich sicher, dass dieser der Aufgabe gewachsen sei. Auf die wiederholte Frage von Wakeman, warum keine Schauspieler mit einer Dis/Ability vorsprechen durften, entgegnete Green: „I don’t know any by name, but I’m sure there are wonderfully talented amputees or people that have lost their legs in various ways that could have given extremely skilled performances. But Jake was just the one that I always had in my mind, an actor I’d had my sights on for years to work with, and this just felt like the perfect role for him to embody. […] but I needed an actor that I knew had the experience and that could go do the research.“ (Wakeman 2017)

Für Gyllenhaal regnete es anschließend Lob und Anerkennung für seine schauspielerische Leistung, mit der er sich in eine lange Liste von Schauspielerinnen und Schauspielern einordnete, die als Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller besondere Anerkennung für ihre Darstellung von Menschen mit Behinderung bekamen, obwohl sie selbst keine Beeinträchtigung aufweisen. Sie spielten in vielprämiierten Filmproduktionen mit wie beispielsweise „Rain Man“ (1988, vier Oscars), „A beautiful Mind“ (2001, vier Oscars), „The King’s Speech“ (2010, vier Oscars).6 Gleiches lässt sich über die Branche der TV-Serien sagen. Die Schauspielerin Laura Innes beispielsweise erhielt für ihre Rolle der gehbehinderten und homosexuellen Oberärztin in der Serie „Emergency Room“ in den Jahren 1995 bis 2009 eine Vielzahl von Preisen verliehen. Man kann, wie oben schon erwähnt, durchaus davon sprechen, dass die Verkörperung von Menschen mit Beeinträchtigung in Hollywood mittlerweile als eine Garantie gehandelt wird, für den Oscar und den Golden Globe nominiert zu werden. Dies wurde durch die Oscar-Auszeichnung des Briten Eddi Redmayne im Jahr 2014 für seine Darstellung des Physikers Stephan Hawking (1942-2018) in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ (2014) noch einmal bestätigt. Redmayne befindet sich mit seiner Auszeichnung in einer prominenten Gesellschaft von weiteren Schauspielerinnen und Schauspielern, die ebenfalls für ihre Darbietungen von

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Sämtliche Preisträger*innen und Nominierungen seit der ersten Preisverleihung 1927 sind online einsehbar unter http://awardsdatabase.oscars.org/ vom 14.03.2019.

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Personen mit Dis/Abilities prämiiert wurden. Dazu zählen beispielsweise Al Pacino (Bester Schauspieler 1993, „Scent of a Woman“) und Jamie Foxx (Bester Schauspieler 2005, „Ray“), die ihre Preise beide für die Darstellung eines blinden Mannes bekamen. Hillary Swank erhielt 2005 für ihre Darbietung in „Million Dollar Baby“ ebenso den Oscar wie Juliane Moore 2015 für „Still Alice“. Zwischen 1927, dem Jahr der ersten Oscar-Verleihung, und dem Jahr 2012 erhielten 16 Prozent der Gewinner in den Kategorien Bester Schauspieler und Beste Schauspielerin ihren Preis für die Darstellung einer Person mit einer Dis/Ability. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass im selben Zeitraum erst vier Personen mit einer Behinderung einen Oscar erhielten (Ellis 2016, 72): 1947 Harold Russel („Die besten Jahre unseres Lebens“, 1984 Linda Hunt („Ein Jahr in der Hölle“), 1987 Marlee Matlin („Gottes vergessene Kinder“) und 1999 Dan Keplinger („King Gimp“). Der Moment, in dem Dan Keplinger seinen Preis entgegennehmen sollte, steht seither beispielhaft für die fehlende Barrierefreiheit innerhalb der Academy. Schließlich war er mit seinem Rollstuhl nicht in der Lage, auf die Bühne zu kommen und seinen Preis persönlich entgegenzunehmen, da die Kulissen keine Rollstuhlrampe hatten. (Ellis 2016, 72-73)

STAN LEE UND DISABILITY POWER Die Darstellung von Dis/Ability in Hollywoodfilmen ist inzwischen nahezu allgegenwärtig. Dass Dis/Ability jedoch als eine Ability inszeniert werden kann, ist unter anderem auf den US-amerikanischen Comicautor und Filmproduzenten Stan Lee und sein Verständnis von Dis/Ability zurückzuführen. Stan Lee, geboren 1922 in New York als Stanley Martin Lieber, gestorben 2018 in Los Angeles, schuf zusammen mit anderen Zeichnern die Marvel Comics, eine Reihe von Superheldenerzählungen, die heute in zahlreichen Verfilmungen adaptiert werden. (Raphael/Spurgeon 2003, 2) Nach dem erfolgreichen Start der Fantastic Four-Comicreihe in den 60er Jahren entstanden unter anderem die „X-Men“ sowie „Hulk“, „Iron Man“, „Daredevil“ und „Spider-Man“.7 Diese Charaktere in den Comics und späteren Verfilmungen sorgten dafür, dass das Superheldengenre neu erfunden wurde. Ein neues Bild von Helden und neue Konnotationen von Dis/Ability wurden populär. Lee schrieb Charaktere, mit denen sich die Leserin und der Leser neu 7

Als ausführender Produzent hatte Stan Lee zahlreiche Cameo-Auftritte in Marvel-Filmprojekten. Bei der X-Men-Reihe erschien er unter anderem als Hot-Dog-Verkäufer („XMen“) und als Gärtner („X-Men: Der letzte Widerstand“). – Das Folgende nach https://de.wikipedia.org/wiki/Stan_Lee vom 20.03.2019.

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identifizieren konnten, statt der unfehlbaren Idole, die Superhelden bis dahin immer waren. Lees Comicfiguren hatten Fehler und Probleme (Lawrence 2013, 6465). Sie litten unter Wutausbrüchen, waren Außenseiter, eitel oder gierig; sie konnten die Miete nicht zahlen oder litten unter gesundheitlichen Problemen. „Ich versuchte, die Charaktere dahingehend zu entwickeln, dass sie echte Gefühle und Probleme hatten. Und es kam an!“ sagte Lee später (n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH 2017). Die menschliche Seite der Helden wurde zum Markenzeichen von Marvel. Trotz ihrer Superkräfte stehen die Helden in Lees Comics immer einem Superschurken gegenüber, der mächtiger ist, und die Helden müssen herausfinden, wie sie über das Böse triumphieren können (Borcholte 2012). „It is the idea of a person with lesser strength overcoming, no matter what they are faced with […]“, sagte Lee (Lee 2016). Er verlieh seinen Helden übernatürliche Kräfte und individuelle Einschränkungen, die sie zu meistern hatten und deren Handhabung sie so erlernen mussten, dass sie sie gewinnbringend einsetzen konnten. Lee selbst sprach hier von einer Metapher für Dis/Abilities in der gegenwärtigen Gesellschaft. Auf eine ähnliche Weise, so Lee, können Kinder mit ADHS oder Lernschwierigkeiten lernen, ihre Behinderung als „Macht“ zu sehen. Wie die X-Men können sie stolz auf das sein, was sie anders macht, sich auf das Positive konzentrieren und es zu ihrem Vorteil nutzen. Und sie können erkennen, dass einige Leute scheinbar ein perfektes Leben haben, dass aber alle Menschen vor Herausforderungen stehen. (Lee 2016) Stan Lees Perspektiven auf Dis/ability verbreiteten sich international durch seine Comics und deren Filmadaptionen. Seine Darstellung von Heldentum erscheint auch innerhalb des Disability Right Movement als „gesellschaftsfähig“: „In the Black community, Ben Parker’s advice about great power and responsibility is part of the cultural mainstay of Black leadership, and certain disability leaders have even joked on Twitter which members of the X-Men they most associate with their leadership style.“ (Cokley 2018) Unabhängig von kultureller oder ethnischer Abstammung, von Religionen oder von Geschlecht bieten Stan Lees Charaktere eine Identifizierungsmöglichkeit für all diejenigen, deren Dis/Ability seitens der Gesellschaft als vermeintliche Schwäche angesehen wird. Sie vermitteln ihnen die Idee, Dis/Ability als „personal power“ zu verstehen. Die Aufgabe der X-Men, ihre Kräfte konstruktiv einzusetzen, um als Mutanten (und nichtsdestotrotz als menschliche Wesen) in die Gesellschaft integriert und von dieser akzeptiert zu werden, kann mit Lee als eine Metapher für „disability power“ aufgefasst werden: „The effort and intent that the characters have to muster to control their powers and their lives is a standing metaphor for disability power and the humble school in Westchester is likely the only segregated school that any kids with disabilities hope they ever get to attend.“ (Cokley 2018)

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So ist es nicht verwunderlich, dass während der Oscars 2019 auf den kurz zuvor verstorbenen Stan Lee Bezug genommen wurde: „Wir haben einen Helden verloren“, so die Oscar-Akademie. (Clamann 2018)

SCIENCE-FICTION-FILME: CHARAKTERISTIKA UND POTENTIALE Bevor im Folgenden ausgewählte Filme der X-Men-Reihe analysiert werden, erscheinen noch einige Bemerkungen zum Filmgenre Science-Fiction angebracht. In der Filmwissenschaft spricht man von Science-Fiction seit den 1950er Jahren. Seitdem hat sich ein Genrebewusstsein entwickelt, und Filme wurden bewusst unter dem Label Science-Fiction vermarktet. (Sontag 1967, 90) Genres waren bis dahin noch nicht konkret definiert worden, da die Theoriebildung erst in den 1960er/1970er Jahren einsetzte. (Hickethier 2007, 65-66) Man sprach in diesem Zusammenhang von Filmen, die auf spezifischen Ebenen Gemeinsamkeiten aufweisen. Hatte ein entsprechendes Filmwerk größeren Erfolg, entwarf man Repliken, die auf ähnliche inhaltliche und formale Merkmale zurückgriffen. (Schweinitz 1994, 101) Das Science-Fiction-Genre bringt besonders hohes Potential mit, gesellschaftlich relevante Themen für das breite Publikum aufzuarbeiten. Im allgemeinen Diskurs über die Authentizität und das Potential von Filmen allerdings wird diese Gattung gern übergangen, da durch die Vielzahl an ästhetischen und abstrakten Elementen sowie eine Reihe von Verfremdungen und special effects der ScienceFiction-Film auf den ersten Blick als utopisch und realitätsfern abgetan wird. Science-Fiction handelt von Problemen, denen sich nicht nur ein einzelner Mensch, nicht nur eine einzelne Familie oder Gruppe stellen muss. Es sind Probleme, die in der Regel die Zukunft der ganzen Gesellschaft betreffen und entsprechend mit Ängsten verknüpft sind. (Jung/Seeßlen 2003, 30) Diese Ängste beruhen zumeist auf realen Gegebenheiten, wie zum Beispiel auf einer Krise, die von einer Gesellschaft gerade überstanden wurde, oder auf einem aktuellen politischen Thema. (Sontag 1967, 16-19) Die Filme thematisieren den naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt, jedoch oft gerade weniger die damit verbundenen Hoffnungen als vielmehr die Ängste, die mit Fortschrittsspekulationen verknüpft sind. Fortschritt erscheint also in diesem Zusammenhang nicht prinzipiell als positiv. Die Themen, mit denen sich Science-Fiction-Filme auseinandersetzen, sind zum Beispiel die Angst vor dem Bevorstehenden, die Bedrohung der

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Menschheit, die Hoffnung auf eine bessere Welt, die Rettung aus der Gefahr und die Darstellung einer möglichen Zukunft. (Spiegel 2007, 42) Die Filmwissenschaft einigte sich im Laufe der anhaltenden Diskussionen um die Definition des Filmgenres Science-Fiction darauf, dass sogenannte Nova – wunderbare Elemente – den Science-Fiction-Film charakterisieren. Die Prämisse, die diese Nova erfüllen müssen, ist, dass sie prinzipiell nicht unmöglich sein dürfen. (Spiegel 2007, 42) Während Märchen- und Fantasyfilme in ihren eigenen verschiedenen Welten spielen, nimmt Science-Fiction an, dass es zwischen der fiktionalen Welt und der empirischen Welt eine Kontinuität gibt. Das Novum ist demnach kein Phantasiegebilde aus einer fiktiven Märchenwelt, sondern basiert auf den Naturgesetzen der „realen“ Welt und ist demnach anscheinend realitätskompatibel. (Spiegel 2007, 43-44). Spiegel spricht in dem Rahmen von einer Naturalisierung. Das Ziel sei es, eine Atmosphäre der Wissenschaftlichkeit und technischen Plausibilität zu erzeugen, so dass sie den Anschein wissenschaftlich-technischer Machbarkeit aufweise. Science-Fiction orientiert sich in der Bild- und Wortsprache an aktuellen Vorstellungen von Wissenschaft und Technik, um diese in einen weiter fortgeschrittenen, zukünftigen Zustand zu projizieren. (Spiegel 2007, 51) Science-Fiction wird unter anderem als ein Medium der Warnung von den Filmemachern verwendet. Sie nutzen die Abstraktheit und die implizite Ebene des Films, um die Rezipientinnen und Rezipienten auf mögliche Entwicklungen der Gegenwart hinzuweisen. Der Science-Fiction-Theoretiker Darko Suvin beschreibt in diesem Zusammenhang das Element der „kognitiven Verfremdung“. (Freedman 2000, 15) Das Ziel, welches der Science-Fiction-Film durch die abstrakten Elemente und den utopischen Anschein erreichen will, ist es laut Suvin, eine kritische Distanz zwischen den Zuschauerinnen und Zuschauern und der Darstellung im Film zu erzeugen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer soll vom Ablauf des Geschehens auf die Sinngebung des Geschehens, also die implizite Ebene hinter der Darstellung, gelenkt werden. (Freedman 2000, 15) Bei der Rezeption von Science-Fiction-Filmen ist nämlich stets zu bedenken, dass man den Film auf zwei Ebenen verstehen kann. Man unterscheidet hierbei zwischen der expliziten Ebene, also dem, was man in der Szene sieht und was gesagt wird, und der impliziten Ebene, also der Bedeutung des Gesagten und Gezeigten. (Spiegel 2007, 178) Das wichtigste formale Element für die Verfremdung ist dabei ein imaginäres Rahmenkonzept, wie es in vielen Science-Fiction-Filmen zu finden ist. Mit Hilfe der Verfremdung von alltäglichen Gegebenheiten erlangt der Zuschauer Abstand zu seinem gewohnten Bezugsrahmen und ist gezwungen, gesellschaftliche Umstände zu hinterfragen; somit erlaubt Science-Fiction deren kritische Beleuchtung. (Freedman 2000, 16)

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ANALYSE DER X-MEN-FILME Die X-Men-Filme aus den Jahren 2000, 2003 und 2006 zeigen die amerikanische Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die hier jedoch gespalten auftritt. Ein Teil der Bevölkerung lebt mit dem Doppel-XX Chromosom und gehört daher zur Gruppe der sogenannten Mutanten. Bei den Mutationen dieser X-Men kann es sich um eine äußere oder innere Mutation handeln. Jedoch kommt es prinzipiell zu Behinderung, Marginalisierung und Ausgrenzung, zu Stereotypisierung und Stigmatisierung dahingehend, dass den Mutanten eine gesellschaftliche Teilhabe seitens der Bevölkerung ohne Mutationen erschwert wird. Auf der impliziten Ebene, bei der die Bedeutung des Gesagten und Gezeigten im Mittelpunkt steht, wird hier also der gesellschaftliche Umgang mit Dis/Ability und Differenz verhandelt. Die X-Men Filme spiegeln den unmenschlichen Umgang mit Dis/Ability seitens großer Teile der Gesellschaft in einer realitätskompatiblen Welt wieder. Sie legen ihren Fokus auf die Ungerechtigkeiten und die ungerechten Systeme und repräsentieren damit eine real existierende Kluft zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Sie verweisen darauf, dass in der amerikanischen Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts – trotz mancher Bemühungen um ein inklusives System – die Möglichkeiten der Partizipation von Menschen mit Dis/Ability noch begrenzt sind. Bei unseren Analysen haben wir die explizite und die implizite Ebene gemäß der Definition von Spiegel einbezogen. Auf der expliziten Ebene wurde zunächst untersucht, was für eine Gesellschaft in den Filmen dargestellt wird. Wer sind die Protagonisten und was erleben sie im Laufe der Handlung? Der erste Film der XMen-Reihe aus dem Jahr 2000 stellt eine Gesellschaft dar, in der neben den „normalen“ Menschen auch ein kleinerer Anteil von Menschen mit einer Mutation existiert. Bei den Mutationen handelt es sich um eine dauerhafte Veränderung des Erbguts, die die ursprüngliche Bedeutung der Gene überschreibt. Unterschieden wird hier zwischen einer äußerlich sichtbaren Mutation oder einer innerlichen Mutation. Die meisten Mutationen haben eine Steigerung der kognitiven Fähigkeiten und/oder eine besondere körperliche Leistungskraft und Stärke zur Folge. Die Mutanten klassifizieren sich selbst in Klassen von eins bis fünf. Je höher die Klasse, umso ausgeprägter ist die jeweilige Stärke. In den X-Men-Filmen stellen die Mutanten einen Fortschritt der menschlichen Evolution dar. Aufgrund ihrer Fähigkeiten sind sie den „normalen“ Menschen überlegen, was zu Konflikten innerhalb der filmisch dargestellten Gesellschaft führt. Besonders die nicht sichtbaren Mutationen schüren große Angst innerhalb der Gruppe der Nichtmutanten, weshalb die Regierung eine Meldepflicht für Mutanten initiiert. Die Mutanten selbst wehren sich allerdings dagegen mit den Argumenten, dass eine

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Meldepflicht aufgrund ihrer Andersartigkeit einen Verstoß gegen die Menschenrechte darstelle, eine Stigmatisierung fördere und eine Generalisierung von Mutation als Folge hätte. Befeuert wird diese Diskussion, aus Sicht der Mutanten, durch das mangelnde Fachwissen seitens der Gesellschaft über das Thema Mutation. Die Gesellschaft lässt außer Betracht, dass es sich besonders bei den jungen Mutanten um in sich gespaltene Individuen handelt. Die Mutationen entwickeln sich nämlich erst im Laufe der Kindheit und brechen dann spätestens in der Pubertät vollends aus. Im ersten Film begleiten die Zuschauerinnen und Zuschauer ein Mädchen auf dem Weg zu ihrer Mutation und bekommen einen Einblick in den Zwiespalt und die Konflikte, mit denen sich die junge Mutantin auseinanderzusetzen hat. Es handelt sich um die junge Marie (Rouge), die im Zuge ihrer Pubertät ihre Fähigkeiten entdeckt. (X-Men: TC:00:04:30) Marie besitzt die Fähigkeit, durch Berührung von Menschen deren Lebensenergie zu absorbieren. Diese Fähigkeit löst bei ihren Eltern eine große Angst aus. Sie wissen nicht, wie sie mit der Veränderung in ihrem und Maries Leben umgehen sollen, was eine unausgesprochene Distanz zwischen ihnen und ihrer Tochter hervorruft. Marie verlässt daraufhin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihr Elternhaus – aus Angst, ihnen etwas anzutun. (X-Men: TC:00:14:00) Marie gilt in dieser Geschichte als ein Paradebeispiel für ein Individuum, das in sich gespalten auftritt. Im Gegensatz dazu ist sich der Mutant Erik Lehnsherr (Magneto) seiner Fähigkeiten bewusst und scheut sich nicht, diese einzusetzen. Er hegt einen Groll gegenüber den Menschen, da er im Nationalsozialismus als Opfer für Forschungsexperimente misshandelt wurde. Magneto führt einen Rachefeldzug gegen die Menschen und ihr Vorhaben, die Registrierung der Mutanten durchzusetzen. (X-Men: TC:00:07:25) Er verkörpert und vertritt im Zuge der Handlung Mutanten, die wegen ihrer Mutation von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden, und fungiert als deren Anführer. Getrieben wird Magneto durch den Stolz auf seine Fähigkeiten, das Bewusstsein der Einzigartigkeit eines jeden Mutanten und seine Abneigung gegen die Diskriminierung dieser mutierten Mitmenschen. Im Verlauf der Handlung wird der Aspekt der Forschung an Mutanten seitens der Regierung in den Vordergrund gerückt. Im Fokus steht hierbei der Militärwissenschaftler William Striker, dessen Bestreben es ist, das „Mutantenproblem“ zu lösen. Dieses Vorhaben wird durch die amerikanische Regierung finanziell unterstützt, nachdem der Präsident selbst Opfer eines Überfalls durch den Mutanten Kurt Wagner (Nightcrawler) wurde. (X-Men 2: TC:00:05:17) Kurt Wagner besitzt die Fähigkeit der Teleportation und zusätzlich eine äußere Mutation, die ihn in als eine dunkelblaue, teufelsähnliche Gestalt kennzeichnet. Neben dem Angriff auf den Präsidenten verwendet er allerdings seine Fähigkeiten auch dafür, in Strikers Labor einzudringen und dort die illegal festgehaltenen Mutanten, an denen

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Experimente durchgeführt werden, zu befreien. Ähnlich wie Magneto leidet auch Kurt Wagner unter der Ausgrenzung seitens der Gesellschaft, die in seinem Fall auf seinem andersartigen Erscheinungsbild basiert. Diese Abwehr gegenüber Andersartigkeit lässt sich auf die anhaltende Unwissenheit innerhalb der Gesellschaft zurückführen. Die Menschen haben noch nicht gelernt, mit Menschen, die anders sind als sie selbst, umzugehen und diese ebenfalls als „normal“ zu empfinden. Dies wird besonders in der Familie des Mutanten Bobbie (Iceman) deutlich. Als seine Mutation im Laufe seiner Pubertät zum Vorschein kommt, reagiert seine Familie mit Entsetzen. Sie stellen ihm Fragen wie „Kannst du nicht einfach aufhören, ein Mutant zu sein?“ oder „Was haben wir nur falsch gemacht?“ Sie suchen die Schuld bei sich und leiden unter der Tatsache, dass ihr Kind anders ist als die anderen. Bobbies Bruder wiederum weist keine Mutation auf und stört sich an der steigenden Aufmerksamkeit, die seinem andersartigen Bruder zuteil wird. (X-Men 2: TC:00:52:20) Seine Eifersucht mündet darin, dass er Bobbie und seine Mutantenfreunde an die Regierung verrät und vorgibt, sich von ihnen bedroht zu fühlen. Daraufhin liefern sich Gesandte der Regierung und eine Gruppe von Mutanten eine gewaltsame Auseinandersetzung. In der dritten Phase der Geschichte kommt eine weitere Komponente hinzu, die das Modell, in dem Mutanten und Menschen prinzipiell in einer Gesellschaft koexistieren können, auf die Probe stellt. Der Wissenschaftler Warren Worthington II hat es geschafft, ein Heilmittel gegen Mutationen zu entwickeln. Er selbst leidet nicht unter einer Mutation, aus seiner Sicht jedoch sein Sohn: Diesem wachsen Engelsflügel und verleihen ihm die Fähigkeit zu fliegen. Sein Vater ist nicht gewillt, dieses „Schicksal“ für seinen Sohn zu akzeptieren. Anstatt seine eigene Unwissenheit zu überwinden, sich mit der Dis/Ability seines Sohns aktiv auseinanderzusetzen und dessen Prozess der Selbstannahme zu unterstützen, verwendet Warren die Ressourcen seines Pharmaunternehmens darauf, ein Heilmittel gegen Mutation zu entwickeln. (X-Men 3: TC:00:03:49) Diese Initiative gipfelt allerdings in jener Zeit, in welcher die Inklusion von Mutanten in der amerikanischen Gesellschaft bereits als Prozess begonnen hat. Für die Inklusion von Mutanten setzt sich der Beauftragte für Mutantenangelegenheiten der Regierung, Hank McCoy, ein, der selbst eine sichtbare Mutation in Form einer blauen Fellfarbe besitzt. Er sieht das Heilmittel als eine Gefahr für die Integrität der Gemeinschaft der Mutanten und befürchtet, dass es unter ihnen wie innerhalb der Gesamtgesellschaft zu ethischen Konflikten kommen könnte. Darüber hinaus vermittelt die Existenz eines Heilmittels, dass dieses notwendig sei und dass Mutationen etwas seien, was es zu heilen gilt. Dies widerspricht jenen Erkenntnissen und Ansichten, die Hank seit langem gesellschaftlich zu implementieren versucht. (X-Men 3: TC:00:09:23 – 00:12:14)

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Hank soll im weiteren Handlungsverlauf Recht behalten. Es kristallisieren sich innerhalb der Gesellschaft der Mutanten zwei Meinungen heraus. Auf der einen Seite befinden sich die Mutanten, welche gegen das sogenannte Heilmittel sind, und auf der anderen Seite stehen jene Mutanten, die zu jenem Teil der amerikanischen Gesellschaft ohne Mutationen gehören wollen. Zu letzteren gehört Marie, die bekanntlich unter ihren Fähigkeiten leidet. Dies wird im Verlauf der Handlung noch deutlicher, als sie versucht, mit ihrem Freund Bobbie eine Beziehung auf der körperlichen Ebene zu führen. (X-Men 3: TC:00:08:23) Ihr Wunsch, ihn endlich berühren zu können, überwiegt gegenüber dem ethischen Konflikt und dem Risiko, mit der Verwendung des Heilmittels eine gravierende, lebensverändernde Maßnahme durchzuführen. Als Heilmittelgegnerin gilt beispielsweise die Mutantin Storm. Sie durchläuft im Zuge der Geschichte einen Prozess der Selbstakzeptanz: Während sie am Anfang noch von ihrer Mutation als Last gesprochen hat, sieht sie ihre Fähigkeiten mittlerweile als ihre große Stärke an. (X-Men 3: TC:00:17:00) Storm formuliert ihre Akzeptanz gegenüber Charles Xavier: „[…] Nein Professor. Sie können uns nicht heilen. Und wissen Sie auch warum? Weil es nichts zu heilen gibt. Du bist völlig in Ordnung. Wir alle sind völlig in Ordnung.“ (X-Men 3: TC:00:17:35) Magneto steht ebenfalls auf der Seite der Heilmittelgegner, da er befürchtet, dass das Mittel in den Händen der Menschen als eine Waffe gegen die Mutanten verwendet werden würde. Mit seinen Anhängern beschließt er, die Fabrik zu zerstören und die Produktion des Heilmittels zu stoppen. Diesem Zerstörungsprozess stellen sich jedoch nicht nur die Menschen, sondern auch eine Gruppe von Mutanten entgegen, die X-Men, die verhindern wollen, dass ein Kampf auf Leben und Tod zwischen nichtmutierten Menschen und Mutanten ausbricht. Gemeinsam schaffen sie es, Magneto aufzuhalten. (X-Men 3: TC:01:25:17 – 01:35:00) Die XMen nutzen also ihre Fähigkeiten als Mutanten, um die Menschen zu unterstützen. Sie kämpfen nicht nur gegen die anderen Mutanten, sondern auch gegen die negativen Konnotationen, die ihrer besonderen Ability von Seiten der Gesellschaft zugesprochen werden. Ihr Kampf gegen das Heilmittel besteht darin aufzuzeigen, dass es sich bei ihren Fähigkeiten um eine gesellschaftlich gewinnbringende Ability handelt und ein Heilmittel deshalb nicht nötig ist. Es ist offensichtlich, dass ein Zwang, das Heilmittel zu nehmen, nicht angewendet werden sollte, da diese erzwungene Anpassung ein hohes Konfliktpotential mit sich bringt. Das Ziel sollte es vielmehr sein, ein inklusives System zu schaffen, in dem jedes Individuum einen gleichwertigen Beitrag zum Miteinander erbringen kann. Es ist notwendig, für jeden die Möglichkeit zur Partizipation zu schaffen, um Verantwortung in diesem inklusiven System übernehmen zu können. Eine pauschalisierende Ausgrenzung und Diskriminierung von Individuen führen dazu, dass ein gemeinsamer

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gesellschaftlicher Fortschritt verhindert und die Möglichkeit der Entwicklung gehemmt wird. Auf der impliziten Ebene wird deutlich, dass das den Filmen zugrunde liegende Thema der Umgang der Gesellschaft mit Andersartigkeit ist. In den Filmen wird dieses Thema auf drei Ebenen beleuchtet. Auf der individuellen Ebene dienen einzelne Personen als Beispiel für den in sich gespaltenen Menschen, der selbst mit seiner Andersartigkeit zu kämpfen hat und zunächst den Prozess der Selbstakzeptanz durchleben muss, um seinen Unterschied zu anderen als eigene Stärke anzuerkennen. Dann wird auf der Ebene der Familie der Konflikt deutlich, den die Präsenz eines andersartigen Kindes oder Familienmitgliedes innerhalb dieser Gruppe auslöst. Der Fokus liegt hier auf der Reaktion der Eltern, die zunächst den „Fehler“ bei sich als Erzeuger suchen und sich eingehend mit der Frage beschäftigen, was sie als Eltern denn möglicherweise falsch gemacht haben könnten. Auf dieser Ebene wird zusätzlich der Fokus auf die anhaltende Unwissenheit einzelner Familienmitglieder gelegt, die kognitiv noch nicht in der Lage sind, in einer Andersartigkeit etwas Positives zu erkennen, anstatt sie pauschal negativ zu konnotieren. Auf der dritten Eben steht die Gesellschaft im Fokus, die von der Regierung und machtvollen Institutionen repräsentiert wird. Die Regierung versucht in den Filmen, eine regulierende Funktion einzunehmen, auf die Impulse der Bürgerinnen und Bürger zu reagieren und die Ängste der Menschen zu bekämpfen. Diese Eingriffe führen in der Handlung jedoch vermehrt zu Konflikten innerhalb der Gesellschaft und provozieren eine Spaltung in zwei unterschiedliche Gruppierungen. Darüber hinaus vernachlässigen die Regierenden zunächst ihre Pflicht, nicht nur die Menschen ohne Mutationen, sondern alle Mitglieder der amerikanischen Gesellschaft zu repräsentieren. Die Regierung hat somit einen maßgeblichen Anteil daran, dass die mutierten Menschen weiter stigmatisiert werden. Erst im Zuge der Handlung gelingt eine Art Inklusion der Mutanten innerhalb der Gesamtgesellschaft. Verkörpert wird diese Inklusion durch den Mutanten, der als Berater im Weißen Haus tätig ist. Hier wird den Mutanten politische Teilhabe zugesprochen; sie erlangen eine Machtposition und können die Gesellschaft mitgestalten. Im Zusammenhang betrachtet, schildern die drei aufeinander folgenden Filme nicht nur eine inklusive Entwicklungstendenz der von Spaltung bedrohten Gesellschaft, sondern demonstrieren gleichzeitig individuelle Problemlösungen, die zur Selbstakzeptanz führen. Diese positive Annahme des eigenen Ichs wiederum erscheint als eine Voraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung. Die X-Men-Filme zeigen exemplarisch, wie tiefgründig, facettenreich und unterhaltsam zugleich das Genre Science-Fiction sich mit gesellschaftlichen Herausforderungen auseinandersetzen kann. Das literarische und filmische Motiv der

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gesellschaftlichen Außenseiter kehrt in der Filmgeschichte immer wieder. Nur selten wird jedoch der Umgang mit psychischen und physischen Dis/Abilities von so vielen Perspektiven her ausgeleuchtet wie in den X-Men-Filmen.8 Die Mutanten mit ihren besonderen Gaben kämpfen hier gegen die negativen, auf Unwissenheit gründenden Einstellungen, mit denen große Teile der Gesellschaft ihren Abilities begegnen. Der Drang nach Normalität und Homogenität seitens des Bevölkerungsanteils ohne diese Abilities wird in seiner Ambivalenz und Tragweite dargestellt. Mehrfach werden Assoziationen an historische Ereignisse wie etwa das Vorgehen der Nationalsozialisten aufgerufen (Meldepflicht, Missbrauch wissenschaftlicher und medizinischer Fortschritte usw.). Die Institutionen, welche Einfluss auf die Gesellschaft nehmen (Regierung, Medien, Wissenschaft), spielen eine zwiespältige Rolle. Sie erscheinen – zumindest zeitweilig – als unfähig bzw. unwillig, Prozesse der Aufklärung und Information in Bezug auf Dis/Ability zu initiieren. Es liegt nahe, hier wieder den Bogen zur Filmindustrie in Hollywood zu schlagen. Wir sehen eine Parallele zwischen den in X-Men dargestellten Institutionen und dem real existierenden Hollywood insofern, als dieses in vielen Filmen irreführende Bilder von Dis/Ability produziert, die Gesellschaft fehlinformiert und die Partizipation des Bevölkerungsanteils mit Dis/Ability verhindert. Anstatt die rückständige Gesellschaft anzuprangern, vermittelt Hollywood vielfach noch immer das Bild der eingeschränkten Person, die als Opfer ihrer Dis/Ability gesehen werden soll und durch ihre Hilflosigkeit charakterisiert wird. Das in Hollywoodproduktionen verbreitete Dis/Ability-Klischee fördert gesellschaftliche Exklusionsmechanismen unmittelbar, zumal wenn es sich mit der oben geschilderten Praxis der Rollenbesetzung verknüpft. Dass Verhaltensänderungen im massenmedialen Geschäft ebenso Zeit brauchen wie gesellschaftliche Einsichten generell, formulierte Jay Ruderman, der Initiator des „Ruderman White Paper on the Employment of Actors with Disabilities in Television“, im Interview mit Ryan Patrick von „USA Today“: „It takes a while to change attitudes. [...] In 10 years, you're going to see an able-bodied actor or actress playing a disability, and think, ‚That doesn't seem right.‘ But we're not there yet as a society.“ (Patrick 2017)

8

Weniger komplex etwa wirkt „The Umbrella Academy“ (Netflix, 1. Staffel 2019).

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��������������������������������������������� unserer Blogseite „Science���������–������������� der Gesellschaft“ �������������

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Dis/Ability – Hollywood – Science-Fiction | 259

weniger bestimmte Kreise als vielmehr generell Menschen vor, die sich für das Thema Dis/Ability, für Medien und Mediengeschichte interessieren, aber nicht unbedingt größeres Vorwissen haben. Ob es sich dabei um Schüler*innen, Lehrer*innen, Science-Fiction-Fans oder Disability Historians handelt – sie alle sollten Impulse erhalten, über die „Traumfabrik Hollywood“ aus inklusionsorientierter Perspektive nachzudenken, das Genre Science-Fiction und speziell die X-MenFilme mit neuen Augen zu sehen und weiterführende Informationsangebote anzusteuern. In Anbetracht der hohen Science-Fiction-Affinität von Jugendlichen und des Identifikationspotentials des Genres für diese Gruppe sollte deren Rezeptionsverhalten mitbedacht werden. Die Darstellung sollte zwar keinen Anspruch auf Barrierefreiheit im engeren Sinn erheben, aber doch leicht zugänglich sein und verschiedene Wahrnehmungskanäle berücksichtigen. Wir kombinierten daher auf der visuellen Ebene relative umfangreiche, aber mit auffälligen Überschriften gegliederte Lesetexte, die die Komplexität unserer Forschungen spiegeln, mit eingestreuten, leuchtend farbigen, plakativen Bildern im Comicstil, die von Nane Kleymann selbst gezeichnet worden waren. Diese mit einem Augenzwinkern daherkommenden Bilder fungieren als eye-catcher, steigern die Aufmerksamkeit und sind unmittelbar verständlich. Literaturlisten, links zu Interviews und Dateien zum Download öffnen Wege zu weiteren Informationsmaterialien. Bei der anfangs schwierigen Suche nach einschlägiger Literatur oder Interviewauszügen konnten wir bald feststellen, dass besonders im Internet umfangreiche Auseinandersetzungen mit unseren Themen zu finden sind. Für das Erklärvideo, das eigentliche Kernstück unserer Blogseite, entwickelten wir ein Format, das es ermöglicht, hochkomplexe Ausführungen in einer Art mündlichem Gespräch zu präsentieren – mit Nachfragen, Wiederholungen, Bestätigungen und anderen Momenten des Innehaltens und Vertiefens, die einen Verstehensvorgang fördern. Wir produzierten dafür einen Cartoon mit drei Figuren, die unsere photographierten Gesichter tragen und sich sowohl über eine Tonspur unterhalten als auch mittels Sprechblasen. Der gesprochene Text und der geschriebene Sprechblasentext sind identisch. Das lesende bzw. zuhörende Publikum erfährt im Austausch der Gesprächsteilnehmerinnen, wie sich Handlung und Sinngebung in Science-Fiction-Filmen zueinander verhalten, wie mittels der Mutantenmetapher in „X-Men“ der Umgang mit Dis/Ability thematisiert wird und wie es um Inklusion in Hollywood steht. Der Ausruf „Ich denke, jetzt habe ich es

den Bericht über die Erarbeitung eines Weblogs im Beitrag von Bettina Degner und Ralph Höger in diesem Band.

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gecheckt!“ am Gesprächsende fasst – hoffentlich – den Erkenntnisgewinn auch der Adressaten in Worte. Um detaillierter die Interpretationsmöglichkeiten der X-Men-Filme in Bezug auf Dis/Ability ausbreiten zu können, bauten wir in zweites Video ein, das mit comicartigen Bildern, Graphiken und gesprochenen Texten ebenfalls auf die visuelle und auditive Vermittlung zielt.10 In einem dritten Video schließlich lassen wir uns selbst als Expertinnen vor einer Bücherwand sehen und hören – eine Anspielung auf gängige Auftritte von Wissenschaftlern in Film und Fernsehen, die ihre Forschungen der Öffentlichkeit vermitteln. Die Videos basieren durchgehend auf Textbeiträgen der Blogseite und auf unseren Filmanalysen. Für ihre Gestaltung fertigten wir die Zeichnungen selbstständig an oder griffen auf rechtefreie Graphiken zurück. Anhand unserer Filmuntersuchungen erarbeiteten wir Sprechertexte, welche wir über ein Mikrofon einsprachen. Ein vorher verfasstes Storyboard half uns, den Sprechertext und die Bilder sowie Graphiken miteinander zu verarbeiten. Mit Hilfe von PowerPoint (für die Bearbeitung der Bilder), Audacity (für die Bearbeitung des Tons) und Moviemaker setzten wir alle Teile zu einem Erklärvideo zusammen. Die Erarbeitung der Blogseite und des Erklärvideos war sehr viel zeitaufwändiger, als wir es zu Beginn der Lehrveranstaltung vermutet hätten. Auch veränderte sich das Vorhaben mit zunehmender Intensität der Bearbeitung, mit wachsenden Erkenntnissen und sich wandelnden Intentionen immer wieder. Die mehrfach erforderlichen Überarbeitungen und Neuausrichtungen stellten zwar eine große Herausforderung dar. Für uns als angehende Lehrkräfte, die eine inklusive Gesellschaft mitgestalten, überwog jedoch die positive Erfahrung, vielfältige Aspekte von Dis/Ability im Kontext des Mediums Film entdeckt und einem interessierten Publikum zugänglich gemacht zu haben.

BIBLIOGRAPHIE Filme X-Men (2000): Regie: Bryan Singer, Drehbuch: David Hayter, Tom DeSanto, USA, 100 Minuten, 20th Century Fox. X-Men 2 (2003): Bryan Singer, Drehbuch: Michael Dougherty, Dan Harris, David Hayter, USA, 128 Minuten, 20th Century Fox.

10 https://www.youtube.com/watch?v=X8GAogm6UE8 vom 20.03.2019.

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Dis/ability History (nicht nur) der Vormoderne in der Lehre Patrick Schmidt

Dis/ability History hat Konjunktur – so kann man feststellen, wenn man auf Forschungsprojekte und Publikationen schaut. An der Universität Kiel werden am Lehrstuhl von Gabriele Lingelbach Studien zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland seit 1945 angefertigt. Regelmäßig finden Tagungen und Workshops zu diesem Themenfeld statt. Im Programm des Campus Verlags existiert seit 2016 die Publikationsreihe „Disability History“, in der mittlerweile (März 2019) sechs Bände erschienen sind.1 In welchem Maße ist aber die Dis/ability History bereits in der universitären Lehre der Geschichtswissenschaft angekommen?2 Diese Frage wäre auch im Internet-Zeitalter nur mit erheblichem Zeitaufwand umfassend zu beantworten. Das Fach Geschichte wird in Deutschland momentan an 49 Universitäten angeboten3, und deren Vorlesungsverzeichnisse – vor allem diejenigen zurückliegender Semester – sind mit Suchmaschinen nicht ohne weiteres durchsuchbar. Vor allem aber ist keineswegs gesagt, dass jede einschlägige Lehrveranstaltung Stichwörter wie „Disability History“ oder „Behinderung“ im Titel führt. Gesichtet habe ich als Stichprobe die Vorlesungsverzeichnisse der Historischen Institute in Bremen und Kiel, da dort zur Dis/ability History geforscht wird. Für den Zeitraum vom Wintersemester 2016/17 bis zum Sommersemester 2019 wurden an diesen Instituten drei 1

Es handelt sich um folgende Publikationen: Lingelbach 2016, Schenk 2016, Schmidt 2017, Schlund 2017, Stoll 2017, Klettner/Lingelbach 2018.

2

Die Geschichte von Menschen mit Behinderungen kann in einer Reihe von geistesund sozialwissenschaftlichen Disziplinen in der Lehre thematisiert werden. In der Pädagogik, insbesondere in der Sonderpädagogik, ist dies definitiv der Fall. Das wird aber nicht Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes sein.

3

Diese Zahl liefert die Website „Studieren.de“ (https://studieren.de vom 19.03.2019).

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entsprechende Lehrveranstaltungen durchgeführt: Im Wintersemester 2016/17 bot Gabriele Lingelbach in Kiel eine Übung „Was ist Disability History? Theorie und Forschungsergebnisse eines neuen Ansatzes in der Geschichtswissenschaft“ an. Im Wintersemester 2017/18 gab es in Bremen ein Seminar „Dis/ability History. Forschungsschwerpunkte vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte“, das zusammen mit einer flankierenden Veranstaltung der Geschichtsdidaktik ein neuartiges Modul bildete (Nolte/Horn 2019). Eine Google-Recherche mit den Stichworten „Lehrveranstaltungen“ und „Disability History“ förderte ein einschlägiges Seminar an der Universität Hildesheim im Sommersemester 2019 zutage. Es ist gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass ich nicht alle Seminare und Übungen zur Dis/ability History gefunden habe. Gleichwohl scheinen sie an den Historischen Instituten deutscher Universitäten bislang eher Mangelware zu sein. Vor diesem Hintergrund erscheint es gerechtfertigt, dass im Folgenden ein Erfahrungsbericht präsentiert wird, der auf einer recht dünnen empirischen Basis beruht, nämlich im Wesentlichen auf zwei Hauptseminaren, die ich im Sommersemester 2013 und im Wintersemester 2017/18 an der Universität Rostock angeboten habe. Hinzu kommt ein Vortrag in der Ringvorlesung „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“, den ich dreimal (2016-2018) gehalten habe. Aus diesen Lehrerfahrungen möchte ich einige Gedanken zu Chancen und Herausforderungen der Dis/ability History als Thema geschichtswissenschaftlicher Lehrveranstaltungen ableiten. Ich möchte meine Überlegungen durch folgende Thesen strukturieren: 1. Dis/ability History eröffnet für viele Studierende ganz neue Perspektiven und hat damit ein hohes Anregungspotential. 2. Dis/ability History bietet sich für Lehrveranstaltungen mit einem epochenübergreifenden Zuschnitt an. Darin liegt aber auch eine Herausforderung, da das Wissen der Lehrenden jenseits ihrer eigenen Epoche oft Lücken aufweist. 3. Dis/ability History ist in hohem Maße geeignet, naive Fortschrittsvorstellungen zu erschüttern, mit denen viele Studierende an die Universität kommen. 4. Lehrveranstaltungen zur Dis/ability History insbesondere der Vormoderne sind in der Lehrplanung herausfordernd, weil im Vergleich zu etablierten Themen des Geschichtsstudiums die Forschungslücken noch sehr groß sind. 5. Es würde Lehrveranstaltungen zur Dis/ability History sehr erleichtern, wenn zeitlich und räumlich umfassendere Quellensammlungen vorlägen. Diese fünf Thesen werden auf den folgenden Seiten erläutert werden. Was dieser Aufsatz nicht leistet, ist eine systematische didaktische und methodische Reflek-

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tion darüber, wie bestimmte Aspekte der Dis/ability History Studierenden am besten vermittelt werden können. Auch werde ich nicht auf die Frage eingehen, wie sich Studierende mit und ohne Behinderungen in je spezifischer Weise in solche Lehrveranstaltungen einbringen und wie sie diese wahrnehmen. Wer eine Auseinandersetzung mit den beiden letztgenannten Aspekten sucht, wird in einigen Aufsätzen nordamerikanischer Autor*innen fündig.4 These 1: Dis/ability History eröffnet für viele Studierende ganz neue Perspektiven und hat damit ein hohes Anregungspotential. Meine beiden Hauptseminare an der Universität Rostock waren recht konventionell strukturiert, was nicht zuletzt auf die Vorgaben der Studien- und Prüfungsordnungen zurückzuführen war. Das heißt, dass alle Studierenden Referate gehalten haben. Die Referatsthemen habe ich meist an zwei bis drei Studierende vergeben, und nur selten an Einzelpersonen. Als Prüfungsleistung waren in der Regel Hausarbeiten zu schreiben. Nur ein Master-Studierender hat eine mündliche Prüfung zum Seminarthema abgelegt. Dass Lehrveranstaltungen zur Dis/ability History weitaus innovativer angelegt werden können, zeigt der Labor-Bericht, den Cordula Nolte und Sabine Horn über das von ihnen verantwortete Modul an der Universität Bremen verfasst haben (Nolte/Horn 2019). Trotz der eher konventionellen Seminarstruktur haben meine Hauptseminare den Teilnehmer*innen offenkundig viel Neues geboten. Das liegt primär schlicht an der Beschäftigung mit der Geschichte von Menschen mit Behinderungen. Denn diese ist bislang an deutschen Schulen im Geschichtsunterricht noch kaum präsent, so dass viele Studienanfänger*innen kein oder nur ein geringes Vorwissen haben (Barsch 2011, 105-106). Es kommt hinzu, dass im Alltagsverständnis „Behinderung“ als gleichsam geschichtslos erscheinen kann: Erblindung, der Verlust einer Gliedmaße oder eine Lähmung werden dann als Schicksalsschläge aufgefasst, die Menschen zu allen Zeiten treffen konnten, die stets als Verlust oder Defizit gedeutet wurden und die sich auf das Leben der Betroffenen stets ähnlich ausgewirkt haben (Metzler 2006, 18). Dass „Behinderung“ historisiert werden kann und sollte, war für viele Studierende eine wirklich neue Perspektive. „Mir war gar nicht klar, dass man sich im Geschichtsstudium auch mit diesem Thema beschäftigen kann.“ Diesen Satz habe ich mehr als einmal gehört. Neu war für viele Studierende auch die konstruktivistische Sicht auf Kulturen, Gesellschaften und vor allem auf menschliche Körper, die für die Disability Studies wie für die Dis/ability History prägend ist und die überhaupt erst die

4

Vgl. Burch 2009, Nielsen 2009, Hewitt 2006, Reaume 2006, Edwards 2006.

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Einsicht ermöglicht, dass „Behinderung“ eine Geschichte hat.5 Dass „fit sein“, „krank sein“ und „behindert sein“ nicht einfach biologische Tatsachen sind, sondern auf gesellschaftlichen und historisch wandelbaren Normvorstellungen beruhende Zuschreibungen, war für viele Seminarteilnehmer*innen eine ungewohnte, aber oft mit großem Interesse aufgegriffene Perspektive. Damit verbunden ist der Umstand, dass Dis/ability History eine Herangehensweise an Geschichte darstellt, die ein erhebliches Maß an Nachdenken über theoretische Fragen erfordert. Das gilt selbstverständlich auch für andere historische Themenfelder, und meine Seminare waren sicher im Rostocker Geschichtsstudium nicht allein mit ihrem Anteil an theoretischer und methodischer Reflexion. Gleichwohl war es für einige Studierende eine neue Erfahrung, eine Lehrveranstaltung zu besuchen, die mit einer Diskussion voneinander abweichender Definitionen ihres Gegenstandes beginnt und in der im Anschluss verschiedene Theoriemodelle von „Behinderung“ in gemeinsamer Lektüre erschlossen werden. Eine Reihe von Seminarteilnehmer*innen hat Interesse daran bekundet, bei mir ihre Abschlussarbeiten über ein Thema der Dis/ability History zu schreiben. Diesem Wunsch habe ich in einigen Fällen nicht nachkommen können, weil ich zum Zeitpunkt der Anfragen nicht mehr an der Universität Rostock tätig war. Dennoch zeigt dieses Interesse, dass Lehrveranstaltungen zur Dis/ability History Studierenden Anregungen geben können. Für jene angehenden Mediziner*innen, die meine Vorträge in der Ringvorlesung „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ gehört haben, war die Begegnung mit Perspektiven der Disability Studies unter dem Titel „Behinderung und Medizin. Ein Spannungsverhältnis“ teils Anregung, teils Provokation – was sich ja nicht ausschließt. Zu hören, wie kritisch viele Vertreter*innen der Disability Studies den Umgang der Medizin mit dem Thema „Behinderung“ und mit Menschen mit Behinderungen sehen, war für einen Studenten buchstäblich zu viel: Es platzte mitten in meinem Vortrag förmlich aus ihm hinaus, dass dies total ungerecht und einseitig sei und er dazu jetzt einmal Stellung beziehen müsse. Ich fand diese Reaktion durchaus positiv, in dem Sinne nämlich, dass meine auch als Provokation gemeinten Ausführungen ein erstes Ziel erreicht hatten: Aufmerksamkeit für eine ganz neue Sichtweise auf den eigenen künftigen Beruf zu wecken. In welchem Maße diese Konfrontation mit den medizinkritischen Perspektiven der Disability Studies die Studierenden in ihrem Selbstverständnis und ihrem späteren Umgang mit Patient*innen beeinflusst hat, vermag ich nicht zu sagen. 6

5 6

Eine gute Einführung in die Theorie der Disability Studies bietet Dederich 2012. Die Kritik der Disability Studies an der Medizin ist ein facettenreiches Phänomen, das an dieser Stelle nicht umfassend dargestellt werden kann. Vgl. dazu Kuhlmann 2003.

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These 2: Dis/ability History bietet sich für Lehrveranstaltungen mit einem epochenübergreifenden Zuschnitt an. Gesellschaften waren zu allen Zeiten mit der menschlichen Pluralität und Alterität konfrontiert. Zu dieser hat es immer auch gehört, dass einige Personen nicht über Eigenschaften und Fähigkeiten verfügten, welche die große Mehrheit der Menschen besaß und deren Vorhandensein für viele Lebensvollzüge mindestens stillschweigend vorausgesetzt wurde. Mit anderen Worten: Menschen, die in der Moderne als „behindert“ kategorisiert wurden und werden, hat es in allen historischen Gesellschaften gegeben. Damit wird es möglich zu untersuchen, wie die Menschen in verschiedenen Zeiten und verschiedenen Räumen mit solchen grundlegenden Alteritätserfahrungen umgegangen sind. Das ist der Grund, warum ich es als Chance betrachte, Lehrveranstaltungen zur Dis/ability History epochenübergreifend anzulegen. Wichtig ist für Studierende insbesondere die Einsicht, dass Individuen und Kollektive mit der Herausforderung der menschlichen Alterität ganz anders umgehen konnten, als wir es als Bewohner moderner westlicher Gesellschaften für „normal“ halten mögen. Es kann ein Aha-Erlebnis sein zu erfahren, dass behinderte Menschen und ihre Angehörigen in Mittelalter und Früher Neuzeit Heilung eher bei Gott als bei Ärzten gesucht haben oder dass in diesen Epochen vor der Einrichtung von Behindertenheimen und -werkstätten eine Versorgung in der Familie beinahe alternativlos gewesen ist. 7 Wichtig ist es dann auch zu verstehen, wie die Medizin zu einer Art säkularen Heilslehre werden oder wie es üblich werden konnte, behinderte Menschen in dafür bestimmte

Einige Facetten seien aber wenigstens genannt: die deutliche Ablehnung des sogenannten „medizinischen Modells von Behinderung“ bei zahlreichen Autor*innen (vgl. z.B. Dederich 2012, 57); die Annahme, dass Mediziner im 19. Jahrhundert wesentlichen Anteil an der Etablierung der Kategorien „Normalität“ und „Abweichung“ und der mit ihr verbundenen Abwertung körperlicher Alterität gehabt hätten und bis in die Gegenwart damit befasst seien, ihren Patienten „Normalität“ als Norm entgegenzuhalten und sie mit ihr zu disziplinieren (vgl. z.B. Davis 2002, 112-117); und die führende Rolle von Medizinern bei der Einrichtung von Spezialkliniken und Heimen für Menschen mit Behinderungen und der Unterbringung der letzteren in solchen Institutionen auch gegen ihren Willen (vgl. z.B. Hughes 2005, 83). 7

Auch in der Vormoderne war eine institutionelle Unterbringung von Menschen mit Behinderungen möglich, und zwar vor allem in Hospitälern, den multifunktionalen Einrichtungen der geschlossenen Armenfürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit. Die Zahl der Plätze in ihnen war aber sehr begrenzt, und es galt grundsätzlich das „Subsidiaritätsprinzip“, d.h., dass eine Unterbringung im Hospital erst beantragt werden sollte, wenn eine Versorgung in der Familie definitiv nicht mehr möglich war (Dinges 1991, 19).

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Institutionen abzuschieben. 8 Eine epochenübergreifende Lehre fördert solche Einsichten. Deswegen hatten meine Seminare einen entsprechenden Zuschnitt: „Die Geschichte behinderter Menschen vom Spätmittelalter bis ins Zeitalter der Industrialisierung“ – so lautete ihr Titel. Eine solche Longue durée-Perspektive ist aber auch eine Herausforderung, und zwar insbesondere für den Dozenten. Ist es schon viel verlangt, für Gesellschaften des 13. bis 20. Jahrhunderts zu wissen, wie in diesen der Umgang mit behinderten Menschen aussah, so grenzt es an Überforderung, sich auch das Wissen über die relevanten politischen, sozioökonomischen und kulturellen Kontexte anzueignen. Dis/ability History verlangt meines Erachtens im Idealfall nach einer holistischen Perspektive: Einer, die alles im Blick hat, was eine vergangene Gesellschaft ausgemacht hat, da jede Facette dieser Gesellschaft die Art und Weise beeinflusst haben kann, wie sie mit Menschen umging, die als „anders“ erschienen. Das aber ist in einer Lehrveranstaltung, die einen Zeitraum von rund 600 Jahren abdeckt, schlichtweg nicht zu leisten. Die Erkenntnisgewinne, die epochenübergreifend konzipierte Seminare zur Dis/ability History Studierenden (und auch den Lehrenden) bringen können, haben also einen Preis – denjenigen, dass die Lehrenden nicht das Wissen mitbringen, dass sie idealerweise haben sollten. These 3: Dis/ability History ist sehr geeignet, naive Fortschrittsvorstellungen zu erschüttern, mit denen viele Studierende an die Universität kommen. Viele Studierende haben wahrscheinlich eine durchaus kritische Einstellung zu einzelnen Aspekten der westlichen Welt der Gegenwart und ihrer Politik. Dennoch ist meine Erfahrung aus zahlreichen Lehrveranstaltungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit, dass dieselben Studierenden oft mit der tiefen Überzeugung an die Universität kommen, das Leben in der Vormoderne sei „ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes“ gewesen, um Thomas Hobbes zu zitieren (Hobbes 1995, 116). Nahezu reflexhaft halten sie demgegenüber alle geschichtlichen Entwicklungen für ausschließlich positiv, die gemeinhin mit dem Weg der westlichen Gesellschaften in die Moderne assoziiert werden: die Reformation, die Aufklärung, die Französische Revolution, die Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses in vielen Lebensbereichen, Fortschritte in Medizin und Naturwissenschaften. Auch wer das Leben in einem demokratischen Rechtsstaat hochschätzt, wer froh darüber

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In einer zeitlich besonders weitgespannten Perspektive untersucht Henri-Jacques Stiker die zugrunde liegenden Entwicklungen von der Antike bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein (vgl. Stiker 1999).

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ist, dass Religion heute in westlichen Gesellschaften weitgehend Privatsache ist und wer die Annehmlichkeiten und die hohe Lebenserwartung nicht missen möchte, die – unter anderem – der modernen Wirtschaft, den Naturwissenschaften und der Medizin zu verdanken sind, sollte gerade als angehende Historikerin indes ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass der Fortschritt oft zweischneidig ist und neben positiven auch negative Effekte hat. Kaum etwas demonstriert dies gegenwärtig so deutlich wie die vielfältigen Umweltzerstörungen, die unser Lebensstil verursacht. In der historischen Forschung ist es bereits seit Jahrzehnten (spätestens seit der Rezeption postmoderner Theorien) beinahe Konsens, dass kaum ein Modernisierungsprozess ohne Schattenseiten ist. Studierenden ist diese Einsicht immer wieder aufs Neue zu vermitteln. Lehrveranstaltungen zur Dis/ability History – zumal dann, wenn sie epochenübergreifend angelegt sind – eignen sich dafür sehr gut. In den Disability Studies ist eine recht pauschale Modernekritik verbreitet, die oft mit einer Idealisierung vormoderner Verhältnisse gepaart ist. Dieses Geschichtsbild halte ich für durchaus kritikwürdig, wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe (Schmidt 2017, 55-79). Unbestreitbar ist es aber ein Verdienst der Dis/ability History, negative Klischees über den Umgang vormoderner Gesellschaften mit behinderten Menschen in Frage gestellt und ein differenzierteres Bild an ihre Stelle gesetzt zu haben: Es war nicht die Regel in antiken Gesellschaften, Kinder, die mit Beeinträchtigungen zur Welt gekommen waren, auszusetzen; es war nicht die Regel in mittelalterlichen Gesellschaften, psychisch kranke Menschen in Kerkern anzuketten und körperlich oder sensorisch beeinträchtigte Personen sich selbst zu überlassen. Vielmehr haben neuere Forschungen beispielsweise gezeigt, dass Eltern, andere Angehörige und Ehepartner im Mittelalter sich intensiv um beeinträchtigte Menschen kümmerten (Metzler 2006, Frohne 2014). Auch ist die – empirisch noch nicht gänzlich eingeholte – Hypothese durchaus plausibel, dass vormodernen Gesellschaften die Integration von Menschen mit Behinderungen in mancher Hinsicht leichter gefallen sein könnte als modernen (Dörner 1994). Wenn sich Studierende auf diesen Gedanken einlassen, kann das beispielsweise ihre bisweilen unreflektiert religionskritische Haltung etwas ins Wanken bringen: Sie können aus der Dis/ability History der Vormoderne nämlich lernen, dass ein religiöses Weltbild Betroffenen wie Nicht-Betroffenen dabei helfen konnte, Behinderungen zu akzeptieren – als etwas Gottgesandtes (Stiker 1999, 60; Turner 2012, 57). Frömmigkeit musste nicht gleichbedeutend sein mit Engstirnigkeit und Intoleranz, wie es viele Menschen heute annehmen. Kann Dis/ability History als Seminarthema dazu beitragen, Negativklischees über die weiter zurückliegende Vergangenheit kritisch zu betrachten, so ist sie noch besser geeignet, Schattenseiten der Moderne zu erkennen. Studierende

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beispielsweise, die sich in Referaten und Hausarbeiten mit der Entwicklung vom „Irrenhaus“ zur modernen psychiatrischen Klinik beschäftigen, lernen, dass das massenhafte Wegsperren psychisch kranker und kognitiv beeinträchtigter Menschen ein Charakteristikum der westlichen Moderne, nicht der Vormoderne war. Sie lernen auch, dass Therapien für diese Menschen, die Medizinern des 19. und 20. Jahrhunderts als Gipfel des Fortschritts erschienen, oft keineswegs humaner waren als das bloße Verwahren und Einsperren in der Frühen Neuzeit. Noch deutlicher werden für Studierende die Schattenseiten der Moderne, wenn sie sich mit der Ermordung hunderttausender geistig behinderter Menschen im nationalsozialistischen Deutschland und mit der Vorgeschichte dieses monströsen Verbrechens beschäftigen. Es wird dann nämlich deutlich, dass sich die Planer dieses Massenmordes auf etwas berufen konnten, was zumindest in ihren Augen moderne Wissenschaft war und dass ein – wenn auch verschlungener – Weg von biologischen Forschungen im Gefolge Darwins im 19. Jahrhundert in die Gaskammern der NS-Zeit geführt hat. These 4: Die Planung von Lehrveranstaltungen zur Dis/ability History wird durch zahlreiche Forschungslücken erschwert. Die gerade exemplarisch erwähnten Themen der nationalsozialistischen Krankenmorde und der Genese des eugenischen Denkens sind in der Fachliteratur gut aufgearbeitet und dokumentiert. Das gilt für viele andere Aspekte der Dis/ability History noch nicht, darunter auch wichtige. Für die Frühe Neuzeit ist beispielsweise praktisch noch nicht untersucht worden, welche Chancen Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen auf dem Arbeitsmarkt hatten. 9 Ebenso hat die Forschung bislang nur knappe Hinweise darauf geliefert, wie inkludierend oder exkludierend die Kirchen – zentrale Institutionen sozialer Integration in der Frühen Neuzeit – sich gegenüber Menschen mit Behinderungen verhielten – sei es als Gläubige, sei es als (potentielle) Geistliche.10 Nur in Ansätzen erforscht ist bislang auch der Umgang frühneuzeitlicher Regierungen und Gesellschaften mit invaliden Soldaten, obgleich diese eine große Gruppe von Menschen mit Behinderungen in dieser Zeit bildeten (Schmidt 2019). Diese drei Beispiele, die sich schon für die Epoche der Frühen Neuzeit leicht vermehren ließen, verweisen auf ein echtes Dilemma: Es gibt zahlreiche spannende Fragestellungen in der Dis/ability History, die Lehrende momentan nicht

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Hinweise für eine spezifische Gruppe beeinträchtigter Menschen, die Gehörlosen, für die letzten Jahrzehnte der Epoche und für eine einzelne Region liefert de Veirman 2015.

10 Knappe Erläuterungen zur Frage des Zugangs zum Priesteramt liefern mehrere Artikel in: Nolte et al. 2017.

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guten Gewissens als Themen für Referate und Hausarbeiten vergeben können, weil es an Forschungsliteratur zu ihnen fehlt. Für die Seminarplanung heißt dies: Dozent*innen müssen sich sehr genau überlegen, auf welche Themen sie Studierende ansetzen. Das gilt grundsätzlich für jede Lehrveranstaltung, aber oftmals nicht so akut wie hier: Wer Seminare über etablierte Themen der historischen Forschung wie die Reformation, den Dreißigjährigen Krieg oder die Französische Revolution anbietet, wird keine Schwierigkeit damit haben, eine Fülle von gut erforschten Referats- und Hausarbeitsthemen zu finden. Bei solchen Themen kann vielmehr die Überfülle der Forschungsliteratur und der in ihr vorgebrachten Interpretationen eines Ereignisses zur didaktischen Herausforderung werden.11 In der Dis/ability History lauert dagegen nicht selten die Gefahr, dass ein spannendes und relevantes Thema für Studierende nicht bearbeitbar ist. Als ich 2013 das Hauptseminar zur Dis/ability History zum ersten Mal anbot, habe ich einige Referatsthemen vergeben, bei denen dies aufgrund fehlender Forschungsliteratur der Fall war. Das galt beispielsweise für die Frage, ob und aus welchen Gründen der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hexenverfolgung Menschen mit Behinderung zum Opfer gefallen sind. Anzunehmen, dass dies geschehen ist, war plausibel; es zu ergründen, erschien spannend. Relevante Informationen konnten die Studierenden aber nicht finden. In der sehr umfangreichen Forschungsliteratur zur Hexenverfolgung mögen sich durchaus entsprechende Hinweise finden. Da ich aber dieses Forschungsfeld nicht überblicken konnte, hätte ich das Thema nicht vergeben sollen. Als schwierig hat sich für die Studierenden auch das Thema „Behinderte Herrscher“ erwiesen. Grundsätzlich halte ich es nach wie vor für spannend und erkenntnisträchtig, danach zu fragen, wie die politischen Eliten und die Regierten zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen politischen Systemen mit den Beeinträchtigungen von Fürsten, Präsidenten oder Premierministern umgegangen sind. Für Mittelalter und Frühe Neuzeit ist diese Thematik noch wenig erforscht worden.12 Worauf ich gesetzt habe, war, dass es auch prominente Beispiele von

11 Nachdem ich beispielsweise im Sommersemester 2015 ein Proseminar „Der englische Bürgerkrieg“ angeboten habe, bin ich zu der Einschätzung gelangt, dass dies ein schwieriges Thema für Lehrveranstaltungen ist, weil es beim heutigen Forschungsstand kaum noch möglich erscheint, den Studierenden einen Weg durch den Dschungel der Interpretationen zu weisen, die teils in völlig unterschiedliche Richtungen weisen, sich teils aber auch nur in feinen Nuancen unterscheiden, die sich nur Expert*innen erschließen. 12 Einige Hinweise für Mittelalter und Frühe Neuzeit liefern Jordan 2009, Kehnel 2009, Nolte 2000, Sonntag 2013.

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Herrscherfiguren mit Beeinträchtigungen in der Neuzeit gibt: Der immer wieder an Schüben psychischer Krankheit leidende britische König George III., der mit einem verkürzten Arm geborene Kaiser Wilhelm II., der infolge einer Erkrankung gehbehinderte US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Über jede dieser Personen existiert eine reiche Forschungsliteratur, und ich ging davon aus, dass sich dort auch Informationen dazu finden, wie sich ihre Beeinträchtigungen auf ihre Herrschaftspraxis, Selbstinszenierung und auf ihre Wahrnehmung durch Regierungsmitglieder und Regierte ausgewirkt haben. Doch weil es – wenn überhaupt – nur wenige Studien geben dürfte, welche die Beeinträchtigungen dieser Herrscherfiguren explizit thematisieren, bedarf es einer sehr breiten Lektüre, um gute Hausarbeiten über sie aus der Perspektive der Dis/ability History zu schreiben. Das heißt: Solche Themen lassen sich eigentlich nur an engagierte Studierende mit einer ausgeprägten Fähigkeit zur Bewältigung großer Mengen von Lektüre vergeben. Was der Dozentin zunächst als gutes Referatsthema erscheinen mag, kann sich bei näherer Betrachtung eher als lohnender Gegenstand für eine Dissertation erweisen. Dies dürfte generell in Lehrveranstaltungen zur Dis/ability History häufiger ein wichtiger Faktor sein als in solchen zu konventionelleren Themen, für die sich einschlägige Publikationen leichter finden lassen. These 5: Quellensammlungen sind ein Desiderat der Dis/ability History. Gute Lehrveranstaltungen in der Geschichtswissenschaft sind auf Quellen angewiesen, auf historische Dokumente, seien es Texte, Bilder oder Artefakte. Sie lassen Geschichte anschaulich werden und können uns historische Akteure näher bringen. Quellen angemessen zu analysieren und zu interpretieren, gehört zudem zu den Kernkompetenzen von Historiker*innen, die selbstverständlich im Geschichtsstudium vermittelt werden sollen. Was Lehrende indes nur ausnahmsweise tun können, ist Studierende in Archive und Museen zu schicken, damit sie sich dort in Originalquellen vertiefen. Dem stehen der hohe Zeitaufwand und die erforderlichen Kompetenzen (etwa die Fähigkeit, alte Handschriften zu entziffern) entgegen, über welche Studierende oft noch nicht hinreichend verfügen. Am einfachsten gestaltet sich der Einsatz von Quellen in der Lehre, wenn zum Thema des Seminars oder der Übung Quellensammlungen verfügbar sind. Bei vielen etablierten Themen ist dies der Fall. Wer beispielsweise ein Seminar zur Revolution von 1848/49 anbietet, kann auf „Die Revolution von 1848. Eine Dokumentation“ oder auf „Quellen zur deutschen Revolution: 1848-49“ zurückgreifen (Grab 1998, Fenske 1996). Bei Lehrveranstaltungen zur Dis/ability History ist die Lage deutlich schwieriger, insbesondere dann, wenn man den zeitlichen Schwerpunkt auf die Vormo-

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derne und den räumlichen nicht auf Nordamerika legen möchte. Zur Geschichte behinderter Menschen in den USA im 19. und 20. Jahrhundert sind einige Quellensammlungen online verfügbar. Besonders hervorzuheben ist hier das Angebot der Website „disabilitymuseum“, die eine große Zahl von Volltexten und Bildquellen zugänglich macht.13 In der Rubrik „physical disability“ sind beispielsweise nicht weniger als 947 Quellen gelistet. Die Website des „Museum of disABILITY“ bietet unter dem Link „Virtual Museum“ eine Auswahl an Bildquellen zur US-amerikanischen Dis/ability History an.14 Auf einer Website der University of California in Berkeley zum Thema „Disability Rights“ sind hundert Tonaufnahmen von Zeitzeugen der US-amerikanischen Bewegung für Behindertenrechte zugänglich.15 In Deutschland ist mir nur eine vergleichbare Ressource bekannt: die im Aufbau begriffene Online-Quellensammlung „Quellen zur Geschichte von Menschen mit Behinderung“, die von einem Team von Wissenschaftler*innen der Universität Kiel betreut wird. 16 Sie ist der Dis/ability History in beiden deutschen Staaten nach 1945 gewidmet. Die Sammlung ist klar gegliedert (in die Bereiche „Gesetze“, „Stereotype“, „Freizeit“, „Interessenorganisationen“ und „Arbeit“). Auch ist jedem Quellentext ein kurzer Kommentar beigefügt, was die Einordnung erleichtert. Zurzeit sind auf der Website freilich nur 37 Dokumente verfügbar. Und das weite Feld der Geschichte behinderter Menschen in Europa, zumal vor dem Zweiten Weltkrieg, bleibt von ihr völlig unberührt. Für meine Hauptseminare habe ich auf Quellen zurückgegriffen, die ich im Rahmen meiner Forschungen zusammengetragen habe. Das war ein gangbarer Weg, hat aber natürlich einige Engführungen mit sich gebracht. Da ich zur Wahrnehmung und Konstruktion von körperlichen und sensorischen Beeinträchtigungen im 17. und 18. Jahrhundert geforscht habe, und zwar anhand von Zeitungen und Zeitschriften, waren die in den Seminaren präsentierten Quellen mehrheitlich von genau dieser Art, also Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, ergänzt um Texte von Francis Bacon (Bacon 1856), William Hay (Hay 1754),

13 Disability History Museum (https://www.disabilitymuseum.org/dhm/lib/search.html vom 18.03.2019). 14 Museum

of

disABILITY

(http://museumofdisability.org/virtual-museum/

vom

18.03.2019). Die Hinweise auf diese beiden Websites verdanke ich Sorbello Staub 2019. 15 The Disability Rights and Independent Living Movement (http://bancroft. berkeley.edu/collections/drilm/collection/collection.html vom 18.03.2019). 16 Quellen zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen (http://qgmb.histosem.unikiel.de/index.html vom 18.03.2018). Vgl. den Beitrag von Raphael Rössel in diesem Band.

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Denis Diderot (Tunstall 2011) und Alexander Graham Bell (Bell 1884). Sie waren aufschlussreich für die Studierenden – haben aber natürlich über viele Facetten der Dis/ability History nichts zu sagen. Was noch schwerer wiegt, ist indes, dass dieser Weg nur Lehrenden offen steht, die selbst in diesem Feld forschen oder geforscht haben. Das Fehlen von Quellensammlungen zur Geschichte behinderter Menschen insbesondere für die Zeit vor 1800 und für jenen größten Teil der Welt, der nicht zu Nordamerika gehört, erschwert es dieser Gruppe, Lehrveranstaltungen in diesem Feld anzubieten. Es erscheint mir aber nicht wünschenswert, dass Dis/ability History nur von jenen unterrichtet wird, die auch zu ihr forschen. Denn dies zementiert ihren Status als ein bloßes Nischenthema im Curriculum des Geschichtsstudiums. Vor allem aus diesem Grund – aber durchaus auch im Interesse der Forschung – wäre eine umfassende Quellensammlung ein großer Gewinn für die Dis/ability History.

SCHLUSSBETRACHTUNG In diesem Aufsatz habe ich Chancen und Herausforderungen aufzuzeigen versucht, die nach meiner Erfahrung mit geschichtswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen zu Themen der Dis/ability History verbunden sind. Sind die Erfahrungen, auf denen diese Ausführungen beruhen, auch recht überschaubar, so hoffe ich doch, dass die Rückschlüsse, die ich aus ihnen gezogen habe, tatsächlich verallgemeinerbar sind, wie ich postuliert habe, und dass sie für andere Lehrende hilfreich sein können. Wenn ich auf Schwierigkeiten wie die erheblichen Forschungslücken, die bei der Wahl von Referats- und Hausarbeitsthemen zu beachten sind, und den Mangel an Quellensammlungen – insbesondere für die Vormoderne – hingewiesen habe, so will ich damit niemanden abschrecken. Vielmehr würde ich es begrüßen, wenn die Geschichte von Menschen mit Behinderungen in geschichtswissenschaftlichen Studiengängen künftig stärker berücksichtigt werden würde, als es bisher der Fall ist. Denn sie ist relevant für angehende Historiker*innen, insbesondere für diejenigen, die Lehrer*innen werden möchten. Da die Inklusion im Schulwesen Fortschritte macht, wird es künftig in allen Schulformen üblich werden, Klassen zu unterrichten, in denen Kinder mit ganz unterschiedlichen kognitiven, sensorischen und physischen Fähigkeiten zusammenkommen, auch solche, denen die durchaus problematische Kategorie „Behinderung“ zugeschrieben wird. Ein Wissen über die historische Genese dieser Kategorie sowie über diejenige der heutigen Situation von Menschen mit Behinderungen kann Lehrer*innen dabei helfen, in dieser Situation gut zu bestehen und allen

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Kindern gerecht zu werden. Dis/ability History kann darüber hinaus den Horizont aller Studierenden erweitern, auch derjenigen, die nicht ins Lehramt streben. Denn sie ermöglicht es zu untersuchen, welche Antworten Menschen in unterschiedlichen historischen Kontexten auf eine fundamentale Frage gegeben haben, die sich jeder Gesellschaft stellt: derjenigen des Umgangs mit besonderen Erscheinungsformen menschlicher Alterität, mit „verkörperten Andersheiten“ (Bösl 2010, 32). Wie kann eine Gesellschaft Menschen gerecht werden, die Dinge nicht in der Art und Weise tun können, die für die Bevölkerungsmehrheit charakteristisch ist? Dies ist eine Frage, welche die Dis/ability History an die Vergangenheit stellt, die aber zugleich von brennender Aktualität ist. Dis/ability History zu lehren und darüber nachzudenken, wie sie gut gelehrt werden kann, hat auch für Lehrende Lerneffekte. So war es jedenfalls bei mir. So stand ich als Forschender der weitreichenden Modernisierungskritik der Disability Studies kritisch gegenüber. Als Lehrender habe ich indes die Vorzüge dieser Modernisierungskritik entdeckt, insbesondere im Zuge meines zweiten Hauptseminars zur Geschichte von Menschen mit Behinderungen. Nicht nur kann sie nämlich, wie oben ausgeführt, junge Menschen, die vielfach mit der festen Überzeugung in das Geschichtsstudium gehen, die Gegenwart sei der Vergangenheit in praktisch jeder Hinsicht überlegen, zum Nachdenken bringen. Die Modernisierungskritik der Disability Studies mit Studierenden zu diskutieren, hat vielmehr auch mich zu einem neuerlichen Nachdenken über dieses Thema geführt. Weil im Seminar Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert eine große Rolle spielten, die ich während der Arbeit an meiner Habilitationsschrift nur am Rande beachtet hatte, hat für mich heute die modernisierungskritische Perspektive eine größere Berechtigung, als ich ihr als Forschender zugestanden hatte – obgleich ich sie nach wie vor für pauschalisierend und den Blick der Disability Studies auf die Vormoderne für idealisierend halte. Der epochenübergreifende Blick, zu dem meines Erachtens Lehrveranstaltungen zur Dis/ability History einladen und der in der spezialisierten und ausdifferenzierten historischen Forschung kaum noch möglich ist, kann den Horizont nicht nur von Studierenden, sondern auch von Lehrenden erweitern.

BIBLIOGRAPHIE Bacon, Francis (1856): Of Deformity, in: Bacon’s Essays. With Annotations, hg. von Richard Whately, London, S. 397-398. Barsch, Sebastian (2011): „Die Anderen da draußen“ – Behinderung als Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 10, S. 105-116.

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Pelzige Bischöfe und Kopfärmler auf Kriechbänkchen – Im Medium der margins die Materialität mittelalterlicher Handschriften und Dis/ability History studieren Jan Ulrich Büttner

Phantasie haben heißt nicht, sich etwas ausdenken, es heißt, sich aus den Dingen etwas machen. (Thomas Mann: Meerfahrt mit Don Quijote, den 19. Mai 1934) Mann 2003, 13

I. DIE IDEE – MARGINS IN HANDSCHRIFTEN ALS ZUGANG 1 Das Bild könnte nicht passender sein: Maria und Joseph knien betend in einem Stall beim Jesusknaben, dahinter Ochs und Esel mit andächtigem Blick, im Hintergrund ist eine felsige Landschaft zu sehen. Von oben fallen goldene Strahlen auf die Szenerie, auch der Säugling ist von einem goldenen Strahlenkranz umgeben, und die Falten des üppigen blauen Kleides der Maria sind mit zarter Schraffierung in Gold gehöht. Umgeben ist das Bild, das über dem Eingangsvers des 1

Zur Verwendung des Begriffes margins für diese Illuminationen siehe die Ausführungen unten, Abschnitt III. Um die Fußnoten zu entlasten und die Übersichtlichkeit zu erhöhen, werden bei den Verweisen auf die Handschriften keine Links genannt. Diese finden sich geschlossen im Handschriftenverzeichnis, jeweils unter dem Bibliotheksort, der Signatur und (so es einen gibt) dem Namen der Handschrift.

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Stundengebetes steht „Deus in adiutorium meum intende“ – „Gott, eile herbei, um mich zu retten“ (Ps 70,2, Vulgata 69,2), von reichen floralen Blätterranken, geschmückt mit Blüten von Stiefmütterchen und Erdbeeren.2 (Abb. 1) Abbildung 1: Christi Geburt. Miniatur aus einem Stundenbuch

Quelle: Philadelphia: Penn State University Library, Lewis E M 9:8C

2

Es handelt sich um ein Einzelblatt aus einem Stundenbuch, entstanden im Norden Frankreichs, wohl 14. Jahrhundert, heute: Philadelphia: Schoenberg Institute for Manuscript Studies at the University of Pennsylvania Libraries: Lewis E M 9:8C. Es hat sich aus dem Buch nur noch eine weitere Seite in derselben Sammlung erhalten.

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Dieses Bild wäre die ideale Weihnachtskarte, so schön und sorgfältig und künstlerisch ist diese Szene auf Pergament gemalt, tummelten sich da nicht zwei Gestalten am Rand in den Ranken, die die weihnachtliche Idylle empfindlich stören. Unter dem Bild steht ein Mensch-Tiermischwesen mit tierischen Hinterläufen und menschlichem Oberkörper, das eine Armbrust schräg nach oben richtet. Seinen buschigen Schwanz hat es durch die Hinterläufe nach vorne gestreckt. Diagonal oben in Richtung der Schussbahn des Pfeiles steht vornübergebeugt eine zweite Figur, ein Mensch, auf dem Kopf eine Mütze, die Kleidung gerafft, dadurch Beine und Po entblößt. Die Figur schaut über die Schulter zu den Leser*innen und zieht mit beiden Händen ihre Pobacken auseinander. Der Pfeil würde durch das große D des Textes gehen, den Saum der Maria leicht touchieren und schließlich sein anvisiertes Ziel treffen. Betrachter*innen des 21. Jahrhunderts mögen dieses Zusammentreffen der Heiligen Familie mit den beiden Figuren beim Weihnachtsbild leicht irritierend finden. Abgesehen davon, dass es keinerlei inhaltliche Verbindung gibt, weder zum Text noch zum Krippenbild, ist die offensichtliche Obszönität verwirrend, mit der die Heilige Familie hier konfrontiert wird. Noch erstaunlicher ist, dass vergleichbare Situationen geradezu massenhaft als margins in sogenannten gotischen Handschriften auftauchen. Gemeint sind Manuskripte, die ungefähr vom späten 12. bis zum 15. Jahrhundert entstanden sind (Jakobi-Mirwald 2004, 263272). Gerade diese Konstellation eines Schützen mit Bogen oder Armbrust, der auf einen nackten Hintern zielt, der bereitwillig entgegengestreckt wird, findet sich außer in Andachtsbüchern3 auch noch in höfischer Literatur4, einem historiographischen Werk5 und in Psaltern6. Vergleichbar offensichtlich obszöne Sze-

3

Z.B. in einem um 1470 in Flandern entstandenen Stundenbuch, wo auch zu einer Weihnachtsszene eine vergleichbare Randfiguration zu finden ist. Hier ist der Schütze ein Mensch, der auf einen Affen zielt, der ihm den Hintern präsentiert, heute im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg: Hs 1734a, fol. 55v; oder in dem zwischen 1400 und 1410 wohl in Paris entstandenen Stundenbuch, heute Oxford: Bodleian Library, MS. Douce 62, fol 49v.

4

In einem Roman d’Alexandre, entstanden 1338-1344, heute in Oxford: MS. Bodl. 264 fol. 3r, gleich auf der ersten Textseite unten links, neben anderen „Genreszenen“. Auch in einem Lancelot du Lac, entstanden 1275/1300, heute Yale: Beinecke Rare Book and Manuscript Library, MS 229, fol. 39v, unten auf der Seite.

5

Le Livre des hystoires du Mirouer du monde, Paris: Bibliothèque nationale de France, ms français 328, fol. 10r, oben auf der Seite.

6

So auch in dem Pontifikale für Bischof Guillaume Durand, entstanden wohl in Avignon um 1357. Hier sind die zwei Affen als Mönche bekleidet, Paris: Bibliothèque

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nen, die die Kunsthistorikerin Anja Grebe einmal „heilige Schweinereien“ genannt hat (Grebe 2013, 155), bevölkern in großer Zahl die Ränder der Handschriften und umgeben die Texte und zentralen Bilder. Diese Auszierungen sind vor allem in England, Flandern und Nord- und Nordostfrankreich entstanden. Bei dem eingangs geschilderten Beispiel handelt es sich um ein Stundenbuch, eine Sammlung von Gebeten, liturgischen Texten, Psalmen, Bibelversen und weiteren Ausschnitten biblischer Texte, die für die private Andacht gesammelt wurden. Allein dieser Befund ist schon seltsam genug: das Aufeinandertreffen von Texten und Bildern in den Blattmitten, gedacht für die private Frömmigkeit von Laien und Klerikern, aber auch für den Besuch im Gottesdienst, die umgeben sind mit Produkten einer womöglich entfesselten Phantasie der Illuminatoren. Doch damit nicht genug: Diese Gestalten tauchen in jeder Art von Büchern auf, unabhängig davon, ob sie liturgische, religiöse, philosophische, naturkundliche (Wimmer 2018, besonders: 78-82) oder literarische (Cruse 2011) Texte enthalten. Zugespitzt könnte gesagt werden, im Zweifelsfall ist keine Leserin oder kein Leser bei ihrer oder seiner Lektüre vor seltsamen Begegnungen auf den Buchseiten sicher. Ganz offensichtlich besteht für uns heutige Betrachter eine eigenartige Spannung auf den Seiten vieler gotischer Handschriften. Da es sich aber nicht um Einzelphänomene handelt, sondern diese Szenen beinahe regulär zum Repertoire der Illuminatoren der Zeit gehörten, liegt die Vermutung nahe, dass die Zeitgenoss*innen, die Auftraggeber*innen und Nutzer*innen der Handschriften das anders wahrgenommen haben. Wie allerdings, darüber ist sich die kunsthistorische Forschung, die sich lange gar nicht und seit einigen Jahren überwiegend mit den Marginalien beschäftigte, uneins. An Deutungsangeboten mangelt es nicht (einen konzisen Überblick bietet Klein 2007), doch keine Idee mag letztlich ganz zu überzeugen, keine vermag es auch nur annähernd, alle Erscheinungsformen in den vielen verschiedenen Zusammenhängen zu erfassen. Vielmehr ist es so, dass die Vielfalt der Bilder, die Breite ihres Auftauchens und die Dauer ihres Erscheinens sich einer einzigen Deutung entziehen, da die Motive der Illuminator*innen und die Wahrnehmung der Nutzer*innen sicher Wandlungen unterlagen.7 Außerdem beschränkte sich das Phänomen der Gestalten am oder im Rand

Sainte-Geneviéve, 0143, fol. 53r. Oder im „Gorleston Psalter“, fol. 66r und fol. 98r: Je eine Art Zentaur schießt auf einen Affen, der sich entsprechend vorbeugt, entstanden in England zwischen 1310-1324, heute London: British Library, Add MS 49622. 7

Das Wissen über Nonnen, die Handschriften auch illustrierten, ist erst 2018 durch einen spektakulären Fund, bzw. seine naturwissenschaftliche Auswertung, wesentlich bereichert worden. Bei Ausgrabungen auf dem Friedhof des Klosters Dalheim (West-

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nicht auf Handschriften. Sie finden sich ebenso als Bauschmuck an und in Kirchen, in den Schnitzereien von Chor- oder Ratsgestühlen, an den Rändern von Teppichen (der Teppich von Bayeux als besonders prominentes Beispiel) oder Fresken. Peter K. Klein weist auf die „Konstanz des Motiv- und Themenrepertoires“ hin, das sich über alle unterschiedlichen Medien erstrecke (Klein 2007, 166). Unter all den Tieren, die menschliche Dinge tun, den Fabelwesen, den Mensch-Tiermischwesen oder den verselbstständigten Körperteilen tauchen auch immer wieder Menschen und Gruppen auf, die die Gesamtheit der damaligen Gesellschaft abbilden. Eine gewisse Häufung lässt sich jedoch für die Menschen feststellen, die nicht nur in den Handschriften am Rand erscheinen, sondern, zumindest nach Lesart der Sozialgeschichte, auch an den Rand der Gesellschaft gestellt waren: Spielleute, Gaukler, Arme, Kranke, Bettler, körperlich versehrte Menschen aller Art (Hergemöller 2001, 1-58). Ich werde mich allerdings nicht auf diese Figuren beschränken, sondern das Phänomen der margins umfassend in den Blick nehmen. Ziel ist es, Anregungen dafür zu geben, illustrierte mittelalterliche Handschriften des Hoch- und Spätmittelalters in den Unterricht an Schulen und Universitäten einzubeziehen, den Schüler*innen und Student*innen über die Bilder einen Zugang zu einer scheinbar vertrauten, in Wahrheit doch sehr fremden Welt zu geben und gleichzeitig über die Stellung und den Umgang mit Menschen und Wesen in der mittelalterlichen Gesellschaft zu reflektieren, die sichtbare körperliche Beeinträchtigungen haben bzw. in vielfältiger Weise anders sind und weder dem damaligen noch dem heutigen Erfahrungshorizont entsprechen.8 Sie bieten auch, so die These, einen Zugang zur Dis/ability History der Epoche.

falen) wurde 2014 bei einem der geborgenen Schädel einer Nonne Lapislazuli im Zahnstein gefunden. Die Untersuchungen legen nahe, dass der Nonne beim Auszieren von Handschriften die blaue Farbe, deren Pigment aus zermahlenem Lapislazuli bestand, mit dem Pinsel in ihren Mund gekommen ist und dadurch im Zahnstein eingebettet wurde. Das ist umso bemerkenswerter, als die menschlichen Überreste auf das frühe 12. Jahrhundert datiert werden und zu dieser Zeit also schon in einem vergleichsweise kleinen und abgelegenen Frauenkloster mit teuren, schwer beschaffbaren Materialien gearbeitet wurde (Radini/Tromp/Beach 2019, Jakobi-Mirwald 2004, 148160). 8

2018 berichteten Clara Kahn und Nicholas Beckmann, zu diesem Zeitpunkt studentische Hilfskräfte am DFG-Erkenntnistransferprojekt „Bildung durch Bilder – Erkenntnistransfer zwischen Hochschule und Schule“ (unter Leitung von Klaus Krüger, FU Berlin) von einem Unterrichtskonzept, das sie zusammen mit Luise Römer und Yara

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Dem Verständnis von dis/ability liegt hier nicht ein einseitiges, etwa medizinisches Modell zugrunde, das den Körper rein auf (vermeintlich) „natürliche“ oder gar „objektive“ Zustände der Biologie oder Anatomie reduziert (Nolte 2013, 15). Vielmehr arbeite ich mit dem viel weiteren und inhaltlich ertragreicheren kulturellen Modell. „The cultural model is inherently focused on historical acteurs and their specific ways of internalising, adopting, rejecting and transforming cultural meanings, social roles, and identities, and how these processes shaped their social realities and respective lived-in worlds.“ (Frohne 2017a, 62, Hervorhebung der Autorin; Waldschmidt 2005) Hier werden also ganze Gruppen von Personen in den Blick genommen, nicht nur einzelne „Betroffene“ und ihr Umfeld. Vor allem erlaubt diese Sichtweise auf eine Gesellschaft, sich gerade die Menschen genauer anzusehen, die „nicht-behindert“ sind, und ihren Umgang, ihre Wahrnehmungen, ihre Bewertungen, ihre Einstellungen zu untersuchen. So wie in unserem Fall, wo es um Bilder geht, die sich in Handschriften finden, die wiederum von ganz bestimmten Menschen, die überwiegend einer bestimmten sozialen Schicht angehörten, in Auftrag gegeben, gekauft, gelesen und genutzt wurden. Es geht auf der einen Seite also darum, sich einen denkbar unerwarteten Ort für Begegnungen zwischen Repräsentationen von dis/ability und Angehörigen einer vermögenden Schicht anzusehen, die der Alltag in der Welt so unter Umständen nicht ermöglichte. Auf der anderen Seite kann ich hier mit einem weitgefassten Begriff von dis/ability hantieren, einem, der sich nicht nur auf (vermeintlich) körperliche oder geistige Zustände von Menschen beschränkt, sondern ganz allgemein das Andere, Besondere, Unvertraute, Überraschende, auch Schrille mit einschließt. Auf diese Weise fallen auch unsere beiden eingangs geschilderten Gäste bei Christi Geburt in diese Kategorie, denn sie sind sicher anders, sorgen für Verwunderung, Irritation und Befremden. Sie stehen hier stellvertretend für die große Vielfalt verschiedener Gestalten in den margins. Wie ich unten noch ausführen werde, ist es nicht sinnvoll, die unterschiedlichen Figuren nach Einzelerscheinungen zu klassifizieren. Schrittweise soll hier eine mögliche Verfahrensweise vorgestellt werden, wie im Unterricht mittelalterliche Handschriften eingebunden werden können und vermittels der erstaunlichen Randzeichnungen das Thema dis/ability im hohen und späten Mittelalter thematisiert werden kann. Mein Ansatz gründet auf der Überzeugung, dass es nicht reicht, sich einfach einzelne Bilder oder Ausschnitte anzusehen, sondern dass ein Zugang nur über eine Betrachtung der vollständigen

Matea Schäl durchgeführt hatten (Kahn/Beckmann 2018). Hier ging es um die Geschichtswahrnehmung und -vorstellung am Beispiel mittelalterlicher Buchmalerei. Die Schüler*innen sollten u.a. ein Computerspiel entwerfen.

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Handschriften sinnvoll ist; auch die Untersuchung nur einer einzelnen, ganzen Seite ist nicht genug. Der Kunsthistoriker Norbert Wolf formuliert es so: „Buchmalerei ist der integrale Bestandteil eines ästhetisch gestalteten und inhaltlich wie formal durchkomponierten Gesamtorganismus.“ (Wolf 2012, 12) Anders gesagt, eine kontextlose Betrachtung einzelner Bilder oder Ausschnitte führt nicht weit und ist außerdem manipulativ. Die Einschätzung dessen, was zu sehen ist und worüber man sich im einzelnen Gedanken machen kann, also einzelner Illustrationen, ändert sich, wenn die Handschrift insgesamt mit in den Blick genommen wird. Christine Jakobi-Mirwald spitzt ihre Sicht der isolierten Betrachtung von Einzelbildern sogar dahingehend zu, „dass das Bild, das man sich von ihnen [den mittelalterlichen Handschriften, J.U.B.] macht, in der Regel unvollständig bis falsch ist.“ (Jakobi-Mirwald 2004, 14). Dies soll hier vermieden werden. Die hier zitierten Quellentexte verstehen sich auch als Unterrichtsmaterial, das mit Schüler*innen und Student*innen besprochen werden kann. Sie beziehen sich auf das Medium der Handschriften, bis auf einen von Bernhard von Clairvaux, der sich mit Bauskulpturen beschäftigt.

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Abbildung 2: Kopfärmler mit Handbänkchen9

Quelle: Oxford: Bodleian Library, Ormesby Psalter, MS. Douce 366, fol. 34v

II. DAS MEDIUM – DIE MATERIALITÄT VON HANDSCHRIFTEN Mittelalterliche Handschriften faszinieren. Vor allem illuminierte Manuskripte werden gerne herangezogen, wenn es darum geht, „Mittelalter“ zu illustrieren. So häufig Bilder aus Handschriften zu sehen sind, so selten ist die tatsächliche Begegnung mit ihnen. Denn sie benötigen einen besonderen Schutz. Bibliotheken, Museen und Archive, die sie bewahren, gehen oft sehr restriktiv mit dem Zugang zu ihnen um. Dennoch lohnt sich die Mühe, denn „nirgendwo sonst kam 9

Aus drucktechnischen Gründen zeigen die Abbildungen zwei, drei und vier nur Ausschnitte der jeweils besprochenen Seiten. Die Formate der Handschriften übersteigen die Maße dieses Buches bei weitem, so dass man bei einer Verkleinerung der Seiten nichts mehr erkennen könnte.

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die mittelalterliche Farbkultur in derart vielen frisch gebliebenen Zeugnissen auf die Nachwelt wie im Schutz der Buchdeckel.“ (Wolf 2012, 11) Auf den ersten Blick scheinen die „Heilige Pracht“ oder „das leuchtende Mittelalter“ der Handschriften wenig bis nichts zur Erforschung der Dis/ability History beitragen zu können.10 Um die margins allerdings nicht nur in ihren Zusammenhang als Buchschmuck entsprechend einordnen zu können, sondern auch in den genauso wichtigen Kontext des Buches als eines materiellen Gegenstandes, werden hier Hinweise gegeben, Bücher als Objekte besser einschätzen zu können. Dank der inzwischen massenhaften Digitalisierung durch Museen und Bibliotheken ist es so leicht wie noch nie, sich eine schier unübersehbare Vielzahl an Handschriften des Mittelalters von vorn bis hinten anzusehen und sie für die mediävistische Lehre zu nutzen. Bei der Vermittlung gilt es, die Vor- und Nachteile verschiedener Medien zu berücksichtigen. Obwohl die zweidimensionale Darstellung der Manuskripte auf dem Bildschirm kein haptisches Erlebnis zulässt, scheint es mir doch ein besserer Zugang zu sein als Faksimiles. Auch wenn letztere mit den Handschriften meist größenidentisch sind, verfälscht ihr Material den Eindruck erheblich. Das immer glatte Papier, der eher künstliche Geruch, das oft höhere Gewicht vermitteln nur mangelhaft, wie die Handschrift im Original sich anfühlt, riecht, wieviel sie wiegt oder auch welches Geräusch Pergament beim Blättern verursacht. Sicher, auch auf dem Bildschirm ist Blättern geräuschlos, die Bilder sind geruchlos, das ganze Buch hat kein Gewicht. Doch ermöglichen die meist sehr hochauflösenden Photographien einen guten Eindruck von der Beschaffenheit des Pergaments, von dem Farbauftrag, von den Spuren, den die Feder beim Schreiben hinterlassen hat, oder den Hinterlassenschaften der früheren Nutzer*innen. Dadurch, dass oft sehr nahe herangezoomt werden kann, ist es, als würde man mit einer starken Lupe über die Seiten gehen. Wenn die Möglichkeit besteht, Schüler*innen und Student*innen Faksimiles in die Hand zu geben, sollte man das durchaus tun. Ein anschließender Vergleich mit einem Digitalisat und die Thematisierung der Unterschiede beider Repräsentationen eines mittelalterlichen Originals in der Reproduktion bieten sicher einen guten Einstieg dafür, die Handschriften als Produkt der materiellen Kultur zu erkunden. Sollte die Möglichkeit bestehen, die Restaurierwerkstatt einer Bibliothek mit Handschriftenbestand zu besuchen, kann man den Büchern noch viel näherkommen als in den Lesesälen. Hier können die in diesem Abschnitt angesprochenen Themen sehr anschaulich vermittelt werden.

10 So die Verlagsanzeige: https://www.wbg-wissenverbindet.de/10308/das-leuchtendemittelalter vom 21.08.2019. Die „Heilige Pracht“ stammt von McKendrick/Doyle 2017, das „Leuchtende Mittelalter“ von Dalarun 2005.

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Mittelalterliche Handschriften sehen zwar aus wie Bücher, haben aber mit den Exemplaren, die unsere Erfahrungen des 21. Jahrhunderts prägen, nur wenig gemein. Das beginnt schon bei den verwendeten Materialien. Es ist vielleicht nicht verkehrt, Schüler*innen und Student*innen aufzufordern, sich eine Herde Kühe, Schafe oder Ziegen vorzustellen, wenn sie an eine mittelalterliche Bibliothek denken. Denn die allermeisten Bücher des Mittelalters bestehen aus Tierhäuten. Die Verwandlung von Fell zum Beschreibstoff Pergament dauert lange und ist aufwändig. Drei bis sechs Wochen muss die Tierhaut in starker Kalklauge gebeizt werden, damit als nächster Arbeitsschritt die Lederhaut gewonnen werden kann. Dafür müssen die Ober- und die Unterhaut mit sichelförmigen Schabeisen abgekratzt werden. Um letzte Reste an Haaren und Fett zu entfernen, wird die Haut gewässert und mit fettlösenden Mitteln, oft mit Asche behandelt. Dann wird sie nass aufgespannt und an der Luft getrocknet. Dabei darf die Spannung nie nachlassen, damit die Haut nicht faltig oder wellig wird. Die Gefahr ist aber, dass eventuelle Risse oder dünne Stellen zu Löchern werden. Deswegen sind häufig Nähte oder auch Löcher in fertigen Handschriften zu sehen. Schließlich werden die Seiten noch mit Bimsstein poliert; vor allem dabei können in der Qualität starke Unterschiede entstehen, ob die Haut glatter oder rauer ist, ob Haar- und Fleischseite behandelt werden oder nicht. Hier gibt es auch regionale Unterschiede. (Ladner 1993, 1885-1886) Erst nach diesem langen und arbeitsintensiven Prozess kann aus der Haut ein Beschreibstoff geschnitten werden.11 Aus einem kleinen Schaf bekommt man einen Bogen von ca. 50 x 35cm, der ein mittleres Doppelblatt ergibt oder vier Blätter (= acht Seiten) etwas unter DinA 4. (Kümper 2014, 165) Der materielle Wert allein dieses Ausgangsmaterials wird den Lernenden noch deutlicher vor Augen geführt, wenn man ihnen bewusst macht, dass z.B. für eine Bibel, die meist ein größeres Format hatte, für 300 Blätter (= 600 Seiten) in der Größe von ca. DinA 3 75 Kälber benötigt wurden. (Jakobi-Mirwald 2004, 118) Die Größe der Herden, um auf das anfängliche Bild zurückzukommen, die für die mittelalterliche Buchproduktion benötigt wurden, war also gewaltig. Die nächsten Arbeitsschritte für die Entstehung eines Buches im Mittelalter fanden dann im Skriptorium statt, also in den Schreibwerkstätten in Klöstern oder, seit dem 13. Jahrhundert, zunehmend auch in städtischen Werkstätten, wo in professionellen Schreibstuben die Bücher von weltlichen Handwerkern hergestellt wurden. Je nach Text und Umfang musste das Format der Blätter festgelegt

11 In einer Handschrift des 12. Jahrhunderts aus Bamberg ist dieser Herstellungsprozess im Kloster dargestellt: Bamberg: Staatsbibliothek, Msc.Patr.5, es ist das bekannte „Bamberger Schreiberbild“.

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und sich für eine graphische Gestaltung entschieden werden (das Layout). Das Pergament wurde entsprechend in Doppelblätter geschnitten, die dann zusammengefaltet und in Lagen zusammengelegt wurden. Das Layout wurde mit Metallgriffeln vorgezeichnet, also der Schreibraum festgelegt, die Spalten, die Ränder, gelegentlich wurden auch schon die Stellen für Abbildungen, Initialen oder andere Abbilder markiert. Zuerst wurde immer der Text geschrieben, erst danach fanden die weiteren Ausstattungsschritte statt. Häufig wurde rubriziert, das heißt mit oft roter oder blauer Tinte wurden Buchstaben gekennzeichnet, die Absatzanfänge markieren. Wenn die Texte fertig waren, konnten die Miniaturenmaler oder Illuminatoren beginnen. Auch hier gab es zuerst die Vorzeichnung, bevor in mehreren Schritten die Farbschichten aufgetragen wurden. Ein eigener Schritt war die Vergoldung und Punzierung, also die Einprägung von Mustern in den Goldgrund. Wie können diese Arbeitsschritte für Schüler*innen und Student*innen erfahrbar werden? Sehr gut lassen sich diese einzelnen Produktionsprozesse in unvollendeten Handschriften beobachten. Ein sehr schönes Beispiel des 15. Jahrhunderts findet sich in der „Geschichte des sehr heiligen Karls des Großen“. Hier ist von der vollständig ausgearbeiteten Seite mit allen vollendeten Arbeitsschritten zu Beginn des Buches gut zu verfolgen, wie im weiteren Verlauf immer mehr Elemente wegfallen, nur vorgezeichnet sind, nicht mehr farbig gefasst wurden, bis am Schluss nur noch die Linierung übrigbleibt. Ganz fertig geworden ist nur das erste Blatt (= folio bzw. fol.), und nur auf fol. 1v (= recto für die Vorderseite, verso für die Rückseite eines Blattes) ist das jeweils unten in der Bordüre vorgesehene Bild mit Ereignissen aus dem Leben Karls des Großen vollendet worden. Schon eine Seite weiter ist das Bild nur vorgezeichnet, die Farben fehlen, wobei die Initialen und die florale Verzierung schon fertig sind. Ab fol. 3r ist jeweils nur noch ein leeres Feld zu sehen, wo ein Bild sein sollte, und auch in den farbigen Rändern tauchen immer mehr Lücken auf, bis dann auch hier nur noch die Vorzeichnungen zu sehen sind. Dabei fällt auf, dass diese Elemente der Randverzierungen von verschiedenen Menschen zu stammen scheinen. Die florale Verzierung mit Blättern und Früchten mag eine Person gemacht haben, die darin sich tummelnden Gestalten jemand anders, denn während das eine schon vollendet ist, ist das andere entweder nur in Vorzeichnung oder als vollständige Lücke sichtbar.12 Ein anderes Beispiel ist die sehr bekannte Manes-

12 L՚Ystoire du tres sainct Charlesmayne, empereur et confesseur, 1475-1500, heute Paris: Bibliothèque national de France, ms français 4970. Ein anderes Beispiel: New York: Morgan Library, MS 358, hier lassen sich alle Schritte der Ausmalung und Verzierung in unterschiedliche Graden der Fertigstellung studieren.

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sische Liederhandschrift, entstanden um 1300/1340; sie enthält etliche leere Seiten, die nur mit der Linierung versehen sind, und zeigt auf fol. 201v ein beeindruckend unvollendetes, namenloses Dichterbild.13 Die Herstellung von Handschriften war ein stark arbeitsteiliger Prozess, bei dem verschiedene Spezialisten tätig wurden. Allein die Herstellung der Tinten war ein wochenlanger Vorgang (Roosen-Runge 1972); mehr noch war die Produktion der Farben aufwändig und benötigte teils teure und manchmal auch schwer zu beschaffende Ausgangsstoffe für die Pigmente. Verwendet wurden metallische, mineralische, tierische und pflanzliche Farbstoffe, wie Arsensulfit (Auripigment) für gelb, Malachit für grün, Lapislazuli für blau, Bleiweiß oder Grünspan, Purpur von verschiedenen Schneckenarten, Galle vom Kalb oder von Schildkröten oder auch grüne Pflanzensäfte des Lauchs, der Lilie oder Petersilie – dies sind nur wenige Beispiele. (Trost 1986, 32-46) Gebunden wurden die Pigmente durch Gummi, Fischleim oder Eiklar. Stefanie Hauschild nannte das zu Recht den „langen Weg zum Buch“. (Hauschild 2013, 62) Langwierig war nicht nur die Herstellungszeit, die ein mehr oder weniger umfangreiches Buch benötigte, die aber umso länger wurde, je aufwändiger und feiner die Ausstattung war. Lang waren zum Teil auch die Wege, die die Ausgangsmaterialien nahmen, die für die Illumination gebraucht wurden. Den Schüler*innen und Student*innen diese Arbeitsschritte vor Augen zu führen, vermittelt ihnen auch ohne größeres Vorwissen leicht, welch kostbare Gegenstände Bücher im Mittelalter insgesamt waren, nicht nur in rein finanzieller Hinsicht, sondern auch durch die verwandten Materialien und die vielen beteiligten Spezialisten handwerklicher und künstlerischer Arbeit. Wenn noch ein kostbarer Einband dazukam, steigerte sich dies nochmal. (Kahn/Beckmann 2018, 48-49) Das zeigt sich auch in den Rechnungen und Kosteneinträgen, die sich für die Herstellung von Büchern aus dem Mittelalter erhalten haben. 14 Diese Quellen vermitteln höchst anschaulich einen Eindruck von der Kleinteiligkeit der Arbeitsschritte für die Ausstattung, die jeweils einzeln berechnet wurden, wie z.B. auch jeder einzelne besondere Buchstabe. Hier nur drei Beispiele:

13 Heidelberg: Universitätsbibliothek, Manessische Liederhandschrift, Cod. Pal. germ. 848, besonders gut zu sehen in der Überblicksansicht. 14 Den leichtesten Zugang zu zeitgenössischen Quellen rund um das Buch bietet die Sammlung von Steinmann 2013. Zu den finanziellen Aspekten ist hier im Register unter „Kosten“ und „Preis“ nachsehen. Es finden sich viele Belege, zweisprachig, die auch gut für den Unterricht zu verwenden sind. Ich verweise nur auf diese Sammlung, dort finden sich alle weiteren Angaben der Editionen. Hier zitiere ich nur Steinmanns Übersetzungen. Die Zusätze in eckigen Klammern stammen von ihm.

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Die Gräfin Mathilde von Artois bestellte für sich eine Abschrift der „Grandes chroniques de France“. Die Abrechnung von 1305 liest sich folgendermaßen: „Um im Auftrag von Madame die Chronik der Könige von Frankreich zu schreiben, welche in der Vorlage 28 Lagen enthält: 8 Schilling je Lage für das Reinigen [des Pergamentes] und Schreiben, macht 11 Pfund, 4 Schilling. Für das Pergament, gekauft zur Herstellung der genannten Chronik, wovon es im Buch von Madame 57 Lagen hat, 16 Denare die Lage, macht 74 Schilling, 8 Denare. Um das genannte Buch auszumalen mit Rot und Blau, 20 Schilling. Um 40 goldene Initialen am Anfang der Geschichten zu machen und auszumalen, 4 Pfund, 10 Schilling. Für die Miete [der Vorlage] und für die Organisation alles Vorstehenden, 20 Schilling. Für das Illuminieren der verkürzten Chronik der genannten Könige von Frankreich und für das Pergament, 18 Schillinge.“ (Steinmann 2013, Nr. 549)

Im späten 15. Jahrhundert lässt sich der Herzog von Burgund eine Bibel herstellen. In seinen Rechnungsbüchern für 1467 sind folgende Posten dafür vermerkt: „Dem genannten Loyset Lyeder dafür, dass er in einem Buch, genannt ‚la Bible moralisée‘, 20 Miniaturen gemacht hat, nämlich 7 grosse und 13 kleine in mehreren Farben, zum Preis von 12 Schilling jede Miniatur der einen, 14 der anderen Art, macht 12 Pfund. Weitere 43 grosse Anfangsbuchstaben, gearbeitet mit goldenem Feld und Binnenmotiv, zu 2 Gros das Stück, macht 43 Schilling. Weiter 3750 Abschnittmarkierungen und Buchstaben, je 100 zu 3 Schilling, macht 112 Schilling, 6 Denare. Für das Binden des besagten Buches, das Bezugsmaterial inbegriffen, 31 Schilling. Für 10 grosse Messingbuckel mit Haken, für kleine Nägel, um sie darauf zu befestigen, und für Leder, um es [das Buch] zu schliessen, 34 Schilling. Macht, diese 5 Posten zusammen, 22 Pfund, 10 Schilling.“ (Steinmann 2013, Nr. 852)

Bei der Besprechung dieser Texte im Unterricht sind die Währungen unerheblich. Die Schüler*innen oder Student*innen sollten sich nicht damit aufhalten, sie umzurechnen und vermeintliche Entsprechungen in Euro zu ermitteln. Entscheidend sind die Beziehungen untereinander und die Erkenntnis, dass hier jeweils sehr viel Geld ausgegeben wurde.15

15 So kompliziert, kleinteilig und regional und zeitlich verschieden die Währungen und Währungssysteme des Mittelalters waren, es hilft im Seminar, sich folgende, grundle-

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Beide Auftraggeber gehören dem Hochadel an; so gesehen ist die üppige Ausstattung nicht verwunderlich, aber auch nicht unbedingt üblich. Aber schon die Bereitschaft, viel Geld für diese Bücher auszugeben, für ein beliebtes, sehr unterhaltsames Geschichtswerk und eine Bibel, zeigt den hohen Stellenwert nicht nur der Texte, sondern vor allem auch der handwerklichen Qualität der Ausstattung. Das galt selbst für eher kostenbewusste Auftraggeber, wie die Dominikaner in Koblenz 1373. Für den ersten Band eines zweibändigen Antiphonars (das die Stundengebete und Melodien für die Gottesdienste enthält) hatten sie folgende Ausgaben: „Buchstaben mit Verlängerung sind 200, 100 für 3 Schilling. Mittlere Buchstaben für die Antiphonen sind 1073, 100 für 2 Schilling Buchstaben für die Absätze der Hymnen 159, 100 für 6 Denare Goldene Buchstaben 10, je Buchstaben 18 Denare Ein geteilter Buchstabe für 4 Denare Weiter an Pergament sind es 20 Sexternen, d.h. 10 Dutzend, das Dutzend zu 13 Schilling.“ (Steinmann 2013, Nr. 615)

Mir scheint es unabdingbar für die Beschäftigung mit den margins (oder überhaupt mit irgendwelchen Aspekten der mittelalterlichen Handschriften), dass Lehrende wie Lernende sich diese Herstellungsprozesse bewusst machen. Zu leicht können Interpretationen, die nur isoliert an einzelnen, manchmal winzigen Ausschnitten von Seiten vorgenommen werden, in die Irre gehen. Die Darstellung von Bettlern, Hybridwesen, „Krüppeln“ oder obszönen Szenen gewinnt eine ganz andere Qualität vor dem Hintergrund des Aufwandes an Arbeit und Geld, der zu ihrer Herstellung und zur Ausstattung ihres gesamten künstlerischen und handwerklichen Umfeldes notwendig war. Eine kleine „Schweinerei“ oder witzige Szene oder auch eine komische Gestalt wäre leicht an den Rand zu kritzeln gewesen; man hätte sie nicht mit etlichen Farben gestalten und in die Ge-

gende Einteilung zu vergegenwärtigen, damit die Lernenden auch die in den Quellenbeispielen genannten Preise besser einordnen können: 1 Pfund / libra / Livre = 20 Schilling / Solidi = 240 Denar / Pfennige 1 Schilling = 12 Denar; 1 Denar ca. 1,4gr. Silber = ca. 336gr / Pfund 1 Gros = 24 Denar 1 Mark = ½ Pfund = 10 Schilling = 120 Denar = 6 Unzen, zusammengefasst nach: Brandt 2012, 149-157. Die 3750 Markierungen und Buchstaben, die Loyset Lyeder malte, machten also 1350 Denare, das sind ca. 1,89kg Silber, das gesamte Buch kostete den Herzog ungefähr 7,4kg Silber.

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samtheit des Seitenentwurfs sorgfältig einfügen müssen. Kritzeleien von Leser*innen der Handschriften finden sich zuhauf. Diese haben aber eine ganz andere Qualität und spielen hier auch keine Rolle. Schauen wir uns also nun die Ränder der Seiten genauer an. Abbildung 3: Zwei Bettler kriechen unter einem Reliquiar durch.

Quelle: Paris: BnF: Bréviaire de Belleville, Lat 10483, fol. 184

III. DER GEGENSTAND – DIE „SELTSAME VIELFALT VERSCHIEDENER GESTALTEN“ AUF DEN RÄNDERN DER SEITEN Es gibt Dinge, die leicht zu erkennen, aber schwer zu benennen sind, so wie auch unser Gegenstand. Gemeint sind Einzelfiguren oder Figurenensembles, die am Rande rund um die Texte oder zentralen Miniaturen oder Initialen erscheinen, gelegentlich in sie hineinragen oder aus ihnen herauskommen, in der Regel aber keinen Bezug haben, nicht zum Text und auch nicht zu textillustrierenden Abbildungen gehören.

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Die vor allem kunsthistorisch ausgerichtete Forschung beschäftigt sich schon lange mit diesen Bildern, hat aber bisher noch keinen allgemein akzeptierten Namen vergeben. Stattdessen arbeitet sie mit Behelfsbegriffen, die wie „bas-depage“, „Randbilder“, „marginal images“ oder „marginal illustrations“ den Ort zum definitorischen Aspekt machen oder sie als „Drolerien“ oder „Grotesken“ bezeichnen, womit einigen der drastischen Abbildungen ein Übergewicht verliehen wird. Im Englischen ist die Bezeichnung inzwischen dabei, sich in margins zu verkürzen. Im Deutschen aber von „Marginalien“ zu sprechen, wäre allzu verwirrend, denn die Bedeutungsbreite von Marginalien ist zu groß, als dass man sie nur auf diese Randbilder in Handschriften reduzieren könnte. Marginalien sind ja besonders auch schriftliche Einträge der Leser*innen an den Rändern der Texte. Auch wenn die vom lat. „margo“ stammenden Begriffe eigentlich recht treffend sind, denn „margo“ bedeutet eigentlich nur Rand, steckt für heutige Ohren womöglich zu sehr die Bedeutungsebene „marginal“, „marginalisieren“ im Wort, also geringschätzen, verdrängen oder abwerten. Es ist also gar nicht so leicht, einen treffenden Begriff zu finden. Das deutsche „Randbilder“ (Klein 2007) ist zu unspezifisch, weil alles an den vier Seiten um das Mittelfeld eines Buchblattes „Rand“ ist, auch florale Muster oder graphische Bordüren. In diesen Randverzierungen müssen nicht, können aber Gestalten enthalten sein, so wie in der oben erwähnten, unvollendeten Handschrift (Paris, Bibliothèque nationale de France, ms français 4970). Mir erscheint es angesichts der Entwicklung in der englischsprachigen Forschung sinnvoll, mich dem dort wohl sich durchsetzenden Begriff margins anzuschließen und auf eine deutsche Übersetzung zu verzichten. Eine Annäherung an eine Definition habe ich am Beginn dieses Abschnittes versucht. Sie muss so vage sein, denn das, was sie zu fassen sucht, ist so vielfältig und auch in der Menge so viel, dass es sich einer allzu genauen Begrenzung entzieht. Im Jahre 1125 beschreibt Bernhard von Clairvaux in einem in der Kunstgeschichte vielzitierten Wutausbruch beinahe die ganze Vielfalt der margins, auch wenn sie in den Handschriften erst gut 100 Jahre später zu erscheinen beginnen. Seine Beschreibung bezieht sich auf Bauskulpturen, zeigt allerdings eindrucksvoll, dass das, was später in den gotischen Handschriften erscheinen wird, in anderen Kunstformen schon längst Verbreitung gefunden hatte. Bernhard schreibt: „Aber wozu dienen in den Klöstern, vor den lesenden Brüdern, jene lächerlichen Missgeburten [monstruositas, J.U.B.], eine auf wunderliche Art entstellte Schönheit und schöne Scheußlichkeiten? Was bezwecken dort die unflätigen Affen, die wilden Löwen? Was die widernatürlichen Zentauren, die halbmenschlichen Wesen, die gefleckten Tiger? Was sollen die kämpfenden Krieger, die Jäger mit ihrem Horn? Hier kann man unter einem Kopf

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viele Leiber sehen, dort wieder auf einem Körper viele Köpfe. Auf der einen Seite bemerkt man an einem Vierfüßler den Schwanz einer Schlange, auf der anderen an einem Fisch den Kopf eines Vierfüßlers. Dort gibt es ein Tier zu sehen, vorne ein Pferd, die hintere Hälfte eine Ziege, hier wieder ein Hornvieh, das hinten als Pferd erscheint. Mit einem Wort, es zeigt sich überall eine so große und so seltsame Vielfalt verschiedener Gestalten, dass einem mehr die Lust ankommt, in den Marmorbildern statt in den Codices zu lesen, dass man eher den ganzen Tag damit verbringen möchte, diese Dinge eins nach dem anderen zu bewundern, statt über das Gesetz Gottes zu meditieren. Um Gottes Willen, wenn man sich schon nicht dieser Albernheiten schämt, warum tut es einem nicht wenigstens um die Kosten leid?“ (Bernhard von Clairvaux 1992, 197)

Sicher ließe sich noch das eine oder andere Motiv ergänzen, dazu war die Phantasie der Illuminatoren zu groß, aber im Wesentlichen hat Bernhard erfasst, was sich dort in der sakralen Kunst anbahnte und sich genauso gut auf die margins der Handschriften übertragen lässt. Er spricht von der „mira diversa forma“, von der „wundersamen Vielfalt der Gestalt“, beschreibt verschiedene menschliche Tätigkeiten, die mit Klöstern nichts zu tun haben (Jagd), aber den oft aus Adelsfamilien stammenden Mönchen vertraut waren, nennt verschiedene Tiere, die in Europa nur aus Bestiarien in Beschreibungen zu finden waren, und vor allem spricht er von den vielseitigen Hybriden der Tier/Tier- und Mensch/Tier-Wesen, der „ridicula monstruositas“, der „lächerlichen Ungeheuer/Missgeburten/ Scheußlichkeiten“. Unverkennbar ist Bernhard fasziniert. Was er so sehr verabscheut und verurteilt, dürfte genau das sein, was den Reiz dieser Darstellungen ausmacht(e), nämlich die Lust des Schauens, Bewunderns, vielleicht auch Gruselns, die Freude an den lustigen oder albernen und grotesken Darstellungen einerseits, und die eher halbherzige Abscheu oder die Scham vor diesen Bildern andererseits, seien sie nun in Stein gemeißelt oder auf die Seiten der Handschriften gemalt. Diese Verführbarkeit der Menschen durch Bilder beschäftigte auch noch 75 Jahre später, um 1200, den unbekannten englischen Autor des Lehrgedichtes „Pictor in Carmine“. Schmerzlich ist es ihm, die „kindischen Darstellungen und missgestalteten Monster“ (picturae ineptiae et deformia portenta) in den Kirchen zu sehen, statt schöner Ornamente. Er fürchtete, dass sich „die Augen unserer Zeitgenossen gerne von einem Vergnügen einfangen lassen, das nicht nur nichtig, sondern sogar profan ist, und ich glaube, dass es schwierig werden wird, alle diese bedeutungsleeren Bilder aus den Kirchen zu entfernen.“ Denn Bilder sollten den Unwissenden die göttliche Botschaft nahebringen, sie seien die „libri laicorum“, die Bücher der Laien, den Gebildeten sollten sie die Liebe zur Heiligen Schrift verstärken. Hier wird die Furcht eines Geistlichen noch sehr viel

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greifbarer, dass die Ablenkung von den heiligen Dingen ein gewissermaßen hausgemachtes Problem der Kirchen sei. (Grebe 2013,155) Das Problem, das der Autor hier für die Kirchenbauten konstatiert, stellt sich in den Handschriften in ungleich umfangreicherem Maße. Der Versuch, die margins zu sortieren, wird angesichts ihrer Vielfalt kaum gelingen. Es gibt aber durchaus Motive oder Motivfelder, die sich einer gewissen Beliebtheit erfreut haben müssen und häufiger vorkommen als andere. Die hier gebotene Liste bildet keinesfalls eine Hierarchie nach Häufigkeit oder Beliebtheit ab, versucht aber einige Schneisen in die schnell unübersichtliche Wesenwelt der margins zu schlagen. Mensch-Tiermischwesen aller denkbaren Art sind sehr oft zu finden. Dabei können die tierischen Teile vergleichsweise naturnahe sein oder, vielleicht häufiger noch, von Monstren (Drachen) oder reinen Phantasiewesen stammen. Menschlicher Oberkörper und tierische Beine (samt Schwanz oder Flügel) bilden eine Möglichkeit der Kombination, oft steckt ein Oberkörper oder Kopf in einem Schneckenhaus, und sehr gerne werden allen möglichen Köpfen Bischofsmützen aufgesetzt.16 Eine andere Version setzt einzelne menschliche Körperteile, oft einen Kopf oder auch nur eine Hand, auf einen tierischen Leib. In den weiten Bereich der „verkehrten Welt“, eines parodistischen Motivs, gehören sicher die Tiere, die menschliche Dinge tun, gelegentlich Kleidung tragen, als Einzelgestalten, Gruppen oder in Kombination mit anderen Wesen auftauchen. Hasen und Hunde sind häufig, aber auch Federvieh, Affen, die unterrichten17 oder eine

16 Die Gestalten mit Mitra auf dem Kopf sind so zahlreich und vielfältig, dass sie hier nicht einzeln aufgeführt werden können. Um aber ein Beispiel eines im Titel dieses Aufsatzes genannten Bischofs zu nennen, sei auf die „Maastricht Hours“ verwiesen, London: Britisch Library, Stowe 17, fol. 160r und auf den bepelzten Bischof im Stundenbuch Oxford: Bodleian Library, MS Douce 62, fol. 43v (Abb. 4). 17 Unterrichtsszenen mit Affen gibt es etliche, ein schönes Beispiel findet sich in den sogenannten Maastricht-Hours, 1. Viertel des 14. Jahrhunderts, heute London: British Library, Stowe ms 17, fol. 109r. Der Text darüber stammt aus dem Psalm 118, V. 132: „aspice in me et miserere mei secundum iudicium diligentium nomen tuum“; bzw. 119, V. 132: „Wende dich mir zu, sei mir gnädig, gemäß deinem Entscheid für jene, die deinen Namen lieben!“ Ein anderes Beispiel stammt aus einer Sammlung mit Texten aus dem Artuskreis, entstanden 1270-1290, heute Paris: Bibliothèque nationale de France, ms français 95, fol. 399r: Während die Klasse etwas aufsagt bzw. einer auf sein Wachstäfelchen schreibt, wird ein Schüler vom Lehrer mit einer Rute gezüchtigt, vgl. dazu Fabry-Tehranchi 2015.

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Harnschau abhalten18, Hasen auf der Jagd (auf Hunde) oder in häuslichen Szenen19. Neben allem diesen gibt es immer wieder die Menschen, die die Ränder bevölkern, nicht selten in sogenannten Genreszenen: Ritter in Turnieren, höfische oder ländliche Feste, Gaukler und Musikanten, höfische oder bäuerliche Jagden, aber auch häusliche Tätigkeiten, wie buttern, kochen, oder Handwerker bei der Arbeit. Beeinträchtigte gibt es unter allen diesen Gestalten, nicht nur bei den Menschen. Auch Hasen können auf Krücken gehen 20 oder MenschTiermischwesen sich mit Hand- und Fußbänkchen fortbewegen. Die Erfahrung von dis/ability beschränkt sich in den margins also nicht auf Menschen, sondern wird offensichtlich allen dort erscheinenden Gestalten zugebilligt.21 Die Über-

18 So z.B. in den sogenannten „Smithfield Decretals“, den Decretalen Gregors IX., entstanden in Südfrankreich, vor 1200, heute London: British Library, Royal 10 E IV, fol. 52r. Diese Rechtstexte sind umfangreich mit margins ausgestattet. Im „Macclesfield Psalter“ führt sowohl ein Affe für einen Bären, fol. 22r, als auch ein Fuchs für einen Menschen auf Krücken, fol, 98r, eine Harnschau durch, heute Cambridge: The Fitzwilliam Museum MS 1-2005. 19 Ein vielleicht etwas drastisches Beispiel: Eine Kuh melkt eine nackte Frau, enthalten in einem flandrischen Stundenbuch, entstanden um 1300, heute Cambridge: Trinity College Library, B 11.22, fol. 119v. Viele Szenen mit Tieren, die menschliche Dinge tun, bzw. eine verkehrte (Tier-)Welt zeigen (Hasen belagern eine Burg), finden sich in der unvollendeten Handschrift in Verdun: Bibliothèque municipal, Ms 107: Bréviaire de Renaud de Bar. Das Digitalisat lässt sich als Buch blättern. Interessant ist diese Handschrift auch, weil sie ab fol. 150r nur noch die sorgfältigen Vorzeichnungen der Initialen, Verzierungen und margins zeigt. Auf fol. 163r endet auch dies, und mehr als die Hälfte des Buches besteht nur noch aus Texten und Noten. 20 Etwa im „Gorleston Psalter“, fol. 167v, heute London: British Library, Add MS 49622. Nur wenige Blätter weiter findet sich eine ganz ähnliche Darstellung eines Mannes mit Krückstock, fol. 191v, beide Gestalten sind in der gleichen Lage. Dieser Psalter ist reich mit margins ausgestattet, darunter etliche Harnschauszenen und im Grunde alles, was das Spektrum der margins ausmacht. 21 Einiges von dem hier Geschilderten findet sich in der eindrucksvoll und enorm aufwändig illuminierten Handschrift von Walter de Milemete: Liber de nobilitatibus, sapientiis et prudentiis regum, entstanden in London 1326-1327, heute Oxford: Christ Church MS. 92. Hier finden sich an drei Stellen auch Wesen mit Gehhilfen: fol. 43v ein „Kopfärmler“, ein Kopf mit Armen, der auf Handbänkchen geht, sowie auf fol. 49v und fol. 55v je ein Kopffüßler auf Gehilfen. Da es sich um einen Fürstenspiegel für den erst 14jährigen Eduard III. handelt, ist die Art der Illuminierung umso auffälliger. Ein „Kopfärmler“ auf Handbänkchen findet sich auch im „Ormesby Psalter“:

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gänge innerhalb der Darstellungen sind allgemein fließend, oft sind Menschen und Wesen mit dem Dekor verwachsen. So kann eine vermeintlich realistische Szene von einem Kopf betrachtet werden, der aus einer Ranke wächst, oder von einem Gesicht, das den Hintern eines Drachen bildet. (Abb. 2 und 3) Besonders auffällig ist das Erscheinen dieser margins immer dann, wenn in den religiösen Handschriften, wie Psaltern oder Stundenbüchern, Antiphonen oder Offizien (Messbüchern), ernsthafte, sakrale Darstellungen biblischer Geschichten oder aus der Heilsgeschichte mit ganz unernsten, manchmal sogar obszönen margins kombiniert werden (Grebe 2013, Camille 1994). Diese Begegnung „vernünftiger“, textbezogener Illustrationen mit den meist beziehungslosen margins ist charakteristisch für alle Sorten Texte, in denen sie auftauchen, auch in juristischen oder literarischen oder wissenschaftlichen Handschriften. Diese enge Verzahnung der Ausmalungen lässt die Frage aufkommen, ob die Unterscheidung zwischen vermeintlich realitätsbezogenen und phantastischen margins überhaupt sinnvoll ist. Diese Aufteilung dürfte genau so wenig erkenntnisfördernd sein wie der Versuch, die margins in einzelne Kategorien einzuteilen. Dies erschwert die Deutung des Phänomens. Da mit den Interpretationsversuchen die Wahrnehmung der margins allgemein und insbesondere im dis/ability-Kontext gesteuert wird, hier ein kurzer Blick auf die Deutungsversuche. Peter K. Klein hat die bisherigen Ansätze in sieben verschiedene Gruppen verteilt, die von der reinen „humor- und phantasievollen Unterhaltung ohne tieferen Sinn“ bis hin zur sehr ausgeklügelten Deutung als mnemotechnische Hilfsmittel, gleichsam als gemalte statt geschriebener Glossen, reichen. (Klein 2007, 167-172) Unter all den Deutungsangeboten vor allem der Kunstgeschichte erfreut sich die der „moralisierend-didaktischen Darstellung des Bösen, des Lasters und der Sünde“ der größten Zustimmung, wobei sie „gelegentlich positive Themen“ ebenso einschließt wie das Verständnis als „Reflex der damaligen sozialen Wirklichkeit“. (Klein 2007, 167-169; Camille 1992; besonders wirkmächtig: Randall 1957, 1962, 1966) Klein seinerseits will weniger in den Darstellungen selbst als in ihrer räumlichen Platzierung auf den Buchseiten (oder den Gebäuden, Teppichen, Fresken) den Schlüssel zum Verständnis sehen. Die „meta-

Oxford: Bodleian Library, MS. Douce 366, fol. 34v. In einem Psalter, heute Douai: Bibliothèque municipal, ms 193, finden sich beinahe gleichmäßig Menschen und Hybriden auf Krücken, z.B. fol. 122v (fußamputierter Mensch), fol. 121r (Hybrid). Oder auch in einem Stundenbuch, in dem zwei Hunde aufrecht gehen, einer mit einem Gehstock, einer mit einem verbundenen Hinterlauf, auf zwei Krücken, New York: Morgan Library, MS 358, fol. 20v. Ihnen gegenüber steht ein Hase mit Brille, der eine Harnschau durchführt.

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phorische Symbolik des Raumes“, die es in der mittelalterlichen Vorstellung gegeben habe, unterschied ihm zufolge zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Innen und Außen und fasste diese Bereiche diametral entgegengesetzt auf. Das Zentrum bzw. Innen soll für die „Verkörperung aller offiziell anerkannten Werte und Gewohnheiten“ gestanden haben, während die Peripherie bzw. das Außen „alle Normverletzungen und Normüberschreitungen, aber auch […] alles Fremde und Unvertraute“ repräsentiert habe. Dazu gehörten seiner Meinung nach die an den Rändern der Karten dargestellten Fabel- und Monstervölker genauso wie „verschiedene soziale Randgruppen – die Verbannten, Vagabunden, Gaukler, Bettler, Huren, Kriminelle, Leprösen, Häretiker und Juden – […] die auch räumlich auf bestimmte ‚Schandzonen‘ und Ghettos beschränkt waren.“ Dieses „Denken und Verhalten gemäß räumlich-topographischen Mustern“ sei ein allgemeines, überkulturelles Phänomen. (Klein 2007, 179f.) In dieser Sicht, die in der Platzierung die (Be-)Deutung sieht, wird wieder nur das Komische und Groteske gewichtet, aber alle vermeintlich normgerechten Bilder von Menschen, die Alltägliches tun, oder Tieren, die einfach nur Tiere sind, werden außen vor gelassen. Abgesehen davon greifen in nicht wenigen Handschriften die margins auch über den Rand hinaus in die Texte hinein, z.B. zwischen den Spalten22 oder als Zeilenfüller.23 Außerdem setzt diese Deutung auch ein sehr starres, schablonenhaftes Gesellschaftsmodell „des Mittelalters“ voraus, das mehr dem Wunschdenken von Theologen und Predigern verpflichtet ist als der vielgestaltigen, auch sozial mobilen und politisch pragmatischen Lebenswelt, gegen das die Kleriker anschreiben wollten. Besonders in den Städten wurden wie auch immer geartete Gesellschaftsmodelle, die auf Abgrenzung der Schichten abzielten, zu Makulatur. Und genau hier, in den durch Handel und Handwerk reichen und durch stete Kaufleutemobilität miteinander verbundenen Städten Flanderns, Nordfrankreichs, Südenglands (und auch darüber hinaus) entstanden diese gotischen Handschriften, die nicht selten voller margins sind. Das Denken und die Gesellschaftsmodelle der Kleriker lassen sich noch einigerma-

22 Ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Beispiel dafür, wie die margins sich zwischen die Spalten drängen, ist der dreisprachige Psalter aus Polen, der den Text in Latein, Polnisch und Deutsch enthält, entstanden um 1400, heute Warschau: Polnische Nationalbibliothek, Rps 8002 III. Leider nimmt die Ausstattung im Laufe des Bandes ab, und die margins enden auf fol 60v. 23 Nur ein Beispiel unter vielen, aber ein besonders reichhaltiges, ist das Stundenbuch W102 aus der Walters Collection, Baltimore, entstanden um 1300 in England. Hier sind nicht nur Bilder in den Text eingebunden, sondern auch die Zeilen, deren Texte nicht bis zum Ende des Schreibraumes reichten, mit Figuren und Wesen gefüllt.

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ßen erforschen. Otto Gerhard Oexle hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass die „bellatores“ und die „laboratores“ stumm bleiben (ganz zu schweigen von den „negotiatores“) und somit die Frage nach deren Selbstverständnis und Weltdeutung nicht „in wünschenswerter Weise beantwortet werden kann“. Alle Überlegungen „über das Verhältnis von Deutungsschema und sozialer Wirklichkeit“ fänden ihre Grenzen im „historischen Material selbst“ (Oexle 1978, 52) Die größere Zahl der Handschriften, die hier Gegenstand sind, sind nicht in klösterlichen Skriptorien entstanden, sondern in städtischen Schreibwerkstätten als kommerzielles Handelsgut, wie die flämischen Stundenbücher, die dann durch halb Europa verkauft wurden, oder als kostbare Auftragswerke, wie die höfischen Romane oder auch als Gebrauchsschriften, wie die juristischen oder naturphilosophischen Bücher für die Nutzung an Universitäten. Inwieweit hier ein theologisch grundiertes Gesellschaftsbild die Illuminatoren leitete, dürfte schwer zu entscheiden sein. Eine solche Tendenz scheint mir aber in den margins selbst auch nicht mehr Unterstützung zu finden als die anderen Deutungsversuche auch. Für den Umgang mit margins scheint es mir unabdingbar, sie vom interpretatorischen Rand wieder ins Ganze der Buchseiten zurückzuholen. Hier stellt sich also wieder die Frage nach der Rolle der margins auf den Seiten bzw. in den Büchern und daran anschließend die Frage nach der Nutzung der Bücher überhaupt und ob sich etwas über die Nutzer*innen sagen lässt. Gerade Fragen der Büchernutzung lassen sich im Lehrbetrieb gewinnbringend behandeln, was ein tieferes Verständnis für die Epoche „Mittelalter“ betrifft: Lernende haben vielfach größeres Interesse an praktischen und pragmatischen Aspekten von „Kultur“, an der Handhabung von Kulturtechniken (auch) seitens weltlicher Menschen als an Emanationen von geistlicher Gelehrsamkeit. Illustrationen und Ausstattung sollten als Ganzes betrachtet werden, also als Doppelseiten. Manchmal müssen sogar mehrere Seiten zusammen untersucht werden, wie es bei großen Handschriften höfischer Romane der Fall ist. Bei diesen laufen unter dem Text eigene Handlungen ab, die sich gelegentlich über mehrere Seiten hinziehen.24 Wie eingangs schon bemerkt, ist die isolierte Betrachtung einzelner Gestaltungselemente einer Buch(doppel)seite nicht sinnvoll, ohne den Gesamtzusammenhang zu kennen. Dieser Zusammenhang beginnt schon beim Buch selbst und wozu es gedacht war, welche Aufgaben es hatte bzw. welche Aufgaben seine Besitzer*innen ihm übertrugen. Die schlichte Formel, ein Buch sei zum Lesen oder zum Anschauen da (wenn es Bilder enthält), ist auch für unsere Zeit nicht aus-

24 So im Roman d’Alexandre, Oxford: MS Bodley 264, vgl. dazu Cruse 2011; oder im Roman de la Rose, Paris: Bibliothèque nationale de France, ms français 25526.

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reichend – und noch viel weniger für die Zeit des 13. bis 15. Jahrhunderts, in der wir uns gerade bewegen. Bücher, die so teuer waren und auf deren Ausstattung so viel Wert gelegt wurde, hatten keinen reinen Unterhaltungswert (höfische Romane), waren keine bloßen Nachschlagewerke (Gesetzessammlungen), waren nicht ausschließlich Lernstoff (philosophische und naturkundliche Werke) oder nicht nur für die Stille der privaten Andacht vorgesehen. Bücher waren (und sind es gelegentlich heute noch) Prestigeobjekte. (Jakobi-Mirwald 2004, 214-221; Eberlein 1995, Kap. 7 und 8) Mit Blick auf die Stundenbücher, in denen margins sehr häufig in den verschiedensten Ausprägungen auftauchen, ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass das weitgehende Fehlen von Lese- und Gebrauchsspuren und die oft sehr gute Erhaltung nicht ohne weiteres darauf schließen lassen, sie seien nicht genutzt worden und reine Luxusobjekte gewesen. (Bridges 2005, 117; Penketh 1997) Besonders die Frage, ob Frauen, die häufiger mit Stundenbüchern dargestellt wurden, überhaupt lesen konnten oder die Sprache – meist Latein – verstanden, führte zu der Vermutung, Stundenbücher seien wegen ihres oft handlichen Formats eher Accessoires gewesen. Gestützt wird diese Ansicht scheinbar durch eine zeitgenössische Stimme, den Dichter Eustache Deschamps, der um 1400 in seinem unvollendeten „Ehespiegel“, dem „Miroir de Mariage“, eine Frau sagen lässt: „Ich brauche ein Stundenbuch unserer Heiligen Jungfrau … Das fein gearbeitet sein soll, In Gold und Azurblau, reich und schmuck, Fein gemacht und gut gemalt, Schön mit goldenem Tuch bedeckt, Und nach dem Öffnen

25

Sollen zwei goldene Schnallen es wieder verschließen.“ (Bridges 2005, 116)

Sandra Penketh kommt in ihrer Untersuchung über Frauen und Stundenbücher zu der vorsichtigen Einschätzung, dass die kostbaren Bücher nicht nur Statussymbole waren, sondern „some basic understanding of their content“ vorausgesetzt werden dürfe. Erschwert werde die Einschätzung zusätzlich durch die Illuminationen, die die Suche nach dem tatsächlich gelesenen Inhalt erschwere. (Penketh 1997, 280, 269)

25 Es handelt sich um die Verse 1311, 1314-1319 des XV. Buches des Miroir. Die Übersetzung habe ich an Hand der Übertragung von Bettina Klein kombiniert, diese in Panofsky 2001, Bd. 1, 67 und Anm. 65, S. 384.

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Damit rücken die Ausmalungen wieder mehr in den Blick. Mary Carruthers hat in einer umfangreichen Studie auf die mnemotechnischen Zwecke der Buchgestaltung und der Ausstattung hingewiesen, die im Wesentlichen auch dazu diente, den Inhalt zu memorieren und auswendig zu lernen. Auch wenn sie gelegentlich über das Ziel hinausgeschossen zu sein scheint (Klein 2007, 171-172), ist der grundsätzliche Gedanke sicher nicht von der Hand zu weisen, dass Laien, die regelmäßige und häufige Kirchgänger*innen waren, die Texte der Gottesdienste kannten und für die private Andacht vielleicht eher eine Erinnerungshilfe in Form von Abbildungen benötigten als den ganzen Text. (Jakobi-Mirwald 2004, 187-194) Die Rolle der margins dabei bleibt freilich umstritten. Aber sie sind ja in die Gesamtgestaltung der Seiten eingebunden und nicht isoliert entstanden und dementsprechend auch nicht isoliert zu betrachten. Woran sich die einzelnen Nutzer*innen orientierten, um sich der Texte zu erinnern, bleibt offen. Sollte die bildnerische Ausstattung gegenüber dem Text ein höheres Gewicht und womöglich gar einen Eigenwert für die Nutzung der Bücher gehabt haben, dann erhöht diese Sichtweise den Aussagewert der margins erheblich. Wie können sie nun in den Unterricht eingebunden werden?

IIII. DAS VORGEHEN – PRAKTISCHE VORSCHLÄGE UND ANREGUNGEN FÜR DIE LEHRE Schüler*innen und Student*innen über die margins einen Weg in die Dis/ability History des Hoch- und Spätmittelalters zu eröffnen, ist der Ausgangspunkt dieser Überlegungen. Völlig unvermittelt die Lernenden mit margins zu konfrontieren und sie dann aufzufordern, sich Gedanken über beeinträchtigte Menschen im Mittelalter zu machen, wird sicher nicht weit führen. Die Herangehensweise über die Handschriftenillustrationen ist ja, wie schon deutlich wurde, eine doppelte: Zum einen ist in die materielle und künstlerische Welt mittelalterlicher Handschriften einzuführen, zum anderen in das damit nicht zusammenhängende Themenfeld der körperlichen oder geistigen „Behinderung“, „Beeinträchtigung“, des „Anders-seins“. Das Thema dis/ability sollte grundsätzlich bekannt sein; vielleicht sind die Lernenden durch die Diskussionen um Inklusion in den Schulen und Diversität in der Gesellschaft schon sensibilisiert – das wären mögliche Anknüpfungspunkte für den Einstieg. Dennoch scheint es mir wichtig, das Thema dis/ability in der Vormoderne, also der vorindustriellen Zeit, durch möglichst

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kurze, einführende Texte vorzubereiten.26 Es muss klar sein, dass eigenzeitliche Erfahrungen nicht einfach in die Vergangenheit projiziert werden können. So schnell das einzusehen ist bei modernen, hochtechnischen Prothesen oder solch einfachen Hilfsmitteln wie dem Rollstuhl, so schwierig dürfte es sein, ein Verständnis dafür zu schaffen, dass Begriffe wie „Behinderung“ oder „Beeinträchtigung“ oder Konzepte wie „krank“ oder „gesund“, „normal“ oder „abweichend“ nicht weit in die Vergangenheit führen, da es im Mittelalter (und darüber hinaus) diese Begriffe und Konzepte entweder gar nicht gab oder scheinbare Synonyme und Entsprechungen bei weitem vieldeutiger waren als unsere heute gewohnten Begriffe. (Frohne 2017b) „Charakteristisch insbesondere für die mittelalterliche Gesellschaft waren ferner plurale Auffassungen von Körperzuständen im Bedeutungsspektrum von ‚Gesundheit‘ und ‚Krankheit‘, von ‚ability‘ und ‚disability‘, von ‚Vollständigkeit‘ und ‚Mangelhaftigkeit‘. Nebeneinander, teilweise verflochten miteinander, existierten vielfältige Erklärungsansätze und Diskurse in Bezug auf Befindlichkeiten von Körper, Geist und Seele: wissenschaftliche, magisch-religiöse, theologische, medizinisch-rehabilitative usw. Auch angesichts dieser Vielfalt ist es unwahrscheinlich, dass es ein einziges, allgemeingültiges oder ein dominantes Konzept von dis/ability gegeben haben könnte.“ (Frohne/Nolte 2017, 22)

Der Aufhänger für eine Unterrichtseinheit muss das Thema dis/ability sein, die Handschriften sind nur das Medium, nicht der Zweck. Der inhaltliche und zeitliche Umfang, in dem die Handschriften thematisiert und einbezogen werden, richtet sich nach der Zeit, die für das Themengebiet dis/ability zur Verfügung steht. Ohne einen detaillierten Lehrplan zu liefern, sei nur so viel gesagt, dass vom eigenständigen Durchblättern einer oder mehrerer Handschriften (online) bis hin zur bloßen Präsentation einzelner Doppelseiten mit einschlägigen Abbildungen alle Stufen möglich sind. Zwei Stundenbücher, die mir besonders geeignet scheinen, sind folgende:

26 Inzwischen ist die Auswahl solcher Texte groß; der Einfachheit halber empfehle ich das aktuelle Handbuch „Dis/ability History der Vormoderne“ (Nolte/Frohne/ Halle/Kerth 2017). Hieraus bieten sich die einführenden Abschnitte 2, S. 21-25, 2.1.1., S. 40-49, und 2.2.1., S. 52-58 an. Für einen Einstieg zur Diskussion mit Schüler*innen dürfte Abschnitt 2 am besten geeignet sein. Für Studierende, deren Lesepensum höher ist, bietet sich vor allem. auch der Abschnitt 2.2.2. an: Heutige Modelle von dis/ability – Tauglich für die Vormoderne?, S. 59-68.

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Stundenbuch W88, entstanden ca. 1300/1310 in Französisch-Flandern (Cambrai?), womöglich für eine Frau (fol. 100v ist eine betende Frau vor Christus abgebildet, die die Auftraggeberin gewesen sein könnte). Stundenbuch/Psalterium W82, entstanden um 1315-1325 in Gent, ein kombiniertes Buch mit den Stundengebeten, den für die Gottesdienste gebrauchten Psalmen und Hymnen. Beide stammen aus der Walters Collection in Baltimore und haben den Vorteil, dass die Bedienung des Digitalisates einfach und die gebotene Qualität sehr gut sind. Einen raschen Überblick über die gesamte Handschrift erhält man durch den „thumpnail view“ (oben rechts neun Kästchen); besser ist jedoch die Ansicht der Doppelseiten, wo die Nutzer*innen wie in einem richtigen Buch blättern können. Die Ansicht ist größenverstellbar, bei 100 Prozent ist gut die Textur der Seiten, ihrer Beschriftung und der Ausmalung zu erkennen. Besonders W88 ist vom ersten bis zum letzten Blatt durchgängig mit margins versehen: eine Mischung aus alltäglichen Szenen, spielenden Kindern, Gauklern und Musikern, Tieren und auch vielen Hybridgestalten, die alles Mögliche tun. Diese Handschrift widerlegt aufs Beste die Ansicht von Peter K. Klein, in den Rändern sei nur das Normverletzende, Abweichende zu sehen; dies ist sicher nicht der Fall z.B. bei Hockeyspielern oder Männern, die Leinen auf der Bleiche ausbreiten. An drei Stellen im Buch verteilt finden sich Männer mit körperlicher Beeinträchtigung, die sich mittels Kriechbänkchen bewegen (fol. 28v, 52v, 182v).27 Die zweite vorgeschlagene Handschrift aus derselben Sammlung ist eine Kombination aus Kalender, Psalter und Stundenbuch; deswegen ist sie textlastiger und die Ausstattung mit margins ist überschaubarer. Hier empfiehlt es sich, zuerst mit dem „thumpnail view“ zu arbeiten und gezielt die Seiten anzusteuern, die mit margins ausgestattet sind, es sind insgesamt immer noch etliche. Hier findet sich unter anderem eine Szene mit einem Badehaus, aber auch etwas Seltsames, wie ein Mönch, der in einem großen Korb mit Eiern sitzt, vor ihm eine nackte Gestalt, die ihm ihren Hintern entgegenstreckt. Dargestellt ist auch ein bettelnder, fußloser Mann, der sich mit Kriechbänkchen vorwärtsbewegt und, weil er deswegen keine Hand frei hat, seine Schale für Geld oder Nahrung im Mund hält (fol. 193v). Sein Unterleib mit den Beinstümpfen steht in einer Art Sack, womöglich aus Leder, damit er kriechen kann, ohne sich zu verletzen.

27 Eine stilistisch ähnliche Handschrift ist die Kombination von Kalender, Psalter und Stundenbuch, entstanden vermutlich in St. Omer im 1. Viertel des 14. Jahrhunderts, heute in Douai: Bibliothèque municipale, ms 0193. Auch sie ist besonders reich ausgemalt; leider ist die digitale Version ausgesprochen unhandlich. Figuren auf Krücken finden sich u.a. auf fol. 121r und fol. 122v.

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Hinter ihm tollt ein Affe mit einer Ranke herum. Über ihm ist eine bewohnte Initiale D mit einem Apostel oder Propheten mit einer Schriftrolle. Auf dem Digitalisat leider nur schwer zu erkennen ist der Mann, der am inneren Rand im Buchfalz auf einer Ranke steht und etwas in der Hand hält, was er wohl in die Schale werfen will, am ehesten eine übergroß dargestellte Münze oder ein Brot. Wie führen diese und vergleichbare Abbildungen nun zur dis/ability des Mittelalters? Es sind Bilder am Rand, aber keine Randerscheinungen, bei weitem nicht. Die Ränder führen auf den Seiten der Bücher ein Eigenleben, das mit dem in den Mitten abgehandelten in Beziehung stehen kann, aber nicht muss. Sie haben „ihre eigene, bereits für die Zeitgenossen nicht eindeutig dechiffrierbare Sprache.“ (Grebe 2013, 174) Deswegen, und weil auch die Forschung verschiedener Disziplinen über den Sinn dieser Bilder uneins ist, sind sie offen für immer wieder neue Versuche der Sinngebung. Phantasie heißt, sich aus den Dingen etwas machen, und in diesem Falle flankiert mit den notwendigen Informationen über dis/ability einerseits und die Materialität der Handschriften andererseits sich zu fragen, warum in teuren Luxusobjekten solche eigenartigen Begegnungen massenhaft eingemalt worden sind. Es ist eine durchaus offene Frage, und aus der Perspektive der Dis/ability History ist sie noch kaum gestellt worden. Das bedeutet für Schüler*innen und Student*innen, dass sie nicht auf vorgefertigte, in der Forschung allgemein vertretene Antworten kommen müssen, sondern eigene Überlegungen, Ideen und Vorschläge zur Interpretation einbringen können. Die reichen Leute, die fähig und willens waren, viel Geld für Bücher auszugeben, hätten jede Möglichkeit gehabt, das Auftauchen unerwünschter Auszierung zu verhindern (und womöglich haben es die ursprünglichen Besitzer*innen auch getan, in deren Büchern derlei margins nicht vorkommen). Wenn sie es aber nicht taten, dürfen wir annehmen, es ist mit ihrer Billigung geschehen. 28 Wir können uns also fragen, warum die wenigen Menschen, die diese Bücher nutzten, sich diese Bilder immer wieder ansahen, womöglich Freude oder Unterhaltung, Anregung oder Besinnung durch sie erhielten. Seien es nun Stundenbücher oder juristische Texte, philosophisch/naturphilosophische Texte aus dem Universitätsalltag oder lange höfische Romane, man setzte sich diesen Begegnungen aus. Was diese Begegnungen in den Leser*innen bzw. Betrachter*innen auslösten, wissen wir nicht. Wir dürfen uns aber Gedanken darüber machen, ob sich hier womöglich die Akzeptanz der Reichen einer sozial heterogenen Umwelt, in der alle Glieder der Gesellschaft sich wechselseitig durchdrangen, zeigt.

28 Besonders auffällig ist dies bei den „Smithfield Decretals“, die Rechtstexte wurden in Frankreich geschrieben, aber in England mit Illuminationen ausgestattet, heute London: British Library MS Royal 10 E IV.

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Bezeichnenderweise stehen körperlich beeinträchtigte Personen (meist männliche Bettler) gleichrangig neben den Mensch-Tierhybriden oder den vermenschlichten Tieren. Es findet in den margins keine Hierarchisierung statt. Alle Gestalten haben ihre eigene Berechtigung, ihren eigenen Platz und sind einander nicht über- oder untergeordnet. So können im Gebetbuch von Renauld und Marguerite de Bar (1302/03) in den margins sowohl spielende Kinder, spielende Tiere, Tiere als Menschen, Mischwesen, Ritter und Hofdamen auftauchen, aber eben auch ein bleicher Skiapode (Einfüßler) und auch Christus, der auf einer Ranke in Jerusalem einzieht oder dem ungläubigen Thomas seine Seitenwunde zeigt.29 Vor allem, das scheint mir wichtig, zeigt sich keine Abwertung oder anprangernde Zurschaustellung in den Darstellungen. Ob die margins realistische Bilder von Bettlern, Armen und beeinträchtigten Personen zeigen, sei dahingestellt; was aber nicht selten ins Auge fällt, wenn beeinträchtigte Menschen zu sehen sind, ist eine anteilnehmende oder umsorgende Darstellung. Manche Menschen haben einen Begleithund dabei, andere werden von menschlichen Begleitern geführt, wieder andere erhalten von Mitmenschen Almosen.30

29 Das Brevier befindet sich heute in London: British Library, Yates Thomson 8, nur einige Beispiele: Jagdszene fol. 45v; spielende Kinder fol. 24v (mit Tieren), fol. 37v, fol. 92v; der Skiapode fol. 250v; Christi Einzug in Jerusalem fol. 233v; Christus und der ungläubige Thomas fol. 267v. Ein weiteres, sehr schönes, gleichzeitig recht frühes Beispiel, in dem die Gleichrangigkeit der Figuren offensichtlich wird, ist in der Handschrift mit der Lebensbeschreibung des Heiligen Amand zu finden, entstanden 11501160. Hierbei sind allerdings Rand und Text komplett verschmolzen zu einem einzigen Bild, das Text (den Namen des Heiligen), Verzierung und Porträt verbindet. In den Ranken sind etliche Figuren untergebracht, fast wie in einem Suchbild: Menschen, Tiere, Mischwesen, heute Valenciennes: Bibiothèque municipal, Ms 0501, fol. 10r. 30 Dies lässt sich an vielen der hier genannten Beispiele zeigen, ergänzt werden sollen sie noch um zwei Handschriften: Chantilly: Bibliothèque du Château, 0858 (0487) Boccaccio: Des cas de nobles hommes et femmes, entstanden ca. 1409-1450, fol. 1r. Oben in der Mitte ist zwischen den beiden großen Illustrationen ein alter Mann zu sehen, der einen Buckel hat und sich mit einer Krücke bewegt; er wird von einem jüngeren Mann unterstützt. Die Ansicht ist von schräg-hinten, das Paar bewegt sich vom Betrachter fort. Beinahe identisch ist diese Szene in einem überwältigend luxuriös ausgestatteten Stundenbuch zu finden, nur seitenverkehrt, was darauf schließen lässt, dass derselbe Illuminator womöglich eine Musterzeichnung hatte. Hier bewegt sich das Paar inmitten einer höfischen Gesellschaft. Zu sehen ist auch ein Gefangener mit abgerissenem Hemd, die Hände in Ketten bittend erhoben: Paris: Bibliothèque natio-

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Es gibt viele gute Argumente, eine einseitige Sicht zurückzuweisen, der zufolge die Darstellung am Rand eine Marginalisierung impliziert. Dies gilt meines Erachtens ganz allgemein, vor allem aber für Abbildungen, in denen die Figuren nicht selten ihre gesellschaftliche Norm erfüllen (zumindest aus unserer Sicht und Kenntnis der mittelalterlichen Gesellschaft). Wenn z.B. jener einfüßige Ritter, der auf einem Stelzfuß und einer Krücke gehend, aber sein Schwert wie eine Lanze im Anschlag, entschlossenen Blicks auf ein Rankenmonster zugeht, dann ist er doch die Verkörperung ritterlicher und kriegerischer Männlichkeit. Er erfüllt deren Ideale, nach denen seine Schicht leben sollte und die im höfischen Roman propagiert wurden, unter dessen Text er steht. Er zeigt hier eine vielleicht auf die Spitze getriebene adlige Funktionstüchtigkeit, bei der die körperliche Versehrtheit in einer Art „Narbenschau“ zu einer ehrenhaft erworbenen Auszeichnung wird. (Auge 2010, Auge 2017, Nolte 2017)31 Ebenso erfüllen die beiden Armen (von denen der ältere zumindest fußamputiert ist und sich mit Kriechbänkchen bewegen muss, eine Versehrtheit beim jüngeren ist nicht zu erkennen) die gesellschaftliche Norm, wenn sie bei der Prozession unter dem von zwei Dominikanermönchen getragenen Reliquienschrein herkriechen. Sie zeigen damit ihre Glaubenszuversicht, die Hoffnung darauf, von Gott durch Fürsprache des Heiligen geheilt zu werden, und empfehlen sich dadurch für Almosen. Damit ermöglichen sie wiederum frommen Christen, ihre Pflicht der Nächstenliebe und Barmherzigkeit zu erfüllen. Dies ist ein Akt der Gottesliebe und für ein gottgefälliges Leben unentbehrlich. (Büttner 2017, 416)32 (Abb. 3)

nale de France, ms latin 1156B, fol. 150r. Die Handschrift gehörte ursprünglich Marguerite d’Orléans. 31 Dieser tapfere Ritter im Kettenhemd findet sich in einer Sammlung von Texten aus dem Artuskreis, heute Yale: Beinecke Rare Book and Manuscript Library, MS 229, fol. 257v. Ein weiterer, fußloser Mann auf zwei Krücken ist auf fol. 180r dargestellt, und ein Mann ohne linken Fuß und ohne linke Hand auf einer Art Doppelkrücke geht einem segnenden Bischof hinterher, der aus einer Ranke wächst, fol. 311r. 32 Es handelt sich um ein Brevier für den Dominikanerorden, das sogenannte Bréviaire de Belleville, heute in Paris: Bibliothèque nationale de France, Bd. 1: ms latin 10483, fol. 184r. In einem Stundenbuch ist ein blinder Bettler zu sehen (ein MenschTiermischwesen), mit einem Hund, der ihn zu führen scheint und seine Bettlerschale im Maul trägt: Oxford: Bodleian Library MS Douce 62, fol 47r. Eine ähnliche Szene findet sich im Alexanderroman, Oxford: Bodleian Library MS Bodl. 264, fol. 77v. Hier sind es zwei blinde Männer mit ihren Hunden an der Leine, die jeweils auch eine

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Ein dritter Fall gesellschaftlicher Normerfüllung soll noch genannt werden. Denn der Umgang mit beeinträchtigten Menschen war nicht nur von Wohlwollen, Mitgefühl oder womöglich Gleichgültigkeit geprägt, es gab auch die Fälle von Schadenfreude, in denen z.B. blinde Männer zur allgemeinen Belustigung beim sog. „Schweineschlagen“ herhalten mussten. Dieses grausame „Spiel“, in dem unter Ausnutzung der Blindheit die Menschen aufeinander einschlugen, weil sie in einem eingezäunten Areal ein Schwein jagten, das ihnen als Lohn versprochen wurde, ist im Spätmittelalter öfter bezeugt und schlug sich auch in margins nieder, zumindest in einer drastischen Darstellung im Alexanderroman.33 (Büttner 2010, 63-65) Bei diesen und den vielen anderen im Text genannten Beispielen sollen die Schüler*innen und Student*innen erkennen, dass bei der Darstellung des „Anderen“, der vermeintlich sozial deklassierten Gestalten, aber auch des angeblich Bizarren, genau der gleiche Aufwand betrieben wurde wie für die übrige Ausstattung auch. Die Illuminatoren machten keinen Unterschied, ob sie eine Mutter Gottes, eine Kreuzigung oder einen körperlich versehrten Bettler, ein Mischwesen oder was auch sonst in den margins darstellten. Diese Ergänzung zur materiellen Dimension der margins lässt sich noch durch den Gedanken erweitern, dass diese Abbildungen bewusst in die Handschriften eingebracht wurden, vermutlich sogar mit dem Willen ihrer Besitzer*innen. Vielleicht war es leichter, sich in der Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände diesen Begegnungen auszusetzen als in der Welt draußen. Vielleicht aber war auch die Scheidung der Sphären gar nicht so drastisch, wie eine stark hierarchisierte und stratifizierte Gesellschaft dies vermuten lässt. Zumindest was die Armen und Elenden angeht, wäre zur Zeit der gotischen Handschriften eine Abkehr von ihnen gesellschaftlich noch problematisch geworden. Es ist vielleicht kein Zufall, dass das Ende der margins zusammenfällt mit dem Wandel des gesellschaftlichen Klimas gegenüber diesen Bevölkerungsgruppen. Denn im Verlauf des 15. Jahrhunderts schlug armen Menschen mehr und mehr Misstrauen entgegen, das Zweifel an ihrer Bedürftigkeit nährte, und es kursierten Vermutungen, dass massenhaft Betrüger*innen un-

Schale tragen. Wie der blinde Bettler tragen auch sie einen Stock bei sich; die Blindheit wird jeweils durch die geschlossenen Augen verdeutlicht. 33 Roman d’Alexandre, heute Oxford: MS Bodl. 264, fol 74v; in derselben Handschrift vom selben Illuminator gibt es auch die Darstellung dreier Männer, die einander verprügeln, Zwei haben keine Füße mehr und sind mit Knie- und Handbänkchen unterwegs, dem dritten fehlt ein Fuß, er geht aufrecht auf zwei Krücken. Der eine schlägt mit einem Handbänkchen auf den anderen ein, während der Stehende mit einer Krücke versucht, ihn davon abzuhalten, fol. 109r.

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gerechtfertigt Almosen bekamen. Den eigentlich vorbehaltlosen Hilfeleistungen, meist Nahrung oder Kleidung, wurden von städtischen Obrigkeiten zunehmend Bedürftigkeitsprüfungen vorgeschaltet. Dabei wurden nicht nur gleichsam „objektive“ Gründe berücksichtigt, wie Krankheit, Alter, Arbeitsunfähigkeit durch Beeinträchtigung, sondern auch moralische Maßstäbe angelegt. Nur wer unverschuldet in Not geraten war, wer ehrbar bedürftig war, konnte mit Hilfe rechnen. Außerdem sahen die Städte darauf, nur noch die eigene Bewohnerschaft zu versorgen und auswärtige Bettler abzuweisen. Manche Städte legten Verzeichnisse an, andere verteilten Abzeichen oder Berechtigungszeichen. Damit wurden diese Gruppen der Bevölkerung tatsächlich weiter an den Rand gedrängt und bis zu einem gewissen Grad auch aus dem Stadtbild verdrängt. Wenn möglich sollten sie nicht öffentlich betteln gehen, sondern die Almosen durch städtische Beauftragte zu Hause empfangen; öffentlicher Bettel war nicht selten räumlich (Kirchen) und zeitlich begrenzt. (Büttner 2010, 62-68) Wie kann das Thema jenseits der Bilder aus Handschriften fortgeführt und vertieft werden? Für das Mittelalter bieten sich meines Erachtens an schriftlichen Quellen besonders gut Wunderberichte (Mirakel) an. Nicht, weil sie manchmal besonders malerisch oder detailverliebt körperliche Zustände beschreiben und in ihnen Gott durch Heilige ein Heilungswunder vollbringt (meistens jedenfalls), sondern weil in vielen dieser Texte auch etwas über das Leben körperlich beeinträchtigter Menschen erzählt wird und damit nicht selten auch über andere Menschen aus ihrem sozialen Umfeld, ihre Familien, Freunde, die Dorfgemeinschaft oder die Herren oder Herrinnen, denen sie (im Falle der Unfreiheit) gehörten. Wichtig ist es hier, vom Erzählkern, dem Wunder, wegzulenken auf das erzählerische Umfeld, auf die Umstände, unter denen Menschen bis zu ihrer Begegnung mit dem Heiligen lebten. Denn oft wird erzählt, dass sie jahrelang mit ihrer Erkrankung oder Verletzung lebten, teils schon seit der Kindheit, dass sie also eine lange Zeit über gepflegt und versorgt werden mussten. Rückwirkende Diagnoseversuche sind hier unsinnig, denn ob „die Schilderungen der einzelnen Krankheiten und Beeinträchtigungen den historischen Realitäten entsprachen, ist für die Wirkungsgeschichte der Wunder wenig relevant.“ (Muschiol 2017, 195) Mirakel haben den Vorteil, dass sie das gesamte Mittelalter über bis in die Frühe Neuzeit hinein entstanden und eine starke regionale Verbreitung hatten. Mit diesen Texten lassen sich die an Hand der margins gewonnenen Erkenntnisse vertiefen und auf einer eher alltagsgeschichtlichen Basis erweitern, vielleicht sogar der eigenen Erfahrungswelt annähern.

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Abbildung 4: Hybridgestalten mit Mitra, Krücken und dargebotener Schale

Quelle: Oxford: Bodleian Library, MS. Douce 62, fol. 43v

V. FAZIT Margins sind integraler Bestandteil in vergleichsweise häufig auftretenden Luxusgütern, vor allem in Büchern. Sie sind ein insgesamt und oft auch im Einzelnen schwer zu deutendes Phänomen. „Charakteristisch für alle Arten von Randdarstellungen ist das Oszillieren zwischen Textverbundenheit und freier Entfaltung, zwischen Sinn und Nicht-Sinn. Diese Ambivalenz spiegelt sich in der zum Prinzip erhobenen Metamorphose von vegetabilen und anthropomorphen Elementen.“ (Grebe 2013, 174) Sie sind Teil einer Gesamtgestaltung der Buchseiten (wie sich unter anderem sehr gut an unvollendeten Handschriften zeigen lässt) und nicht etwa randständige Figuren, die etwas Abseitiges, Abnormes, Komisches usw. darstellen sollen. Um auf unser einführendes Beispiel zurückzukommen: Die Begegnung der Heiligen Familie mit den beiden sonderbaren Gestalten ist vielleicht für uns heute eine seltsame Motivwahl, den Menschen des Mittelalters dürfte sie nicht unangenehm aufgestoßen sein. Wenn wir sie als eine Möglichkeit ansehen, einen Zugang zur Dis/ability History des Mittelalters zu finden, dann muss klar sein, dass sich weniger über die Lebenswelt der dargestellten Menschen erfahren lässt als vielmehr über die Wahrnehmung und die Stellung der „Anderen“ und des Besonderen aus der Sicht der Nutzer*innen der hier vorgestellten Bücher. Legt man ein weitgefasstes Verständnis von Dis/ability History zugrunde, so spiegeln die margins Haltungen gegenüber körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen ebenso wie gegenüber dem Anderen, Fremden,

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Ungewöhnlichen überhaupt. Meiner Meinung nach spricht einiges dafür, dass die Rezipient*innen den abgebildeten Wesen grundsätzlich eher mit Wohlgefallen begegneten. Etwas platt ausgedrückt wäre die Antwort auf die Frage, welchen Sitz im Leben die Figuren hatten, schlicht: mittendrin, sowohl bei den margins, die Teil einer als Ganzes entworfenen Seite sind, als auch in der Gesellschaft. Um nicht missverstanden zu werden, hier soll keiner vormodernen Sozialromantik das Wort geredet werden. Jedoch waren einige der Gestalten in ihrer Funktion kaum entbehrliche Mitglieder der Gesellschaft – und als solche wurden sie für gut 200 Jahre Teil einer künstlerischen Ausstattung kostbarer und prestigeträchtiger Handschriften.

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Experimente – Lehr- und Lernprojekte jenseits der Fachgrenzen – Zugänge zum öffentlichen Raum

Kulturelle Teilhabe und Heterogenität: Kunstgeschichte trifft Rehabilitationswissenschaften in der Dortmunder Stadtkirche St. Reinoldi Ann Kristin Thrun, Barbara Welzel

Kulturelle Teilhabe ist Menschenrecht. Das Verständnis von Architektur und baukulturelle Bildung sind grundlegend für jede bürgerschaftliche Erziehung, ist der öffentliche Raum mit seinen Bauten, auch den zahlreichen Denkmalen, doch ein wichtiger Bereich demokratischen Handelns (stellvertretend Wüstenrot Stiftung 2010). Vor allem lässt sich Architektur nicht „ausschalten“; sie strukturiert das private ebenso wie das öffentliche Leben. Dringend erforderlich – das ergibt sich nicht zuletzt aus der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention – sind daher inklusionsorientierte Vermittlungskonzepte (stellvertretend Degener/Diehl 2015). Doch wie lassen sich Architektur und Baudenkmale inklusiv – im Dialog zwischen Sehenden, Sehbehinderten und Blinden – erforschen und vermitteln? Das Projekt „Kulturelle Teilhabe und Heterogenität“ hat als „Labor“ mit Studierenden der Kunstgeschichte und der Rehabilitationswissenschaften an der Technischen Universität Dortmund gemeinsam über mehrere Semester ein Konzept erarbeitet, um die Dortmunder Stadtkirche St. Reinoldi modellhaft als Kulturdenkmal und Erinnerungsort für Sehende wie für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen gleichermaßen zu erschließen und kulturelle Teilhabe zu eröffnen. 1

1

Die folgenden Ausführungen berichten aus kunstwissenschaftlicher Perspektive über das Projekt „Kulturelle Teilhabe und Heterogenität“ an der Technischen Universität Dortmund, dessen Auftakt ein Tandem-Seminar im Sommersemester 2012 unter Lei-

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ANNÄHERUNG: „WIE NIMMT EINE BLINDE PERSON WOHL EINEN KIRCHENRAUM WAHR?“ Diese Frage war eine der ersten, die die sehenden – oder zugespitzt: das Sehen als unhinterfragten Weltzugang erlebenden (Referenzpublikation Walthes 2014) – Studierenden der Technischen Universität Dortmund bei dem Tandem-Seminar der Fachgebiete Kunstgeschichte und Rehabilitationswissenschaft bei Blindheit und Sehbehinderung stellten. Was schien da näherzuliegen, als es einmal auszuprobieren? Einige unserer Studierenden betraten bei einem Wahrnehmungsexperiment die Dortmunder Stadtkirche St. Reinoldi mit Augenbinden, bewegten sich langsam und vorsichtig fort (Abb. 1): experimentell des Sehsinnes beraubt in einer für sie gänzlich ungewohnten Wahrnehmungssituation, nicht wissend, was sich vor oder neben ihnen befand; die Stimmen der anderen Studierenden nur schwer zu orten. Nicht genau erkennend, wer mit ihnen sprach, bewegten sie sich fort,

tung von Prof. Dr. Renate Walthes (Fachgebiet Rehabilitation und Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung) und Prof. Dr. Barbara Welzel (Kunstgeschichte) und der Projektassistenz durch Ann Kristin Thrun, geb. Malik, bildete. Dieses Seminar wurde als Modell für die „Diversitätsdialoge in Studium und Lehre“ (Welzel 2012) konzipiert, die ein Format für ressourcenneutrale Zusammenarbeit verschiedener Lehrveranstaltungen vorstellen. 2014 wurde das Konzept vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft als Tandem-Fellowship für Innovationen in der Hochschullehre ausgezeichnet (https://www.stifterverband.org/fellowships-hochschullehre-fellows-2014) und in den folgenden Semestern gefördert sowie weiter ausgearbeitet, nun unter Beteiligung von Dr. Carsten Bender, der als „doppelter Experte“ (zu diesem Konzept Drolshagen 2012) das professionelle Wissen des Rehabilitationswissenschaftlers und die persönliche Erfahrung einer Sehbeeinträchtigung einbrachte (Walthes/Welzel 2016, Bender 2016). In dieser Form beteiligt sich das Projekt seit dem Frühjahr 2016 an „DoProfiL“ (Dortmunder Profil für inklusionsorientierte Lehrer/-innenbildung), dem Beitrag der Technischen Universität Dortmund im Kontext der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern, die aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert wird (https://www.doprofil.tu-dortmund.de). Zu diesem Projekt: Hußmann/Welzel 2018. An der Fortführung des Projekts „Kulturelle Teilhabe und Heterogenität“ beteiligt waren auch Christin Ruppio M.A., Daria Vogel und Birte Porsch, weiterhin ebenfalls Andrea Klotz M.A.; allen gebührt Dank. Dank gilt Pfarrer Michael Küstermann von der Stadtkirche St. Reinoldi für die langjährige vertrauensvolle Zusammenarbeit. Als Referenzpublikation zur Kirche, über die sich die ältere Literatur erschließen lässt, kann genannt werden: Sonne/Welzel 2016; hier auch die ersten Berichte aus dem Projekt.

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verloren schnell die Orientierung und wurden von der ständigen Angst begleitet, gegen etwas zu laufen, sich zu stoßen, zu stolpern oder zu stürzen. Sieht so das alltägliche Leben eines Blinden aus? Wohl kaum. Eine blinde oder stark sehbehinderte Person hat gelernt, sich ohne oder nur mit geringem Augenlicht fortzubewegen. Sie vermag sich zu orientieren und hat Methoden entwickelt, sich in ihrem Umfeld bewegen zu können, ohne vor Dinge zu laufen oder Treppen hinunterzustürzen. Sie bewegt sich sicher in ihrem Alltag, auch an unbekannten Orten. Abbildung 1: Wahrnehmungsexperiment

Photo: Lehrstuhl für Kunstgeschichte, TU Dortmund

Bei einem solchen Wahrnehmungsexperiment erfahren wir Sehenden – und aus dieser Perspektive wird hier berichtet – weit mehr über unsere eigene Wahrnehmung, als dass wir eine Vorstellung über blinde Raumwahrnehmung entwickeln könnten: Dieses Eingeständnis hat insbesondere in der Kunstgeschichtsgruppe viel Zeit erfordert. Wir können mit diesem Experiment gerade nicht herausfinden, was es für eine blinde oder sehbehinderte Person bedeutet, sich in demselben Raum wie wir zu bewegen. Vielmehr öffnen wir ein Erfahrungsfenster, wie sehr wir uns, ohne dass wir uns dies durchgängig bewusstmachen, auf unseren Sehsinn verlassen. Wir bemerken in besonderer Weise, wie sehr wir uns sehend in der Welt orientieren. Das bedeutet mehr als das sehende Erkennen von Dingen, mehr als

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das Erfassen von Farben und Formen. Vielmehr registrieren wir sehend auch Höhen und Entfernungen sowie räumliche Dimensionen. Wir „sehen“ Materialien und stellen unmittelbar Vermutungen darüber an, ob diese Materialien „warm“ oder „kalt“, „hart“ oder „weich“ sind. Wir lesen mit unseren Blicken die Architektur – den Kirchenbau, den Raum, seine Gestaltung und seine Wirkung – und verbinden das, was wir sehen, mit unseren Erfahrungen und unserem Wissen. Das Wahrnehmungsexperiment mit den Augenbinden für sehende Studierende konnte – so stand am Ende intensiver Diskussionen – nicht blinde Wahrnehmung vorstellbar machen. Es konnte den von vielen Studierenden geäußerten Wunsch, sich in differente Wahrnehmungen „einzufühlen“, nicht erfüllen. Wohl aber leuchtete es den „blinden Fleck“ sehender Raumwahrnehmung aus und führte zu einer veränderten Sicht der sehenden Kunstgeschichtsstudierenden auf die Wahrnehmung ihres Sehsinns. Auf diese Weise leistete es dann doch einen Erlebniszugang im Kontext einer inklusionsorientierten Lehrer- und Lehrerinnenbildung. Hochschuldidaktisch gewendet schafft es einen gerahmten und sicheren Ort, um eigene Wahrnehmungsmuster zu irritieren, es eröffnet transformatives Lernen: „Transformative learning involves experiencing a deep, structural shift in the basic premises of thought, feelings, and actions. It is a shift of consciousness that dramatically and irreversibly alters our way of being in the world.“ (Morrell/O’Connor 2002, xvii)

KUNSTGESCHICHTE, KULTURELLE TEILHABE UND INKLUSION Gesellschaftliche Veränderungen erfordern, zumal gespiegelt von bildungspolitischen Debatten und Anforderungen, regelmäßig Neujustierungen in der Lehrerund Lehrerinnenbildung. Die zunehmende kulturelle Vielfalt von Schülerinnen und Schülern spielt dabei für die Vermittlung von Kunstgeschichte eine herausragende Rolle (Schüppel 2016, Welzel 2017b); spätestens mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (2008) sind die Fragen nach kultureller Teilhabe mit Nachdruck auf die Agenda auch der Lehrer- und Lehrerinnenbildung gelangt. Für die Kunstgeschichte ist dabei die Institution Schule nur eines – wenn auch ein besonders wichtiges – der gesellschaftlichen Handlungsfelder, in denen sie Verantwortung für die Ermöglichung kultureller Teilhabe trägt; zu nennen sind weiterhin auch die Museen, namentlich diejenigen für Kunst und für Kulturgeschichte (stellvertretend Wallbrecher 2015, 299-300 der Leitfaden des Deutschen Museumsbundes), sowie die Denkmalpflege. Wie auch in anderen geistes- und

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kulturwissenschaftlichen Fächern kann den Veränderungen innerhalb der Akteursgruppen nicht ausschließlich durch fachdidaktische Adaptionen gleichsam feststehender Lerninhalte begegnet werden (Welzel 2017a). Vielmehr gehören schon seit geraumer Zeit Kanondebatten innerhalb der Fachdisziplinen zu den bekanntesten Folgen. Allmählich erst wird deutlich, wie sehr auch die fachwissenschaftlichen Narrative herausgefordert sind. Für die Kunstgeschichte als eine Disziplin, deren Erkenntnisstrategien auf professionalisiertem Sehen und visueller Analyse einerseits sowie visuellen Systematisierungen etwa eines Grundrisses oder eines Wandaufrisses fußen und die hierfür sprachliche Darstellungskonventionen entwickelt hat, bieten die Fragen nach kultureller Teilhabe bei Blindheit und Sehbehinderung so etwas wie einen epistemischen Ernstfall. Behält das Fach seine disziplinäre Zuständigkeit im Dialog mit Menschen, die etwa einen historischen Kirchenraum nicht visuell erfahren und untersuchen können? Und andersherum: Können blinden und sehbehinderten Menschen Zugänge zu kunsthistorischen Wissensbeständen ermöglicht werden? Vielleicht sogar weitergehend zu den Methoden, mit denen Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen ihre Gegenstände erschließen? Die wiederholte Lektüre und Diskussion der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ gab dieser Debatte eine weitere Wendung. In Artikel 27, Absatz 1 heißt es: „Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.“ Muss die Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt auch auf kulturwissenschaftliche Forschung bezogen werden? Sind also in inklusiven Settings – wie überhaupt in der Kulturvermittlung – die wissenschaftlichen Debatten und neuen Zugänge zwingend mit einzubeziehen? Während Fragen nach den Chancen und Grenzen „gemeinsamen Lernens“ in der Schule gegenwärtig ebenso politisch umstritten wie in der Forschung noch längst nicht ausreichend bearbeitet sind sowie die bildungspolitischen Implikationen der UN-Behindertenrechtskonvention kontrovers diskutiert werden, steht die Lehrer- und Lehrerinnenbildung vor der Aufgabe, künftige Lehrpersonen für ein Schulsystem, dessen Ausgestaltung nicht prognostizierbar ist, bestmöglich vorzubereiten. Das schließt Reflexionen über „gemeinsames Lernen“ notwendig ein. Für die Kunstgeschichte kommt ein entscheidender Faktor hinzu. Für ihre Gegenstände geht sie – einhergehend mit den Legitimationsstrategien für kulturelles Erbe, wie sie ihren Niederschlag nicht nur in der Welterbekonvention der UNESCO, sondern auch in Denkmalgesetzen oder Kulturkonventionen gefunden haben – von einem gruppenübergreifenden Interesse aus. Mehr noch: Ein solches „allgemeines Interesse“ an dem kulturellem Erbe „der Menschheit“ ist konstitutiv

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für die fachliche Gegenstandsbestimmung. Dann aber gehören diese Begründungszusammenhänge zu den Inhalten verantwortungsbewusster Vermittlungstätigkeit. Inklusionsorientierte Lehr- und Lernformate in der Kunstgeschichte folgen so verstanden daher nicht nur den Gerechtigkeitsanliegen der UN-Behindertenrechtskonvention, ihre Entwicklung zielt vielmehr ins Zentrum des disziplinären Selbstverständnisses.

KULTURELLE TEILHABE UND HETEROGENITÄT: PROJEKT-DESIGN Die beiden Disziplinen Kunstgeschichte und Rehabilitationswissenschaften, genauer noch: Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigungen haben – wie dargelegt – keine Geschichte geschweige denn Routinen der Zusammenarbeit. Um konkret und flexibel im jeweiligen Fachgebiet beziehungsweise im Kontext der verschiedenen Studienprofile und -anforderungen, aber zugleich gemeinsam arbeiten zu können, wurde schon im Vorfeld des Projektes eine klare Organisationsstruktur entwickelt (Malik 2016). Beide Fachgebiete boten ihre Seminare zur selben Zeit an; sie wurden als vierstündige Veranstaltungen (also vierzehntägig) konzipiert, um Raum und Zeit für Diskussionen, Fragen und Erarbeitungen zu schaffen. Insbesondere musste es auch möglich sein, Vor-Ort-Termine zu realisieren. Diese Organisation besticht durch ihre Einfachheit: Für die Lehrenden war es ein Leichtes, ihre Seminare so zu legen, dass sie zeitlich auf einer Schiene lagen, doch genau diese einfache Tatsache ermöglichte es, während der gesamten Projektzeit flexibel auf die Bedürfnisse beider Seminare eingehen zu können: Oft wurde erst in der aktuellen Sitzung entschieden, ob beim nächsten Termin in der Fachgruppe oder im Dialog gearbeitet werden sollte oder ob man sich für einen Teil der vier Stunden treffen wollte oder noch einen Vor-Ort-Termin benötigte. Die Absprache und Diskussion in der Großgruppe beider Seminare wurden über die ganze Projektzeit hinweg von allen Beteiligten als sehr gewinnbringend für das Projekt und für beide Fachgebiete gesehen (Abb. 2).

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Abbildung 2: Organisationsstruktur

Schema: Lehrstuhl für Kunstgeschichte, TU Dortmund

Die Seminarleitungen stellten sich durch die forschende Anlage der Seminare einer besonderen Herausforderung des Lehrens: Sie konnten die Veranstaltungen nicht detailliert vorstrukturieren und waren in vielerlei Hinsicht selbst Lernende. Die Seminare ermöglichten es also den Studierenden, sich aktiv zugleich an aktueller Forschung zu beteiligen wie auch Lernprozesse explorativ zu gestalten. Die Lehrenden wussten am Anfang des Semesters noch nicht genau, welche Wendung diese Erkundung nehmen würde und auf welchen Wegen die Erarbeitung des Vermittlungskonzepts gelingen könnte. Eine große Offenheit und auch das Hinnehmen von Irrwegen und Scheitern bei manchen Erprobungen begleiteten das Seminar ebenso wie Erfolge, gelingende Konzepte und immer neue Fragen. Grundlage der gesamten Arbeit war durchgehend die jeweils eigene Fachlichkeit. Stück für Stück wurde ausgefaltet, welche weiteren Rechercheschritte notwendig wurden, um den eigenen Gegenstand der jeweils anderen Gruppe plausibel machen und auf Rückfragen reagieren zu können. Hierfür bewährte sich die flexible Arbeitsweise. Für die Studierenden wurden die Notwendigkeit einer präzisen Sprache und die Sicherheit in der jeweiligen Fachsprache durch den interdisziplinären Diskurs unmittelbar erfahrbar. Die Fragen der anderen Gruppe an das eigene Fach waren oft unerwartet und klärten die eigene Positionierung immer von Neuem. Bereichernd war auch die Herausforderung, die Vorgehensweisen,

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Fragestellungen und Gegenstände des eigenen Fachs zu erklären: Was genau ist das Erkenntnisinteresse? Warum soll das jemanden interessieren, der oder die nicht vom Fach ist? Gerade aus diesen Situationen heraus entstand eine Sicherheit, sich im eigenen Fach auszukennen und zu verstehen, was Forschung meint, welche Themen in der jeweiligen Disziplin von Bedeutung sind. Es öffnete sich eine Tür, um in einen forschenden Diskurs eintreten zu können. Das Projekt ermöglichte auf diese Weise – so ergaben zahlreiche Feedback-Gespräche – für die Studierenden einen Blick auf Forschung, wie dies nur in wenigen Seminaren gelingt. Mehr noch: Sie wurden Teil des Erkenntnisprozesses, konnten sich durch ihre Mitarbeit im Seminar auch aktiv an Forschung beteiligen. Um Inhalte auf neue Gebiete transferieren zu können, mussten sich die Studierenden in diesen Inhalten wirklich gut auskennen.

DIE STADTKIRCHE ST. REINOLDI ALS ORT UND ALS LABOR Kunsthistorisch konnte das Projekt auf mehrjährige Forschungen zur Kulturgeschichte der mittelalterlichen Stadt aufbauen, in denen auch die Stadtkirche St. Reinoldi umfassend bearbeitet worden war (stellvertretend Büttner/Schilp/Welzel 2005, Schilp/Welzel 2006, Ohm/Schilp/Welzel 2006, Zepp 2014; zur Rolle mittelalterlicher Kunst in Bildungskontexten Welzel 2017a); kurz zuvor hatte mit „Planvoll“ ein weiteres, im Kontext von „SammLehr – An Objekten lehren und lernen“ (eine Initiative der Stiftung Mercator) wettbewerblich ausgezeichnetes Lehrprojekt die Arbeit aufgenommen. Hier arbeitete das Fachgebiet Kunstgeschichte mit dem Lehrstuhl für Geschichte und Theorie der Architektur und dem Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst der Technischen Universität Dortmund zusammen, um im Wechselspiel den Architektennachlass zum Wiederaufbau der Stadtkirche St. Reinoldi nach dem Zweiten Weltkrieg und das Bauwerk selbst zu untersuchen (Sonne/Welzel 2016). Curricularer Grundgedanke war es von Anfang an, sich mit den wichtigen kulturellen Orten der näheren Umgebung genauso auseinanderzusetzen wie mit überregional bekannten Orten. So kann ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Kunst und Kunstgeschichte immer auch unmittelbar vor Ort aufzufinden sind – zumal wenn sich diese Orte und Objekte in einen europäischen Kontext stellen lassen – und dass kulturelle Teilhabe ganz konkret und unmittelbar eröffnet werden kann. Konkret lässt sich nahezu überall etwas direkt am Ort und am Objekt zeigen, erforschen und lehren (Welzel 2019). Gerade in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung ist es ein besonderes Anliegen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen,

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dass die Erkundung von (Kunst-)Geschichte nicht nur eine Beschäftigung mit Photographien und Büchern, sondern mit Orten und Originalen ist. Auch wenn das forschende Augenmerk dem Objekt und seinen materialen Eigenschaften wie seiner Formgestaltung gilt, Begegnung und Bewegung im Raum sowie Erleben sind Teil des Forschungsprozesses. Hier können Vermittlungsprozesse reflektiert ansetzen (vgl. Gliesmann/Welzel 2015, Welzel 2016). Die Stadtkirche St. Reinoldi ist ein komplexer Erinnerungsort (vgl. Welzel 2016). Sie nimmt erstens seit dem Mittelalter eine – immer wieder gewandelte – zentrale Rolle für die Stadt Dortmund ein. Als kulturelles Erbe zu erschließen ist zweitens daher nicht nur der Kirchenbau – Architektur und architektonischer Raum. Vielmehr kommen drittens bedeutende Ausstattungsstücke hinzu, von denen für dieses Projekt die monumentale Holzskulptur des Stadtpatrons herausgehoben wurde.

REINOLDUS ALS STADTPATRON An zentraler Stelle im Kirchenraum, links am Aufgang zum Chor aufgestellt, erfordert die Figur des Heiligen Reinoldus noch immer die Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher der Kirche (Abb. 3; Höhe ca. 2,70 Meter, Nussbaum, vor 1317) – jedenfalls wenn sie die Figur sehen können. Für die kunsthistorische Erschließung der Reinoldikirche ist unmittelbar einleuchtend, dass die Figur eine wichtige Rolle spielen muss. In den fachlichen Konventionen recherchiert man gewohnheitsmäßig die Legende sowie die stadthistorische Bedeutung und analysiert die Skulptur als Repräsentationsform (Franke 2006). Doch wie lässt sich in einer inklusiven Vermittlungssituation verfahren? In ausführlichen Diskussionen wurde herauspräpariert, welchen drei Anforderungen Genüge getan werden muss: Zunächst gilt es, die Position der Figur im Raum und den Rang, den diese Positionierung der Figur verleiht, zu erschließen. Weiterhin – und das ist die leichteste Aufgabe – sind Legende und stadthistorische Bedeutung zu erzählen. Die dritte Herausforderung besteht darin, die Figur, die weit über Kopfhöhe der Kirchenbesucherinnen und -besucher aufgestellt ist (was einen integralen Teil ihrer Inszenierung ausmacht), in ihrem Repräsentationsgestus an Menschen, die sie nicht sehen können, zu vermitteln. In diesen Diskussionen zeigte sich, dass die Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen bei der dritten Anforderung deutlich „fremdelten“, ja sogar Zweifel äußerten, ob denn ein Objekt, das sie selbst zentral mit visueller Analyse untersuchten und das zunächst auch keinen anderen Zugangsweg zu haben schien, für Nicht-Sehende angemessen erschließbar ist. An dieser Stelle

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aber ließen nun gerade die Lehramtsstudierenden, die die Figur später im Fachunterricht Kunst vermitteln wollten, nicht mehr locker. Eine ausführliche Analyse legte frei, dass diese Skulptur den Stadtpatron insbesondere durch eine präzise auf die Bedeutung des Heiligen abgestimmte Körperhaltung zum Ausdruck bringt: Reinoldus steht in einem breiten Stand, dabei – einen Kontrapost andeutend – sein Gewicht ein wenig auf sein linkes Bein verlagernd. Mit der leicht geneigten Hüfte, den rechten Arm mit dem Schwert kraftvoll erhoben, den linken Arm und den Schild mit dem brabantischen Löwen, seinem Familienwappen, vor den Körper haltend, wirkt er zugleich dynamisch und standhaft. Er strahlt Stärke sowie Wehrhaftigkeit aus und ist in einem Moment verewigt, der seinen Tatendrang und Mut verbildlicht. In der Skulptur ist er so als ritterlicher Stadtpatron für die Bewohner und Bewohnerinnen Dortmunds verkörpert. Reinoldus ist als Stadtpatron – so die Botschaft – stets bereit, seine Stadt und deren Bewohnerinnen und Bewohner zu beschützen. Für die Vermittlung wurden schnell alle Überlegungen, ein verkleinertes Modell zum Anfassen und Tasten herzustellen, verworfen. Vielmehr wollte sich die Gruppe nicht eines standardisierten Methodenrepertoires – Tastmodelle – bedienen, sondern aus der präzisen Objektanalyse heraus ein spezifisches Verfahren entwickeln. Nachdem die körperliche Repräsentation in ihrer nuancierten – und, wie kunsthistorische Vergleiche erweisen können, auch bemerkenswerten – Haltung als „Proprium“ dieser Figur erkannt war, lag es nahe, auf Leiberfahrung – gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von Requisiten – bei der Vermittlung zu setzen. Stellt man die Haltung des Reinoldus nach, wird dadurch die zuvor durch die visuelle Analyse der Holzfigur beschriebene Wirkung auch körperlich erfahrbar. Mit festem Stand, im leichten Kontrapost, beide Füße auf dem Boden, den einen Arm fest (mit einem Schild) vor den Körper gehalten, den anderen (mit Schwert) erhoben, fühlt man, wie angespannt die Muskeln in dieser Körperhaltung sind, wie gebogen und gespannt die Schultern und wie dynamisch der gesamte Körper in dieser Haltung ist. In einem nächsten Schritt wurde dann damit experimentiert, wie diese Körperhaltung eingenommen werden kann, wenn eine Person sie nicht sehen kann, um sie zu imitieren. Die sehenden Mitglieder der Gruppe mussten also einen Weg der Vermittlung finden. Es galt darüber zu sprechen, wie viel Anfassen, wie viel Berührung möglich sein kann. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Haltung der Figur nicht vorstellbar wird, wenn die blinde Person gewissermaßen „hingebogen“ wird – abgesehen davon, dass eine solche Situation von allen als unangenehm empfunden wurde. Vielmehr musste die Haltung selbst „gefunden“ werden, um ihre Implikation erfahren zu können. Herausfordernd war es daher vor allem, zu einer

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sprachlichen Präzision zu kommen, die die Haltung der Figur angemessen vorstellbar macht. Ungenauigkeiten der Beschreibung schlugen unmittelbar zu Buche: So hält die Figur ihren Schild eben nicht „vor die Brust“, so ist der Arm mit dem Schwert eben nicht „hoch über den Kopf“ erhoben. Sprachliche Versatzstücke mussten durch präzise Beobachtung und Beschreibung ersetzt werden – was wiederum zu genauerem Sehen der Beschreibenden (der sehenden Studierenden) führte. Doch blieb in diesem Experiment ein Diskussionspunkt, wie ähnlich zum Anblick der Figur die eingenommene Haltung für die Sehenden aussehen musste. Gerade diese Sequenz ließ ein Labor für „gemeinsames Lernen“ entstehen und konnte unmittelbar erfahrbar machen, dass inklusive Lernsituationen Erfahrungen bereithalten, die erst in der Kommunikation miteinander zur Entfaltung kommen. Abbildung 3: Reinoldusfigur in St. Reinoldi

Photo: Rüdiger Glahs, Dortmund

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STÄDTISCHER REPRÄSENTATIONSORT Als städtische Hauptkirche der Freien Reichsstadt Dortmund war die Stadtkirche St. Reinoldi – neben dem Rathaus – eines der wichtigsten Gebäude der Stadt (Büttner/Schilp/Welzel 2005). Als Versammlungsort in der im späten Mittelalter bedeutenden Hansestadt musste sie – wovon die herausragenden Ausstattungsstücke noch heute Zeugnis ablegen – den hohen Repräsentationsansprüchen der Fernkaufleute dienen. Als Stadtkirche war sie zugleich allen Einwohnern und Einwohnerinnen der Stadt (mit Ausnahme der Juden und der Aussätzigen) zugänglich, die dort – wie beschrieben – auch ihrem Stadtpatron begegnen konnten. Als höchstes Bauwerk innerhalb der City ist sie bis heute eines der wichtigsten Wahrzeichen. Nach den Zerstörungen der Stadt während des Zweiten Weltkriegs (die Innenstadt Dortmunds war zu mehr als 90 Prozent zerstört) sind die vier auf das Mittelalter zurückgehenden Innenstadtkirchen die einzigen authentischen Orte aus der Vormoderne, die an die Geschichte der Metropole des Ruhrgebiets vor der Industrialisierung erinnern (Sonne/Welzel 2016). Mit anderen Worten: Als kultureller Erinnerungsort ist die Reinoldikirche nicht nur ein Ort der christlichen (genauer: evangelischen) Kirche. Sie zählt vielmehr zum kulturellen Erbe der Stadt, der Region und weist – als Hauptkirche einer bedeutenden Hansestadt – auch europäische Dimensionen auf (vgl. Schilp/Welzel 2012). In dieser Perspektive ergibt sich ein Anspruch auf Teilhabe für alle Menschen, die Dortmund verstehen möchten – ein Anspruch, der sich durchaus als Bildungsverpflichtung gegenüber Dortmunder Schülerinnen und Schülern begreifen lässt (vgl. hierzu das Bildungsprojekt „Dortmund entdecken“; Franke/Welzel 2020, Welzel 2014), eben auch gegenüber Schülerinnen und Schülern, die blind oder sehbehindert sind. Als Schwelle erwies sich die religiöse Codierung des Ortes; für die Kommunikation war sie sogar oft eine Barriere. Jeder Einstieg in die kunsthistorische Erkundung benötigt daher – so zeigt sich immer von Neuem – einerseits die Aufklärung über die säkulare Codierung des Konzepts vom kulturellen Erbe sowie andererseits die Bereitschaft und Fähigkeit in säkularen Gesprächs- und Bildungskontexten über Religion, religiös imprägnierte Bauten und religiöse Sinnstiftungsprozesse zu sprechen. Deutlich wird, dass sich die historische Tiefendimension europäischer Städte nur erfahren lässt, wenn die in so vielen Städten – und eben auch in Dortmund – zugrunde liegenden mittelalterlichen Stadtstrukturen gelesen werden können: in ihrer vormodernen Durchdringung von Gesellschaft und Religion, von Politik und Kirche (Welzel 2017b). Heute – seit Aufklärung, Französischer Revolution und Säkularisierung, codifiziert im Denkmalbegriff sowie den Kulturkonventionen des Europarats und der UNESCO – sind Orte, Räume und Objekte

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wie die Reinoldikirche oder die Skulptur des Reinoldus „doppelt codiert“: Für die Gläubigen entfalten sie Bedeutungen im Bekenntnishorizont der christlichen Religion, für alle Menschen sind sie – unabhängig von ihrer eigenen Religionszugehörigkeit – kulturelles Erbe, an dem sie ein Teilhaberecht haben (Abb. 4). Abbildung 4: Innenraum St. Reinoldi

Photo: Rüdiger Glahs, Dortmund

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Das alles lässt sich differenziert am Beispiel der Stadtkirche St. Reinoldi in Dortmund herausarbeiten (Zepp 2005). So bot das Chorgestühl des 15. Jahrhunderts auf der südlichen Seite Platz für die Geistlichen, auf der nördlichen – dem Stadtpatron zugewiesenen – Seite den Ratsmitgliedern und Bürgermeistern. Diese hatten gar die Schlüsselgewalt über die Reliquien des Stadtpatrons, die in Folge der Reformation nicht mehr in der Kirche aufbewahrt werden, deren architektonischer Schrein aber noch immer vorhanden ist. Die Projektdiskussionen arbeiteten sukzessive heraus, dass Inklusion und Teilhabe auch bedeuten, blinde und sehbehinderte Personen an den geschilderten Debatten teilhaben zu lassen, ihnen von diesen Forschungs- und Diskurszusammenhängen zu berichten und sie einzubeziehen. Ein Teilhabeanspruch besteht mit anderen Worten eben nicht nur am kulturellen Erbe, sondern auch an den Forschungskontexten.

ARCHITEKTONISCHER RAUM Die Kunstgeschichte als fachliche Disziplin untersucht bei der Architekturanalyse in besonderer Weise die architektonische Struktur der Bauten; sie arbeitet mit eingeführten Schematisierungen wie Grundriss, Aufriss und Schnitten durch Gebäude (vgl. Einführungen wie Freigang 2010, Koepf/Binding 2005). Durch diese Schemata ist es möglich, die Architektur einer Kirche (oder auch eines anderen Raumes) auf eine systematische Weise und in codifizierter Terminologie zu beschreiben. Somit helfen diese Schemata in ihrer Abstraktion, einen Raum in seiner Organisation zu begreifen. Hat man gelernt sie zu lesen, ist es ein Leichtes, die Gebäudestrukturen zu erfassen: Der Grundriss der Reinoldikirche (Abb. 5) wird in Langhaus, Querhaus und Chor sowie Turm unterteilt. In der Reinoldikirche sehen wir ein Langhaus mit einem Mittelschiff, begleitet von zwei Seitenschiffen, ein eingezogenes Querhaus, welches die Breite der Seitenschiffe nicht überragt, und einen Chor, welcher in einer polygonalen Apsis endet. In die Grundrisszeichnung sind allerdings nicht nur die Joche, die Raumkompartimente respektive Gewölbeeinheiten der einzelnen Schiffe und des Chores eingetragen, sondern auch die Gewölbegliederung, also etwa die Kreuzrippengewölbe im Mittelschiff. Der Grundriss der Kirche, wie er in kunsthistorischer Systematisierung erstellt ist, eignet sich also nicht als Orientierungsplan für eine blinde Raumerkundung; er ist nicht unkommentiert für die Erschließung des Kirchenraumes in Bewegung zu verwenden. Vielmehr ist er als fachliche Analyseform einzuführen und verständlich zu machen.

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Abbildung 5: Grundriss St. Reinoldi

Quelle: Archiv

Zu diesem Ergebnis zu kommen, setzte allerdings im Projekt einen alles andere als geradlinigen Diskussionsprozess und zahlreiche Vermittlungsexperimente voraus. So hatten die Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker einen Grundriss der Kirche vorbereitend zur Verfügung gestellt. Die Rehabilitationswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen hatten – ganz in den bewährten Routinen ihres Faches

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– die Umsetzung in ein Tastbild veranlasst. Hierfür schienen die Linienführungen der Zeichnungen aber an manchen Stellen zu dicht. Scheinbar folgerichtig wurden Vereinfachungen vorgenommen in der Absicht, den Plan „lesbarer“ zu machen. Dabei allerdings gingen kunsthistorisch entscheidende Informationen verloren; es entstand ein Plan, der aus kunsthistorischer Sicht „unsinnig“ war. Immer wieder hat sich die Projektgruppe damit beschäftigt, wie generelle Raumerschließung und fachspezifische Erkundung des Raumes aufeinander bezogen werden können. Wie lässt sich die Höhe des Raumes erschließen? Welche Rolle spielen akustische Verfahren? Doch was können diese für ein kunsthistorisches Verständnis leisten? Können Modelle helfen (Klotz 2016)? Welche Erfahrungen erlauben sie? Lässt sich ein Bau nur anhand eines Modelles verstehen, bei dem ein Gebäude von oben – mithin in einem Zugriff, der am realen Bauwerk niemals einzunehmen wäre – ertastet wird? Und werden hier Angebote gemacht, die auf „gemeinsames Lernen“ zielen – oder sind die Modelle ausschließlich als Hilfsmittel für Menschen mit Seh-Beeinträchtigung konzipiert (wenn beispielsweise Beschriftungen ausschließlich in Brailleschrift angebracht sind)? Viel Zeit nahmen Bewegungsexperimente im Kirchenraum ein, um Plan und Position im Raum ineinander zu spiegeln und körperlich erfahrbar zu machen. Welche Achsen gilt es abzuschreiten, an welchen Orten im Raum lassen sich Dimensionen und Proportionen exemplarisch erfahren etc.? Im konkreten Verlauf der Seminarsitzungen waren immer wieder die Dozenten und Dozentinnen gefragt, selbst miteinander zu experimentieren. Dabei wurde das Seminar zu einer Bühne, auf der vorgemacht wurde, wie sich im Dialog eine Raumerkundung Stück für Stück erschließen lässt. Eingerichtet wurde ein Setting, bei dem Studierende beobachten konnten, wie man sich auf solche unbekannten und experimentellen Situationen explorativ einlassen kann. Nicht nur im Seminar, sondern auch nach späteren Schulpraktika meldeten Studierende zurück, dass sie gerade dieses Setting als besonders geeignete Vorbereitung auf inklusionsorientiertes Vermitteln erfahren haben.

ZUSAMMENFASSUNG: LEHRE UND FORSCHUNG Auch wenn am Anfang selbstverständlich der inhaltliche Austausch am Rande irgendwelcher Sitzungen und anschließend bei den sprichwörtlichen Tassen Kaffee in der Cafeteria auf dem Campus stand, den Beginn des gemeinsamen Arbeitens bildeten gleichwohl Überlegungen zum Design des Projekts (als Modell für ein kunstwissenschaftlich moderiertes Projekt-Design Busse/Welzel 2013 und 2014). Welche Kontaktzonen werden benötigt, wenn Inklusionsorientierung Teil des

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Fachstudiums und der Lehrer- und Lehrerinneninnenbildung werden soll? Wer muss mit wem sprechen? Wie sollten Lehr- und Lernsituationen gestaltet sein, um die Vermittlung eines „verborgenen Curriculums“ zu vermeiden, mithin das Reden über Inklusion in systemisch exkludierender Situation (Drolshagen/Rothenberg 2011), das Dozieren über Arbeit im Team durch eine einzelne Lehrperson etc.? Wie lassen sich innovative Lehr- und Lernsituationen in den bestehenden Strukturen der Hochschule – und das meint auch die Ressourcenorientierung bei Zeit und Arbeitskraft der Lehrenden wie der Studierenden – ermöglichen? Allgemeiner gesprochen: Wie lassen sich Ermöglichungsräume für eine zeitgemäße, die aktuellen gesellschaftlichen Fragen reflektierende, die damit einhergehenden Unsicherheiten konstruktiv rahmende Lehre – und diese durchaus im Sinne des forschenden Lernens – gestalten? Und weitergehend: Lassen sich diese Ermöglichungsbedingungen im Seminarprozess auf eine Weise thematisieren und reflektieren, dass sie modellhaft in die Professionsvorstellungen der Studierenden – etwa zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Kunsthistoriker und Kunsthistorikerinnen sowie Rehabilitationswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen – eingehen können? Abbildung 6: Vor-Ort-Termin

Photo: Lehrstuhl für Kunstgeschichte, TU Dortmund

Das Projekt „Kulturelle Teilhabe und Heterogenität“ wurde über mehrere Semester mit wechselnden Studierendengruppen als dialogisches Lehr-/Lernprojekt der

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Fachgebiete Kunstgeschichte und Rehabilitationswissenschaften der Technischen Universität Dortmund angelegt. Inhaltlich sollte ein Konzept entwickelt werden, welches einen zentralen kulturellen Erinnerungsort in Dortmund, die städtische Hauptkirche St. Reinoldi, als Ort des kulturellen Erbes für Blinde und sehbehinderte Personen zugänglich macht, genauer: für sehende und sehbeeinträchtigte sowie blinde Menschen gemeinsam erschließt (Abb. 6). Damit begab sich dieses Projekt auf Neuland – nicht nur, weil bisher nur wenige Vermittlungsaktivitäten für historische (Kirchen-)Bauten entwickelt wurden, die sich an diese Zielgruppen richten. Eine Referenz ist hier sicherlich die von Barbara Schock-Werner verantwortete Publikation zum Kölner Dom (Schock-Werner 2007), der sich ein Angebot von Blindenführungen anschloss. Neuland betrat das Projekt auch aus zwei weiteren Gründen: Beide Fächer mussten feststellen, dass Forschungen fehlten, auf die die Kooperation aufsetzen konnte. Raumerschließung in der Pädagogik bei Blindheit und Sehbeeinträchtigungen meint zunächst und hauptsächlich Orientierung im Raum sowie Mobilisierung (Walthes 2014, Saerberg 2006). Erschließung von Raumkunst, von architektonischen Strukturen, von ästhetischer Gestaltung, von historischen Schichtungen, das Erkunden eines Kirchenbaus wie der Reinoldikirche als eines kulturellen Erinnerungsortes: Das sind Leerstellen im Diskurs. Es ist daher nur folgerichtig, dass aus den gemeinsamen Diskussionen ein Dissertationsprojekt hervorgegangen ist (zu diesem Vorhaben Klotz 2016). Die Kunstgeschichte ihrerseits hat lange schon die Blickführung beispielsweise in Gemälden thematisiert, wendet sich aber erst in jüngerer Zeit in empirischen Forschungen im Dialog mit Neurowissenschaften dem Sehen von Kunstwerken, genauer den Augenbewegungen, zu (stellvertretend Rosenberg 2014). Die Reflexion über „Autopsie“, die methodische Strukturierung von Sehprozessen bei kunsthistorischen Analysen sowie über Bewegungen des Gehens und des Blickens bei der Untersuchung von Räumen befinden sich – wie im Projekt immer deutlicher wurde – sehr weitgehend im „blinden Fleck“ der Fachdisziplin. Schließlich war das Projekt im Kontext „Innovationen in der Hochschullehre“ angetreten, um dann zu einem Baustein für eine „Qualitätsoffensive“ zu werden. Es entstand eine Laborsituation, in der konkrete Lehr- und Lernsituationen entwickelt und reflektiert, zugleich aber auch Dispositive der beteiligten Fachdisziplinen zum Thema wurden.

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Dis/ability History und didaktische Perspektiven – ein Lehrprojekt an der Universität Bremen Sabine Horn, Natascha Korff

Trotz der jüngsten fachwissenschaftlichen Etablierung von Dis/ability History auch in Deutschland nehmen bisher lediglich vereinzelte didaktische Publikationen diese neue Perspektive als Lerngegenstand in Schulen wahr und konstatieren ein Desiderat in der Diskussion über schulische und außerschulische Vermittlung. Dabei eignet sich der Blick auf vergangene Gesellschaften anhand der Kategorie Dis/ability vorzüglich dazu, unbekannte Facetten der Sozial-, Kultur-, Alltags- und Wirtschaftsgeschichte zu beleuchten, heutige Vorstellungen von Normalität und Andersheit als historisch gewachsen und variabel zu identifizieren sowie historische wie gegenwärtige Verhaltensweisen im Spannungsfeld von Inund Exklusion zu bearbeiten. Dies erscheint sowohl für den Geschichtsunterricht als auch für außerschulische Public History sowie nicht zuletzt als Reflexionsangebot für zukünftige Lehrer*innen überaus relevant. An der Universität Bremen lief im Wintersemester 2017/2018 ein Pilotprojekt: Dis/ability als Lehr- und Lerngegenstand in den Geistes- und Sozialwissenschaften, durchgeführt von Sabine Horn, Natascha Korff und Cordula Nolte.1 Dafür erarbeiteten Fachwissenschaft und Fachdidaktik ein gemeinsames Modul mit einem innovativen Lehrkonzept für Lehramts- und Masterstudierende des Fachs Geschichte. Im Mittelpunkt standen Aktivitäten der Studierenden, die eigene Forschungen zu Dis/ability History in unterschiedlichen Epochen in Vermittlungsformate für schulische und außerschulische historische Bildung überführten. Das 1

Das Projekt wurde im Rahmen des Vorhabens „Schnittstellen gestalten“ durch das BMBF innerhalb der Qualitätsoffensive Lehrerbildung an der Universität Bremen gefördert.

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Modul wurde flankiert durch eine Erhebung seitens der Inklusiven Pädagogik, die auf die Vorstellungen der Studierenden zu Behinderung und ihrer Konstruktion fokussierte. Dies griff auch ein Desiderat bisheriger einstellungs- oder haltungsbezogener Forschungen zur Lehrer*innenbildung und zu der Differenzlinie Behinderung – Befähigung auf, nämlich einen Bedarf an differenzierten Zugängen, der sich ergibt, wenn von einem komplexen Verständnis von Dis/ability ausgegangen wird. Mit einem explorativ-qualitativen Blick auf die Vorstellungen der am Modul beteiligten Studierenden sollte so eine erste Rekonstruktion ihrer Konstruktion von Behinderung und Differenz ebenso wie von Nichtbehinderung und Normalität erfolgen. Zwei Organisatorinnen des Projekts (Sabine Horn, Fachdidaktik der Geschichte, und Natascha Korff, Inklusive Pädagogik) möchten in diesem Beitrag die Modulkonzeption, die Evaluation und die Ergebnisse, bezogen auf Inhalte sowie auf Aneignungs- und Vermittlungsprozesse, präsentieren und mit dem Artikel einen Beitrag zur Diskussion über die Potentiale des Gegenstandes Dis/ability im Kontext inklusiver Geschichtsvermittlung leisten.

1. ZIELE UND HINTERGRUND DES PROJEKTES: DIS/ABILITY IN DER INKLUSIVEN LEHRER*INNENBILDUNG Die Weiterentwicklung der Lehrer*innenbildung, wie sie aktuell an verschiedenen Hochschulstandorten in Deutschland verfolgt wird, nimmt angeregt durch aktuelle gesellschafts- und schulpolitische Veränderungen die Auseinandersetzung mit Differenz und die Entwicklung einer inklusiven Schule in den Blick. Über reflexive Zugänge sollen Studierende auf die Arbeit in einem sich verändernden System vorbereitet werden (vgl. etwa KMK/HRK 2015, Heinrich/Urban/Werning 2013). Die Entwicklungen befassen sich aber auch mit lange bestehenden Herausforderungen wie der Verknüpfung fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher Lehre und dem Anwendungs- bzw. Praxisbezug der ersten Phase der Lehrer*innenbildung. In diesem Zusammenhang bietet das vorgestellte Projekt ein Beispiel dafür, wie durch die Vernetzung fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Zugänge Studierende dazu angeregt werden, einen innovativen (Forschungs-)Gegenstand aus einer didaktischen Perspektive zu bearbeiten. Der Lehr-/Lerngegenstand Dis/ability History bietet dabei die besondere Gelegenheit, Reflexionsprozesse zu einem für aktuelle Fragen inklusiver Bildung hoch relevanten Thema anzuregen. Die internationalen Disability Studies/Disability History, die in den letzten Jahren auch im deutschen Wissenschaftssystem

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etabliert wurden, setzen sich in Bezug auf Vergangenheit und Gegenwart unter einer kritisch reflexiven Perspektive mit Behinderung auseinander. Fragen danach, wie diese Kategorie in verschiedenen historischen und gegenwärtigen Gesellschaften konstruiert wird und welche Prozesse von Marginalisierung, Stigmatisierung sowie Exklusion und Inklusion sich damit verbinden, bieten im Geschichtsunterricht und anderen sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern die Möglichkeit, (inklusiven) Unterricht mit Bezug auf die Behandlung hierfür inhaltlich relevanter Themen zu entwickeln. Die Befassung mit Dis/ability History als Lehr- und Lerngegenstand bietet zugleich im Lehramtsstudium Potential, die Studierenden selbst zu Reflexionen der eigenen Perspektive auf Behinderung anzuregen. Welche Bedeutsamkeit dies für eine inklusionsorientierte Lehrer*innenbildung hat, wird einleitend dargestellt, um dann das im Projekt entwickelte Modul und die Ergebnisse der evaluativen Begleitforschung mit Fokus auf den Vorstellungen der Studierenden zu Dis/ability vorzustellen. Inklusive Bildungssysteme brauchen pädagogische Professionelle, die Barrieren für alle Lernenden reflektieren und abbauen. Eine intersektional orientierte Auseinandersetzung mit der (Re-)Produktion von Differenzen und damit verbundenen Inklusions- und Exklusionsdynamiken sowie deren Bearbeitung sind zentraler Bestandteil inklusiver Praxis. Universitäten stehen damit vor der Herausforderung, Studierenden aller Lehrämter neben differenzierten Unterrichtszugängen in den Fachdidaktiken auch Anregungen zur Reflexion gesellschaftlicher wie persönlicher Perspektiven auf Differenz zu bieten (vgl. Hackbarth/Köpfer/ Korff/Sturm, im Druck). Dies ist eine zentrale Kompetenz im Umgang mit der als Differenzdilemma bezeichneten Ambivalenz, Differenzen anerkennend und zugleich ohne Zuschreibungen begegnen zu wollen, also Marginalisierungen ebenso wie othering kritisch zu betrachten (vgl. etwa Mecheril 2004). Neuere Erhebungen zur Herstellung von Differenz im Unterrichtshandeln verweisen auf die Vielschichtigkeit der Prozesse von Inklusion und Exklusion im konkreten Unterrichtsgeschehen (vgl. Sturm 2016, Martens 2016, Tervooren/Pfaff 2018). Die vielfach im Kontext inklusiver Pädagogik geforderte Anerkennung der Vielfalt einer Lerngruppe bedeutet eben nicht nur, der Individualität der einzelnen Lernenden positiv annehmend und wertschätzend zu begegnen, sondern vielmehr auch die Konstruktion von Differenzsetzungen sowie ihre gesellschaftliche wie individuelle Wirkung anzuerkennen und zu erkennen. Im Kontext Dis/ability theoretisch diskutiert werden entsprechende Fragen etwa unter den Stichworten reflexive Inklusion (vgl. Budde/Hummrich 2013) sowie Inklusion als kritische Perspektive (vgl. Dannenbeck/Dorrance 2009) oder kritischer Reflexionsmodus (vgl. Häcker/Walm 2015, 83). Dis/ability History stellt in diesem Zusammenhang ein

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Potential für die Lehrer*innenbildung dar. Hier kann auf der einen Seite die Entwicklung differenzierter Vermittlungsangebote zu einem aktuellen geschichtswissenschaftlichen Thema erprobt werden und auf der anderen Seite durch die reflektierende Thematisierung von Dis/ability in historischer Perspektive für Studierende die Veränderbarkeit der Konstruktion von Norm und Normabweichung bewusst gemacht werden. Der an der Universität Bremen verankerte Forschungsverbund „Homo debilis“, eine interdisziplinäre und internationale Kooperation, lieferte mit seinen Erträgen das Reservoir, aus dem das hier vorgestellte Projekt Fragestellungen und Themen, methodische Zugänge, Quellen und Materialien schöpfen konnte (vgl. Nolte/Frohne/Halle/Kerth 2017). Auch wenn inzwischen gebündeltes, zur vertiefenden Weiterarbeit einladendes Basiswissen für verschiedene zeitliche und geographische Räume greifbar ist, muss betont werden: Dis/ability History stellt auch weiterhin ein noch längst nicht erschöpfend abgearbeitetes Feld, sondern ein Forschungsprogramm voller Lücken, Leerstellen, Anschluss- und Expansionsmöglichkeiten sowie vielfältiger Kontroversen dar. Als Stichworte seien hier nur die Desiderate interkultureller Vergleiche und globaler Perspektiven genannt (vgl. Baár 2017). Wegen dieser Offenheit und Nichtabgeschlossenheit, die mit der Unfertigkeit und Prozesshaftigkeit gesellschaftlicher Inklusionspraxen korrespondiert, bietet sich Dis/ability History in besonderer Weise als ein zum forschenden Lernen einladendes Terrain an, wie sich etwa auch im bereits erprobten Lehrformat einer partizipativ erarbeiteten, barrierefreien Ausstellung „LeibEigenschaften. Der beschädigte Körper im Blick der Vormoderne“ (Bremen, Haus der Wissenschaft 2012) gezeigt hat. Ability und disability auch historisch im wechselseitigen Bezug zu untersuchen, ohne eine Dichotomie der beiden Lebenslagen anzunehmen, scheint angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen, die sich im Kontext von Behinderung gegenwärtig und zukünftig ergeben, auch und gerade in der Lehrer*innenbildung sinnvoll und notwendig. Das Projekt zielte vor diesem Hintergrund sowohl auf die Anbahnung der Vermittlungsperspektive eines aktuellen fachwissenschaftlichen Themas als auch auf die genauere Betrachtung der durch die Auseinandersetzung mit Dis/ability angeregten Reflexionsprozesse bei den Studierenden. In der Geschichtsdidaktik spielt die Kategorie dis/ability thematisch – anders als gender, race, ethnicity – allerdings nach wie vor keine nennenswerte Rolle. Erste Ansätze nehmen Dis/ability History zwar als Lerngegenstand wahr, sie konstatieren allerdings durchgängig ein Desiderat in der didaktischen Diskussion (vgl. Beck/Timm 2015, Barsch/Hasberg 2014).

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2. DIE KONSTRUKTION DES PROJEKTMODULS: DIS/ABILITY HISTORY – AUS DER FORSCHUNG IN DIE LEHRE Mit Blick auf die erläuterten Potentiale und Desiderate wurde in einem Pilotmodul zu Dis/ability History als Unterrichtsgegenstand ein Lehrkonzept in Kooperation von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Inklusiver Pädagogik entwickelt, umgesetzt und evaluiert. Dieses näherte sich der historischen und gesellschaftlichen Analysekategorie Dis/ability im zeitlichen Längsschnitt, in verschiedenen Räumen sowie interkulturell aus einer didaktischen Perspektive. Fachwissenschaftlich konnte dabei auf die forschungsbezogene Expertise an der Universität Bremen zu Dis/ability History zurückgegriffen und fachdidaktisch konnten die innovativen Formate Blogs und Erklärvideos aufgegriffen werden. Tabelle 1: Aus unseren Vorüberlegungen ergab sich folgende Modulgestaltung, die zwei Seminare umfasste: Fachwissenschaftliches Seminar / Cordula Nolte

Geschichtsdidaktisches Seminar / Sabine Horn

Organisationsform

drei Blockveranstaltungen zu Beginn des Semesters

Wöchentlich im Semester

Inhalte

Einführung in die Dis/ability History/Theorie.

Inklusive Didaktik (allgemein und domänenbezogen)

Ausgewählte (u.a. biographische) Beispiele aus verschiedenen Epochen im Kontext ihrer Zeit

Medienpädagogik Technische Einführung (Erklärvideo/Blogsoftware) Entscheidung für einen ausgewählten Gegenstand der Dis/ability History treffen und diesen vertiefen

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Ziele

Eigene und fremde (hier besonders historische) Differenz- und Normalitätskonstruktionen im Hinblick auf Dis/ability erkennen

Differenzierte Annäherung an den gewählten Inhalt entwickeln Oben genannte Konstruktionen adressatengerecht medial vermitteln können Sprachliche Sensibilität entwickeln Eigene Haltung gegenüber dem ausgewählten Gegenstand im Vermittlungsprozess reflektieren

Prüfungsform

Inklusive Vermittlungsszenarien Anfertigung eines Blogs inkl. Erklärvideos im Verlauf dieses Seminars

. uelle: Sabine orn, Natascha orff

Das fachwissenschaftliche Seminar (geleitet von Cordula Nolte) war dem fachdidaktischen zeitlich vorgeschaltet, da sich die Studierenden zunächst mit dem Gegenstand Dis/ability History auf der inhaltlichen (deklarativen und theoretischen) Ebene vertraut machen sollten, um anschließend individuell gewählte inhaltliche Vertiefungen und deren Vermittlungsoptionen im geschichtsdidaktischen Seminar untersuchen und umsetzen zu können. Basierend auf den Vorarbeiten zur Dis/ability History an der Universität Bremen eigneten sich die Studierenden im fachwissenschaftlichen Seminar „Dis/ability History. Forschungsschwerpunkte vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte“ grundlegende Kenntnisse über die Historizität der Konzepte, Diskurse und Praktiken an, die sich mit Konstruktionen von Behinderung, Anderssein und Normalität verknüpfen. Die Studierenden nahmen im Seminar vormoderne und moderne Gesellschaften mit unterschiedlichen politischen und sozio-ökonomischen Strukturen anhand ausgewählter Themenschwerpunkte wie etwa Arbeit, Familienbeziehungen oder Gesundheit/Krankheit vergleichend in den Blick. Dabei ergab sich eine Vielfalt von Überlegungen und Fragen zu Kontinuitäten, Veränderungen, Brüchen, Analogien und Parallelen von Denkweisen, Verhaltensstrategien und Deutungsmustern angesichts der zentralen Frage: Inwiefern wurden und werden körperliche oder geistig-seelische Verfasstheiten in

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einer Gesellschaft, einer sozialen Gruppe oder einer Diskursgemeinschaft als beeinträchtigend oder befähigend, abweichend oder normal, defizitär oder besonders (im positiven wie im negativen Sinn hervorgehoben) eingestuft? Neben Abwehr und Ausgrenzung fanden und finden sich häufig auch Akzeptanz und Wertschätzung. Die Verständigung mittels Zeichensprache mochte ein Karrierevorteil für gehörlose, diplomatisch tätige Männer am osmanischen Hof sein, mystisch-ekstatisch begabte, sich auffällig verhaltende Frauen wurden im Mittelalter, trotz des Misstrauens von Kirchenmännern, als Heilige und Visionärinnen verehrt, Menschen mit einer Autismusdiagnose werden heute als besonders qualifizierte Mitarbeiter von einigen IT-Firmen gesucht. Deutlich wurde bereits im fachwissenschaftlichen Seminar: Wer geschichtliches Wissen so vermitteln will, dass gängige, in populären Medien oft nach wie vor verbreitete Stereotype – ob von goldenen oder finsteren Zeitaltern, von Fortschritts- oder Niedergangsnarrativen – in Frage gestellt werden, verfügt mit Dis/ ability über eine starke Linse. Im anschließenden fachdidaktischen Seminar (geleitet von Sabine Horn) wurden nach der Erarbeitung der wesentlichen fachdidaktischen Literatur, die sich mit inklusiven Bildungsprozessen im Geschichtsunterricht befasst (vgl. Völkel 2017, Alavi/Lücke 2016, Kühberger/Schneider 2016), die folgenden fünf Aspekte in der angegebenen Reihenfolge behandelt, die im nächsten Abschnitt etwas genauer dargestellt werden: • Klassische Trias der didaktischen Analyse • Leichte Sprache • Erklärvideos – möglicher Aufbau und technische Möglichkeiten bzw. Heraus-

forderungen • Redaktionssitzungen • Reflexionsbericht

2.1 Elemente der Vermittlungsperspektive im fachdidaktischen Seminar Didaktische Analyse Da sich in dem Seminar Studierende mit und ohne Lehramtsoption befanden, war es aus unserer Sicht erforderlich, noch einmal auf didaktische Grundprinzipien (hier die klassische didaktische Analyse) zu verweisen, weil das Produkt Erklärvideo schließlich ein didaktisches sein sollte, sich an ein öffentliches Publikum wenden und nicht wie viele wissenschaftlich angelegte Hausarbeiten in Form von Fertigkeitsübungen unveröffentlicht bleiben sollte. Die didaktische Analyse be-

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stand aus den Teilen Sachanalyse (eigene sachanalytische Durchdringung des gewählten Gegenstandes –was), didaktische Analyse (Sinn, Legitimation des gewählten Gegenstandes –warum) und Methodik (methodische Wahl/Strukturierung der Präsentationsform im Blog/Video –wie). Die Formulierung der Bedeutungsund Begründungszusammenhänge eines Gegenstandes (worin liegt der Wert unseres Blogs aus Adressatensicht?) erläuterten wir anhand klassischer didaktischer Literatur (Klafki 2006, Meyer 2005, 232). Leichte Sprache Natascha Korff übernahm als Gast in dem Seminar eine Sitzung zum Thema Leichte Sprache. Vorrangig sollten die Studierenden sensibilisiert werden, ihre Produkte neben einer möglichen additiven Hörfunktion auf der Sprachebene inklusiv zu konzipieren. Die Sitzung wurde zugleich genutzt, um exemplarisch zu diskutieren, welche Formen von Vereinfachungen die Zugänglichkeit zur Sache erhöhen und welche in reduktionistischer Weise zentrale Inhalte ausblenden bzw. den Blick auf das Wesentliche verstellen können (vgl. etwa Musenberg/Riegert 2014). Blog und Erklärvideo Das Produkt und zugleich die Prüfungsleistung stellte die Erstellung eines Blogs dar, der als ein Element ein Erklärvideo enthalten sollte. Zwei studentische Hilfskräfte arbeiteten sich eigens für das Modul in unsere gewählte Blogsoftware und die Produktion von Erklärvideos ein, damit sie seminarbegleitend die Studierenden insbesondere in technischen Fragen unterstützen konnten. Die Studierenden mussten sich also genau überlegen, welche Funktion die Textanteile im Blog haben sollten und welche das Erklärvideo. Verschiedene Formen von Erklärvideos, die unterschiedliche dramaturgische und unterschiedliche technische Ansätze enthielten, wurden analysiert. Wir erläuterten die Möglichkeiten der Blogsoftware (wie und wo Texte einzubinden sind, wie und wo Faksimiles hochgeladen werden können usw.). Welche technischen Möglichkeiten bieten Erklärvideos (z.B. Greenscreen), welche gängigen Darstellungsmöglichkeiten (z.B. Legetechnik) herrschen vor, wie werden Ton und Schrift eingebunden und wie wird geschnitten. Redaktionssitzungen Nach den vorhergehenden vornehmlich frontal ausgerichteten Lehrphasen folgten die Redaktionssitzungen. Sie bildeten das Herzstück des Seminars und nahmen 50 Prozent der gesamten Sitzungen im Semester ein. Hier wurden alle oben genannten Aspekte zusammengeführt. Die Studierenden präsentierten ihre ersten Ideen (z.B. Konzept für den Aufbau der Blogseite, Storyboard für das Erklärvideo). Intensiv wurden hier kooperativ die Konzepte der einzelnen Gruppen diskutiert. So

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tauschten sich die Studierenden gewinnbringend über Fragen zur inhaltlichen Gestaltung aus, etwa: Für welche User-Gruppe gestalten wir eigentlich unseren Blog und das Video? Für das interessierte Publikum, ganz schulpraktisch orientiert für Lehrkräfte an Schulen inklusive bereitgestellter Unterrichtsmaterialien? Reflexionsbericht Der Reflexionsbericht stellte ein weiteres Prüfungselement neben dem erstellten Blog dar, anhand dessen die Studierenden, die ja in Gruppen gearbeitet hatten, noch einmal ihren Eigenanteil darstellen konnten, zugleich aber auch ihr Produkt vorstellen und legitimieren sollten. Der Sinn dieses zusätzlichen Formats lag aus Sicht der Lehrenden darin, dass neben der Bewertung des Endprodukts auch die Einschätzung der Einzelleistung innerhalb der Gruppenleistung ermöglicht wurde und dass auch im Sinne der Denkfigur des reflective practitioners (Schön 1987) im Reflexionsprozess hier noch ein weiterer Bewertungsansatz für uns liegen konnte. Der Reflexionsbericht enthielt folgende Anteile und war als Einzelleistung abzugeben: • • • •

Beschreiben Sie Ihr Produkt in maximal fünf Sätzen Nennen Sie stichwortartig Ihre Anteile innerhalb der Gruppenarbeit Reflektieren Sie Ihren Produktionsprozess in der Gruppe Legitimieren Sie Ihr Produkt

2.2 Ergebnisse der Studierendenprojekte Die Studierenden wählten – angeregt durch das fachwissenschaftliche Seminar – eigene Schwerpunkte, die sie umsetzen wollten. Die thematischen Vertiefungen wiesen sehr unterschiedliche Zugänge auf. So wählten die Studierenden unter anderem biographische Zugänge, setzten sich aber auch mit der historischen Dimension des gesellschaftlichen Umgangs mit bestimmten Arten, deren Herstellung und Klassifizierungen von Behinderungen auseinander. Hier seien schlagwortartig nur ein paar Beispiele genannt: Autismus und Down-Syndrom, Dis/ability und Herrschaft im europäischen Spätmittelalter, Geschichte der Prothetik, Dis/ability und Schule, Dis/ability in Science Fiction , Helen Keller und die Arbeit mit Patientenakten der Psychiatrie des frühen 20. Jahrhunderts.

2

Vgl. den Beitrag von Frederike Fürst und Nane Kleymann in diesem Band.

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3. ERGEBNISSE DER BEGLEITFORSCHUNG

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nach dem Semester. Zum anderen erfolgte in der Gruppendiskussion ein ausführlicher Teil, der der vertiefenden Erhebung zu den Vorstellungen der Studierenden zu Dis/ability diente. 3.1 Evaluation des Moduls Ausgewertet wurden insgesamt 28 Fragebögen und insgesamt zwölf Gruppendiskussionen mit 34 bzw. 25 Teilnehmer*innen (vor und nach dem Semester). Sowohl in der schriftlichen Rückmeldung der Modulevaluation als auch im Rahmen der Gruppendiskussionen zeichnen die Studierenden insgesamt das Bild eines gewinnbringenden und innovativen Moduls, in dem sie zu vertieften Auseinandersetzungen angeregt wurden. In den geschlossenen schriftlichen Befragungen, die sich an den klassischen Modulevaluationen orientierten, ergibt sich in Bezug auf den Vergleich mit anderen Modulen auf einer fünfstufigen Skala von eins (deutlich unterdurchschnittlich) bis fünf (deutlich überdurchschnittlich) ein überaus positives Bild: • Zur Frage „Im Vergleich zu anderen Modulen im Geschichtsstudium war das

Modul in seiner Gesamtqualität…“ wählen 17 von 28 Befragten die Stufe vier und 10 Befragte die Stufe fünf (deutlich überdurchschnittlich) an. • Zur Frage „Im Vergleich zu anderen Modulen im Geschichtsstudium war das Modul in seiner Verbindung zwischen den Veranstaltungen…“ wählen zwei Studierende die mittlere Stufe drei, 13 Studierende die Stufe vier und zwölf Befragte die Stufe fünf (deutlich überdurchschnittlich) an. • Zur Frage „Im Vergleich zu anderen Modulen im Geschichtsstudium war das Modul in seinem Innovationsgehalt…“ wählt ein Studierender die mittlere Stufe drei, acht Befragte wählen die Stufe vier und 18 Befragte geben die Stufe fünf an (deutlich überdurchschnittlich) an.

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Abbildung 2: Ergebnis der studentischen Evaluation

Im Vergleich zu anderen Modulen im Geschichtsstudium war das Modul … (n=28) … in seiner Gesamtqualität

17

… in der Verbindung zwischen den… 2 … in seiner Praxisrelevanz

10

13

12

7

20

… in seiner fachlichen Fundierung 1 2

16

8

… in seinem Innovationsgehalt 1

8

18

… in seiner Betreuung durch die… 1

9

17

1 - deutlich unterdurchschnittlich

2

3

4

5 - deutlich überdurchschnittlich Quelle: Natascha Korff

In den offenen Ergänzungen zum Satzanfang „Der größte Unterschied zu meinen bisher belegten Modulen war …“ verweisen alle Studierenden auf die Prüfungsform der Erstellung eines Erklärvideos, die sie – so zeigen weitere Ergebnisse – sowohl als arbeitsintensiv als auch als überaus bereichernd und außergewöhnlich wahrnahmen. Eine Studentin führt dies wie folgt aus: „[Der Unterschied zu anderen Modulen war…] zum einen die Prüfungsleistung und zum anderen der Effekt, den sie bei mir ausgelöst hat. Meine Sicht hat sich wirklich verändert bzw. meine Ahnungslosigkeit wurde verringert.“ (Fragebogen 13) Die Studierenden verweisen dabei auch deutlich auf den erhöhten Arbeitsaufwand und mit der neuen Prüfungsform und den (technischen wie inhaltlichen) Anforderungen zum Teil verbundene Unsicherheiten hin. Dennoch werten sie dies insgesamt durchgängig als eine gelungene Lerngelegenheit. „[...] dieses freie Gestalten, sich selber Gedanken machen: Welches Thema? Wie will ich das umsetzen? Welche Inhalte will ich mit reinbringen? Wie kann ich die darstellen? Für wen will ich sie darstellen? – ist ja eine ganz große Frage, wer die Zielgruppe ist, wen man

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ansprechen möchte – das fand ich einfach super erfrischend.“ (Gruppendiskussion 4a, Abs. 9-3)

Neben der intensiven exemplarischen Auseinandersetzung, die diese Erstellung des Erklärvideos und der Blogs mit den selbst gewählten Inhalten bedeutete, betonen die Studierenden an verschiedenen Stellen der Evaluation den Anwendungsbezug, der durch die Vermittlungsperspektive hergestellt wurde, als inhaltlichen Gewinn. Dies verdeutlicht folgendes exemplarisches Zitat aus der Gruppendiskussion: „Also ich kann es aus angehender Lehrersicht, sage ich es mal jetzt mal so, finde ich es auch sehr gut. Und ich finde es hat einfach auch mal gezeigt, für beide Seiten, was man dann wirklich halt mit diesem Fachinhalt machen kann.“ (Gruppendiskussion 3a, Abs. 10-2) In Bezug auf die besondere Qualität des Moduls betonen die Studierenden in allen Erhebungsteilen die Zusammenarbeit der und Begleitung durch die Dozentinnen aus Fachdidaktik und Fachwissenschaft. Besonders interessant sind die Antworten auf die offene, den Fragebogen einleitende Frage, in der die Studierenden gebeten wurden, die drei wichtigsten Dinge zu benennen, die sie aus dem Modul mitgenommen haben. Die Antworten hier lassen sich vor allem zwei zentralen Bereichen zuordnen. Zum einen wird die auch sonst vermehrt als Alleinstellungsmerkmal benannte aktive, eigene Arbeit und (freie) Prüfungsform der gemeinsamen Blog- bzw. Videoerstellung aufgegriffen. Angemerkt wird hier, dass die Prüfungsform eine ungewohnte, aber Theorie und Praxis sehr gut verbindende Auseinandersetzung mit der Thematik ermöglichte sowie dass dies (technisch) anspruchsvoll war. Außerdem gehörten Aspekte der Teamarbeit und Selbstorganisation laut der Aussagen der Studierenden zu den Lerngewinnen des Moduls. Zum anderen werden Dis/ability (History) als Thema, damit verbundene neue Erkenntnisse sowie auch eigene Sensibilisierungsprozesse in differenzierter Weise als zentraler Gewinn des Seminars benannt. Konkrete Formulierungen zu diesen drei wichtigsten Dingen, die die Studierenden aus dem Modul mitgenommen haben, waren etwa: • „1. Die Erfahrung, an einem Blog zu arbeiten. 2. Theoretische Grundlagen von

Dis/ability History. 3. Verschiedene Sichtweisen von Behinderung“ (Fragebogen 1) • „1. Selbstorganisation. 2. Sensibilisierung im Hinblick auf das Thema Behinderung. 3. Verbindung theoretischer und praktischer Ebenen“ (Fragebogen 10)

3

Die Zitate aus den Gruppendiskussionen sind sprachlich geglättet sowie wo nötig zur Anonymisierung leicht verändert (insbesondere die Projektthemen).

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• „1. Erweiterte Perspektive für Dis/ability. 2. Verbesserte selbstständige, struk-

turierte Arbeit. 3. Umgang mit alternativen Prüfungsformen“ (Fragebogen 25) Es zeigt sich, wie vielschichtig die Studierenden das Modul wahrnahmen und dass inhaltliche wie (prüfungs-)methodische, aber eben auch auf die eigene Perspektive bezogene Veränderungen wahrgenommen wurden. Anhand der Ergebnisse aus der Modulevaluation lässt sich somit festhalten: Die verbindende Seminarkonzeption des Moduls und die theoretische wie eigenaktiv praktische exemplarische Arbeit an einem gemeinsamen Produkt hat sich aus Sicht der Studierenden als geeignet erwiesen, um sich Dis/ability History und ihren didaktischen Perspektiven zu nähern. 3.2 Studierendenvorstellungen zu Dis/ability: Vom Wissen zur Reflexion? Der über die Modulevaluation hinausgehende, vertiefende Erhebungsteil in Form der Gruppendiskussionen zu Beginn und Ende des Semesters verfolgte das Ziel zu explorieren, wie die Studierenden Dis/ability (de-)konstruieren. In Zusammenhang mit Inklusion erfolgte Forschung zur Lehrer*innenbildung bislang weitgehend entlang der vorausgesetzten Unterteilung in Schüler*innen mit und ohne Behinderung (bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf) – und entlang der Einschätzung der Möglichkeiten der gemeinsamen Beschulung sowie eines dichotomen Verständnisses der entsprechenden Professionslinien Sonder- und Regelpädagogik (vgl. Korff 2016, 33-36). Die Fragestellungen der Begleiterhebung schließen hieran nur im weiteren Sinne an. Denn Erhebungen zu Vorstellungen von Behinderung, die an die oben dargelegte Perspektive einer reflexiven Inklusion anschließen, müssen komplexere Perspektiven auf die (De-)Konstruktion von Differenzen auch methodisch aufgreifen. Die Erhebung hat damit einen anderen Fokus als die vielfach quantitativ angelegte Erfassung von Einstellungen zu Behinderung oder den Möglichkeiten inklusiver Beschulung (vgl. etwa Lüke/Grosche 2016 sowie für einen kritischen Überblick Gasterstädt/Urban 2016). So wie in der Dis/ability History die Entstehungszusammenhänge von Dis/ability betrachtet werden können, sollte in der be-

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Mit dem Begriff „Vorstellungen“ verbinden wir unter anderem in Anlehnung an Reusser/Pauli/Elmer 2011 neben affektiven und bewertenden auch argumentative und mit Wissensbeständen verbundene Aspekte (vgl. Korff 2015, 86, dort unter Verwendung des Begriffs „Belief-Systeme“).

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gleitenden Erhebung der Fokus auf die dadurch bei den Studierenden möglicherweise angeregte Reflexion eigener und fremder Differenz- und Normalitätskonstruktionen im Zusammenhang mit Behinderung gelegt werden. Die bestehenden standardisierten Instrumente zu Einstellungsmessungen schienen für den hier verfolgten Zweck somit wenig geeignet; auch Leitfadeninterviews mit klassischen Einstellungsfragen wie die sogenannte Nachbarschaftsfrage wurden in den methodischen Vorüberlegungen als zu kurz greifend betrachtet. Stattdessen wurden für die 45- bis 60-minütigen Gruppendiskussionen nach einem einleitenden Teil zur Seminarevaluation offene Impulse genutzt, die auch ungewöhnliche Frageformate umfassten. Hierzu gehörten etwa eine Blitzlichtrunde und zugespitzte Fragestellungen wie die Erweiterung der Nachbarschaftsfrage um die Bitte, mögliche Reaktionen von Nachbar*innen im Vergleich zwischen einer Wohngruppe geflüchteter Jugendlicher und Menschen mit Beeinträchtigung einzuschätzen. Durch die so erhofften Irritationen und differenzierten sowie diskursiv geprägten Antworten sollten sozial erwünschte Antworten ebenso wie die Beschränkung auf die Wiedergabe theoretischer Begrifflichkeiten vermieden werden. Die Auswertung erfolgte in einem zweischrittigen Verfahren, das zunächst induktiv-inhaltsanalytisch (Mayring 2009) und sodann vertiefend an der dokumentarischen Methode (Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2007) orientiert wurde (vgl. auch Korff 2016a zur Verbindung dieser beiden unterschiedlich ausgerichteten methodischen Zugänge). Weitere Ausführungen zum Aufbau des Leitfadens und zu zentralen Ergebnissen finden sich bei Korff/Horn/Nolte (im Druck). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich erwartungsgemäß sehr unterschiedliches Vorwissen und vor allem unterschiedlich nuancierte Perspektiven auf Behinderung und deren (De-)Konstruktion bei den Teilnehmer*innen finden und sich zugleich generelle Tendenzen über alle Gruppen hinweg zeigen. Diese verweisen wiederum darauf, dass vor wie nach dem Seminar bei den Studierenden/Befragten überwiegend ein Verständnis von Behinderung aufgrund personaler Faktoren vorliegt, etwa durch den Verweis auf Unfälle. Mehrfach werden zudem genetische Faktoren genannt und auch dichotome Einteilungen bzw. Adressierungen von Menschen mit Behinderungen, etwa als die (anderen) sind durchgängig zu finden. Allerdings wird in der Nacherhebung der Aspekt der Hilfebedürftigkeit, der in der Vorerhebung noch dominierte, gar nicht mehr thematisiert. Zugleich wurden hier nun auch gesellschaftliche Zuschreibungen und der Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe in allen Gruppen in differenzierter Weise eingebracht. Entsprechende Aspekte wurden in

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„Würde es Sie irgendwie stören, wenn ein Behinderter in ihrer Nachbarschaft wohnt?“ (verwendet etwa von Veber 2010).

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der Vorerhebung nur bei einigen Gruppen und dort lediglich als Schlagwort oder Wissenselement formuliert. Dabei lässt sich in Bezug darauf, welche Teilnehmer*innen welche Dis/abilities (differenziert) thematisieren, eine deutliche Korrespondenz zum jeweiligen Projektthema erkennen. Die Studierenden verweisen auch explizit auf historische Zusammenhänge, etwa wenn sie schildern: „Was für mich jetzt einfach dazukam war dieser Aspekt, wie sich der Begriff im Laufe der Zeit gewandelt hat, das fand ich halt noch interessant zusätzlich noch anzugucken“ (Gruppendiskussion 1a, Abs. 78). Die Studierenden selbst beschreiben Veränderungen bzw. einen Zugewinn durch das Modul sowohl in ihren fachlichen Erkenntnissen zu Dis/ability (History) als auch ihrer persönlichen Perspektive auf bzw. in ihrem Verhältnis zu Menschen mit Behinderung. Letzteres wird allerdings nicht von allen, wohl aber von einer Mehrheit der Teilnehmer*innen konstatiert und etwa folgendermaßen formuliert: „Ja, das klingt immer so blöd – für meinen weiteren Lebensweg [lacht] hat es mir sehr viel gebracht. Aber schon auch für den Beruf dann später, eben dass man sieht, dass Kategorien wie Behinderung eben gesellschaftlich definiert werden und dass ich als Lehrkraft dann auch wahrscheinlich einen großen Anteil daran habe, wie diese Definition in Zukunft stattfinden wird“ (Gruppendiskussion 3a, Abs. 9).

Die Studierenden betonen in diesem Zusammenhang die Bedeutung der aktiven Arbeit am Erklärvideo sowie die vertiefte exemplarische Auseinandersetzung mit einzelnen Personen und ihren Biographien – teilweise auch in Form eines persönlichen Kontaktes. Anscheinend nicht durch das Seminar angeregt wurde allerdings eine Erweiterung in Richtung auf eine über Dis/ability hinausgehende, stärker intersektional oder grundlegend gesellschafts- bzw. machtanalytisch geprägte Perspektive. Hier bieten insbesondere die Analysen in Anlehnung an die dokumentarische Methode sowie die zugespitzten Fragen und die zum Teil damit verbundene Abwehr der Studierenden interessante Daten zur Vertiefung (vgl. Korff/Horn/Nolte, im Druck). In den entsprechenden – methodisch aufgrund ihres provokativen Gehaltes durchaus kritisch zu beleuchtenden – Abschnitten der Interviews finden sich unter anderem auch Annahmen der Studierenden, dass Geflüchtete durch die Gleichsetzung mit Menschen mit Behinderung abgewertet würden. Es wird zudem deutlich, dass die Entstehung von Ausgrenzungsprozessen bei Geflüchteten überwiegend beziehungsweise ausschließlich gesellschaftlich verortet wird, während bei Menschen mit Behinderung erneut auf individuelle Faktoren als Ausgangspunkt verwiesen wird. Methodisch und inhaltlich sind diese Ergebnisse aus den

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offenen explorativen Formaten der Begleitforschung in Zukunft noch weiter zu verfolgen.

4. FAZIT UND AUSBLICK Die historische Auseinandersetzung mit Dis/ability – so der Ausgangspunkt unseres Projektes – eignet sich hervorragend dazu, die Offenheit und das Bewusstsein im alltäglichen Umgang mit Differenz und Diversität zu fördern, indem sie die historische Dimension heutiger Lebenspraxen erkennen und reflektieren lässt. Die begleitende Erhebung zeigt das Potential der Verbindung fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Lehre für eine anwendungsbezogene Aufbereitung eines innovativen Unterrichtsgegenstandes. Zudem wird der Mehrwert der Auseinandersetzung mit Dis/ability aus historischer Perspektive für die Veränderung von Vorstellungen der Studierenden erkennbar. Das vermutete Potential bestätigt sich demnach, es ist aber in Zukunft zum einen bezüglich der Wirkungen auf die Perspektive der Studierenden noch genauer zu untersuchen und zum anderen wäre für eine inklusive Lehrer*innenbildung noch weitergehend auf die Vermittlungsperspektiven im Unterricht einzugehen. In der erprobten Modul- und Seminarkonzeption ist die Verknüpfung von Fachwissenschaft und fachdidaktischer Perspektive gelungen und führte zu engagierten und fundierten Arbeitsergebnissen der Studierenden, die ihre Videos auch im Rahmen einer universitätsöffentlichen Veranstaltung vor großem Publikum präsentierten. Eine Herausforderung stellte sicherlich für alle Teilnehmer*innen die Tatsache dar, dass sie sich nicht nur vertieft mit ihrem gewählten Gegenstand auseinandersetzen mussten, sondern auch adressatengerechte didaktische Strategien entwickeln und diese im Hinblick auf die Umsetzung nicht zuletzt unter technischer Perspektive bedenken mussten. Die Auswertung der begleitenden Erhebung zeigt allerdings, dass dieses Element zugleich als zentraler Innovationsgehalt und Innovationsmotor eingeordnet werden kann. Unabdingbar für die gelingende Auseinandersetzung der Studierenden, die in der Entwicklung der Erklärvideos angestoßen wurde, waren die Redaktionssitzungen, die sowohl inhaltliche als auch didaktische Vertiefungen im Austausch ermöglichten. Dabei zeigten sich die Studierenden, wie zu erwarten, als recht verschieden. Einige Gruppen dachten von Beginn an konzeptionell darüber nach,

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Vgl. zur Erarbeitung eines Weblogs durch Studierende auch den Beitrag von Bettina Degner und Ralph Höger in diesem Band.

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welche Funktion das Erklärvideo innerhalb der Blogseite haben sollte: eine einführende oder eine vertiefende Funktion? Bei anderen ergaben sich lediglich Doppelungen zu den dargestellten Texten. Auch inhaltlich war der moderierte Austausch im Seminar notwendig und hilfreich. Die Studierenden zeigten sich hier sehr unterschiedlich in ihrer Reflexivität und hatten teilweise noch Schwierigkeiten beim sensiblen Umgang mit der gewählten Thematik. So wurden beispielsweise in einem Erklärvideo mangels inhaltlich sinnvoll gerichteter respektive sensibler Bildrecherche entwürdigende medizinische Photographien von Menschen in das Video ohne weitere Erläuterung zu inhaltlich zusammenhangslosen Illustrationszwecken eingebunden. Möglicherweise geschah dies, weil das Format Video bei den Studierenden einen Zwang zu möglichst vielen Bildern evozierte und beim gewählten Stichwort im Hinblick auf die Bildersuche bei Google diese Bilder gleich als erstes angezeigt werden. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass eigens produzierte Bilder oftmals einen höheren Grad an Kohärenz innerhalb des Produkts hatten als fremde, die lediglich zur Illustration eingebunden wurden. Selten wurden fremde Bilder als Analysegegenstand betrachtet bzw. dekonstruiert. Für zukünftige Umsetzungen wäre eine entsprechende inhaltliche Sensibilisierung, aber auch der mögliche erweiterte Einbezug von Methoden der kritischen Bild- und Quellenanalyse entsprechend in das Seminar explizit einzubinden. In Bezug auf den möglichen Einsatz der Ergebnisse als inklusive (Unterrichts-) Materialien wurde deutlich, dass dies gegebenenfalls einen eigenständigen, weiteren Schritt in der Bearbeitung durch die Studierenden darstellen müsste. Dies nicht zuletzt, weil hierfür die Arbeit mit einer konkreten Lerngruppe bessere Anknüpfungspunkte böte als eine fiktive Konstruktion einer heterogenen Lerngruppe. Im jetzigen Setting wurde deutlich, dass es für die meisten Gruppen eine Überforderung darstellte, das Produkt sui generis inklusiv zu denken. So wurde wie oben erwähnt etwa das Themenfeld Leichte Sprache im Rahmen einer Sitzung zwar bearbeitet, aber nur von sehr wenigen Teilnehmer*innen in den Produkten umgesetzt. Einige Gruppen bedachten allerdings, dass schriftliche Texte nicht von allen gelesen werden können, und integrierten eine Hörfunktion. Von sich aus banden sehr wenige Studierende Menschen mit Behinderung selbst in ihre Projekte ein. Dort, wo dies erfolgte oder eine intensive Auseinandersetzung mit einzelnen Biographien stattfand, deutet sich in der Begleitforschung allerdings eine besondere Qualität der Auseinandersetzung an. Eine systematische Ergänzung des Seminars zu einem Projekt unter Einbindung von Expert*innen in eigener Sache wäre hier sicherlich eine weitere Ebene, die noch umfassendere Reflexionen anregen und noch gewinnbringendere Produkte erzeugen könnte.

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Insgesamt zeigen die Ergebnisse sowohl auf der Ebene der Produkte als auch in der Begleitforschung, dass trotz der benannten Herausforderungen unsere Erwartung erfüllt wurde: Dis/ability History kann nicht nur Schüler*innen, sondern auch Studierende in hohem Maß dazu inspirieren, eigene Erfahrungen in historischer Dimension zu reflektieren und differenzierte Geschichtsbilder zu entwickeln. Die damit verbundene Auseinandersetzung mit vermeintlicher Normalität und die Anerkennung von Diversität, die auch Dis/ability umschließt, diente im von uns entwickelten Modul dazu, den Studierenden exemplarisch erste Erarbeitungen eines potentiellen Unterrichtsgegenstandes unter einer Vermittlungsperspektive zu ermöglichen und sie zugleich anzuregen, eigene Vorstellungen weiter zu entwickeln und gegebenenfalls zu verändern. Dieses auf eine reflexive Inklusion bezogene Potential wird teilweise auch von den Studierenden selbst wahrgenommen und in den Gruppendiskussionen von sich aus thematisiert: „Zu dem Hintergrund, dass ich eben halt Lehramtsstudentin bin, hat es mir auch gut gefallen, dass dort eben halt dieses Thema Inklusion, ähm, so im Subtext auch irgendwie mal so ein bisschen mitschwimmt.“ (Gruppendiskussion 5a, Abs. 12-1) Es wurde in den Seminaren möglich, zu verdeutlichen, dass und inwiefern sich komplexe Dynamiken der Teilhabe und Ausgrenzung entwickeln und dass verschiedene, auch gegenläufige Mechanismen und Strategien meist neben- und miteinander existieren. In der Auswertung der Gruppendiskussion zeigt sich durch das beziehungsweise nach dem Modul eine verstärkte Thematisierung von Dis/ ability als soziokultureller Konstruktion. Erkennbar wurde hier auch das methodische Potential des Diskussionsleitfadens, der gezielt sowohl eine reine Wissensabfrage vermeiden als auch durch Zuspitzungen eine Diskussion jenseits unmittelbar naheliegender (sozial erwünschter) Antworten anregen wollte (vgl. Korff/Horn/Nolte, im Druck). Vielleicht ist es hier auch möglich, diesen forschungsmethodischen Gewinn der zugespitzten Fragen in der Gruppendiskussion, die sich gezielt jenseits einer rein akademischen Auseinandersetzung bewegte, auf hochschuldidaktische Kontexte zu übertragen. Gerade in Verbindung mit der Bedeutsamkeit, welche die personenbezogen-biographischen Auseinandersetzungen aus Sicht der Studierenden hatten, wäre für hochschuldidaktische Entwicklungen ebenso wie für Forschungen weiter zu vertiefen, inwiefern die reflexive Bearbeitung eigener Vorstellungen von bzw. zu Dis/ability und anderen Differenzfragen nicht auf einer rein konzeptuell-begrifflichen Ebene verbleiben, sondern tiefergehend angeregt werden können. In der Umsetzung muss allerdings sowohl in Befragungen als auch in der Aufbereitung von vergleichbaren Denkanstößen in hochschuldidaktischen Kontexten eine angemessen vertrauensvolle Rahmung geschaffen werden. Nur dann kann aus Irritation heraus eine konstruktive Auseinandersetzung erfolgen, die über

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etwaige zuerst provozierte Abwehrhaltungen hinausgeht. Über die Auseinandersetzung mit konkreten Biographien und gegebenenfalls auch persönlichen Begegnungen hinaus ist außerdem die gesellschaftlich-strukturelle Ebene von Dis/ability – und anderen Marginalisierungs- und Ungleichheitsprozessen – weiter zu vertiefen. In Bezug auf historisches Lernen in der Schule wäre zu klären, ob ähnliche Prozesse wie bei den Studierenden auch bei Schüler*innen angestoßen werden, wenn sie sich mit dem Lerngegenstand Dis/ability History befassen. Inwieweit gerade die mögliche Distanzierung durch einen zunächst historischen Zugang zu Dis/ability eine besondere Chance eröffnet, wäre auch im Vergleich mit der Bearbeitung in anderen sozialwissenschaftlichen (Schul-)Fächern genauer zu bearbeiten. Der bei den befragten Studierenden wenig präsenten intersektionalen Perspektive ist dabei sicherlich erweiterte Beachtung zu schenken. Nicht zuletzt ist für eine differenzsensible Lehrer*innenbildung einzubeziehen, wie die Befassung mit diesen Themen sowohl im Kontext universitärer Seminare als auch im schulischen Setting von Studierenden bzw. Schüler*innen erlebt wird, die selbst Diskriminierungserfahrungen aufgrund ableistischer Strukturen machen/gemacht haben.

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Das (A)ndere (W)ahrnehmen – Ästhetische Forschung als Lern- und Lehrprinzip im Feld der Disability History Bianca Frohne

Geschichtswissenschaftliche Forschung ist eine Sisyphusarbeit. Ihr Fortschritt besteht nicht darin, die Vergangenheit auf wenige glatte Begriffe zu bringen, sondern im Gegenteil in der Aufdekkung historischer Komplexität. Paul Münch (2001, 24)

Wahrnehmungen, Erfahrungsweisen und Emotionen sind zu allen Zeiten nicht nur durch biologische, sondern durch soziale und kulturelle Faktoren geprägt. Sie unterliegen einem historischen Wandel, der grundlegende Einblicke in vergangene und gegenwärtige Gesellschaften gibt. Die historische und kulturelle Vielfalt von Wahrnehmungskonzepten und Gefühlslandschaften, aber auch die der gelebten (Körper-)Erfahrung (lived experience) ist ein zentraler Ausgangspunkt der Disability Studies und der Disability History. Das Lehr- und Lernprinzip der Ästhetischen Forschung, das im Umfeld der Kunstpädagogik entwickelt wurde (grundlegend Kämpf-Jansen 2012), ist in besonderer Weise dazu geeignet, diesen Umstand aufzugreifen und zum Ausgangspunkt historischer Forschung im Rahmen der universitären Lehre zu machen. Auf diese Weise kann es gelingen, ein innovatives Format im Bereich des Forschenden Lernens zu etablieren und zugleich spezifische Inhalte und Methoden für die Vermittlung im Feld der Disability History bereitzustellen. Zudem eröffnet sich für Studierende ein zusätzlicher, dabei offener und selbstorganisierter Raum zum Erwerb oder zur Vertiefung methodischer Kompetenzen, die für die geschichtswissenschaftli-

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che Forschung wie auch für die Geschichtsvermittlung in und außerhalb der Schule grundlegend sind. Lehr-Lernformate, die Forschendes Lernen in der universitären Lehre nicht nur ermöglichen, sondern als zentrale Lernerfahrung – sowohl für Studierende als auch für Lehrende – in den Mittelpunkt stellen, haben in den letzten Jahren sichtlich an Bedeutung gewonnen (Huber/Kröger/Schelhowe 2013, Mieg/ Lehmann 2017, Seitz/Lagaay 2018, Kaufmann/Satilmis/Mieg 2019). Das Konzept der Ästhetischen Forschung wurde von Helga Kämpf-Jansen, Professorin für Kunst und ihre Didaktik an der Universität Paderborn, über viele Jahre hinweg entwickelt und 2001 zum ersten Mal in Buchform publiziert (Ströter-Bender 2012). Es wurde seither erfolgreich in unterschiedlichen Phasen, Stufen und Kontexten der Kunstvermittlung umgesetzt und hat zu einer Reihe von Folgepublikationen geführt (Blohm 2006, Leuschner/Knoke 2012). Die Ästhetische Forschung wird darin zunehmend als spezifische Methode des forschenden Lernens in den Blick genommen und in ihren praktischen Anwendungsmöglichkeiten auch außerhalb der ästhetischen Bildung untersucht (Kammler 2012). Das Konzept hat jedoch meines Wissens bisher noch nicht als Lehr-Lernprinzip Eingang in die Geschichtswissenschaften oder ihre Vermittlung gefunden. Die folgenden Überlegungen basieren daher zunächst vor allem auf persönlichen Erfahrungen im Bereich von Forschung, Lehre und Geschichtsvermittlung (vor allem im Feld der Disability History) und auf einzelnen Lehrexperimenten. Der Beitrag kann und soll daher nicht als fundierte fachdidaktische Erarbeitung gelesen werden, noch stellt er eine Aufarbeitung vergleichbarer Phänomene innerhalb der Geschichtswissenschaften, etwa des Umgangs von Historiker*innen mit Emotionen oder Konzepte des „Einfühlens“ (vgl. dazu z.B. Plamper 2015, 290-293; Brauer/Lücke 2013, Curtis 2006), dar. Die folgenden Gedanken sind als Anregung gemeint, das hier beschriebene Konzept aufzugreifen, zu erproben und aus hochschul- wie geschichtsdidaktischer Perspektive zu evaluieren. Zugleich sind sie ein Plädoyer für Forschendes Lernen als grundlegendes Element im Kontext universitären Lehren und Lernens (vgl. auch Bihrer/Bruhn/Fritz 2019, 120-121).

WAS IST ÄSTHETISCHE FORSCHUNG – UND WAS HAT SIE MIT DEM STUDIUM DER GESCHICHTE ZU TUN? Eine Ästhetische Forschung verknüpft alltägliche Formen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns mit wissenschaftlichen Forschungsstrategien und experimentellen, ästhetisch-performativen Ausdrucks-, Erkenntnis- und Vermitt-

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lungsformen. Das Konzept ist nicht ausdrücklich auf geschichtswissenschaftliche Verfahrensweisen angewiesen, schließt diese jedoch häufig ein. Dabei können individuelle Geschichtserfahrungen, die eigene Biographie oder Familiengeschichte oder auch übergreifende kultur- und sozialgeschichtliche Fragestellung den Ausgangspunkt bieten. In vielen Fällen kommen zudem im Laufe einer Ästhetischen Forschung auf mehreren Wegen historische Fragestellungen ins Spiel. Helga Kämpf-Jansens Konzept sieht jedoch nicht vor, dass zunächst „wissenschaftlich“ geforscht wird und sich dann eine „kreative“ Phase anschließt. Es unterscheidet sich damit von Formaten, die auf die Darstellung eines bereits bestehenden Forschungsprojekts mit künstlerisch-performativen Methoden abzielen (zum Beispiel Science Slams). Vielmehr tragen alltagsästhetische Erkundungen und andere künstlerisch-experimentelle Verfahren von Anfang an und grundlegend zur Entwicklung und Ausarbeitung einer Forschungsfrage bei. Ausgangspunkt einer Ästhetischen Forschung kann im Prinzip alles sein: „Am Anfang steht eine Frage, ein Gedanke, eine Befindlichkeit; ein Gegenstand, eine Pflanze, ein Tier; ein Phänomen, ein Werk, eine Person (fiktiv oder authentisch), eine Gegebenheit oder Situation; ein literarisches Thema, ein Begriff, ein komplexer Inhalt oder etwas anderes.“ (Kämpf-Jansen 2012, 19) Mit all diesen Zugängen verbinden sich zunächst unsere heutigen Wahrnehmungsweisen, unser Denken und Handeln. Diesen Bereichen wird zu Beginn des Prozesses auf unterschiedliche Weise nachgespürt: empirisch, theoretisch, experimentell, mit künstlerischen und/oder analytischen Verfahrensweisen. Diese tastenden, immer weiter ausgreifenden Forschungsbewegungen verbinden sich immer mehr mit wissenschaftlichen Forschungsstrategien: Daten werden zielgerichtet gesammelt und aufbereitet; unterschiedliche Methoden werden angeeignet, geprüft und angewendet; es werden erste Stichproben ausgewertet und Zwischenergebnisse formuliert. Auf dieser Grundlage bietet die Ästhetische Forschung einen Raum, der es erlaubt, die Grenzen der eigenen Wahrnehmung, die Frage der Übertragbarkeit von (zunächst individuellen) Erfahrungen und Deutungen sowie die Rolle von kulturellen und sozialen Faktoren im Rahmen praktischer Übungen auszuloten und diese Überlegungen produktiv in die eigene Forschungsleistung einzubinden. Dabei kann es im Laufe der Arbeitsprozesse jederzeit zu Stockungen, Unsicherheiten oder vollständigen Neuausrichtungen kommen. Ein Vorteil der Ästhetischen Forschung ist, dass diese Erfahrungen nicht ausgeblendet oder verschwiegen werden – sie stellen im Gegenteil einen selbstverständlichen, sogar notwendigen Teil eines Forschungsprozesses dar. Sie erhalten damit – entweder innerhalb des begleitenden Arbeitstagebuchs, einer gesonderten Reflexionslei-

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stung oder auch als Teil der Präsentation der Forschungsleistung – ihren eigenen Raum innerhalb der Arbeitsleistung und werden als Teil des Ganzen gewürdigt. Ästhetische Forschung bedeutet also, eigenständige Fragen, Vorgehensweisen und Verfahren zu finden. Sie trägt damit zu einer „forschenden Haltung“ bei, führt zu neuen und andersartigen Erfahrungen und stellt das bereits Erforschte, das Selbstverständliche des Alltags, immer wieder neu in Frage (Kämpf-Jansen 2012, 262-270; Peters/Heinisch/Natorp 2006). Diese suchenden, performativen, explorativen Prozesse müssen dabei nicht in jedem Fall zu einem künstlerischen Produkt führen, zumal es jeweils die Entscheidung der Forschenden selbst ist, ob und inwieweit sie künstlerische Produktionen anderen zugänglich machen wollen. Eine Ästhetische Forschung schließt also nicht notwendigerweise ein, dass „Kunst“ produziert wird – sie schließt es aber auch nicht aus. Immer jedoch ist die Kombination von wissenschaftlich-hermeneutischen und ästhetisch-performativen Verfahren, jeweils auf der Grundlage von alltäglichen, lebensweltlichen Beobachtungen, das Zentrum einer Ästhetischen Forschung. Beide Bereiche überkreuzen sich in vielen Punkten; beide sind prozessorientiert und legen ähnliche, zum Teil identische Praktiken und Handlungsweisen zugrunde. Sie unterliegen dabei immer wieder auch nicht-linearen, vorlogischen oder „unordentlichen“ Erkenntnis- und Formierungsprozessen: Explorative Phasen des Suchens und Sammelns, der Dokumentation und der Anhäufung/Akkumulation durchkreuzen sich mit Phasen des Ordnens, Verzeichnens und Aussortierens. Hinzu kommen stetige Prozesse der Aneignung, Verinnerlichung, Gestaltung, Modellierung und Umformung, aber auch der Distanzierung, Ein- und Abgrenzung sowie der Objektivierung, Inszenierung und Vermittlung. Vieles davon sind Handlungen, die auch die alltägliche wissenschaftliche Praxis von Historiker*innen ausmachen: Heuristische, analytische, formgebende, darstellende Phasen wechseln sich ab; Quellen, Inhalte und Gegenstände werden aus verschiedenen Perspektiven angeschaut, verknüpft, abgeklopft, durchleuchtet und auseinandergenommen, später wieder zusammengesetzt, „durchgearbeitet“, überformt oder auf unerwartete Weise kombiniert; neue, zum Teil unerwartete Blicke auf den Gegenstand werden hervorgebracht. Zusammengefügte, ständig wachsende Collagen oder Akkumulationen können dabei ebenso neue Zusammenhänge aufdecken und neue Fragen aufwerfen wie klare minimalistische Aufbauten und Strukturen. Zudem spielen vorwissenschaftliche Erfahrungen, darunter unbewusste gesellschaftlich-kulturelle Prägungen wie auch zufällige Einflüsse und Erlebnisse, aber auch Neugier, Intuition, Kreativität und Freude an der Gestaltung (z.B. bei der Anordnung und Niederschrift der Ergebnisse) eine wesentliche Rolle. Auch emotionale Erfahrungen und ambivalente Befindlichkeiten

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(z.B. Frustration, Langeweile oder Angst) prägen häufig den Forschungsprozess. Ästhetisch-performative Verfahren, positive wie negative Erfahrungen und Gefühle werden jedoch nur selten zum Thema der wissenschaftlichen Arbeit an sich gemacht: Der Prozess wird unmittelbar nach Abschluss der Arbeit unsichtbar; es scheint so, als hätten die Forschenden stets von Anfang an genau gewusst, was das Ergebnis sein und auf welchem Weg sie dorthin gelangen würden. Dieses Vorgehen hat durchaus seine Berechtigung – es ist keineswegs wünschenswert, dass wissenschaftliche Publikationen sich allesamt in Werkstattberichte verwandeln. Zugleich stellt es aber eine enorme Entlastung – nicht nur für Studienanfänger*innen – dar, „am eigenen Leib“ erfahren zu dürfen, dass jeder Forschungsprozess notwendigerweise Phasen mit sich bringt, die dem tastenden, experimentellen Erkunden des zu untersuchenden Gegenstandes gewidmet sind. Dies schließt Erfahrungen des „Scheiterns“, des Umorientierens und Neujustierens ein. Nicht selten sind gerade in den Anfangstagen eines Forschungsprozesses die Forschenden stark auf sich selbst zurückgeworfen, lassen sich von Zufällen, Intuition, individuellen Interessen oder Eindrücken leiten, erkunden Wege, die sich später ebenso als Sackgasse erweisen können oder aber über vermeintliche Umwege erst zum eigentlichen Thema führen (Kämpf-Jansen 2012, 259262). Künstlerisch-experimentelle Verfahren können dabei helfen, diesen Phasen gelassen zu begegnen, produktiv mit Irritationen und Widerständen umzugehen und in ihnen Anlässe zu sehen, die eigene Position im Forschungsprozess, das methodische Vorgehen und die Themenstellung immer wieder zu reflektieren und zu hinterfragen (Kämpf-Jansen 2012, 259-262). Dabei können Verfahren des Forschenden Schreibens zum Einsatz kommen, etwa Übungen, die dazu beitragen, Ideen und Konzepte hervorzubringen, Gedanken präzise zu formulieren, Überlegungen und Thesen zu ordnen, zu hierarchisieren und einzugrenzen. Mit Hilfe vor allem des kreativen Schreibens können aber auch völlig neue Perspektiven auf einen Gegenstand oder die eigene Position anders wahrgenommen werden; unerwartete Fragestellung können hinzutreten oder ein in der Fülle des Materials vergrabener Einfall kann blitzartig zum Vorschein kommen. Das Führen eines Arbeitstagebuchs ist fest im Konzept der Ästhetischen Forschung verankert (Kämpf-Jansen 2012, 262). Neben Texten können ebenso Skizzen und Zeichnungen, Photos, Videos, Blogs, Objekte, Installationen, Performances, Collagen, Assemblagen oder Akkumulationen entstehen, die den Forschungsprozess begleiten oder ihn maßgeblich strukturieren. Im Laufe des Arbeitsprozesses laufen häufig mehrere Aktivitäten und Teilprozesse nebeneinander ab, die sich verschränken und vernetzen oder wieder voneinander fortführen. Ein ebenso spielerischer wie analytischer Umgang mit

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Fakten und Fiktionen, mit gefundenen und produzierten Artefakten, mit selbst angelegten Sammlungen und Archiven schärft dabei den Blick für Möglichkeiten und Grenzen der Analyse, macht die eigene Rolle im Forschungsprozess transparent und verdeutlicht die kulturelle und soziale Gebundenheit der eigenen Ordnungen, Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen. Eine Ästhetische Forschung ist zudem, anders als klassische wissenschaftliche Hausarbeiten, nicht auf eine einzige, eng begrenzte Fragestellung ausgerichtet. Sie ist stärker prozessorientiert und ermöglicht eine multiperspektivische Aneignung eines Untersuchungsgegenstandes. Sie wird nicht von ihrem Ende oder einem festen Ergebnis her gedacht und geplant, sondern folgt den einzelnen Strängen zunächst immer weiter, lässt weitere Verknüpfungen untereinander entstehen und weitere Arbeitsfelder erschließen. Das Ende einer Ästhetischen Forschung ist demnach eine Entscheidung, die einer bewussten, methodisch reflektierten Setzung des oder der Forschenden bedarf: „Die Herangehensweisen sind in besonderer Weise vernetzt und bedingen einander. Der Prozess ist performativ, d.h. in ständiger Formung und Umformung begriffen, sodass das ganze Gefüge bis zum Schluss in Bewegung bleibt und ständig neuen Entscheidungen unterworfen ist.“ (Kämpf-Jansen, 2012, 19). Eine Ästhetische Forschung stellt daher nicht weniger als eine klassische Haus- oder Abschlussarbeit eine eigenständige Forschungsleistung dar: Sie ist selbst organisiert und verantwortet, unterliegt beständig einer methodischkritischen Herangehensweise und zielt auf die Hervorbringung neuer Erkenntnisse, Perspektiven oder sogar auf gesellschaftlich-kulturelle Änderungsprozesse. Es ist daher wünschenswert, dass langfristig zumindest im Rahmen einer größeren Ästhetischen Forschung auch Ergebnisse publiziert und/oder einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden (vgl. auch Bihrer/Bruhn/ Fritz 2019, 106-108). Nicht zuletzt trägt eine Ästhetische Forschung dazu bei, ein umfangreiches Methodenbewusstsein auszubilden. So wird im Laufe des Arbeitsprozesses an verschiedenen Punkten immer wieder deutlich, dass es produktiv und irritierend zugleich ist, sich (zunächst völlig ergebnisoffen) einem eigenständigen Forschungsprozess auszusetzen. Durch die immer weiter ausgreifenden Forschungsbewegungen wird deutlich, dass ständig Entscheidungen zu treffen sind, die letztlich darüber bestimmen, in welcher Weise der Untersuchungsgegenstand hervorgebracht wird, in welcher Form er überhaupt erst untersuchungswürdig erscheint und welche äußeren und inneren Zwänge dabei eine Rolle spielen. Auf ganz ähnliche Weise, nämlich durch kontinuierlichen Ausschluss, erarbeiten sich Historiker*innen tagtäglich ihr Material: Indem sie (methodisch gesichert) be-

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gründen, was sie nicht untersuchen wollen, welche Inhalte, Kategorien, Zeiträume, Regionen und Quellen sie nicht in Betracht ziehen werden, entsteht erst eine durchführbare historische Fragestellung. Dazu sind Quellenstichproben ebenso unumgehbar wie das Erproben geeigneter methodischer Herangehensweisen – und die Bereitschaft, unbrauchbare Quellen und Methoden zu verwerfen. Die Aufgabe der Lehrenden im universitären Kontext ist es, die Studierenden bei diesem Prozess zu unterstützen: durch Hilfe bei der Zeitplanung, kontinuierliche Beratung, Hinweise auf weiterführendes Material und Ermutigung, gerade bei aufkommender Enttäuschung und Frustration. Im Rahmen einer Ästhetischen Forschung bleiben diese Aufgaben weiterhin bestehen. Hinzu kommt aber die Eigendynamik des Forschungsprozesses, der die Forschenden anleitet, ihnen Impulse verleiht und zur Ausbildung eines netzwerkartigen Denkens über den Gegenstand beiträgt. So kommt es häufig vor, dass sich die Alltagswahrnehmung verändert, indem zunehmend Zusammenhänge zum eigenen Forschungsprojekt gesehen werden, dass Freunde und Familie in den Forschungsprozess einbezogen werden und dass sich zahlreiche Ideen und Forschungsfragen für andere Fächer und Projekte oder sogar die wissenschaftliche Abschlussarbeit ergeben. Dabei soll und kann aber das Format der Ästhetischen Forschung das klassische Seminar nicht ersetzen. Erst in einem universitären Umfeld, in dem beide Formate nebeneinander stehen, kann die Ästhetische Forschung als eine ebenso befreiende wie irritierende, inhaltlich und methodisch aufschlussreiche, wissenschaftliche und zugleich persönliche Erfahrung einen Platz erhalten. Im Folgenden soll anhand eines Beispielseminars, das als ein Lehr- und Lernexperiment an der Universität Bremen durchgeführt wurde, gezeigt werden, wie eine Ästhetische Forschung im Rahmen des Geschichtsstudiums eingebunden werden könnte. Darauf aufbauend soll anschließend dargestellt werden, auf welche Weise sich die Konzentration auf alltagsgeschichtliche und wahrnehmungshistorische Perspektiven, die für die Ästhetische Forschung charakteristisch sind, besonders gut für die Disability History nutzbar machen lassen.

„ÄSTHETISCHE FORSCHUNG – EIN LERN- UND LEHREXPERIMENT IN KOOPERATION MIT DEM THEATER DER VERSAMMLUNG“ Unter diesem Titel wurde im Wintersemester 2015/2016 am Institut für Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen ein Doppelseminar angeboten. Gemeinsame Veranstalterinnen waren Cordula Nolte und ich. Weiterhin waren

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Prof. Dr. Maria Peters (Kunstvermittlung) sowie Jörg Holkenbrink und weitere Mitarbeiter*innen vom Theater der Versammlung / Zentrum für Performance Studies in die Vorbereitung, Durchführung und Evaluation des Seminars eingebunden. Das Seminar war dem Wahlpflichtmodul „Geschichtsverständnis und Vergangenheitsentwürfe“ zugeordnet. Es zielte gleichermaßen auf die Vertiefung methodischer Kompetenzen im Bereich der historischen Forschung und auf das Kennenlernen und Erproben innovativer, interaktiver Methoden der Geschichtsvermittlung im schulischen wie im außerschulischen Bereich (Public History). Es gab keine epochale Bindung oder bestimmte Themenstellung. Die Struktur des Seminars wurde durch die Schwerpunkte „Sammeln“, „Dokumentieren“, „Suchbewegungen/Themenfindung“, „Inszenieren“, „Biographie“ sowie „Zeigen und Vermitteln“ bestimmt. Das Seminar bestand zunächst aus gemeinsamen alltagsästhetischen Erkundungen (zum Teil in Form von Performances und künstlerischen Interventionen mit dem Theater der Versammlung und anschließender Reflexion im Plenum), Exkursionen und Begehungen. Im zweiten Teil führten die Studierenden einzeln oder in kleinen Gruppen eine Ästhetische Forschung zu einem selbst gewählten Thema durch und präsentierten diese am Ende des Seminars im Rahmen zweier ganztägiger Blocksitzungen. Die Studierenden führten über den gesamten Zeitraum hinweg ein Forschungstagebuch, das in manchen Fällen in die Präsentation einbezogen wurde. Es nahmen etwa 20 Studierende an dem Seminar teil. In der ersten Sitzung wurde das Konzept der Ästhetischen Forschung diskutiert. Als Beispiel wurden Mitschnitte der Redaktionsgruppe der Zeitschrift „Ohrenkuss“ gezeigt: Wir sahen die Gruppe, die sich aus Menschen mit und ohne Down Syndrom zusammensetzt, bei ihren alltagsästhetischen Forschungen und Recherchen für die Ausgabe zum Thema „Wer bin ich, wer bin ich nicht?“ (01/2015).1 Eine wichtige Zäsur in der Einstiegsphase stellte ein Besuch des Theaters der Versammlung dar, in der die Frage „Wie entsteht ein Thema?“ in Form von Gesprächen, aber auch aus neuen und ungewohnten Perspektiven behandelt wurde. Es fanden gemeinsame Performances („Kleiderkoffer“), gefolgt von einem Auswertungsgespräch im Plenum, statt. Leitfragen waren: Wie konstruieren wir im Alltag und in der Wissenschaft Sinnzusammenhänge? Wie fühlt sich „Unsinniges“ an? Wie lassen sich diese Erfahrungen produktiv für die eigene Forschung nutzen? Wir diskutierten Verfahren wie die der achtsamen Beob-

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braganca werkstatt: Der Ohrenkuss Film „Wer bin ich, wer bin ich nicht?“ 2015: https://vimeo.com/122003873 vom 10.04.2019. In den gezeigten Szenen steht vor allem der chinesische Künstler Ai Weiwei im Mittelpunkt.

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achtung bzw. der Alltagsdokumentation und darüber, wie sich Forschungsprozesse „am eigenen Leib“ erfahren lassen (vgl. Holkenbrink 2013); sprachen über eigene Rollenerwartungen als Studierende wie als Lehrende; und machten das Aushalten von Ergebnisoffenheit, das Einlassen auf das Risiko des Scheiterns, zum Thema. In den folgenden Sitzungen besuchten wir verschiedene Sammlungs- und Forschungseinrichtungen, sahen Ausstellungen an und führten Gespräche mit Mitarbeiter*innen und Forscher*innen. Dabei gingen wir von der Frage aus, wie sich die ebenso ästhetisch-praktischen wie wissenschaftlichen Handlungsbereiche des Sammelns, Ordnens, Archivierens und Dokumentierens im Rahmen unterschiedlicher Sammlungs- und Archivierungskontexte niederschlagen. Dazu gehörten ein Besuch in der „Weserburg / Museum für moderne Kunst“ und ein Rundgang durch die Sammlung des „Forschungszentrums für Künstlerpublikationen“ mit anschließendem Gespräch mit der Mitarbeiterin Bettina Brach. Im Bremer Staatsarchiv gab uns Archivdirektor Prof. Dr. Konrad Elmshäuser Einblick darüber, wie Archivalien aufgenommen bzw. aussortiert werden und wie eine neue Sammlung in das Archiv aufgenommen, geordnet und verzeichnet wird. Dem Bereich des Inszenierens und Vermittelns näherten wir uns über die barrierefreie Ausstellung zur Disability History der Vormoderne „LeibEigenschaften – der ‚beschädigte‘ Körper im Blick der Vormoderne“ 2 (Nolte/Kinzler 2012a und 2012b), das einer Recherche nachempfundene Vermittlungskonzept des „Deutschen Auswandererhauses“ in Bremerhaven3 sowie den Besuch einer szenischen Lesung des forschungsbasierten, archivgestützten Seminarprojekts „Aus den Akten auf die Bühne“4. In diesem Rahmen fand ein weiteres Arbeitsgespräch der Teilnehmer*innen mit den Leiter*innen des Projekts und den forschenden Studierenden im Staatsarchiv Bremen statt. Parallel zu den gemeinsamen Sitzungen, Exkursionen, Gesprächen und ästhetisch-performativen Versuchen begannen die Studierenden damit, eine eigene (jedoch hinsichtlich Arbeitszeit und Umfang deutlich begrenzte) Ästhetische Forschung durchzuführen und ein Forschungstagebuch zu führen. Am Ende

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http://www.retrokonzepte.de/referenzen/projekte/leibeigenschaften.html

vom

10.04.2019. 3

https://dah-bremerhaven.de vom 10.04.2019.

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https://www.sprechende-akten.de vom 10.04.2019. Es handelte sich dabei um die Lesung „Prunk und Pleite einer Unternehmerdynastie. Der Konkurs der Nordwolle und die Bankenkrise 1931“ (2015/16).

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stand eine fünfzehnminütige Präsentation zum derzeitigen Stand der Ergebnisse.5 Über den Fortgang der Projekte, einzelne Schritte, Änderungen der Forschungsdesigns, Befindlichkeiten und Bewertungen fand im Plenum ein regelmäßiger Austausch statt; auch wurden individuelle Beratungen durch die Dozentinnen sowie peer-to-peer-Beratungen abgehalten. Die Präsentationen der Ästhetischen Forschungen konnten in der Form grundsätzlich frei gestaltet werden. Es sollte jedoch mindestens ein Drittel der Zeit der Reflexion des Arbeitsprozesses gewidmet werden. Im Anschluss gab es jeweils direkt Gelegenheit zum Nachfragen und zur Diskussion im Plenum. Es war den Forschenden freigestellt, zusätzlich Einblick in ihr Forschungstagebuch zu gewähren. Bei den regelmäßigen Arbeitsgesprächen wie auch im Rahmen der Präsentationen zeigte sich, dass die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer*innen sich ihrem Gegenstand, zum Teil auch der Aufgabe als solcher, über alltagsästhetische Forschungen genähert hatten. Für viele schlossen sich dann mehrere Wege der Annäherung an, die häufig lange Zeit parallel weiterbearbeitet wurden. Bei manchen lief der Prozess mehrteilig weiter, andere entschieden sich an bestimmten Stellen zur Eingrenzung, wieder andere brachen erste Vorgehensweisen ab und bogen in andere Richtungen ab, die sich zu Beginn nur zögerlich abgezeichnet hatten. Im Laufe der Zeit wurden selbstständige Experimente und Ästhetische Erkundungen durchgeführt, Forschungsliteratur rezipiert, historische Quellen gesucht, analysiert, verglichen und kombiniert, Umfragen und Interviews durchgeführt, Filme geschaut, Videos aufgenommen, wissenschaftliche und literarische Texte geschrieben; es entstanden Installationen, Kleidungsstücke, musikalische Collagen, szenische Lesungen und vieles mehr. Die Studierenden beschrieben ihren Arbeitsprozess gleichermaßen als herausfordernd, anstrengend und ungewohnt, zugleich aber als bereichernd und aufschlussreich. Einige berichteten davon, so sehr von ihrem Thema in „Besitz“ genommen worden zu sein, dass sie eigenständig weiterforschen wollten. Andere hatten sich für so persönliche Themen entschieden, dass ihnen die Arbeit daran auch auf persönlicher Ebene als

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Die abschließende Bewertung erfolgte auf der Basis der folgenden Kriterien: - tiefgehende Auseinandersetzung mit einem Gegenstand der eigenen Wahl, selbstorganisierte Planung und Durchführung der einzelnen Phasen und Schritte, Führung eines Forschungstagebuchs; - angemessener Einblick in die Prozesse der eigenen ästhetischen Forschung im Rahmen der Präsentation; - überzeugende Bezugnahme auf das Konzept der Ästhetischen Forschung in der Reflexion.

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weiterführend oder sogar therapeutisch erschien. Allen war gemeinsam, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt aus ihren weit umfangreicheren Forschungen präsentieren konnten. Eine Kleingruppe hatte sich mit Hochzeitsritualen in vergleichender, historisch-anthropologischer Perspektive beschäftigt. Sie hatten sich dem Thema aus alltagsästhetischer Perspektive genähert, indem sie zunächst selbst ihre eigene Brautausstattung noch einmal angezogen und auf ihren ästhetisch-performativen Charakter befragt hatten (zum Beispiel dahingehend, wie die Kleider, Schuhe und Accessoires ihre Körper formten, wie sie ihre Bewegungsweisen vorgaben und welche performativen Ebenen sich damit im Rahmen der Festlichkeiten verbunden hatten). Davon ausgehend beschäftigten sie sich auf der Grundlage von Bildquellen und Forschungsliteratur vergleichend mit unterschiedlichen Epochen und Kulturen, mit einem Schwerpunkt auf Brautkleidern aus dem deutschsprachigen Raum der 1920er und 1930er Jahre. Sie fertigten schließlich selbst Modelle an, die Brautmode aus anderen Epochen nachempfunden waren, um diese mit ihren eigenen körperlich-performativen Erfahrungen beim Tragen der Ausstattung zu vergleichen und daraus neue Fragen abzuleiten. Im Laufe des Prozesses wurde der nicht einlösbare Anspruch, diese „anderen“ Körpererfahrungen beim Tragen der Kleider zu reproduzieren, dadurch aufgegriffen, dass – auf der Grundlage von aktuellen Brautmagazinen und soziologischen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen – ein bewusst explorativ gehaltenes Design für eine Brautaustattung der Zukunft erstellt wurde. Eine Einzelarbeit war der Geschichte des Stillens und der Rolle der künstlichen Babynahrung gewidmet. Ausgangspunkt waren eigene, aktuelle Erfahrungen, die die Studentin beim Stillen ihres Babys in der Öffentlichkeit gemacht hatte. Für ihre Forschungen hatte sie sich zu Beginn von einer Freundin aus der Ferne dabei filmen lassen, wie sie an unterschiedlichen öffentlichen Orten ihrem Kind die Brust gab, und sich intensiv mit den emotionalen und körperlichen Erfahrungen in dieser Situation beschäftigt. Von dort aus entwickelte sie zahlreiche weitere Fragestellungen, die die Rolle der Frau als Mutter, als Arbeitnehmerin, als Schauobjekt und als Projektionsfläche für die Gefühle anderer seit der Nachkriegszeit multiperspektivisch aufgriffen. In einem anderen Projekt wurde die mit der Emigration verbundene historische Mythenbildung in der eigenen Familie untersucht und nach eingehenden Recherchen durch ein vielschichtiges multimediales Werk aus „authentischen“ und „fiktiven“ Elementen zum Ausdruck gebracht. Eine Studentin untersuchte anhand von zahlreichen alltagsästhetischen Experimenten die Möglichkeiten und Grenzen zur Erstellung von „Geruchslandschaften“ und beschäftigte sich auf diesem Weg mit Forschungen zu städtischen und ländlichen Lebenswelten.

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Es würde zu weit führen, alle Ästhetischen Forschungen anzuführen. Es zeigte sich jedoch, dass erstaunlich viele Forschende umgehend bei eigenen, teils sehr persönlichen Erfahrungen ansetzten, die ihnen in ihrer aktuellen Situation bedeutsam erschienen, die ihre Familiengeschichte seit Langem bestimmt hatten oder die ihnen aus anderen Gründen besonders am Herzen lagen. Für viele stellte – nach eigener Aussage – die Möglichkeit, diese Erfahrungen zu „verarbeiten“ und zugleich mit anspruchsvoller wissenschaftlicher Forschung zu verbinden, ein sehr bedeutsames Erlebnis im persönlichen Wahrnehmen, im universitären Alltag und im Hinblick auf ihre zukünftige Rolle als Lehrende und Forschende dar. Dies zeigte uns, dass es durchaus ein weitverbreitetes Bedürfnis danach gibt, sich auf wissenschaftlicher Ebene mit selbstgewählten, individuell bedeutsamen Themen zu beschäftigen und diese anderen zugänglich zu machen. In dem Modul erarbeiteten sich die Studierenden grundlegende Kenntnisse zu interdisziplinären Modellen des Forschenden Lernens, insbesondere der Ästhetischen Forschung, die sie auf die Bereiche der schulischen und außerschulischen Geschichtsvermittlung anwenden können. Sie eigneten sich zugleich grundlegende methodische und konzeptuelle Fähigkeiten an, um ihre Praxiserfahrungen und wissenschaftlichen Kompetenzen im Bereich der Geschichtswissenschaft zu erweitern bzw. zu vertiefen. Indem sie die eigene Rolle im Forschungsprozess dokumentierten, auf spielerische Weise multiperspektivisch bearbeiteten, analytisch reflektierten und im Plenum präsentierten, lernten sie, Forschungsprozesse auf inhaltlicher, methodischer und subjektiver Ebene zu evaluieren. Indem sie ästhetisch-performative Elemente als Teil des Forschungsprozesses einordnen und reflektieren lernten, erwarben bzw. vertieften sie zugleich persönliche Kompetenzen wie Kreativität bzw. Achtsamkeit, Kritikfähigkeit, Teamfähigkeit, Flexibilität, die Fähigkeit zum Aushalten von Spannungen und Ungewissheit sowie einen produktiven Umgang mit der Möglichkeit des „Scheiterns“. Vor allem aber entwickelten sie eine forschende Haltung, die es ihnen erlaubt, Vergangenheit und Gegenwart kritisch zu betrachten, aufeinander zu beziehen und neue Fragen und Perspektiven zu entwickeln. Damit einher geht die Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen, das sie dazu befähigt, aus einem eigenständigen Erkenntnisinteresse heraus Forschungsprozesse zu planen, ergebnisoffen umzusetzen und bei Bedarf abzuwandeln. Auf diese Weise ermöglichte die Ästhetische Forschung den Studierenden, sich die gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen und Strukturen menschlichen Handelns in ihrer Komplexität, Vielgestaltigkeit und historischen Wandelbarkeit vor Augen zu führen und sie zugleich exemplarisch vertiefend auf ausgewählte

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Räume, Situationen, Ereignisse und/oder Prozesse zu beziehen. Dabei gelang es, die eigenen Forschungen im Hinblick auf unterschiedliche Reichweiten, von der eigenen Ich-Erfahrung oder der eigenen Familie bis zur umfassenden Kulturund Sozialgeschichte, zu erproben und somit multiperspektivisch zu betrachten. Damit wurde es möglich, auch die eigene Lebenswelt als Produkt historischkultureller Prozesse neu betrachten und anders einschätzen zu lernen. Häufig blieb dabei ein Rest, der nicht eindeutig analytisch aufzulösen war. Die Studierenden griffen diese Brüche vielfach selbstständig auf und machten sie zum Thema: als das Unverständliche, „Andere“, Widersprüchliche in der eigenen Kultur. Das Gewohnte nicht länger als Selbstverständlichkeit aufzufassen, sondern als nur eine Variante unter vielen möglichen Denk-, Sicht- und Handlungsweisen, ermöglicht uns, Vielfalt und Diversität als zentrale Erfahrungen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu begreifen. Die Disability History eignet sich in diesem Zusammenhang in besonderer Weise als Ausgangspunkt, als Arbeitsfeld und auch als Instanz der Reflexion, der Kritik und des Innehaltens. Im folgenden Kapitel soll dieses Potential genauer beleuchtet werden.

DIE ALLTAGS- UND WAHRNEHMUNGSHISTORISCHEN POTENTIALE DER ÄSTHETISCHEN FORSCHUNG IM FELD DER DISABILITY HISTORY In der Geschichtswissenschaft, vor allem aber in der Soziologie, der Anthropologie und zahlreichen weiteren Disziplinen, sind Verfahren, die auf das „Fremdmachen“ des Eigenen, des scheinbar Selbstverständlichen, abzielen, bereits seit langer Zeit verbreitet. Fremdheit kann geradezu als anthropologisches Prinzip gelten, das etwa im Verfahren der „dichten Beschreibung“ (thick description) nicht allein auf (historisch oder geographisch) entfernte Kulturen und Gesellschaften, sondern auch auf vertraute, selten in Frage gestellte soziale und kulturelle Phänomene der eigenen Lebenswelt angewendet werden kann. Ethnographische Methoden haben seit den 1980er Jahren im Zuge der Etablierung der Alltagsgeschichte, der Mikrogeschichte, der Historischen Anthropologie und der Patientengeschichte Verwendung gefunden (z.B. Medick 1984, Porter 1985). Sie eignen sich, wie zum Beispiel Robert Jütte (1996) anhand des vormodernen Konzepts des „Versehens“ (imaginatio) im Zusammenhang mit der Gebärmutter gezeigt hat, besonders gut für die Untersuchung von Phänomenen im Umfeld von Krankheits- und Gesundheitsvorstellungen, Sinnes- und Wahrnehmungstheorien. Diese Bereiche sind für eine Disability History der Vormoderne elementar.

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Alltagshistorische und mikrohistorische Herangehensweisen bieten somit einen guten Ansatzpunkt für Ästhetische Forschungen. Zudem kann gerade die historisch-anthropologische sowie die alltagsgeschichtliche Fachliteratur dabei helfen, ein methodisches Grundlagenwissen zu erarbeiten. Dazu gehören zum Beispiel phänomenologische Perspektiven, etwa das Konzept der Lebenswelt, das u.a. für die Alltags- und Wissenssoziologie (vgl. z.B. Lipp 1994, 80-82), aber auch zunehmend in den Disability Studies methodische Ansatzpunkte bietet (wenn auch nicht kritiklos, vgl. Corker/Shakespeare 2002, Johnson/McRuer 2014). Die alltägliche Lebenswelt wird im Alltagsleben, Alltagshandeln und Alltagswahrnehmen verortet, entsteht jedoch nicht in oder aus einer Einzelperson heraus, sondern wird erst im Handeln und Wahrnehmen in der alltäglichen Lebenswelt konstituiert und strukturiert. Lebenswelt wird so in einem wechselseitigen Prozess erzeugt: „Sie ist der Wirklichkeitsbereich, an dem der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt. Zugleich beschränken die in diesem Bereich vorfindlichen Gegenständlichkeiten und Ereignisse, einschließlich des Handelns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen, seine freien Handlungsmöglichkeiten. Sie setzen ihm zu überwindende Widerstände wie auch unüberwindliche Schranken entgegen. Ferner kann sich der Mensch nur innerhalb dieses Bereichs mit seinen Mitmenschen verständigen, und nur in ihm kann er mit ihnen zusammenwirken. Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren. Die Lebenswelt ist folglich die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen.“ (Schütz/Luckmann 2003, 29)

Die Lebenswelt wird somit als sozialer, kommunikativer und handlungsorientierter Bereich konzipiert und zudem mit dem Begriff des Wissensvorrats als dem Produkt eigener und durch andere Menschen vermittelter Erfahrungen verbunden. Deutung und Sinngebung werden als grundlegende Prozesse zur Bewältigung der Lebenswelt verstanden, die immer wieder neu auf aktuell relevante Bezugsschemata bezogen werden müssen und somit auch den Wissensvorrat beständig erweitern und neu strukturieren (Schütz/Luckmann 2003, 33-44; vgl. auch Fried/Kailer 2003, 10-11). Durch die Analyse der alltäglichen Lebenswelt eröffnet sich der Geschichtswissenschaft ein „subjektzentrierter, ein auf die Handlungen und Erfahrungen der Menschen rekurrierender, verstehender Zugang zu kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen“ (Lipp 1994, 82). Wie Alf Lüdtke (1994a, 147) und andere hervorgehoben haben, gilt es dabei nicht, Ein-

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heitlichkeit und Konsistenz des Verhaltens und Wahrnehmens herauszuarbeiten, sondern die Vielfalt von Verhaltensweisen und gerade auch deren Widersprüchlichkeiten. Alltagsgeschichtliche Zugänge sind also nicht einfach auf die Analyse sich wiederholender Handlungen der Menschen im Alltag zu reduzieren, sondern widmen sich den vielfältigen Weisen der „Aneignung“. Nichts anderes hat die Ästhetische Forschung zum Ziel, die ebenfalls vom Alltagsbegriff ausgeht: Wie die Alltagsgeschichte untersucht sie „die Formen, in denen sich Menschen die Bedingungen ihres Handelns und Deutens aneignen, in denen sie Erfahrungen produzieren, Ausdrucksweisen und Sinngebungen nutzen – und ihrerseits neu akzentuieren [Hervorhebung im Original, B.F].“ (Lüdtke 1994b, 72; vgl. auch Medick 1984, 63; Lüdtke 1989). Wenn vom Alltag als Analysekategorie ausgegangen wird, ist demnach immer auch der Wissensvorrat mitzudenken, der innerhalb der alltäglichen Lebenswelt häufig selbstverständlich und unhinterfragt bleibt. Für die Disability History ist dies ein zentraler Ansatzpunkt. Historisch-anthropologische Perspektiven und ethnographische Verfahren sind im Rahmen der Disability History in besonderer Weise aufschlussreich. Mit ihrer Hilfe kann disability Ausgangspunkt sein, um eine Gesellschaft als Ganzes auf andere, neue Weise in den Blick zu nehmen; unter Fragestellungen, die bisher lange Zeit „einfach“ nicht gestellt wurden – entweder, weil die Antworten selbstverständlich erschienen oder aber weil die gesellschaftlich-kulturellen Rahmungen fehlten, die komplexe und kleinteilige Fragen überhaupt erst hervorgebracht hätten. In diesem Sinne erscheint disability nicht als das „Andere“ im Sinne einer Andersartigkeit von Menschen mit Behinderung, sondern als das „Andere“ einer Kultur, dessen Betrachtung neue Perspektiven auf eine scheinbar vertraute Gesellschaft eröffnet. Ähnliche Prozesse sind zuvor bereits im Feld der Gender Studies zu beobachten gewesen, in denen sowohl im Bereich der alltäglichen Lebenswelt als auch im Bereich der Wissenschaft neue Wahrnehmungsweisen, neue Begriffe, Konzepte und neue Fragestellungen hervorgebracht wurden (vgl. Nolte 2013). In der Disability History wurde die Forderung nach einem neuen „Anderen“, nach einer neuen Sichtweise, beispielsweise von Catherine J. Kudlick (2003) mit der mittlerweile klassischen Formulierung „why we need another ‚other‘“ auf den Punkt gebracht. Zugleich aber ist dieses neue „Andere“ nicht einfach eine zusätzliche Sichtweise, die sich aus der Fokussierung auf einen spannenden, aber an sich austauschbaren Gegenstand ableitet. Vielmehr sind Disability History (und Disability Studies) gerade aufgrund der „Sonderbarkeit“ (im kategorialen Sinn) und „Widerständigkeit“ (im epistemologischen Sinn) ihres Gegenstandes von zentraler Bedeutung: disability eröffnet (wie andere Forschungsgegenstände auch)

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neue Perspektiven darauf, wie Wissen über etwas zustande kommt; viel mehr noch aber lässt gerade disability erkennen, wie die Konstitution des Wissensvorrats durch Positionen – und damit in und durch „Körperlichkeit“ bzw. „Befindlichkeit“ (embodiment) – gesteuert wird: Wissen (nicht nur über disability) kommt in und durch Positionen des Nicht-Wissens und ausgewählte, privilegierte Formen der Verkörperung zustande, in einer Welt, die (ganz selbstverständlich) für nicht-behinderte (able-bodied) Personen gestaltet ist. Wird also die Kategorie disability in diese Welt hineingebracht, verändert sich nicht nur das Wissen über dis/ability, sondern auch über diese Welt – und damit zugleich das Wissen über die Kategorien, die diese Welt konstituieren. Disability ist eben gerade dadurch „sonderbar“ und „widerständig“, dass sie sich als Kategorie nicht fassen lässt, dass sie sogar eigentlich eine Nicht-Kategorie ist. Lennard J. Davis etwa nimmt die Instabilität der Kategorie disability zum Ausgangspunkt für ein Konzept, das er als dismodernism bezeichnet (Davis 2002a). Die grundsätzliche Instabilität und mangelnde Kohärenz der Kategorie disability wird dabei auf andere Bereiche von Gesellschaft, insbesondere auf Identitätspolitiken und -diskurse, übertragen (Davis 2002b, 23-25). Gerade die kategoriale Instabilität von disability untermauert so den Anspruch, ganz grundsätzlich sowohl den menschlichen Körper als auch Identitäten als unfest und veränderbar begreifen zu können und zu dürfen. Das Konzept des dismodernism schließt demnach auch selbstverständlich und wertfrei Erfahrungen der Schwäche, des Nicht-Könnens und gegenseitiger Abhängigkeit ein: „The dismodern era ushers in the concept that difference is what all of us have in common. That identity is not fixed but malleable. That technology is not separate but part of the body. That dependence, not individual independence, is the rule.“ (Davis 2002b, 26) Die Widerständigkeit und Unbestimmbarkeit von disability zeigt sich aber auch gerade in den letzten Jahren in der Vielstimmigkeit innerhalb der Disability Studies. Welche Personen, mit welchen Erfahrungen, sich zu welchen Phänomenen von disability äußern können, sollen oder dürfen, ist demnach nicht mehr so einfach zu sagen. Zu dem (weiterhin geltenden Diktum) „Nothing about us without us“ sind vielfältige weitere Positionen hinzugetreten, die sich etwa in Form der Verbindungen von feministischer Theorie, Crip Theory, Queer Studies, geopolitischen und postkolonialen Perspektiven zeigen; die Erfahrungen der Neurodiversität, emotionaler disability oder weiterer, noch unbeschriebener Formen in den Mittelpunkt stellen; und die auch Schmerzerfahrungen, Verweigerung und Haltungen des Nicht-Wollens (statt Nicht-Könnens) legitimieren. Diese Verbindungen sind kürzlich als cripistemologies konzeptionalisiert worden (Johnson/McRuer 2014, vgl. besonders das Teilkapitel „Unstable Crips“,

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132-137; vgl. aber auch bereits Corker/Shakespeare 2002).6 In Anlehnung an eine zentrale Formulierung aus Eve Kosofsky Sedgwicks einflussreicher Studie „Epistemology of the Closet“ argumentieren ihre Autor*innen: „… an understanding of virtually any aspect of contemporary Western culture must be not merely incomplete, but damaged in its central substance to the degree that it does not incorporate a critical analysis of able-bodied/disabled definition and the appropriate place to begin is the relatively decentered position of crip, anti-ableist theory.“ (Johnson/McRuer 2014, 131; basierend auf Sedgwick 1990, 1)

Sowohl der Ansatz des dismodernism als auch der cripistemologies gehen also dezentrierend vor; sie setzen also die Andersheit von disability bewusst ins Zentrum, ohne diese oder die Menschen, die sich ihr zuordnen (oder zugeordnet werden), als das „Andere“ aufzufassen. Zugleich wird aber deutlich, dass beide Ansätze sich auf die Konstitution der gegenwärtigen, westlichen Lebenswelt konzentrieren oder von dieser ausgehend argumentieren. Das „Andere“ der Kultur, somit auch die Historizität und Kulturalität von disability, wird damit zum Teil erst in Form von alternativen Gesellschaftskonzepten und Zukunftsentwürfen greifbar (bedeutend ist hier etwa das Konzept der „crip time“: Kafer 2013, 25-46, vgl. auch McRuer 2018). Hier kommt die Disability History, vor allem auch die der Vormoderne, ins Spiel – und zwar nicht etwa, weil vormoderne Gesellschaften eine grundsätzlich offene oder zugewandte Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung gehabt hätten, sondern weil disability als Phänomenbereich (aus heutiger Perspektive) durchaus erkennbar ist, jedoch – eventuell grundsätzlich, zumindest aber in vielerlei Hinsicht – anders konzeptionalisiert und strukturiert war. Historizität, und damit Disability History, ist damit nicht nur eine spannende, aber im Prinzip austauschbare Perspektive innerhalb der Disability Studies, sondern eine zentrale epistemologische Kategorie. Der Begriff der „verkörperten Differenz“ (embodied difference) zielt etwa gerade auf Andersheit als u.a. historisch wandelbare Kategorie (Waldschmidt 2006, 32). Es reicht demnach nicht, vormoderne disability als das der „Moderne“ entgegensetzte andere „Andere“ aufzufassen. Es geht vielmehr, um das einleitende Zitat von Paul Münch (2001, 24) aufzugreifen, um die „Aufdeckung historischer

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Die Autor*innen betonen, dass cripistemology, „thinking from the critical, social, and personal position of disability“, auch eine Öffnung des Feldes disability einschließt: „[…] the term also expands the focus from physical disability to the sometimeselusive crip subjectivities informed by psychological, emotional, and other invisible or undocumented disabilities.“ (Johnson/McRuer 2014, 134).

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Komplexität“ gerade auch innerhalb der Alltags- und Erfahrungsgeschichte und bei der historischen Untersuchung anthropologischer Konstanten. Im Rahmen der Disability History muss daher zunächst einzeln, fallweise und im Kleinen untersucht werden, in welcher Hinsicht, in welchen Bereichen und Situationen disability hervorgebracht wurde (oder nicht), und woran dies für uns heute erkennbar sein kann (oder nicht). Was also im Einzelfall als Andersheit bzw. als „verkörperte Differenz“, als Beeinträchtigung, als Krankheit, als Schwäche oder als Bedürftigkeit hervortritt, kann je nach kulturellem, historischem und situativem Kontext sehr unterschiedlich sein. Zugleich müssen epochenspezifische, andere Kategorisierungs- und Kommunikationsweisen beachtet werden. So erscheinen etwa die Wissensordnungen vormoderner Gesellschaften deutlich stärker gruppenbezogen, fragmentiert und uneinheitlich als (zumindest auf den ersten Blick) aktuelle Behinderungsdiskurse (Bredberg 1999, Frohne 2015). Dies ist jedoch keineswegs ein Nachteil, im Gegenteil: Die Disability History fragt – mit Blick auf historische Gesellschaften in ihrer Ganzheit – danach, wie in unterschiedlichen Kulturen überhaupt Kategorien gesellschaftlicher Differenzierung gebildet wurden, welche Rückgriffe dabei auf den Körper stattfanden und welche Bedeutung diesen Kategorien in unterschiedenen soziokulturellen Kontexten tatsächlich zukam (Frohne 2015, 13-14). Im Längsschnitt der Geschichte lässt sich disability daher zum einen als Sammelbegriff für eine Vielzahl materiell-eigengesetzlicher Befindlichkeiten, gesellschaftlich-kulturell angeeigneter Wahrnehmungen und Erfahrungen und zugleich als ein unabgeschlossenes, diskursives Feld mit uneinheitlichen Bedeutungen erfassen (Frohne 2014, 14-19; vgl. zu den körpersoziologischen Grundlagen auch Abraham/Müller 2010, 20-23; Sarasin 2003b; Tanner 1994). Die aktuelle Schmerzforschung etwa lässt sich als ein besonders eindrückliches Beispiel dafür verwenden, dass Begriffe und Konzepte nicht nur unsere Vorstellungen, sondern auch unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen auf einer zutiefst materiellen, neurologisch fassbaren Ebene formen. Schmerz wird (derzeit) als ein anhaltender Prozess aufgefasst, der sowohl biologisch begründet als auch gesellschaftlich erlernt ist: Kulturelle Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Normen wirken sich demnach nicht nur auf die Ausdrucksformen von Schmerz aus, sie modellieren auch die Schmerzerfahrung und die Art und Weise, wie man sich an diese erinnert (Bourke 2014, 3-12; Moscovo 2012, 1-8; dazu auch Frohne 2017). Unsere Körper-, Sinnes- und Gefühlserfahrungen werden somit beständig durch die jeweils geltenden Konzepte, Auffassungen und Begriffe zur Beschreibung des Körperlichen geformt, zum Beispiel durch ein bestimmtes

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Schmerzvokabular (Tanner 1994, Cohen 2010; aus Perspektive der cripistemology Patsavas 2014). In der aktuellen Emotionengeschichte wird daher nicht zwischen vermeintlich authentischen Gefühlen und deren kulturell überformter Ausdrucksform unterschieden: Kulturell anerkannte Ausdrucksweisen eines Gefühls können ebenso die Erfahrung und Wahrnehmung dieses Gefühls formen wie umgekehrt eine Emotion als bloße Ausübung eines gesellschaftlich erwarteten Ausdrucks innerhalb einer bestimmten Gruppe oder an einem bestimmten Ort erlebt werden kann (Rosenwein 2007, 1-31; Bourke 2014, 8; grundlegend auch Plamper). Daraus wiederum folgt, dass gerade die Quellensprache, also Begriffe, Konzepte und Kategorisierungen, Rückschlüsse auf Wahrnehmungen und Erfahrungsweisen geben können. Sprache stellt demnach notwendigerweise einen zentralen Untersuchungsgegenstand dar, da sie die materiell-soziale Wirklichkeit mit hervorbringt. Der Historiker Philipp Sarasin, der u.a. eine Diskursgeschichte des Körpers im 18. und 19. Jahrhundert verfasst hat, bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Es geht nicht um die abstruse Frage, ob es noch etwas anderes als Texte gebe, sondern darum, wie die nichtsprachlichen Dinge ihre Bedeutung erlangen. Kein Diskurs, kein Klassifikationsgitter, und scheint es uns noch so vertraut, ist je ‚von den Sachen selbst‘ abgeleitet, sondern schafft umgekehrt erst die Ordnung der Dinge.“ (Sarasin 2003a, 36)

In der Disability History ist Sprache einer der zentralen Ausgangspunkte. Allein die Beschreibung einer spezifischen Wahrnehmungs- oder Handlungsweise als „Syndrom“, „Störung“ oder „Beeinträchtigung“ formt die gesellschaftliche Wahrnehmung und damit die Befindlichkeit, die sich mit dieser Zuordnung verbindet. Vermeintlich neutrale Begriffe, wie zum Beispiel „Querschnittslähmung“ oder „Sehbehinderung“, sind bei genauerer Betrachtung mit impliziten Bedeutungen und Wertungen verbunden und somit als historische Konstrukte fassbar (Waldschmidt 2007, 35-36). Sprache, Konzepte, Wahrnehmungs- und Vorstellungsweisen sind also am besten gemeinsam zu untersuchen. Das bereits erwähnte Beispiel der imaginatio, die vormoderne Konzeption eines materiell (in Form eines Gehirnventrikels) vorhandenen, bildhaft strukturierten und zugleich emotional gesteuerten Vorstellungsvermögens, das zwischen innen und außen vermittelte, das äußere Wahrnehmungen, Anblicke und Eindrücke aufnahm und ihnen substantiell Form und Gestalt verleihen konnte, führt dies eindrücklich „vor Augen“. Zugleich handelt es sich um ein komplexes Gedankengebäude, das u.a. mit unterschiedlichen Konzeptionen des Sehvorgangs verbunden war, über die keineswegs Einigkeit oder Klarheit herrschte. Innerhalb ein- und desselben

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Zeitraums lassen sich verschiedene, sich ergänzende oder einander ausschließende Modelle und Theorien fassen; entsprechend vielfältig waren die Deutungen und Wertungen, die sich mit Fragen des Sehens, Nicht-Sehens oder des Anblicks verbanden (Camille 2000, Singer 2011). So konnte etwa ein schreckenerregender Anblick, dem eine schwangere Frau ausgesetzt war, als eine von vielen möglichen Erklärungen für die Geburt eines „monströsen“ Kindes herangezogen werden. Demnach konnte bereits der Gedanke an bestimmte (auch imaginäre) Menschen, Tiere oder andere Erscheinungen in Verbindung mit bestimmten Befindlichkeiten und Gemütszuständen zu einer wundersamen Geburt führen. Dieses Konzept unterliegt sehr deutlich geschlechtsspezifischen Zuschreibungen und Werturteilen (Ewinkel 1995, 151-185). Zudem war es eng verbunden mit Emotionalität – so konnten bezeichnenderweise auch starke Gefühlsaufwallungen, vor allem Wut und Angst oder Sorge, für Fehl- und Wundergeburten verantwortlich gemacht werden (Frohne 2014, 108-109). Das Konzept des „Versehens“ bzw. der imaginatio wurde allerdings weder durchgängig noch konsequent angewandt; es musste gezielt aus einer Reihe weiterer Deutungsangebote ausgewählt werden. So ungewohnt und fremd uns auch viele der genannten vormodernen Konzepte heute erscheinen, so gibt es doch zahlreiche Anknüpfungspunkte, graduelle Annäherungen oder auch grundsätzliche Unterschiede von unseren eigenen Vorstellungen und Konzepten, die eine detaillierte geschichtswissenschaftliche Beschäftigung ertragreich und aufschlussreich erscheinen lassen. Ästhetische Forschungen eignen sich dazu in ganz besonderem Maße, da sie zugleich mit der eigenen Forschungstätigkeit auch die Grenzen der Vermittelbarkeit, die „Unsagbarkeiten“ des eigenen Körpers und der eigenen Befindlichkeiten erfahrbar machen. Denn der Körper wird eben nicht in seiner Ganzheit, also restlos, durch Sprache hervorgebracht, noch ist er mittels der Analyse von sprachlichen Konzepten vollständig zu erfassen (Shildrick 1997). Wie etwa Philipp Sarasin und Jakob Tanner für die Körper- und Wahrnehmungsgeschichte oder Lennard J. Davis für die Disability History dargestellt haben, stellt bereits die Annahme, dass der menschliche Körper als bruchlose Einheit untersucht werden kann, ein diskursives, historisch wandelbares Konstrukt dar. Davis hat zugleich aufgezeigt, dass diese Annahme auch innerhalb der Disability Studies noch vielfach leitend ist und grundlegende Fragestellungen strukturiert (Sarasin 2003a, 50-55, 2003b, 114-121; Davis 2002c, 45). Der Körper selbst entzieht sich somit häufig der Analyse, nicht zuletzt aufgrund der Historizität der Körpererfahrung selbst (Tanner 1994, 499-500). An dieser Stelle kommt erneut die „Widerständigkeit“ von disability zum Tragen. Je weiter sich die Forschungsebene

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von ihrem Gegenstand entfernt (und das kann ebenso gut das Wissen über meine gelebten Erfahrungen noch im Moment des Äußerns betreffen), umso unfassbarer wird das Unsagbare, das, was sich festen Symbolisierungsformen und Interpretationen verweigert. Zugleich sind auch diese körperlichen Befindlichkeiten, Emotionen und ihre Vermischungen von den eigenen Erfahrungen und alltagsweltlichen Hervorbringungen umgeben und werden durch sie geformt. Disability History strebt letztlich keine Aufschlüsse über „den“ behinderten Körper, den sie ohnehin nicht in Gänze fassbar machen kann, an. Letztlich kann und soll der Körper nicht ohne Weiteres als gesellschaftlich vereinnahmter Ort, an und in dem disability „stattfindet“, festgesetzt werden (Frohne 2015, 27). Stattdessen erscheint ein Vorgehen ertragreich, demzufolge zunächst ergebnisoffen (z.B. anhand klassischer diskursgeschichtlicher Forschungen, aber auch anhand ästhetisch-performativer Verfahren) nach „Spuren“ des Körperlichen gesucht wird: Die Andersheit, aber auch die Vielfältigkeit körperlich erfahrener Erlebnisse und Befindlichkeiten können dabei einen analytischen und zugleich explorativexperimentellen Ausgangspunkt bieten, der einer cripistemology nahekäme. Zugleich ist jedoch vor der vorschnellen Vereinnahmung disability-relevanter Themen innerhalb der universitären Lehre zu warnen. So wird sich nicht jede Lerngruppe, nicht jedes Format oder Thema für Ästhetische Forschungen im Feld der Disability History eignen oder nutzbar machen lassen. Sinnvoll erscheint mir zunächst, möglichst unterschiedliche Herangehensweisen auszuprobieren, die nicht notwendigerweise Disability History in den Mittelpunkt stellen. Es ist durchaus möglich und wurde von Helga Kämpf-Jansen selbst so gehandhabt, innerhalb eines Seminars, das sich dem Ausprobieren des Konzepts der Ästhetischen Forschung widmet, große, übergreifende und möglichst offene Themenangebote zu machen (vgl. Ströter-Bender 2012, 313). Diese können durchaus direkt an grundlegende Konzepte der Disability Theory anschließen und etwa Körper und Macht, Identitäten oder Intersektionalität zum Thema haben. Es ist aber auch denkbar, zunächst körperbezogene Zuordnungen vorzugeben, die möglichst weitgefasst sind und unter anderem Themenzuschnitte aus dem Bereich der Disability History einschließen, z.B. „Haut“; „Hände“; „Nerven“. Dabei kann bereits die Themenstellung zu ersten Dekonstruktionen der zugrunde liegenden Konzepte einladen. Gerade historische Konzepte von Sinneswahrnehmungen und/oder Emotionen ermöglichen ebenfalls einen solchen Zugriff. Auch können typische Reaktionen auf Menschen mit Behinderung in Geschichte und Gegenwart kritisch in Angriff genommen werden (z.B. „Starren“, „Freaks“, „Mitleid“); oder aber dezidiert historische Konzepte oder Vorstellungen können als Ausgangspunkt dienen (z.B. „besessen!“ „Vier Säfte“, „Hyste-

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rie“). Eine weitere Möglichkeit besteht darin, ein möglichst weites Bedeutungsspektrum zu eröffnen, so dass die Erarbeitung eines spezifischen Themas aus dem Bereich der Disability History eine freie Entscheidung einzelner Gruppenmitglieder sein kann, z.B. „Blicke“, „Körperräume“, „Wunden“, „Erinnern/Vergessen“, „Innen/Außen“. Bei alledem sollte, wenn es um aktuelle Lebensbezüge geht, grundsätzlich gelten: „Nichts über uns ohne uns“. Es darf nicht das Ziel einer Ästhetischen Forschung – oder auch der Disability History – sein, Menschen mit Behinderungen zu Forschungsobjekten zu machen oder übergriffige Experimente anzustellen. In keinem Fall sollte etwa das Konzept der Ästhetischen Forschung dazu verleiten, sich einzelne „Beeinträchtigungen“ (vermeintlich) anzueignen, indem für wenige Stunden einzelne Momente „nachgestellt“ werden. Dazu gehören etwa Versuche, bei denen sich Studierende mit verbundenen Augen über den Campus führen lassen, eine Mahlzeit in völliger Dunkelheit einnehmen oder sich Kopfhörer aufsetzen, um Gehörlosigkeit zu imitieren. Versuche wie diese können aufschlussreich für Ästhetische Forschungen sein, sie haben jedoch nichts mit disability in unserer Gesellschaft zu tun. Zum einen reduzieren solche Verfahren, wenn sie dem „Erspüren“ von disability dienen sollen, Menschen mit Behinderungen auf „ihre“ Beeinträchtigung, so dass sie als „Betroffene“, als „Repräsentanten“ eines „Syndroms“ oder „Defekts“ wahrgenommen werden. Ihren vielfältigen und komplexen lebensweltlichen Erfahrungen wird dabei, wenn überhaupt, nur noch eine randständige Position zugesprochen. Zum anderen sind solche Experimente sinnlos: Es ist nicht möglich, und zugleich eine übergriffige und herablassende Handlung, sich über ein auf diese Weise isoliertes Charakteristikum in eine Lebenswelt „einfühlen“ zu wollen, in der dieses Charakteristikum als Ungleichheitsmerkmal gilt – und zwar nicht nur für wenige Minuten oder Stunden in einem „Experiment“, das jederzeit abgebrochen werden kann.7 Umgekehrt können Ästhetische Forschungen, die Experimente und Übergriffe dieser Art vermeiden, dazu beitragen, dass auch Studierende mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, gerade auch diejenigen mit unsichtbaren Formen von disability, ihre Erfahrungen auf selbstgewählte Art und Weise und

7

Bestehende Untersuchungen zu geschichtsdidaktischen oder musealen Konzepten, die vornehmlich auf die Evokation bzw. Imitation einer Empfindung, eines Gefühls oder einer Sinneswahrnehmung abzielen, zeigen zudem, dass hierbei die Gefahr der Entwicklung eines oberflächlichen Geschichtsbewusstseins groß ist: So kann es zu inhaltlichen Fehleinschätzungen, historischen Vereinfachungen, unzulässigen Übertragungen und vorschnellen Identifikationen kommen (z.B. Müller 2016, 139f.; Oswalt 2013, 194-198; Heuser 2016).

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mit selbst festgesetzten Grenzen einbringen können (wenn sie dies wünschen). Langfristig würde dies die Sensibilität für das Thema disability innerhalb der universitären Lehre erhöhen und zugleich eine Vielzahl neuer Perspektiven einbringen, die nicht nur das gemeinsame Lernen, sondern auch die Forschung bereichern würden. Für die noch junge Disziplin der Disability History ergibt sich daraus die Chance, frühzeitig innerhalb des Forschenden Lernens sichtbar zu werden und sich darin als eines der wesentlichen Betätigungsfelder zu etablieren. Zugleich kann gerade die Disability History von Formaten des Forschenden Lernens im universitären Kontext profitieren: Eine Vielzahl von Quellen ist noch unentdeckt oder wird gerade erst für die Disability History erschlossen; Datenbanken und OnlineArchive werden begründet; neue Themenfelder und innovative Fragestellungen entstehen. Die – häufig im sogenannten Nachwuchsbereich angesiedelten – Forscher*innen vernetzen sich zudem immer mehr auch international und disziplinenübergreifend (Frohne/Halle/Kerth/Nolte 2017). Es ist dies ein Feld, das sich aufgrund seiner Dynamik und seiner noch großen Zahl an Forschungslücken und völlig unbearbeiteten Themenstellungen ausgesprochen gut dazu eignet, Studierende an aktueller, innovativer Forschung teilhaben zu lassen. Umgekehrt können Studierende, die sich im Feld der Disability History forschend-explorativ bewegen, dazu beitragen, unentdeckte Quellen zu erschließen, neue Fragestellungen zu entwickeln und innovative Perspektiven einzubringen. Da das Format der Ästhetischen Forschung auch die Vermittlung der eigenen Forschungsergebnisse einschließt, ergibt sich daraus nicht zuletzt die Chance, Disability History in der Öffentlichkeit stärker sichtbar zu machen und damit als eine grundlegende Perspektive auf die allgemeine Geschichte anzuerkennen. Langfristig sollte das Ziel sein, Disability History im universitären wie im schulischen Curriculum zu verankern. Dazu kann wesentlich die im Konzept der Ästhetischen Forschung vorgesehene Zusammenarbeit bzw. Vernetzung mit Archiven, Bibliotheken, Museen, Sammlungen sowie mit Forscher*innen, Aktivist*innen und Expert*innen, die mit Krankheiten, Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen leben und/oder dazu forschen, beitragen. Nicht zuletzt ist es erforderlich, dass mehr Studierende und Lehrende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten an der Universität einen Ort finden, in dem selbstverständlich Platz ist für unterschiedliche Wahrnehmungs- und Handlungsweisen, Befindlichkeiten und Bedürfnisse. Eine solche „Hochschule für Alle“ lässt sich allein durch Ästhetische Forschungen im Feld der Disability History nicht herbeiführen. Diese können aber dazu beitragen, dass Studierende und Lehrende mit und ohne disability-Erfahrungen sich dafür einsetzen, einen

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solchen Ort zu schaffen. Angesichts steigender Studierendenzahlen und der Öffnung der universitären Lehre gegenüber Diversitätskonzepten, nicht zuletzt auch aufgrund der Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (CRPD), ist schließlich auch die Geschichtswissenschaft dazu aufgerufen, Lernorte hervorzubringen, die sich an die Vielfalt und Diversität der Lernenden wie der Lehrenden anpassen – und nicht umgekehrt. Ästhetische Forschungen im Feld der Disability History können dazu einen wesentlichen Beitrag leisten – alltagsästhetisch, lebensweltlich und forschungspraktisch.

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Akten und Aktionen. Ein interdisziplinäres Forschungs- und Inszenierungsprojekt der Geschichtswissenschaft und der Performance Studies zur Psychiatriegeschichte Alan Maciejewski, Cordula Nolte, Annika Port, Özlem Sayli, Johannes Strauß, Clara Wiebe

ÄSTHETIK – KUNST – FORSCHUNG: ZUGÄNGE ZU HEDWIG DEBBES GESCHICHTE(N) (Cordula Nolte) 1908 lässt sich eine junge Frau aus einer angesehenen Bremer Familie in die städtische Psychiatrie, das St. Jürgen-Asyl in Ellen, zur Beobachtung aufnehmen. Hedwig Debbe (1877-1950) möchte sich attestieren lassen, dass sie „nicht geisteskrank“ ist, um eine drohende Entmündigung, initiiert durch ihren Vater, abzuwenden. Stattdessen wird sie mit der Diagnose „Moralische Idiotie“ interniert und entmündigt. Als Patientin verbringt Hedwig Debbe bis 1912 mit Unterbrechungen viermal mehrere Monate in der Anstalt. Dann verschwindet sie im doppelten Sinn: Sie flieht, und ihre Spuren verlieren sich. Wer die Patientenakte der Hedwig Debbe studiert, sieht die Vorgänge der Jahre 1908 bis 1912 wie ein Bühnenstück vor dem inneren Auge erstehen. Die Protagonistin tritt uns als eine Person entgegen, die gegen allerlei Normen verstößt: Hedwig Debbe ist homo- und heterosexuell aktiv, erfindet „unwahre“ Geschichten, besorgt sich auf dubiose, nicht eben redliche Art Geld und Wertgegenstände, fälscht Schecks und prellt die Zeche. Kurz: Sie verhält sich auffällig, wenn nicht delinquent und nimmt sich in einem solchen Maß Freiheiten heraus, dass ihr „Gemeingefährlichkeit“ bescheinigt wird. Die Ärzte als ihre Gegenspie-

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ler erstellen, basierend auf moralischen Urteilen, Diagnosen, die Hedwig Debbe stigmatisieren und ausgrenzen. Zu ihrem eigenen Besten, aber auch, um die Gesellschafts- und Familienordnung zu schützen und zu stützen, soll sie diszipliniert werden. Hedwig Debbe wiederum setzt sich gegen die damit einhergehende Freiheitsberaubung zur Wehr und gewinnt inner- und außerhalb der Anstalt verschiedene Verbündete. Diesen zufolge kann von „Geisteskrankheit“ „keine Rede sein“, vielmehr gehe es offenkundig um Bestrafung. Aufgrund der Dichte, Vielfalt und Widersprüchlichkeit des Materials eignet sich die Akte bestens für ein fächerübergreifendes Lehrprojekt, bei dem Studierende den Stoff, ausgehend von Fragestellungen der Dis/ability History, gleichermaßen erforschen wie auch öffentlichkeitswirksam aufbereiten. Das in der Akte gebotene „Stück“ ruft geradezu nach einer performativen Herangehensweise in Verbindung mit klassischen Methoden der geschichtswissenschaftlichen Erschließung, zumal der historische Ort des Geschehens für eine Aufführung genutzt werden kann. Hier lassen sich Verfahrensweisen der Ästhetischen Forschung erproben: unter anderem die Vernetzung von traditionell getrennten Lehr- und Lernbereichen, um komplexere Erfahrungen zu ermöglichen (KämpfJansen 2006, 33), Grenzüberschreitungen und Erweiterungen verschiedener Art (u.a. räumlich, institutionell, disziplinär), Verknüpfungen zwischen Seminarbetrieb, künstlerischer Aufführung, öffentlichem Raum und Lebenswelt sowie die Konzentration auf schöpferische Prozesse an sich und nicht einseitig auf deren Ergebnisse (Blohm et al. 2006).1 Wie innovativ und ertragreich eine öffentliche Geschichtsvermittlung im Medium des Theaters sein kann, zeigt in Bremen seit Jahren das äußerst erfolgreiche Projekt „Aus den Akten auf die Bühne“.2 Während es sich dabei um Dokumentartheater handelt, um szenische Lesungen aus historischen Texten, lädt Hedwig Debbes Patientenakte zu eher experimentellen Spielweisen ein. Es macht einen wesentlichen Reiz dieses Materials für Historiker*innen wie für Theaterleute aus, dass sich hier ständig Fragen ergeben, wie sich reale Begebenheiten und Erfindungen, „Wahrheit“ und „Unwahrheit“, Imaginationen, Fiktionen und Phantasien zueinander verhalten, wie die Grenzen dazwischen verschwimmen oder Brüche und Widersprüche aufklaffen.

1

Vgl. auch den Beitrag von Bianca Frohne in diesem Band. Vgl. zum Dialog von Wissenskulturen und zu „Experimentalräumen zwischen Wissenschaft und Kunst“ Ingrisch/Dressel/Mangelsdorf 2017 sowie Mangelsdorf 2017.

2

https://www.sprechende-akten.de/ sowie https://www.shakespeare-company.com/ausden-akten-auf-die-buehne/ vom 30.09.2019.

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Im Sommersemester 2019 fanden an der Universität Bremen zwei miteinander verzahnte Seminare statt. Studierende der Geschichtswissenschaft erarbeiteten – transkribierend, recherchierend, kontextualisierend – den Inhalt der Akte, während das Theater der Versammlung und Studierende der Performance Studies gemeinsam mit den Historiker*innen begannen, auf dieser Basis ein Aufführungskonzept zu entwickeln.3 Gegenwärtig, zu Beginn des Wintersemesters, wird dieses noch laufende Unternehmen fortgesetzt – bis zur Premiere des Stücks im April 2020.4 Im Folgenden berichten einige Mitwirkende des Projekts über den bisherigen Verlauf des Arbeitsprozesses, die dabei auftretenden Fragen, Lösungsstrategien und ihre Erkenntnisse. Sie stellen das Quellenmaterial vor, diskutieren seine Auswertung anhand der Dis/ability-Perspektive und schildern aus Sicht der beiden beteiligten Fächer, welche Erfahrungen sie mit der „dialogischen Dynamik“ (Tobias Winter) der Lehrveranstaltungen machten.

PSYCHIATRISCHE PATIENTENAKTEN: GESTALTUNG, BESTIMMUNG, ABSICHTEN DIESER QUELLEN AM BEISPIEL DES ST. JÜRGEN-ASYLS (Alan Maciejewski und Cordula Nolte) Um unsere Quelle, Hedwig Debbes Patientenakte, einordnen zu können, war zunächst eine Auseinandersetzung mit dieser Art von Material erforderlich. Wir konnten dabei auf Studien speziell zum St. Jürgen-Asyl zurückgreifen (Hermes 2008 und 2012, Johanning 2005, Engelbracht/Tischer 1990). Diese betonen, dass Patientenakten (auch Krankenakten genannt) erst seit einigen Jahren größere Aufmerksamkeit von Historiker*innen erhalten. Analysen mit medizin- und kulturhistorischen, diskursanalytischen und ethnologisch inspirierten Ansätzen erweisen das Potential dieser Quellensorte.

3

Die Studierenden konnten dabei auf Untersuchungen von Hedwig Debbes Akte in einer unveröffentlichten Magisterarbeit (Johanning 2005, 80-105) und auf einer Blogseite von Anna-Sophie Koschany, Mona Mathiske und Lea Waldhorst zurückgreifen: https://blogs.uni-bremen.de/disabilityhistorylehrlerngegenstand/die-patientenakte-derhedwig-d/ vom 30.09.2019.

4

Der Titel („… die Sünde des Andersartigen zu riskieren“. Ein theatraler Spaziergang durch die Leben der Hedwig D.) zitiert Artaud 1979, 48.

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Während es ärztliche Aufzeichnungen von Krankengeschichten bereits seit der Antike gibt (Janz 1999, 94), kann man von psychiatrischen Patientenakten erst sprechen, seitdem um 1900 die Psychiatrie sich sowohl als Wissenschaft und medizinisches Fach wie als Anstaltsbetrieb professionalisiert hat. Die Verwendung standardisierter Formulare verdeutlicht diese Professionalisierung. Trotz der Standardisierung zentraler Elemente bleiben Patientenakten „vielfältig und vielgestaltig“ (Hermes 2012, 64). Es sind Zusammenstellungen verschiedener Dokumente, die in je unterschiedlicher Weise Auskunft geben über den ärztlichen Blick und den „patient’s view“, über zeitgenössische Krankheitsauffassungen und ärztliche Krankheitskonstruktionen, über gesellschaftliche Normen; „darüber hinaus sind sie ein Spiegel sozialer und mentaler Zustände einer Zeit“ (Radkau 1997, 74; vgl. auch Hermes 2008, 41, Fußnote 151). Die Funktion von Patientenakten kann man mit Maria Hermes wie folgt auf den Punkt bringen: „Psychiatrische Krankenakten im eigentlichen Sinn als internes Medium der wissenschaftlichen Kommunikation und Dokumentation sollten zu einer Diagnose des Patienten führen und den Krankheitsverlauf dokumentieren.“ (Hermes 2012, 77-78). Die Intentionalität dieser Dokumente muss stets quellenkritisch reflektiert werden (Hermes 2012, 64-78). Der wissenschaftliche Anspruch der Ärzte etwa führte zu Krankheitskonstruktionen, die ihrem Selbstverständnis entsprechend „innermedizinisch und objektiv“ waren (Hermes 2012, 78), so schwer nachvollziehbar dies heute, etwa angesichts der Verquickung mit moralischen Bewertungen im Fall Hedwig Debbes, erscheinen mag.5 Kontrovers diskutiert wird auch, inwiefern die Wahrnehmungen und Sichtweisen von Patienten „unverstellt“ oder „gefiltert“ artikuliert werden (Hermes 2008, 41-42; Johanning 2005, 5-6). Die Patientenakten aus dem St. Jürgen-Asyl sind, was ihren Aufbau und die formale Gestaltung angeht, folgendermaßen zu beschreiben: Die Schriftstücke befinden sich in Mappen aus Pappe, auf deren Vorderseite, dem Deckblatt, in einem vorgedruckten Formular der Name des Patienten bzw. der Patientin, die Anschrift, das Geburtsdatum, die Anschrift und der Familienstand bzw. Beruf handschriftlich notiert sind. Ferner sind die Daten von Aufnahme und Entlassung sowie die Diagnosen verzeichnet. Das erste Dokument ist ein vorgedrucktes Auf-

5

Vgl. Johanning 2005, 102: Psychiater waren „auch Spezialisten für moralische Devianzen, die als Folge von Geisteskrankheiten interpretiert wurden. Aus dieser Logik heraus gehörte es zu ihren Aufgaben moralische Urteile über ihre Patientin zu fällen.“ Hedwig Debbe gegenüber spielten Aversion und Abwehr mit, ebd., 105: „Auf die ungeheuerliche Provokation, die von dieser Frau ausging, reagierten die Ärzte mit unverhohlener Aggression und misogyner moralischer Verurteilung.“

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nahmeformular mit Fragen an den Arzt, der die Einweisung veranlasst hat, von diesem handschriftlich ausgefüllt mit Angaben zum Krankheitsverlauf. Auf weiteren Formularen wurden die Anamnese sowie Angaben zum „status corporis“ und „status nervorum“ eingetragen. Es folgen vorgedruckte Fragebögen, die die Ärzte im Rahmen von Untersuchungen („Explorationen“) der Orientiertheit, seelischen Verfassung und Intelligenz, des Allgemeinwissens, manchmal auch in Tests zur Assoziations- und Merkfähigkeit der Patienten ausfüllten. Während die Forschung diese Teile der Akten, bei denen Formulare verwendet wurden, als „Untersuchungsteil“ bezeichnet, spricht sie bei den anschließenden handschriftlichen Ausführungen der Ärzte von der „Krankengeschichte“ (Hermes 2012, 6772; Hermes 2008, 43-47). Dazu gehören auch „Tagesnotizen“ zum Verhalten und zum Zustand der Patient*innen während des Aufenthalts in der Anstalt. Hinter diesen Dokumenten sind gegebenenfalls weitere Schriftstücke wie Briefe, amtliche Mitteilungen und administrative Vermerke in die Mappen eingelegt.

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DIE PATIENTENAKTE DER HEDWIG DEBBE – VIELSTIMMIGE NACHRICHTEN AUS DER ANSTALT (Özlem Sayli und Cordula Nolte) „Man kann hier ja rein verzweifeln. Um mich kümmert sich kein Mensch, ob es mir gut geht oder schlecht, danach scheint Niemand mehr zu fragen. Wie mir aber zu Mute ist, das allerdings ahnst Du nicht, wenn Du Dich aber einmal in meine Lage hineinversetztest, dann könntest Du es Dir denken, was es heißt Tag und Nacht unter Verrückten zuzubringen. Habe ich das nötig? Nein, das habe ich nicht und ich will hier auch jetzt nicht länger bleiben.“ Brief von Hedwig Debbe an den Vater, im Oktober 1909 (Abb. 1).

Abbildung 1: Handschriftlicher Brief Hedwig Debbes an ihren Vater

Quelle: Archiv des Klinikums Bremen-Ost, 338wA (© Krankenhaus-Museum)

Hedwig Debbes Akte erscheint im Vergleich zu anderen Patientenakten sehr komplex und aussagekräftig. Dies gilt zum einen für die ärztliche Dokumentation, die vor allem beim ersten Anstaltsaufenthalt umfassend ist, während sie später ausdünnt. Es gilt zum anderen für beredte Zeugnisse, wie die Patientin sich

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selbst und ihre Situation wahrnimmt, wie sie mit Angehörigen, Ärzt*innen6, Mitgliedern des Anstaltspersonals kommuniziert, wie sie zwischen Widerstand und Kooperation wechselt. Dies ist vor allem Hedwig Debbes Schreibtätigkeit zu verdanken: Die Akte enthält bzw. erwähnt Briefe, die sie an verschiedene Personen geschrieben und empfangen hat, Briefe, die sie mutmaßlich an sich selbst geschrieben hat, Briefe, die bei einer Durchsuchung unter ihrer Matratze entdeckt wurden, von Krankenschwestern aus der Anstalt oder hinein geschmuggelt oder von der Leitung abgefangen wurden. Diverse andere Dokumente wie amtsgerichtliche Schriftstücke (Protokolle, Mitteilungen an die Anstaltsleitung, Aktenkopien) lassen die Akte ungewöhnlich umfangreich und kompliziert erscheinen – wie es den teils abenteuerlichen Verwicklungen in Hedwig Debbes Vorgeschichte und Anstaltslaufbahn entspricht (Johanning 2005, 81). Während die Transkription voranschritt, wurde es erforderlich, anhand der Dokumente eine biographisch ausgerichtete Chronologie zu erarbeiten. Nur so ließen sich die unübersichtlichen Vorgänge bis 1908 (Wechsel der Schulen, „Heime“, Aufenthaltsorte, Beziehungspersonen) und während des Zeitraums von 1908 bis 1912, als die junge Frau insgesamt 21 Monate im St. Jürgen-Asyl verbrachte, ansonsten aber an vielen Orten unterwegs war, überblicken und einordnen. Die vier stationären Aufenthalte der Hedwig Debbe bilden sich auf der Vorderseite der Akte sowie in ihrer Einteilung in vier Abschnitte ab; abgesehen von der zweiten Aufnahme wurde bei jeder Rückkehr der vorgedruckte Fragebogen ausgefüllt. Das Deckblatt verzeichnet in der Spalte „Entlassen“ vier Daten mit dem Vermerk „ungeheilt“, ohne zu vermerken, dass die Patientin de facto zweimal nicht entlassen wurde, sondern entwich. Bei „Diagnosen“ wird für die beiden ersten Aufenthalte als „Symptomkomplex“ angegeben „Sexuelle Perversität. Pathol. Schwindeleien“; als „Krankheitsform“ ist „Moral. Idiotie“ eingetragen. Für die beiden späteren Aufenthalte findet sich einzig: „Hysterie“. Dahinter steht nicht notwendig eine Veränderung der Einschätzung oder Neubewertung. Vielmehr waren nach Ansicht des Anstaltsdirektors, des Psychiaters Anton Delbrück, die Grenzen zwischen „moralischer Idiotie“ und „Hysterie“ fließend. Gemeinsames Merkmal beider Krankheitsbilder war seinem Konzept zufolge ein „moralischer Defekt“ (Johanning 2005, 49-50, 99). Tatsächlich verzeichnet der Bericht über die Untersuchung der Patientin durch Dr. Delbrück nach ihrer ersten Aufnahme als Symptome „Angeblich viele moralische Defecte“ (Stehlen, Lügen, homo- und heterosexuelle „Excesse“) und mündet in die Diagnose „Moralische

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Neben männlichen Ärzten hatte auch die Ärztin Dr. Anna Stemmermann bei Untersuchungen und beim Stationsdienst mit Hedwig Debbe Kontakt. 1907 publizierte sie Fälle von „Pseudologia phantastica“, die Anton Delbrück begutachtet hatte.

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Idiotie“ – was zum Vermerk „Benehmen O. B.“ gar nicht zu passen scheint. Das Wort „angeblich“ verrät, dass Delbrück sich hier auf den Krankheitsbericht des Arztes stützt, der das Gutachten zu Hedwig Debbes Entmündigung beim Amtsgericht Hildesheim eingereicht hatte. Im „Fragebogen für die Aufnahme von Geisteskranken in das St. Jürgenasyl in Ellen bei Bremen“, der in der Akte zuoberst liegt, hatte dieser Dr. Lindemann vermerkt, eine erbliche Belastung sei bei Hedwig Debbe „zwar nicht nachzuweisen. Es ist aber eine angeborene sittliche Unfähigkeit vorhanden.“ „Triebartiger Hang zur Liederlichkeit“ sei vorhanden, insbesondere ein Hang zum Lügen, Stehlen und sexuellen Betätigungen, „auch in Neigung zum eigenen Geschlecht“. Als Erfinder des noch heute anerkannten Krankheitsphänomens „Pseudologia phantastica“ (pathologisches Lügen) war Anton Delbrück vermutlich an Hedwig Debbe besonders interessiert (Johanning 2005, 82). Das Thema „Lügen“ zieht sich als roter Faden durch die Untersuchungsprotokolle und andere Dokumente. Von Hedwig Debbe, „die in durchaus krankhafter und außerordentlich raffinierter Weise zu lügen pflege“, ging offenbar Gefahr aus. Bereits bei ihrem ersten Aufenthalt mussten alle Krankenschwestern eine „Verwarnung“ unterschreiben, die sie anscheinend verpflichtete, Distanz zu der Patientin zu halten und sie nicht entweichen zu lassen. Bei Hedwig Debbes späteren Aufnahmen finden zwar Untersuchungen mit eingehenden Befragungen statt und die Krankengeschichte wird fortgeschrieben. Jedoch bleibt es bei Delbrücks Diagnose, auf die nunmehr lapidar verwiesen wird: „cf. letzte Klinik“. Hedwig Debbe ist somit ein für alle Mal sowohl medizinisch beurteilt als auch moralisch verurteilt. Mit der Klassifizierung „moralische Idiotie“ bzw. „moral insanity“ steht auch fest, dass ihr Geisteszustand nicht heilbar ist. Ihren „Verletzungen des Anstandes“ und sonstigen Normverstößen ist nur mit einer Anstaltsverwahrung beizukommen, die auf verordnete Bettruhe und Beschäftigung mit Handarbeit hinausläuft. Aus dem heterogenen Aktenmaterial lässt sich zwar lückenhaft, aber durchaus lebendig Hedwig Debbes Vorgeschichte rekonstruieren: die Reaktionen der Eltern auf Verhaltensauffälligkeiten, Konflikte mit dem Vater, Anstellungen als Dienstmädchen in mehreren Haushalten, Unterbringung in verschiedenen „Heimen“, ein zweijähriger Aufenthalt in Südafrika, wo Hedwig Debbe zum Katholizismus konvertierte und sich (angeblich) mit einem Marineoffizier verlobte, weitere „Verlobungsgeschichten“, die (im ärztlichen Verhör zugegebene) Erfindung eines unehelichen Kindes, der später eine weitere Erzählung von angeblicher Schwangerschaft und Entbindung folgt. Überdies gibt die Akte anschaulich Einblick in den Anstaltsalltag. Das St. Jürgen-Asyl war als Reformanstalt konzipiert, in der freundliche, humane Lebensverhältnisse geschaffen werden sollten (vgl. u.a. Delbrück 1907). Sowohl

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die Patient*innen als auch das Personal waren jedoch strikter Kontrolle unterworfen.7 Die Distanz zwischen Patientinnen und Pflegerinnen war gering, so dass Hedwig Debbe Liebes- und Freundschaftsbande knüpfen konnte und Schwestern der „Gefangenenbefreiung“ verdächtigt wurden.8 Anders als die Ärzte betrachteten zumindest die Schwestern, die mit Hedwig Debbe enge Beziehungen eingingen, die Patientin nicht als „geisteskrank“. Auguste Nowak etwa, die im Sommer 1909 etwa vier Wochen lang in Ellen arbeitet und nach ihrem Weggang Hedwig Debbes Freilassung erwirken will, schreibt an eine andere Schwester: „Uns ist es ja so oft gesagt worden, daß sie blos [sic] zur Strafe da sei. […] Mir kommt es so vor, als ob man sie mit Absicht in Ellen unschädlich machen möchte.“ (29.10.1909) Hier prallen kontroverse Sichtweisen aufeinander. Gerade in Anbetracht dieser unterschiedlichen Deutungen lädt die Akte dazu ein, sich mit Positionen der Dis/ability History auseinanderzusetzen und diesen aktuellen Forschungsansatz exemplarisch mit Leben zu füllen.

THEORETISCHER RAHMEN: EINORDNUNG DES PROJEKTS IN DIE DIS/ABILITY STUDIES – DIS/ABILITY HISTORY (Clara Wiebe) Jeder Mensch, jeder soziale Mikrokosmos und jede Kultur hat ganz eigene Auffassungen von Behinderung. Der Begriff Behinderung ist also mit vielen nicht einheitlichen oder klar zu definierenden Vorstellungen verbunden. Aus medizinischer Sicht, die dem sogenannten medizinischen Modell zugrunde liegt, ist Behinderung ein körperliches Problem, ein Defizit, welches gelöst bzw. beseitigt 7

Am 20.09.1909 beschwert F. Günther sich bei Direktor Delbrück darüber, dass dieser Post von Auguste Nowak (Günthers Schwägerin) an Schwester Lisette Junker geöffnet hat. Vgl. zu Delbrücks Führungsstil Johanning 2005, 47-49, 52.

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Die Akte enthält aufschlussreiche Informationen über die Arbeitsbedingungen und den Alltag von Pflegerinnen in „Irrenanstalten“. Kurzfristige Beschäftigungsverhältnisse scheinen an der Tagesordnung gewesen zu sein. Brief der Auguste Nowak an Hedwig Debbe vom 24.10.1909. Vgl. zu modernen Grundsätzen Scholz‘ „Leitfaden für Irrenpfleger“ (1900), gewidmet Delbrücks Amtsvorgänger, auf den die Umbenennung der Bremischen Irrenanstalt in St. Jürgen-Asyl zurückging (Engelbracht/Tischer 1990, 29-30). Vgl. ferner Falkenstein 2006.

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werden muss, eine Krankheit, die therapeutisch behandelt werden muss und im Idealfall medizinisch geheilt werden sollte. Dieses Modell reduziert Behinderung ausschließlich auf die medizinische Komponente (Eyler 2010, 4). Die Dis/ability Studies bzw. Dis/ability History hingegen verfolgen einen konstruktivistischen Ansatz, der davon ausgeht, dass die Gesellschaft selbst Behinderung konstruiert und produziert, indem sie Definitionen von Normalität und dazu abgrenzend Behinderung in „wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Diskursen, politischen und bürokratischen Verfahren, subjektiven Sichtweisen und Identitäten“ (Waldschmidt 2010, 17) etabliert und festschreibt. Diesem konstruktivistischen Ansatz folgen zwei verschiedene Modelle: zum einen das soziale Modell, welches, im Gegensatz zum medizinischen Modell, Behinderung als eine soziale Konstruktion ansieht und deshalb zwischen körperlicher Beeinträchtigung (impairment) im medizinischen Sinne und Behinderung (disability) als Folge sozialer Benachteiligung durch unser Gesellschaftssystem unterscheidet. Zum anderen etablierte sich innerhalb der Dis/ability Studies das kulturelle Modell, welches auch körperliche Beeinträchtigung als eine durch Zeit und Kultur beeinflusste und vor allem vom erfahrenden Subjekt abhängige, also konstruierte Variable versteht (Waldschmidt 2010, 18-19), die dementsprechend geschichtlichem Wandel unterliegt. Behinderung und Nichtbehinderung werden hier nicht in zwei binären Kategorien gesehen, sondern vielmehr als in Abhängigkeit zueinanderstehend, sich gegenseitig bedingend verstanden (Waldschmidt 2005, 25). Innerhalb der Dis/ability Studies und Dis/ability History finden sowohl das soziale als auch das kulturelle Modell nebeneinander, aber auch miteinander fusioniert Anwendung. Aus den Critical Dis/ability Studies hervorgehend bilden sich seit einigen Jahren, vor allem im kanadischen Raum, die Mad Studies heraus. Die Mad Studies sind, ähnlich wie die Dis/ability Studies, eine interdisziplinäre Forschungsrichtung mit einem politisch-aktivistischen und emanzipatorischen Anspruch. Mad Studies setzen sich mit der Geschichte, der Kultur und den politischen Dimensionen von madness auseinander. Dabei arbeiten sie vor allem mit den Erfahrungen von Personen, welche sich als psychisch besonders identifizieren oder von außen als psychisch krank identifiziert werden (LeFrançois 2013, 13-15; LeFrançois et al. 2016, 2). Auch bei der Verwendung dieses Ansatzes sollten zunächst Begrifflichkeiten geklärt werden. Der Begriff mental illness impliziert, dass psychische Besonderheiten eine Abweichung von der Norm sind, ein Defizit darstellen und eben eine Krankheit sind, die behandelt und bestenfalls geheilt werden muss. Madness oder mental distress hingegen sind angeeignete und aufgewertete bzw. den psychischen Zustand beschreibende Begriffe, welche in den Mad Studies Eingang gefunden haben, um psychische Besonderheiten zu be-

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schreiben, ohne sie als Defekt zu charakterisieren. Dahingehend folgen die Mad Studies sowohl begrifflich als auch theoretisch den Dis/ability Studies, indem sie zwischen medizinischen Interpretationen und Modellen und einem sozialen Modell unterscheiden. Hier muss allerdings angemerkt werden, dass das soziale Modell der Dis/ability Studies lediglich als Anfangspunkt und theoretischer Rahmen dienen kann, um in der Zukunft ein eigenständiges, neues soziales Modell der Mad Studies zu entwickeln (Beresford 2002, 582-583). Ausgehend davon, dass sowohl das Verständnis und die Wahrnehmung von Behinderung als auch von körperlicher, geistiger und psychischer Beeinträchtigung historischen Veränderungen unterliegen, eröffnet sich eine Vielzahl von neuen Fragen und Perspektiven an die Geschichte. Dis/ability History stellt hier einen theoretischen und methodologischen Rahmen, um diese Fragen zu beantworten. Sowohl in der modern wie in der vormodern ausgerichteten Dis/ability History bilden Untersuchungen zu geistigen und psychischen Besonderheiten bisher wichtige Arbeitsschwerpunkte. Es bleibt abzuwarten, ob die Mad Studies in diesem Forschungsprogramm aufgehen oder sich mit eigenen historischen Perspektiven davon absetzen. Gerade der Fall von Hedwig Debbe zeigt auf, wie wichtig Dis/ability History für die Dis/ability Studies ist. Zum einen verdeutlicht das Material, in welcher zeitlichen und kulturellen Abhängigkeit und stetigem Verhandlungsprozess das Verständnis von krank/gesund oder normal/abweichend steht. Hedwig Debbe mag für unser heutiges Verständnis gar nicht so stark von gesellschaftlichen Normen abweichend gewesen sein, geschweige denn psychisch krank. Homooder Bisexualität sind in unserer Gesellschaft zwar nicht die Norm, aber dennoch normaler geworden. Als Krankheit oder „sexuelle Perversion“ werden sie wohl nur noch von unaufgeklärten Fundamentalisten gesehen, von denen es immer noch viele gibt. Zugleich lenkt Hedwig Debbes Geschichte die Aufmerksamkeit auf die Frage der (Selbst-)Wahrnehmung von psychischer Differenz. Wie Hedwig Debbe sich selbst nahmen auch einige andere in der Patientenakte erwähnte Personen sie nicht als psychisch krank wahr, andere hingegen schon. Es ist zu überlegen, inwiefern sich insbesondere die Mad Studies dafür eignen, diese Deutungsvielfalt und die damit verbundene uneinheitliche Begrifflichkeit genauer zu erkunden. Da diese Forschungsrichtung noch in ihren Anfängen steht, griffen wir im Projekt einstweilen auf die Theorien und die Methodik der Dis/ability Studies bzw. Dis/ability History zurück. In jedem Fall geht es darum herauszuarbeiten, welche Vorstellung, welche Wahrnehmung und welche Darstellung von körperlicher oder psychischer Differenz zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort herrschten, hier Anfang des 20. Jahrhunderts im St. Jürgen-Asyl bei Bremen. Weder Dis/ability History noch Mad Studies streben ret-

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rospektive Diagnosen an. Auch können und sollten wir uns kein Urteil bilden, ob Hedwig Debbe nun psychisch krank war oder nicht. Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Performance Studies kann der geschichtswissenschaftliche Erkenntnisgewinn in Form eines Theaterstücks öffentlich zugänglich gemacht werden. Die Idee, das heutige Gelände der psychiatrischen Klinik Bremen-Ost als Spielstätte zu nutzen, hat das Potential, den konstruierten Charakter von psychischer Differenz zu verdeutlichen: Wer damals als psychisch krank galt und in eben diesen Gebäuden interniert war, wird heute nicht notwendigerweise als psychisch krank eingestuft – vielleicht auch Hedwig Debbe nicht.

„… DIE SÜNDE DES ANDERSARTIGEN ZU RISKIEREN“: PERFORMANCE ALS VERKNÜPFENDES MEDIUM PRAKTISCH-ÄSTHETISCHER UND THEORETISCHEMPIRISCHER ARBEITSWEISEN (Annika Port) Das Zentrum für Performance Studies (kurz: ZPS) der Universität Bremen betrachtet sich als Schnittstelle zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (vgl. Seitz/Lagaay 2018). Studierende verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen finden sich im Studium der Performance Studies zusammen und erarbeiten zu den in ihren Studienbereichen theoretisch behandelten Themen und Theorien Performances auf Basis von erkenntnisversprechenden Schnittstellen der unterschiedlichen Wissensbereiche. Die Verknüpfung verschiedener Wissensformen steht so am ZPS im Mittelpunkt der universitären Ausbildung. Das hier dargestellte Projekt kann als exemplarisch für die Arbeit des Zentrums gesehen werden: Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Geschichtswissenschaft und Performance Studies fußt auf der Idee einer gemeinsamen Performance, welche miteinander und in Anbetracht der unterschiedlichen Perspektiven entwickelt wird. In welche Richtung sich die Performance jedoch entwickelt, ist stets erst innerhalb des Prozesses abzusehen und auch bei dem hier genannten Projekt noch nicht eindeutig. Momentan (September 2019) befinden wir uns noch im sogenannten Dramaturgie-Semester, in dem Grundsteine für die spätere Performance gelegt werden, welche erst im nächsten Semester inszeniert und im Frühjahr 2020 aufgeführt werden soll. Die Dauer dieses Vorhabens ist Teil des inszenatorischen Konzepts des ZPS, das insbesondere die Partizipation der Studierenden und die jeweiligen Perspektiven der diversen Studienbereiche in den Fokus

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der Arbeit nimmt, anstatt sich der zeitlichen Effizienz- und Zielorientiertheit anderer universitärer Vorhaben anzupassen. Die Vorbereitungen zu dem interdisziplinären Projekt starteten Anfang des Wintersemesters 2018. Die Geschichtswissenschaftlerin Cordula Nolte trat mit dem Wunsch einer theatralen Ausarbeitung einer historischen Patientenakte aus dem ehemaligen St. Jürgen-Asyl in Ellen an das ZPS heran. Die Projektleitung im ZPS – Annika Port, Anna Seitz9 und Simon Makhali10 – und Cordula Nolte erarbeiteten gemeinsam ein Konzept für ein interdisziplinäres, auf zwei Semester angelegtes Lehrmodul der Geschichtswissenschaft und der Performance Studies, wobei die Akte Basis einer Performance bilden sollte. Die dazugehörigen Lehrveranstaltungen im Sommersemester 2019 wurden eingeteilt in das ZPS-Seminar „Akten und Aktionen. Versuchsanordnungen zur Inszenierung dokumentarischer Texte“ und das geschichtswissenschaftliche Seminar „Geschichte performativ“. Den Historiker*innen kommt dabei die Arbeit der Transkription und der Hintergrundrecherche zu, während die Performenden diese Ergebnisse in einen theatralen Kontext einbetten. Dabei werden wir von Tobias Winter unterstützt, der für das Sommersemester 2019 und das Wintersemester 2019/2020 die Regie übernimmt11, und zwar in Zusammenarbeit mit der Regieassistentin Michèle Leder.12 Ausgehend von einigen Ausschnitten aus der Akte trafen sich die Studierenden der Performance Studies und die Studierenden der Geschichtswissenschaft Anfang des Sommersemesters 2019 zu einem Workshop, um sich darüber auszutauschen, wie die gemeinsame Arbeit zu strukturieren sei und welche Fragestellungen behandelt werden müssten. Nach der gemeinsamen Lektüre bereits transkribierter Auszüge, die die Historiker*innen für alle im Vornherein zur Ver-

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Anna Seitz ist Dramaturgin, Philosophin und Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin. Seit 2004 realisiert sie Tanz- und Theaterproduktionen auf nationalen und internationalen Bühnen. Innerhalb ihrer Dissertation forschte sie zur Performativen Forschung und Performanz in der Forschung.

10 Simon Makhali ist Dramaturg am ZPS, Performer und Ensemblemitglied des Theaters der Versammlung. Er arbeitet insbesondere an der Entwicklung von Veranstaltungsdramaturgien und performativen Lehr- und Lernformen. 11 Tobias Winter ist freier Regisseur und Choreograph in Berlin und Frankfurt für Sprech- und Musiktheater. 2014 gründete er theswarmcompany zur Weiterentwicklung und Forschung von Theater auf internationaler Ebene (https.//tobiaswinter.net). 12 Michèle Leder studiert Soziologie und Performance Studies an der Universität Bremen. Neben der Arbeit am Zentrum für Performance Studies engagiert sie sich in Kunst- und Performanceprojekten der Hochschule für Künste Bremen und kleiner alternativer Kulturzirkel.

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fügung stellten, kamen die Teilnehmenden schnell zu allgemeinen Fragen von Krankheit und Gesundheit. Die Studierenden der Geschichtswissenschaft, die sich zu der Zeit mit dem Ansatz der Dis/ability History vertraut machten, speisten ihre Erkenntnisse zur Historizität und kulturellen Gebundenheit von Vorstellungen über Krankheit, Gesundheit, Behinderung und Beeinträchtigung, Normalität und Abweichung in die Diskussion ein. Zu Beginn der gemeinsamen Arbeit waren die unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden Gruppen – Performende und Historiker*innen – sehr deutlich: Während die Geschichtswissenschaftler*innen vor allem an Fakten und belegbaren Umständen der damaligen Lebenswelt interessiert waren, fragten sich die Performenden, wie die Personen wohl gesprochen haben oder welche Haarfarbe die Protagonistin Hedwig Debbe hatte. Der vermeintlich unwissenschaftliche Blick der Performenden offenbarte jedoch, dass auch die objektiv geglaubte Perspektive der Historiker*innen von subjektiven Imaginationen geprägt ist. So gab es zum Beispiel Debatten über das Äußere der Patientin, die darauf hinwiesen, dass Wissenslücken unbeabsichtigt durch Vorstellungskraft gefüllt werden: Als die Haarfarbe diskutiert wurde, waren einige absolut sicher, dass sie nicht blond gewesen sein kann, wiewohl diese Aussage auf keinem Faktencheck beruhte. Dass die Studierenden sehr wohl von ihrem subjektiven Blick auf den Gegenstand geprägt waren, kam so erst durch den Austausch darüber zum Vorschein, wodurch die vermeintlich objektive Perspektive sich plötzlich als intersubjektiv offenbarte. Nicht verifizierte Aussagen werden so Teil der Geschichte (Historie und Narration). Die häufig als rein wissenschaftlich wahrgenommene Brille der Geschichtswissenschaft offenbart sich hier als höchst performativ, womit sich nach dem Aufgeführt-Sein von Wissenschaft per se fragen lässt und inwieweit Wissenschaft überhaupt als rein objektiv definiert werden kann. Objektivität als Maß einer guten Wissenschaft gerät so ins Wanken: „Dass Aufführungskünstler*innen im Theater sich exponieren und damit verletzbar machen, ist selbstverständlich, weil entscheidende Grundlage ihrer Profession. […] Und dass Forschung und Lehre in Hochschulen und an Akademien immer auch aufgeführt werden und dabei stets Verletzungsgefahr besteht, spüren alle Beteiligten täglich, ohne sich in der Regel mit den damit verbundenen Wirkungen und Konsequenzen auseinanderzusetzen.“ (Holkenbrink/Seitz 2017, 5)

Die im Workshop auftretende Verletzungsgefahr entstand durch die für die meisten Studierenden recht ungewöhnlich anmutenden Lehrmethoden. Ein Beispiel dafür bietet eine Übung, die Tobias Winter vorschlug. Dabei ordneten sich alle Teilnehmenden in einem Halbkreis an und waren aufgefordert, einzeln vor die

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anderen Teilnehmenden zu treten und, auf welche Art auch immer, ihr persönliches Interesse am Gegenstand, sprich der Akte, mitzuteilen. So einfach dieses Setting auch klingt: Eine der größten Herausforderungen für Spielende als auch für Forschende ist es, keinerlei Vorgaben, Requisiten, Zeitangaben etc. zu haben. Demzufolge unterschiedlich fielen sowohl die Interessensbekundungen als auch deren Aufführungen aus. Die Ausführungen waren sehr divers und teilweise auch kontrovers und führten zu kollektiven Diskussionen darüber, ob man sich zum Beispiel eine Liebesbeziehung mit der Patientin vorstellen könnte (die laut der Akte sexuell aktiv war und gar mehrfach Beziehungen zu Mitarbeiterinnen des Asylpersonals einging) und ob Hedwig Debbes Anziehungskraft allein auf das Äußere der Person zurückzuführen sei (in den Akten finden sich dazu nur ungenaue Angaben, und es liegen keine Bildquellen vor). Dabei war es wesentlich, den persönlichen Zugang aller an dem Projekt Teilhabenden mit in die weitere Proben- und Arbeitsplanung miteinzubeziehen. Es wurde deutlich, wie unterschiedlich die individuellen Beweggründe für die Teilnahme an den Seminaren und die Beziehung zu der Akte, respektive der Protagonistin, waren. Generelles Interesse an interdisziplinärer Zusammenarbeit und Forschung an historischen Akten wurden genauso genannt wie die intensive Auseinandersetzung mit Dis/ability- oder Gender-Themen und das explizite Interesse an der Patientin. Spannend ist hierbei auch, wie diametral zueinander angelegte Interessen, bedingt durch die unterschiedlichen Disziplinen, erkennbar werden. Während Historiker*innen anhand einer individuellen Patientenakte allgemeingültige Aussagen über die damalige Zeit, die Psychiatriegeschichte etc. erarbeiten wollen, suchen die Performenden nach den Besonderheiten, die die Geschichte der Patientin aufschließen und interessant für die theatrale Umsetzung machen können. Kurz gesagt könnte man von zwei binär zueinander geordneten Bewegungen sprechen: zum einen die Bewegung vom Besonderen zum Allgemeinen und zum anderen die Bewegung vom Allgemeinen zum Besonderen. Eben diese gemeinsame Bewegung – quasi das Heraus- und Heranzoomen– birgt das große Potential solch interdisziplinärer Projekte. Zumeist findet sich im universitären Kontext nur die erste Bewegung. Durch die Negation einer der beiden Bewegungen kommt es jedoch zu Abgrenzungen von Wissensformen, was eine Dialogizität von Forschung und Kunst unmöglich macht. Sich wie bei einem Pendel gegenseitig in die eine und andere Bewegung anzustoßen, wie bei dem hier präsentierten Projekt, ist ein seltenes Gut in der Wissenschaft und in der Kunst. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Umgang mit den in der Akte vorhandenen Widersprüchen und Lücken. Aus der Position der Geschichtswissenschaft als Hindernis für die weitere Forschung wahrgenommen, bergen gerade diese Ungereimtheiten aus der Sicht der Performenden dynamisierendes Potenti-

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al, das unumgänglich für den künstlerischen Schaffensprozess ist. Die eben dargestellte Übung kann als eine „Möglichkeit zur wechselseitigen ‚Abrüstung‘ als Einladung“ (Holkenbrink/Seitz 2017, 6) betrachtet werden. Anstatt den Konflikten, die in einer interdisziplinären Arbeit entstehen können, aus dem Weg zu gehen – indem man sich voneinander abgrenzt oder Unterschiede ausgeblendet werden –, hat das Fremde einen Raum bekommen, um betrachtet und kennengelernt zu werden. Der Workshop eröffnete somit einen Ort der gemeinsamen Verständigung, wodurch sich das Projekt als differenzbewusste Grenzüberschreitung zwischen praktisch-ästhetischen und theoretischen Arbeitsweisen manifestiert. Nachdem die ersten Pfeiler gesteckt worden waren, war insbesondere die Begehung des Aufführungsortes eine Exkursion, die das weitere Verfahren wesentlich mitbestimmte. Dabei sollte angeführt werden, dass ungewöhnliche Aufführungsorte ebenfalls zur Tradition des Theaters der Versammlung gehören, das in Bestattungsinstituten, aber genauso in verlassenen Häusern im Bremer Umland sowie auch in belebten Restaurants und in Seminarräumen Performances inszeniert und aufführt (dazu u.a. Günzel/Port/Storm 2018). Wir wählten als Aufführungsort für das Hedwig Debbe-Projekt eben jenen Ort, an dem sich die Patientin zu ihrer Zeit im St. Jürgen-Asyl aufhielt, nämlich das Gelände des heutigen Krankenhauses Bremen-Ost und das dort ansässige Krankenhaus-Museum mit seiner psychiatriegeschichtlichen Dauerausstellung, das Teil der KulturAmbulanz ist.13 Obwohl während der Weltkriege viele Gebäude des St. JürgenAsyls zerstört wurden, sind einige der Häuser, in denen sich die Personen aus der Akte bewegt haben, erhalten und werden auch heute noch als Teil der Klinik genutzt. Mit der KulturAmbulanz hat sich zudem auf dem Klinikgelände ein kulturelles Zentrum etabliert, das nicht nur die Geschichte der Psychiatrie veranschaulicht, sondern auch Ort für diverse Ausstellungen, Gesprächsabende, Musikevents, Aufführungen etc. ist. Dementsprechend fungiert die KulturAmbulanz als Schnittstelle zwischen der geschichtlichen und der künstlerischen Perspektive auf Psychiatrie, Klinik, Gesundheit, Krankheit und nicht zuletzt Gesellschaft. In Absprache mit und geführt von Achim Tischer, dem Leiter der KulturAmbulanz, besuchten die Studierenden und Lehrenden aus der Geschichtswissenschaft und den Performance Studies auf dem Gelände verschiedene potentielle Spielorte für die Performance. Wir wählten verschiedene Orte aus, an denen die Performance stattfinden wird, beispielsweise die Ausstellungsräume der KulturAmbulanz, eine Wiese des Klinikgeländes mit bewegbaren Steinkugeln, einen Baum und das Treppenhaus des zur KulturAmbulanz gehörenden Veranstaltungshauses (Haus im Park). Das dramaturgische Konzept der Performance bezieht sich auf die vier

13 https://www.kulturambulanz.de vom 30.09.2019.

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Aufenthalte der Patientin zwischen 1908 und 1912. Diese vier Aufenthalte strukturieren die insgesamt 13 Stationen, die das Publikum gemeinsam während der Performance erläuft. Somit ist es aktiv dazu eingeladen, den Spuren der Patientin, des Krankenhauspersonals und der anderen Figuren zu folgen. Gleichzeitig eröffnet sich das Klinikumsgelände als Ort, der durch die Performance einmal aus ganz anderem Blickwinkel betrachtet werden kann. Die dort vorhandenen Räume und Gegenstände werden als Bühnenbild und Requisit benutzt, wie etwa ein im Museumsdepot aufbewahrtes historisches Krankenbett oder eine Hecke, die als Kasperletheater umfunktioniert wird. Die auftretenden Figuren sind an die in der Akte vorkommenden Personen angelehnt. Dabei haben wir uns für eine Dreiteilung der Hauptfigur entschieden, um die unterschiedlichen Wesenszüge herauszuheben. Gleichzeitig ermöglicht es uns, die verschiedenen Hedwigs in Kontakt treten zu lassen, so dass sie sich gegenseitig unterstützen oder widersprechen können. Dies verhält sich kohärent zu den vielen Ungereimtheiten der Akte (Hedwig Debbe widerspricht sich selbst oder ihre Aussagen werden durch Aussagen Anderer als nicht zuverlässig eingestuft), hinterfragt homogene Subjektkonzepte, die Teil der misogynen Zurichtung der als moralisch unfähig bzw. hysterisch diagnostizierten Individuen sind und bietet diverse Perspektiven auf eine Person, die eben nicht naturalistisch und lebensecht aufgeführt, sondern in einen performativen Kontext des gesund/krank, normal/verrückt eingebettet wird.

ERKENNTNISINTERESSE, KREATIVE ARBEIT UND FAKTENCHECKS: ERFAHRUNGEN MIT UNGEWOHNTEN VORGEHENSWEISEN (Johannes Strauß) Am Anfang jeder Erkenntnis steht ein persönliches Interesse: der Wunsch des Forschers oder der Forscherin, neues Wissen zu erlangen oder ein besseres Verständnis für die eigene Umwelt zu bekommen sowie die neu erworbenen Kenntnisse auch anderen zu vermitteln. Im Studium beschränken sich die Möglichkeiten häufig auf das Belegen von Seminaren, in denen ein Semester lang etwas besprochen wird, bis man zu guter Letzt eine Hausarbeit zu einem Teilbereich des Themas schreibt, kurz ein Ergebnis präsentiert und dann mit ein paar Credit Points mehr auf dem virtuellen Konto beruhigt in die Semesterferien ziehen kann. So befriedigend das Gefühl einer guten Note für eine Hausarbeit auch ist, so beklemmend ist das Wissen, dass all die Arbeit letztlich doch nur die Dozen-

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tin bzw. den Dozenten erreicht und darüber hinaus als eine akademische Trockenübung in der Regel niemanden hinter dem Ofen hervorlockt. Natürlich ist das auch nicht anders zu erwarten; ein Erstsemester wird mit seiner ersten Hausarbeit nicht das Rätsel um den Verbleib des Bernsteinzimmers lösen. Trotzdem widerstrebt einem oft der Gedanke, nichts bewegt zu haben und niemandem die gewonnenen Erkenntnisse näherbringen zu können. Wenn man dann ein Seminar findet, das einen Ausbruch aus diesem steten Trott bietet, wird so mancher sofort hellhörig. Die Veranstaltung mit dem Namen „Geschichte performativ“ warb mit der Möglichkeit, ein ganzes Semester lang selbstständig und in Rücksprache mit der Studierendengruppe an einer historischen Quelle zu arbeiten, moderne Ansätze der Dis/ability History kennen zu lernen sowie mit interdisziplinären Methoden, nämlich der Aufbereitung und Veröffentlichung einer Quelle in Form eines Theaterstücks, Public History zu betreiben. Um es in den Worten eines Kommilitonen zu sagen „Bei diesem Seminar war von Vornherein klar, dass es in jeder Hinsicht anders sein würde“ (Alan Maciejewski). Es versprach die Verzahnung des häufig trockenen Alltags der historischen Forschung mit der kreativen Arbeit einer Theatergruppe. Obendrein lockten die dringend benötigten Credit Points sowie ein Ergebnis, das nicht als dünnes Heft Staub sammeln wird oder bis zu seiner Löschung als PDF auf einer Festplatte verbleibt. Kurzum: Das Projekt versprach eine spannende Abwechslung und wurde wohl vor allem deshalb von rund zehn Studierenden der Geschichtswissenschaft belegt, womit die vorgegebene Maximalzahl der Mitwirkenden ausgeschöpft war. Nach unserem ersten gemeinsamen Treffen war deutlich, dass dieses Projekt zwar reichlich neue Eindrücke und Erfahrungen zu bieten hatte, aber keineswegs auf die leichte Schulter genommen werden durfte. Im Hinblick auf den großen Zeitaufwand, der sich nicht an einem regulären Stundenplan mit festen wöchentlichen Seminarterminen orientieren würde, sondern selbstständig eingeteilt werden musste und Flexibilität erforderte, rückten ein paar Studenten von dem Seminar wieder ab, so dass ein harter Kern, bestehend aus sieben Studierenden und unserer Dozentin, übrig blieb. Was bei allen im Kurs für „Bauchschmerzen“ gesorgt hat, war die anfängliche Ungewissheit über die Art der Prüfungsleistung. Diverse Ideen, wie das Schreiben eines Blogs oder einer klassischen Hausarbeit, wurden diskutiert. Erst zwei Wochen vor Vorlesungsende beschlossen wir einstimmig, gemeinsam den vorliegenden Prozessbericht zu verfassen. Unsere Aufgabe bestand zunächst darin, die Patientenakte zu transkribieren. Hierzu wurde ein großer Teil der Akte in einzelne Abschnitte, bestehend aus einem oder mehreren Dokumenten, aufgeteilt, die dann von den Studierenden bearbeitet werden sollten. Um später ein einheitliches Ergebnis präsentieren zu

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können, wurden gemeinsam Regeln festgelegt, anhand derer die einzelnen Projektmitglieder ihre Texte zu bearbeiten hatten. Zur Orientierung dienten uns dabei die „Grundsätze für die Textbearbeitung im Fachbereich Historische Hilfswissenschaften“ der Archivschule Marburg.14 Nun ist Transkribieren etwas, das die meisten von uns noch nie zuvor gemacht hatten, auch wurde es sehr unterschiedlich wahrgenommen. Einigen von uns fiel der Zugang zu dieser Arbeit leicht, und entsprechend eifrig gingen sie ans Werk, andere dagegen hatten große Probleme beim Lesen der alten Texte, von denen viele handschriftlich und in „deutscher Schrift“ bzw. „deutscher Schreibschrift“ (später als Sütterlin bezeichnet) verfasst worden waren. Da unsere Dozentin in einem vorangehenden Forschungs- und Lehrprojekt (Nolte/Horn 2018) einzelne Dokumente bereits grob erfasst hatte, konnten wir immer wieder auf diese vorläufigen und unvollständigen Transkriptionen zurückgreifen. Dies sorgte streckenweise für eine gewisse Entlastung, nahm uns aber selbstverständlich nur einen kleinen Teil der Arbeit ab. Zur Lösung der Aufgabe zogen einige Studenten auch Hilfe von außen heran. Da wurden Großeltern gefragt, alte Kontaktlisten entstaubt und Telefonate mit Freunden der Eltern geführt. Hier zeigte sich mal wieder, dass Lösungen durchaus auch abseits der ausgetretenen Pfade zu finden sind und man sich nicht scheuen sollte, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Selbstverständlich wurden auch im Internet Anleitungen zum Entziffern von Sütterlin gesucht und gefunden. 15 Mit dem Gebrauch von Transkriptionshilfen, Worttabellen, Buchstabentafeln sowie der gemeinsamen Entzifferung besonders schwieriger Stellen entwickelte sich mit der Zeit das endgültige Transkript, auf dessen Basis auch das Theaterstück entwickelt wird. Eine Kommilitonin pflegte alle Teilstücke in eine Gesamtdatei ein, die über die netzbasierte Lernplattform Stud-IP für eine Seminarteilnehmenden abrufbar ist. Eine Dropbox ermöglichte es uns, der Theatergruppe sukzessive unsere Teiltranskripte sowie zusätzliche Informationen und Dokumente schnell zu übermitteln und im Austausch Materialien der Performenden zu erhalten. Noch sind allerdings nicht alle Schriftstücke vollständig transkribiert, da aus arbeitsökonomischen Gründen zunächst nur die besonders wichtig erscheinenden Dokumente bearbeitet wurden. Es besteht also die Möglichkeit, dass noch ausstehende Transkriptionsarbeiten ergänzende Informationen zu Fragen liefern, die

14 https://www.archivschule.de/uploads/Ausbildung/Grundsaetze_fuer_die_Text bearbeitung_2009.pdf vom 30.09.2019. 15 http://www.suetterlinschrift.de/Lese/Sutterlin0.htm

und

https://suetterlinstube.de/

download/alpha.pdf vom 30.09.2019. Vgl. auch https://upload.wikimedia.org/wiki pedia/commons/c/c8/Suetterlin_with_block_letters_and_specials.svg vom 30.09.2019.

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wir bislang nicht restlos klären konnten, oder dass neue Facetten des Geschehens zu Tage treten. Die Ergebnisse unserer Texterschließung besprachen wir in unregelmäßigen Abständen in der Universität, wo sich nach anfänglichen Startschwierigkeiten schnell ein für Projektgruppen typisches Arbeitsklima einstellte. Das Engagement und die individuellen Kompetenzen waren zeitweise etwas ungleich verteilt, so dass einige Aufgaben neu vergeben werden mussten. Auch zeigte sich, dass es ohne eine wöchentliche Seminarroutine schwierig sein kann, Absprachen und Deadlines einzuhalten und gemeinsame Termine zu finden – obwohl viele Mittel der modernen Kommunikation wie Mobiles, WhatsApp, E-Mail genutzt wurden. Auch bei der Verständigung zwischen den beiden verzahnten Seminaren wurden nicht alle ursprünglich eingeplanten Medien verwendet. So wurde zwar eine große Pinnwand aufgestellt, an der nach und nach alle neuen Informationen gesammelt werden sollten. Alle Beteiligten sollten die Möglichkeit haben, gedankliche Verknüpfungen auf der Pinnwand mit Stiften, Zetteln, Fäden oder dergleichen direkt darzustellen. Das so entstehende Mind Map wäre sicher sehr hilfreich beim Nachvollziehen abstrakter Gedankengänge gewesen – doch die Pinnwand blieb leer. Phasenweise kam die Arbeit zwar langsamer als erwartet voran, dennoch konnte vielen Fragen nachgegangen werden, und es wurden teils bemerkenswerte Erkenntnisse zu Hedwig Debbes Biographie vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse gewonnen. Eine Studentin zeichnete den Lebensweg, den Hedwig Debbe laut ihrer Akte zurückgelegt hatte, anhand einer Landkarte nach. Eine andere machte Hedwig Debbes letzte Ruhestätte ausfindig, so dass wir durch die Inschrift auf dem Grabstein („unsere liebe Mutter Hedwig Debbe“) angeregt wurden, unsere Thesen zu ihren existenten oder imaginierten Kindern zu überdenken. Wieder ein anderer beschäftigte sich mit Hedwig Debbes Familienverhältnissen und förderte neue Informationen über ihren Vater, Christoph (Christoffer) Wessel Debbe, zu Tage. Diese Informationen aus individuellen Recherchen wurden zusammengetragen und ausgewertet, wodurch sich viele neue Erkenntnisse ergaben, allerdings auch vieles nach kritischer Betrachtung wieder verworfen werden musste. In Anbetracht dieser Eindrücke veränderte sich zunehmend das Bild, das wir anfangs von Hedwig Debbe, ihren Lebensumständen und ihrer Familie hatten. Zu Beginn schien für uns klar, dass die junge Frau eindeutig das Opfer ihrer Zeit war, das heißt der Konventionen einer patriarchalischen Gesellschaft, die Frauen strikt bemessene Handlungsspielräume einräumte, sie rigiden Moralansprüchen unterwarf und diejenigen, die auszubrechen versuchten, mit Sanktionen bedroh-

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te.16 In einer solchen Situation wähnten wir Hedwig Debbe zu Beginn unserer Recherchen: eine junge und lebenslustige Frau, die gerne mal einen trinkt und nicht den sexuellen Zwängen ihrer Zeit gehorchen möchte, ein Freigeist also. Ein Mensch, der eine recht gute Schulbildung genossen hat und auch in den Gesprächen mit den Ärzten im St. Jürgen-Asyl immer wieder Heiterkeit und Gelassenheit zum Ausdruck bringt. Und diese Frau wird jetzt durch die Initiative des eigenen Vaters entmündigt und muss sich in eine Anstalt für Geisteskranke begeben, um zu beweisen, dass sie eben nicht verrückt ist und dass das amtsgerichtliche Entmündigungsverfahren keineswegs angemessen, ja sogar rechtswidrig ist. Hält man sich dann noch ihre schmächtige körperliche Statur und ihren ansprechend wirkenden Charakter, der aus manchen ihrer Selbstäußerungen hervorgeht, vor Augen, ist die eigene Meinung schnell gefasst: Hedwig Debbe erleidet unschuldig und zwangsweise eine Behandlung, die auf sexueller Prüderie, patriarchalischem Machtgebaren und gesellschaftlicher Verbohrtheit fußt. Sie selbst erhebt schwerste Vorwürfe gegen den Vater und stellt ihn als einen Trinker und Tyrannen dar. Ein dramatisches Bild ihrer seelischen und körperlichen Verfassung – Verzweiflung, Sehnsucht, Gewichtsverlust wegen der schlechten Verpflegung, erzwungene Bettruhe – zeichnet Hedwig Debbe in einigen Briefen unter anderem an den Vater. Besonders herzzerreißend wirkt der Briefwechsel zwischen der Patientin und ihrem Verlobten Franz; darin erwähnen die beiden das gemeinsame Kind. Während wir bei den Briefen an und den Aussagen über Christoffer Debbe noch von Hedwig Debbes Glaubwürdigkeit ausgingen bzw. annahmen, man könne ihre Sichtweise mit Empathie nachvollziehen, wurden wir spätestens bei dem Schreiben an ihren Verlobten hellhörig. Denn in Gesprächen mit den verantwortlichen Ärzten gab Hedwig Debbe wiederholt zu, in Bezug auf die Geburten nichtehelicher Kinder gelogen zu haben. Anscheinend hatte sie die Existenz dieser Kinder, angeblich 1907 und 1911 geboren, schlichtweg erfunden. Das sorgte natürlich für nachdenkliche Blicke in unseren Reihen und für wachsendes kritisches Bewusstsein. Wie viel Wahres ist eigentlich an Hedwig Debbes Behauptungen? Sobald diese Skepsis im Raum stand, löste sich eine regelrechte Lawine aus neuen Fragen, und der Blick auf Hedwig Debbes Geschichte(n) änderte sich. Da war zunächst die Frage, ob ein Verlobter namens Franz überhaupt existiert hat. Sie nennt ihn nie mit seinem Nachnamen, was eine eindeutige Zuordnung erschwert. Eine Kommilitonin äußerte den Verdacht, Hedwig Debbe könnte die Briefe des vermeintlichen Franz durchaus auch selbst geschrieben haben, aber mit ihrer linken Hand (vgl. Johanning 2005, 92). Nun sind wir Stu-

16 Zum Geschlechterverhältnis um 1900 vgl. Johanning 2005, 13-14.

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denten allesamt keine Schriftexperten und konnten einen eindeutigen Schriftvergleich nicht vollziehen. Die Idee, dem noch einmal genauer nachzugehen, eventuell mit Hilfe des graphologischen Gutachtens eines Experten, ist jedoch nicht vom Tisch. Im Verlauf der Diskussion um den Verlobten geriet ein weiterer Mann aus Hedwig Debbes Umfeld ins Zentrum der Debatte und zwar ihr Vater, dessen Handlungsmotivation plötzlich nicht mehr ganz so eindeutig erschien, wie wir zunächst angenommen hatten. Die Informationen aus einigen zusätzlich herangezogenen Quellen, die einen neuen Zugang zu Christoffer Debbe ermöglichten, enthielten auch keine Hinweise auf seine übermäßige Strenge und Härte, ganz im Gegenteil. Wir fanden heraus, dass er nicht nur politisch ausgesprochen liberal aufgestellt war, sondern dass er als Direktor einer Privatschule (der Debbeschen Schule) ursprünglich auch dort ein gemäßigtes Konzept vertrat. Sein „Programm der Realschule von C. W. Debbe zu Bremen“ enthält auch Ratschläge und Hinweise für Eltern, die über den damals üblichen schulischen Alltag hinausgehen.17 Abgerundet wird das Bild seiner Persönlichkeit durch ein langfristiges Engagement in der bremischen Bürgerschaft sowie bei den Freimaurern. All diese Informationen verschoben unsere Meinung über Hedwig Debbe und ihre Lebenssituation grundlegend: Der Vater erschien nicht länger als misogyner und autoritärer Familientyrann, sondern als überforderter Vater, der sich im Kontext seiner Zeit nicht mehr anders zu helfen wusste, als seine delinquente, nicht zähmbare Tochter entmündigen zu lassen, um sie vor weiterem Schaden zu bewahren. Einen wichtigen Anstoß zu diesen Überlegungen lieferte Peter Schmiedebach, ein Arzt und Medizinhistoriker, der sich intensiv mit Psychiatriegeschichte beschäftigt hat und bei einer Theaterprobe samt Diskussion der Performenden und Historiker*innen beratend zu Gast war. Peter Schmiedebach machte uns darauf aufmerksam, dass Hedwig Debbes Verstöße gegen gesellschaftliche Normen, insbesondere der ihr unterstellte Hang zum Stehlen und zu anderen Eigentumsdelikten, durchaus strafrechtliche Konsequenzen hätten nach sich ziehen können. Um eine Inhaftierung zu verhindern, ließ möglicherweise Christoffer Debbe seine Tochter also entmündigen, um sie später in einer Psychiatrie unterzubringen in der Hoffnung, dort könne ihr geholfen werden oder sie sei dort zumindest sicher verwahrt.18 Selbstverständlich lässt sich über das tatsächliche

17 http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ulbdsp/periodical/titleinfo/3676845

vom

30.09.2019. 18 Vgl. Hermes 2012, 75, zur strafrechtlichen Bedeutung psychiatrischer Gutachten: „Spätestens seit der Einführung der Reichsstrafgesetzordnung von 1871 wurden sie

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Verhältnis zwischen Hedwig Debbe und ihrem Vater nach all den Jahren kein eindeutiges Urteil mehr fällen. Unsere zwischenzeitlich positivere Sicht der väterlichen Rolle wurde durch einen jüngst recherchierten Nachruf auf Christoffer Debbe erneut verändert. Diesem zufolge kamen mit dem Niedergang seiner Schule im ausgehenden 19. Jahrhundert „manche unliebenswürdigen Seiten seines Wesens zum Vorschein“, nämlich Schroffheit, Rücksichtslosigkeit, Ungerechtigkeit und Jähzorn im Umgang mit den Lehrern. Diese Charakterisierung sowie die Aussage, seine „geistige Kraft“ sei im Alter nach einem Schlaganfall getrübt gewesen (Gerdes 1914, 199-200), wiederum stimmen überein mit dem Bild, das Hedwig Debbe von ihrem Vater entwirft. Die Kooperation zwischen den Studierenden der Geschichtswissenschaft und den Mitgliedern des Zentrums für Performance Studies – Studierende, Lehrbeauftragte, Regisseur – nahm körperliche Konturen an, als die beiden Lehrveranstaltungen erstmals zusammengelegt wurden. Das erste Zusammentreffen mit der Theatergruppe war für diejenigen unter uns, die nicht viel Erfahrung mit der Welt des Theaters hatten, eine wahre Überraschung, denn die Arbeitsweise unterscheidet sich von unserer grundlegend. So stehen bei den Performenden Darstellung und Kreativität im Fokus des Geschehens, während unsere Historiker*innenrunde bei jeder Idee erst die Faktenlage prüfen musste. Gleich in der ersten gemeinsamen Sitzung wurden die Unterschiede sehr deutlich. Die Performenden und wir Seminarteilnehmer*innen setzten uns in einem großen Stuhlkreis zusammen, und jeder einzelne trat nacheinander vor die Runde und stellte sich vor. Schon an der Art, wie sich die Leute vorstellten, wurde deutlich, wer zu welcher Gruppe gehörte. Wo die Historiker*innen nur kurz ihren Namen nannten und ihre Motivation zur Mitarbeit darlegten, führten die Performenden kleine Kunststücke oder improvisierte Theatereinlagen, wie Pantomimen oder einen Monolog, auf. Die Reaktion unserer Historiker*innengruppe war sehr unterschiedlich: Einige von uns zeigten sich interessiert an dieser alternativen Herangehensweise, andere dagegen fühlten sich davon abgeschreckt; es sei zu diffus und stelle die persönlichen Gefühle in den Vordergrund, ein Historiker bzw. eine Historikerin versuche doch immer, ein möglichst neutrales Bild der vergangenen Ereignisse und der historischen Akteur*innen zu erlangen. Der Regisseur Tobias Winter stellte darüber hinaus unterschiedliche Fragen an diejenigen, die gerade vor der Gruppe standen. Diese

von Gerichten zur Beurteilung der Zurechnungsunfähigkeit eines Angeklagten bei Zweifeln an seinem psychischen Zustand zum Zeitpunkt der begangenen Straftat angefordert.“ Die in der Akte erwähnten Gerichtsverfahren gegen Hedwig Debbe und ihre „Komplizinnen“ wurden eingestellt.

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Fragen drehten sich um Hedwig: „Denkst du, dass Hedwig attraktiv war?“, oder „Könntest du dir vorstellen, dich in Hedwig zu verlieben?“ Diejenigen von uns, denen die Arbeitsweise der Performenden ohnehin schon suspekt war, empfanden diese Fragen als unsinnig und sogar schädlich für die vor uns liegende Arbeit. Sie argumentierten, dass diese Verschmelzung von Hedwig Debbe und denjenigen, die anhand der verbliebenen Dokumente und deren Analyse versuchen, ihre Geschichte nachzuvollziehen, den professionellen Abstand zu überwinden sucht und die historische Differenz zu stark relativiert. Im weiteren Arbeitsverlauf zeigte sich jedoch schnell, dass diese Sorgen unbegründet waren, zumal wir Geschichtsstudierenden unsere Forschungen weiterhin auf die Füße des fachhistorischen Arbeitens stellten, die Performenden sich mit unseren Ergebnissen auseinandersetzten und das Verständnis für die Vorgehensweisen des jeweils anderen Fachs wuchs. Die letzten Zweifel und Ressentiments räumte schließlich unser Besuch bei einer Probe der Theatergruppe aus. Da ich einer der vehementesten Zweifler war, war die Überraschung über die Ereignisse während dieser Probe für mich umso größer. Zu Beginn des Abends ließ sich meine Einstellung durchaus als feindlich gegenüber der Methodik des Theaters bezeichnen. Ich sah darin eine Verwässerung unserer Arbeitsweise; obwohl ich natürlich wusste, dass ein Theaterstück letztlich das Ergebnis auch unseres Seminars darstellte, konnte ich mich mit der bis dato gezeigten Vorgehensweise der Performenden nicht anfreunden und hegte geringe Erwartungen. Entsprechend groß war meine Verwunderung, als sich dieser Probenabend zweifellos als eine der unterhaltsamsten und instruktivsten Veranstaltungen entpuppte, die ich an der Uni je besucht habe. Dabei fand an diesem Abend lediglich eine noch sehr offene und vorläufige Probe statt, die noch in eher lockerem Zusammenhang mit der eigentlichen Handlung des Stücks stand. Mir persönlich hat dieser Abend viele neue Eindrücke vermittelt und außerdem verdeutlicht, dass Methoden und Ansätze sich grundsätzlich unterscheiden können, aber sich deshalb noch lange nicht gegenseitig ausschließen müssen. Seit diesem Abend betrachte ich ebenso wie meine Mitstudierenden aus der Geschichtswissenschaft die Leistung der Performenden als wichtige Ergänzung unserer Methoden und umgekehrt. Entsprechend resümiere ich diesen Abend als besonders wichtigen Schritt im Verlauf des gemeinsamen Arbeitens.

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WORK IN PROGRESS: ZWISCHENBILANZ UND AUSBLICK (Johannes Strauß und Cordula Nolte) Beim gegenwärtigen Projektstand lässt sich festhalten: Das Semester liegt jetzt hinter uns; die Erschließung der Akte war ein hartes Stück Arbeit, das wir gemeinsam vollbracht haben. Und doch ist das Vorhaben noch lange nicht abgeschlossen, so dass auch im jetzt anlaufenden neuen Semester noch viel zu tun ist bis zur Premiere im April 2020. Es gibt noch einzelne Aktenstücke, die wir derzeit transkribieren. Da sich im Rahmen des geschichtswissenschaftlichen Anschlussseminars, das nun auf „Geschichte performativ“ folgt, die Gruppe der Historiker*innen um neue Mitglieder erweitert hat, müssen diese im Umfang mit Archivalien noch vergleichsweise unerfahrenen Studierenden sich rasch in die Materie, die Methoden und die handwerklichen Techniken einarbeiten. Diversen Ideen zu Recherchen konnte noch nicht in vollem Umfang nachgegangen werden. Zum Beispiel haben wir noch keine Rückmeldung der Freimaurerloge erhalten, in der Hedwig Debbes Vater Mitglied war, weshalb die Hoffnung, dort könnten sich weitere Spuren seines Lebens finden lassen, immer noch existiert. Auch potentielle Nachfahren der Familie Debbe im Bremer Raum haben sich auf eine kürzlich gestellte Anfrage noch nicht gemeldet. Systematische Recherchen zu etlichen Fragekomplexen laufen derzeit unter Leitung der Historikerin Thekla Keuck an, die langjährige inner- und außeruniversitäre Expertise im Feld Public History hat. Wir möchten zum Beispiel Details der familiengeschichtlichen Zusammenhänge und der weiteren Lebensgeschichte der Hedwig Debbe ebenso in Erfahrung bringen wie die Karrieren der behandelnden Ärzte näher beleuchten und die Frage beantworten, ob der Anstaltsdirektor Anton Delbrück auf der Basis seiner handschriftlichen Vermerke und Anstreichungen in Hedwig Debbes Akte den Fall zu einem späteren Zeitpunkt in einer Publikation aufgegriffen hat.19 Die Theatergruppe ist inzwischen aus der Phase der Vorproduktion in die Inszenierungsphase fortgeschritten. Das Textbuch „steht“ weitestgehend, wenngleich dieser Tage bei der Transkription der letzten Aktenstücke immer noch aussagestarke und erhellende Passagen auftauchen, die unsere Interpretation der Vorgänge verändern und aus Sicht der Historiker*innen wie der Theatergruppe in die Rollen integriert werden sollten. Somit müssen sich die Akteur*innen auf der Bühne momentan bei den Proben noch auf eine vorläufige Fassung einlas-

19 Vgl. Delbrücks Publikationsverzeichnis bei Kreuter 1996, 247.

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sen. Zu den besonderen Herausforderungen der Performenden gehört es ferner, die verschiedenen Stationen der Aufführung so zu gestalten, dass sie für das Publikum barrierefrei zugänglich sind. Da eine der Räumlichkeiten für Gäste im Rollstuhl nicht entsprechend umgebaut werden kann, sollen die hier gespielten Szenen per Videoübertragung nach außen vermittelt werden. Damit von den Aufführungen nachhaltig etwas bleibt, haben die Projektmitglieder kürzlich verabredet, gemeinsam eine Begleitpublikation zu erarbeiten, die das Publikum mit den Eintrittskarten erwerben kann: zum Nachlesen der historischen Hintergründe des „Falls“ Hedwig Debbe, zur Information über aktuelle Forschungsansätze wie Dis/ability History und über interdisziplinäre, kreative Herangehensweisen im Schnittfeld von Kunst und Wissenschaft sowie zur anschaulichen, auch für interessierte Laien verständlich aufbereiteten Präsentation ausgewählter Materialien aus der Akte.20 Dafür müssen Photographien von Schriftstücken oder Textpassagen mit Transkriptionen und erklärenden Kommentaren versehen werden. Zumindest Teile dieser Begleittexte möchten wir gern in Leichter Sprache formulieren und damit dem Wunsch des Landesbehindertenbeauftragten Joachim Steinbrück nachkommen, der die Produktion der Broschüre finanziell fördert. Die Studierenden erwerben mit der Erarbeitung dieser Publikation, die optisch und inhaltlich mit weiteren Medien der Aufführungswerbung (Plakate, Flyer etc.) abgestimmt wird, praktische Erfahrungen im History Marketing, einem zentralen Faktor der Public History. Zugleich bietet sich damit einmal mehr die Gelegenheit, Credit Points für Prüfungsleistungen jenseits traditioneller Formate zu sammeln – ganz zu schweigen davon, dass das eingangs erwähnte persönliche Interesse am Thema, an der Person Hedwig Debbe, an ihrem Leben, ihrer Familie und der sie umgebenden Gesellschaft, das Grundvoraussetzung für die Gewinnung neuer Erkenntnisse ist, mit einem größeren Publikum geteilt werden kann. Das Projekt, die Akte mit geschichtswissenschaftlichen und theatralen Mitteln performativ zu erkunden, mündet also in eine Dokumentation, die den Arbeits- und Erkenntnisprozess dauerhaft und allgemein zugänglich bewahrt.

20 Während der Drucklegung dieses Bandes nimmt das Begleitheft zusehends Gestalt an. Einige Passagen unseres Aufsatzes werden darin übernommen.

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Blinde und sehbeeinträchtigte Menschen im Museum: Zugänglichkeit, Vermittlung und Identitätsbildung Patrícia Roque Martins (aus dem Englischen übersetzt von Cordula Nolte)

EINLEITUNG In modernen westlichen Gesellschaften wurde die kulturelle Repräsentation von disability durch Modelle und Kategorisierungen, allen voran durch das medizinische Modell, geprägt, die die Entstehung diskriminierender Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit disability in verschiedenen sozialen Zusammenhängen verstärken. Diese Praktiken gehen einher mit negativen Einstellungen gegenüber disability, mit Befürchtungen, Vermutungen und Ängsten, die wiederum den Umgang zwischen Menschen mit und ohne disability bestimmen So stellten Barnes und Mercer vor einigen Jahren fest, dass Menschen mit disability im Fernsehen eindimensional dargestellt werden, mit dem Schwerpunkt „on criminality and deviance, or the barely human, powerless and pathetic. The most prevalent storylines involving disabled people focus on medical treatment or cure or on an individual’s ‚special achievements‘. They are not depicted as ordinary members of society, engaged in everyday activities, but are exploited to evoke emotions of pity or fear, or contribute to an atmosphere of mystery, deprivation or menace“ (Barnes/Mercer 2010, 189).

Dies entspricht der bisherigen kulturellen Repräsentation von disability in unserer Gesellschaft. Man kann Gesellschaft als ein „system of interrelationships“ (Giddens 1989, 32, hier zitiert nach Barnes/Mercer 2010, 186) verstehen, das gemeinsam von denen verwirklicht wird, die eine ähnliche Kultur teilen. Dies geschieht

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mittels einer Reihe von „signifying systems“, durch die Praktiken, Bedeutungen und Werte „communicated, reproduced, experienced and explored“ werden (Williams 1981, 13, hier zitiert nach Barnes/Mercer 2010, 186). In diesem Zusammenhang muss darüber nachgedacht werden, inwiefern die Identität einer Person mit disability durch ausnehmend negative Bedeutungen erzeugt und aufrechterhalten wird. In der Welt der Museen hat die gesellschaftliche Symbolik der Blindheit zu einer Trennung zwischen Kunstmuseen und blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen geführt. Als Hauptgrund für diesen Beziehungsabbruch gilt die Unfähigkeit zu sehen (Moraes 2010). Zwar wurden Verbesserungen des physischen und kommunikativen Zugangs zu Museen als Lösungsstrategien für diese Problematik vorgeschlagen (Bird/Mathis 2003, Cano 2002, Lucerga 1993, Mineiro 2004 und 2017). Statistische Untersuchungen wie etwa die in Portugal durchgeführte Analyse „Disability Rights Promotion International. Relatório Final“ (Pinto 2012) haben jedoch gezeigt, dass vielmehr die gesellschaftliche Partizipation für Menschen mit disability entscheidend für die Wahrnehmung ihrer Menschenrechte ist. Der erwähnte Bericht dokumentiert Erfahrungen des Entzugs und der Vorenthaltung von Rechten, die üble Auswirkungen und vielfältige Nachteile für die Lebensqualität und das Wohlergehen beeinträchtigter Menschen in Portugal haben. Es lohnt sich daher, die Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne disability zu betrachten, genauer gesagt: danach zu fragen, welche Praktiken, Bedeutungen und Werte in einem gemeinsamen Umfeld ausgetauscht, reproduziert, erfahren und erkundet werden. Insbesondere stellt sich die Frage, welche Rolle Museen bei der Herstellung, Aufrechterhaltung und Stärkung von Identitäten blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen bisher gespielt haben und zukünftig spielen können. Gibt es Besonderheiten, die Museen mit Sammlungen der bildenden Künste berücksichtigen sollten? In diesem Beitrag plädiere ich dafür, die kulturell etablierte soziale Bedeutung von disability im museologischen Kontext neu zu gestalten, um die erwähnten Probleme zu bewältigen. Insbesondere möchte ich die Möglichkeiten einschätzen und würdigen, die das Bündnis zwischen geschichtlich-künstlerischem Erbe und der Entwicklung inklusiver Praktiken bietet. Dieser Zusammenschluss kann neue Wirklichkeiten und positivere Identitäten auf Seiten blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen hervorbringen. Daher behandle ich wesentliche Aspekte, die Verbesserungen des Zugangs dieser sozialen Gruppe zu portugiesischen Museen bewirkt haben. Ich werde untersuchen, welche Bedeutung diese Zugänglichkeit für die Identitätsbildung dieser Gruppe hat. Der Beitrag gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Teil thematisiert mögliche Beziehungen zwischen Kunstmuseen und blinden bzw. sehbeeinträchtigten

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Menschen, indem er Fragen eines inklusiven Zugangs, den das ästhetische Potential von Ausstellungsobjekten eröffnet, analysiert. Zu diesem Zweck stelle ich eine Fallstudie vor, die am Calouste Gulbenkian Museum – Modern Collection (Museu Calouste Gulbenkian – Coleção Moderna) in Lissabon entwickelt wurde. Sie befasste sich mit einer Ausstellung des portugiesischen Surrealisten Fernando Azevedo (1923-2002) und war Bestandteil eines Dissertationsprojekts über disability, Zugänglichkeit und Inklusion in Kunstmuseen (Martins 2017). Ich präsentiere Stellungnahmen von Mitwirkenden, Berichte und selbstorganisierte Aktionen einer Gruppe von blinden Menschen, die an dieser Studie teilgenommen und unsere Kenntnisse auf diesem Gebiet bereichert und erweitert haben. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht die Repräsentation von disability in Museen. Es geht darin vor allem um Objekte, die dieses Thema berühren und zur Entstehung sozialer Kategorien in Bezug auf Menschen mit disability beigetragen haben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Forschungen zu den musealen Sammlungen des Directorate General for Cultural Heritage (Direção Geral do Património Cultural, DGPC) von Portual. Überlegungen dazu, wie disability in museologischen Diskursen und Praktiken erkundet wurde, sollen zu Vorschlägen für positive und innovative Interpretationen anregen. Letzlich möchte mein Beitrag zu einem neuen Bewusstsein von disability in unserer gegenwärtigen Gesellschaft beitragen.

BEZIEHUNGEN ZWISCHEN KUNSTMUSEEN UND BLINDEN BZW. SEHBEEINTRÄCHTIGTEN MENSCHEN – ANSÄTZE ZUR ZUGANGSVERBESSERUNG In der Welt der Museen werden die derzeit bestehenden Beziehungen zwischen Kunstmuseen und blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen im Allgemeinen von Diskriminierung und Zugangsschwierigkeiten bestimmt. Die museologische Praxis in Portual belegt diese Probleme: Der Mangel an Ressourcen und Serviceangeboten für diese Publikumsgruppe spiegelt Ungleichheiten im Umgang mit Besuchern, die im institutionellen Alltag ständig untermauert werden, vor allem durch die Art und Weise, wie Leitlinien entworfen und Ressourcen verteilt werden. Diese Problematik wird durch Praktiken der Museumsexpert*innen weiter verstärkt: Die Organisation, Präsentation und Interpretation von Ausstellungen spiegelt Ungleichheiten im Umgang mit dem Publikum. Einige portugiesische Museen haben sich bemüht, den Bedürfnissen von Menschen mit disability in Bezug auf Zugänglichkeit zu entsprechen. Es gibt inzwischen deutlich mehr Maßnahmen zur Zugangsverbesserung. Beispielsweise hat

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das National Tile Museum (Museu Nacional do Azulejo) in Lissabon speziell für blinde bzw. sehbeeinträchtigte Besucher*innen Dienstleistungen und Mittel entwickelt.1 Im Rundgang durch die Dauerausstellung gibt es eine Reihe von Hilfsmitteln zur taktilen und auralen Erkundung. In neu entwickelten Workshops können die Besucher*innen sich mit den Materialien und Techniken, die bei der Herstellung von Kacheln verwendet werden, vertraut machen. Andere portugiesische Museen haben, um Zugang zu gewährleisten, Unterrichtsprogramme entwickelt und die Gebäude mit architektonischen Maßnahmen zugänglicher gemacht, so etwa das Machado Castro National Museum (Museu Nacional Machado Castro2) in Coimbra, das Batalha Municipal Community Museum (Museu da Comunidade Concelhia da Batalha3) in Batalha, das Modern Art Serralves Museum (Museu de Arte Contemporânea de Serralves 4) in Porto und das Calouste Gulbenkian Museum (Museu Calouste Gulbenkian5) in Lissabon (Martins 2016). Dennoch fehlen weiterhin notwendige Voraussetzungen dafür, dass diese Gruppe Museen wirklich gewinnbringend besuchen kann. Die Einführung des Zugänglichkeitsgesetzes in Portugal, mit der Verordnung 163/2006 und der anschließenden Nachbesserung, erwies sich als unzureichend, obwohl dadurch die Lebensqualität von Menschen mit disability verbessert werden sollte. Der Bericht „Disabled people in Portugal – Human Rights Indicators 2017“ (Pessoas com deficiência em Portugal – Indicadores de Direitos Humanos 2017, Observatório dos Direitos Humanos, 2017) zeigte, dass besonders viele Beschwerden über Diskriminierung das Gebiet der Zugänglichkeit betreffen. Tatsächlich fehlt es in portugiesischen Museen an Mitteln, die Besucher*innen mit disability den Zugang zu Museen und Ausstellungen in gleicher Weise ermöglichen sollen wie Besucher*innen ohne disability. Im Vergleich mit der internationalen Museumswelt mangelt es an Zugangsangeboten auf verschiedenen Ebenen wie etwa der Architektur, dem Ausstellungsdesign, der Kuratierung, dem Marketing, der Kommunikation und der Bildungsprogramme.

1

http://www.museudoazulejo.gov.pt/pt-PT/ExposAct/ServEduc/NecEspeciais/ContentList.aspx vom 15.05.2019.

2

http://www.museumachadocastro.gov.pt/pt-PT/Inclusao/ContentList.aspx

vom

15.05.2019. 3

http://www.museubatalha.com/recursos-de-acessibilidade-solucoes-inclusivas

vom

15.05.2019. 4

https://www.serralves.pt/pt/educacao/grupos-com-necessidades-especiais/

vom

15.05.2019. 5

https://gulbenkian.pt/descobrir/atividade/os-surdos-viajam-no-tempo-2/ 15.05.2019.

vom

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Was das blinde bzw. sehbeeinträchtigte Publikum angeht, so macht sich die Unzulänglichkeit der Zugangsmaßnahmen vor allem daran bemerkbar, dass noch kaum Strategien entwickelt worden sind, die auf multisensorische Wahrnehmungen (taktil, auditiv, olfaktorisch, geschmacklich) abzielen. In portugiesischen Museen mit vornehmlich aus Gemälden bestehenden Sammlungen sind die Zugangsmaßnahmen für blinde bzw. sehbeeinträchtigte Menschen besonders eingeschränkt (Mesquita/Carneiro 2012, 1451). Diese Lücken hängen, wie erwähnt, mit der mangelhaften finanziellen Ausstattung portugiesischer Museen zusammen. Diese verhindert, dass die notwendigen Mittel für Werbung, Information, Kommunikation und Austausch in Bezug auf dauerhafte und befristete Ausstellungen bereitgestellt werden. Dadurch entstehen – jenseits des physischen und kommunikativen Zugangs – weitere Schwierigkeiten, blinde bzw. sehbeeinträchtigte Besucher*innen einzubeziehen. Einige Kunstmuseen von Weltruf haben mittels ihrer Zugangsprogramme Maßnahmen entwickelt, mit denen sie dem blinden bzw. sehbeeinträchtigten Publikum ein qualitativ hochwertiges Erleben ihrer Sammlungen anbieten wollen. Dazu gehören beispielsweise das Museum of Modern Art 6 und das Metropolitan Museum of Art7 in New York, das Victoria & Albert Museum8, Tate Modern9 und Tate Britain10 in London, die Pinacotheca of the State of São Paulo11 und das Museum of Modern Art (Museu de Arte Moderna12). Zugangsprogramme, die von Mitarbeiter*innenteams eingerichtet und mit eigenem Budget ausgestattet wurden, sorgten für verschiedene Mittel und Aktivitäten zur Inklusion von Menschen mit disability. Zum Beispiel entstanden Audioguides, die ausgewählte Objekte aus der Museumssammlung beschreiben, berührbare, benutzbare Repliken und Gegenstände, Informationstexte und Kataloge in Braille oder gesprochener Sprache, künstlerische Gestaltungen und kreative Aktivitäten im Gefolge von Ausstellungsbesuchen. Diese Initiativen sind als Bestandteile von dauerhaften und befristeten Ausstellungen vorgesehen. In einigen Fällen wird auch der öffentliche Raum des Museums hörbar beschrieben oder auf dem Fußboden tastbar markiert, so dass blinde bzw. sehbeeinträchtigte Besucher*innen sich autonom den Objekten

6

https://www.moma.org/visit/accessibility/ vom 15.05.2019.

7

https://www.metmuseum.org/events/programs/access vom 15.05.2019.

8

http://www.vam.ac.uk/page/d/disability-and-access/ vom 15.05.2019.

9

http://www.tate.org.uk/visit/tate-modern/access-and-facilities/disabled-visitors

vom

15.05.2019. 10 https://www.tate.org.uk/visit/tate-britain vom 15.05.2019. 11 Pinacoteca do Estado de São Paulo, http://museu.pinacoteca.org.br vom 15.05.2019. 12 http://mam.org.br/igual-diferente/ vom 15.05.2019.

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nähern können. Außerdem können sie sich auf Nachfrage individuell begleiten lassen.

DER ÄSTHETISCHE ZUGANG – EIN WEG ZUR ANNÄHERUNG ZWISCHEN BLINDEN MENSCHEN UND BILDENDEN KÜNSTEN Wie schon erwähnt, setzen in den meisten Museen Zugangslösungen für blinde bzw. sehbeeinträchtigte Menschen darauf, physisch zugängliche Wege einzurichten und insbesondere die Erkundungen von Exponaten mit tastbaren Repliken, Audioguides und multisensorischen Geräten zu ermöglichen. Dennoch bleiben neben diesen Aspekten des physischen und kommunikativen Zugangs weitere Herausforderungen. Tatsächlich muss die Museologie sich mit Problemen auseinandersetzen, die aus der Dichotomie zwischen den bildenden Künsten und Blindheit resultieren. Nach Almeida et al. wurden inklusionsorientierte Initiativen in der Vergangenheit immer wieder damit konfrontiert, dass Museen ihrem Wesen gemäß Orte der visuellen Erkundung sind (Almeida/Carijo/Kastrup 2010). Dies impliziert fast per definitionem, dass blinde bzw. sehbeeinträchtigte Menschen am Zugang zu Kunst gehindert werden. Dieses Problem beruht auf der Überzeugung, dass visuelle Gegenstände von ihrer ursprünglichen Bestimmung her nicht berührt, gerochen oder gehört, sondern gesehen werden sollen. Demnach können Werke der bildenden Kunst dem blinden bzw. sehbeeinträchtigten Publikum nicht einfach durch die Berührung von Nachbildungen oder durch das Hören mündlicher Beschreibungen zugänglich gemacht werden. In diesem Sinne postulieren Almeida et al., dass visuelle Objekte wie zum Beispiel Gemälde nur dann für blinde bzw. sehbeeinträchtigte Menschen zugänglich werden, wenn ihre Ästhetik erfasst wird (Almeida/Carijo/Kastrup 2010). Die Autor*innen unterstreichen daher die Bedeutung des ästhetischen Zugangs seitens blinder oder eingeschränkt sehender Menschen. Demzufolge ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich die Beziehung zwischen einem visuellen Objekt und einer blinden bzw. sehbeeinträchtigten Person nicht auf die Erfahrung beschränkt, Bestandteile, Formen oder Verweise, die eine bestimmte visuelle Gestaltung verkörpern, zu erkennen bzw. wiederzuerkennen. Die Auffassung, dass der Zugang zu einem Kunstgegenstand ausschließlich auf die Erfahrung bzw. das Erlebnis des (Wieder-)Erkennens zielt, würde darauf hinauslaufen, dass blinde bzw. sehbeeinträchtigte Menschen in eine sie behindernde Lage versetzt würden. Zwar kann eine disability, die aus dem Ausschluss von der Erfahrung des Erkennens folgt, leicht

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überwunden werden, indem man die beschreibenden und informativen Aspekte eines Kunstobjekts durch inklusive Kommunikationsmittel wie Braille, Audiozugang oder Nachbildungen zugänglich macht. Hingegen ist das Problem des ästhetischen Zugangs weiterhin schwer zu lösen. Wenn es um die Inklusion blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen in Museen mit Sammlungen visueller Kunst geht, ist zu bedenken, dass dem ästhetischen Erlebnis bei der Begegnung mit einem Objekt wie etwa einem Gemälde die höchste Bedeutung zukommt. Bei jedem Gemälde ist die von ihm vermittelte Ästhetik der Grund, warum es im museologischen Kontext ausgestellt, öffentlich gemacht, interpretiert, erforscht, untersucht und konserviert wird. Offenkundig motiviert der ästhetische Zugang in der Regel Menschen, Museen zu besuchen. Es ist daher entscheidend, dass auch blinde bzw. sehbeeinträchtigte Menschen beim Ausstellungsbesuch Zugang zu ästhetischen Erlebnissen haben und auf diese Weise ein tieferes Verständnis der bildenden Kunst erlangen (Almeida/Carijo/ Kastrup 2010). Im Gegensatz zur Erfahrung des Erkennens hängt der ästhetische Zugang nicht vom Sehsinn als solchem ab. Er lässt sich realisieren, sofern Situationen für ästhetische Erfahrungen im Umfeld museologischer Objekte geschaffen werden. Nach Almeida et al. setzt dies vor allem Strategien voraus, die die Ausbildung persönlicher Betrachtungsweisen, Problematisierungen und Fragen fördern (Almeida/Carijo/Kastrup 2010). Dies kann leicht durch persönliche Beziehungen zwischen Besucher*innen und Museumsvermittler*innen weiter unterstützt werden. Dieser Auffassung zufolge hängt die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen, Zugang zu einem visuellen Objekt zu gewinnen, von Erkundungsstrategien und -praktiken ab, die ein Museum für dieses bzw. mit diesem Publikum entwickelt. Museen, die Maßnahmen mit dem einzigen Ziel vorantreiben, die Erfahrung des Erkennens hinsichtlich ihrer Sammlungsgegenstände zu erleichtern, verfehlen den Zugang über die Ästhetik, das heißt über eine für das Bedeutungsverständnis maßgebliche Dimension. In Museen, die Aktionen zur Erleichterung des ästhetischen Zugangs fördern, können hingegen tiefere Begegnungen zwischen blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen und bildender Kunst zustandekommen, da diese, wie gesagt, nicht vom Sehsinn abhängen. Es gibt also zwei gegensätzliche Situationen im Hinblick auf den Zugang zu Kunstsammlungen: Auf der einen Seite ist der ästhetische Zugang eine „offene“, „empfängliche“ und „langanhaltende“ Wahrnehmungsform, bei der ein Individuum in ein Objekt „eintaucht“ und sich „erfüllen“ lässt. Auf der anderen Seite bewirkt die auf den Sehsinn angewiesene Erfahrung des Erkennens eine „schnelle“ und „angemessene“ Reaktion (Kastrup 2010, 38).

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In diesem Zusammenhang ist die Sichtweise zu unterstreichen, dass disability situativ entsteht, wenn Menschen im Zusammenhang mit bestimmten Praktiken benachteiligt bzw. behindert werden. Demzufolge wird jemand visually disabled in Situationen, in denen der Sehsinn als unentbehrlich gilt. Dies ist gängig in Räumen der bildenden Künste. Hier haben Zweifel an der Leistungsfähigkeit blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen zu Missverständnissen beigetragen und dazu geführt, dass sie auf den Zustand des Behindertseins beschränkt und von jenen Orten ausgeschlossen wurden.

DIE AUSSTELLUNG „THE UNFORESEEN REASONS“ (RAZÕES IMPREVISTAS) VON FERNANDO AZEVEDO Im Zusammenhang mit dem ästhetischen Zugang blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen zu Kunstmuseen lohnt sich der Blick auf eine Fallstudie, die die Verfasserin als Teil eines Dissertationsprojekts zum Thema Inklusion erarbeitet hat. Das Vorhaben zielte auf die Untersuchung und Analyse eines Ausstellungsbesuchs, den eine Gruppe blinder Menschen unternahm. Die Ausstellung zeigte surrealistische Gemälde von Fernando de Azevedo aus den 1940ern bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts im Calouste Gulbenkian Museum – Modern Collection (Museu Calouste Gulbenkian – Coleção Moderna) vom 19. April bis zum 7. Juli 2013. Die Studie bezog eine Gruppe von Teilnehmer*innen ein; diese bestand aus zwölf Teilnehmer*innen/Schüler*innen der Raquel and Martin Sain Foundation (Fundação Raquel e Martin Sain, FRMS), einer Institution für die technische und berufliche Ausbildung blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen in Lissabon. Bis dahin hatte das Calouste Gulbenkian Museum über keinerlei Mittel verfügt, blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen den Zugang zu seinen Sammlungen und dauernden oder befristeten Ausstellungen zu eröffnen. Anders als in Museen mit Zugangsprogrammen gab es keine unterstützenden Maßnahmen wie Nachbildungen, Audiobeschreibungen oder Kataloge mit Reliefzeichnungen und Informationen in Brailleschrift. Auch organisierte der museumspädagogische Dienst bis dahin keine Besuche mit Vermittler*innen für individuelle Gäste oder Gruppen blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen. Daher übernahm die Verfasserin die Vermittlung, als die Gruppe der Fallstudien-Teilnehmer*innen die Ausstellung „Unforeseen Reasons” (Razões Imprevistas) besuchte. Dies umfasste Beschreibungen, Problematisierungen und Fragen zu einer Auswahl von Exponaten. Ausgangspunkt war die Erkundung der Grundlagen der surrealistischen Bewegung, insbesondere von Vorstellungen über die Beziehungen zwischen dem Sehen und dem Unbewussten und über die Schöpfung

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von Bildern aus inneren Visionen (Breton 1924, Merleau-Ponty 1997, 56). Wir analysierten auch einige Techniken, die Fernando Azevedo – ebenso wie andere surrealistische Maler – im Schaffensprozess entwickelt hatte, um Bilder des Unbewussten zu erkunden: Collagen, Concealments und Cadavres exquis. Solche Bilder surrealistischer Künstler*innen entstehen durch einen Bruch mit der sichtbaren Welt, sie imaginieren also eine Situation, die der physischen Beziehung blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen zur äußeren Welt entspricht. Daher war gerade dieses Ausstellungsthema vielversprechend für eine Erkundung seitens blinder bzw. sehbeeinträchtigter Besucher*innen. Tatsächlich galt die mit dieser Gruppe entwickelte Forschung auch der Beziehung zwischen inneren Bildern und Blindheit (Amiralian 1997). Dieser Besuch stellte für den Museumsalltag wie für die blinden bzw. sehbeeinträchtigten Teilnehmer*innen an der Studie eine neue, einzigartige Erfahrung dar. Für das Museum war die Veranstaltung eine der bis dahin seltenen Interaktionen mit diesem Publikum. Für die Teilnehmenden, die ansonsten kaum Gelegenheiten zum Besuch von Kunstausstellungen hatten, handelte es sich um einen herausragenden, bedeutenden Moment in ihrem Leben mit Blindheit. Der erste Teil des Besuchs fand in dem Saal für befristete Ausstellungen mit den dort präsentierten ausgewählten Objekten statt. Der zweite Teil spielte sich in der Museumswerkstatt ab; dort sollten die Teilnehmer*innen einige der von Fernando Azevedo angewandten Techniken ausprobieren und aus formbaren Materialien individuelle Werke herstellen. Auf diese Weise sollten sie Zugang zu ästhetischen Erfahrungen, die sich mit surrealistischen Werken und insbesondere mit den Arbeiten von Fernando Azevedo verbinden, erhalten, ihr kreatives Potential erforschen und ihr Wissen über diese künstlerische Richtung erweitern. Dementsprechend ging es nicht darum zu bewerten, welche Fähigkeiten zur Herstellung von gezeichneten oder gemalten Kunstwerken die blinden bzw. sehbeeinträchtigten Teilnehmer*innen besaßen. Es war unvermeidbar, dass als erstes Thema beim Besuch problematisiert wurde, wie sehr es blinden bzw. sehbeeinträchtigten Personen an Gelegenheiten, Kunstmuseen zu besuchen, mangelt. Wir fragten die Teilnehmenden, warum ihrer Meinung nach die meisten Museen keine Besuche mit Vermittlern organisieren. Zugleich fragten wir nach den Gründen, warum blinde bzw. sehbeeinträchtigte Menschen selten diese Museen aufsuchen. Ein Teilnehmer vermutete dahinter vor allem kulturelle Gründe: „Das wird oft in unserer Kultur nicht verinnerlicht. Wir denken, was soll ich als blinder Mensch im Museum? Wir selbst müssen das ändern, nicht wahr? Wir, die Blinden!“ Ein anderer Teilnehmer nahm an, „dass die ‚Normalsichtigen‘ uns diese Auffassung eingeträufelt haben. Wir sind blind, sie sagen: ‚Was willst du im Museum, du kannst doch nichts sehen?‘ […] zum Teil

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haben sie, die ‚Normalsichtigen‘, damit angefangen, ich weiß das genau“ (Martins 2017, 317). Während des Besuchs trugen weitere Aussagen zu einem besseren Verständnis dieser Problematik bei. Ein Teilnehmer äußerte, dass seine Teilnahme an der Ausstellung ihn daran „erinnerte, als ich noch sehen konnte“. Andere Teilnehmer*innen bekannten, dass sie jetzt zum ersten Mal, seitdem sie erblindet waren, ein Kunstmuseum besuchten (Martins 2017, 280). Diese Aussagen bezeugen die Distanz, die aufgrund von Blindheit zwischen blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen und Kunstmuseen besteht. Dass der Sehverlust Entbehrung und Mangel nach sich zieht, liegt nicht an fehlender Bereitschaft zum Museumsbesuch. Ursache ist vielmehr der Mangel an Unterstützung durch die Gesellschaft, also Versäumnisse bei der Entwicklung museologischer Praktiken, die zur Verbesserung der Beziehung zwischen blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen und bildenden Künsten beitragen. Hier macht sich auf kultureller Ebene wieder die negative gesellschaftliche Haltung gegenüber disability bemerkbar (Martins 2006 und 2010). In der Museumswerkstatt baten wir die Teilnehmenden, ausgehend von Fernando Azevedos Collage „La Nature Morte et le Rêve“ (2001) neue Formen „wiederzuerfinden“ (vgl. Ferreira 2013). Damit schlugen wir eine experimentelle Übung vor, bei der einige Techniken des Künstlers wie Collage und Concealment neu- bzw. nachgebildet wurden. Die Teilnehmer*innen sollten ein leeres Blatt Papier und ausgeschnittene Teile dieser Collage nehmen und daraus ein neues Werk kreieren, indem sie die Teile auf dem leeren Blatt collagierten oder einige davon mit Pastellstiften verdeckten. Es ging nicht darum, Formen, Techniken oder Materialien zu erkennen oder das Werk historisch einzuordnen. Auch handelte es sich nicht um eine Rehabilitationsaktivität oder einen Zeitvertreib, wie es häufig im Kontext von Künsten und disability der Fall ist (Barbaos 1999, Leão 2003). Vielmehr kann die Werkstatt-Aktion als „inventive learning workshop“ betrachtet werden, das heißt als eine Tätigkeit, die auf der ästhetischen Sprache von Azevedos Werk gründete und eine Wiedererfindung von Formen und Neugestaltungen hervorrief (Kastrup 2010, 38). Die Abbildung (1) zeigt die Arbeit eines Teilnehmers, der die Technik der Collage nutzte. Sie lässt erkennen, dass dieser Teilnehmer Wissen über surrealistische Ästhetik, das er beim Besuch erworben hatte, anwandte. Nach der Fertigstellung erklärte und beschrieb dieser Teilnehmer sein Werk gegenüber den anderen: „Ich platzierte die Skulptur hinter die Treppe, mit einer Blume auf dem Kopf in Richtung der Tür, und auf die andere Seite der Tür platzierte ich die Frau, die mit einem Löffel aus einem Buch isst“ (Martins 2017, 297). In der Neuschöpfung einer nichtlogischen Szene außerhalb der Realität, mit einer „Frau, die mit einem Löffel aus einem Buch isst“, zeigt sich die Annäherung zwischen diesem

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Teilnehmer und Azevedos Werk, die durch eine dem Surrealismus nahe ästhetische Erfahrung zustandekam. Tatsächlich spielten Bilder, die den gewohnten Sinneswahrnehmungen zuwiderlaufen, bei surrealistischen Künstler*innen eine maßgebliche Rolle. Abbildung 1: Collage eines blinden Teilnehmers aus dem Workshop, der anlässlich der Ausstellung „Unforeseen Reasons” (Razões Imprevistas) mit Werken von Fernando Azevedo im Calouste Gulbenkian Museum in Lissabon 2013 stattfand.

Quelle: siehe Quellenverzeichnis der Abbildungen

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Ein anderer Teilnehmer, der sich zu der Aktion in der Museumswerkstatt äußerte, bekräftigte, dass solche Initiativen zu kreativen Erfahrungen großes Potential besitzen, blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen mehr Selbstvertrauen in Bezug auf bildende Kunst zu verleihen. Dieser Teilnehmer stellte fest, dass diese Aktion „eine Gelegenheit war, das Werk des Künstlers kennenzulernen und außerdem zu zeigen, dass ich selbst etwas gestalten kann, obwohl ich blind bin“ (Martins 2017, 302). Offensichtlich bewirken Begegnungen mit bildender Kunst bei dieser Gruppe eine Verbesserung des Selbstwertgefühls. Dies ist von besonderer Bedeutung angesichts der Tatsache, dass die Angehörigen dieser gesellschaftlichen Minderheit ansonsten ständig Situationen erleben, die von Chancenmangel und der Verstetigung negativer Stereotype gekennzeichnet sind und daher Zugehörigkeitsund Selbstwertgefühle schwanken lassen (Silverman 2010, 58). In der museologischen Praxis hat das Verhalten von Institutionen und Orten gegenüber Menschen mit disability dazu beigetragen, dass diese Gruppe eine negative Identität entwickelte. Diskriminierung und Zugangsprobleme, die die derzeitigen Beziehungen zwischen Museen und Menschen mit disability prägen, spiegeln Ungleichheiten des Umgangs, die sie zu „zweitklassigen” Bürgern abstempeln. Der Mangel an Serviceangeboten und zugänglichen Ressourcen hat zur Folge, dass gesellschaftliche Teilhabe behindert und der negative soziale Status untermauert werden (Jaeger/Bowman 2005). In Bezug auf eine Annäherung zwischen blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen und Kunstmuseen scheint es entscheidend zu sein, eine neue „consciousness of disability“ (Lawson 2001) zu entwickeln; diese muss die Partization dieser Gruppe wertschätzen und Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit in diesen Räumen bekämpfen. Die Beziehungen zwischen der ästhetischen Wahrnehmung von Museumsobjekten und dem allgemeinen Publikum sind dank vielfältiger Ansätze zur Vermittlung und zur Bewusstseinsbildung hinsichtlich des kulturellen Erbes weiterentwickelt worden. Dadurch eröffneten sich Räume für Diversität und für die Ausbildung von persönlichen Betrachtungsweisen (Fróis 2013). Von dieser Perspektive her kann die Beziehung zwischen Museumsgegenständen und blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen das Ziel unterschiedlicher Denkansätze sein. Daher zeigte die Fallstudie, über multisensorische Aspekte hinaus, wie ästhetische Wahrnehmung Zugänge eröffnen sowie verschiedene Stimmen im Gespräch über die erkundeten Objekte erklingen lassen kann (Cao 2006, Masachs 2007).

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DIE REPRÄSENTATION VON DISABILITY IN MUSEUMSSAMMLUNGEN – DAS BEISPIEL PORTUGAL Neben der Problematisierung des Zugangs haben sich Forschungen zur Darstellung von disability in Museen als eine Chance erwiesen, ein neues gesellschaftliches Bewusstsein zu entwickeln. Die Auffassung, dass Museen eine aktive Rolle bei der Ausprägung positiver Bilder im Hinblick auf Gesellschaftsmitglieder mit disability spielen, zog die Aufmerksamkeit mehrerer Museumswissenschaftler*innen auf sich (z. B. Dodd/Sandell 2001, Dodd/Jolly/Sandell 2008, Sandell 2002, 2007, Sandell/Dodd/Garland-Thomson 2010, Walters 2007). Diesen Autoren zufolge können Museen entsprechend fungieren, indem sie Ausstellungen gestalten, die Fragen der gesellschaftlichen Repräsentation von disability erforschen, und indem sie Programme zu disability-Themen entwickeln, in denen Menschen mit disability mit ihren Stimmen und Erfahrungen zu Wort kommen (Hollins 2010). Verschiedene Projekte zur Repräsentation von disability in Museen, in denen einschlägige Materialien gesammelt und analysiert wurden, haben ergeben, dass diese Thematik im Museumsdiskurs vergessen worden ist; dies gilt sowohl für Ausstellungen wie für Bildungsaktivitäten (Delin 2002, Telfer/Shepley/Reeves 2011, Tooke 2006, Sandell/Dodd/Garland-Thomson 2010). Gleichwohl spielt es für den Wandel kultureller Werte und gesellschaftlicher Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit disability eine entscheidende Rolle, wie Sammlungsobjekte erforscht und wie Ausstellungen organisiert und in Bezug zu disability gesetzt werden. In diesem Bewusstsein hat sich das von mir entwickelte Projekt „The Representation of Disability in DGPC Museums Collections: Discourse, Identities and Sense of Belonging“ (University of Porto, Faculty of Arts) zum Ziel gesetzt, den Einfluss von Museen auf die gesellschaftliche Inklusion von Menschen mit disability zu untersuchen und ihre Rolle beim Kampf gegen soziale Ungleichheiten zu erfassen. Das Vorhaben basiert auf dem Grundsatz, dass ein Museum ein Ort des Zusammentreffens verschiedenartiger Gegenstände ist, die Botschaften übermitteln. Diese mögen falsch oder subjektiv sein, aber sie tragen in jedem Fall zur Festlegung von Identitäten bei. Es ist anhand der Sammlungsobjekte in den Museen des DGPC zu untersuchen, wie Menschen mit disability zu verschiedenen Zeiten dargestellt wurden. Dahinter steht die Annahme, dass man anhand von Objekten, die disability darstellen, etwas über diese gesellschaftliche Gruppe in historischer Perspektive erfahren kann, namentlich darüber, welche kulturellen Werte und Voreinstellungen früher existierten und heute weiterhin dafür sorgen,

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das Menschen mit disability wenig partizipieren und ausgegrenzt werden (Martins/Semedo 2017). Weltweit wirken sich Repräsentationen von disability in Museen negativ aus, indem sie disability als ein gesellschaftliches Problem der Exklusion und des Andersseins zeigen. Der Forschung zufolge kann man bei Museumsobjekten mit Bezügen zu dieser Thematik zwischen vier Epochen unterscheiden: 1. Antike (bis ca. 500): Menschen mit disability werden mit der Götterwelt assoziiert; einige antike Götter weisen disabilities auf. Das National Museum of Archeology (Museu Nacional de Arqueologia) beispielsweise besitzt eine Sammlung von Amuletten und kleinen Figuren, die als sogenannte Zwerge zu Ehren des Gottes Bes Menschen von geringer Körperhöhe darstellen (Abb. 2). In den Interpretationen dieser Statuetten, die in den Bestandsverzeichnissen auf der vom Direção Geral do Património Cultural edierten online-Plattform http://www.matriznet.dgpc.pt veröffentlicht sind, werden die dargestellten Körper ohne weiteres als vom „Normalitäts“-Schema abweichend identifiziert. In mehreren Beschreibungen finden sich gängige Formulierungen wie „groteske Gestalt“, „in der typischen Haltung eines Zwergs“, „mit kurzen, krummen Beinen“, mit denen Aspekte von disability hervorgehoben werden. Abbildung 2: Figur des Gottes Bes

Quelle: siehe Quellenverzeichnis der Abbildungen

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2. Vormoderne (500-1800): Im Gefolge der Christianisierung und der Entstehung der christlichen Kunst erscheinen Bezüge zu disability vor allem in Darstellungen der Wundertätigkeit und des Märtyrertums von Heiligen. Mehrere Objekte in den DGPC-Sammlungen schildern solche Episoden, zum Beispiel „Martyrium und Wunder des heiligen Christophorus“ im National Museum of Ancient Art (Museu Nacional de Arte Antiga) und „Heilung eines blinden Mannes“ (Cura de um Cego) im National Tile Museum (Museu Nacional do Azulejo) (Abb. 3). Diese Objekte knüpfen an das Modell der „personal traged“ an (Oliver 1990). Religion spielte eine zentrale Rolle in der Kultur von disability. Künstlerische Repräsentationen, in denen disability mit negativen Einstellungen, mit Angst, Frömmigkeit und Strafe konnotiert wurde, formten entsprechende Haltungen mit. Diese finden sich selbst noch in modernen Gesellschaften. So zeigen statistische Erhebungen in den USA, dass in der Bevölkerung die Furcht vor Blindheit nur von der Furcht vor Krebs und Aids übertroffen wird (Martins 2006, 250). Abbildung 3: „Heilung eines blinden Mannes“ (Cura de um Cego), 1740-1760

Quelle: siehe Quellenverzeichnis der Abbildungen

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3. 19. Jahrhundert: Disability wird weitgehend in Bildern, die blinde oder körperlich beeinträchtigte Menschen porträtieren, dargestellt. Diese werden meist als arbeitsunfähige Bettler gezeigt in Werken wie „Blinder Bettler und Junge“ (Mendigo Cego e um rapaz) von Ferdinand Krumholz (1847) im Chiado Museum – National Museum of Contemporary Art (Museu do Chiado – Museu Nacional de Arte Contemporânea13) und „Bettler aus Lapita“ (Mendigo Lapita) im Soares dos Reis National Museum (Museu Nacional Soares dos Reis) (Abb. 4). Abbildung 4: „Bettler aus Lapita“ (Mendigo Lapita) von Henrique Pousão (1880)

Quelle: siehe Quellenverzeichnis der Abbildungen 13 Ferdinand Krumholz: Medigo cego e um rapaz, im: Museu do Chiado – Museu Nacional de Arte Contemporânea, Inventar Nr.: 541, 1847: http://www.matriznet.dgpc.pt/ MatrizNet/Objectos/ObjectosConsultar.aspx?IdReg=203746 vom 18.09.2019.

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4. 20. Jahrhundert: Disability wird mit der Kriegsteilnahme in Zusammenhang gebracht. Verwundete Soldaten werden in passiver Haltung dargestellt, etwa in der Radierung „Wounded Soldiers“ (Militares Feridos) von Adriano Lopes (20. Jahrhundert, ohne genauere Datierung) im Ajuda National Palace (Palácio Nacional da Ajuda).14 Oder sie stellen Gegenstände von Karikatur und Verachtung dar, etwa im Werk „Cripple begging“ (Aleijadinho e pedir) im National Museum of Ethnology (Museu Nacional de Etnologia) (Abb. 5). Abbildung 5: „Bettelnder Krüppel“ (Aleijadinho e pedir) von Rosa Ramalho (20. Jahrhundert, undatiert)

Quelle: siehe Quellenverzeichnis der Abbildungen

14 Adriano Sousa Lopes: Militares Feridos, im: Palácio Nacional da Ajuda, Inventar Nr.: 54033, ohne Jahr (20. Jahrhundert): http://www.matriznet.dgpc.pt/MatrizNet/Objectos/ObjectosConsultar.aspx?IdReg=1049496 vom 18.09.2019.

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Im Rahmen des Projekts wurden weitere Objekte entdeckt, die zwar nicht unmittelbar disability thematisieren, jedoch Geschichten über damit verbundene Erfahrungen, Gewohnheiten und gesellschaftliche Bräuche erzählen. Das Werk „Geburtsszene des Marquis of Belas“ (Presépio dos Marqueses de Belas) von Joaquim Barros, Joachim Macedo und António Pinto (1796-1812) im National Museum of Ancient Art (Museu Nacional de Arte Antiga) zeigt ein Akkordeon.15 Dieses Musikinstrument wird in mehreren Beschreibungen als wenig vornehm eingeschätzt, weil es von blinden Menschen beim Betteln gespielt wird. Das „Antunes Cembalo“ (Cravo Antunes) im National Museum of Music (Museu Nacional da Música) wiederum, eines der wenigen Überbleibsel aus der portugiesischen Schule des Cembalobaus um 1550, stammt aus einer Einrichtung für blinde Frauen und vermittelt uns Informationen über die Aktivitäten derjenigen, die in dieser Institution lebten (Abb. 6). Abbildung 6: „Antunes Cembalo“ (Cravo Antunes) von José Antunes (1758)

Quelle: siehe Quellenverzeichnis der Abbildungen 15 Joaquim Joseph de Barros; Joaquim António de Macedo; António Pinto: Presépio dos Marqueses de Belas, im: Museu Nacional de Arte Antiga, Inventar Nr.: 642 Esc, zwischen 1796 und 1812: http://www.matriznet.dgpc.pt/MatrizNet/Objectos/ObjectosConsultar.aspx?IdReg=260665 vom 18.09.2019.

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Diese Gegenstände sind ausdrucksstarke Beispiele dafür, wie Menschen mit Behinderung durch Objekte typisiert und wie dadurch Klischeevorstellungen verstärkt wurden. Sie werden nicht als gewöhnliche Mitglieder der Gesellschaft gezeigt, sondern ihre Darstellungen wollen Gefühle wie Mitleid und Furcht erzeugen, rätselhaft wirken und zur Wohltätigkeit anregen. Objektbeschreibungen in Bestandsverzeichnissen verwenden Begriffe wie zum Beispiel Zwerg, verkrüppelt, Bettler oder paralytisch, die zur Entmenschlichung von Menschen mit disability beitragen und typisierende Kennzeichnungen hervorbringen. Da alternative Botschaften fehlen, findet eine Verfestigung der einseitigen Botschaften statt, die sich entsprechend auf die Öffentlichkeit auswirkt. Tatsächlich haben die Repräsentationen von disability im historischen künstlerischen Erbe mehr mit gesellschaftlichen Vorstellungen zu tun, was darzustellen akzeptabel ist, als mit der Lebenswirklichkeit von Menschen mit disability. Sie speisen sich aus Voreinstellungen von Künstler*innen oder Auftragsgeber*innen ohne disability, die ihre Sichtweisen von Differenz weitergaben, indem sie die „Anderen“ reduziert und stereotyp darstellten. Auf diese Weise wurden Menschen mit disability als kulturelle Objekte benutzt, ohne aktiv am kreativen Prozess der „disabled culture“ und ihrer Vermittlung teilzunehmen (Barnes/Mercer 2010, 185212). Zu dieser Problematik sind Halls Überlegungen anzuführen, nach denen Repräsentationen des „Anderen“ durch „shared values“ mitgestaltet werden; diese entstehen aus Konzepten, Bildern, Vorstellungen und Empfindungen, die zeit- und raumgebundene Bedeutungen hervorbringen. In Bezug auf Menschen mit disability ist Bedeutung Teil eines „cultural circuit“ in Verbindung mit Macht, Verhaltensvorschriften, Identitätsfestschreibungen sowie Maßnahmen der Vermittlung, Repräsentation und Praxis bestimmter Inhalte (Hall 1997, 223). Auch Ferreira ist hier zu nennen; ihm zufolge basiert die Identität von Menschen mit disability auf einem Darstellungssystem, bei dem die Bedeutung des „Anderen“ in einer Hierarchie von Überlegenheit versus Inferiorität begründet ist und die Gesellschaft sich dem Individuum aufzwingt. Demnach bilden Menschen mit disability nicht autonom eine kollektive Identität aus. Sie nehmen vielmehr ihre Differenz als von anderen definiert wahr, mit negativen Konnotationen, die zu Marginalisierung und Ausgrenzung führen. Insofern ist Ferreira zufolge die Identität von Menschen mit disability in Wahrheit eine „Nichtidentität“ (Ferreira 2007, 6).

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MÖGLICHE IMPULSE DURCH DIE ERKUNDUNG HISTORISCHER REPRÄSENTATIONEN IN MUSEEN Neben dem Erwerb von Wissen, was die Identität von Menschen mit disability anbelangt, lohnt es sich darüber nachzudenken, welche gesellschaftlichen Auswirkungen die Erforschung der Repräsentation von disability in Museen und Sammlungen hat – insbesondere, inwiefern dies die Lebensqualität dieser Gruppe betrifft. Manche Autor*innen billigen diesem Thema eine grundlegende Rolle bei sozialen Veränderungen zu, da das Verständnis für das „Andere“ und besonders dafür, warum und wie zu verschiedenen Zeiten Menschen mit disability ausgeschlossen wurden, gefördert wird (Barnes/Mercer 2010, Ferreira 2007, Hall 1997, Lawson 2001, McRuer 2006, Shildrick 2012, Thumim 2010, Watson/Roulstone/Thomas 2012). Ein neuer Ansatz zu disability-Repräsentationen kann dazu beitragen, dass durch die museologische Praxis Vorurteile und Stereotypen, die in der modernen Gesellschaft weiterhin verwurzelt sind, abgebaut werden. Mit Ausstellungen und Bildungsaktivitäten lassen sich innovative, positivere Auffassungen von disability anregen und immer noch vorherrschende Darstellungsweisen entkräften (Hutton/Urbanska 1997). Jedes Individuum hat seine eigene Sichtweise, die aus seinen Lebensumständen und -erfahrungen resultiert. Sorgt man dafür, dass verschiedene Stimmen zu einem bestimmten Kunstwerk in seinem jeweiligen historischen und kulturellen Kontext und unter Berücksichtigung der Intentionen des Künstlers bzw. der Künstlerin laut werden, so können sich daraus neue, wertschätzendere Sichtweisen von disability ergeben. Gleichzeitig vermitteln museale Repräsentationen einem Publikum mit disability Bedeutungen von disability, die dieses Publikum teilt. Durch die Bekanntschaft mit solchen Objekten können die Verbindungen zwischen Menschen mit disability gestärkt werden (Delin 2002). Mit einem neuen Identitätsbewusstsein entsteht eine neue Gemeinschaft. Damit verbindet sich die Erkenntnis, dass die Geschichte von disability über weite Strecken Unterdrückung und soziale Ausgrenzung einer gesellschaftlichen Minderheit bedeutete. Auf dieser gemeinsamen Grundlage, ungeachtet individueller Arten von disability, können sich Menschen mit disability zusammenschließen, ihre Identität stärken und einen neuen sozialen Status einfordern. Schließlich sollte museale Repräsentation unmittelbar an die gesellschaftliche Verantwortung kultureller Einrichtungen geknüpft werden; diese müssen ihr Potential, gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben, erkennen (Sandell/ Dodd/Garland-Thomson 2010). Einzelne Organisationen sind ebenso wie ihre Mitarbeiter*innen mit der Herausforderung sozialer Inklusion konfrontiert und

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müssen neue Ziele und professionelle Praktiken erarbeiten. Jedes Mitglied des Gemeinwesens ist mitverantwortlich dafür, psychosoziale Imaginationen zu disability zu entwerfen und aufrechtzuerhalten, sie aber auch in Frage zu stellen und zu verändern.

FAZIT Die Untersuchung von Museumspraktiken in Bezug auf disability hat Diskriminierung, Ungleichheiten, Zugangsschwierigkeiten und Darstellungsprobleme im historisch-künstlerischen Erbe zu Tage gefördert. Dies betrifft in besonderem Maße Blindheit und Kunstsammlungen, da hier blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen Zugangsgelegenheiten verwehrt werden. Blinde Menschen sagten aus, dass sie seit ihrer Erblindung keine Museen mehr besuchten. Museologische Inklusionsmaßnahmen, die sich um physischen und kommunikativen Zugang bemühen, erwiesen sich als unzureichend, eine wirkliche Annäherung zwischen bildenden Künsten und dieser Gruppe zu bewirken. Zweifel daran, dass Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung in Räumen, in denen das Sehen als essentiell gilt, über ability verfügen, ließen Missverständnisse hinsichtlich ihrer Teilhabe in Kunstmuseen entstehen. Im Fehlen von Programmen, die diese Gruppe zum Museumsbesuch motivieren, spiegelt sich diese Einstellung. Daher sollte der physische und kommunikative Zugang blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen durch den ästhetischen Zugang zu Objekten ergänzt werden, das heißt durch eine Maßnahme, die die Besucher*innen zu einer qualitativ höherwertigen Lernerfahrung befähigt. Der ästhetische Zugang hängt nicht vom Sehsinn ab und ermöglicht ein besseres Verständnis dafür, welche Beziehungen zwischen bildenden Künsten und blinden bzw. sehbeeinträchtigten Menschen möglich sind. Außerdem entstehen bei der Entwicklung von Praktiken, die sich der Analyse und Erkundung von disability thematisierenden Objekten widmet, neue Einsichten über diese Besuchergruppe. Die hier vorgestellte Fallstudie zu einer Ausstellung von Fernando Azevedo im Calouste Gulbenkian Museum hat nachgewiesen, dass kreative Erfahrungen im Bereich der bildenden Künste neue Realitäten betreffend Blindheit im museologischen Kontext schaffen können. Diese kreativen Erfahrungen stellen einen ästhetischen Zugang dar und überbrücken die Kluft zwischen „Sehen“ und „Nichtsehen“, die zu einer abwertenden Haltung gegenüber der Annäherung blinder bzw. sehbeeinträchtigter Menschen an Kunstsammlungen geführt hat. Der ästhetische Zugang eröffnet daher dieser Gruppe Möglichkeiten, in engere Beziehungen zum

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historisch-künstlerischen Erbe zu treten und an der Welt der bildenden Künste zu partizipieren. Das Forschungsprojekt der Verfasserin „The Representation of Disability in DGPC Museums Collections: Discourse, Identities and Sense of Belonging“ förderte eine Reihe von Objekten zu Tage, die disability in abwertender und stereotyper Weise darstellen. Dank der Erforschung dieser Objekte können Museen in Ausstellungen und Bildungsaktivitäten neue Dialoge über disability in geschichtlich-künstlerischer Perspektive anbieten. Damit unterstützen sie den Aufbau neuer Identitäten, die wiederum Paradigmenwechsel und Inklusion in der modernen Gesellschaft beeinflussen. Dieser Beitrag betrachtet Museen generell und Kunstmuseen im Besonderen als Umwelten, die dem Zusammentreffen verschiedener Publikumskreise dienen. Es gilt, innovative museologische Praktiken zu entwickeln, welche negative Haltungen und Diskurse widerlegen und die Logik der Exklusion außer Kraft setzen. Dabei kann man auf das Potential der bildenden Künste, der Ästhetik und der Repräsentation, neue Wirklichkeiten zu schaffen, vertrauen. Diese neuen Wirklichkeiten gründen auf dem in museologischen Programmen erzielten Nachweis, dass Menschen mit disability im Bereich ästhetischer Kunsterkenntnisse über ability verfügen und sich entsprechend an Kunst annähern können, und auf der Bedeutung von Repräsentationen für die Ausbildung positiver Identitäten.

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QUELLENVERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN Abb. 1: Quelle:  Patrícia Roque Martins. Abb. 2: Quelle: Inventar Nr. E 288. National Museum of Archeology (Museu Nacional de Arqueologia. III b.C – I b.C. http://www.matriznet.dgpc.pt/MatrizNet/Objectos/ObjectosConsultar.aspx?IdReg=120121 vom 17.09.2019. Abb. 3: Quelle: Inventar Nr. MNaz 2554 Az. National Tile Museum (Museu Nacional do Azulejo. http://www.matriznet.dgpc.pt/MatrizNet/Objectos/ ObjectosConsultar.aspx?IdReg=231240 vom 17.09.2019. Abb. 4: Quelle: Inventar Nr. 101 Pin MNSR., Soares dos Reis National Museum (Museu Nacional Soares dos Reis). http://www.matriznet.dgpc.pt/MatrizNet/Objectos/ObjectosConsultar.aspx?IdReg=306306 vom 17.09.2019. Abb. 5: Quelle: Inventar Nr. AU. 234. National Museum of Ethnology (Museu Nacional de Etnologia). http://www.matriznet.dgpc.pt/MatrizNet/ Objectos/ObjectosConsultar.aspx?IdReg=93638 vom 17.09.2019. Abb. 6: Quelle: Inventar Nr. MM 372. National Museum of Music (Museu Nacional da Música). http://www.matriznet.dgpc.pt/MatrizNet/Objectos/ ObjectosConsultar.aspx?IdReg=39867 vom 17.09.2019.

Shaping dis/ability? Frühneuzeitliche Prothesen als Forschungs- und Vermittlungsgegenstände der Artifact History Mareike Heide, mit einem Beitrag von Cordula Nolte

Das Potential der Artifact History für die Annäherung an das Thema Behinderung im Kontext von Geschichte wird erst in neueren Forschungen der Disability History erkannt.1 Viel zu lang wurde auch in diesem Bereich von Entitäten ausgegangen, die sich auf anachronistische Vorannahmen stützten und dem Bild der dunklen Vorzeit in die Hände spielten. Dies bedeutet: Hypothesen, die von alters her bestehen, werden nicht mehr als Annahmen, sondern als Gegebenheiten wahrgenommen und unhinterfragt in den Kanon eigener Anschauungen übernommen. Das ist insofern problematisch, als dass weder Entstehungsumstände noch -kontext oder -intentionen dieser Behauptungen bekannt sind oder kritisch beleuchtet werden. Handelt es sich um belegte oder belegbare Feststellungen? Um literarische Figuren symbolhaften Ranges, die im gesellschaftlichen Kontext ein Eigenleben entwickelten? Um bewusst der Diffamierung (oder auch der Würdigung) dienende Konstrukte? Konkret für die Disability History bedeutet diese Feststellung auch, dass allzu leicht das komplexe Zusammenspiel von Disability und Artefakt übersehen werden kann. So hält sich beispielsweise das Klischee des Holzbein tragenden Bettlers bis heute. Selbst das Deutsche Museum in München bediente sich anlässlich der Sonderausstellung „Leben mit Ersatzteilen“ im Jahre 2005 dieses Vorurteils: „Wer Fuß oder Unterschenkel verlor, wurde zum Bettler“ ist auf der Internetseite der Institution generalisierend zum Thema „Alte Prothesen“ zu lesen. Daneben – zur Illustration dieser ver1

Dieser Beitrag stellt einen Ausschnitt der Forschungsergebnisse des Dissertationsprojekts „Holzbein und Eisenhand. Prothesen und Prothesenträger in der Frühen Neuzeit“ der Autorin vor.

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meintlichen Tatsache – Zeichnungen des niederländischen Malers Hieronymus Bosch (1450-1516), die Bettler auf Stelzfüßen zeigen. Gerade die Figuren Boschs stellen besonders mitleiderregende Kreaturen dar, bei denen Prothese und Disability eine nicht wieder zu trennende Verbindung eingegangen sind. Sicherlich mag es derlei Schicksale auch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gegeben haben. Dennoch: Die Prothese als Kennzeichen, gar als konstituierendes Element des Betteltums und der Ausgrenzung zu definieren, greift zu kurz – der Gegenstand bedarf einer eingehenderen Evaluation. Die Artifact History ist für diese Neubewertung von essentieller Bedeutung, denn in ihr gelten Objekte nicht nur als Erzeugnisse einer bestimmten Zeit. Grundlegend in der Artifact History ist die These, dass Objekte an ihrer Umwelt partizipieren, Einflussfaktor aufgrund ihrer Präsenz sind und in ihrem Umfeld auf die Denk- und Handlungsmuster einwirken (Keupp/Schmitz-Esser 2015, 3335). Im Gegensatz zur musealen Realienkunde, die sich bis in das 19. Jahrhundert noch weitgehend auf die Oberfläche eines Objektes beschränkte, geht es in der modernen Realienkunde oder Artifact History somit nicht nur um die materielle Ebene von Dingen, sondern auch um die den Gegenständen zu- respektive eingeschriebenen Bedeutungs- und Sinngehalte und wie sich diese im Verlauf der Geschichte ändern und transformieren. Kultur entsteht nach diesem Ansatz also in einem Deutungs- und Aushandlungsprozess, der sowohl Lebewesen als auch Objekte einschließt. Damit haben materielle Quellen großes Potential im Hinblick auf ihre Aussagefähigkeit zu Gesellschaft, Leben und Kultur. Es sind allerdings nicht nur haptisch greifbare Objekte mögliche Quellen der Artifact History, auch bildliche und schriftliche Quellen werden untersucht – sowohl als Objekte als auch aufgrund ihres vermittelten Inhalts, d.h. der darin beschriebenen Objekte (Hack 2015, 309). Im Zusammenhang mit Prothesen angewendet, verspricht die Artifact History nun eine ganze Palette neuer Blickrichtungen, denn an ihnen lässt sich nach diesem Ansatz nicht nur erkennen, dass sie als Ersatz für einen verlorenen Körperteil dienten. Ihre Gestaltung, Funktionsweise, Abnutzungsspuren, mögliche Modifikationsarbeiten an der Prothese oder auch die Existenz einer Vorgängerprothese lassen ebenfalls Schlüsse darauf zu, wie der Träger mit seinem künstlichen Ersatz lebte. Also wie oft er ihn nutzte, welche Ansprüche er an seine Prothese stellte oder wie hoch er beispielsweise die realistische oder ästhetische Gestaltung bewertete. Ein Großteil dieser Aspekte steht in Wechselbeziehung zu den zeitgenössischen Gegebenheiten, d.h. den Möglichkeiten der Technik, der Ressourcenverfügbarkeit, aber auch der geltenden Mode und herrschenden Mentalitäten. Darüber hinaus lässt sich noch etwas Weiteres aus den Grundsätzen der Artifact History ableiten: Wenn Objekte auf die Denk- und Handlungsmuster ih-

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rer Umgebung einwirken können, so lässt sich auch für Prothesen eine Einflussmöglichkeit auf die Wahrnehmung und Konstituierung von Disability annehmen. Um es mit den Worten Katherine Otts zu sagen: „artifacts actively shape and define disability.“ (Ott 2014, 119) Auch besteht nicht selten eine außergewöhnliche Abhängigkeit des Menschen vom prothetischen Objekt, um am gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können. Stimmensoftware für Stumme, elektronische Sprechhilfen oder Cochlea-Implantate sind moderne Beispiele für eine solche Abhängigkeit. Spinnt man diese Überlegung weiter, wird jedoch auch deutlich, dass eine solche Abhängigkeit höchst situativ bestimmt ist. In lauten Werkhallen beispielsweise, in denen Gehörschutz Pflicht ist und es vorwiegend auf nonverbale Kommunikation ankommt, sind stumme oder taube Menschen weniger eingeschränkt in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe als bei Abendgesellschaften Hörender, auf denen Gespräche miteinander einen wesentlichen Teil der sozialen Interaktion darstellen. „No one is always disabled for all things; disability depends on the person, the environment, and the activity.“ (Ott 2014, 121) So drückt Ott es treffend aus. Diese Feststellung ist gerade im Hinblick auf Prothesen von Bedeutung. Ein frühneuzeitliches Beispiel dafür ist der Nürnberger Uhren- und Büchsenmacher Stephan Farfler (oder auch Schiffter), welcher nach einem Unfall im Kindesalter seine Beine nicht mehr nutzen konnte. Er entwarf sich selbst einen Rollstuhl, der ihm zwar seine Mobilität wiedergab und ihm die Arbeit sicherlich auch erleichterte, da er nun zumindest aufrecht sitzen und sich leichter in seiner Werkstatt bewegen konnte. Treppen dürften für ihn jedoch trotzdem nicht ohne fremde Hilfe überwindbar gewesen sein (Grieb 2007, 374). Somit konnte der Rollstuhl Farfler die Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ermöglichen, indem er ihn zu produktiver Erwerbsarbeit befähigte. Gesellschaftliche Teilhabe, indem es Farfler selbstbestimmte, freie Mobilität gestattete, konnte das Hilfsmittel jedoch trotzdem nicht gewährleisten. Dieses Beispiel zeigt nun zuvorderst die Fluidität von Disability. Weiter lässt sich feststellen, dass das Hilfsmittel eine entscheidende Rolle beim Wechsel zwischen abled und disabled einnimmt bzw. einnehmen kann. Es lässt sich aber auch die Frage stellen, ob den Zeitgenossen (oder auch dem Betroffenen selbst) diese Wirkung bewusst war. Welchen Stellenwert nahmen Prothesen im Hinblick auf die Erfüllung gesellschaftlicher Normvorstellungen in der Frühen Neuzeit ein? Welche Rolle wurde ihnen zugeschrieben? Um dies zu untersuchen, wird sich – bevor beispielhaft auf spezielle Realien eingegangen wird – im vorliegenden Text auf die Darstellungen des künstlichen Ersatzes durch die frühneuzeitlichen Chirurgen konzentriert. Dies hat zwei Gründe: Zum einen sind die Chirurgen die einzigen medizinisch Tätigen in dieser Zeit, die sich überhaupt dem Thema Prothesen

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widmen. Zum anderen bietet gerade die medizinische Fachliteratur einen konkreten Einblick in die geltenden Körper- und Gesundheitsvorstellungen. Welche körperlichen Normen galten, was zu einem gesunden und normalen Körper gehörte, wie dieser zu erreichen sein sollte und welche Rolle in diesem Kontext Prothesen spielen konnten, lässt sich anhand dieser zeitgenössischen Fachliteratur stichhaltig erörtern. Dabei kann eine Erkenntnis direkt offenbart werden: Als bloßes medizinisches oder orthopädisches Hilfsmittel wurden Prothesen nicht betrachtet. Bei der Beschreibung von Prothesen durch die frühneuzeitlichen Chirurgen sind es vielmehr in auffallender Weise überwiegend Aspekte gesellschaftlicher Funktionalität bzw. Konformität, die hervorgehoben werden. Verknüpft wurden die Ausführungen häufig mit Vorstellungen von Ästhetik. Der Fokus lag auf dem Erscheinungsbild des Betroffenen sowie seiner Wirkung auf das soziale Umfeld. Als abstoßend, unästhetisch oder störend empfundene körperliche Abweichungen sollten vor allem deswegen beseitigt oder kaschiert werden, um der Gesellschaft den Anblick zu ersparen. Der Vorteil, den der Betroffene von der Versorgung mit einer Prothese hat, wurde somit im Wesentlichen auf die gesellschaftliche Reintegration verkürzt dargestellt. Der praktische und gesundheitliche Nutzen spielte meist nur eine untergeordnete Rolle. An die Auseinandersetzung mit diesen Aspekten schließt sich ein Teil an, in dem Cordula Nolte Fragen der Vermittlungspraxis erörtert. Wie können neue Erkenntnisse zu Materialität, Herstellung und Gestaltung, zu den Funktionsweisen, der Benutzung und Bedeutung frühneuzeitlicher Prothesen dafür genutzt werden, den Umgang mit und den Zugang zu diesen Objekten in Museen und Ausstellungen zu verändern? Historische Prothesen und Hilfsmittel werden bisher fast ausnahmslos als isolierte, unbelebte Gegenstände präsentiert, in Schaukästen, hinter Glas, flankiert von spärlichen Texten, die einseitig ihre technische Funktionalität bewerten und dem medizinischen Modell von Disability folgen. Die Objekte sind gewöhnlich in technik- bzw. medizingeschichtlichen Sammlungen zu finden und dienen dem dort vermittelten Fortschrittsnarrativ. Hingegen bleibt ihr Potential, das Publikum zu Reflexionen anzuregen, was Disability in historischen und heutigen Gesellschaften bedeutet und wie sich Disability und Ability zueinander verhalten, weitgehend ungenutzt. Deshalb werden hier Überlegungen angestellt, welche Chancen und Probleme eher alltagskulturell und performativ orientierte Ausstellungsformen eröffnen. Der Gaumen, der Penis, das Auge, die Hand bzw. der Arm, das Bein: Bezogen auf Prothesen für diese Körperteile wird im Folgenden dargelegt, wie sich gesundheitlich-praktischer Nutzen, ästhetische Gestaltung und gesellschaftliche Erwartungen verschränkten. Besonders deutlich wird die, wie oben erwähnt, vor allem auf gesellschaftliche Reintegration zielende Gewichtung der frühneuzeitli-

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chen Chirurgen im Zusammenhang mit der Gaumenprothese, auch GaumenObturator genannt. Diese bei dem französischen Handwerkschirurgen/Chirurgen Ambroise Paré (1510-1590) erstmals vorgestellte und von ihm als eigene Erfindung präsentierte Prothese bestand im Wesentlichen aus einer Platte, die Gaumendefekte abdeckte. Sie musste, um angenehmer in den Gaumen zu passen, gewölbt sein. An der konvexen Seite der Platte waren zudem zwei Klammern befestigt, die ein Schwämmchen aufnehmen sollten. Der Obturator wurde dann mit dem Schwamm in den Defekt hineingesteckt und hielt sich dort durch das Aufquellen des Schwammes, sobald dieser mit Speichel in Berührung kam (Paré 1840b, 607-608). Diese Gaumenprothese wird durch die gesamte Frühe Neuzeit in einer großen Zahl medizinisch-chirurgischer Traktate genannt. Dies überrascht allein aufgrund der rapiden Verbreitung der Syphilis ab dem 16. Jahrhundert nicht. Häufig griff die Krankheit in späterem Stadium auch die Gaumenknochen an. Aber nicht nur die Syphilis, sondern auch angeborene Defekte oder Unfälle und Kriegsverletzungen konnten Gründe für einen defekten Gaumen sein (Gilman 1999, 10). Intuitiv geht man bei der Beschreibung einer Gaumenprothese davon aus, dass die Anmerkung, dass diese das Essen und Trinken ermöglicht respektive erleichtert, vorrangig sei, schließlich handelt es sich dabei um lebenswichtige Tätigkeiten. Kaum einer der frühneuzeitlichen Chirurgen geht jedoch auf diese Vorteile der Prothese ein. Bei Paré wird dies bereits durch die Überschrift seines Kapitels zur Gaumenprothese deutlich: „Le moyen d'adapter un instrument au palais pur rendre la parole mieux formée.“ (Paré 1840b, 607) Im Kapitel selbst geht Paré dann auch einzig darauf ein, dass der Patient dank des Obturators wieder in der Lage sei, ordnungsgemäß Worte zu bilden und deutlich sprechen zu können. Parés Fokus liegt folglich eindeutig auf der Kommunikationsfähigkeit des Patienten. Essentieller Teil der Erwartungen, die man an die Fähigkeiten eines Menschen hatte, war somit die klare Artikulationsfähigkeit – offenbar war sie im gesellschaftlichen Rahmen auch wichtiger, als dass der Betroffene adäquat essen oder trinken konnte. Eine ähnlich einseitige Darstellung lässt sich auch bei den anderen frühneuzeitlichen Chirurgen finden. Bei der Beschreibung von Gaumenprothesen konzentriert sich der Großteil auf die Tatsache, dass ein künstlicher Gaumen die Sprachfähigkeit des Patienten wiederherstellen konnte. Wie bereits Paré argumentieren auch seine Nachfolger Heinrich Petraeus (1589-1620), Matthäus Gottfried Purmann (1649-1711) und Lorenz Heister (1683-1758) vorrangig mit der Prämisse, dass der Patient ohne Gaumen schlecht zu verstehen sei. Petraeus erweitert seine Erklärung für die Notwendigkeit einer Gaumenprothese noch um

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einen zweiten Punkt: „kompt auch offt der Tranck zur Nasen wiederumb herauß.“ (Petraeus 1617, 221) Mit diesem Argument weist er jedoch mehr auf eine gesellschaftliche Einschränkung hin als auf einen drohenden Flüssigkeitsmangel oder gar Unterernährung, denn er berichtet weder von Schwierigkeiten der Nahrungsaufnahme noch davon, dass dieser Zustand überhaupt problematisch für den Ernährungszustand des Betroffenen sein könnte. Eine ähnlich eingeschränkte Betrachtungsweise findet sich auch noch bei Purmann. Zum Verlust des Gaumens weiß dieser folgendes zu berichten: „so hindert es denn [sic!] Menschen nicht allein an der Außsprache und Rede / sondern es gehet ihme auch die eingenommene Speise und Tranck / weil es keinen wiederhallt hat / offt zu beiden Nasen-Löchern herauß.“ (Purmann 1684, 125) Weiter problematisiert Purmann diesen Sachverhalt jedoch nicht. Eher malt er hier, genau wie Petraeus, mit seinen Formulierungen ein Bild, das die Gesellschaftsfähigkeit des Betroffenen fragwürdig erscheinen lässt – der Patient kann sich weder verständlich artikulieren, noch ist er in der Lage, ohne Erregung von Ekel mit anderen am Tisch zu speisen. Die mögliche Gefahr einer Kachexie, also einer krankhaften, schweren Auszehrung des Körpers durch die verminderte Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, wird bei keinem der beiden genannten Chirurgen thematisiert. Erst Lorenz Heister nimmt zu Beginn des 18. Jahrhunderts diesen gesundheitlichen Aspekt auf: „Wenn der Gaumen gantz bis in die Nase durchfressen, und solche Leut theils undeutlich reden, theils ihnen das Trincken und die Brühen, welche sie abschlingen wollen, durch das Loch im Gaumen in die Nase laufft, so ist gar nöthig solches wieder zu schliessen; […] und können solche Leut hernach [nach Einsetzen der Prothese, M.H.] eben so wohl reden und schlingen, als ob sie einen gantzen Gaumen hätten.“ (Heister 1724, 586)

Heister beschreibt den Zustand des Patienten damit nicht nur weniger bildhaft als Petraeus und Purmann, sondern geht auch am Ende noch einmal darauf ein, dass der Patient nach Erhalt der Prothese wieder essen könne. Der kommunikative Aspekt, das deutliche Sprechen, wird zwar immer noch an erster Stelle genannt, steht nun 40 Jahre später allerdings nicht mehr so stark im Mittelpunkt der Betrachtung. Einen ähnlichen Blick auf Gaumenprothesen offenbart auch die Schrift Peter Theodor von Levelings (1767-1822) über den Hamburger Johann Beck. Dieser war von 1770 bis 1782 in ganz Europa umhergereist, um sich mit seiner Gaumen- und Nasenprothese bei Fachkundigen und Interessierten vorzustellen (Leveling 1793, 4-7). Durch eine Krankheit hatte er seine Nase, seinen Gaumen sowie einen Teil des Oberkiefers verloren. Leveling, der Beck selbst zweimal per-

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sönlich traf und untersuchte, beschrieb den Fall des Hamburgers in einem rund 70-seitigen monographischen Werk. Eingehend weist der Mediziner in diesem darauf hin, dass Beck durch den Verlust seines Gaumens die „wesentlichsten und unentbehrlichsten Theile zur Hervorbringung der Töne“ (Leveling 1793, 36) und damit auch der Sprache verloren hatte. Darüber hinaus habe er auch die Fähigkeit verloren, „durch das Schlucken den Genuß der Speisen sicher in den Schlund und in den Magen zu befördern.“ (Leveling 1793, 36) In dieser Beschreibung scheint Leveling der kommunikativen und der funktionellen Einschränkung durch die Versehrung Becks eine gleichwertige Rolle zukommen zu lassen. Er lässt an dieser Stelle keine Wertung erkennen. Dennoch wird, betrachtet man andere Teile der Schrift, deutlich, dass auch Leveling der Prothese im Hinblick auf die gesellschaftliche Wiedereingliederung ihres Trägers eine essentielle Rolle zuschrieb. Im Anschluss an die Beschreibung der Gaumenprothese hält der Chirurg nämlich fest: „Durch die Hülfe dieser einfachen Maschine ward nun Hr. Beck wieder in die angenehme Lage versetzt, dem Mangel seines Sprachorgans auf das bequemste abgeholfen zu haben. Er sprach nicht nur sehr deutlich […], sondern auch die Verschiedenheit der Sprachen ward ihm nicht schwer; denn er drückte sich im Deutschen, Französischen und Englischen mit gleicher Fertigkeit aus, […].“ (Leveling 1793, 40)

Im Weiteren geht Leveling noch eingehender auf den Zusammenhang von Gaumen und Sprache ein, erwähnt dabei die Funktion des Schluckens nur beiläufig. Die kommunikative Wirkung der Gaumenprothese stand offensichtlich auch noch für Leveling im Vordergrund. Auffällig ist auch, dass neben der deutlichen Fokussierung der Chirurgen auf die sozial-kommunikativen Vorteile der Gaumenprothese die Mängel oder die Nachteile, die eine solche mit sich bringen konnte, weitgehend verschwiegen werden. Dass es solche gab, zeigt der dokumentierte Fall des Hamburgers Johann Beck. Leveling legt in seiner Fallbeschreibung den körperlichen Zustand Becks anschaulich dar: Dieser sei, weil er nur Flüssiges oder stark Zerkleinertes zu sich habe nehmen können, von blasser Gesichtsfarbe mit eingefallenen Wangen und einem schwachen, hageren Körperbau gewesen. Der Arzt diagnostizierte bei Beck trotz Gaumenprothese eine „vollkommene Cachexie“ (Leveling 1793, 47). Besonders hervorzuheben ist, dass gerade Beck in den Augen seiner Zeitgenossen eine vortreffliche Prothese besaß. Beck hatte sich seine Prothese, nachdem er mit dem ersten, ihm von einem Arzt gegebenen Gaumen-Obturator unzufrieden gewesen war, selbst hergestellt (Leveling 1793, 61). Der niederländische Anatom Peter Camper (1722-1789), der Beck wie Leveling ebenfalls un-

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tersuchte und eine kurze Schrift dazu veröffentlichte, bezeichnet dessen Erfindung pointiert als „ein besonderes Kunststück“ (Camper 1770, o.S.) und kann damit offenbar auch für seine Kollegen sprechen. Beck führte auf seiner Europareise ein Reisebuch, in das er jeden, den er besuchte, einen Eintrag machen ließ; überwiegend waren dies – besonders zu Beginn der Reise – medizinische Fachleute. Die Anmerkungen zu Becks Prothese in diesem Buch sind durchweg von anerkennender und lobender Art: Ein Chirurg in Brügge vermerkte 1772, er habe Becks Erfindung „non sine admiratione“ betrachtet; 1775 berichtet ein Anatom aus Winneburg: „omni admiratione et applausu dignissimam censeo.“ Und ein französischer Chirurg und Major der Gendarmerie erklärt 1777, er habe nicht anders gekonnt „qu’admirer le genie prodigieux“ (Beck, StAHH 622-1/260, Nr. 1). Aber auch das „erstaunliche Genie“ Becks vermochte offensichtlich keine Prothese hervorzubringen, die ihn zum normalen Essen befähigte. Ein besonders großes Problem bei Gaumenprothesen waren zudem Atemprobleme – dies lässt sich aus dem Bericht Campers über Johann Beck schließen: War die Gaumenprothese mit Schwamm eingesetzt, behinderte diese die Atemwege der Nase, so dass Beck gezwungen war, stets durch den Mund zu atmen. Zusätzlich lief der Schleim der Nase in den Rachen, auch wenn ein Großteil an Flüssigkeit bereits vom Schwamm aufgesaugt wurde. Die Nase einfach zu schnäuzen war wiederum nicht möglich, da dafür der Schwamm herausgenommen werden musste (Camper 1770, o.S.). Diese geschilderten Nachteile lassen sich, da sie durch den Schwamm verursacht werden, auch auf die üblichen Gaumen-Obturatoren dieser Zeit übertragen. Die genannten funktionalen und gesundheitlichen Einschränkungen, die Träger von Gaumenprothesen in der Frühen Neuzeit trotz ihres Ersatzes zu erdulden hatten, werden somit in den chirurgischen Schriften weitgehend verschwiegen. Nun kann argumentiert werden, dass diese Feststellung mit der Quellengattung zusammenhängt – schließlich ist es nicht Aufgabe chirurgischer Fachliteratur, den Betroffenen über Pro und Contra von Prothesen aufzuklären, sondern den Chirurgen über mögliche Behandlungs- respektive Nachsorgemöglichkeiten zu informieren. Überzeugen kann dieser Einspruch jedoch nicht, denn Darstellungen zugunsten von Prothesen lassen sich zahlreich finden. Die Tatsache, dass eine Gaumenprothese ihren Träger weniger eklig erscheinen lässt, wäre rein medizinisch gesehen ebenso irrelevant wie der Hinweis auf die Schwierigkeiten beim Naseschnäuzen. Trotzdem wird das eine erwähnt, während das andere ausgelassen wird. Grund dafür kann, so die These, die höhere Bedeutung des erstgenannten für die gesellschaftliche Teilhabe sein. Denn immer wieder hebt die Argumentation der Chirurgen auffallend deutlich auf die kommunikativen Fähigkeiten und das Funktionieren des Patienten im Rahmen der gesellschaftlichen Normen ab.

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Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür sind Penisprothesen. Diese finden zwar auf der einen Seite selten überhaupt Erwähnung in den chirurgischen Schriften; werden sie jedoch erwähnt, verdeutlichen die Ausführungen andererseits in anschaulicher Weise, wie ein prothetisches Objekt die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und das Funktionieren im Rahmen gesellschaftlicher Erwartungen wieder ermöglichte. Sehr deutlich führt Paré, der diese Prothese in Form einer Kanüle mit flachem Rand am oberen Ende als erster vorstellt und nach eigenen Angaben auch erfunden hat, die Gründe für die Notwendigkeit eines Penisersatzes an: „Ceux qui ont entirement perdu la vergue virile iusques au ventre, sont en peine lors qu’ils veulent uriner, et sont contraints s’accroupir commes les femmes“ (Paré 1840b, 612). Purmann argumentiert – wahrscheinlich in Anlehnung an Paré, ohne diesen jedoch zu erwähnen – ebenfalls sehr markant: „Damit aber gleichwohl der Patient den Urin nicht nach Arth der Weiber lassen dürffe, und grosse Beschwerlichkeit habe“ (Purmann 1722, 575), solle man die Prothese nutzen. Diese Erklärung – dem Betroffenen ersparen zu wollen, wie eine Frau urinieren zu müssen – findet sich ebenfalls in Petraeus' Encheiridion Chirurgicum (Petraeus 1617, 222). Dass gerade auch dieser Teil in allen Beschreibungen zur Penisprothese zu finden ist, verweist auf die große Bedeutung des stehenden Urinierens für die Identität des Mannes in den Augen der Chirurgen. Ein Mann, der seinen Penis verloren hatte und zur Fortpflanzung nicht mehr in der Lage war, sollte offenbar zumindest noch im Stehen urinieren können. Der Verlust des primären Geschlechtsmerkmals und damit eines Teils der männlichen Identität konnte durch die Prothese somit zwar nicht kompensiert, sollte jedoch zumindest in Teilbereichen abgemildert oder zurückerobert werden. Purmann unterstreicht diese Rückgewinnung von Männlichkeit durch die Prothese noch durch die Geschichte eines Soldaten, den er nach dem Verlust seines Penis kurierte. Nachdem die Wunde des betroffenen Soldaten verheilt war und er seine Prothese erhalten hatte, konnte dieser nicht nur ohne Beschwernisse urinieren: „er bekennete mier auch / daß offt im Schlaffe der Saamen (nicht ohne Wohllust welches zu verwundern) ihme entginge“ (Purmann 1684, 360). Die nächtliche Ejakulation des Patienten dürfte kaum mit der Prothese zusammenhängen, dennoch erwähnt Purmann sie explizit in diesem Zusammenhang. Er führt die Wiedergewinnung oder Erhaltung dieser Körperfunktion nicht auf seine Behandlungsmethode zurück, sondern berichtet unmissverständlich, dass die Prothese dem Patienten sowohl zum Urinieren als auch zum Ejakulieren verhalf – wobei Purmann einschränkt, dass der Patient trotzdem wohl nie wieder Kinder zeugen könne. Im Falle der Penisprothese argumentieren die genannten Chirurgen somit in Richtung der Wiederherstellung einer gesellschaftlich erwarteten Funktionsfä-

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higkeit des Mannes. Die Prothese dient ausschließlich der Erfüllung einer gesellschaftlichen Norm. Sie ermöglicht dem Träger, (wieder) im Rahmen der gesellschaftlichen Konventionen zu funktionieren – und diese lauteten offenbar: Männer urinieren im Stehen, Frauen im Hocken. Die Einhaltung des von der Gesellschaft vorgegebenen Rollenbildes, die Erfüllung sozialer Normen wird in diesem Kontext sogar so wichtig, dass sie zur existentiellen Prämisse der Prothese wird. Der einzige Grund, warum diese Prothese überhaupt existierte, war es, dem Mann zu ermöglichen, stehend zu urinieren. Zwar gibt Paré eingangs an, dass der Verlust des Penis einem Mann sowohl Mühe („peine“) beim Urinieren verursachen könne als auch zum Wasserlassen im Hocken zwinge (Paré 1840b, 612). Dass mit der „peine“ jedoch tatsächlich nur die Art und Weise des Urinierens, nämlich hockend gemeint ist, verdeutlicht der letzte Satz des Kapitels, in dem Paré schließt, dass der Patient nun im Stehen Wasser lassen könne, „sans s’accroupir“ (Paré 1840b, 612). Diese Darstellung des künstlichen Ersatzes als eine Art Heilmittel, welches ermöglicht, den Rollenerwartungen seiner Umwelt wieder zu entsprechen oder Elemente der gesellschaftlichen Teilhabe zurückzuerlangen, lässt sich in den frühneuzeitlichen chirurgischen Schriften auch für weitere Prothesen finden – wenn auch kaum so deutlich, wie es bei den Penisprothesen der Fall ist. Bei genauer Analyse der Beschreibungen von Prothesen in den frühneuzeitlichen chirurgischen Schriften wird jedoch deutlich, dass jede Prothese offenbar in erster Linie dazu gedacht war, dem Betroffenen die Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen. Diese Feststellung gründet vor allem auf der starken Betonung ästhetischer Aspekte beim frühneuzeitlichen künstlichen Ersatz. Denn die im folgenden dargelegte Fokussierung auf Schönheit respektive die Abwesenheit derselben ist im Zusammenhang mit dem Anspruch, Normvorstellungen der Gesellschaft nachkommen zu müssen, zu sehen. Dieser Grundsatz lässt sich wiederum mit dem zeitgenössischen Glauben zusammenbringen, der Anblick von als abstoßend empfundenen Missbildungen, Versehrungen, Beeinträchtigungen oder gar Handlungen könne bei schwangeren Frauen zu Fehlgeburten oder sogenannten Monstrageburten führen (z.B. Paré 1840a, 3 und 23-25). Diese Theorie lässt sich auch häufig im Zusammenhang mit Bettelverboten finden, da Bettler nicht selten ihre Versehrungen offen zeigten, um ihren Bettelanspruch gegenüber ihrer Umwelt zu legitimieren. Grundsätzlich galt jedoch, dass jeder als abstoßend empfundene Anblick – dazu konnten mitunter auch epileptische Anfälle zählen – als eine Gefahr für die Unversehrtheit eines ungeborenen Kindes eingeschätzt wurde, weshalb derlei Anblicke weitgehend aus der Öffentlichkeit entfernt werden sollten (Zedler 1732, 1785; auch Schmidt 2017, 295-296). So verweist die in den chirurgischen Schriften formulierte Vorgabe, dass ein Makel so gut und un-

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auffällig wie möglich verdeckt werden müsse, auf die Auffassung, dass der Patient seine Mitmenschen nicht mit seinem Anblick belasten sollte. Schönheit ist damit nicht nur eine ästhetische Kategorie, sondern erhält auch eine Wirkmacht im Hinblick auf die Gesundheit anderer sowie die eigene Gesellschaftsfähigkeit. Entsprechend intensiv werden ästhetische Gesichtspunkte in die Schriften der Chirurgen eingebunden. So sind die Worte Schönheit und Zierde äußerst häufig verwendete Nomen im Kontext von Parés Traktat über Prothesen. Kommen sie in einem Kapitel nicht vor, wird stattdessen in den meisten Fällen gegensätzlich von der Abscheulichkeit oder Hässlichkeit des Patienten gesprochen. In den Kapiteln zu Augen-, Nasen-, Arm- und Beinprothesen wird von „ornement“ gesprochen. Über „beauté“ oder Hässlichkeit (in unterschiedlichen Bezeichnungen) wird, mitunter mehrfach, in den Kapiteln zu Lippen-, Arm- und Beinprothesen geschrieben. Das Kapitel zu künstlichen Ohren weist zwar keines der genannten Worte auf, Paré weist aber im Zusammenhang mit dem Verlust eines Ohres oder eines Teils desselben auf die entstellende Wirkung auf das Aussehen des Betroffenen hin. Lediglich in den Kapiteln zur Gaumen-, Zungen- und Penisprothese bleiben Schönheit und Zierde unerwähnt, was besonders an ihrer verborgenen Lage liegen dürfte (Paré 1840b, 603, 605, 610, 615 und 620; außerdem Paré 1840a, 248). Denn für Patienten, die besonders auffällige Verunstaltungen im Gesicht tragen, empfiehlt Paré sogar eine Maske: „que le face demeurée extremement hideuse à voir, de façon que le malade est grandement espouvantable à le voir : et à ceuxlà il leur faut bailler une masque faite si proprement, qu’ils puissent converser avec les hommes.“ (Paré 1840b, 610) Paré betont hier gleich zweimal die ästhetischen Auswirkungen von Verwundungen und Krankheiten im Gesicht und steigert diese zudem noch mit verstärkenden Adverbien. Der Patient sieht also nicht nur „abscheulich“ aus, sondern „äußerst abscheulich“, nicht nur „grauenvoll“, sondern „in hohem Maße grauenvoll“. Es bleibt kein Zweifel, dass es nach Parés Empfinden unverzichtbar ist, Verunstaltungen abzudecken. Ein Argument für diese strikte Haltung lässt sich in den Ausführungen Parés zu den gänzlich oder halb verloren gegangenen Ohren erkennen. In diesem Zusammenhang verweist Paré auf eine epochenspezifische Verbindung, die die offenbare Intoleranz gegenüber sichtbaren Mängeln zumindest im Ansatz zu erklären vermag. Denn bereits in seinem ersten Buch, in dem er allgemein von den Ohren schreibt, stellt er fest: „L’utilité desdites oreilles sert à la beauté de la teste: ce qui appert evidemment par ceux qui les ont coupées, combien ils sont difformes et mal-plaisans à voir: pour ceste cause, on les coupe à ceux qu’on veut rendre difformes et infasmes, pour quelque grande meschanceté.“ (Paré 1840a, 248)

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Paré bringt den Verlust der Ohren in diesen Zeilen in einen Zusammenhang mit Kriminalität: Jenen, die eine Boshaftigkeit begangen haben, werden die Ohren abgeschnitten, um sie zu verunstalten. Zwar wurden Leibesstrafen schon seit dem Spätmittelalter immer seltener vollstreckt, sie waren indes zumindest noch theoretischer Teil geltenden Rechts (Groebner 1995, 4-5; außerdem Deutsch 2016, 778-789). Sowohl in Gesetzesbüchern schriftlich festgehalten als auch im kollektiven Gedächtnis der Zeitgenossen lebte die symbolhafte Bedeutung körperlicher Beeinträchtigung bis weit in die Frühe Neuzeit fort. Damit wurde die Notwendigkeit einer Ausbesserung des Makels noch dringlicher. Denn man konnte einem Menschen unter Umständen zwar eine Versehrung direkt ansehen, nicht jedoch den Grund für dieselbe. Ebenso verhielt es sich mit Schäden, die den Symptomen ehrenrühriger Krankheiten wie der Syphilis ähnelten. So waren gerade Verwundungen im Gesicht vermutlich aufgrund ihrer unmittelbaren Präsenz und ihres missverständlichen Potentials offenbar von besonderer Schwere, weshalb Paré auch zum Tragen einer Maske rät. Dabei geht es nicht nur um die ästhetischen Auswirkungen, auch die gesellschaftlichen Folgen werden implizit angesprochen. Denn erst mit der Maske – in diesem Fall zu verstehen als Gesichtsprothese – ist es dem Betroffenen laut Paré möglich, wieder mit Menschen zu sprechen. Eine Teilhabe an der Gesellschaft wird somit erst durch die Ausbesserung oder das Verdecken des Makels ermöglicht.2 Diese Bestimmung einer Prothese zum Hilfsmittel gesellschaftlicher Reintegration wird auch bei Leveling deutlich zum Ausdruck gebracht, als er auf die künstliche Nase Becks zu sprechen kommt. Am Ende seiner Beschreibung dieser Prothesen schließt Leveling: „Dieß ist die Methode, welche Hrn. Beck zum Schleier seiner häßlichen Gestalt diente, wodurch er dem Ekel der Umstehenden, die durch die Entblößung einer so ungewöhnlichen als abscheuvollen Zerstörung des wesentlichsten Theils des Angesichts ihn ihres Anblickes vielleicht nicht gewürdiget hätten, nicht nur die engsten Gränzen setzen, sondern auch sich selbst vor den Augen seiner Mitmenschen erträglicher machen konnte.“ (Leveling 1793, 45)

Der künstlichen Nase schrieb Leveling folglich sehr klar eine wiedereingliedernde Wirkung zu. Sie machte es seiner Überzeugung nach möglich, dass Beck ohne Anstoß zu erregen in zwischenmenschlichen Kontakt treten konnte. Eine Be-

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Dabei ist der Makel hier hervorgehoben, um zu verdeutlichen, dass er nur oder zumindest vom Umfeld des Betroffenen als ein solcher empfunden wird und daraus erst die Erwartungshaltung respektive Notwendigkeit entsteht, verdeckend tätig zu werden.

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trachtungsweise, die Leveling gleich zu Beginn seiner Schrift nicht nur im Zusammenhang mit Gaumen- und Nasenprothesen äußert, sondern auch im Allgemeinen auf Prothesen bezieht: „Es macht den Fortschritten der Wundarzneikunde immer ausgezeichnete Ehre, wenn sie ihre Bemühungen nicht blos [sic] allein auf eine mit glücklichem und lehrreichem Erfolge begleitete Abnahme schadhafter und unbrauchbarer Glieder des lebenden menschlichen Körpers einschränkt, sondern ihr Bestreben auch dahin ausdehnt, um manchem auf diese Art durch die unvermeidlichen Folgen der Kunst, von denen oft das Leben abhangt, verstümmeltem menschlichen Geschöpfe einen solchen Ersaz [sic] des vom ganzen getrennten Theiles zu geben, daß es wieder zu allen nothwendigen thierischen Verrichtungen fähig, und was das vorzüglichste ist, ohne im Angesichte seiner Mitmenschen Ekel zu erregen, frei im Zirkel der Welt fortwandeln kann.“ (Leveling 1793, 1-2)

Diese Auffassung, Prothesen vorrangig als ästhetisches Hilfsmittel zu betrachten sowie deren Nutzung als eine Art Pflicht sich selbst und der Gesellschaft gegenüber darzustellen, findet sich nicht nur bei Paré und Leveling. Sie ist auch in der Zeit zwischen 1575 und 1793 immer wieder bei den Chirurgen zu beobachten. Allerdings wird diese Position in nur wenigen Fällen ebenso intensiv und für alle Arten von Prothesen vermittelt, wie dies bei Paré und Leveling der Fall ist. Heinrich Petraeus beispielsweise sieht in vielen Prothesen weniger ein Muss, sondern betrachtet sie vielmehr als eine Möglichkeit, die wahrgenommen werden kann ‒ und in der Regel auch wird. So schreibt Petraeus 1617, ein durch eine verlorene Nase entstelltes Gesicht pflege man mit einer gemachten Nase zu verbergen. Von einem Zwang oder einer unbedingt gebotenen Pflicht des Betroffenen, seinen Makel oder seine Entstellungen zu verbergen, ist nicht die Rede (Petraeus 1617, 220-221). Mit dieser eher zurückhaltenden Formulierung steht Petraeus jedoch nicht allein unter den frühneuzeitlichen Chirurgen. Purmann macht beispielsweise 1684 im Hinblick auf den Verlust von Nase oder Ohr deutlich, dass ebenso die Möglichkeit bestehe, diese sorgsam zu pflegen und verheilen zu lassen. Prothesen nennt auch er als Alternative, jedoch nicht als unbedingtes Muss (Purmann 1684, 44-45). Und selbst Heister spricht bezüglich der Nutzung von Nasenprothesen nur von einem Können und nicht von Müssen (Heister 1724, 548). In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass eine Wahlmöglichkeit zwischen Behandlung und Nichtbehandlung einer Beeinträchtigung stets einen gewissen Zwang zur Therapie in sich trägt. In Übereinstimmung mit David M. Turner stellte dies auch Patrick Schmidt in seiner Habilitationsschrift zu beeinträchtigten Menschen in printmedialen Diskursen des 17. und

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18. Jahrhunderts heraus: So wecke die Existenz von Therapiemöglichkeiten stets die gesellschaftliche Erwartung an den Betroffenen, diese auch wahrzunehmen (Schmidt 2017, 365). In den von Schmidt untersuchten printmedialen Texten wird dieser Druck auf Betroffene allerdings in deutlich höherem Maße wirksam, da sie eine größere gesellschaftliche Wirkung entfalteten als chirurgische Schriften. Ihr Rezipientenkreis war größer und bestand nicht nur aus medizinischem Fachpersonal oder interessierten Laien. Auch die Tatsache, dass ein chirurgisches Traktat erst zur Hand genommen wurde, wenn ein Wille zur Behandlung bereits bestand, muss berücksichtigt werden. Dennoch ist ein impliziter Zwang, der auch größere gesellschaftliche Wirkkraft entwickelte, bei der vorliegenden Thematik nicht von der Hand zu weisen. Die Existenz von Prothesen wird auch über die fachlichen Kreise hinaus weithin bekannt gewesen sein. Gerade im Falle deutlich sichtbarer Verluste, wie Nasen und Augen, wird angesichts des hohen Stellenwerts von Schönheit und der immer wiederkehrenden Betonung, seinen Mitmenschen einen solchen Anblick zu ersparen, ein deutlicher Druck auf Betroffene geherrscht haben. Dass frühneuzeitliche Chirurgen von einem Können im Hinblick auf die Nutzung bestimmter Prothesen sprechen, bedeutet somit keinesfalls, dass es sich praktisch auch für die Patienten um ein solches gehandelt hat. Bei bestimmten Versehrungen jedoch herrschte auch zwischen den meisten Chirurgen der Frühen Neuzeit ein Konsens in der Pflicht zum Ausgleich respektive Verbergen: Im Falle von Augen- und Penisverlusten. Auf die Beweggründe, die einen Penisersatz aus der Perspektive frühneuzeitlicher Chirurgen unbedingt erforderlich machten, wurde bereits eingegangen: Die Erfüllung gesellschaftlicher Rollenbilder war in diesem Fall leitend. Im Kontext versehrter oder verlorener Augen argumentierten die Autoren der medizinischen Schriften wieder, wie auch beim Nasen- und Ohrenersatz, mit der Ästhetik – allerdings hoben sie dabei in wesentlich stärkerem Maß die notwendige Unauffälligkeit der Prothese hervor. Stets wiesen sie darauf hin, dass ein solcher Missstand dringend behoben werden müsse. Fabricius ab Aquapendente legt 1672 dar, dass, wenn ein solcher Schaden schon entstanden sei, „man hernach mehr auf die Zierligkeit des Auges sehen“ (Fabricius 1672, 272-273) und ein künstliches Auge einsetzen müsse. Und auch Purmann ist der Ansicht, dass, so die Funktion nicht wiederherzustellen sei, der Betroffene zumindest von dem augenscheinlichen Makel zu befreien sei: „Und diß sage ich, wo ein Auge mangelt, und keine Hoffnung das Gesichte wieder zu bringen übrig, so muß man ebenfalls seine Zuflucht zur Ersetzung und Nachahmung desselben nehmen, und sich damit, weil es nicht anders seyn kan, vergnügen.“ (Purmann 1722, 217; auch schon Purmann 1684, 121)

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Der französische Augenarzt Charles de Saint-Yves (1667-1731) zählt es sogar ganz eindeutig zu den Pflichten seines Faches, nicht nur die Ersetzung verlorenen, sondern auch die eines lediglich unbrauchbar gewordenen Auges gewährleisten zu können: „Es ist aber nicht gnug, die Erkänntniß von Augen-Kranckheiten zu haben, und die Mittel zu wissen, selbige zu curiren; sondern es gehöret noch dazu, wenn ein Auge gantz und gar unnütze und ungestalt ist, daß der Oculiste die Art und Weise wisse, ein solches Auge in den Stand zu setzen, daß ein künstlich Auge könne herein gesetzet werden, dergestalt, daß indem es die Gestalt des gesunden Auges hat, dasselbe sich auch gleich denselbigen bewege. Die Kunst muß also hierinnen der Natur so gleich kommen, daß kein Unterscheid, weder unter dem einen noch dem andern sey.“ (Saint-Yves 1730, 347-348)

Dass der Entfernung eines Auges die Anschaffung einer Augenprothese folgte, stand für de Saint-Yves folglich völlig außer Frage, denn er weist auf die Notwendigkeit hin, dass die Augenhöhle auf eine bestimmte Weise präpariert werden müsse, um überhaupt eine Prothese aufnehmen zu können. Die Behandlung des Patienten sollte damit von Beginn an auf eine anschließende prothetische Versorgung ausgerichtet werden. Als Oculist dürfte de Saint-Yves die Beachtung solcher Voraussetzungen für die Augenprothetik näher gestanden haben als den allgemeinen Chirurgen. Doch auch bei diesen finden sich Überlegungen in eine solche Richtung. So weist Purmann 1710 in seiner Fallsammlung der Curiösen chirurgischen Observationes darauf hin, dass die Augenhöhle bei einem Verlust des Auges auf eine bestimmte Art behandelt werden müsse, damit der Patient im Anschluss ein Kunstauge einsetzen könne (Purmann 1710, 40). Und Heister geht im Zusammenhang mit Augenprothesen in seiner Empfehlung sogar so weit, dass, sollte das künstliche Auge nicht bequem in die Augenhöhle passen, weil der Überrest des verdorbenen Auges noch zu groß sei, dieser in einer weiteren Operation so weit verkleinert werden müsse, bis das künstliche Auge ohne Probleme in die Augenhöhle eingebracht werden könne (Heister 1724, 531). Der Augenersatz wurde somit offenbar als ganz besonders wichtig betrachtet. Der Grund für die hohe Bedeutung – und dies dürfte für alle sichtbaren Versehrungen gelten – mag zum einen darin liegen, dass in dieser Zeit durch die Wiederentdeckung des galenischen Gesundheitskonzepts in der Medizin die Werte Schönheit, Harmonie und Natürlichkeit im Zusammenhang mit körperlichen Idealvorstellungen besonders stark betont wurden (Gadebusch-Bondio 2005, 61). Ein Mensch mit so offensichtlicher Beeinträchtigung widersetzte sich jedem dieser Grundwerte. Als weiteren Grund für die hohe Bedeutung protheti-

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schen Ersatzes für sichtbare Versehrungen führen die Chirurgen gesellschaftliche Verträglichkeit an: Man solle seine Umwelt nicht mit einem für Viele als so abstoßend empfundenen Äußeren belästigen. Die besondere Wichtigkeit okularer Prothetik, wie sie sich in den chirurgischen Schriften präsentiert, wird mit der angeführten Argumentation allerdings nicht erklärt. Auch die Nutzung einer Augenklappe würde verhindern, dass die Umwelt dem so schrecklichen Anblick ausgesetzt ist. Und der Verlust einer Nase war ebenso sichtbar wie der eines Auges, dennoch wird in jenem Fall weniger vehement auf prothetischem Ersatz bestanden. Es erscheint naheliegend, den Grund für den ungleich höheren Wert von Augenprothesen auch in dem Umstand zu suchen, dass der Verlust eines Auges in der Frühen Neuzeit immer noch seltener vorkam als der einer Nase. Der Anblick eines Einäugigen war somit ungewohnter als der eines Menschen ohne Nase. Allein die Syphilisepidemie zu Beginn der Frühen Neuzeit wird eine größere Menge nasenloser Menschen hervorgebracht haben. Duelle, Unfälle, Rache- und Strafakte kamen hinzu. Im Gegensatz dazu gibt es nur äußerst wenige Umstände, die zu einem vollständigen Verlust des Auges, d.h. auch des Augapfels und nicht nur des Sehvermögens, führen. Darüber hinaus sind es die Augen, die in der Konversation oder Konfrontation mit einem Gegenüber im Regelfall im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Sie dienen als Kommunikationsinstrument, als Kommunikationsträger und Kontakt herstellendes Organ. Literarisch galten die Augen durch die gesamte Frühe Neuzeit immer wieder als „Fenster zur Seele“ (Hennigfeld 2008, 111). Das Unbehagen gegenüber Menschen, die offensichtlich ein Auge verloren hatten, mag durch diese Eigenschaften des Auges, durch diese bedeutungsaufgeladene Betrachtungsweise, verstärkt worden sein, weshalb von den Chirurgen umso vehementer auf dem Ersatz bei Verlust bestanden wurde. Nun handelt es sich bei den zuletzt beschriebenen Prothesen um ästhetische Prothesen, die ohnehin keinerlei praktischen Nutzen im Sinne einer Wiederherstellung von Körperfunktionen hatten. Ein künstliches Auge konnte nicht das Sehen, eine künstliche Nase nicht das Riechen ermöglichen. In diesen Fällen also mit der Ausbesserung des unansehnlichen Äußeren des Patienten zu argumentieren, wirkt auf den ersten Blick logisch und wenig überraschend. Bedeutender erscheint die Tatsache, dass auch bei Beinprothesen, viel mehr noch bei Armund Handprothesen eine ähnlich starke Gewichtung ästhetischer und reintegrierender Aspekte zu finden ist. Schon bei Paré fällt auf, dass dieser bei den Kunstgliedern für die oberen und unteren Extremitäten äußerst bedacht auf Schönheit war und nicht nur die Funktionalität im Blick hatte. Anschaulich wird anhand der Abbildungen, dass bei der Konstruktion große Sorgfalt auf Form und Natür-

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lichkeit der Kunstglieder verwendet wurde.3 Paré selbst schreibt sogar explizit, dass die abgebildeten Kunstglieder nicht nur der Bewegung dienen, sondern auch „à la beauté et ornement.“ (Paré 1840b, 615) Deutlicher in seinen Äußerungen zum Stellenwert von Ästhetik beim künstlichen Ersatz wird Petraeus. Dieser bestimmt 1617 „die verstaltnuß zubedecken“ (Petraeus 1617, 216) als eine der Hauptaufgaben von Prothesen. Dies äußert er allerdings in Bezug auf Körperteilersatz im Allgemeinen. Konkret auf Arm- und Beinprothesen bezieht er es nicht. Matthäus Gottfried Purmann hingegen betont 1684 nicht nur im Zusammenhang mit Wunden im Gesicht respektive Gesichtsprothesen den hohen Stellenwert von Schönheit und Natürlichkeit, sondern weist auch in seinen Ausführungen zu Arm- und Beinamputationen darauf hin, dass eines der Hauptziele des Chirurgen „des Gliedes Zierligkeit“ sei (Purmann 1684, 571). Mit dem Chirurgen Lorenz Heister dann erreichte die Berücksichtigung ästhetischer Aspekte in der Prothetik 1724 gewissermaßen einen Höhepunkt. Noch häufiger als Purmann und alle anderen Chirurgen des 16. und 17. Jahrhunderts schreibt er über Schönheit beziehungsweise „Heßlichkeit“. Im Zusammenhang mit fast jeder Prothese, die er in seiner Chirurgie erwähnt, geht er auf die ästhetischen Einschränkungen ein, die durch die Prothese verborgen werden sollen (z.B. Heister 1724, 439, 443, 530 und 548). Wie sehr er jedoch seinen Fokus auf die Sichtbarkeit einer Versehrung legte, zeigt sich besonders in seinen Kapiteln zur Amputation des Beines. Dort geht er gleich mehrfach auf die Notwendigkeit ein, so zu amputieren, dass die Versehrung unbemerkt bleibe. Was bei anderen Chirurgen im Bezug auf die bequeme Nutzung eines Kunstbeines ebenfalls empfohlen wird – nämlich die Amputation unter dem Knie –, wird bei Heister zu einem guten Teil auch mit ästhetischen Aspekten begründet. Ihm geht es nicht nur um den möglichst unkomplizierten Gebrauch eines Kunstbeines, sondern vor allem auch darum, dass die Hässlichkeit verborgen werde. Der Stumpf müsse möglichst kurz sein, um gut versteckt werden zu können und dem Patienten zudem einen natürlichen Gang zu ermöglichen – einen Gang also, der nicht erahnen lässt, dass der betroffenen Person ein Bein fehlt (Heister 1724, 439-441).

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Natürlichkeit ist in diesem Zusammenhang zum einen im Sinne der Annäherung an die Bewegungsmöglichkeiten der natürlichen Arme, Hände und Beine zu verstehen. Diese wurde gewährleistet durch eine größere Anzahl Gelenke, die Paré in seine Kunstglieder einbauen ließ. Zum anderen ist Natürlichkeit auch im Kontext des Lebensalltags der Träger zu betrachten. Für einen Ritter konnte ein Kunstbein, dass im Stil einer Rüstung angepasst war, „natürlicher“ sein als ein anatomisch korrekt nachgebildetes Kunstbein.

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Heister widmet sich folglich in geringerem Maß den eigentlichen Prothesen, sondern intensiviert den Konnex von Prothesen und Schönheit respektive Natürlichkeit, indem er auch im Hinblick auf Arm- und Beinprothesen derart eindringlich auf ästhetische Belange hinweist. Vor allem bei Beinprothesen betont er die Funktion, Hässlichkeit zu verbergen und einen natürlichen Gang zu ermöglichen. Doch auch die Erwähnung von Arm- und Beinprothesen im Allgemeinen ergänzt Heister mit dem Hinweis, dass diese vor allem Hässlichkeit verbergen sollten (Heister 1724, 443). Die Berücksichtigung ästhetischer Gesichtspunkte auch im Hinblick auf eigentlich funktionale Prothesen hatte sich somit offensichtlich im Verlaufe der Frühen Neuzeit bei den Chirurgen immer mehr durchgesetzt. Benjamin Bell erörtert am Ende des 18. Jahrhunderts ebenfalls nicht mehr nur im Zusammenhang mit Augenprothesen die notwendige Natürlichkeit sowie die „deformity“, die die Prothese ausgleiche (Bell 1785, 392). Er spricht überdies von verschiedenen Arten prothetischer Beine und führt aus, welche seiner Meinung nach schöner seien und welche am natürlichsten aussähen (Bell 1788, 375 und 383). Und auch Peter Theodor Leveling sieht ‒ ebenso wie Paré ‒ 1793 in der allgemeinen Prothetik zu einem großen Teil ein ästhetisches Hilfsmittel, das sowohl dem betroffenen Versehrten als auch der Gesellschaft diene: „Dem Wundarzt, welcher dieses vermag [nicht nur die Amputation, sondern auch die Versorgung mit einer Prothese, M.H.], gebührt nach meiner Meynung doppelter Dank; weil er nicht nur dem Elenden, welcher durch seine Hilfe Gestalt und Anstand mittelst der Ersetzung des mangelnden Gliedes zurück erhält, gleichsam ein neues Geschenk macht, und dadurch die Lücken der Natur ausfüllt; sondern auch die ganze Menschheit sich verbindet, da der Anblick eines solchen Unglücklichen in seiner üblen Wirkung auf die Umstehenden entkräftet wird.“ (Leveling 1793, 2)

Die angeführten Beispiele, Levelings Aussage am deutlichsten, beziehen sich nun vorrangig auf die Gesellschaft und deren Reaktion und lassen die Perspektive des Prothesenträgers weitgehend im Dunkeln. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch von Seiten der Träger den ästhetischen Aspekten offenbar ein sehr großer Wert beigemessen wurde, zeigt sich in der Prothesengestaltung. Ein anschauliches Beispiel ist die um 1510 entstandene sogenannte Grüninger Hand (Abb. 1).

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Abbildung 1: Grüninger Hand, um 1510, Deutsches Historisches Museum Berlin (Inv.-Nr. AK 2016/26)

Quelle: © Deutsches Historisches Museum / S. Ahlers

Die Prothese wurde mit zwei Fingerblöcken ausgestattet, besitzt einen starren Daumen sowie ein unbewegliches Handgelenk. Der Oberarmschaft ist sehr schlicht aus Eisenblech gearbeitet. Dieser und das mechanische Ellenbogengelenk stehen optisch in starkem Gegensatz zum unteren (beim Tragen sichtbaren) Teil der Prothese. Denn die aus Eisen bestehende Hand wurde in der Farbe menschlicher Haut bemalt und bis hin zu den Fingernägeln und Gelenkfalten ausgearbeitet. Bei einer Zahl weiterer Prothesen aus dieser und der folgenden Zeit lässt sich eine ebenso detailgetreue Imitation des Natürlichen beobachten. Fein ausgearbeitete Fingernägel, Gelenkfalten und fleischfarbene Bemalungen sind häufig zu findende Details bei frühneuzeitlichen Hand- und Armprothesen (Löffler 1984 gibt einen schönen Überblick über die meisten der heute bekannten und erhaltenen). Nicht selten wurde diese Natürlichkeit vermischt mit Details, die an Rüstungsteile erinnerten. Natürlich bedeutete in diesem Zusammenhang somit nicht immer nur dem nackten Glied nachempfunden, sondern unter Umständen auch optisch dem Alltag und Umfeld des Trägers angepasst. So erklärt sich, dass gerade im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts – solang der

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Ritterstand noch Plattenharnische, also Ganzkörperrüstungen, trug – auch rüstungsähnliche Arm- und Beinprothesen hergestellt wurden. Das bekannteste Beispiel für eine solche Prothese dürfte die zweite Jagsthäuser Hand sein, die berühmtere der beiden sogenannten Götz-Hände, die der fränkische Ritter Götz von Berlichingen (1480-1562) zu Beginn des 16. Jahrhunderts als Ersatz für seine im Kampf verlorene rechte Hand fertigen ließ (Abb. 2). Diese Prothese erweckt in ihrer Konstruktion und Form den Eindruck eines Rüstungsarmes, hat aber trotzdem ausgearbeitete Fingernägel. Die Darstellung von Gelenkfalten erübrigt sich aufgrund der Tatsache, dass jeder einzelne Finger aus drei Teilen besteht und in den anatomisch üblichen Gelenken gebeugt werden kann. Grundsätzlich gilt die ausgefeilte Technik der Götz-Hand, die im frühen 16. Jahrhundert gebaut wurde, für diese Zeit als ein Novum. Zahlreiche Gelenke im Innern sorgten für eine große Palette an Bewegungsmöglichkeiten (Löffler 1984, 48-50). Abbildung 2: Erste (links) und Zweite (rechts) Jagsthäuser Hand im Museum der Burg Jagsthausen, 16. Jahrhundert, Museum der Burg Jagsthausen (ohne Inv.Nr.)

Quelle: © Bildarchiv Gemeinde Jagsthausen

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Das hohe technische Niveau der zweiten Götz-Hand diente allerdings nicht vorrangig funktionalen Zwecken. Nachweislich war die Bedienung der Prothese äußerst aufwändig und konnte im Alltag eher behindern als hilfreich sein. Zudem war sie den Anforderungen des täglichen Gebrauchs nicht gewachsen, da sie durch die filigrane Mechanik und die Gelenke für Defekte sehr anfällig war (Löffler 1984, 36). So stellte Günter Quasigroch fest, dass die zweite Götz-Hand nur einen schwachen Griff hatte, schwere Gegenstände damit also kaum zu heben waren, und auch das künstliche Handgelenk unter hohem Druck Schaden genommen hätte (nach Frohne 2014, 351-352, Anm. 96). Die erste Jagsthäuser Hand (Abb. 2) war in ihrer Bedienung wesentlich simpler, insgesamt robuster und dabei auch noch um einiges leichter. Götz trug, so wird anhand der Abnutzungsspuren an seinen beiden Prothesen vermutet, seine erste, einfachere Hand wesentlich häufiger. Folglich erweist sich, dass die naturgetreue Nachbildung mit unzähligen Gelenken eher der Imitation des verlorenen Körperteiles diente, da das vermeintliche Mehr an Funktionalität im Alltag behindernd wirkte und zu einer höheren Fragilität der Prothese führte (auch Kahlow 2009, 212). Die aufwändigen Mechanismen, die auf den ersten Blick wie die Bemühung um eine höhere Funktionalität aussehen, sind somit häufig auf den zweiten Blick eher ästhetisch geleitet. Eine objektgebundene Erörterung, wie sie für den Ersatz der oberen Extremität an vielen noch erhaltenen Realien möglich ist, lässt sich für die Beinprothesen der Frühen Neuzeit nicht leisten. Denn frühneuzeitliche Überreste von Kunstbeinen sind wesentlich seltener, als dies bei künstlichen Armen und Händen der Fall ist. Dies mag an der überwiegenden Nutzung von Eisen für Handprothesen liegen. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil künstlicher Holzbeine aus Gründen der Verwitterung oder auch anderweitiger Nutzung (wie Verfeuerung) verlorengegangen ist (Kahlow 2009, 217). Dennoch lässt sich anhand schriftlicher Quellen erkennen, dass auch für den Ersatz der unteren Extremität der Fokus deutlich auf ästhetische statt funktionale Aspekte gelegt wurde. Ebenso wie bei Handprothesen schuf die Erhöhung von Gelenken vorrangig nur einen natürlicheren Bewegungsablauf. Und wie bereits erwähnt, waren es vor allem Unauffälligkeit und Natürlichkeit der körperlichen Erscheinung eines Patienten, die als oberste Ziele einer chirurgischen Behandlung definiert wurden: Die Amputationshöhe richtete sich in den Erörterungen der Chirurgen danach, ob der Patient im Anschluss unauffällig mit seiner Prothese leben konnte. Sehr eindrücklich kann die Dominanz ästhetischer Aspekte auch an einer der wenigen heute noch erhaltenen Beinprothesen dargelegt werden: am sogenannten „Sil-

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bernen Bein“4 des Landgrafen Friedrichs II. von Hessen-Homburg (1633-1708) (Abb. 3). Abbildung 3: „Silbernes Bein“ des Landgrafen Friedrich II. von HessenHomburg, 1670er, Museum Schloss Homburg (Inv.-Nr. L-4.7.112)

Quelle: © Hessische Hausstiftung, Photo: Renate J. Deckers Matzko

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Woher die Beinprothese Friedrichs II. seinen Namen bekam, ist ungewiss. Nachweislich wurde bei der heute noch erhaltenen Prothese kein Silber verwendet. Bis heute haben sich vier verschiedene Theorien zum Ursprung des „Silbernen Beines“ entwickelt. Während der Heimatforscher Heinrich Jacobi von einer euphemistischen Konstruktion des Volksmundes ausging, schrieb Kuno Graf von Hardenberg die Bezeichnung dem alten Sprachgebrauch zu, der „silbern“ – im Gegensatz zu „golden“ – ganz allgemein als Ersatz für etwas interpretiert. Die Kunsthistorikerin Angelika Baeumerth äußerte eine sehr ähnliche Theorie, in der sie das „silberne“ des Beines als eine Metapher verstand, in dem Sinne, dass das Bein in seinem Wert dem Silber vergleichbar sei. Eine andere Möglichkeit sei, so Baeumerth, dass die wirkliche silberne Prothese des Landgrafen nicht erhalten geblieben ist (Baeumerth 1982, 19).

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Dieses Kunstbein war für seine Zeit von besonders hoher technischer Raffinesse. Es wurde mit einem Mechanismus konstruiert, der die Kraft von Schien- und Wadenbeinmuskulatur ersetzt und dadurch ein Abrollen des künstlichen Fußes ermöglicht. Obwohl das Bein in seiner Form ein einfacher Knieruhstelz war, wurde die Beweglichkeit des Fußes im Unterschenkelteil des Kunstbeines durch eine federgesteuerte Mechanik gewährleistet. Die besondere, innovative Konstruktionsweise konnte 1980 in der orthopädischen Klinik Wiesbaden mittels einer röntgenologischen Untersuchung festgestellt werden (Eichler 1982, 11-12). Dennoch hatte auch der Landgraf mit Einschränkungen zu kämpfen. Friedrich II. wurde knapp unter dem Knie amputiert und hatte somit noch sein natürliches Knie. Dies dürfte er jedoch – in die Gabel des Kunstbeins gekniet – nicht mehr zum Einknicken des künstlichen Beines gebraucht haben können, so dass er trotz seiner technisch hochwertigen Prothese mit steifem Knie gegangen sein muss und auch beim Sitzen nicht in der Lage gewesen sein dürfte, das Bein anzuwinkeln. Anschaulich beschrieb schon der Mediziner Carl Alexander Ferdinand Kluge (1782-1844) die Probleme, die sich daraus für den Prothesenträger ergaben: Er musste bei jedem Schritt mit dem Oberschenkel einen mehr oder weniger großen Bogen nach außen beschreiben und dafür das Becken auf der entsprechenden Seite heben, was auf Dauer Gelenken, Knochen und Haltung schadete und zu Schmerzen geführt haben dürfte (Fritze 1842, 64). Selbst die hochwertige, kostspielige Technik des Kunstbeines Friedrichs II. konnte folglich nicht alle Nachteile eines Knieruhbeins ausgleichen. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass der Landgraf zusätzlich zu seiner Prothese einen Gehstock benötigte. Der Rechnungssammelband des Hessen-Homburgischen Hauses erwähnt immer wieder Ausbesserungsarbeiten an „I(hro) f(ürstlich) d(urchlaucht) Stock“ (Darmstadt, HStAD D 11 Nr. 32/2, fol. 7r; siehe auch fol. 12v, 16v, 53v, 132v, 133v, 136v,162v, 163v). Zusätzlich werden zweimal Krücken erwähnt, was darauf hindeutet, dass Friedrich zwischenzeitlich entweder stärkere Unterstützung zu seiner Prothese brauchte oder während Reparaturen auf das Kunstbein verzichten musste (Darmstadt, HStAD D 11 Nr. 32/2, fol. 173r und 238v). Eine Unterstützung zu seiner Prothese brauchte er in jedem Fall. Die Forschungen zur Beinprothese des Landgrafen deuten neben den physischen Einschränkungen auch auf einen weiteren Nachteil des so kunstvollen Ersatzes: Er bedeutete einen immensen Kostenaufwand. Allein die Herstellung dauerte nach Schätzungen des Historikers Joachim Eichler über acht Wochen (Eichler 1982, 13) – der Preis des Kunstbeines dürfte entsprechend hoch gewesen sein. Der Rechnungssammelband Friedrichs offenbart zudem, dass der künstliche Schenkel des Öfteren überholt und repariert werden musste. Im Zeitraum von 1682 bis 1687, knapp zehn Jahre nach Herstellung des Kunstbeins, sind zwölf Einträge verzeichnet, in de-

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nen von Arbeiten an der Prothese gesprochen wird (Darmstadt, HStAD D11 Nr. 32/2, fol. 39v, 59r, 59v, 168v, 178r, 184v, 202r, 203v, 207r, 215v und 239v). Die kostspieligste der Reparaturen (den „Schenckel Zumachen“) wird mit vier Reichstalern beziffert. Für einen Bruchteil dessen – 20 Albus – kaufte der Hof beispielsweise einen guten Monat zuvor ganze zwei Pfund Zucker, welcher zu dieser Zeit noch zu den ausgesprochen teuren Genussmitteln gehörte (Darmstadt, HStAD D 11 Nr. 32/2, fol. 202v). Der Vorteil, den Friedrich II. also durch sein aufwändiges Kunstbein hatte – das Abrollen des Fußes –, war folglich nicht nur mit ähnlich vielen körperlichen Belastungen verbunden, wie sie bei einem simpleren Knieruhstelz auftraten, sondern führte zudem auch zu einem deutlich höheren finanziellen Aufwand durch häufig auftretende Reparaturen. Dennoch nutzte der Landgraf sein Bein intensiv, worauf sowohl die Abnutzungsspuren als auch die wiederholten Handwerksarbeiten hindeuten. Wenn es aber nicht der praktische Nutzen war, so muss es eben – unter anderem – auch das natürliche Erscheinungsbild gewesen sein, das Friedrich II. dazu bewog, seine Prothese zu behalten und zu pflegen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass gerade im Hinblick auf den Zusammenhang von Prothesen und Disability der zweite Blick lohnt. Die Prothese war kein einfaches Ausbesserungsmittel, kein bloßes Kennzeichen eines Makels oder eines sozialen Standes. Sie war nicht bloßes Ding im Laufe der Zeit. In den untersuchten chirurgischen Schriften erscheinen Prothesen stattdessen vorrangig als ein Mittel der gesellschaftlichen Reintegration. Ob zur Wiederherstellung kommunikativer Fähigkeiten, als Abmilderung der verstörenden optischen Wirkung auf die Umwelt, als möglichst natürliche Wiedervervollständigung des Versehrten oder als Mittel zur Erfüllung gesellschaftlicher Rollenbilder: Frühneuzeitliche Prothesen dienten in den Augen der (chirurgischen) Zeitgenossen offenbar primär der Wiederherstellung gesellschaftlicher Funktionalität. Das in der Frühen Neuzeit wiederentdeckte Credo Mens sana in corpore sano bedeutete eben offensichtlich nicht nur, dass der Körper einwandfrei funktionieren sollte, sondern dass er auch optisch keinerlei Störungsfaktoren aufwies. Gesundheit war somit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern umfasste auch die Empfindung der Zeitgenossen, beim Anblick eines Körpers einen harmonischen, sprich: optisch nicht als unangenehm empfundenen Körper vor sich zu haben. Eine Prothese war in diesem Zusammenhang dann ein Mittel, den Anblick des Versehrten erträglicher zu machen, damit er wieder an sozialer Interaktion teilhaben konnte. Sie konnte somit ein Instrument zur Reintegration sein: Sie konnte normalisieren in dem Sinne, dass sie bestimmte gesellschaftliche Erwartungen befriedigte und ein normales Leben in der Gesellschaft ermöglichte.

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Die Feststellung, dass „ der zweite Blick lohnt“, führt zur Frage, wie frühneuzeitliche Prothesen in Museen und Ausstellungen so inszeniert werden können, dass auch wissenschaftliche „Laien“ sich eingeladen sehen, etwas über die komplexen Bedeutungsgehalte und die vielschichtige Nutzbarkeit dieser Gegenstände herauszufinden (te Heesen/Lutz 2005, Ott 2010, Ott 2014). Ein vielversprechender Ansatz dafür ist, anschaulich erfahrbar zu machen, in welcher Weise die Objekte in den Alltag ihrer Träger eingebettet waren und eine unmittelbare, buchstäblich hautnahe Verbindung mit deren Körper eingingen. Die Präsentation sollte dabei ausgehend von Fragen und Überlegungen, die in diesem Aufsatz angesprochen wurden, das Publikum anregen, genau hinzuschauen, nachzudenken und stereotype Vorannahmen – etwa zum Holzbein tragenden Bettler – zu revidieren. Es gilt, Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass jedes einzelne Exponat die Geschichte einer individuellen Mensch-Ding-Beziehung erzählt, wie fragmentarisch auch immer, Grundsätzlich stellt sich bei jeder im Original erhaltenen Prothese, soweit sie nicht einer historischen Persönlichkeit zugeordnet wird, die Frage, wer sie benutzt hat: ein Mann, eine Frau, eine erwachsene Person oder ein Kind?5 Lassen die Konstruktion und Größe darauf Rückschlüsse zu? Die Berücksichtigung des Geschlechts und Lebensalters der Prothesennutzer ist unentbehrlich gerade für die zentrale Frage nach dem Objektgebrauch: Für welche alltäglichen Verrichtungen und in welchen Situationen wurde die jeweilige Prothese eigentlich genutzt? Sollte eine Handprothese ihren Träger befähigen, einen Becher zu halten, ein Pferd zu zügeln, einen Gegenstand zu ergreifen oder zu heben, eine Flinte abzufeuern oder gar, wie es die Legende Götz von Berlichingen zuschreibt, ein Schwert zu führen? (Heide 2019, 118-120) Bezeichnenderweise nennt die Forschung in diesem Zusammenhang praktische Tätigkeiten, die vorrangig Männern zugeschrieben werden. Auch wenn es darum geht, inwiefern eine Prothese das Prestige des Trägers steigerte, seiner Selbstinszenierung diente und ihn in seiner gesellschaftlichen Rolle als funktionsfähig erscheinen ließ, stehen Männlichkeitsnormen wie kämpferische Tapferkeit und Herrschaftstauglichkeit im Mittelpunkt. Verraten die Gebrauchsspuren etwas über die Häufigkeit und Art der Benutzung? Kann man sich Situationen des praktischen Alltagshandelns vorstellen, in denen die Prothese eher störend und behindernd gewirkt hätte, etwa eine Bein-

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Heide 2019, 117, zur Frage, ob „kleine Prothesenhände“ tatsächlich für Kinder gebaut wurden. Prothesen von kindlicher bzw. jugendlicher Größe: https://de.wikipedia.org/ wiki/Liste_Eiserner_Hände vom 29.07.2019. Zu den „gender dynamics of prostheses“ Ott 2002, 7-12.

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prothese beim Reiten? (Hack 2015, 321) Deutet die mehr oder weniger naturgetreue Gestaltung darauf hin, dass das Objekt als erkennbares Kunstwerk oder im Gegenteil als „echtes“ Körperteil wahrgenommen werden sollte? Dies wiederum regt – auch und gerade vor dem Hintergrund moderner Prothetik – zum Nachdenken darüber an an, inwiefern wohl eine Prothese als Kaschierung eines „Defekts“ verborgen oder vielmehr als Instrument des „enhancement“ selbstbewusst vorgezeigt wurde. Im Sinne des „material culture approach“ bietet es sich an, ausführlich auf das verwendete Material (Eisen, Holz, Leder) und seine Eigenschaften einzugehen und zu erörtern, ob es sich um ein teuer und aufwändig angefertigtes und individuell angepasstes Kunstglied für eine bestimmte Persönlichkeit mit spezifischen Bedürfnissen handelt (vgl. etliche der überlieferten Arm- bzw. Handprothesen), um eher handwerklich schlichte, marktübliche und erschwingliche „Massenware“ (Stelzbeine oder -füße) oder um möglicherweise vom Träger selbst hergestellte, einfache Hilfsmittel wie etwa Gehstöcke, Krücken und Rutschbänkchen (Kahlow 2009, 220). In diesem Zusammenhang läßt sich gut vermitteln, welche Bandbreite verschiedener Modelle gleichzeitig, je nach Bedarf und sozio-ökonomischem Status der Träger, verwendet wurde. Damit wird das Klischee, Disability sei zwangsläufig mit Armut assoziiert gewesen, widerlegt. Ebenso werden anachronistische Vorstellungen, es habe seit der „primitiven“ Vormoderne einen linearen technologischen Fortschritt gegeben, in Frage gestellt. Mit den Beobachtungen zur Materialität gehen Fragen einher, wie die jeweilige Prothese, zum Beispiel ein Kunstarm oder -bein, gepolstert und am Körper befestigt wurde, wie sich die Eigenschaften der Materialien – ihr Gewicht, ihre Härte oder Flexibilität, ihre Stabilität oder Fragilität, ihr Reparatur- und Reinigungsbedarf – auf die Funktion und den Tragekomfort auswirkten. Um die Exponate wirklich beredt werden zu lassen, muss man sie in körperliche Aktion versetzen. Bei den erhaltenen originalen Prothesen aus der Frühen Neuzeit kommt es nicht in Frage, dass sie von Ausstellungsbesuchern berührt und ausprobiert werden. Sie lassen sich aber mit filmischen Mitteln und mit der Verwendung nachgebauter hands-on-Objekte performativ zum Leben erwecken. Bei beiden Vermittlungswegen muss verdeutlicht werden, dass allenfalls Annäherungen an historische Erlebens- und Wahrnehmungsweisen möglich sind, da sowohl die Körper der Akteur*innen als auch die Nachbauten modern sind – ganz zu schweigen davon, dass „Behinderung“ bzw. „Beeinträchtigung“ nicht „nachgespielt“ werden kann und dass jede Form von „cripping up“ problematisch ist (vgl. Frohne sowie Thrun/Welzel in diesem Band). Ob in Filmszenen mit menschlichen Darstellern oder in Animationen, ob in Aufführungen in Frei-

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lichtmuseen, auf Mittelaltermärkten oder bei Projekten der experimentellen Archäologie: Es hat sich längst als publikumswirksame Vermittlungsstrategie erwiesen, performativ zu demonstrieren, wie Alltagsgegenstände (Werkzeug, Waffen, Kleidung, Schreibgeräte) hergestellt und im Zuge verschiedener Arbeitsverrichtungen und Kulturtechniken benutzt wurden. Für die Vermittlung des Forschungsfelds Disability anhand von Prothesen bieten diese Zugänge sich insbesondere an, wenn das Präsentationskonzept darauf ausgerichtet ist, Barrierefreiheit zu realisieren. (Nolte/Kinzler 2012) Blinde, gehörlose oder mobilitätsbeeinträchtigte Besucher und Menschen mit Lernschwierigkeiten profitieren ebenso wie das allgemeine Publikum davon, wenn viele verschiedene mediale Komponenten bei der Wissenskommunikation zusammenwirken: mobile Audio- und Videoguides, fest installierte Medienstationen mit visuellen und auditiven Angeboten zu einzelnen Exponaten (z.B. Monitore bzw. digitale Bilderrahmen mit Filmsequenzen, kombiniert mit Bildern, Graphiken, mit geschriebenem, gesprochenem und gebärdetem Text), berührbare, taktil erfahrbare Replikate (Tastmodelle), die zumindest einen Begriff von der Form, wenn auch nicht von der Materialität des Originals ermöglichen, und Nachbauten, mit denen die Besucher interagieren, indem sie sie am eigenen Körper befestigen und sich damit bewegen. Auch wenn das Original in der Vitrine bleiben muss, kann mit filmischen und leibhaftig durchgeführten Performances erforscht werden, wie sich Menschen mit Dingen verbanden, um Alltagshandlungen zu bewerkstelligen oder zu erleichtern. Dies mag zu weiterführenden Reflexionen über den Stellenwert von Technik und Technologie generell anregen, bis hin zu der Erkenntnis „every technology is assistive“ (Ott 2014, 126). Geradezu zwingend folgen daraus Fragen, inwieweit alle Menschen mehr oder weniger auf Hilfsmittel angewiesen sind und wie man eigentlich Prothesen im engeren Sinne gegenüber anderen hilfreichen Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs (Fernbedienung, Brille, Zahnersatz …) abgrenzen kann. Prothesen als „disability artifacts“ (Ott 2010, 270) inspirieren somit dazu, sich der fluiden Übergänge zwischen Abilities und Disabilities bewusst zu werden und sich vor Augen zu führen, wie wandelbar solche Kategorien sind: Was heute wie technikbasierte Hyperabilities anmutet, „can become standards of future ability“ (Campbell 2015, 13).

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Frühneuzeitliche Prothesen | 485

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Autorinnen und Autoren

Sebastian Barsch (Prof. Dr.) lehrt Didaktik der Geschichte an der Universität Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte sind inklusives historisches Lernen und Disability History. Jan Ulrich Büttner (Dr. phil.) lehrt Geschichte des Mittelalters an der Universität Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte sind klösterliches Leben und Klosterreform im Früh- und Hochmittelalter sowie Paläographie und Kodikologie. Bettina Degner (Prof. Dr., bis 2018: Alavi) lehrt Geschichte und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Sie forscht schwerpunktmäßig zum historischen Lernen in heterogenen Gruppen und hat zum inklusiven und zum interkulturellen Geschichtsunterricht publiziert. Bianca Frohne (Dr. phil.) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Kiel. Ihre Dissertation „Der gebrechliche Körper in Selbstzeugnissen, Familienaufzeichnungen und Briefen des 15. und 16. Jahrhunderts“ wurde 2014 unter dem Titel „Leben mit ‚kranckhait‘“ publiziert. 2017 erschien das von ihr mitherausgegebene zweisprachige Handbuch „Disability History der Vormoderne“. Sie arbeitet derzeit an ihrem Habilitationsprojekt „Schmerzerfahrungen im frühen und hohen Mittelalter“. Frederike Fürst (M. Ed.) beendete 2018 ihr Masterstudium der Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen und arbeitet seither als Lehrkraft an einer Bremer Oberschule.

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Mareike Heide (Dr. phil.) studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. In ihrer Promotion beschäftigte sie sich mit Prothesen und Prothesenträgern in der Frühen Neuzeit. Seit 2018 arbeitet sie in der Redaktion einer Hamburger Film- und TV-Produktion. Marianne Hirschberg (Prof. Dr.) wechselt im Herbst 2020 von der Hochschule Bremen an die Universität Kassel auf die Professur für „Behinderung, Inklusion und Soziale Teilhabe“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Menschenrechte behinderter Menschen und die Konstruktion von Nicht_Behinderung aus Perspektive der Disability Studies. Sie hat u.a. zur Konstruktion von Behinderung und Normalität durch die Weltgesundheitsorganisation publiziert. Ralph Högerschloss das Lehramtsstudium der Geschichtswissenschaft und Anglistik an den Universitäten Heidelberg und Leeds im April 2015 ab. Danach war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Cluster „Kulturelles Erbe“ der Heidelberg School of Education. Er bereitet zurzeit seine Dissertation zum Thema „Psychiatrisches Heilungswissen (1840-1914)“ im Fachbereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Heidelberg vor. Sabine Horn (Dr. phil.) leitet die Abteilung Didaktik der Geschichte an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Mediale Geschichtsvermittlung, Diversity im Geschichtsunterricht, Begabungsförderung, Forschendes Lernen/Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Anne Klein (Dr. phil.), Historikerin, Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin, lehrt an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Holocaust und Memory Studies, Zeitgeschichte, Biopolitik und Disability History. Nane Kleymann(M. Ed.) schloss 2019 das Masterstudium der Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen ab. Sie ist seither als Lehrkraft in Bremen tätig. Swantje Köbsell (Prof. Dr.) ist Professorin für Disability Studies an der Alice Salomon Hochschule (Berlin). Ihre Forschungsschwerpunkte mit entsprechenden Publikationen sind: Geschichte der Behindertenbewegung, Disability Studies, Intersektionalitäten im Kontext von Behinderung: Gender, Flucht/Migration sowie Behinderung und Eugenik.

Autorinnen und Autoren | 489

Natascha Korff (Prof. Dr.) ist Professorin für Inklusive Pädagogik mit dem Schwerpunkt Didaktik an der Universität Bremen. Sie schloss 2005 ihr Behindertenpädagogik- und Lehramtsstudium ab, promovierte 2013 zum inklusiven Mathematikunterricht und befasst sich mit Barrieren für bzw. Unterstützung von Lernen und Teilhabe. Alan Maciejewski studiert im Bachelorstudiengang Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen. Patrícia Roque Martins (MA, PhD) ist Mitarbeiterin am CITCEM-Center for Transdisciplinary Research „Culture, Space and Memory“ an der Universität Porto. Ihr Projekt „The Representation of Disability in the Museum‘s Collections of Directorate-General for Cultural Heritage (DGPC): Discourse, Identities and Sense of Belonging“ wird von der Foundation for Science and Technology gefördert. 2017 publizierte sie den Band „Museums (In)Capacitantes. Deficiência, Acessibilidade e Inclusão em Museus de Arte" [(Dis)Abling Museums. Disability, Access and Inclusion in Art Museums]. Cordula Nolte (Prof. Dr.) lehrt und erforscht die Geschichte des Mittelalters an der Universität Bremen. Zu ihren zentralen Arbeitsfeldern gehören Frömmigkeits-, Alltags-, Geschlechter- und Körpergeschichte. Als Initiatorin des interdisziplinären Verbunds Homo debilis hat sie mit ihrem Team und zahlreichen Kolleg*innen ein Handbuch zur Dis/ability History der Vormoderne (2017) veröffentlicht. Annika Port (M. A.) hat Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig studiert und 2019 ihren Master in Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur, Theater und Film und Performance Studies abgeschlossen. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Performanz von Kategorien wie Gender und Race sowie feministische Theater- und Texttheorie. Sie ist Performerin im Theater der Versammlung Bremen. Raphael Rössel (M. A.) schloss das Masterstudium der Geschichtswissenschaft an der Universität Kiel 2017 ab. Seit 2018 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kieler DFG-Projekt „‚Behinderte‘ Familien? Aufgabenverteilung und Rollenzuweisungen im Alltag westdeutscher Familien mit behinderten Angehörigen zwischen 1945 und den 1980er Jahren“. Özlem Sayli studiert im Bachelorstudiengang Geschichtswissenschaft sowie das Fach Germanistik für das Lehramt an der Universität Bremen.

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Sebastian Schlund (Dr. phil.) ist Wissenschaftlicher Koordinator des Verbundprojekts „Intersektionalität interdisziplinär“ an der Universität Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Disability History, der Globalgeschichte und der Intersektionalitätsperspektive. Er hat u.a. zur Geschichte des Behindertensports in der Bundesrepublik Deutschland publiziert. Patrick Schmidt(Dr. phil. habil.) ist Forschungsstipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung und lehrt Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Rostock. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Maritime Geschichte und Dis/Ability History. Er hat Monographien zu den Erinnerungskulturen frühneuzeitlicher Zünfte und zur Wahrnehmung und Konstruktion von körperlichen und sensorischen Beeinträchtigungen im 17. und 18. Jahrhundert publiziert. Johannes Strauß studiert im Bachelorstudiengang Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen. Ann Kristin Thrun (M. Ed.) unterrichtet Kunst und Deutsch am städtischen Gymnasium an der Hönne Menden. Ihre im Studium entwickelten Forschungsschwerpunkte vertieft sie durch einen Lehrauftrag an der TU Dortmund für Seminare mit dem Themenschwerpunkt „Inklusion und Kunstunterricht“. Barbara Welzel (Prof. Dr.) ist seit 2001 Professorin für Kunstgeschichte an der TU Dortmund. Seit 2016 ist sie Co-Leiterin von DoProfiL (Dortmunder Profil zur inklusionsorientierten Lehrerinnen- und Lehrerbildung) in der Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Im Mittelpunkt ihrer Veröffentlichungen und Projekte stehen u.a. die Kulturgeschichte der mittelalterlichen Stadt, die Kunst im Hanseraum, das kulturelle Erbe in interkultureller Perspektive sowie Kunstgeschichte und Bildungsfragen. Clara Wiebe studiert die Bachelorstudiengänge Geschichtswissenschaft und Englisch mit Lehramtsoption an der Universität Bremen.

Sachregister

Das Sachregister enthält wichtige und mehrfach genannte Begriffe, vor allem solche, die im Vermittlungskontext von Bedeutung sind. Begriffe wie „dis/ability“, „Behinderung“, „Beeinträchtigung“, „Inklusion“, „Körper“, „Lehre“ und „Unterricht“ bleiben aufgrund der Vielzahl der Belege unberücksichtigt bzw. werden nur in ausgewählten Verknüpfungen aufgeführt. Befunde und Diagnosen außerhalb von Vermittlungszusammenhängen sowie Begriffe aus Überschriften, die in den betreffenden Beiträgen zahlreich, ansonsten aber kaum auftreten, wurden in der Regel nicht aufgenommen.

A Ableism, ableistisch 54, 69, 71, 102, 124, 136, 160, 200, 364, 385 Abtreibung 84, 119, 135 Abweichung, Devianz 27, 33, 42, 55, 57-68, 70, 71, 125, 131, 132, 172, 199, 202, 213, 215, 240, 269, 305, 306, 348, 351, 402, 408, 409, 412, 429, 442, 458 Ästhetik 20, 123, 162, 166-168, 225, 228, 250, 287, 340, 370373, 376-380, 389, 392, 399, 410, 414, 431, 434-440, 449, 450, 456, 458-468, 470-472, 475 Ageism 69, 70 Agency, Handlungsmacht 43, 189, 211, 213, 218, 219

Akteur, Akteur*in 13, 22, 29, 30, 35, 43-45, 52, 56, 59, 62, 63, 65, 70, 72, 84, 90, 145, 159, 172, 174, 175, 202, 204, 219, 220, 225, 228-230, 240, 274, 327, 421, 423, 480 Aktion Mensch 97, 99, 158 Aktivismus, Aktivist*in 21, 28, 3336, 39, 40, 94, 161, 183, 184, 187-189, 202, 204, 229, 391, 408 Alter, Lebensalter 42, 65-67, 70, 120, 123, 124, 139, 140, 158, 159, 169, 171, 215, 308, 309, 311, 421, 457, 479 Angst 17, 88, 97, 171, 172, 213, 231, 239, 245, 250, 252, 253, 256, 325, 373, 388, 429, 443

492 | Dis/ability History Goes Public

Anstalt 57, 58, 211, 212, 214-216, 219, 220, 223, 224, 227, 229, 232, 399, 400, 402-407, 419, 423 Arbeitsfähigkeit, Arbeitsunfähigkeit 60-62, 311, 444 Arbeitskraft 61, 156, 158, 164, 200, 339 Archäologie 21, 481 Archiv, Archivar*in 21, 23, 183189, 192, 194, 195, 197, 201203, 229, 274, 288, 330, 374, 377, 391, 417, 423 Architektur 17, 71, 220, 323, 326, 330, 331, 336, 340, 432 Artefakt 187, 203, 217, 274, 374, 455 Audiodeskription, Audioguide, Audiozugang 239, 433-436, 481 Aufführung (s. auch Performance, Inszenierung, Theater) 17, 23, 400, 401, 412-414, 424, 480 Ausgrenzung (s. auch Exklusion) 33, 37, 41, 115, 122, 128, 130, 131, 215, 230, 252-255, 351, 360, 363, 400, 442, 447, 448, 456 Ausstellung (s. auch Museum) 15, 19, 21, 28, 35, 36, 38, 39, 187, 191, 228, 348, 377, 414, 430433, 435-439, 441, 448-450, 455, 458, 479, 480 B Barriere, Barrierefreiheit, barrierearm 15, 17, 20, 34, 64-68, 70, 72, 101, 127, 135, 138, 173, 184, 190, 191, 202, 231, 239,

241-245, 248, 259, 334, 347, 348, 377, 424, 481 Bau (s. Gebäude, Raum) Behindertenbewegung, Behindertenrechtsbewegung, Disability Right Movement 29, 33, 43, 54, 68, 94, 118, 119, 123, 126, 127, 130, 131, 137, 144, 183, 186188, 193, 249, 275 Berührung, berühren 17, 172, 253, 255, 332, 433, 434, 480, 481 Bettler, betteln 164, 285, 294, 295, 301, 306, 308-311, 444-447, 455, 456, 464, 479 Bild (als Quelle) 16, 19, 197, 222, 224, 226, 259, 260, 274, 284289, 291, 295-297, 301, 302, 306-308, 311, 313, 362, 437, 439, 444, 471, 481 Bildende Kunst, Künste 430, 434436, 438, 440, 449, 450 Blindheit, blind 166, 242, 248, 267, 309, 310, 323-328, 332, 334, 336, 340, 429-440, 443, 444, 446, 449 Blog, Weblog 14, 15, 20, 36, 39, 185, 203, 211, 213, 223, 225227, 229, 230, 231, 232, 237239, 241, 258-260, 349, 350, 352-354, 357, 361, 362, 373, 401, 416 Braille 338, 433, 435, 436 Buchmalerei, Illumination, Illustration, Miniatur 284-289, 291293, 295-297, 299, 300, 302, 303, 307, 308, 310 C Collage 372, 373, 378, 437-439

Sachregister | 493

Crip Theory, Cripistemology 13, 384, 385, 387, 389 Curriculum, Lehrplan 14, 15, 18, 41, 85, 187, 193, 199, 201, 266, 276, 305, 330, 339, 391 D deaf (s. gehörlos) Didaktik (s. Geschichtsdidaktik, Fremdsprachendidaktik, Kunstdidaktik, Schuldidaktik) Differenzkategorie, Differenzkonstruktion 122, 173, 174, 350, 358, 359, 386 Digitalisierung, Digitalisat, digital 20, 183-189, 191, 203, 205, 230, 289, 299, 306, 307, 313, 314, 481 Ding (s. auch Gegenstand, Objekt, Realie) 21, 211, 213, 215-219, 221-224, 233, 295, 297, 325, 456, 478, 479, 481 Diskriminierung, Antidiskrimierung 34, 69, 70, 85, 86, 95, 99-101, 115-117, 119, 120, 122, 130, 131, 134, 139, 153, 154, 159162, 166, 168, 171-173, 184, 200, 233, 253, 255, 364, 429, 431, 432, 440, 449 Diskursanalyse, Diskursgeschichte 64, 72, 97, 387, 389, 401 Dismodernism 384, 385 Disziplinierung 57, 220, 269, 400 Diversität, Diversity 14, 15, 42, 85, 125, 173, 185, 193, 239, 243, 244, 297, 304, 324, 361, 363, 381, 384, 392, 440 Doing Disability 64, 124 Dystopie 78, 154

E Emanzipation 102, 154, 159, 161, 186, 408 Embodiment, Verkörperung 187, 247, 253, 256, 277, 301, 309, 332, 384-386, 434 Embryo 84, 90, 96, 101 Emotion, emotional 69, 79, 84, 87, 95, 101, 103, 142, 143, 245, 369, 370, 372, 379, 384, 385, 387-389, 429 Empowerment 28, 34, 37, 185 Epochenübergreifende Lehre 18, 266, 269-271, 277 Erbe, kulturell 327, 331, 334-336, 340, 440, 447, 449, 450 Erinnerungsort 23, 186, 323, 331, 334, 340 Erklärvideo (s. auch Video) 20, 238, 259, 260, 349-352, 356, 357, 360-362 Erwerb (Einkommen) 62, 132, 135, 156, 158, 167, 173, 200, 457 Ethik 28, 33, 37, 44, 78, 80-85, 89, 95, 97-101, 190, 254, 255, 266, 268 Ethnie, Ethnizität (s. auch Race, Rasse) 117, 120, 121, 139, 161, 173, 249, 348 Ethnologie, Ethnographie 214, 381, 383, 401 Eugenik 77, 80, 85, 89, 94, 95, 97, 102, 103, 135, 186, 187, 272 Euthanasie 85, 187 Exklusion (s. auch Ausgrenzung) 17, 27, 36, 41, 43, 154, 163, 169, 172, 190, 200, 202, 204, 212-216, 219, 231, 232, 239,

494 | Dis/ability History Goes Public

154, 337, 379,

468, 470, 472, 473, 475, 478480 Funktionsfähigkeit, Funktionalität 55, 59, 63-67, 69, 71, 127, 217, 220, 222, 227, 232, 269, 309, 313, 456, 458, 461-464, 468, 470, 472, 475, 478, 480

F Fachwissenschaft 15, 22, 190, 195, 198, 199, 201, 203, 205, 238, 327, 345, 346, 348-351, 353, 357, 361 Feminismus, Feminist*in 82, 83, 86, 89, 94, 103, 116-119, 153, 159, 161, 165, 384 Fernsehen, TV 239, 245-247, 249, 260, 429 Fertilität, Fertility, Fruchtbarkeit 77, 88, 90, 93, 100 Fiktion, fiktiv 22, 237, 251, 362, 371, 374, 379, 400 Film 19, 28, 39, 53, 54, 222, 224, 225, 237-257, 259, 260, 376, 378, 379, 411, 480, 481 Forschendes Lernen 13, 14, 20, 85, 143, 339, 348, 369, 370, 373, 377, 380, 391 Fortpflanzung, Reproduktion 7781, 84-86, 88-103, 463 Fortschritt 89, 144, 189, 245, 250, 252, 256, 257, 266, 270-272, 276, 327, 351, 369, 458, 467, 480 Frauenbewegung 95, 118-121, 128, 130, 134 Freak Show 242, 245 Fremdsprachendidaktik 191, 231 Frühe Neuzeit 269, 270, 272, 273, 311, 455-459, 462, 464, 466-

G Gebäude, Bau (s. auch Raum) 135, 200, 212, 222-225, 228, 285, 287, 296, 298, 300, 323, 326, 330, 331, 334, 336, 338, 340, 410, 414, 432 Gegenstand (s. auch Ding, Objekt, Realie) 212, 215, 217, 218, 221, 224, 228, 289, 292, 327, 328, 371, 399, 415, 433-435, 440, 441, 447, 455, 456, 458, 475, 479, 481 gehörlos, deaf 41, 272, 351, 390 Gehörlosenverband 198, 199 Gemälde, gemalt 283, 297, 300, 303, 306, 307, 340, 433-437 Genetik, genetisch, Genetics 69, 77, 78, 80, 82, 84, 87, 89, 90, 92-101, 240, 359 Genschere CRISPR/CAS9 77, 79, 96 Gender 17, 18, 41, 52, 56, 78, 87, 93, 98, 100, 103, 116, 118, 121, 123, 128-130, 135-137, 153, 154, 159, 160, 162, 165, 169174, 348, 413, 479 Gender & Queer Studies 78, 83 Gender Studies 160, 383 Geschichtsbewusstsein 231, 390 Geschichtsbild 23, 185, 271, 363

257, 272, 339, 345, 347, 450 Experiment 15, 20-22, 88, 254, 324-326, 332, 333, 338, 370, 371, 373, 378, 389, 390, 400, 438, 481

442,

Sachregister | 495

Geschichtsdidaktik 21, 29, 32, 37, 44, 82, 184, 185, 189, 201, 205, 213, 221-223, 226, 230, 231, 266, 348-350, 370, 390 Geschichtskultur 30, 42, 44, 183, 184, 201, 205, 228-230 Geschichtslehrer*in 44, 201, 211 Geschichtsunterricht 28, 41-43, 85, 183, 184, 187, 189, 191, 198, 199, 204, 221, 232, 233, 267, 345, 347, 351, 354 Geschichtswerkstätten 29, 30, 95, 191 Geschlechterrolle, Geschlechtsrolle 128, 129, 134, 136, 141, 142, 162, 166, 168, 217 Gewalt 101, 117, 133, 136, 145, 224, 245, 254 H haptisch 222, 289, 456 Hausarbeit (Studienleistung) 23, 267, 272-274, 276, 351, 374, 415, 416 Heterogenität 16, 42, 51, 118, 121, 211, 215, 216, 307, 323, 324, 328, 339, 362, 406 Heteronormativität 122, 123, 125, 127 Hilfsmittel 17, 154, 300, 305, 338, 432, 457, 458, 466, 467, 472, 480, 481 Historische Anthropologie 379, 381-383, 386 Hochschule für Alle 17, 391 Hörbeeinträchtigung, Hörbehinderung 198, 199

hören, hörbar (s. auch gehörlos) 20, 184, 204, 259, 260, 268, 403, 433, 434, 457 I Identität, Identity 30, 32, 35, 42, 43, 69, 115, 118, 120, 128-130, 135, 136, 161-163, 165, 169173, 200, 239, 286, 384, 389, 408, 429, 430, 440, 441, 447, 448, 450, 463 Imagination 22, 161, 218, 237, 251, 388, 400, 412, 418, 437, 449 Inklusive Pädagogik 21, 346, 347, 349 Inszenierung (s. auch Aufführung, Performance, Theater) 54, 71, 91, 237, 239, 240, 242, 244, 245, 248, 274, 331, 372, 376, 377, 399, 410, 411, 414, 423, 479 Interdisziplinarität 21, 52, 53, 72, 78, 81, 97, 102, 123, 160, 213, 238, 329, 348, 380, 399, 408, 410, 411, 413, 414, 416, 424 Intersektionalität 13, 17, 19, 62, 87, 103, 115-119, 121-125, 130, 134, 136, 137, 139, 141, 143, 145, 153-155, 159-162, 166, 168, 169, 171-175, 192, 201, 202, 347, 360, 364, 389 K Kinderwunsch 86, 88, 89, 91, 100 Kirche (Bau, Raum) 285, 297, 298, 311, 323, 324, 326, 327, 330, 331, 334-338, 340

496 | Dis/ability History Goes Public

Klasse (soziologisch), Class, Classism 41, 70, 89, 118-121, 123, 139 Klasse (schulisch) 20, 41, 44, 193, 202, 211, 276, 298 Klischee 19, 133, 240, 242, 257, 271, 447, 455, 480 Kreativität 15, 16, 18, 22, 371-373, 380, 415, 416, 421, 424, 433, 437, 440, 447, 449 „Krüppel“ 164, 193, 294, 445, 447 „Krüppelbewegung“ 94, 131, 133, 187, 197 „Krüppelfrauen“ 119, 130, 131 Kulturgeschichte 326, 330, 401 Kunst (s. Bildende Kunst) Kunstdidaktik 15, 370 Kunstgeschichte, Kunsthistoriker*in, kunsthistorisch 15, 21, 284, 287, 296, 300, 323-332, 334, 336-340, 476 Kunstwerk 17, 340, 437, 448, 480 L Lebenshilfe (Verband) 170, 196 Lehrer*in 44, 56, 78, 84, 193, 196, 197, 199, 201, 203, 205, 211, 229, 232, 259, 276, 298, 324, 339, 345, 357, 421 Lehrer*innenbildung 44, 229, 324, 326, 327, 330, 339, 346-348, 358, 361, 364 Leichte Sprache 190, 231, 351, 352, 362, 424 Leistungsfähigkeit 55, 61, 62, 71, 125, 165, 436, 440

M Macht (Handlungsmacht, Wirkmacht) 19, 30, 33, 43, 44, 5155, 57, 59, 60-62, 65, 68-72, 79, 81, 82, 87, 88, 92, 93, 95, 98, 101-103, 115, 116, 118, 122-124, 128, 131, 134, 137, 142, 143, 153, 154, 168, 169, 171-173, 189, 190, 204, 218, 219, 224, 227, 233, 237, 238, 244, 246, 249, 256, 300, 360, 389, 419, 467, 465 Mad Studies 408, 409 Marginalisierung 29, 31, 158, 164, 165, 169, 171, 212, 252, 296, 309, 347, 364, 447 Material Culture Studies, Material Culture Approach 214, 221, 223, 232, 480 Materialität 21, 52, 216, 281, 288, 307, 458, 480, 481 Materielle Kultur 213, 216-219, 289 Medien 15, 17, 19, 20, 28, 31, 44, 56, 84, 96, 129, 192, 237-242, 244, 246, 257, 259, 285, 289, 349, 351, 411, 418, 424, 481 Medizin 55, 57, 59-63, 68, 77, 8385, 88, 90, 91, 94, 98, 100, 126, 127, 132, 135, 138, 139, 159, 173, 186, 216, 220, 245, 257, 266, 268-271, 305, 362, 402, 406-409, 457-459, 462, 468, 469 Mediziner*in 95, 155, 268, 269, 272, 461, 477 Medizingeschichte 53, 225, 230, 401, 420, 458

Sachregister | 497

Menschenrechte 67, 68, 82, 97, 100, 127, 137, 139, 140, 253, 324, 327, 430 Mikrogeschichte, Mikrohistorie 16, 215, 227, 228, 381, 382 Misogynie 402, 415, 420 Mittelalter 16, 18, 55, 61, 173, 266, 269-271, 273, 281, 285-290, 292-294, 301, 302, 304, 305, 307, 309-312, 330, 331, 334, 350, 351, 353, 354, 456, 466, 481 Modell von Behinderung, kulturell 34, 173, 215, 286, 408 Modell von Behinderung, medizinisch 19, 38, 61, 62, 66, 68, 86, 126, 171, 215, 269, 286, 407, 408, 429, 458 Modell von Behinderung, sozial 34, 35, 62, 68, 126, 127, 173, 216, 408, 409 Moderne (s. Neuzeit) Moral 81, 190, 198, 300, 311, 399, 400, 402, 405, 406, 415, 418 Multiperspektivität 35, 40, 83, 192, 374, 379-381 Museologie 15, 224, 430, 431, 434, 435, 438, 440, 448-450 Museum, Museen (s. auch Ausstellung) 15, 21, 23, 28, 36, 38, 39, 44, 183-187, 221, 229, 274, 275, 288, 289, 326, 354, 377, 391, 414, 415, 429-438, 440442, 448-450, 455, 458, 479, 481 Museumspädagogik 15, 29, 436

N Nationalsozialismus 85, 94, 117, 187, 253, 257, 272 Neuzeit, Moderne 15, 55, 58, 59, 61, 62, 78, 269, 271, 272, 274, 385 „Nichts über uns ohne uns“, „Nothing about us without us“ 17, 34, 183, 384, 390 O Objekt (s. auch Ding, Gegenstand, Realie) 16, 19, 21, 31, 211-225, 227-233, 289, 303, 307, 330332, 334, 373, 379, 431, 433436, 440-443, 446-450, 456458, 463, 475, 479, 480 Objektgeschichte 215, 221-225, 228, 231, 233 Oral History 37, 158 P Pädagogik 15, 21, 29, 57, 63, 72, 78, 115, 129, 155, 183, 184, 186, 187, 202, 239, 265, 324, 328, 340, 346, 347, 349, 358, 369, 436 Paralympics, Special Olympics 154, 159, 170, 191 Partizipation, Participation (s. auch Teilhabe) 13-15, 17, 31, 34-37, 40, 41, 45, 62, 64-66, 69, 72, 85, 87, 99, 159, 161, 192, 200, 229, 243, 252, 255, 257, 348, 410, 430, 442, 450, 456, 457 Patientenakte 190, 229, 353, 399402, 404, 409, 411, 413, 416 Patriarchat 118, 119, 131, 135, 418, 419

498 | Dis/ability History Goes Public

Performance, Performer, performativ (s. auch Aufführung, Inszenierung, Theater) 15, 20-22, 31, 247, 370-374, 376, 377, 379, 380, 389, 399-401, 410-417, 421-424, 458, 480, 481 Performanz 63, 165 Phantasie 22, 154, 218, 251, 281, 284, 297, 298, 300, 307, 400, 405, 406 Präimplantationsdiagnostik (PID) 77, 82, 89, 90, 94, 99, 100 Psychiatrie 53, 56, 57, 60-62, 211217, 219-221, 223-232, 272, 353, 399, 401, 402, 410, 413, 414, 420

21, 22, 127, 220, 224, 232, 300, 301, 311, 323-328, 331, 334336, 338, 340, 400, 414, 415, 424, 433, 436, 440, 447, 449 Realie (s. auch Ding, Gegenstand, Objekt) 16, 456, 457, 475 Referat (Studienleistung) 23, 54, 267, 272, 273, 274, 276 Reformation 270, 273, 336 Rehabilitationswissenschaft 21, 323, 324, 328, 339, 340 Religion 84, 119, 120, 140, 249, 271, 284, 300, 305, 334, 335, 443 Replik, Nachbildung, Nachbau 433-436, 480, 481

Q Queer History, Queer Studies 42, 78, 81, 83, 384 Quellenauswahl 18, 184, 185, 201 Quellenedition 184, 190, 202, 205 Quellenkritik 19, 222, 223, 233, 402 Quellensammlung 18, 186, 189, 192, 194-196, 204, 205, 266, 274-276

S Schmerz 384, 386, 387, 463, 464, 477 Schüler*in 20, 43, 72, 115, 192, 196-199, 201-203, 226, 231, 232, 259, 285-287, 289-293, 298, 304, 305, 307, 310, 326, 334, 358, 363, 364, 436 Schuldidaktik 17, 20, 21, 84, 185, 196 Schulunterricht 15, 18, 85, 195, 204, 238 Schwangerschaft 90, 94-96, 132, 388, 406, 464 Science-Fiction 78, 86, 237, 239, 240, 241, 250, 251, 256, 258, 259, 353 Sehbeeinträchtigung, Sehbehinderung 323-325, 327, 328, 334, 336, 340, 387, 429-438, 440, 449 Sehsinn 324-326, 435, 436, 449

R Race (s. auch Ethnie, Rasse) 117, 118, 121, 123, 139, 153, 160, 173, 348 Rasse (s. auch Ethnie, Race) 70, 80, 116, 117, 119, 123 Rassismus 69, 70, 80, 90, 102, 116118, 121, 123, 124, 154, 160, 173 Raum (architektonisch, öffentlich) (s. auch Gebäude) 16, 18, 20,

Sachregister | 499

Selbstbestimmung 80, 84, 86, 89, 91, 95, 97, 99-102, 143, 157, 159, 170, 172, 188, 189, 192, 239, 457 Sexismus 69, 70, 116, 124, 153, 160, 168, 200 Sexualität 42, 56, 80, 86, 89, 91, 99, 100, 116, 120, 122, 128, 130, 132, 133, 136, 140, 144, 161, 230, 242, 247, 399, 405, 406, 409, 413, 419 Sinn, sinnlich, sensorisch 17, 20, 67, 127, 222, 224, 231, 271, 275, 276, 381, 386, 389, 390, 433, 434, 439, 440 Skulptur 287, 296, 331, 332, 335, 438 Stereotyp 19, 34, 38, 41, 129, 134, 141-143, 174, 202, 242, 245, 252, 275, 351, 440, 447, 448, 450, 479 Sterilisation 94, 131-133, 135 Stigmatisierung, Stigmatization 41, 70, 135, 168, 172, 212, 233, 245, 252, 253, 256, 347, 400 Surrealismus 431, 436-439 T taktil 432, 433, 481 tasten (sensorisch) 94, 332, 338, 371, 373, 433, 434, 481 Teilhabe (s. auch Partizipation) 14, 17, 31, 34, 36, 52, 62, 65, 67, 68, 72, 99, 116, 124-127, 133, 135, 158, 190, 194, 200, 232, 238, 239, 241, 244-246, 252, 256, 323, 324, 326-328, 330, 334-336, 339, 359, 363, 391,

440, 449, 457, 462-464, 466, 478 Theater (s. auch Aufführung, Inszenierung, Performance) 22, 375, 376, 400, 401, 410-417, 420-424 U UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 13, 17, 28, 52, 6567, 68, 72, 127, 138, 144, 145, 238, 240, 241, 245, 323, 326328, 392 Ungleichheit 16, 42, 80, 85, 86, 88, 89, 91, 103, 115-118, 120-123, 130, 138-141, 153-155, 159, 160-163, 171, 173-175, 184, 200, 201, 364, 390, 431, 440, 441, 449 Utopie 86, 92, 95, 154, 250, 251 V Vergewaltigung 131, 135 „Versehen“ (imaginatio) 381, 388 Video (s. auch Erklärvideo) 260, 352-354, 357, 361, 373, 378, 424, 481 Visualisierung, visuell 92, 197, 238, 259, 260, 327, 434-436, 481 Vormoderne 13, 15, 18, 265, 269, 270-272, 276, 277, 313, 334, 348, 377, 381, 388, 443, 480 Vorurteil 34, 133, 168, 169, 448, 455

387, 203, 362, 192, 332, 266, 304, 385240,

500 | Dis/ability History Goes Public

Vulnerabilität, Vulnerability, Verletzlichkeit 86, 99, 101, 103, 116, 133 W Weblog (s. Blog) Z Zugang, Zugänglichkeit 20-22, 36, 41, 51, 59, 60, 68, 79, 82, 93, 119, 155, 158, 165, 189, 200, 204, 205, 229, 230, 232, 238, 239, 242, 259, 260, 272, 275, 288, 326, 327, 331, 334, 340, 352, 354, 372, 374, 380, 382, 399, 410, 413, 417, 420, 424, 429-437, 440, 441, 449, 458, 481

Geschichtswissenschaft Reinhard Bernbeck

Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., 33 SW-Abbildungen, 33 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8

Sebastian Haumann, Martin Knoll, Detlev Mares (eds.)

Concepts of Urban-Environmental History February 2020, 294 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4375-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4375-0

Gertrude Cepl-Kaufmann

1919 – Zeit der Utopien Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres 2018, 382 S., Hardcover, 39 SW-Abbildungen, 35 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4654-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4654-6

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Geschichtswissenschaft Marc Junge

Stalinistische Modernisierung Die Strafverfolgung von Akteuren des Staatsterrors in der Ukraine 1939-1941 Februar 2020, 378 S., kart., Dispersionsbindung, 21 SW-Abbildungen, 4 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-5014-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5014-7

Stefan Butter

Die USA und ihre Bösen Feindbilder im amerikanischen Spielfilm 1980-2005 2019, 834 S., kart., Dispersionsbindung 49,99 € (DE), 978-3-8376-4976-5 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4976-9

Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte steine März 2020, 212 S., kart., Dispersionsbindung, 26 SW-Abbildungen 21,99 € (DE), 978-3-8376-5177-5

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