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German Pages 300 Year 2002
ANA LUCIA SABADELL DA SILVA
Tormenta juris permissione
Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Münster Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Regensburg
Band 39
Tormenta juris permissione Folter und Strafverfahren auf der iberischen Halbinsel dargestellt am Beispiel Kastiliens und Kataloniens (16. -18. Jahrhundert)
Von Ana Lucia Sabadell da Silva
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Sabadell da Silva, Ana Lucia:
Tormenta juris permissione : Folter und Strafverfahren auf der iberischen Halbinsel - dargestellt am Beispiel Kastiliens und Kataloniens (16. -18. Jahrhundert) I Ana Lucia Sabadell da Silva. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte ; Bd. 39) Zugl.: Saarbrücken, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10284-3
Alle Rechte vorbehalten
© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübemahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-10284-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8
Meiner Mutter Berenice
Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 1999 I 2000 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität des Saarlandes als Dissertation vorgelegt. Mein Interesse für die spanische Geschichte ist mit dem Schicksal der Familie meines Vaters verbunden, die in der Franco-Zeit nach Brasilien übersiedelte. Nach der Wiederherstellung der Demokratie in Spanien habe ich die Reise im umgekehrten Sinn unternommen. Im Rahmen meiner Masterstudien an der Universidad Aut6noma de Barcelona habe ich angefangen, mich mit der spanischen Rechtsgeschichte zu beschäftigen. Ausschlaggebend für meine rechtsgeschichtliche Orientierung sowie für die Anfertigung der Dissertation waren die vielen Diskussionen, die ich in Spanien und Portugal mit den Herren Professoren Carlos Petit, Antonio Serrano und Antonio Hespanha hatte. Letzterer hat durch unzählige Anregungen die Dissertation wesentlich gefördert. Prof. Dr. Alessandro Baratta hat die Dissertation betreut. Außerdem hat er mir die Möglichkeit gegeben, mehrere Jahre als Mitarbeiterin seines Lehrstuhls zu arbeiten, was mir einen unverhofften Zugang zum Forschungs- und Lehrbetrieb eröffnete. Für all dies sei ihm an dieser Stelle nochmals gedankt. Großer Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Filippo Ranieri, der das Zweitgutachten der Dissertation zügig vorbereitete und wertvolle Anregungen zur Verbesserung der Arbeit und zur Weiterführung meiner Forschungen auf dem Gebiet der Strafrechtsgeschichte gab, sowie Herrn Prof. Dr. Elmar Wadle, der als Vorsitzender des Disputationsausschusses die Endphase des Dissertationsverfahrens verständnisvoll begleitete und mir die Ehre erwies, meine Arbeit zur Veröffentlichung in der von ihm mitherausgegebenen Reihe "Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte" vorzuschlagen. Für unzählige Diskussionen, Anregungen und vielfältige Hilfe bei der Literaturbeschaffung möchte ich mich bei Prof. Dr. Juan Bustos Ramirez, Prof. Dr. Dirceu de Mello, Prof. Dr. Antonio Luiz Chaves Camargo, Dr. Encarna Bodel6n, Dr. Hector Silveira, Prof. Dr. Roberto Bergalli, Dr. Francesc Barata, Prof. Dr. Celia Suay, Janette Morales, Natividad Corral, Dr. Jorge Riechmann, Dr. Lucia Anna Petroni, Dr. Stanislao Rinaldi, Dr. Julio Mazuelos und Prof. Dr. Rene van Swaaningen herzlich bedanken. Meine Familie in Barcelona hat mich während meines Studienaufenthalts und der vielen späteren Forschungsreisen vielfach unterstützt. Besonderer Dank gilt meiner Großmutter Martha Mairet Feiler, meinen Onkeln und Tanten Ricard Sabadell Feiler, Montserrat Simo, Margarita Feiler und Marta Feiler sowie meinem Vet-
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Vorwort
ter Ferran Prats Feiler und meiner Cousine Georgina Sabadell Simo, die mir auch bei der Lektüre einiger altkatalanischer Texte behilflich waren. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Dr. Johannes Scholz, Herrn Prof. Dr. Dirich Falk sowie bei meinem Freund Airton Cerqueira Leite Seelander, die mich im Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt freundlich empfangen und mir vielfach geholfen haben. Mein ganz besonderer Dank gilt meinen ehemaligen Arbeitskollegen in Saarbriicken, Frau Nina Koikow, Prof. Dr. Gerlinda Smaus, Herrn Dipl.-Soz. Ralf Steinkamp, Frau M. Iur. Eur. Christina Giannoulis und Herrn Dr. Peter WettmanJungblut, von denen ich unbegrenzte Unterstützung erhalten habe. Ganz besonders möchte ich auch Prof. Dr. Dimitri Dimoulis danken, der die Arbeit mehrmals kritisch durchgesehen hat und im Laufe langer Diskussionen Zweifel und Verzweiflung zu beseitigen wußte. Ebenso dankbar bin ich meinem lieben Freund Prof. Dr. Dr. Claudius Meßner, der das Manuskript durchgelesen und mit großer Geduld für meine sprachlichen Unzulänglichkeiten stilistisch verbessert hat. Für ihre unschätzbare Unterstützung und Hilfsbereitschaft in schwierigen Momenten vor dem Abschluß der Arbeit schulde ich meinen Saarbriicker Freunden Paola Netti und Alexis Donoso einen ganz besonderen Dank. Ebenfalls möchte ich mich bei meinem Professor an der Pontiffcia Universidade Cat6lica, Säo Paulo, Dr. Roberto Mauricio Genofre, bedanken, der mit kritischem Sinn und als leidenschaftlicher Verfechter der Menschenrechte Strafverfahrensrecht lehrt und mich zur Fortsetzung meines Studiums in Europa ermutigt hat. Das Studium selbst wurde durch ein dreijähriges Stipendium ermöglicht, das mir der brasilianische Conselho Nacional de Pesquisa e Tecnologia gewährt hat, sowie durch einen Forschungszuschuß, den ich vom Istituto Italiano per gli Studi Filosofici bekommen habe. Die Grundlage einer jeden Arbeit, insbesondere derer geschichtlichen Charakters, sind zweifelsohne die Bibliotheken. Auf der ständigen Suche nach Erweiterung meines Zugangs zu den Quellen konnte ich mit der Hilfe vieler Bibliotheksmitarbeiter rechnen. Stellvertretend für alle Bibliothekare, die mir bei kurzen Forschungsaufenthalten in Madrid (Biblioteca Nacional, Biblioteca Ateneu, Universidad Complutense) und Barcelona (Biblioteca del Colegio de Abogados, Universidad de Barcelona, Universidad Aut6noma de Barcelona) geholfen haben, sei hier Herrn Joan von der Bibliothek der Rechtsfakultät der Universidad de Barcelona gedankt. In Deutschland konnte ich in der Juristischen Seminarbibliothek und in der inzwischen bedauerlicherweise geschlossenen Bibliothek des Instituts für Rechtsund Sozialphilosophie der Universität des Saarlandes arbeiten. Die Arbeit verdankt allerdings auch dem Bestand der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte viel, deren bewundernswerte Organisation und Dokumen-
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Vorwort
tationsreichtum nur mit der Hilfsbereitschaft aller ihrer Mitarbeiter zu vergleichen ist. Nicht zuletzt möchte ich meinen Eltern Juan und Berenice meinen liebevollen Dank aussprechen; sie haben nicht nur einen Teil meiner Studien finanziert, sondern mit ihrer Hilfsbereitschaft auch einen entscheidenden Beitrag zur Vollendung der Dissertation geleistet. Saarbrücken, im Februar 2001
AM Lucia Sabadell
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . .. . .. .. .. .. . . .. .. .. . .. . .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .
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I. Gegenstand der Arbeit .. . . . .. .. . .. . .. . . .. .. .. . . . . .. . .. . .. . . . . .. .. .. . . .. . .. . . . . .
19
II. Zur geschichtlichen Bedeutung der Folter .. .. . .. . . . . .. . .. . .. . .. .. .. . . .. .. .. .. . .
20
III. ,,lus commune" und Recht der iberischen Halbinsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
IV. Zeitliche und geographische Grenzen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
V. Methode der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
I. Politische Organisation und Rechtssystem Kastiliens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
I. Die Gründung des kastilischen Königreichs . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34
2. Das Rechtssystem Kastiliens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
a) Die Entwicklung des lokalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
b) Territoriales Recht . .. . .. . . . .. .. .. . .. . . . . .. . . . . .. .. . .. .. . . .. .. . . . . . .. .. . .
38
c) Rechtsquellenhierarchie und Wirkung des gemeinen Rechts . . . . . . . . . . . . .
40
d) Der Prozeß der Rezeption des gemeinen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
e) Gesetzgebungverfahren, die Rolle der Cortes und die Frage des Absolutismus .. .. . . . . . . .. . . . .. . . . . . .. . .. .. . . . ... . ... . .. . .. . . . ... ..... .. . . . . . .. .
45
II. Zur Justizorganisation Kastiliens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
I. Lokale, regionale und königliche Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
2. Die Struktur des Strafprozesses in Kastilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
a) Der Strafprozeß in den Siete Partidas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anklageverfahren .. .. .. .. . .. . . . .. . .. . .. . .. .. .. .. . . .. . .. .. . . . . . . .. ..
61 61
bb) Inquisitionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12
Inhaltsverzeichnis b) Die inquisitorisch geprägten "gemischten" Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Komplexes Verfahren .. .. . .. . . . .. . . . . .. . .. .. .. .. . .. . . . . .. . . . .. . . .. .
67 69
bb) Einfaches Verfahren .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. . cc) Berufungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72 73
3. Der Aufbau des legalen Beweissystems und seine Geltung in Kastilien . . . . .
76
a) Definition des legalen Beweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
b) Die Beweisarten und -hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
c) Die Frage der arbiträren Strafe............................ ....... .. .. .. .
87
d) Das legale Beweissystem in Kastilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
111. Die normative Regelung der strafprozessualen Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
l. Das legislative Schaffen Alfonsos X. . .. .. .. . . . .. .. .. .. . .. .. . . .. .. . . . .. .. .. .
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2. Folter im Lokal- und Territorialrecht vor den Partidas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
3. Die Regelung der Folter in den Partidas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
a) Definition der Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
b) Foltervoraussetzungen . . .. .. .. . .. . .. .. . . . . .. .. .. . . . .. .. .. .. . .. .. . .. . .. ..
98
c) Folterarten und -verfahren .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 100 d) Reinigungseffekte der Folter................. . ...................... .. .. 101 e) Folterung von Zeugen und Sklaven .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 102
0 Geschichtlich-juristische Bedeutung der Folterregelungen in den Par-
tidas ... . ................................................................ 103
4. Andere Bestimmungen des territorialen Rechts zu Folterfragen . . . . . . . . . . . . . 104 IV. Das Institut der Folter in der kastilischen Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 l. Definition und Zwecke der Folter .. .. .. .. . .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. . . . .. . . . .. . . 112 2. Die angedrohte Strafe als sachliche Voraussetzung der Folter . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Feststellung des corpus delicti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Indizien und Vermutungen als sachliche Voraussetzung der Folter . . . . . . . . . . 118
5. Die Subsidiarität der Tortur .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. . . .. . . . . 128 a) Die Subsidiaritätsregel.................................................. 128
Inhaltsverzeichnis
13
b) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 aa) Folterung vor Erschöpfung sämtlicher Beweismöglichkeiten . . . . . . . 130 bb) Folter trotz des Bestehens eines vollständigen Beweises . . . . . . . . . . . . 135 (I) Folter zum Entzug des Appellationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 (2) Folter in caput sociorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 (3) Folter "tamquam cadaver" zur Aufklärung weiterer Delikte . . . . 139 6. Privilegien und Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 7. Folterinterlokut, Verteidigung, Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 8. Foltermethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 9. Ablauf der peinlichen Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 10. Ratifikation des Geständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 11. Reinigungseffekte der Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . 161 12. Folterung der Zeugen und der Sklaven.. .. ..... . ... . ......... . ..... . .. . ..... 164 V. Die Behandlung der Folter im Werk der kastilischen Legisten und die Frage der Praxis . ........................................... .. .. . ............... . .... .. . . . 166 I. "Theoretiker" und "Praktiker" in der kastilischen Strafrechtslehre zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert: Dekadenz oder Modemisierung? . . . . . . . 166 2. Gesetzliche Regelungen und gelehrte Kommentierungen: eine konfliktive Komplementarität .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3. Die theologische Prägung des Strafverfahrens am Beispiel des Geständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4. Daten zur Folterpraxis in Kastilien . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 C. Die strafprozessuale Folter im Fürstentum Katalonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 I. Politische Organisation und Rechtssystem des Fürstentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1. Einleitung . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . .. .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 180 2. Der Paktismus als Form der Politik . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . 182 3. Das Rechtssystem des Fürstentums . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) Gewohnheitsrecht . . . . . . . . .. . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . 186 b) Rezeption des gemeinen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . 188 c) Gesetzgebung . . . . . .. . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 192 II. Zur Justizorganisation Kataloniens . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . 196
14
Inhaltsverzeichnis III. Normative Regelungen der strafprozessualen Folter
202
l. Ius commune und Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Territoriales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Verteidigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 b) Privileg der Adligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 c) Appellationsrecht für Entscheidungen des Portant veus . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 d) Bestätigungspflicht der Folterentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 e) Allgemeines Berufungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 f) Regelungen der "Nueva Planta": Beibehaltung der Folter in einem sich
verändernden Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
3. Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 IV. Strafverfahren und Behandlung der peinlichen Frage in der gelehrten Doktrin . . 219 l. Zur Struktur des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Juris ordine servato . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Das Inquisitionsverfahren und seine Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 c) Rechte und Garantien für den Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 d) Ordo est ordinem non servare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 e) Begründung und Veröffentlichung der Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Die peinliche Frage in der katalanischen gelehrten Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 a) Definition und Stellung im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 b) Merum imperiumund Folter .. . ... . ..... . . . ..... . . .... ... . .. . . ... .. . . . . . 238 c) Die angedrohte Strafe als sachliche Voraussetzung der Folter . . . . . . . . . . . 240 d) Feststellung des corpus delicti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 e) Indizien und Vermutungen als sachliche Voraussetzung der Folter . . . . . . . 242 aa) Das Erfordernis eines halben Beweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 bb) Indizienlehre und die Frage des richterlichen Ermessens .... . ... .. . . 244 f) Subjektive Voraussetzungen der Folter: Privilegien und Ausnahmen . . . . 248
g) Appellation gegen Folterinterlokute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 h)" Anwendung der Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 i) Ratifikation des Geständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
Inhaltsverzeichnis
15
j) Rechtsfolgen eines fehlerhaften Geständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 k) Reinigung vom Tatverdacht nach erfolgloser Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 I) Die Folterung als Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 m) Folterung von Zeugen und Mittätern .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . . .. .. .. . 271 V. Die Behandlung der Folter im Werk der katalanischen Legisten und die Frage der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 D. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
I. Folter und Symbolik des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 II. Folter und Legalität des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 III. ,,Abscheulich" und ,,rechtmäßig": die Doppelseitigkeit der peinlichen Befragung .. .. . .. ........ . . .. ....... .. ......... .. ...... . .. .. ............ .. . .. .... . .. . 281
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
Abkürzungsverzeichnis AHDE
Anuario de historia del derecho espafiol
Animandv. Anm. Art. ASO Bd. Bde. BOE BRAH Cap. Cape CJC Cl.
Animandversio Anmerkung Articulus Annali di storia del diritto Band Bände
CoI. Contr.
D.
Dec. D&S Dub. EdD et al.
Bolet!n oficial del Estado Boletin de Ia Real Academia de Ja Historia (Zeitschrift) Caput, capitulo Cap{tulo criminol6gico (Zeitschrift) Criminal Justice Systems (Zeitschrift) Clausula Collatio Controversia Digesta Decisio Deviance et societe (Zeitschrift) Dubitatio
IC
Enciclopedia del Diritto et alii folgende Glossa Herausgeber, herausgegeben lus Commune (Zeitschrift)
JEEC JR Kap. L. Lib. m.w.Hinw.
The Journal ofEuropean Economic History Juridical Review Kapitel Lex, Ley Liber, Libro mit weiteren Hinweisen
f. (ff.) GI. Hg.
Nr.
Nummer
Ord.
Ordenanza Las Siete Partidas (zitiert mit Erwähnung der Nummer des jeweiligen Teils, Titels und Gesetzes) Politica del diritto (Zeitschrift)
P. PolDir
Abkürzungsverzeichnis
Q.
Quaestio
QF
Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno
RBSC REP Res.
Revista brasileira de ciencias criminais Revista de estudios pol(ticos (Nueva Epoca)
RFDUC RHO RHDP
Resolutio Revista de la facultad de derecho de la Universidad Complutense Revue d'histoire du droit Revista de historia del derecho penal
RIDC Rub.
Rivista internazionale di diritto comune
s.
s.
siehe Seite(n)
T.
Tomus, tomo
Rubrica
Tit.
Titulus, titulo
TRG
Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis
u. a.
u.
u.
u.W. vgl.
unter anderem unter Umständen unseres Wissens vergleiche
zit.
zitiert
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
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A. Einleitung I. Gegenstand der Arbeit Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung der Regelung (Gewohnheiten, Gesetzesnonnen, Meinungen der Rechtsgelehrten) des Instituts der strafprozessualen ("legalen") Folter im Königreich Kastilien und im Fürstentum Katalonien zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. Das Folterinstitut hat eine besondere Bedeutung in der Entwicklungsgeschichte der Strafjustizsysteme. Für mehrere Jahrhunderte galt die peinliche Befragung des Angeklagten und der Zeugen als ein besonders effizientes und glaubwürdiges Mittel zur Ergrundung der Wahrheit in Fällen, die besondere Aufklärungsschwierigkeiten aufwiesen. Die Gesetzgeber und die Doktrin des Mittelalters und der Neuzeit versuchen, die peinliche Befragung in Bezug auf ihre Anwendungsfälle, Voraussetzungen und prozessualen Effekte zu regeln und zu beschränken, d. h. sie als Beweismittel zu "verrechtlichen" im Gegensatz zu anderen traditionell bekannten Beweismethoden, wie den Ordalien, die kaum rechtlich geregelt wurden 1• Nach einer allgemein akzeptierten Definition ist die strafprozessuale Folter eine rechtlich geregelte Beweismethode, die durch Gewaltanwendung und Erzeugung von physischen Schmerzen den Befragten dazu bewegen soll, "die Wahrheit zu sagen", d. h. ein Geständnis abzulegen oder dem Gericht Infonnationen über die Begehungsumstände einer Tat zu liefern. Andere Fonnen der Leidenszufügung (z. B. Verhaftung mit erniedrigender Behandlung, illegale Folter durch Polizeiapparate) gehören nicht zum Begriff der strafprozessualen Folter, auch wenn sie indirekt die Erpressung einer Aussage bezwecken2 • Eine Untersuchung des Folterinstituts auf der iberischen Halbinsel kann nicht autonom erfolgen, da die diesbezüglichen Regelungen eng mit der Ausgestaltung der legalen Folter im römischen Recht verbunden sind3 . Noch enger ist die Verbindung der iberischen Rechtsnormen mit dem Prozeß der gesetzlichen Wiedereinführung der Folter in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts in italienischen Regionen und Städten4 • Die Kommentierung und ,,Fortbildung" dieser Regelungen t
Zum Institut der legalen Folter s. allgemein die Werke von Fiorelli, Tortura; Langbein;
Peters. 2
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2•
Vgl. die Definition bei Fiorelli, Tortura, Bd. I, S. 4. Zur Tortur im römischen Recht, s. ebda, S. 22 ff. Ebda, S. 85 ff.
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durch das ius commune, der sich seit dem 12. Jahrhundert formiert, schafft ein detailliertes System der legalen Folterung, das in vielen europäischen Ländern bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts in Kraft bleibt5 und die iberische Rechtslehre und -praxis entscheidend beeinflußt. Was die Geschichte der legalen Folter auf der iberischen Halbinsel betrifft, zeigt die Studie von Martfnez Dfez, daß es zwei Perioden der Regelung der Folter als Beweismittel gibt. Die erste geht von der Einführung des römischen Rechts bis zum Ende der westgotischen Monarchie; nach 5 Jahrhunderten der Abolition der Folter (oder zumindest des Schweigens der vorhandenen Textquellen) beginnt die zweite Periode mit der Rezeption des gemeinen Rechts im 13. Jahrhundert, die bis zur Abschaffung des Folterinstituts am Anfang des 19. Jahrhunderts reicht6 . Hier wird uns, wie bereits erwähnt, die zweite Periode beschäftigen.
II. Zur geschichtlichen Bedeutung der Folter Es wurde zutreffend festgestellt, daß die Folter nicht an sich, d. h. als bloße Gewaltausübung, oder rein psychologisch, als Mittel zur Befriedigung von niedrigen Instinkten zu betrachten ist. Sie ist stets in Verbindung "mit einer bestimmten juristischen ,Kultur'" zu analysieren, die der Folter einen bestimmten Stellenwert sowie eine gewisse Legitimation einräumt7 • Eine Analyse der legalen Folter des Mittelalters und der Neuzeit erfordert also die Bestimmung und Untersuchung der juristischen Rahmen, in denen sie entstand. Was die juristische Kultur des gemeinen Rechts betrifft, bildete die Folter einen Bestandteil des legalen Beweissystems, in dessen Rahmen sie bestimmte praktische und symbolische Funktionen erfüllte. In der rechts- und sozialgeschichtlichen Forschung werden verschiedene Auffassungen bezüglich der Bedeutung der Folter vertreten, die oft mit einem pauschalen (negativen) Urteil über die entsprechenden juristischen "Kulturen" verbunden sind und somit die Folter als Teil dieses Systems ohne genaue Untersuchung ihrer spezifischen Funktionen kritisieren. Die verschiedenen Auffassungen können durch drei Begriffspaare zusammengefaßt werden.
- Barbarei vs. Verrechtlichung. Die Mehrzahl der zeitgenössischen Autoren folgt
der aufklärerischen Linie und trifft ein ausschließlich negatives Urteil über die
s Ebda, S. 114 ff.; Langbein, S. 7. Das fundamentale Werk der italienischen Lehre zur Folter ist der Tractatus de tormentis, der um 1270 von einem anonymen Juristen verfaßt wurde und als Basis der weiteren Diskussion fungierte, indem er von vielen Rechtsgelehrten teilweise abgeschrieben und in all seinen Aspekten kommentiert wurde. Zur Darstellung seines Inhalts, zur Datierung und zur Frage der Autorenschaft dieses Werks s. H. Kantorowicz, s. 311 ff., 328 ff. 6 Ausführlich dazu Mart{nez Dlez. Tortura, S. 223-249. 7 Cacciari, S. 166.
II. Zur geschichtlichen Bedeutung der Folter
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Folter: Sie sei nichts anderes als "eine ans Bestialische grenzende Grausamkeit", die durch die gesetzliche Regelung in das Strafrechtsverfahren eindringt8 . Das moderne Strafrecht wird dagegen als "human" und "gerechter" aufgefaßt, weil es die Irrationalität der "pseudoreligiösen" Bezüge und die Grausamkeit des gemeinrechtlichen, deren Ausdruck auch die Folter ist, überwindet9 . Andere Autoren betrachten die Folter dagegen als ,,rationale Beweistechnik" 10, die die Beschränkung der Grausamkeit und der Gewalttätigkeit des Strafverfahrens durch rechtliche Regelungen herbeiführte 11 • In derselben Argumentationslinie wird behauptet, daß die damalige Strafrechtslehre gewissermaßen ein Vorläufer des modernen rechtsstaatliehen Garantismus war: Die Herausarbeitung vielfaltiger Grenzen erlaubte den Juristen, die rechtliche Unterscheidung zwischen "geregelter" und "praktizierter" Tortur einzuführen und die zweite nach Legalitätskriterien zu beurteilen 12• Es gibt schließlich Autoren, die die legale Folter als eine Art Fortschritt im Vergleich zu den früheren irrationalen und formalistischen Beweissystemen bewerten, da die peinliche Befragung, genauso wie das moderne System der freien Beweiswürdigung, auf die Feststellung der materiellen Wahrheit abzielte 13. - Torheit vs. Rationalität. Die Tortur wird oft als eine vollkommen irrationale und zur Feststellung der Wahrheit ungeeignete Beweismethode betrachtet, deren Funktion sich von derjenigen der Ordalien und der göttlichen Beweise kaum unterscheidet. Der Versuch, die Wahrheit durch Gewaltanwendung zu ermitteln, wird als "Torheit" und "Wahnsinn" bewertet 14 • Im Gegensatz dazu bemerken andere Autoren, daß die Einführung und rechtliche Regelung der Folter die Rationalisierung des Beweissystems beabsichtigt. Die Wahrheit wird nunmehr nicht als Produkt einer "Offenbarung", sondern als Ergebnis einer methodischen Untersuchung durch die Befragung des Verdächtigen und die Beurteilung seiner Aussage durch den Richter aufgefaßt 15 . - Fehler vs. Disfunktionalität. Das dritte Begriffspaar steht in Verbindung mit den Gründen der Abschaffung der Folter und impliziert eine Beurteilung der Bedeutung der Folter in der Periode ihrer Geltung. Ein typisch "aufklärerisches" Argument ist die Betrachtung der Folter als Fehler oder Verwirrung des mittelalterlis Schmidt, S. 95. Tomas y Valiente, Derecho, S. 408. H. Kantorowicz, S. 315; vgl. etwa Rüping, S. 30. II Nach Ulmann. S. 125, 135 versuchten die Juristen des Mittelalters, das Ermessen des Richters zu beschränken und die Folter zu ,,humanisieren", während die Ausdehnung ihrer Grenzen und die verschiedenen ,.aberrations" mit der Dekadenz der Rechtslehre seit dem 16. Jahrhundert in Verbindung gebracht werden (S. 136 f.). t2 Sbriccoli, ,.Tonnentum", S. 30 ff.; ders., Gobemar, S. 706 f. tJ Fiorelli, Tortura, Bd. II, S. 156 f.; Rüping, S. 30. 14 Schmidt, S. 96. ts Marchetti, S. 75 f. 9
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eben Menschen. So behauptet ein Kommentator der ,,Siete Partidas" nach der Abolition der Folter, daß es "schwerwiegende Gründe gab, die zur Abschaffung der Folter führten und die auch zeigen, daß die Folter niemals hätte existieren dürfen ("nunca debi6 existir") 16. Dieser Auffassung wird die strukturell-funktionale Betrachtung der Abschaffung der Folter gegenübergestellt: Die Abschaffung erfolgte nach Änderungen in der Struktur des Beweissystems, das über die Indizienlehre zur freien Beweiswürdigung überging 17, sowie nach umfassenderen Wandlungen der kulturellen Voraussetzungen und der gesellschaftlichen Funktion der Strafjustiz (Aufklärung, Individualisierung, Übergang von der symbolischen zu flächendeckenden Kontrolle der Abweichungen, Bestrafung durch die Kontrolle des individuellen Verhaltens in geschlossenen Orten und nicht durch die Peinigung/Vernichtung des Körpers) 18. Wenn aber die Folter erst abgeschafft wurde, als sie sich als kontraproduktiv erwies, dann war ihr jahrhundertelanges Funktionieren keine "Verwirrung", sondern Konsequenz der herrschenden Auffassung über das Delikt und die Strafe, die auch den Einsatz von Ermittlungsmethoden implizierte, die uns heute als "barbarisch" erscheinen19. Ein Verständnis der Folter, das sich weder mit moralisierenden Verurteilungen noch mit der bloßen Übernahme einer der oben dargestellten "Polarisierungen" begnügt, setzt eine eingehende Untersuchung der Regelung und des Funktionierens der Folter voraus, um aus ihrer Realität (einschließlich der "diskursiven") Schlußfolgerungen zu ziehen. Parallel dazu soll eine Untersuchung der sozialen und kulturellen Gegebenheiten erfolgen, d. h. eine Bestimmung der Rahmen, die zur Einführung und Handhabung der strafprozessualen Folter führten, was dem Forscher erlaubt, die engen Grenzen der ,,Ideengeschichte" und der retrospektiven juridischen Auslegung zu überwinden und juristische Institute der Vergangenheit mit ihrer Umwelt zu verbinden. Diesem Zweck dient die besondere Aufmerksamkeit, die hier der politischen und sozialen Geschichte der untersuchten Territorien gegeben wird, insbesondere durch die einführende Darstellung des Rahmens, in dem sich das Institut der Folter entwickelte. Was die kulturelle Umwelt betrifft, ist darauf hinzuweisen, daß es in den Territorien der iberischen Halbinsel im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eine stark "traditionalistische" Kultur gab, deren vorherrschendes Element die starke Präsenz der katholischen Kirche und der Werte der christlichen Religion war. Der Glauben und seine "Verteidigung", die Rettung der Seele, die Moral und die Ehre, die Respektierung der königlichen ,,Majestät" und der "natürlichen" Ordnung (z. B. in Bezug auf das sexuelle Verhalten) wiesen eine überragende Bedeutung auf und Iie16 17 18
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P. III, 16, 8, Anm. a; P. VII, 30, Präambel, Anm. a. lAngbein, passim. Foucault, S. 75 ff., 99 f., 106 ff., 233 ff.; Trinidad Fenuindez. S. 57 ff. Ausführlich dazu Sabadell, Proceso.
II. Zur geschichtlichen Bedeutung der Folter
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ßen "materielle" Aspekte, wie das Leben und das Wohlergehen der Individuen, als nebensächlich erscheinen20. In solchen Gesellschaften wurden die Abweichung und ihre Konsequenzen durch die theologische Optik bestimmt, so wie sie sich aus den Lehren der Kirche ergab und in den Texten des ius commune durch die Verbindung und Bearbeitung des römischen und des kanonischen Rechts zum Ausdruck kam. Dies bedeutet zuerst, daß, wie wir in dieser Arbeit mehrmals feststellen werden, die Festlegung der Abweichungen nicht als Ergebnis eines politischen Willens zur Befriedung, Moralisierung usw. der Gesellschaft aufgefaßt wurde, sondern als direkter Ausfluß des göttlichen Willens bezüglich des "Guten" und des "Bösen", der den Menschen durch Offenbarung zugänglich wurde, d. h. durch die Tradition und vor allem durch Texte sakralen Ursprungs und undiskutierter Autorität. So hatte sich die Gesetzgebungstätigkeit als "Konkretisierung" oder ,,Bestätigung" göttlicher Gebote zu rechtfertigen, was ihr enge Grenzen setzte, während die Kultur mit ihren diffusen Werten als Mittel der Schaffung der gesellschaftlichen Ordnung, d. h. als Quelle und Werkzeug der sozialen Kontrolle, fungierte 21 • Die zweite Konsequenz der theologischen Optik war die weitgehende funktionale Gleichsetzung von Verbrechen und Sünde, von Recht und Moral, von weltlicher und geistiger Autorität22 • Diese Gleichsetzung spiegelt sich in den juristischen Texten, die die Worte crimen und peccatum weitgehend als Synonyme gebrauchen, wie auch in Gesetzesnormen, die die Delikte als Sünden (und umgekehrt) bestrafen wollen23 • Ähnliches gilt für die Theologie, die zwischen zwei Arten von Sünden unterscheidet: diejenigen, die gegen das göttliche Gesetz direkt verstoßen und diejenigen, die menschliche Gesetze verletzen, indirekt jedoch auch gegen den göttlichen Willen verstoßen, der Gehorsam gegenüber dem "menschlichen Gesetzgeber" befiehlt24 • Auch wenn es also Sünden gab, die nicht als Delikte geahndet wurden, galten alle Delikte als Sünden. Clavero, Delito, S. 73 ff.; Sabadell, Problematica, S. 81 ff. Clavero, Delito, S. 59 ff. 22 Ebda; dazu s. auch unten Kap. B, V, 3. 23 S. z. B. Pragmatica der Könige Femando und Isabel vom 09. 06. 1500: "Mandamos que los corregidores y justicias tengan especial cuidado de castigar los pecados ptiblicos, y blasfemias, y amancebados, y usuras, y adevinos y agoreros y otras cosas semejantes, y executar las leyes de nuestros Reynos que en ello hablan: y cerca del marco de los amancebados y testigos falsos y los otros pecados publicos, hagan guardar y executar las leyes deste libro que cerca deilos hablan, y las penas deilas contra los que cometieren los dichos delitos; por manera que en cada uno de los corregimientos cesen todos los dichos delitos y pecados", Novfsima Recopilaci6n, 12, 32, 9, in: C6digos espaiioles, Bd. 4. 24 Avendafio Estenaga, Parte I, Cap. II, § 1 ("de Ia essencia, y division del pecado"), Nr. 1 -7, S. 23-28: "todo lo que es contra Ia ley humana, es contra Ia etema de Dios ( ... ) y Ia razon es, porque Ia ley eterna de Dios manda obedecer a los Superiores, y legisladores humanos" (hier Nr. 2, S. 24). Unter Hinweis auf Sankt Thomas wird als actus malus (d. h. auch als Sünde) jedes Verhalten definiert, das die Regeln der Natur, der Vernunft oder der Moral verletzt (Nr. 3, S. 25). 2o 21
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Eine weitere Konsequenz der Gleichsetzung von Delikt und Sünde ist die Zentralität des Schuldbekenntnisses. Es gilt als entscheidendes Moment der Reinigung des Sünders durch die Strafe und macht den öffentlichen Vollzug von Leib- und Lebensstrafen an dem (meistens seine Schuld öffentlich anerkennenden) Delinquenten zu einem kollektiven Reinigungsritual 25 • Dies beeinflußt die Auffassungen vom Zweck der Strafe, die- auf der Ebene des theologischen und juristischen Diskurses - hauptsächlich eine Reinigungsfunktion erfüllt, d. h. durch eine der Schuld angemessene Peinigung eine Voraussetzung der Rettung der Seele bildet. Mit anderen Worten konnte das weltliche Justizsystem als Mittel der sozialen Kontrolle funktionieren, indem es die Werte der damaligen Gesellschaften zum Ausdruck brachte. Der gemeinsame Nenner dieser Konstruktionen ist die Überlegenheit des Kollektivs über die Individuen und der "Seele" über den Körper. Die Folter dürfte also den damaligen Menschen wahrscheinlich nicht als etwas Barbarisches oder als Ausdruck der Willkür erschienen sein, sondern als etwas, das man innerhalb der kulturellen Vorstellungen rechtfertigen konnte und zwar nicht nur als "verdiente" Peinigung des Missetäters, sondern auch als Strafe, die verhältnismäßig "leicht" war, weil sie nur den Körper und nicht die unsterbliche Seele traf26• Auch in einem rein materiellen Sinn hatte damals das körperliche Leiden eine Bedeutung, die sich von der heutigen grundsätzlich unterscheidet. Die Lebensbedingungen waren im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ftir die "armen Leute", d. h. für die fast ausschließliche Klientel des Justizsystems, besonders hart. Starke materielle Deprivationen, Schmerzen, unheilbare Krankheiten und Tod prägten das tägliche Leben, so daß die körperliche Peinigung im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht als etwas Außerordentliches oder damaligen Erfahrungen und Werten direkt Widersprechendes erschien27• Die Lebensbedingungen der Armen unterschieden sich z. B. nicht wesentlich von denjenigen der Einsperrung im Rahmen eines Kriminalverfahrens28 • Die hygienischen Bedingungen waren äußert prekär, eine Epidemie konnte die Bevölkerung einer Großstadt bekanntlich vernichten29, während die medizinischen Dienste oder die Möglichkeit der Schmerzensahwendung (Anästhesie, Medikamente) sehr rudimentär waren. Wenn wir uns vor Augen halten, daß die durchschnittliche Lebensdauer in Europa in der Mitte des 16. Jahrhunderts 18 Jahre und im 17. Jahrhundert 23 Jahre betrug30, können wir verstehen, daß Leid und Tod selbst für die privilegierten Klassen zur täglichen Erfahrung gehörten31. Die Verbindung dieser Elemente mit den theologischen Konstruktionen van Dülmen, S. 9 ff.; Tonuis y Valiente, Delincuentes, S. 21. So Boehm, S. 378 f. 21 Ebda, S. 379 f. 28 van Dülmen, S. 23; vgl. Quanter. S. 64; Helbing, S. 211 ff. 29 s. etwa Verri, S. 5 ff., der das Beispiel der Pest von 1630 erwähnt, der zwei Drittel der Einwohner von Mailand zum Opfer fielen. JO Coing, S. 61, Anm. 6. 25
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III. ,,lus comrnune" und Recht der iberischen Halbinsel
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der verdienten Strafe und der Reinigung durch die Folter gab letzterer eine beträchtliche Legitimation.
111. "Ius commune" und Recht der iberischen Halbinsel Neben der methodischen Notwendigkeit der Berücksichtigung geschichtlich-politischer sowie kultureller Elemente bei der Analyse der normativen Diskurse in Bezug auf die Tortur, erscheint es angebracht, das Folterinstitut in den Rahmen des Strafprozesses der untersuchten Periode einzuordnen und darüber hinaus einige Eckdaten zum Aufbau des Rechtssystems der untersuchten territorialen Einheiten darzustellen. Welches war aber das in den untersuchten Territorien geltende Recht? Das spätmittelalterliche Recht der iberischen Halbinsel ist von dem sog. juristischen Lokalismus geprägt. Es handelte sich um teilweise schriftlich fixierte Rechtsüberlieferungen, die in den engen Grenzen einer Ortschaft, einer Stadt oder des Territoriums eines Landherren (sefiorio) galten. Diese Rechtsform wird seit dem 12. Jahrhundert allmählich überwunden durch die aktive, "gesetzgebende" Tätigkeit zentraler Instanzen, die zur Bildung eines territorialen Rechts führen 32, das bis zum 15. Jahrhundert das lokale Recht vollkommen verdrängt33 • Das territoriale Recht ist einerseits durch die (potentielle) Geltung auf das gesamte Territorium eines Königreichs und andererseits durch seinen umfassenden Charakter gekennzeichnet, was es vom höchst fragmentarischen mittelalterlichen Gewohnheitsrecht unterscheidet. Das territoriale Recht bleibt jedoch eng mit dem europäischen gemeinen Recht verbunden. Seit dem 13. Jahrhundert werden territorial geltende Normen verabschiedet, die die Rechtsquellenhierarchie bestimmen und im allgemeinen den Vorrang des lokalen und territorialen Rechts vorsehen, indem sie dem gemeinen Recht und den Lehrmeinungen der Rechtsgelehrten eine subsidiäre Geltung einräumen. Mit dieser subsidiären Geltung wird jedoch die Bedeutung des gemeinen Rechts nicht abschließend bestimmt. Einerseits sind viele Normen des territorialen Rechts gemeinrechtlichen Ursprungs und andererseits liefert das ius commune dem territorialen Gesetzgeber und vor allem dem Rechtsanwender die Denkkategorien und die Systematisierungen, die für das Funktionieren des Rechtssystems unerläßlich sind. Dies zeigt die besondere Bedeutung des gemeinen Rechts für die spanischen Territorien in der hier untersuchten Periode, mit dem Ergebnis, daß das ius commune als Hauptquelle des kastilischen und des katalanischen Rechtssystems fungiert. 31 s. etwa die Briefe des Königs Felipe I. an seine Töchter (1581-1583, hg. von Bouza Alvarez), wo das Thema der Krankheit in der königlichen Umgebung ständig wiederkehrt und von einer besonderen "Kultur" der Krankheit und des Todes zeugt. 32 Tonuis y Valiente, Manual, S. 140-155. 33 Pirez Martin, Spanien, S. 229.
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Der Prozeß der Rezeption des gemeinen Rechts und die Gesetzgebungstätigkeit der zentralen Instanzen stößt auch in den spanischen Territorien auf den Widerstand der lokalen Machtträger (und vor allem der Landherren), die auf der Aufrechterhaltung ihrer Privilegien und der traditionellen "Ordnung" (Gewohnheitsrecht) bestehen. Das römische Modell des territorialen Rechts und des MonarchenGesetzgebers, der die verschiedenen Machtgruppen einem allgemeinen Recht unterwirft, wird Konflikte erzeugen und sich nur schrittweise durchsetzen können. Der König schöpft seine Macht und Legitimation aus seiner Fähigkeit, kollidierende Interessen der gesellschaftlichen Gruppen des Königreichs durch ständige Kompromisse zu "harmonisieren" (z. B. Gewährung oder Rücknahme von Privilegien), wobei das territoriale Recht nicht nur Ausnahmen zugunsten des lokalen Rechts (z. B. weitgehend autonome Jurisdiktion der Landherren), sondern auch besonders starke Wirksamkeitsprobleme kennt 34. Der Ausdruck "ius commune" dient in dieser Arbeit hauptsächlich zur Unterscheidung zwischen den Normen und der Doktrin der untersuchten iberischen territorialen Einheiten (ius proprium, "nationale" Lehre) und der italienischen Rechtslehre, die das römisch-kanonische Recht zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert wissenschaftlich bearbeitet. Durch diese restriktive Verwendung des Begriffs "ius commune", die sich auf die Unterscheidung ius communelius proprium stützt, wird nicht negiert, daß die iberischen Normsysteme und die Doktrin der Periode der Tradition des gemeinen Rechts verpflichtet sind und, global gesehen, Bestandteile des europäischen ius commune bilden. Unser Ziel ist zu zeigen, daß die spanischen Gesetzgeber und Rechtsgelehrten die Autorität des ius commune als zentralen Bezugspunkt wählen (Rezeption), und die iberische juristische Tätigkeit mit ihren (hauptsächlich italienischen) Vorbildern vergleichen, um Ähnlichkeiten, Abweichungen und Fortentwicklungen festzustellen. Die Rechtslehre, die sich vor allem in Italien zwischen dem 13. und dem 18. Jahrhundert entwickelt, und mit den nationalen Korliftkationen des 19. Jahrhunderts endgültig zu Ende geht, ist als "Bartolismus", "Scholastik" oder "mos italicus" bekannt. Die Bezeichnung ius commune ist am ehesten angebracht, weil sie das Hauptmerkmal dieser Rechtskultur zum Ausdruck bringt: ihr Einheitsbestreben. Diese Einheit kommt zum Ausdruck sowohl durch die Vereinheitlichung verschiedener Rechtsquellen (römisch-justinianisches, kanonisches, gewohnheitliebes und territoriales Recht) auf der Suche nach "Rechtssicherheit" als auch durch die Bearbeitung diesen Quellen nach den Rechtsfindungs- und Darstellungsmethoden einer weitgehend einheitlichen Rechtswissenschaft, die durch das universitäre Studium sich in großen Teilen Europas verbreitet und sich einer gemeinsamen Sprache bedient, des Lateinischen35 .
s. die Übersicht bei Clavero, Derecho comun, S. 85-121. Js Allgemein dazu Coing, S. 7 ff., 34 ff., 82, 87 f.; Calasso, S. 11 ff. und passim; Pirez Mart{n, Derecho Comun, S. 43 ff.; HespanluJ, Hist6ria das lnstitui~öes, S. 441. 34
IV. Zeitliche und geographische Grenzen der Untersuchung
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IV. Zeitliche und geographische Grenzen der Untersuchung Der wichtigste Grund für die eingehende Beschäftigung mit dem 16., 17. und 18. Jahrhundert ist die Tatsache, daß erst seit dieser Periode in den spanischen Territorien eingehende Darstellungen des Strafrechts verfaßt werden, und zwar solche, die die Rechtsprechung kommentieren und somit ein Bild der Rechtsanwendungspraxis vermitteln. In dieser Periode hat der Begriff "Strafe" im Rahmen des Strafprozesses schon seine "moderne" Bedeutung36, so daß die Zwecke und Funktionen des Strafverfahrens mit den heutigen vergleichbar sind (auch wenn sie keinesfalls identisch sind). Die hier kommentierte Lehre beschreibt die letzte Etappe der Verwendung der Folter als legalen Beweismittels, die von ganz besonderem Interesse ist. Das legale Beweissystem fallt in eine latente Krise, die in der Lehre durch das Interesse für die Indizienbeweise zum Ausdruck kommt. Die Diskussion um die Indizien bezweckt eine Flexibilisierung des legalen Beweissystems durch die Gewährung weiter Ermessensräume an die Gerichte und die Einführung der sog. Verdachtsstrafe bei ungenügenden Beweisen. Die Beobachtung dieser Diskussion in der kastilischen und katalanischen Lehre in Verbindung mit den Ansätzen der italienischen Doktrin erlaubt es uns, die schrittweise Infragestellung des gemeinrechtlichen Strafverfahrens zu analysieren, die allerdings in der iberischen Doktrin nicht mit radikalen Kritiken der Folter oder des legalen Beweissystems verbunden wird. Auch wenn die Untersuchung mit dem 16. Jahrhundert beginnt, ist eine strikte Einhaltung dieser zeitlichen Grenze nicht möglich. Dies betrifft zunächst die Darstellung der politisch-sozialen Gegebenheiten der Territorien, die eine umfassendere historische Betrachtung, vor allem seit der Gründung der Kronen der iberischen Halbinsel unerläßlich macht. Dasselbe gilt naturgemäß für die Darstellung des lokalen Rechts mittelalterlichen Ursprungs, aber z. T. auch für die hier relevanten territorialen Normen, die größtenteils zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert verabschiedet werden. Aus geographischer Sicht beschränkt sich die Analyse der Normen und Lehrmeinungen auf zwei territoriale Einheiten der Halbinsel: das Königreich Kastilien, und das Fürstentum Katalonien. Somit werden Sonderfälle, d. h. Territorien, die ihre Autonomie im Sinne der Weitergeltung des "alten" Gewohnheitsrechts aufrechterhalten haben, außer Acht gelassen. Unsere Auswahl kann jedoch als repräsentativ für die gesamte Halbinsel in einer Periode der Entwicklung und Durchsetzurig des königlichen Rechts betrachtet werden - und dies aus drei Gründen. Der erste Grund hängt mit der Tatsache zusammen, daß das spanische Königreich durch die Union der Krone von Kastilien-Le6n mit der Krone von Aragonien entsteht, wobei es zwischen beiden Kronen bedeutende politische und juristische 36 s. Wadle, Entstehung, S. 10 ff., der im Rahmen einer methodischen Reflexion zum Begriff "Strafe" ihre Verwendung im ,,modernen" Sinn seit dem 14. Jahrhundert feststellt.
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Unterschiede gab. Das Fürstentum von Katalonien hat durch die Vereinigung mit dem Königreich Aragonien die Krone von Aragonien gegründet, so daß die Untersuchung seines Rechtssystems neben dem kastilischen uns Einsichten in die Situation der beiden Kronen Spaniens bietet. Der zweite Grund betrifft die besondere politische und juristische Bedeutung der gewählten Territorien im Rahmen jeder Krone. Kastilien konnte sich im Prozeß der Bildung und der erheblichen Expansion der Krone von Kastilien-Le6n politisch durchsetzen und eine verhältnismäßig starke Vereinheitlichung der Territorien der Krone bewirken, was auch mit der Entwicklung und Anwendung eines territorialen Rechts königlichen Ursprungs für das gesamte Territorium zum Ausdruck kam. Die Prädominanz Kastiliens und seiner Institutionen im Rahmen der Krone ist so stark, daß in der Rechtsgeschichte der Ausdruck ,,kastilisches Recht" meistens das Recht der gesamten Krone bezeichnet, d. h. das Recht der Krone von demjenigen des kastilischen Königreichs kaum unterschieden wird37 • Das Fürstentum von Katalonien war im Rahmen der Krone Aragoniens nicht politisch prädominant Seine politische Bedeutung ist allerdings besonders groß vor allem aufgrund seiner merkantilen und territorialen Expansion auf der iberischen Halbinsel sowie im Mittelmeer seit dem 12. Jahrhundert. Andere territoriale Einheiten der Krone, wie Valencia und Mallorca, hatten keine mit Katalonien vergleichbare Bedeutung, und darüber hinaus weist ihr Recht besonders starke Einflüsse des katalanischen (im Fall Valencias in Verbindung mit demjenigen des Königreichs Aragonien) auf38 • Die Untersuchung des Rechtssystems von Aragonien wäre aus der Sicht der politischen Bedeutung dieses Königreichs im Rahmen der Krone genauso sinnvoll wie die Untersuchung des katalanischen. Es wurde jedoch aufgrund seiner juristischen (und zum Teil politischen) Eigenartigkeit ausgeschlossen. Im Fall von Aragonien führte die "paktistische" Politik des Königs und der Landherren zu einer weitgehenden Erhaltung des mittelalterlichen Gewohnheitsrechts. Die Rezeption des ius commune war stark selektiv und erfolgte nur insoweit als es mit lokalen normativen Gegebenheiten im Einklang stand, was bezüglich der Folter nicht der Fall w~9 . Auch wenn ein Teil der Rechtsgeschichte den aragonesischen Rezeptionsprozeß des gemeinen Rechts als viel stärker bewertet40, steht fest, daß das inquisitorische Verfahren und die strafprozessuale Folter in Aragonien zurückgewiesen wurden. Im Jahre 1283 haben die Cortes von Aragonien das inquisitorische Verfahren verbannt und im Jahre 1348 wurde nach entsprechenden Petitionen des Adels die Folter mit wenigen Ausnahmen durch die "Declaratio Privilegii Genera-
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Dazu unten Kap. B, I, 2, b). s. etwa Tonuls y Valiente, Manual, S. 222 ff. Lalinde Abad{a, Situaci6n, passim. s. etwa Tonuls y Valiente, Manual, S. 212.
IV. Zeitliche und geographische Grenzen der Untersuchung
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lis" endgültig verboten41 , wobei ein richterliches Organ die Einhaltung dieser Verbote überprüfen sollte42 . Die Beschäftigung mit dem Königreich Aragonien scheidet also im Rahmen einer Arbeit zur Regelung der strafprozessualen Folter prinzipiell aus. Sinnvoll wäre sie nur in einer weit angelegten Untersuchung, die die Regelung der strafprozessualen Folter im Rahmen der Rezeption gemeinrechtlicher Institute mit Fällen vergleichen würde, wo sie aus politischen Gründen teilweise oder vollkommen verhindert wurde. In bezug auf Katalonien ist auch zu bemerken, daß die Territorien der Krone von Aragonien eine weitgehende politische und juristische Selbständigkeit beibehielten, mit dem Ergebnis, daß das katalanische Rechtssystem eine größtenteils autonome Entwicklung kannte, selbst nach der Vereinigung der aragonesischen mit der kastilischen Krone. Die Untersuchung Kataloniens bietet uns somit ein Beispiel der juristischen Autonomie eines Territoriums, d. h. einer im Vergleich zu Kastilien vollkommen unterschiedlichen Situation, sowie den Fall der Koexistenz territorialer Rechtsnormen mit der autonomen und quantitativ vorherrschenden Jurisdiktion der lokalen Machtträger und der Geltung lokaler Normen. Der dritte Grund unserer Auswahlliegt in der Bedeutung und Fülle des juristischen ,,Materials" beider Territorien. In Kastilien entsteht im 13. Jahrhundert die bedeutendste Normensammlung der Halbinsel, die "Siete Partidas", die in Spanien bis zum 19. Jahrhundert in Geltung bleiben wird. Diese Normensammlung ist besonders stark von der Rezeption des gemeinen Rechts geprägt; sie enthält mehrere und verhältnismäßig detaillierte Regelungen der Tortur im Rahmen des Strafprozesses und wird von den kastilischen Juristen als Grundlage ihrer Arbeit benutzt. Besonders intensiv ist in Kastilien die Produktion von juristischen Abhandlungen, die im strafrechtlichen Bereich im 16. Jahrhundert beginnt. So können wir in Kastilien eine reiche und kontroverse Diskussion bezüglich der Ausgestaltung und der Grenzen der legalen Tortur verfolgen, die die gesetzlichen Regelungen besonders "frei" auslegt, d. h. Änderungen im Wege der Interpretation einführt in enger Verbindung mit Entwicklungen der italienischen Lehre. Im Fall Kataloniens können wir eine zumindest genauso intensive Rezeption des gemeinen Rechts beobachten, die u. a. zur Einführung der strafprozessualen Folter ftihrt. Im Unterschied zu Kastilien gibt es in Katalonien keine "große" Normensammlung und die Bestimmungen zu Folterfragen bleiben äußerst lückenhaft. Weder ihre Stellung im Strafverfahren noch ihre Grenzen werden systematisch geregelt; die Folter wird in territorialen Normen als etwas "Selbstverständliches" erwähnt, was implizit die Akzeptanz ihrer Ausgestaltung im Rahmen des gemeinen Rechts bedeutet. Die katalanischen Rechtsgelehrten beginnen ab dem 15. und viel Beide Texte in: Savall y Dronda/ Penen Devesa, S. II, 20. Tomas y Valiente, Tortura, S. 210 ff.; Lalinde Abad{a, Derechos individuales, passim; Mart{nez Dfez. Tortura, S. 275 ff. 41
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A. Einleitung
intensiver ab dem 16. Jahrhundert sich mit der Frage der Folter auseinanderzusetzen, und ihr Werk "schließt" die gesetzlichen Lücken durch die Übernahme und Anpassung von Meinungen der italienischen Rechtsgelehrten. Katalanische Regierungsorgane finanzieren die Veröffentlichung kommentierter Entscheidungssammlungen, wo die Folterproblematik anband der Doktrin und der gerichtlichen Praxis ausführlich dargestellt wird. Die katalanische Literatur zu Strafrechtsfragen weist zwar nicht die Vielfalt und die Fülle der kastilischen auf; jedoch ist die Behandlung strafrechtlicher Fragen besonders tiefgreifend und die Grenzen der Folter werden meistens restriktiv, d. h. "garantistisch" festgelegt. Zusammenfassend kann die Beschäftigung mit Kastilien und Katalonien Ähnlichkeiten sowie starke Unterschiede in der Behandlung der strafprozessualen Folter in zwei politisch besonders bedeutenden territorialen Einheiten der iberischen Halbinsel aufzeigen, wo ein Prozeß der Rezeption des gemeinen Rechts unter Anpassung an politische Gegebenheiten jedes Territoriums erfolgt und sich eine bedeutende Rechtslehre entwickelt, die die entsprechenden Rechtssysteme durch Interpretation ,,korrigierend" fortbildet.
V. Methode der Untersuchung Unsere Untersuchung basiert auf den Normensammlungen und Texten der Doktrin, die unter Einbeziehung sozial- und rechtsgeschichtlicher Arbeiten dargestellt und kommentiert werden. Was die Texte der Rechtslehre betrifft wird ihr Inhalt systematisch dargestellt: Der kasuistische Stil der Autoren wird nach "modernen" Darstellungskriterien "übersetzt" und nach thematischen Bezügen und Meinungsrichtungen klassifiziert. Dies erlaubt ein besseres Verständnis der Denk- und Argumentationsstrukturen der Autoren und zeigt die oft latenten Beziehungen zwischen Texten auf. Darüber hinaus werden die Grenzen der Folter nach der Lehre sowie ihre Beziehungen mit den normativen Texten der Periode sichtbar, die von der kasuistischen Behandlung oft "verdeckt" werden. Die Verbindung der nach systematischen Kriterien dargestellten Lehrmeinungen mit den Daten zur politisch-sozialen Struktur, zum Aufbau des Rechtssystems sowie zur Ausgestaltung des Strafverfahrens des entsprechenden Territoriums soll dann ein möglichst umfassendes Verständnis der Bedeutung des Folterinstituts erlauben. Die Darstellung der Gesetzestexte und die Analyse der gelehrten Doktrin gibt uns über einen bedeutenden Aspekt der damaligen "Realität" Auskunft: Die Form, in der die Machtträger und die Rechtsgelehrten, die in der Regel als Rechtsanwälte, Richter oder königliche Berater tätig waren und jedenfalls enge Kontakte mit der damaligen Praxis hatten, das Recht und seine Institute verstanden. Dies bietet uns einen Einblick in die Rechtspraxis, auch wenn wir heute kaum Möglichkeiten haben, die "tatsächliche" Rechtspraxis, den Grad der Wirksamkeit und die Effekte des damaligen Rechtssystems auf die Gesellschaft quantitativ zu untersuchen.
V. Methode der Untersuchung
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Die Untersuchung der Regelung der Folter kann uns sicherlich kaum Informationen über die ,,Realität" des Instituts geben. Die Gesetzestexte werden niemals und erst recht nicht in den Territorien des ius commune - "treu" angewandt; oft ist ihre Zwecksetzung eher symbolisch und jedenfalls sind sie nicht "das ganze Recht": die Rechtspraxis wird von diffusen Regeln gesellschaftlichen Verhaltens und von den jeweiligen Entscheidungstraditionen der Rechtsanwendungsinstanzen geprägt43 . Der Inhalt der doktrinären Abhandlungen kann genausowenig als Widerspiegelung der Realität betrachtet werden. Die Texte sind bekanntlich keine neutralen "Gefäße" von Ideen und Tatsachen, sondern eigenständig strukturierte ,,Realitäten", die eine eigene Logik ausdrücken und bestimmten Zwecksetzungen dienen. Die textuellen Realitäten entstehen aus der Selektion von Tatsachen, über die "man schreiben kann", die die Bedürfnisse eines bestimmten Auditoriums zu befriedigen versuchen und die ihrem Autor einen bestimmten Status geben bzw. von diesem Status beeinflußt werden44 • Die Erkenntnis-, Willens- und Bewertungspraxen, mit denen sich die Geschichtsschreibung befaßt, entstehen durch Selektionsprozesse, d. h. aus mentalen Operationen, die Weltanschauungen und Reaktionsformen hervorbringen, um auf die Resultate Einfluß zu nehmen45 . Was unser Thema betrifft, ist die Beschreibung der Rechtspraxis in einer gelehrten Abhandlung das Ergebnis einer mehrfachen Filterung durch soziale, ideologische und rein politische Faktoren, die bei jeder Analyse berücksichtigt werden sollen, wenn die Filterungseffekte möglichst neutralisiert werden sollen46. Die Rechtshistoriker können jedoch diese Faktoren nur annähernd bestimmen; jedenfalls sind sie schon allein aus allgemeinen erkenntnistheoretischen Gründen nicht imstande, aus jedem Text die "Wahrheit" herauszudestillieren. Die iberischen Juristen waren gewiß keine neutralen Beobachter der Rechtspraxis. Zum einen waren sie als Anhänger und Bewunderer der großen italienischen Rechtsgelehrten von Idealmodellen des Rechts beeinflußt, mit der Konsequenz, daß bei ihren Ausführungen zwischen Zweckmäßigem, normativ Geltendem und praktisch Befolgtem, d. h. zwischen Projektion und Reproduktion, nur schwer zu unterscheiden ist. Zum anderen sprachen sie immer von einem bestimmten "sozialen Ort" aus: Als Mitglieder einer sozial privilegierten Schicht, die im Dienste der königlichen Apparate stand. So kannten sie zwar die "Rechtswirklichkeit", zumindest was die Höheren Gerichte betrifft, sie schrieben jedoch als politische Subjekte, die nicht nur die Legitimität und "Gerechtigkeit" des damaligen Rechtssystems bedingungslos akzeptierten, sondern auch das Projekt der Entwicklung und Durchsetzung des königlichen Rechts praktisch und theoretisch unterstützten. Die Erzeugung von Wissen als Mittel der Konsolidierung eines Machtprojekts be43 44 45 46
Hespanha, Gracia, S. 204. Vgl. mit Bezug auf die rechtsgeschichtliche Textanalyse, ebda, S. 204 f. Hespanha, Senda amorosa, S. 29. Hespanha, Gracia, S. 204 f.
A. Einleitung
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wirkt aber zwangsläufig Verzerrungen in der Wahrnehmung, vor allem aber in der Darstellung der "Realität". So wird hier nicht die Frage gestellt, ob die Aussagen der gelehrten Juristen bezüglich der Periode "wahr" sind, und da unsere Untersuchung sich nicht auf Gerichtsakten oder andere Archivdokumente erstreckt, können Aussagen über die "Wirklichkeit der Folter", d. h. über die Rechtspraxis und ihren Niederschlag auf die Gesellschaft, nur mit äußerstem Vorbehalt getroffen werden. Es wird davon ausgegangen, daß während des ancien regime sowohl die Gesetzestexte als auch die juristischen Diskurse im Bereich des Strafrechts nicht eine "genaue" Anwendung ihren normativen Inhalte beabsichtigten. Das königliche Recht agierte vor allem auf einer symbolischen Ebene; es versuchte nicht alle Gesetzesverstöße effektiv zu bestrafen, sondern den Monarchen als höchsten Gerechtigkeitsträger und die Abweichungen als Verletzungen einer göttlichen Ordnung darzustellen 47 • Die Repressionsapparate des ancien regime haben kein extensiv-massives System der sozialen Kontrolle aufgebaut, wie es bei den modernen Strafrechtssystemen der Fall ist: Die Anwendung der damaligen strafrechtlichen Normen war restriktiv48. Die verschiedenen Gesellschaftsschichten konnten in bestimmten Rahmen "illegale" Tätigkeiten entwickeln, sei es aufgrund der Gewährung von Privilegien, sei es angesichts einer ständigen "Toleranz" der Kontrollapparate durch die Nicht-Anwendung geltender Normen49• Diese Toleranz wurde sicherlich von der materiellen Unfähigkeit des königlichen Justizsystems bedingt, das Territorium effektiv zu kontrollieren, d. h. die Übertretungen systematisch zu erfassen und zu ahnden. Das Resultat war ein vorwiegend symbolisches Funktionieren des Justizsystems, das bestimmte Rechtsbrüche exemplarisch bestrafte, was eine Darstellung der königlichen Majestät und "Gerechtigkeit" erlaubte und für das Publikum als abschreckendes und kathartisches Spektakel fungierte. In bezug auf ein solches symbolisch-restriktiv funktionierendes System hat die Untersuchung der Aussagen der Gesetzgeber und der Doktrin eine besondere Bedeutung, auch wenn sie "verzerrt" oder ,,realitätsfremd" sind: Sie zeigt uns, wie bereits erwähnt, das Verständnis der Machtträger von Recht und Gerechtigkeit sowie seine geschichtlichen Wandlungen im Rahmen der Krise des legalen Beweissystems. Daraus ist die normative "Wirklichkeit" dieser Zeit und die herrschende Ideologie bezüglich der Funktionen des Rechtssystems zu entnehmen, die das tägliche Verhalten erheblich beeinflußte. Anders ausgedrückt, erlaubt es uns diese Untersuchung, am Beispiel der Folter festzustellen, was unter Recht und Gerechtigkeit verstanden wurde, d. h. zu verfol47 48
49
Ebda, S. 206. Dazu s. Sabadell, Problematica, S. 81-83. Zu einer Verbindung dieser Illegalität mit ökonomisch-politischen Zwängen s. Foucault,
s. 84-86.
V. Methode der Untersuchung
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gen, wie Gesetzgeber und Juristen eine symbolische Ordnung konstruierten, die von der heutigen sowohl in den Inhalten als auch in der Funktion zwar grundsätzlich verschieden ist, jedoch in der damaligen Situation Geltung und Legitimation im ,,restriktiven" Rahmen der Tätigkeit der zentralen Kontrollinstanzen erreichte.
3 Sabadcll
B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien I. Politische Organisation und Rechtssystem Kastiliens 1. Die Gründung des kastilischen Königreichs Die Geschichte des Königreichs Kastilien weist im Vergleich zu den anderen spanischen Königreichen eigentümliche Merkmale auf. Bevor Kastilien ein Königreich wurde, war es ein Konglomerat aus Grafschaften, die sich schon im 10. Jahrhundert vereinigt hatten. Die Geschichte Kastiliens steht in enger Verbindung mit der des Königreichs Le6n, mit dem es ab 1230 eine gemeinsame Krone bildete. In diesem Zusammenhang ist es wichtig daran zu erinnern, daß die Union dieser Königreiche nicht erst mit der Bildung der gemeinsamen Krone begann, sondern schon im 11. Jahrhundert mit König Fernando I. (1016-1065) 1, als Kastilien und Le6n mehrere Vereinigungen und Trennungen durchlebten. Fernando I. war der erste König von Altkastilien (Castilla Ia Vieja). Er begann einen Grenzkrieg mit Bermudo III. von Le6n, dem Bruder seiner Gemahlin, Sancha. Im Jahr 1037 fügte Fernando seinem Schwager in der Schlacht von Tamaron eine Niederlage bei und erwarb über Sanchas Thronfolgerecht das Königreich Le6n. Vor seinem Tod verteilte Fernando sein Reich unter seine drei Söhne, die einen Bruderstreit begannen. Im Jahre 1072 unterwarfen sich die Kastilier dem König von Le6n und Galizien, Alfonso VI., nachdem er geschworen hatte, keinen Anteil an der Ermordung seines Bruders Sancho ll., König von Kastilien, gehabt zu haben2. Die Geschichte der Vereinigungen und Trennungen dieser beiden Königreiche geht bis zur Union von 1230 weiter, die schon stabilere Konturen erhält. Die endgültige Vereinigung unter der Krone von Kastilien-Le6n 3 wird unter Fernando Ill. I Ganzales Ant6n, S. 82-90. Nach dem Autor ist die Bezeichnung "condado de Castilla" schon am Anfang der 9. Jahrhunderts belegt (S. 82). 2 Für einen Überblick der Geschichte von Le6n und Kastilien s. Martin, S. ll ff.; Schep· pach, S. 21 ff. 3 Als Krone wird die Verbindung mehreren Königreiche und sefiorios bezeichnet, die unter der Autorität eines Monarchen stehen, dessen Amt erblich weitergegeben wird ohne Trennung der territorialen Bestandteile der Krone (Tonuis y Valiente, Manual, S. 232).
I. Politische Organisation und Rechtssystem Kastiliens
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(1201-1252), genannt der Heilige, besiegelt, der König von Kastilien ab 1217 und von Le6n ab 1230 war4 • Normalerweise konnten sich die Königreiche innerhalb einer Krone einen kleineren oder größeren Unabhängigkeitsgrad erhalten; in der kastilischen Krone führte jedoch die dominierende Tendenz zur Vereinigung. Für Kastilien wurde nicht, wie zwischen Aragonesen und Katalanen, die Form der Krone mit Vertragsund Kompromißcharakter (Paktismus) gewählt. Die Frage lautete: Einheit mit oder Trennung von den Leoner?5 Die Bildung der Krone von Kastilien-Le6n war sehr fruchtbar für beide Königreiche, schuf Reichtum und erleichterte die Reconquista der von den Moslems beherrschten Gebiete6 • Was die rechtliche Seite betrifft, so setzte sich das kastilische Recht durch. Das leonische Königreich, obwohl es anfangs einen beachtlichen Grad an juristischer Eigenständigkeit behalten konnte, übernahm Mitte des 13. Jahrhunderts das in Kastilien entstehende Recht7 • Als sich Jahrhunderte später die Kronen von Aragonien und von Kastilien-Le6n vereinigen und die spanische Krone bilden, ist die grundsätzliche Tendenz jedenfalls eine andere: Rücksichtnahme auf die unterschiedliche rechtlich-politische Organisation der verschiedenen Gebiete, die "Spanien" bildeten. Die Respektierung dieser regionalen Unterschiede sollte die einzige Möglichkeit sein, die Macht sowohl innerhalb der iberischen Halbinsel als auch über die Gebiete, die geographisch nicht zu dieser Region gehörten, wie die Besitzungen im südlichen Italien, aufrechtzuerhalten 8 •
2. Das Rechtssystem Kastiliens a) Die Entwicklung des lokalen Rechts Das 13. Jahrhundert bildet den Höhepunkt in der Entwicklung des Lokalrechts in Kastilien und Le6n9 , bei der neben der Verschriftlichung der überlieferten 4 Bis zur endgültigen Bildung der Krone vergehen 113 Jahre der Union und 80 der Trennung (Martin, S. 16). s Vicens Vives, Aproximaci6n, S. 81. Wir werden im Kap. C sehen, daß die paktistische Form der politischen Organisation weitreichende rechtliche Konsequenzen hat. 6 Die Allianz der christlichen Königreiche der iberischen Halbinsel gegen die Moslems führt zum Sieg von Navas. Fernando III erobert C6rdoba (1236) und Sevilla (1247), so daß nur der südliche Teil Andalusiens in den Händen der Moslems bleibt. Dazu s. etwa Garcia Gallo, Curso, S. 227; Vicens Vives, Aproximaci6n, S. 83. 7 Tomas y Valiente, Manual, S. 232. Es ist hinzufügen, daß in den Gebieten, die die Krone Kastiliens in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eroberte, keine neuen Königreiche gegründet werden, sondern das kastilische Recht ausgedehnt wird. Dazu Clavero, Instituci6n historica, S. 49. s Dazu s. die einleitenden Bemerkungen in BouzaAlvarez. S. 15 ff.
3*
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
Rechtszustände (Fueros 10) der (allerdings begrenzte) Einfluß des gemeinen Rechts hervorsticht 11 • In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß im selben Jahrhundert die ersten Universitäten in Le6n und Kastilien gegründet werden, wo hauptsächlich römisches und kanonisches Recht gelehrt wird 12 . Die Könige der kastilischen Krone haben in die Entwicklung des lokalen Rechts eingegriffen. König Alfonso VIII. von Kastilien hatte schon vor der endgültigen Vereinigung von Kastilien-Leon eine Politik der Verleihung des Fuero Juzgo an wichtige Städte eingeleitet. Der Fuero Juzgo war eine Fassung des westgotischen Territorialrechts (Forum Judicum), das im frühen Mittelalter ins Kastilische, Leonische und Galizische übersetzt wurde. Wahrscheinlich hatten einige Übersetzungen offiziellen Charakter und wurden später durch Femando III. und Alfonso X. ange9 Bezüglich der Datierung und der Urheberschaft der in diesem Kapitel erwähnten Normensammlungen gibt es in der spanischen Rechtsgeschichte starke Kontroversen. Im Rahmen dieser Darstellung der Entwicklung des lokalen und territorialen Rechts wird lediglich die herrschende Auffassung dargestellt. Für eine Darstellung der Kontroversen s. unten Kap. B, III, I. 10 Die Termini "Fueros" und "Costumbres" wurden auf der iberischen Halbinsel im Mittelalter als Synonyme des "Rechts" verwendet und bezeichnen das Rechtssystem einer bestimmten Ortschaft oder Region. Als Fueros werden auch die meistens von gelehrten Juristen redigierten Fassungen des Gewohnheitsrechts bezeichnet, die vom König oder vom Landherrn als "Rechtsquelle" akzeptiert werden (zu diesen Bedeutungen des Terminus s. etwa Gacto Ferruindez, Derecho, S. 60). Der Terminus Fuero (For, Fora), Foro) wird auf den meisten Regionen der Halbinsel benutzt, während der Terminus "Costumbre" (Costum, Consuetudo) in Katalonien anzutreffen ist. Das Gewohnheitsrecht darf nicht als Ausdruck eines "Volksrechts" verstanden werden. Es war ein Instrument der Regelung der Herrschaftsbeziehungen in einer "statischen" feudalen Gesellschaft, wo die Produktion auf der Landwirtschaft basierte und das Land fast ausnahmslos dem Regime des seiiorio unterworfen war. Die weltlichen oder kirchlichen Seiiores eigneten sich das Mehrprodukt an, sie verfügten als "Herren" über Privilegien und lmmunitäten und übten eine allgemeine Jurisdiktion im jeweiligen Territorium aus. Die lokalen Gewohnheiten garantierten die Unveränderlichkeit der Herrschaftsbeziehungen, was auch die Reaktion der Adligen gegen jede Infragestellung ihrer Privilegien durch den königlichen Regierungsapparat erklärt. Zu einer Analyse der Merkmale und der Funktion des mittelalterlichen Rechts in Spanien s. Hinojosa, passim; Garcia Gallo, Caracter germanico, passim; ders., Manual, S. 154 ff.; Otero, passim; Tonuis y Valiente, Manual, S. 133 ff.; Clavero, Derecho comun, S. 87 ff.; Gacto Ferruindez. Derecho, S. 59 ff. (zu den Fueros in Kastilien und Le6n, S. 82 f., 88 ff.); Lalinde Abadia, Derecho, S. 69 ff. u s. etwa Garcia Gallo, Curso, S. 252. 12 Es handelt sich um die Universitäten von Palencia (1212), Salamanca (1215) und Valladolid (1260). Dazu Garcia Gallo, Manual, S. 313. Zur Entwicklung der juristischen Studien in Kastilien und zur Präsenz zahlreicher spanischer Studenten in Italien und vor allem in Bologna, wo im Jahre 1369 der KardinalGilde Albomoz das Colegio San Clemente (Collegium Ispanorum) gründet, s. Gibert, S. 258- 260; Tonuis y Valiente, Manual, S. 200; Scheppach, S. 29 f. Die quantitative ,,Explosion" des juristischen Studiums erfolgt in Kastilien im 16.Jahrhundert, als sich in denjuristischen Fakultäten von Valladolid und Salamancajährlich 5-6000 Jurastudenten immatrikulieren lassen. Dazu s. Ranieri, S. 91. Es ist vielleicht kein Zufall, daß im selben Jahrhundert, wie wir noch sehen werden, sich auch eine kleine ,,Explosion" der Zahl der strafrechtlichen Traktate ereignet.
I. Politische Organisation und Rechtssystem Kastiliens
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fertigt 13• In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts führte Fernando III. diese Politik fort und weitete den Formulario, eine Synthese des Gewohnheitsrechts der kastilischen Extremadura (Modell des Fuero de Cuenca) 14 , auf verschiedene Orte aus. Die Politik Fernandos III. wurde von Alfonso X. fortgesetzt und weiterentwikkelt, der auch die Ausdehnung einer anderen Rechtsaufzeichnung (Fuero Real) als Gemeinderecht auf andere Orte Kastiliens voranbrachte. Mit Bezug auf den Fuero Real wird betont, daß seine Gesetze aus dem Fuero Juzgo und anderen kastilischen Rechtsaufzeichnungen stammen, wobei auch eine gewisse Beeinflußung durch das römische Recht und die Decretales von Papst Gregor IX. beobachtet werden kann 15 • Die Ausdehnung der Fueros auf verschiedene Ortschaften wurde durch die spanische Geschichtsschreibung als Versuch gewertet, den normativen Pluralismus indirekt zu überwinden. Bei der Verleihung des Fuero Juzgo 16 auf die gerade eroberten Städte in Andalusien und Murcia gab es keine nennenswerten Widerstände. Einer der Gründe, die den Fuero Juzgo begünstigten, könnte das Fehlen einer eigenen christlichen Rechtstradition des Hochmittelalters in diesen Gebieten sein 17 . Darüber hinaus beruhte diese Gesetzessammlung auf westgotischem Recht, und so war sie kein unbekanntes Recht auf der Halbinsel, besonders aber in Le6n 18• Diese Versuche der Rechtsvereinheitlichung hatten allerdings nur begrenzten Erfolg. Die negativen Reaktionen bei der Gewährung von Fueros bezogen sich besonders auf den Fuero Real. Dieses wurde in der Mehrzahl kastilischen Städten verliehen und stieß auf Ablehnung vor allem in den Städten, die bereits ihre eigenen Gewohnheitssammlungen hatten, wie Madrid und Guadalajara 19• Der kastili13
Sanchez, S. 71; Wolf. S. 670.
Zu diesem Fuero s. Rauchhaupt, S. 84 f.; Wolf. S. 670. u Zum Fuero Real, s. Escudero, S. 444; Tonuis y Valiente, Manual, S. 164; Wolf. S. 671; Gibert, S. 46; Mart(nez Dfez. Fuero Real, S. 562; Rauchhaupt, S. 98 ff.; Scheppach, S. 37 ff. 16 Der Fuero Juzgo wurde u. a. in folgenden Städten verliehen: Toledo (1222), C6rdoba (1241), Cartagena (1246), Sevilla (1250), Carmona (1252), Alicante (1252). Außerdem war er besonders verbreitet in den Regionen von Andalusien und Murcia. Der Fuero Real wurde u. a. in Agilar de Campo und in Sahagun im Jahre 1255, in Burgos, Soria, Alarc6n und Peiiafiel (1256), in Talavera (1257), Escalona (1261), in Madrid und Guadalajara (1262) verliehen (Escudero, S. 441; Lalinde Abad{a, Derecho, S. 72; Tonuis y Valiente, Manual, S. !51 -153, 14
162-164, 233-234). 17 lglesia Ferreir6s, Creaci6n, S. 18. Tonuis y Vatiente (Manual, S. 162) erwähnt folgende
Gründe der Wahl und der problemlosen Durchsetzung des Fuero Juzgo in Andalusien und Murcia: die Nähe des Fuero Juzgo zu den arabischen Rechtstraditionen; seine Eigenschaft als vollständige Rechtssammlung, die bereits mit Erfolg in der Region von Toledo angewandt wurde; seine zentralistischen Züge, die den spanischen Königen besonders gefielen. 18 V gl. Lalinde Abadfa, Derecho, S. 92. Das Gewohnheitsrecht in Le6n stammte aus der Tradition des Liber ludiciorum, während es in Kastilien andere Quellen hatte. S. Tomas y Valiente, Manual, S. 126-130, 160-161. 19 Tonuis y Valiente, Manual, S. 164. Die Geltung der kastilischen Lokalrechte wurde mehrmals von Sancho IV (1284-1295) und Femando IV (1295 -1312) bestätigt (ebda, S. 234).
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sehe Adel reagierte allgemein stark ablehnend auf die Gewährung von Fueros, und im Jahre 1272 wurde Alfonso X. gezwungen, die Privilegien des Adels und die lokalen Gewohnheitsrechte zu bestätigen20 und den Fuero Real nur an seinen Hofgerichten zu gebrauchen21 • Erst in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wird es König Alfonso XL (1312-1350) (allerdings nur teilweise) gelingen, den Fuero Real als Instrument zur Überwindung der juristischen Zergliederung in Kastilien durchzusetzen 22 • b) Territoriales Recht
Die Entwicklung des territorialen Rechts ist synonym mit der Setzung eines Rechts königlichen Ursprungs für die gesamte Krone. Das Projekt der Entwicklung eines territorialen Rechts wurde von Alfonso X. (1252-1284) in Angriff genommen. Diesem werden, mit mehr oder weniger großer Gewißheit, neben dem Fuero Real zwei weitere bedeutende Normensammlungen zugeschrieben: Das Especulo und die Siete Partidai3 . Das Especulo ist ein unvollständiges Werk, es besteht aus ftinf Bänden und wurde wahrscheinlich zwischen 1255 und 1260 verfaßt Ob das Especulo je Rechtsgeltung erlangt hat, ist bis heute ein offenes Thema24 . Die spanische Rechtsgeschichte vertritt die Meinung, daß das Wirken der königlichen Gerichte im 13. Jahrhundert ein Hinweis auf die allmähliche Entwicklung einer Politik ist, die zum Ziel hatte, ein königliches Recht für das ganze kastilischleonische Gebiet durchzusetzen. In diesem Zusammenhang steht auch, daß im 13. Jahrhundert, als die Leoner für ihre Klagen den König anriefen, der Fuero Juzgo angewendet wurde. Aber ebenso versuchte Alfonso X. bei diesen Gelegenheiten, die Anwendung des Fuero Real durchzusetzen, allerdings ohne großen Erfolg25 • Ein anderes Indiz für diesen Entwicklungsprozeß bezieht sich auf das Recht, das für die Kastilier zu Anwendung kam. Es ist möglich, daß König Alfonso X. bei 2o Escudero, S. 447; Wolf, S. 672; Tomtis y Valiente, Manual, S. 234 bemerkt, daß die Rückkehr zu den lokalen Gewohnheitsrechten die Niederlage der Politik der Vereinheitlichung des kastilischen Lokalrechts bedeutete, auch wenn das die Geltung des Fuero Juzgo in den Regionen, wo es bereits galt, nicht berührte. 21 lAlinde Abadla, Derecho, S. 72. 22 Im Jahre 1340 entschied sich Alfonso XI., eine Bestimmung des Fuero Real aufzuheben, die den Hauptgrund des Widerstands bildete. Es handelte sich um die Regelung, daß die lokalen Richter vom König zu ernennen sind. Im Jahre 1348, als die Cortes den Ordenarniento de Alcala verabschiedeten, galten im kastilischen Territorium auf lokaler Ebene nebeneinander die alten Gemeinderechte, der Fuero Juzgo und der Fuero Real. Dazu Tonuis y Valiente, Manual, S. 234; GonzalezAnt6n, S. 187. 23 Zur Urheberschaft und zur Datierung der Siete Partidas s. unten Kap. B, III, l. 24 s. etwa Rauchhaupt, S. 108 ff.; Scheppach, S. 40 ff. 25 Die königlichen Richter wendeten weiterhin den Fuero Juzgo in Leon an. Sancho IV bestätigte in den Jahren 1284, 1286 und 1293 die Anwendung des Fuero Juzgo an seinen Gerichten. S. Tonuis y Valiente, Manual, S. 235.
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den Prozessen, bei denen das königliche Gericht als zweite Instanz wirkte, das Especulo anwendete. So konnte es zu dem Fall kommen, daß für dasselbe Verfahren, bei dem in erster Instanz die örtlichen Gerichte nach dem jeweiligen Gewohnheitsrecht entschieden, in zweiter Instanz die Hofrichter nach dem königlichen Recht urteilten. Wie bereits erwähnt, war im Jahre 1272 das Aufbegehren des Adels gegen die ,,Rechtspolitik" von Alfonso X. gewaltig. Ein Kompromiß wurde 1274 in den Cortes von Zamora gefunden: Für die Rechtsstreitigkeiten sollte sowohl in erster Instanz als auch in der Berufung das Recht jeder Gemeinde zur Anwendung kommen 26• Diese Übereinkunft blieb bis 1348 bestehen. Seit 1274 galt jedoch, daß bei schweren Delikten, die bereits in erster Instanz in die ausschließliche Zuständigkeit des Königs und seiner Richter gehörten ("casos de corte"), die königlichen Gesetze und die Gebräuche (.,uso y estilo") des Hofes zur Anwendung kamen27 • Schritt für Schritt kam es in der kastilischen Krone zum Verschwinden hochmittelalterlicher Gewohnheiten, die aus den verschiedenen Regionen oder Königreichen stammten28 . So kommt es zur Durchsetzung eines königlichen Rechts, das praktisch das gesamte Gebiet der Krone umschließt. Es entsteht also eine einheitliche kastilische Rechtsordnung, die in Alt- und Neukastilien sowie in Galizien, Asturien, Le6n, Extremadura, Andalusien, Murcia, Granada und Kanarien Anwendung findet 29• Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts werden in Kastilien, ,,Repertorien" zu praktischen Zwecken angelegt, die die Rechtsnormen königlichen Ursprungs sammeln, sowie andere .,praktische" Werke, die versuchen, das Problem der Geltung und der hierarchischen Beziehungen der unterschiedlichen Elemente des kastilischen Rechts zu lösen. 1505 werden die Leyes de Toro erlassen (eine Gesetzessammlung besonders im zivilrechtliehen Bereich) 30• 1567 wird nach einem langen Prozeß, 26 Zu der .,antialfonsinischen Reaktion" s. allgemein De Dios, Gracia, S. 45 ff. Es ist möglich, daß in zweiter Instanz die Hofrichter das Especulo oder den Fuero Real anwendeten. Die Akten eines Prozesses aus dem Jahre 1261 deuten auf die Anwendung des Especulo. In der spanischen Rechtsgeschichte wird meistens behauptet, daß nach der .,antialfonsinischen Reaktion" der Especulo beseitigt wurde und die Hofrichter den Fuero Real anwendeten. S. Tonuis y Valiente, Manual, S. 235 f. 27 In erster Instanz entschieden die Hofrichter u. a. über Fälle der Wohnungsbrandstiftung, der Vergewaltigung, des Hochverrats und des Mordes (Tonuis y Valiente, Manual, S. 236 f.; Valdeavellano, S. 562). Nach Escudero, S. 447 festigt sich somit die Unterscheidung zwischen normalen Rechtssachen (.,pleitos foreros") und Rechtsachen königlicher Zuständigkeit ("pleitos del rey"), die die bereits erwähnten .,casos de corte" sowie andere Konflikte, die den Hof und die königlichen Offiziere unmittelbar betreffen, umfassen. Das königliche Recht fand Anwendung nur in den .,pleitos del rey". 28 Die Fueros Altkastilien verschwinden in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Es erfolgt also in Kastilien keine Konsolidierung und territoriale Verbreitung der Fueros einer Kemregion, wie es in anderen Territorien geschah. Dazu s. Clavero, Derecho de los Reinos, s. 95. 29 Die traditionellen Gewohnheitsrechte werden dagegen in Guipuzcoa, Alava und Viscaya aufrechterhalten. Dazu Tomas y Valiente, Manual, S. 232 f.
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
der über 35 Jahre dauerte, die "Recopilaci6n de las leyes destos Reynos" veröffentlicht (Nueva Recopilaci6n)31 • Diese Entwicklung zeigt, daß der Ausdruck ,,kastilisches Recht" in zweierlei Sinn verstanden werden kann: sowohl im engeren als auch im weiteren. Im engeren Sinn bezieht er sich auf das Recht Altkastiliens des Hochmittelalters. Im weiteren Sinn "versteht man darunter das Recht, das die Krone Kastiliens seit dem frühen Mittelalter schuf' und auf das gesamte Territorium der Krone bis zum 18. Jahrhundert anwendete; deshalb ,,kann man in gewisser Weise von einem einzigen Recht [in Kastilien] sprechen, da vom juristisch-administrativen Standpunkt alle Gebiete ein einziges Königreich bilden mit einem einzigen territorialem Recht" 32. Wenn wir hier den Terminus ,,kastilisches Recht" gebrauchen, beziehen wir uns auf das territoriale Recht der kastilischen Krone, genauer auf das durch den König geschaffene Recht. c) Rechtsquellenhierarchie und Wirkung des gemeinen Rechts
Beim juristischen Vereinigungsprozeß der Königreiche der kastilischen Krone spielte das gemeine Recht eine wichtige Rolle. Ein entscheidendes Moment in diesem Prozeß war die von Alfonso XI. in den Cortes von Alcahi de Henares erlassene Norm von 1348, bekannt als Ordenamiento de Alcahe3 . Das erste Gesetz des 28. Titels legt folgende Hierarchie der kastilischen Rechtsquellen 34 fest: An erster Stelle kommen die verschiedenen Verfügungen des selbigen Ordenamiento35 , an zweiter Stelle die Gemeinderechte und an dritter Stelle die Siete Portidas als subsidiäres Reche6 • Einer der wichtigsten Aspekte der Ordenamiento ist die Anerkennung der Geltung der Siete Partidas. Dieses Gesetzbuch stellt eine ,,kastilische" Version des ge30 s. den Text in: C6digos Espafioles, Bd. 6; vgl. die Darstellung dieser Gesetze in Rauchhaupt, S. 174 ff. 31 Clavero, Derecho de los Reinos, S. 1ll ff.; Rauchhaupt, S. 181 ff. Die erste kastilische
Rekompilation wurde von Alonso Dfaz de Montalvo im Jahre 1484 veröffentlicht, ohne jedoch offiziell anerkannt zu werden. Sie trägt den Titel "Ordenanzas reales de Castilla" und ist bekannt als "Ordenamiento de Montalvo". Die Rekompilationen beabsichtigten die systematische Edition der Rechtsnormen königlichen Ursprungs (leyes, ordenanzas, pragmaticas, cedulas u. ä.). Dazu s. etwa Reichardt, Montalvo, S. 170; Escudero, Manual, S. 684. 32 Pirez Martin, Derecho comun, S. 56 f. 33 Tonuir y Valiente, Manual, S. 233; Petit, S. 157. 34 Unter diesem Begriff wird eine gesetzliche Metanorm verstanden, die für ein bestimmtes Territorium die Quellen des geltenden Rechts bestimmt und die Konflikte zwischen Normen unterschiedlichen Ursprungs durch die Festlegung einer Hierarchie regelt. 3S Diese Bestimmung wurde von den gelehrten Juristen besonders weit ausgelegt; gemeint waren dabei nicht nur die Regelungen von Alcala, sondern das gesamte königliche Recht (s. Tonuir y Valiente, Manual, S. 243). 36 s. die Bestimmung in: Novisima Recopilaci6n, 3, 2, 3, C6digos espaiioles, Bd. 7.
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meinen Rechts dar und ist deswegen ein Schlüsselmoment in der Rezeption des ius commune in der kastilisch-leonischen Krone. Aufgrund ihrer Geltung als königliches Recht wirkten die Siete Partidas als juristischer Damm, der die allgemeine Rezeption des ius commune verhinderte, so wie es unter anderem in Katalonien geschah (starkes Durchdringen des gemeinen Rechts als Ausdruck der ratio et aequitas)31. Andererseits aber war eine Anwendung der Partidas ohne eine tiefere Kenntnis des gemeinen Rechts praktisch unmöglich38 . So wird die Verfügung von Alcahi bezüglich der Festlegung der Rechtsquellenhierarchie von den kastilischen Kommentatoren als mittelbare Akzeptanz des ius commune in seiner Gesamtheit gedeutee9 . In dieser Verfügung erscheint allerdings die Absicht offensichtlich, ein königliches Recht für das gesamte Territorium durchzusetzen, wobei der königliche Normgebungsanspruch hervorsticht: Dem König steht zusätzlich die Verabschiedung von Rechtsnormen zu, d. h. die Prärogative, die verschiedenen in Kraft befindlichen Normen auszulegen und auch zu "berichtigen", wenn es ihm notwendig erscheint, "da er die Macht hat, Recht und Gesetz zu verfügen"40• Dennoch darf nicht vergessen werden, daß die Verfügung von Alcahi ebenso wie die Gemeinderechte Normensammlungen von kurzer Reichweite waren, ohne Möglichkeiten, die unterschiedlichsten Aspekte der juristischen Praxis zu regeln, während die Siete Partidas dank der normativen "Breite" des ius commune dazu besonders geeignet waren41 • Die allgemeine Tendenz in Kastilien war die Beibehaltung dieser Rangordnung, die nachträglich andere Könige bestätigt haben42 • Die Aufstellung einer Rechtsquellenhierarchie durch einen legislativen Akt muß als Versuch der königlichen Macht betrachtet werden, ein Territorium juristisch zu vereinheitlichen und zu kontrollieren. Es soll hier weder der Umfang der normativen Macht des Königs noch Tomas y Valiente, Manual, S. 243 f.; Petit, S. 159 f. Iglesia Ferreir6s, Creaci6n, S. 61. Ein anderes Indiz der Akzeptanz des ius commune ist die Bestimmung der Ordenamiento, daß an den Universitäten die Rechtsbücher der "alten Weisen" zu studieren seien ("los libros de los Derechos que los sabios antiguos fizieron": Novfsima Recopilaci6n, 3, 2, 3, in: C6digos espaiioles, Bd. 7). Diese Bestimmung wird in einer Pragmatica aus dem Jahre 1493 wiederholt (Petit, S. 170). Zu den Versuchen einer Reform der spanischen Universitäten im 18. Jahrhundert zwecks Durchsetzung des Studiums des nationalen Rechts (königliche Verfügungen aus den Jahren 1713, 1741), diejedoch erst nach 1770 mit der Änderung des Studienplans verschiedener Universitäten durch Carlos 111. Erfolg haben wird, s. Tonuis y Valiente, Manual, S. 389 ff. 39 Ausführlich dazu Petit, S. 161 ff. 40 s. den Text der Ordenamiento in: Novlsima Recopilaci6n 3, 2, 3 (C6digos espaiioles, Bd. 7). Die herrschende Meinung in der spanischen Rechtsgeschichte betrachtet den Ordenamiento de Alcala als Bestätigung der Unterwerfung des kastilischen Rechts unter den Willen des Königs. S. etwa lglesia Ferreir6s, Creaci6n, S. 54. 41 Escudero, S. 454; Clavero, Derecho de los Reinos, S. 91 f. 42 Zu den Widerständen und Infragestellungen dieser Rangordnung in der hier untersuchten Periode, s. Tomas y Valiente, Manual, S. 244; Petit, S. 164 ff. 37
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seine politische Auswirkung hinterfragt werden, d. h. ob der König in der Praxis seine Gesetze gegenüber den anderen Machtgruppen durchsetzen konnte. Die zentrale Frage betrifft die Beziehungen der Normquellenhierarchie zu den Prinzipien der Pluralität und Relativität der Rechtsquellenkategorien im Rahmen des ius commune43. Und in dieser Hinsicht muß unterstrichen werden, daß diese mittelalterlichen und neuzeitlichen Festlegungen der Normquellenhierarchie nicht mit dem Vorhandensein eines "Staates" gleichbedeutend ist, der festlegt, welche Gesetze auf seinem Territorium angewendet werden dürfen und welche nicht, d. h. das Problem der Rechtsgeltung durch eine eindeutige und autoritative Entscheidung löst. Die Rangordnung der Rechtsquellen muß aus der Perspektive jener Epoche als ein ,,Beziehungsspiel zwischen den Rechtsordnungen angesehen werden, die gleichzeitig und parallel gelten und sich deshalb gegenseitig in der Relativität des Rechtslebens beschränken"44 . Besonders für Kastilien muß hervorgehoben werden, daß der Prozeß der allmählichen Durchsetzung einer Rechtsordnung, die durch die königlichen Berater ausgearbeitet wurde, nicht als Ausdruck einer verpflichtenden Hierarchie der Rechtsquellen im Sinne einer modernen Verfassungsnorm verstanden werden darf. Wenn wir im Folgenden die Lehrmeinungen der kastilischen Juristen bezüglich der strafprozessualen Tortur analysieren, werden wir oft feststellen, daß die Autoren nicht immer den Inhalt der kastilischen Rechtsnormen befolgen, sich aber immer innerhalb der Rechtskultur und der normativen Inhalte des ius commune bewegen. Die Könige selbst kannten wahrscheinlich dieses Problem, als sie die Juristen und königlichen Beamten (die in der Tradition des gemeinen Rechts ausgebildet waren) mehrere Male aufforderten, letzteres nicht mehr anzuwenden, und somit selbst die Unwirksamkeit der Festlegung der Hierarchie der Rechtsquellen eingestanden. In diesem Sinn ist die Pragmatica von 1427 zu verstehen, die Juan II. verordnete. Sie erlaubte die gerichtliche Heranziehung von Lehrmeinungen des ius commune nur, wenn sie aus den Werken von Ioannes Andreas und Bartolus stammten. Die "katholischen Könige" erlaubten im Jahre 1499 die Heranziehung zwei weiterer Autoritäten: Baldus und Panormitanus45 • Als Indiz für die Schwierigkeit der königlichen Macht, die Geltungs- und Hierarchiefrage zu klären, kann die Tatsache gelten, daß sechs Jahre danach dieselben Könige in den Leyes de Toro erklärten, daß dieser Versuch der Verminderung der juristischen "Ungewißheit" nur "größe43 Die Idee, daß die Geltung des Rechts von einem politischen Willen abhängt, d. h. das Recht ein Instrument der politischen Steuerung und des politischen Wechsels bildet, ist den mittelalterlichen Rechtsordnungen fremd - und dasselbe gilt größtenteils für das Recht der Neuzeit. Die Konsequenz ist, daß es in diesen Rechtssystemen keine klare Konzeption der Rechtsgeltung und allgemeiner des "positiven Rechts" gibt. Dazu Grossi, S. 154 ff. Dies erklärt die Pluralität und die ,,Relativität" der Rechtsquellen sowie das Unvermögen der Juristen, eine Hierarchie der Rechtsquellen im Sinne einer modernen ,,Pyramide" der Rechtsquellen sich vorzustellen. 44 Grossi, S. 223 ff. (hier S. 234). 45 Gibert, S. 57; Tonuis y Valiente, Manual, S. 247; Petit, S. 165 f., 170 f.
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ren Schaden und Nachteil gebracht" hat. Deshalb nahmen sie die Verfügung von 1499 zurück und ordneten die ausschließliche Verwendung der Partidas und des Fuero Real, also zwei Normkomplexe königlichen Ursprungs, an46 •
d) Der Prozeß der Rezeption des gemeinen Rechts Zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert entwickelt sich in Kastilien ein intensiver Prozeß·der Rezeption des gemeinen Rechts47 . Die Texte, die Alfonso X. zugeschrieben werden, bezeugen diesen Zustand und, wie bereits erwähnt, werden die Siete Partidas gemeinhin als eine Übersetzung großer Teile des ius commune vom Lateinischen ins Kastilische betrachtet48 • Nach dieser Periode folgt eine ausgesprochene Ablehnung des ius commune zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als mit den gerade erwähnten Leyes de Toro das Zitieren und die Anwendung des ius commune in der Krone verboten wurde und den Juristen die Kenntnis des kastilischen Rechts befohlen wurde49 . Auch diese Maßnahme hatte aber eine geringe Bedeutung, da sich eine kulturelle Verbreitung des gemeinen Rechts schon vollzogen hatte und dieses Phänomen sich der Regelungsmöglichkeiten der politischen Macht entzog50• So ist es nicht verwunderlich, daß die Kommentierung der Leyes de Toro und die juristische Praxis eine Inversion der dort festgeschriebenen Hierarchie der Rechtsquellen bewirkten und das faktische Primat des ius commune bestätigten51 • Leyes de Toro, Ley I, in: C6digos espaiioles, Bd. 6. Dazu Perez Martin, Derecho comun, S. 56 ff.; Petit, passim. Lalinde Ahadia unterscheidet zwischen der ,,recepci6n" und "penetraci6n" eines Rechtssystems. Unter ,,recepci6n" wird die globale Einführung einer Rechtsordnung in einem Territorium verstanden, auch wenn bestimmte Normen oder Institute nicht akzeptiert werden. Als "penetraci6n" bezeichnet er dagegen die selektive Übernahme von Regelungen eines Rechtssystems. Seiner Meinung nach erfolgt auf der iberischen Halbinsel nur eine "penetraci6n" des ius commune, mit Ausnahme Kataloniens und Mallorcas, wo von einer ,,recepci6n" die Rede sein kann (lniciaci6n, S. 181 f.). Andere Autoren beschreiben die Rezeption des ius commune mit der synonymen Verwendung der Termini ,,recepci6n", "difusi6n", "admisi6n", "penetraci6n", "expanci6n". S. Tonuir y Valiente, Manual, S. 200 ff. Dieser Lösung wird hier gefolgt, da sie aus der grundsätzlichen Einheitlichkeit des Rezeptionsprozesses in den verschiedenen europäischen Ländern (dazu Coing, S. 8, 14) gerechtfertigt wird. 48 Statt vieler Garcia Gallo, Curso, S. 260; Lalinde Abadia, Derecho, S. 113 (bedeutenster Fall der "penetraci6n" des gemeinen Rechts in Kastilien); Clavero, lnstituci6n historica, S. 49; Horn, S. 295; Coing, S. 81 ("große Summe des römisch-kanonischen Rechts"). 49 Leyes I, II, in: C6digos Espaiioles, Bd. 6; s. die Kommentierung von Perez Villamil, L. I, Nr. I - II, S. 6 f.; L. II, Nr. I, S. 9 f. Diese Verfügung wird im Jahre 1713 von Felipe V. wiederholt, der die "leyes patrias" verteidigt und ihre Anwendung ohne Heranziehung "ausländischer" Lehrmeinungen befiehlt (dazu s. Tonuir y Valiente, Manual, S. 384 ff.; Coing, S. 81 f.). so s. etwa Perez Martin, Spanien, S. 231; Clavero, Derecho comun, S. 114 ff.; zum Verbreitungsvorgang s. ausführlich Font Rius, Recepci6n. 46
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Außerdem muß hinzugefügt werden, daß das königliche Verhalten dem ius commune gegenüber sehr ambivalent war. Einerseits verstärkte das ius commune die Darstellung des Königs als Gesetzgebers, der in der Lage ist, ein Recht zu schaffen, welches aus Normen mit allgemeiner Gültigkeit bestand. So fühlten sich die Könige der Neuzeit als Nutznießer der "imperialen" Ideen und unterstützten die Verbreitung des ius commune. Andererseits konnte die Anerkennung der unmittelbaren und allgemeinen Geltung des gemeinen Rechts die Entstehung und die Entwicklung des vom König geschaffenen Rechts behindern, weil es sich angesichts der inhaltliche Breite des römisch-kanonischen Rechts als unnötig und zwecklos erweisen konnte52• Der Zusammenstoß zwischen dem "alten" und dem "neuen" Recht kam mit der Präsenz von drei antagonistischen Rechtstypen zum Ausdruck, die um ihre Durchsetzung kämpften: die lokalen Gewohnheiten der Gemeinden und der seiiorios; die königliche Normgebung im Rahmen des Versuchs einer Zentralisierung der Macht unter Berufung auf das römische Modell der Gesetzgebung und das ius commune als eine Ordnung, die ebenso unter Berufung auf das römische Recht im universitären Bereich durch gelehrte Juristen ausgearbeitet wurde53• Die Rechtslehre der Neuzeit auf der iberischen Halbinsel beruht auf dem mos italicus iura docendi, d. h. auf den Werken der Postglossatoren ("bartolistas")54, und überwiegt die Verbreitung von Schriften mehr praktischen Charakters55 . Diese jahrhundertelange Kontinuität einer juristischen Kultur kann an Hand der verschie51 Ausführlich dazu Petit, S. 172-190. Bermudez de Pedraza, Cap. 12, S. 72 behauptet z. B. am Anfang des 17. Jahrhunderts, daß gemäß den Leyes de Toro folgende Rangordnung gilt: zuerst die Normen der Nueva Recopilaci6n, dann der Fuero Real und die jeweiligen lokalen Fueros, dann die Gesetze der Partidas als "derecho comun de Castilla" und subsidiär dazu das kanonische und schließlich das römische Recht. In bezug auf letzteres stellt der Autor klar, daß es zwar in Spanien keine rechtliche Geltung ("en quanto a derecho") besitzt, jedoch als Ausdruck der ratio Anwendung findet ("en quanto esta fundado en razon"). Diese Erklärung der Geltung des römischen Rechts ist bei gelehrten Juristen vieler europäischen Territorien anzutreffen (s. Coing, S. 92 ff., mit Hinw. auf andere kastilische Autoren, S. 98). 52 Tonuis y Valiente, Manual, S. 204. 53 Ebda. 54 Mit den Postglossatoren oder Kommentatoren des 14. und 15. Jahrhunderts erfolgt bekanntlich eine methodische Wendung. Diese teilen mit den Glossatoren den Glauben an die Autorität der justinianische Texte und sind an der historischen und philologischen Analyse der überlieferten Texte genausowenig interessiert. Die Neuheit besteht in der Distanzierung der Postglossatoren von der IiteraJen Auslegung und in ihrem Versuch, durch Klassifizierungen und Prinzipienbildung die konkreten Rechtsprobleme zu lösen. Diese Wendung wird von Cynus im 14. Jahrhundert initiiert und nimmt eine vollendete Form mit Bartolus und Baldus an. Der Einfluß von Baldus in vielen europäischen Ländern kommt zum Ausdruck mit der berühmten Wendung "nullus bonus iurista, nisi sit bartolista". Dazu s. etwa Hespanha, Panorama, S. 98 ff. 55 lAlinde Abadia, Derecho, S. 81; Petit, S. 171; Gilbert, S. 56 f., 258 ff.; Clavero, Derecho comun, S. 151 ff. Zu den Merkmalen des mos italicus im Unterschied zu dem mos galicus und dem juristischen Humanismus s. Carpintero, passim; Tonuis y Valiente, Manual, S. 298 ff.; Gordley, S. 30 ff., 69 ff.; Seelmann, Lehre, S. 157 ff.
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denen Arten der Werke iberischer Autoren betrachtet werden, die bedeutende Beiträge für die Rechtspraxis leisteten wie z. B. Repertorien, Nachschlagewerke, Wörterbücher, Entscheidungssammlungen und Kommentierungen von praktischen Problemen. Die sog. "pnicticos" sind Autoren, die nicht die gleiche Bildung wie die gelehrten Juristen früherer Perioden besitzen und vor allem versuchen, Lösungen für Probleme der alltäglichen Praxis zu finden 56• Die Ablehnung des juristischen Humanismus in Kastilien kam allerdings nicht nur in der "bartolistischen" Lehre, sondern auch in Rechtsnormen zum Ausdruck. Im Jahre 1599 verbot König Felipe ll. mit einer Pragmatica seinen Untertanen, im Ausland zu studieren mit Ausnahme der Universitäten von Neapel, Bologna, Rom und Coimbra; keine von ihnen stach durch das Studium des juristischen Humanismus hervo~7 • e) Gesetzgebungverfahren, die Rolle der Cortes und die Frage des Absolutismus Ein Aspekt, der die Geschichte Kastiliens von derjenigen der anderen Königreiche der iberischen Halbinsel unterscheidet, ist das politische Verhalten der Machtgruppen. Das wird hier in Verbindung mit der Frage ihrer Teilnahme am Rechtsetzungsverfahren durch das Funktionieren der Cortes dargestellt. Die Institutionalisierung der Cortes begann auf der iberischen Halbinsel im zwölften und nahm eine vollendete Form im vierzehnten Jahrhundert an. Die Cortes waren Versammlungen der Stände der großen territorialen Einheiten der Krone und meistens der Königreiche. An den Cortes haben die Angehörigen des Adels und der Geistlichen sowie Vertreter der Städte teilgenommen, die zusammen oder nach Ständen getrennt tagten58 • Die Mitglieder der Cortes agierten nicht als politische Vertreter eines Territoriums oder Standes, sondern als Träger einer eigenen politischen Macht. So konnten in den Cortes die verschiedenen Machtträger ihre Interessen nebeneinander und mit dem König abstimmen59. In der Tat handelte es sich nicht um eine Vertretung 56 Zur Vorherrschaft der späten Autoren des mos italicus auf der iberischen Halbinsel, d. h. von Autoren, die flir die gerichtliche Praxis ein großes Interesse zeigen und ihre Ausführungen auf Autoritätsargumente stützen, s. etwa Tomas y Valiente, Manual, S. 308 ff. Bezeichnend für die methodische Auffassung der späten Bartolisten ist folgende Bemerkung Albericus de Rosatis aus dem Jahre 1585: ,,Arguere enim in scientia nostra ad decapitationem alicuius de formato, et forma, de substantia, et accidenti, et similibus modis et argumentis silogisticis non crederem bene tutum, nec hunc stilum secuti sunt patres, et Doctores nostri antiqui" (zit. nach Gordley, S. 35, Anm. 22). Zu den kastilischen Juristen aus dem 13.-15. Jahrhundert s. die Übersicht bei Horn, S. 295 ff. 57 Gibert, S. 219; Tomtis y Valiente, Manual, S. 308; Clavero, Derecho comun, S. 153. 58 Die Bürgerlichen haben in Kastilien an solchen Versammlungen seit dem Ende des 12. Jahrhunderts teilgenommen; s. Escudero, S. 528 f.
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"des ganzen Volkes", wie das Schema der Vertretung aller drei Stände andeuten könnte. Die Cortes waren "ein Instrument im Dienste der standesmäßigen Oligarchien ( . . . ). In ihnen wurden die Gewohnheiten und die Privilegien der Minderheiten verteidigt, indem man sie als ,aus dem Lande' stammend darstellte" 60• Es wurde also nicht versucht eine "volonte generale" zu artikulieren, sondern es wurde ein Forum gebildet, wo die Mächtigen ihr Einverständnis für Änderungen des Kräfteverhältnisses (etwa durch Beschränkung von Privilegien) geben sollten61 . In den territorialen Komponenten der Krone Aragoniens erfolgte die institutionelle Artikulation der königlichen Macht mit den Interessen anderen Machtgruppen durch das Funktionieren der Cortes, die Ausdruck der standesmäßig organisierten Gesellschaft waren. Die Mitwirkung der Cortes bei der Normsetzung erlaubte es, dem Anliegen verschiedener Gruppen einen gesetzlichen Ausdruck zu verleihen (u. a. durch Gewährung von Privilegien). Allgemeiner konnten dadurch die Machtgruppen die rechtlich-politische Organisation des Territoriums durch Absprachen festlegen, d. h. den Prozeß der Umwandlung des lokalen Rechts frühmittelalterlichen Ursprungs in ein territoriales Recht durch den Impuls der königlichen Apparate ,,konsensual" gestalten62• Das erfolgte jedoch nicht in Kastilien, wo die Machtgruppen durch die Cortes dem königlichen Recht kaum Grenzen setzten. Die Cortes beschränkten sich meistens auf die Bestätigung der königlichen Entscheidungen, die sie als Gesetze promulgierten. Die Termini Leyes oder Ordenamiento de leyes bezeichnen in Kastilien seit dem 14. Jahrhundert die Entscheidungen des Königs, die in den Cortes verkündet werden: In den Cortes verabschiedete Gesetze konnten prinzipiell nur durch ein neueres Gesetz der Cortes selbst geändert werden63 . Im 14. Jahrhundert verlieren die kastilischen Cortes entscheidend an Bedeutung. Unter dem König Juan II. (1407 -1454) wird die Stellung des Monarchen bezüglich der Rechtserzeugung erheblich gestärkt, und seit dem 15. Jahrhundert vermindert sich ständig der Anteil der Cortes an der Rechtsetzung64. Das territoriale Recht der Neuzeit wird größtenteils durch königliche Gesetze ohne Beteiligung Allgemein dazu Clavero, Derecho comun, S. 104. Gom:.tilez Ant6n, S. 178; vgl. Escudero, S. 532, der allerdings dabei eine ,.standesmäßige Demokratie" sieht. 61 Hespanha, Vesperas, S. 475. 62 Zu den politischen und institutionellen Unterschieden zwischen den Kronen Kastiliens und Aragoniens s. die Übersicht in Kamen, Sociedad, S. 36 ff. 63 Die Petitionen der Cortes werden in ,.cuademos de peticiones" registriert, die Gesetze in "cuademos de leyes". Die verschiedenen Ordenamientos de leyes waren nach Ort und Datum der entsprechenden Versammlung der Cortes benannt. So bildete das vorgenannte Ordenamiento de Alcala von 1348 eine Gesetzessammlung, die die Cortes in Alcala verabschiedet hatten (Tomas y Valiente, Manual, S . 242). Weitere bekannte Ordenamientos sind diejenigen von Burgos (1328) und Segovia (1347), die Themen der Justizverwaltung regelten. 64 s. die Statistik bezüglich des Ursprungs der Gesetzesnormen bei Perez Martin, Spanien, S. 230ff. 59
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der Cortes geschaffen. Die Könige verwenden dabei die Fonn der cartas oder cedulas und in den wichtigsten Angelegenheiten das imperial-römische Instrument der Pragmatica ("pragmatica" oder ,.pragmatica sanci6n"), die mit der Klausel versehen wird, daß sie dieselbe Rechtskraft wie ein Gesetz der Cortes besitzt65 • Diese Gleichsetzungsklausel findet sich schon in den ,.cartas" von Juan II. aus dem Jahre 1431. So eignet sich der König das Recht an, die in den Cortes vereinbarten Gesetze eigenmächtig abzuändem66 • Die spanische Geschichtsschreibung hat in den letzten Jahrzehnten die politische Bedeutung der Cortes eingehend untersucht und neu bewertet67 . Sie geht von der Feststellung aus, daß die Cortes im Mittelalter und in der Neuzeit neben allgemeinen, impliziten und eher diffusen Kompetenzen (Beratung des Königs, Vereidigung des Kronprinzen, Erörterung von Fragen des Kriegs und des Friedens) traditionell zwei Tätigkeitsbereiche hatten. Die Festlegung der ,,Finanz- und Steuerpolitik" des Königreichs und die Nonngebung68 . Dabei zeigt sich, daß die kastilischen Cortes, vor allem in dem 16. und dem 17. Jahrhundert eine besonders aktive Rolle im Bereich der Bewilligung von finan~ ziellen Hilfen für königliche Projekte spielten, und es zu politischen Kompromissen zwischen den ,.Annen" (Brazos) und dem König kam69 • So sei das für Aragonien typische Phänomen des Paktismus70 teilweise auch in Kastilien anzutreffen. Das zeigt eine Analyse der "konkreten Geschichte", d. h. der Rolle, die die Cortes tatsächlich und unabhängig von der Frage ihrer rechtlichen Kompetenzen spielten71. Allerdings bleibt die Frage, warum die kastilischen Cortes in ihrem zweiten Tätigkeitsbereich, der Nonngebung, so inaktiv waren. Seit Anfang des 15. Jahrhunderts nehmen an den Cortes die Adligen und die Geistlichen praktisch nicht mehr teil, womit sie ihren Gegensatz zu den königlichen Zentralisierungsprojekten zeigen wollten. Durch ihre Abwesenheit leisteten sie eine Art Widerstand, da sie ihre Zustimmung zu Nonnen verweigerten, die sie für ihre Machtstellung als bedrohlich empfanden72 • 65 s. etwa Gonztiles Ant6n, S. 188; Torruis y Valiente, Manual, S. 245; zu den verschiedenen Kategorien von Normen königlichen Ursprungs s. die Auszahlung von Lalinde Abad{a, Derecho, S. 59 f. 66 Garcia Gallo, Manual, S. 210; Lalinde Abad{a, Derecho, S. 59; Torruis y Valiente, Manual, S. 244 f. 67 s. den Überblick der traditionellen Deutungen der Rolle der Cortes bei Escudero, s. 535 ff. 68 Ebda, S. 537 f. 69 Torruis y Valiente, Gobiemo, S. 92 ff.; Fortea Pirez, Poder, S. 131 ff.; Albaladejo, S. 255 ff., 294 ff. 10 s. unten, Kap. C, I, I und 2. 71 s. etwa Escudero, S. 536 f. n GonztilezAnt6n, S. 193; Clavero, Derecho comun, S. 105 f.
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Die Cortes konnten zwar ohne die Anwesenheit der höheren Stände Entscheidungen treffen, da in Kastilien die Brazos gemeinsam tagten und votierten73 • Sie waren jedoch faktisch nur eine Vertretung der - in der Regel achtzehn - vom König eingeladenen Großstädte Kastiliens, wobei seit 1539 die Adligen und der Klerus nicht einmal zu den Cortes eingeladen werden74• Die an den Cortes teilnehmenden Städte verfügten über keine große Macht, und darüber hinaus hatten sie kein Interesse, sich mit der monarchischen Macht frontal auseinanderzusetzen75 • So wurden die Cortes zu einem Organ sekundärer Bedeutung, wo die wichtigen politischen Themen kaum erörtert wurden. Insbesondere vermochten sie nicht, aufgeund der konkreten Machtkonstellation und vor allem der Abwesenheit der Landherren, den König zu einer "paktierten" Gesetzgebung zu zwingen76• Anders ausgedrückt, sie fungierten als ein beratendes Organ, das zwischen den Interessen der Städte und den königlichen Bestrebungen vermittelte77 • Als Vertreter einer "partikulären Perspektive"78 oder eines "peripherischen politischen Pols"79, d. h. der Interessen der Städtepatrizier, konnten und wollten sich diese Cortes nicht den monarchischen Projekten der Zentralisierung der Entscheidungsmacht widersetzen80• Unter Hinweis auf die politische Schwäche der Cortes behauptet ein großer Teil der spanischen Rechtsgeschichte, daß die Herausbildung eines Rechtssystems monarchischen Ursprungs in Kastilien ein Indiz der allmählichen Durchsetzung einer absoluten und zentralisierten Monarchie sei81 • Die Entwicklung der Monarchie in den iberischen Königreichen sowohl auf der Ebene der Doktrin als auch auf der Ebene der tatsächlichen Machtverhältnisse zeigt jedoch, daß die Monarchen sich nicht aus der Ausübung einer ,,rechtsprechenden" Funktion entfernt haben. Sie waren vor allem "höchste Richter" und keine Gesetzgeber. In den spanischen Territorien gab es keinen "legibus solutum" Monarchen; er war genauso wie seine Untertanen dem imperium des Rechts unterworfen82 mit dem Unterschied, daß er nicht Gudian, S. 431. Albaladejo, S. 243 f., der zugibt, daß bis heute die Gründe dieser "Beschränkung" der Cortes "nicht gut bekannt sind" (S. 243). 7S Zur Teilnahme der Städtepatrizier in den Cortes, s. Carretero Zamora, S. 3 ff.; Fortea Perez, Monarquia, S. 396 ff.; zur Organisation und zur Machtstellung der Städte, s. dens., Poder, S. 120 ff. 76 Clavero, Derecho de los Reinos, S. 99; Albaladejo, S. 317. 77 Fortea Perez, Poder, S. 129, bezeichnet die Cortes als eine "Institution der Mediation". 78 Ebda, S. 130. 79 So Hespanha, Vesperas, S. 474. so Gonzalez Ant6n, S. 194 f.; Albaladejo, S. 245 ff. 81 Zu den verschiedenen Interpretationsschemata der modernen Historiographie bezüglich der Frage des Absolutismus, s. Fortea Pirez. Monarquia, S. 16 ff.; Clavero, Monarquia, S. 32; Albaladejo, S. 284 ff.; Hespanha, Vesperas, 21 ff. Vgl. Escudero, S. 531 ff. mit Analyse der Formel "quod omnes tangit ab omnibus debet approbari"; zum letzteren s. auch Hespanha, Vesperas, S. 475. 82 Albaladejo, S. 74; Hespanha, Gracia, S. 176; Albuquerque, S. 180, wonach die Ausübung judikativer Kompetenzen sich nicht von dem Begriff der Souveränität entkoppelte, 73
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nur servus, sondern auch dominus legis war, also derjenige, der hauptsächlich Recht zu sprechen hatte83 und nur in wenigen Ausnahmefällen ("dispensatio") davon abweichen durfte84• Die allgemeine iurisdictio ftir das Königreich war eine Eigenschaft, die dem Monarchen zukam und sein Amt definierte85 • In diesem Sinne bemerkt ein katalanischer Autor des 15. Jahrhunderts: ,,Nota quod iustitia est officium potestatis & pietatis, quod ad Deo est ordinatum, unde Regum est proprium facere iustitiam"86• In kastilischen Gesetzessammlungen, wie den Partidas ist ebenfalls die Idee vorherrschend, daß der König Justiz ausübt und vom Gott gewählt ist, um die Gerechtigkeit und die Wahrheit aufrechtzuerhalten und jedem das Eigene nach den Maßstäben des Rechts zu geben87• Durch seine Rechtsprechungstätigkeit konnte der Monarch die sozialen Beziehungen und das Gleichgewicht garantieren. Die Respektierung des Rechts und der Regierungsnormen sowie der traditionellen Machtkonstellationen (als Ausdruck der göttlichen und menschlichen "Gerechtigkeit") war dabei ein zentrales Anliegen, das die Aufrechterhaltung des politischen Körpers durch Anwendung der iuris-prudentia ermöglichte88 • Dieser Aspekt erlaubt uns auch die "Härte" der Normen im strafrechtlichen Bereich, u. a. bezüglich der Regelung der Folter und der Leibstrafen, nicht als Ausdruck einer absoluten Macht der "strafend" regierenden Monarchen aufzufassen. Unabhängig von den persönlichen Absichten und Bestrebungen der Könige, die in der eigenen Gesetzgebung zum Ausdruck kommen, werden sie in der Neuzeit mit besonders starken feudalen Machtzentren faktisch koexistieren und vermögen es nicht, die ökonomischen und juristischen Bindungen der Bevölkerung zu den Landherren durch eine einheitliche politische Organisation zu ersetzen89• In dieser Hinsicht zeigt sich, daß Machtspiele und Interessenausgleich durch informelle "Kanäle" der politischen Kommunikation laufen, so daß vor der Schwäche der Cortes nicht auf eine tatsächliche Zentralisierung der Macht zu schließen was zum scheinbaren Paradoxon führte, daß sich im spanischen juristischen Schrifttum eine stark relativierte Konzeption der Souveränität durchsetzte. 83 Dazu s. allgemeinE. H. Kantorowicz. S. 144 ff., 387 ff. 84 s. die Darstellung von Lehrmeinungen bei See/mann, Lehre, S. 132 ff. 85 Allgemein dazu Coing, S. 53; Hespanha, Justi~a. S. 136 ff., 146 ff.; vgl. etwa, mit Hinweis aufFernando Vazquez, See/mann, Lehre, S. 132, 154. 86 Mieres, P. II, Col. 11, Cap. 4, Nr. 15, S. 520. 87 P. II, 1, 5 - 6. Zum Thema der potestas regale in Kastilien, die nicht nur mit der Rezeption des gemeinen Rechts, sondern auch mit westgotischen mittelalterlichen Traditionen zusammenhängt, s. Gonzalez Jimenez. S. 200 und ausführlich Pacheco Caballero, S. 166, 177 ff.; Clavero, Derecho comun, S. 93. 88 Hespanha, Vesperas, S. 472 ff., 527; ders., Justi~a. S. 146; vgl. in bezug auf Kastilien Albaladejo, S. 72 ff. 89 s. etwa Albaladejo, S. 288 ff.; zur Beibehaltung der Privilegien und der politischen Macht der Adligen im 16. und 17. Jahrhunderts. etwa Kamen, Sociedad, S. 390 ff. 4 Sabadell
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ist. Die starke Präsenz der römisch-kanonischen Tradition in Kastilien, die der königlichen Macht mehrfache Bindungen und Beschränkungen auferlegte sowie das Unvermögen der königlichen Apparate "in einem sei es nur minimal verfassunggebenden Sinn, Gesetze zu entwerfen"90, zeigen dagegen, daß es keinen Absolutismus gab. Die königliche Normgebung hat starke Reaktionen hervorgerufen, wie den oben genannten Widerstand der Adligen gegen die Gesetzgebungsprojekte Alfonsos X. (1272-1274). Da die Adligen Kastiliens im Prozeß der Normgebung nicht teilnahmen, gab es dabei keine konsensuale Gestaltung, sondern starke Konflikte bezüglich der Anwendung dieses Rechts. Die Adligen hatten in der hier untersuchten Periode ihre Machtstellung insgesamt erhalten und konnten so auch effektiven Widerstand gegen eine Zentralisierung leisten und ihre Privilegien erhalten. Das wichtigste aber ist, daß auf politischer Ebene die königlichen Machtapparate keine frontale Auseinandersetzung mit den Adligen geführt haben. Die immer wieder zitierten Beispiele eines "Kampfes" der Monarchie gegen die Adligen, wie die Versuche der Reyes cat61icos (1474-1504), die Privilegien der Adligen zu beschränken91, sind in der Tat nur Auseinandersetzungen mit bestimmten Fraktionen oder Familien des Adels und keinesfalls ein Versuch, die Privilegien und die ,,Landesherrschaft" dieses Standes insgesamt in Frage zu stellen, d. h. die Macht der sefiorios zu bekämpfen92 • So ist die Aneignung der Gesetzgebungsmacht seitens der Könige im 15. Jahrhundert nicht als eine "Verstärkung der absolutistischen Konzeption der königlichen Macht" zu sehen93 . Neuere Ansätze zur politisch-juristischen Organisation der Neuzeit zeigen, daß die Annahme der Existenz einer absoluten Monarchie in der Neuzeit, die die Macht zentralisierte und rationalisierte, die Privilegien der Adligen entschieden bekämpfte - auch wenn sie teilweise garantierte94 - und in vielen Hinsichten ein Vorreiter des modernen Rechtsstaats war, ein Produkt der 90 So Clavero, lnstituci6n polftica, S. 56; vgl. Hespanha, Panorama, S. 61 f.; ähnlich Albaladejo, S. 288 ff. auf der Basis einer Lektüre der juristischen und philosophischen spanischen Literatur des 17. Jahrhunderts. 91 Königin Isabel hat verschiedene Privilegien und Landkonzessionen aus der Zeit von Enrique IV sowie aus den ersten Jahren ihres Königtums in den Cortes von Toledo (1480) rückgängig gemacht, und zwar mit Zustimmung der betroffenen Landherren (Penella, S. 120 ff., 191 ff.; Kamen, Sociedad, S. 50 ff.). 92 Dazu s. Hespanha, Vesperas, S. 380 ff. mit einer Typologie der Erklärungsmodelle der Beziehungen zwischen den Adligen und dem König (S. 387, Anm. 172). 93 So aber Tonuis y Valiente, Manual, S. 244. Ähnlich Jglesia Ferreir6s, Creaci6n, S. 60: "Schon vor ihrer Herausarbeitung durch Bodin ist die Konzeption der Souveränität in Kastilien gegenwärtig, vom Moment an, in dem der kastilische König sich als Souverän bezeichnet". 94 Zu einer Darstellung des Absolutismus als institutioneller Realität im Kastilien der Neuzeit, die die Privilegien der Adligen zugleich garantierte, beschränkte und legitimierte s. neuerdings De Dios, Gracia, S. 415 ff.
I. Politische Organisation und Rechtssystem Kastiliens
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aufklärerischen und liberalen Historiographie ist, die bis heute in der Rechtsgeschichte vorherrschend bleibt. Aufgrund der Anwendung eines letztendlich ahistorischen Konzepts der Kontinuität behauptet die herrschende Meinung, daß es im späten Mittelalter und in der Neuzeit ,,Ansätze" der modernen Staatenbildung gebe. Somit ,,konstruiert sie eine Genealogie zwischen dem König, der Krone und der modernen Staatsmacht" und versteht die Cortes als ein funktionelles Äquivalent der modernen parlamentarischen Versammlung95 • Das geschieht durch eine selektive Lektüre der juristischen Literatur und durch Ignorierung der sozialgeschichtlichen Perspektive, die die tatsächlichen Grenzen und Funktionen der monarchischen Macht zeigt. Die kritische Perspektive stellt dieses "etatistische" Paradigma in Frage. Sie erforscht die tatsächliche Organisation der neuzeitlichen Königreiche und zeigt die Struktur und Stärke der "peripherischen" Machtzentren auf. Dabei wird in Anlehnung an inzwischen klassische Arbeiten, wie diejenigen von 0. Brunner und G. Oestreich, ein Ansatz entwickelt, der als "pluralistiches Paradigma" zu bezeichnen ist. Die Institutionen der Neuzeit werden nicht auf die Regelungen und die "offiziellen" Diskurse der Vertreter der monarchischen Macht reduziert, sondern es wird das parallele Funktionieren und die Artikulation der Machtzentren untersucht. Darüber hinaus wird die Geschichte "von unten" untersucht, so daß auch die "nicht offiziellen" juristisch-politischen Machtnetze berücksichtigt werden und die minimalen Auswirkungen der königlichen Machtapparate auf lokaler Ebene aufgezeigt werden. In diesem Rahmen spielen die königlichen, zentralen Machtapparate keine quantitativ wichtige Rolle; sie vermögen weder die Macht der Landherren und der Städtepatrizier zu beschränken noch das Territorium effektiv zu verwalten, und sie stehen antagonistisch nicht nur zu den lokalen Machtträgern, sondern auch zu den erblichen und käuflichen Verwaltungsapparaten, die eine relative Autonomie entwickeln96. Für Kastilien gibt es keine Untersuchung bezüglich der Wirksamkeit der königlichen Gesetzgebung. Es gibt jedoch viele Indizien des Widerstands der Machtgruppen und der weitgehend symbolischen Funktionen der Monarchie97 , und historische Untersuchungen zeigen, daß die seiiorios bis zum 17. Jh. "faktisch als unabHespanha, Vesperas, S. 23. Zu all diesen Punkten s. die Darstellung der kritischen Perspektive bezüglich der topoi des neuzeitlichen Absolutismus und Zentralismus bei Hespanha, Vesperas, S. 21 ff., 298 ff., 439 ff. mit ausführlicher Literatur. Hinter dieser Auseinandersetzung steckt die Frage, ob es in den spätmittelalterlichen und neuzeitlichen europäischen Gesellschaften eine moderne Staatsorganisation gab. Dazu s. (bejahend) Coing, S. 48 ff. mit Benutzung weitgehend formalistischer Kriterien und (verneinend) Clavero, Instituci6n politica, passim; vgl. Hespanha, Vesperas, S. 21 ff., 523 ff., im Rahmen einer allgemeinen Infragestellung des engen Begriffs des Staats als funktionaler Einheit. 97 Zu den Prärogativen/ Aufgaben des Königs (officia) in der Neuzeit s. Hespanha, Vesperas, S. 487 ff., der von der "symbolischen Präeminenz" des Monarchen innerhalb eines "plbralistischen" Rahmens der Machtausübung spricht (S. 527). 9S
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4•
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
hängige Staaten funktionierten: enorme Territorien, wo das einzige anerkannte Gesetz dasjenige des Landherren war"98 . In dieser Situation reicht natürlich die königliche Initiative zur schriftlichen Fixierung lokaler Gewohnheiten oder zur eigenständigen Normgebung nicht aus, um auf die tatsächliche Existenz einer absoluten Monarchie zu schließen, also ihre Effektivität und Ordnungsfunktion zu behaupten99. Die Bildung und die Durchsetzung eines territorialen Rechts im Sinne der Fähigkeit, nicht nur Normen symbolisch zu verabschieden, sondern auch ihre Befolgung u. a. durch Sanktionenverhängung zu erreichen, hat drei strukturelle Vorbedingungen. Erstens die Bildung eines "Integrationskerns", dessen Befehle weitgehend akzeptiert werden 100; zweitens das effektive Funktionieren eines institutionellen Forums, wo die Machtträger vertreten werden und die Justiz- und Verwaltungsorgane des ganzen Territoriums koordinieren 101 • Diese Voraussetzungen sind mit einer Zentralisierung der Macht gleichbedeutend, d. h. mit der Unterordnung der feudalen Mächte unter eine einheitliche Struktur, die Kompromisse ermöglicht und die Implementierung der Entscheidungen gewährleistet 102• Die dritte - und mehr materielle - Bedingung besteht in der Schaffung eines hierarchisierten Netzes von Justiz- und Verwaltungsorganen, die die Befehle der zentralen Macht auf der territorialen Basis übertragen und durchsetzen 103. Nur unter diesen Voraussetzungen wird ein Territorium eine politische Einheit, die durch Gesetzesnormen nach dem Muster des legal-legitimen Gewaltmonopols regiert werden kann 104• Solche Voraussetzungen sind im Kastilien der Neuzeit nur in einer "besonders irregulären und nicht vollkommen institutionalisierten Form" erfüllt worden 105, so daß nicht die Existenz einer absoluten Monarchie behauptet werden kann, wenn wir die Ebene der monarchischen Symbolik und der sie ausdrückenden Diskurse überwinden. In einer solchen Perspektive kann die Schwäche der Cortes und ihre faktische Abschaffung nach 1664 nicht als Ausdruck der progressiven Etablierung eines Frühabsolutismus, sondern als Konsequenz der spezifischen politischen Form der feudalen Organisation Kastiliens gedeutet werden. In Kastilien nahmen die feudalen Verhältnisse niemals die Form der organisierten und "organischen" Vertretung der verschiedenen Stände in einer Versammlung der communitas regni an. Es gab nur punktuelle Kompromisse zwischen den lokalen Machtträgem und dem König, Kamen, Sociedad, S. 254. Clavero bezeichnet die Deutung der königlichen Normgebung als Ausdruck einer absoluten Macht als .,Wunsch" oder .,Fiktion" (Derecho comun, S. 105). 1oo Clavero, Derecho de los Reinos, S. 96. 101 Ebda. 102 Simon, S. 1214. 1o3 Ebda. 104 Ebda, S. 1215. 1os Clavero, Derecho de los Reinos, S. 96. 98 99
II. Zur Justizorganisation Kastiliens
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die meistens die Fonn der infonnellen Beratungen und Verhandlungen annahmen (u. a. durch die Präsenz der Adligen im königlichen Hof und in Beratungsorganen, wie dem Consejo Real 106). Die verschiedenen Machtzentren behielten ihre Autonomie, und selbst die Abschaffung der Cortes ist auf Initiative der Städte, die die direkten Verhandlungen mit der Monarchie vorzogen, zurückzuführen 107• Aus diesen Gründen wurde die Bezeichnung der Versammlungen der Städte seit dem 15. Jahrhundert als "cortes" als "mißbräuchlich" 108 betrachtet.
II. Zur Justizorganisation Kastiliens 1. Lokale, regionale und königliche Gerichte Wir haben gesehen, daß eine der wichtigsten Aufgaben des Königs die Rechtspflege (iurisdictio) war. Diese Funktion beinhaltete die legislative Kompetenz: Der König, der bei der Schlichtung eines Streits oder bei der Ahndung eines Deliktes das Recht spricht, ist auch derjenige, der das Recht kennt. Und Rechtskenntnis bedeutet auch "rechtsetzende" Kompetenz. Die Redaktion von Gesetzestexten und die Reorganisation von Gerichten durch Alfonso X. und andere Könige steht also in Übereinstimmung mit dieser Konzeption der iurisdictio. Die gesetzgebenden Initiativen der kastilischen Könige führen zu einer Neuformierung des königlichen Justizapparates. Die Gerichtsorganisation des Königreichs ist ein sehr komplexes Thema 109• Eine der größten Schwierigkeiten stellen die Zuständigkeitskonflikte dar, die sich aus der Existenz unterschiedlicher königlicher Richter ergeben, die auf der selben Ebene tätig waren und Kompetenzen für dieselben Bereiche besaßen. Wir werden im Weiteren die Grundzüge der Gerichtsorganisation in Kastilien darstellen, besonders ab dem 16. Jahrhundert, da sie für das Verständnis der Problematik der strafprozessualen Folter von großem Interesse ist. Unsere Darstellung wird sich hauptsächlich auf die Organisation der königlichen Justiz beschränken, weil es über sie ausreichende Zeugnisse gibt und sie der Gegenstand der Ausführungen die gelehrten Juristen der Periode ist 110• Außer Acht bleibt somit das Funktionieren der Gerichte, die in den seiiorios unter der Kontrolle des jeweiligen Landherren tätig waren. Die weltlichen seiiorios kontrollierten in der hier untersuchten Periode den größeren Teil des Territoriums und der Bevölke106 Zu den Auseinandersetzungen zwischen Adelsfamilien und Städtevertretern über die KontroJle des Consejo Real s. De Dios, Consejo, S. 105 ff. 107 Albaladejo, S. 287 ff., 298 f., 316 ff. 1os Clavero, Derecho de los Reinos, S. 100; vgl. Hespanha, Vesperas, S. 474 f. 109 Zum Stand der Forschungs. Gacto Fernandez, Aproximaci6n, S. 503. no Zu den großen Forschungslücken bezüglich der seiiiorialen Justiz s. Vallejo, S. 907 ff.
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8. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
rung. So z. B. standen im Jahre 1600 zwei Drittel der 4.600 kleinen Städte und der Dörfer und die Hälfte der 15.800 Siedlungen der kastilischen Krone unter der Jurisdiktion der lokalen Landherren; der königlichen Jurisdiktion waren die meisten größeren Städte (126 von 148) sowie der Rest der Territoriums unterworfen 1u. Daraus ergibt sich eine bedeutende quantitative Beschränkung unserer Darstellung, die nicht als Widerspiegelung der normativen ,,Realität" in Kastilien betrachtet werden kann, sondern nur die Entwicklungstendenzen der königlichen Justiz und vor allem ihre Expansionsversuche nachzeichnet 112 . Bevor eine königliche Jurisdiktion eingeführt wurde, lag sie auf lokaler Ebene in den Händen der Ortsrichter (Alcaldes ordinarios oder Alcaldes foreros), die im kommunalen Bereich die Gemeinderechte (Fueros) anwendeten 113 • Diese Richter wurden von der Gemeindeversammlung oder vom Gemeinderat gewähltll 4 • Sie übten keine Regierungsfunktionen aus, sondern beschränkten sich auf das Richten von zivil- und strafrechtlichen Fälle. Dabei traten sie zu zweit auf, waren im allgemeinen Rechtslaien und wurden aus diesem Grund von einem oder mehreren gelehrten Juristen unterstützt 115 . Der Prozeß der Expansion der königlichen Verwaltungs- und Justizapparate führte zur Einsetzung von Richtern, die der König in verschiedenen Gemeinden ernannte, ohne daß dadurch die ordentlichen Ortsrichter verdrängt worden wärenu 6 . Zu manchen Zeiten konnte man an einem Ort vier verschiedene Kategorien von Richtern antreffen, die ähnliche Funktionen ausübten; drei davon gehörten der königlichen Justiz na, und einer war der Ortsrichter. Am Ende des 15. Jahrhunderts begann die königliche Jurisdiktion, auf lokaler Ebene einen Richter, den sogenannten Corregidor; einzusetzen, der zivil- und strafrechtliche Kompetenzen besaß 117• Dieser übte seine Funktionen als ordentlicher llt Kamen, Sociedad, S. 247, 254, der auch das Beispiel der Familien Velasco und Mendoza erwähnt, die mehrere Hunderte Dörfer in ihrer Macht hatten. 112 Für diese Expansion- sowie ftir die "Professionalisierung" der königlichen Apparateist es bezeichnend, daß zwischen 1570 und 1610 etwa 2.000 gelehrte Juristen im Dienste des kastilischen Königs stehen (Ranieri, S. 92). Zur schrittweisen Stärkung und Verbreitung des königlichen Justizsystems in Kastiliens. etwa Alonso Romero, S. 13, 65 ff.; Anderson, S. 51 ff. 113 Gonzalez Alonso, S. 19, 26. 114 Alonso Romero, S. 109. us Cornejo, S. 80 f. 116 Der Versuch Alfonsos X., die lokalen Richter zu ernennen, stößt auf den Widerstand der lokalen Machtgruppen (vgl. oben, Kap. 8, Anm. 22). Erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts werden sie mit königlicher Entscheidung ernannt, und der Terminus ,,Aicalde ordinario" bezeichnet manchmal die königlichen Richter (Alonso Romero, S. 109). Dies ist eventuell auf die Tatsache zurückzuführen, daß beide Richterkategorien dieselben Kompetenzen besaßen. 117 Cornejo, S. 194 ff.; Anderson, S. 60 f.; Gonzalez Alonso, S. 42. Escudero, S. 576 behauptet, daß die Corregidores in der Zeit Alfonsos XI. zum ersten Mal erscheinen, ihre lnstitutionalisierung jedoch erst in der Zeit der ,,katholischen Könige" erfolgt. Nach Gonzalez
II. Zur Justizorganisation Kastiliens
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Richter 118 aus, indem er einen Stellvertreter (lugarteniente oder teniente de corregidor), der Rechtsgelehrter war, als Assistenten zur Verfügung hatte 119• Die Dokumente weisen darauf hin, daß der Stellvertreter selbständig entscheiden durfte, wenn der Corregidor überlastet oder verhindert war, Die Ersetzung war besonders gebräuchlich, wenn der Corregidor selbst kein Rechtsgelehrter war 120• Ein zeitgenössischer Autor bestätigt, daß der Stellvertreter die gleiche ordentliche Jurisdiktion wie der Corregidor ausübte. Das bedeutet, daß keiner von beiden die Kompetenz besaß, die Urteile des anderen aufzuheben 121 • Außer als erste lnstanz zu wirken, fungierte der Corregidor als Richter der zweiten Instanz für Rechtssachen, die der Ortsrichter (Alcalde ordinario) entschied 122. Ein weiterer königlicher Richter erster Instanz war der Aleaide Mayor, der auf der selben Ebene wie die Corregidores wirkte und eng an den entsprechenden Bezirk (Corregimiento) gebunden war. Es wird allerdings vermutet, daß diese Richter eigentlich die Stellvertreter des Corregidor waren 123• Bis in die achtziger Jahre wurde angenommen, daß die Alcaldes mayores und die Alcaldes mayores de los Adelantamientos ein und dieselbe Richterkategorie bildeten, die gelegentlich verschiedene Aufgaben wahrnahm. Es wurde jedoch nachgewiesen, daß die Alcaldes Mayores eine lokale Gerichtsbarkeit ausübten, während die Alcaldes mayores de los Adelantamientos Organe der sogenannten mittleren Gerichtsbarkeit (justicia intermedia) waren 124 • Die mittlere Justizebene wurde in der Regierungszeit Femandos TII. und Alfonsos X. eingeführt. Das Gebiet der Krone wurde in ftinf große Bezirke aufgeteilt: zwei Adelantamientos mayores (Andalusien, Murcia) und drei Merindades Mayores (Kastilien, Galizien, Le6n). Die oberste politische Autorität war der Adelantado Mayor (oder Capitan Mayor oder Capitan de Frontera) bzw. der Merino Mayor 125 • Ant6n, S. 186 erscheint das Amt und die Bezeichnung des "Corregidor" im Jahre 1348 und wird besonders schnell auf dem Territorium der Krone verbreitet. 118 Zum Begriff des ordentlichen Richters (derjenige der in einem bestimmten Territorium ,Jurisdiction universal" ausübt) sowie zur Notwendigkeit, daß die Richter aus adligen Familien stammen, moralische Qualitäten und Gottesfurcht haben, s. Heredia, S. 14-15v, 22v23 (hier S. 14v); vgl. Castillo de Bovadilla, T. I, Lib. I, Cap. 4, Nr. 17 ff., S. 49 ff. Zur schrittweisen Abschließung der Juristenwelt, wo ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in Kastilien und allgemeiner in Europa fast ausschließlich Adlige zugelassen werden, s. Ranieri, S. 94 ff. 119 Cornejo, S. 80 f. 12o Alonso Romero, S. 109. 121 Castillo de Bovadilla, T. I, Lib. I, Cap. 12, Nr. 35-37, S. 137. 122 Escudero, S. 576. 123 So Cornejo, S. 81, der die Alcaldes Mayores auch ,,Asesores necesarios" nennt. Vgl. die Dokumente und die Literatur in Alonso Romero, S. ll 0 f. 124 Alonso Romero, S. llO. Gacto Ferntindez, Aproximaci6n, S. 503 bemerkt jedoch, daß bezüglich der Rechtsprechungskompetenzen der Alcaldes mayores de los adelantamientos immer noch Unklarheit besteht.
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Die Weiterentwicklung dieser Institutionen brachte die Ersetzung der Merinos Mayores durch Adelantados Mayores. Die Adelantados Mayores waren Abgesandte des Königs, die die Bezirke mit weitreichenden Verwaltungs-, Justiz- und Militärzuständigkeiten regierten. Diese Beamten ersetzten allerdings nicht immer die Merinos Mayores. Im späten Mittelalter gab es Gebiete, die durch Adelantados Mayores mit der Unterstützung von einem oder mehreren Merinos regiert wurden, und es gab auch Distrikte, die keinen Adelantado kannten 126• Die Adelantados Mayores verfügten über weitreichende Befugnisse und konnte in jeder Art von Gerichtsverfahren an ihrem Sitz und im Umkreis von 5 Meilen urteilen 127 . Im Jahre 1600 führte eine Verfügung die strafrechtlichen Befugnisse dieser Richter im einzelnen auf; sie wurde eingeschränkt auf Verbrechen, die mit körperlichen Strafen, Galeere und Verbannung geahndet wurden 128•. Der Adelantado konnte mit der Hilfe seiner Assistenten rechnen. Er war autorisiert, örtliche Stellvertreter zu ernennen, sowie Alcaldes, die gelehrte Juristen waren und eigenständig im Namen der Adelantado urteilen konnten 129• Die Alcaldes Mayores de los Adelantamientos waren in einem territorialen Bezirk tätig und überwachten die gute Ausführung der Regierungstätigkeit und die korrekte Justizverwaltung. Sie traten als ambulante Richter auf, d. h. sie hatten die Aufgabe, die verschiedenen Gemeinden des Adelantamientos zu bereisen, und durften nicht mehr als vier Monate am seihen Ort bleiben. Diese Organe hatten nicht nur die Befugnis, in erster Instanz zu richten, sondern auch in der Berufung, besonders im Bereich des Strafrechts. Da sie Organe der mittleren Justiz waren, gab es für ihre Urteile sowohl der ersten Instanz als auch der Berufung die Möglichkeit, vor der Real Audiencia Beschwerde einzulegen. Als höchste Instanz fungierten die Gerichte des Königs. Die Entwicklung der köoiglichen Justiz auf höchster Ebene in der kastilischen Krone ist besonders kompliziert, da mehrere mit dem König direkt verbundene Räte existierten, die gerichtliche Aufgaben wahrnahmen. Der Ausgangspunkt ist relativ einfach: In Kastilien hatte der König, unterstützt durch seine Hotberater, schon immer ein richterliche Kompetenz 130• Über lange Zeit blieb die Vorstellung der höchsten Rechtsprechung eng mit der Person des Königs verknüpft, ohne daß sich ein wirkliches Gericht entwickelte131. Der Umwandlungsprozeß der königlichen Justiz auf höchster Ebene 12s Zu dem Ursprung dieser Ämter und zu ihren Beziehungen mit den Landherren, s. Escudero, S. 566 f.; Gonzalez Anton, S. 184 f.; Gudian, S. 432. 126 Escudero, S. 567.
Novfsima Recopilaci6n, 12, 32, 5-7, in: C6digos espaiioles, Bd. 10. Novfsima Recopilaci6n, 12, 32, 8, in: C6digos espaiioles, Bd. 10. 129 Alonso Romero, S. 110-113. 130 s. etwa Valdeavellano, S. 557. 131 Clavero, Monarqufa, S. 19, der u. a. ein Ordenamiente von 1371 erwähnt, wonach die Sitzungen der Hofgerichte im königlichen Palast stattfinden sollten, möglichst in Anwesenheit des Königs. 127 128
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tendierte seit Ende des 14. Jahrhunderts zur Einrichtung eines relativ eigenständigen und spezialisierten Justizorgans. Dieser Prozeß vollzog sich langsam und widerspruchsvoll, und erst am Anfang des 16. Jahrhunderts kann von einem hohen königlichen Gericht die Rede sein 132• Dieser Prozeß führt zur Restrukturierung und zur Vereinigung bestimmter Organe. Dies betrifft zunächst die Real Audiencia, die Alcaldes de Corte und die Chancilleria, die zu einem einzigen Gericht (Audiencia y Chancillerfa) zusammengeführt wurden 133 • Innerhalb der Audiencia y Chancilleria lassen sich zwei Richterkategorien nach ihrer Zuständigkeit unterscheiden. Im strafrechtlichen Bereich entschieden die Alcaldes des Gerichts in erster Instanz über schwerwiegende Kriminalsachen ("casos de corte") sowie über sämtliche kriminal- und zivilrechtliehen Fälle am Ort des jeweiligen Sitzes des Gerichts und im Umkreis von 5 Meilen, wobei sie als ordentliche Ortsrichter handelten. Im ersten Fall hatten die Alcaldes ausschließliche Zuständigkeit, im zweiten konnten die Betroffenen den Fall entweder den Alcaldes oder den lokalen Richtern vorlegen 134• In zweiter Instanz waren die Alcaldes für die Berufung in kriminalrechtliehen Prozessen des Bezirkes der Audiencia zuständig 135 • Im 15. Jahrhundert wurde eine spezifische Terminologie zur Bezeichnung dieser Richter verwendet. Es werden Alcaldes del Crimen ernannt und sie bilden eine besondere Sala del Crimen. In den Cortes de Toledo von 1480 wurde bestimmt, daß die Sala del Crimen unter Beteiligung von drei Richtern entscheiden sollte 136. Die 132
Ebda.
m Die Chancilleria war ursprünglich ein Verwaltungsorgan, das mit der Redaktion und
Authentifizierung königlicher Entscheidungen beauftragt war. Die Urteile der Alcaldes de Corte sollten, vor ihrer Vereinheitlichung mit der Audiencia, mit dem Siegel der Chancilleria versehen sein, und ein Notar registrierte sie in den BUchern der Chancilleria. Diese Praxis führte zur Vereinigung beider Organe (Clavero, Monarquia, S. 20; Escudero, S. 583 f.). Die VersiegeJung der richterlichen Entscheidungen der Hofrichter von der Chancilleria ist durch die enge Bindung der Justizausübung mit der Figur des Königs, der symbolisch immer Recht spricht, zu erklären. Als Träger der königlichen Machtinsignien bestätigte die Chancilleria die Ausübung der Justiz im Namen des Königs. Dazu s. Clavero, Monarqufa, S. 22. Zur geschichtlichen Entwicklung, zur Zusammensetzung und zu den Kompetenzen der Audiencia y Chancilleria s. aus derdamaligen LehreAyalla Aulestia/Luyando, Lib. I, Cap. 1-36, S. 1-53. Ein Ordenamiento aus dem Jahre 1371 sah vor, daß die Audiencia aus sieben Oidores (drei Geistlichen und vier Juristen) zusammengesetzt sein sollte, und dreimal wöchentlich Rechtsprechungstätigkeilen ausüben mußte. Die endgültige Vereinigung der Audiencia mit den Hofrichtern und der Chancillerfa erfolgt im Jahre 1425. Ihre Mitglieder werden ab diesem Zeitpunkt nicht mehr Alcaldes de Corte y Chancillerfa, sondern Alcaldes de Chancilleria genannt (Alonso Romero, S. 117). 134 Ayalla AulestialLuyando, Lib. I. Cap. 6, S. I 0; vgl. Alonso Romero, S. 120. m Ordenanza aus dem Jahre 1554, in: Novisima Recopilacion, II, 20, 13, C6digos espafioles, Bd. 9; Ayalla AulestialLuyando, Lib. I, Cap. 6, S. s•. 136 Alonso Romero, S. 117- 119; zu der Zusammensetzung und den Kompetenzen der Sala del Crimen s. ausführlich Ayalla Aulestia/Luyando, Lib. I, Cap. 6, S. s•-11, wo auch das für die gesellschaftliche Bedeutung der Richter bezeichnende - Ritual der Eröffnung der
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Richter der Audiencia (Oidores) waren für den zivilrechtliehen Bereich zuständig. Sie verhandelten in erster Instanz besonders bedeutende Zivilsachen sowie Berufungen der zivilrechtliehen Urteile untergeordneter Richter. Sie waren auch zuständig für Berufungen in Strafsachen, bei denen die Sala del Crimen als erste Instanz geurteilt hatte. Gegen die von der Audiencia y Chancilleria gesprochenen Urteile konnte nur noch eine Supplikation vor dem selben Gericht eingelegt werden 137 . Dabei wurde verfügt, daß in Strafsachen auf Antrag der Gegner ein von dem Präsidenten und den Oidores bestellter Oidor zusammen mit den Alcaldes de Crimen über die Supplikation entscheiden sollte 138• Im Jahre 1442 bekam die Audiencia y Chancilleria einen festen Sitz in Valladolid, und es wurden weitere Audiencias y Chancillerias gegründet, um das ganze Territorium der Krone abzudecken 139• Die Audiencias y Chancillerias setzten sich personell aus einem geistlichen Präsidenten, aus mehreren Oidores, Alcaldes, Fiskalen, "Anwälten für die Armen" sowie Berichterstattern und Schriftführern zusammen. Die Audiencias waren die höchsten ordentlichen Berufungsgerichte und handelten im Namen des Königs, obwohl sie den König nicht begleiteten 140 und mit ihm niemals vollkommen identifiziert wurden. Die Funktion des Königs als höchste Justizinstanz wurde hingegen von den Alcaldes de Casa y Corte (auch Alcaldes de Corte y Rastro genannt) und vom Consejo Real (oder Consejo de Castilla) ausgeübt, die den König bei seinen Reisen ständig begleiteten. Diese Institutionen assistierten unmittelbar dem König, d. h. sie übernahmen die Aufgaben der "persönlichen Justiz des Königs" und konnten ihn auch ersetzen 141 • Die Rechtsprechungskompetenzen dieser Organe waren sehr elastisch, da in Kastilien das Prinzip der justice retenue galt. Die Alcaldes de Casa y Corte fungierten als ordentliche Richter für Streitigkeiten am Ort, wo jeweils der Hof residierte und im Umkreis von 5 Meilen. In zweiter Instanz waren sie ftir Berufungen gegen Urteile der ordentlichen Richter und der Corregidores des Bezirks, wo sich der Hof aufhielt, zuständig. Gegen Urteile der Alcaldes de Casa y Corte konnte nur das Rechtsmittel der Supplikation vor den selben Richtern eingelegt werden 142• Stierkämpfe von Valladolid durch die Alcaldes del Crimen und die Lokalrichter der Stadt beschrieben wird (Lib. I, Cap. 34, S. 51). 137 Ayalla Aulestia I Luyando, Lib. I, Cap. 6, S. 1o• -11, der die Praxis der Supplikation "a casa de los Jueces" erwähnt. 138 Alonso Romero, S. 117 f., 124 f. mit Erwähnung der Real Cedula Ocaiia vom 23. 12. 1498; zu der Schlichtungsrolle der Oidores bei Unstimmigkeit der Alcaldes s. Ayalla AulestialLuyando, Lib. I, Cap. 6, S. 10•. 139 Am Ende des 15. Jahrhunderts wird das Gericht durch Ordenanzas der "katholischen Könige" endgültig institutionalisiert. Im 1494 wird die Audiencia von Ciudad Real gegründet, die im Jahre 1505 nach Granada verlegt wird. Später werden die Audiencias von Galizien, Sevilla und Canarias geschaffen. S. Clavero, Monarqufa, S. 19-24. 140 Escudero, S. 585. 141 Clavero, Monarqufa, S. 25; Alonso Romero, S. 118; vgl. Escudero, S. 585.
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Die Bedeutung des Consejo Real beschrieb Matheu y Sanz folgendermaßen: "sit viva Iex, atque ipsius Principis vox, & oraculum, haec praeminentia utitur, ut quod decreverit, legis firmitatem obtineat'" 43 • Der Consejo Real war ein politisches Organ mit einem prinzipiell unbestimmten und jedenfalls besonders weiten Tatigkeitsbereich, das über wichtige Angelegenheiten des Königreiches und besonders des Krieges und der Verwaltung entschied, aber auch an der Gesetzgebung und an der Bestimmung der "Wirtschaftspolitik" teil~ahm 144 • Der erste Consejo Real wurde in Kastilien im Jahre 1385 gegründet und im Jahre 1387 umorganisiert. Obwohl der Consejo Real ein Organ war, das nicht zur Justiz zu gehören schien, bekam er Mitte des 15. Jahrhunderts Rechtsprechungsbefugnisse, wahrscheinlich aufgrund der örtlichen Nähe zum König. Seine genaue Zuständigkeiten bei der Rechtsprechung sind nicht einfach zu bestimmen. Die zwei Ordenanzas zu diesem Thema haben die Frage offen gelassen. Die Verfügung von 1459, die 1480 wiederholt wurde, sah vor, daß der Consejo Real Streitfälle jedweder Art verhandeln konnte, wenn es dem Dienst am König zuträglich war (Ausübung der justice retenue im Namen des Königs). Dabei wurde festgelegt, daß er sich mehrheitlich aus Rechtsgelehrten zusammensetzen sollte (acht an der Zahl neben zwei Prälaten und zwei Adligen) 145 . 142 Zu der Tatigkeit der Alcaldes s. verschiedene Nonnen der Cortes und des Königs in der Novfsima Recopilaci6n (4, 27, Gesetze 1, 2, 7, 8, 9, 10, 11, 16, 17, in: C6digos espaiioles, Bd. 7). Zur Zusammensetzung des Gerichts (am Anfang des 17. Jahrhunderts gab es acht Alcaldes, ein Fiskal, vier Schriftführer und zwei Berichterstatter) und zu seinen strafrechtlichen Kompetenzen in erster und zweiter Instanz, s. Gonzalez Davila, S. 403 f. Nach einer Norm aus dem Jahre 1379 konnte gegen Entscheidungen der Alcaldes Supplikation vor dem König eingelegt werden (Alonso Romero, S. 118). Eine Norm aus dem Jahre 1480 sah dagegen nur eine Supplikation vor demselben Gericht vor (Novfsima Recopilaci6n, 4, 27, 9, in: C6digos espaiioles, Bd. 7). Nach Gonzalez Davila, S. 404 wurden die Urteile des Gerichts ohne Zulassung der Supplikation unmittelbar vollzogen, mit Ausnahme der Todesstrafe, die die Zustimmung des Königs oder, in seiner Abwesenheit, des Präsidenten des Consejo Real erforderte. 143 Mattluuu et Sanz, Tractatus de re criminali, Contr. 25, Nr. 23, S. 177; vgl. die Hinweise bei De Dios, Consejo, S. 227 ff. 144 Auch wenn der König den Consejo Real allgemein mit der Betreuung der "Sachen des Königreichs" (,,fechos del regno") beauftragt hatte, behielt er sich vor, wichtige Angelegenheiten ohne Mitwirkung seines Rates zu entscheiden. Seine Alleinzuständigkeit betraf die Ernennung der höchsten Beamten, worunter auch die königlichen Richter fielen, sowie die Gewährung von Privilegien und sonstigen Vorteilen auf dem Gnadenweg ("tierras, gracias, mercedes, limosnas"). Ausführlich dazu De Dios, Consejo, S. 345 ff.; vgl. etwa Clavero, Monarqufa, S. 26. 14S Der Consejo Real erlebt eine weitere Reform im Jahre 1480. Ihm gehören nunmehr ein Geistiger, drei Adlige und acht oder neun gelehrte Juristen an. Zu den verschiedenen Reformen dieses Organs s. Escudero, S. 557 f.; Gudian, S. 431; De Dios, Consejo, S. 254 ff. Zu seinen vielfaltigen Rechtsprechungskompetenzen s. ausfUhrlieh De Dios, Consejo, S. 129 ff., 157 ff., 404 ff.; zu seiner Zusammensetzung und zu seinen kriminalrechtliehen Kompetenzen s. auch drei Gesetze aus den Jahren 1489 und 1549 in: Novfsima Recopilaci6n, 5, 12, 1-2 und 14 (C6digos espaiio1es, Bd. 8).
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
Der Consejo Real konnte in die Rechtsprechung der Audiencia y Chancilleria eingreifen, indem er die Audiencia belehrte oder Fälle an sich zog. Letzteres konnte mittels eines außerordentlichen Behelfs geschehen. Es handelte sich um die sog. segunda suplicaci6n, die seit 1390 für besonders bedeutende Fälle ("causa ardua & magne quantitatis" 146) eingeführt wurde. Der Consejo Real wurde somit zum höchsten gerichtlichen Instanz Kastiliens. Wie allerdings eine Real Cectula aus dem Jahre 1499 klarstellte, war eine segunda suplicaci6n in Strafsachen nicht zulässig 147 • Der Consejo Real konnte auch spezielle Untersuchungsrichter ernennen, um konkrete Fälle aufzuklären, mit Ausnahme der Prozesse, die schon vor der Audiencia y Chancilleria begonnen hatten. Gegen die Entscheidung der Untersuchungsrichter war Berufung vor dem seihen Consejo Real einzulegen 148 • Schließlich war es möglich, daß diese an sich schon komplexe Verteilung der rechtsprechenden Zuständigkeiten außer Kraft gesetzt wurde, wenn in konkreten Fällen besonders bevollmächtige Richter vom König berufen wurden. Diese Richter, genannt pesquisidores, sollten einerseits schwere Straftaten oder schwierige Fälle aufklären und andererseits Rechtsstreitigkeiten erledigen, wenn die ordentliche Justiz Vernachlässigung oder Unzulänglichkeit zeigte 149•
2. Die Struktur des Strafprozesses in Kastilien Das Liber Iudiciorum, die Decretales und die Lehre des ius commune sind drei zentrale Elemente, die auf die Entwicklung des kastilischen Strafprozesses Einfluß ausübten 150• Es gibt drei wichtige Momente in Bezug auf die Entwicklung des Strafprozesses in der kastilischen Krone. Der erste bezieht sich auf das Lokalrecht, d. h. auf die in den Fueros vorgesehenen Strukturen des Strafprozesses 151 . Der Suarez de Paz. T. I, Pars VII, Nr. 63, S. 213•. Novfsima Recopilaci6n, 11, 22, 13 in: C6digos espaiioles, Bd. 9. Dazu s. Clavero, Monarqula, S. 26; De Dios, Consejo, S. 411-414; aus der damaligen Lehre s. ausführlich Suarez de Paz. T. I, Pars VII, S. 208 ff. mit Erwähnung des Ausschlusses der Strafsachen aus der zweiten Supplikation (Nr. 67, S. 214). 148 Alonso Romero, S. 118 f., 128. 149 Villadiego, Cap. III, Nr. 30 ff., S. 33- 33•; vgl. Alonso Romero, S. 131 f. Zur Beschränkung der Zuständigkeit der ordentlichen Richter, insbesondere bei Fällen, die Personen höheren Standes betrafen, s. Castillo de Bovadilla, T. I, Lib. II, Cap. 21, Nr. 6, S. 657; Hevia Bolanos, T. I, Parte III, § 6, S. 195. 150 Alonso Romero, S. 13 ff. m Das von den Fueros mittelalterlichen Ursprungs geregelte Kriminalverfahren war von dem Akkusationsprinzip beherrscht, obwohl seit dem 11 . Jahrhundert Elemente des Inquisitionsprozesses und der amtlichen Verfolgung eingeführt werden (ausführlich dazu RuizFunes, S. 490 ff. m. w. Hinw.). Diese Prozeßstrukturen, die in Kastilien vor der Einführung der Folter im Strafprozeß galten, liegen außerhalb unseres Untersuchungsfelds. 146
147
II. Zur Justizorganisation Kastiliens
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zweite betrifft die Prozeßstruktur, die mit den Siete Partidas festgelegt wurde; der dritte die judizielle Entwicklung der Prozeßformen, die durch das Auftauchen von einer Art gemischter Verfahren gekennzeichnet ist 152. Wir werden hier die wichtigsten Merkmale der kastilischen Strafprozeßformen seit den Siete Partidas und bis zum Beginn der juristischen Aufklärung und der Kodifikationsbewegung darstellen.
a) Der Strafprozeß in den Siete Partidas Die Siete Partidas sahen zwei Arten von Prozessen vor: den inquisitorischen und den akkusatorischen und drei Formen, den Prozeß zu beginnen: durch Anklage, durch Anzeige oder durch Initiative des Richters. Der Prozeßgedanke in den Partidas war stark an die Figur des Anklägers gebunden, an sein persönliches Racherecht, das sich mit der öffentlichen Strafverhängung konkretisiertem. Die Strafverfolgung wird also in der Regel nicht mit der Idee der Verletzung eines öffentlichen Interesses durch das Verbrechen verbunden und aus diesem Grund wird das inquisitorische Verfahren als eine außerordentliche Prozeßform begriffen. aa) Anklageverfahren
Der Anklageprozeß wird in den Siete Partidas detailliert geregelt. Es gab zuerst Personen, die vom Recht der Anklageerhebung ausgenommen waren. Unter ihnen befanden sich die Frauen (deren Anklage nur im Todesfall des Ehegatten akzeptiert wurde), Minderjährige unter 14 Jahren, Personen schlechten Rufes oder großer Armut, sowie diejenigen, die falsche Zeugenaussagen abgegeben hatten 154 • Anklage erheben (inscriptio) bedeutete allerdings, die Möglichkeit einzukalkulieren, eine Talionsstrafe auferlegt zu bekommen, wenn die Schuld des Angeklagten nicht nachgewiesen werden konnte 155•
1s2
Ausführlich zu diesen Perioden Alonso Romero, S. 4-103; zum Stand der Forschung
s. Vallejo, S. 886 ff.
m Anklage sei eine Bitte der .,venganlla" .,que un ome faze a otro ante el judgador, afrontandolo de algun yerro, que dize que fizo el acusado, e pediendol, que faga venganlla del" (P. VII, I, 1). Der Racheanspruch wird nach der Überführung und Ahndung des Taters befriedigt: .,quando es provada, se escarmienta derechamente el malfechor, e recibe venganlla aquel que recibio el tuerto" (ebda). S. auch die Definition des Kriminalprozesses in den Partidas: .,Criminal pleyto quiere dezie, como acusamiento, o querella que faze en juizio un ome contra otro, sobre yerro que dize que ha hecho, de que le puede venir muerte, perdimiento de miembro, o otro escarrniento en su cuerpo, o echamiento de tierra" (P. III, 4, 9). IS4 Diese Personen konnten Anklage erheben im Fall des Hochverrats sowie bei Delikten, deren Opfer sie selbst oder nähe Verwandte waren (P. VII, I, 2). Die Partidas erlaubten schließlich eine Popularklage in Fällen, wo ein höheres Interesse verletzt wurde, insbesondere beim Hochverrat (P. VII, I, 2; P. VII, 2, :3).
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
Aus Gründen der Bestimmtheit und der Unveränderbarkeit der Anklage während des Prozesses wurde festgelegt, daß sie schriftlich gemacht werden mußte, wobei eine Reihe gesetzlicher Formalitäten einzuhalten war, wie zum Beispiel, daß der Richter einen Schwur des Anklägers abnehmen mußte, bei dem dieser versichern mußte, daß er den Angeklagten für schuldig hielt und die Anklage nicht aus Bosheit erhob 156• Der Ankläger konnte innerhalb einer Frist von 30 Tagen nach Anklageerhebung mit richterlicher Erlaubnis seine Anklage zurückziehen. In diesem Fall erlitt der Ankläger nicht die Folgen der inscriptio. Das Rückzugsrecht wurde beschränkt nach den Kriterien des Delikts und des Schadens, den der Angeklagte oder ein Zeuge schon erlitten hatte. Als Schaden galt u. a. die Folterung des Angeklagten oder des Zeugen, die einen ungestraften Rückzug der Anklage ohne Einverständnis des Betroffenen verhinderte 157• Autoren des 16. Jahrhunderts informieren allerdings, daß in ihrer Zeit eine unbegründete Anklage nicht die Talionsstrafe nach sich zog, was aus Gründen der effizienten Strafverfolgung zu erklären war ("nemo auderet accusare, & delicta remanerent impunita"); nur eine erwiesenermaßen böswillige Akkusation konnte zur Ahndung des Anklageerstalters mit einer poena iniuriarum ftihren 158• Nach der Anklage wurde die Festnahme des Angeklagten (mittels eines richterlichen Haftbefehls) angeordnet 159 • Der Angeklagte mußte einen Schwur leisten, bei dem er sich verpflichtete, die Wahrheit zu sagen 160• Die Partidas erlaubten den Gebrauch physischen Zwangs gegen den festgenommenen Angeklagten, um seine Flucht zu verhindem 161 • Klar ist, daß es sich um eine "präventive" Maßnahme handelte, und in diesem Sinn wird das feste Prinzip des römischen und des gemeinen Rechts wiederholt, die Haft diene nicht zur Bestrafung des Angeklagten 162• tss Die inscriptio bedeutete natürlich eine Garantie für den Angeklagten, da sie böswillige Ankläger abschreckte. Dieses Gesetz erwähnt allerdings, daß einige Personengruppen von der Talionsstrafe ausgenommen werden, ohne sie allerdings näher zu bestimmen (P. VII, I, 1). ts6 P. VII, 1, 14; zu Form und Inhalt der Anklage s. etwa Gomez. Pars III, Cap. 11, Nr. 1-
8, s. 483-487. 1s1 P. VII, 1, 19. Die hier erwähnten Gesetze enthalten eine lange Reihe von Ausnahmen,
deren Darstellung den Rahmen dieser Skizze der Struktur des Strafverfahrens sprengen würde. Wir können als Beispiel eine Bestimmung erwähnen, wonach bei schwerwiegenden Delikten die Rücknahme der Klage allgemein nicht gestattet war (Diebstahl oder Raub gegen den König oder einen Adligen, Hochverrat). Zu solchen Ausnahmen s. P. VII, 1, 20-21. 1S8 Gomez. Pars III, Cap. 11, Nr. 3-4, S. 484 (hier Nr. 3); vgl. De Ia Pefia, Parte II, S. 12n•, der auch bemerkt, daß der Erstatter einer unbegründeten Anklage die Prozeßkosten zu tragen hatte. 1S9 Zu den Bedingungen der Einsperrung des Angeklagten sowie zur Differenzierung der Verhafteten gemäß ihres Standes s. P. VII, 29, Präambel und Gesetze 1, 2 und 7; P. VII, 7, 5. 160 161
P. III, 11, 1. P. VII, 29, 6.
162 ,,La carcel deve ser para guardar los presos, e non para fazerles enemiga, nin otro mal, nin dar! es pena en ella", P. VII, 29, II. Vgl. Ulpian, D. 48, 19, 8, 9: "carcer enim ad continendos homines, non ad puniendos haberi debet". Obwohl dieses Prinzip in Kastilien allgemein anerkannt war und selbst in einer königlichen Pragmatica am Ende des 18. Jahrhunderts
II. Zur Justizorganisation Kastiliens
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Dem Verdächtigen wird die Anklage zugeleitet. Er hat eine Frist von 3 Tagen, um sich zu beraten und seine Verteidigung vorzubereiten 163 • Der Anklageprozeß wurde von der Anklage und der Klageerwiderung beherrscht und der eigentliche Rechtsstreit zwischen den Parteien begann mit der litis contestatio 164 • Ab diesem Zeitpunkt unterlagen die Parteien dem Aufrichtigkeitsschwur, mit dem das faire Verhalten beider Seiten im gesamten Verlauf des Verfahrens abgesichert werden sollte 165 . Danach begann die Beweisaufnahme. Im Anklageprozeß trug der Ankläger den onus probationis 166• Die Zeugen waren erst nach der litis contestatio zugelassen (wenn sie nicht angeführt wurden, um eine Einrede zu beweisen sowie bei anderen gesetzlich bestimmten Fällen einer vorzeitigen Vernehmung) und sollten innerhalb der vom Richter eingeräumten Frist vorgeführt werden 167• Als Faustregel galt, daß erwähnt wird (dazu Tonuis y Valiente, Derecho, S. 388, Anm. 121), gibt es seit Ende des 15. Jahrhunderts Normen, die für Delikte minderer Bedeutung die Gefängnisstrafe vorsehen (ehda, S. 388 ff.; zur geschichtlichen Entwicklung der Gefängnisstrafe in Kastiliens. auch Trinidad Ferruindez. S. 26 ff., 112 ff.). Zu den mit Einsperrung bestraften Delikten gehören in Kastilien die Gotteslästerung, die Glücksspiele und der Widerstand gegen Justizorgane (Novfsima Recopilaci6n, 12, 23,2-3 und 15, in: C6digos espaiioles, Bd. 10). Im Fall der verbotenen Glücksspiele war jedoch die Einsperrung nur gegen diejenigen anzuordnen, die die verhängte Geldstrafe nicht zahlten (Novfsima Recopilaci6n, 12, 38, 18 sowie 12, 10, 4-5, ebda). Die Strafe der Einsperrung ("cadena") für 50 Tage sah schließlich eine königliche Norm für diejenigen vor, die in Granada öffentliche Bädertrotz Verbots besuchten (Nueva Recopilaci6n, 8, 2, 21, in: C6digos espafioles, Bd. 11). Castillo de Bovadilla schreibt, daß die Gefängnisstrafe oft verhängt wird und versucht diesen Bruch mit der gemeinrechtlichen Konzeption der Kriminalstrafe als Lebens- und Leibstrafe (bzw. als Geldstrafe für leichte Delikte) unter Hinweis auf Baldus zu rechtfertigen (Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. III, Cap. 15, Nr. 5-8, S. 267- 268). Bezeichnend für den Zeitgeist ist, daß der Autor auch den göttlichen Ursprung der Gefängnisstrafe erwähnt: "Pero muy mas antiguo principio y origen tiene Ia carcel, porque fue instituyda por Dios, para castigar el pecado de Ia soberbia de Lucifer, por aver dicho seg1ln el profeta Isayas, en persona del rey de los Assirios, Subiere al cielo Empireo, y levantare mi silla, y sere semejante a Dios: lan~ando y echando del cielo los Angeles malos, y del lugar que gozaban, a los abismos infernales, los quales Dios !es seiialo, por carcel y castigo, y en el juyzio final, dize Isayas, que los demonios seran encerrados en Ia carcel. Y tambien se prueba esta verdad, por lo que hizo el mismo Dios con los santos Padres, a los q detuvo en el Limbo, por el pecado, hasta que por los meritos de Ia passion de Christo fue el lignage humano redimido" (ebda, Nr. 4, s. 267). Parexa Quesada führt die Praxis der Gefängnisstrafe auf Regelungen des kanonischen und königlichen Rechts zurück, er bemerkt jedoch "neutiquam poterit carcerem pro poena saepissime, multique in delicti datum fuisse" (Tit. VIII, Resol. 2, Nr. 10, S. 193); vgl. Miranda, T. I, Q. 15, Art. 1, S. 478; zur "presidio"-Strafe s. Ayalla Aulestia/ Luyando, Pars II, Cap. 4, S. 53v. 163 P. III, 3, 6; P. VII, 15, 1. 164 P. II, 11, 8. 165 P. 111, 11, 23. 166 P. III, 14, 1. 167 P. III, 16, 2 und 7. Die Regelungen zu den Zeugen sind in P. III, 16, 1-42 enthalten. Zur Eiderstattung der Zeugen s. P. 111, 16, 3.
B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
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die Aussage von zwei Zeugen mit gutem Leumund einen vollen Beweis bildete, wobei jede Partei bis zu 12 Zeugen vorführen konnte 168. Im Anklageverfahren vermied der Richter jegliche aktive Einmischung in den Verlauf des Beweisverfahrens und nahm nur die vorgelegten Beweise auf169. Die Parteien hatten bis zu drei Fristen, um die Beweise beizubringen 170. Wenn es nicht möglich war, einen vollständigen Beweis zu erbringen, der Angeklagte öffentlich als schuldig betrachtet wurde und es nur einen zuverlässigen Belastungszeugen gab, dann erlaubten die Partidas die Folterung des Angeklagten 171 • Wenn keine Beweise gegen ihn vorgebracht werden konnten, wurde er dagegen freigesprochen172. Nach der Beweisaufnahme gaben die Parteien oder ihre Anwälte einen Bericht mit ihren Behauptungen ab 173. Der Richter mußte dann sein Urteil verkünden, wobei die Partidas keine Bestimmung über die Begründung des Urteils enthalten. Die Parteien wurden vorgeladen, damit sie der Urteilsverkündung beiwohnten 174. Es war nicht gestattet, eine Strafe zu verhängen, die sich auf Verdacht, Indizien oder Mutmaßungen 175 stützte. Der Richter konnte allerdings in Anbetracht der Eigenschaften des Angeklagten (z. B. wenn er jünger als 17 Jahre war) sowie anderer Umstände, die vorgesehene ordentliche Strafe vermindern 176. Den Richtern wurde jedenfalls empfohlen, im Zweifelsfall, den Angeklagten eher freizusprechen; denn es sei besser, daß jemand der .,verdienten" Strafe entgeht, als daß ein Unschuldiger verurteilt wird 177. Die Partidas enthalten nicht nur eine allgemeine Klausel der schleunigen Erledigung des Verfahrens 178, sondern legen auch im Kriminalbereich die maximale Prozeßdauer auf zwei Jahre fest. Es handelt sich um eine Vorschrift, die besonders für 168
P. III, 16, 32.
169
P. III, 15, 2. P. III, 15, 2. P. III, 11, 10. Dazu unten Kap. B, III, 3, a) und b). P. III, 11, 10. P. III, 6, 7; vgl. P. III, 4, 8. P. III, 22, 3 und 5.
11o 111
112 173 174
m Als Mutmaßung (oder Vermutung) wird hier der Terminus praesumptio in dem technischen Sinne der gemeinrechtlichen Indizienlehre übersetzt. 176 Zur arbiträren Strafe s. P. VII, 31, 8; ausführlich zu den Fällen der Verhängung einer arbiträren Strafe aufgrund einer ,justa causa" (u. a. Jugendlichen, Greise, Personen guten Rufes, Leichtfertigkeit bei der Deliktbegehung), De Ia Pefia, Parte I, S. 59-59v; zu den in Kastilien gebräuchlichen Strafen s. allgemein Tonuis y Valiente, Derecho, S. 380 ff. 177 ,,Deven estar mas inclinados, e aparejados, para quitar los omes de pena, que para condenarlos, en los pleitos que claramente non pueden ser provados, o que fuesen dudosos; ca mas santa cosa es, e mas derecha, de quitar al ome de Ia pena que meresciesse por yerro que ouiesse fecho, que darla al que Ja non mereciesse, nin ouiesse fecho alguna cosa por que" P. VII, 31, 9; s. auch P. III, I4, 12; P. VII, 31,7-8. 178 P. III, 4, 12.
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den Anklageprozeß gedacht war, da der inquisitorische viel schneller ablief. Wurde innerhalb dieser zwei Jahre die Schuld des Angeklagten nicht bewiesen, dann war er freizusprechen und aus dem Gefängnis zu entlassen, während dem Ankläger die Talionsstrafe auferlegt wurde 179• Zwei bemerkenswerte Aspekte des akkusatorischen Prozesses sind schließlich die vielen Schwüre, die die Prozeßbeteiligten abzulegen haben 180, sowie die Bedeutung, die die Siete Partidas dem sozialen Stand und den moralischen Eigenschaften des Angeklagten (z. B. Person mit gutem oder schlechtem Ruf) bezüglich seiner Behandlung im Ablauf des Prozesses sowie der Bestimmung der Strafe beimessen. bb) lnquisitionsvetfahren Der inquisitorische Prozeß konnte durch Anzeige oder durch Initiative des Richters, der eine Untersuchung (pesquisa) anordnete, eröffnet werden 181 • Die Partidas erklären, daß "pesquisa" der spanische Ausdruck ("en romance") für das lateinische Wort inquisitio ist. Die pesquisa dient der Erforschung einer Wahrheit, die anders nicht festzustellen ist182, und sollte bei schwerwiegenden und schwer beweisbaren Fällen angeordnet werden 183 • Anzeige konnten Privatpersonen oder Staatsbehörden erstatten 184• Das Opfer des Delikts konnte auch den Richter (oder den König) ersuchen, eine pesquisa durchzuführen 185 • Der Richter setzte eine pesquisa in Gang, wenn es Anhaltspunkte für die Begehung eines Delikts gab (diffamatio) 186• Im inquisitorischen Prozeß gab es keine inscriptio, aber wohl die Möglichkeit, den Anzeigeerstalter zu bestrafen, wenn er böswillig gehandelt hatte 187 •
179
P. VII, 29, 7.
1so Zu den verschiedenen Fällen der Eiderstattung im Rahmen des Verfahrens s. ausführ-
lich P. III, 11, 1 -29. 181 P. VII, 1, 27; zur Entwicklung und Durchsetzung des inquisitorischen Prozesses in Kastilien s. Tomils y Valiente, Derecho, S. 155 ff.; allgemeiner dazu Jerouschek. Herausbildung, S. 100 ff. 182 .,Saber Ia verdad de las cosas mal fechas, ca de otra guisa non pueden ser provadas, nin averiguadas", P. III, 17, 1. 183 Zu dem Ausnahmecharakter dieses Prozesses s. etwa Alonso Romero, S. 56. 184 P. VII, 1, 5 und 27. ISS P. III, 17, 1. 186 ,,E es otrosi fama de 1o que dizen", P. III, 17, 1. 187 s. dazu Lopez, Glossa Nr. 7, P. III 17, 1: .,ex so1a namque denunciatione criminum facta contra aliquem, non oritur fama sufficiens ad inquirendum de veritate: si tarnen denunciatur veniret ut accusator, et non ad effectum, ut judex inquirat, tune possei judex procedere cum denunciatore". 5 Sabadell
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Die zweite Form der Eröffnung eines lnquisitionsprozesses, war die Anordnung einer Untersuchung von Amts wegen 188• Die Partidas beziehen sich hier auf schwerwiegende Verbrechen, die auch große Schwierigkeiten bei der Aufklärung verursachten. Beispiele sind Mord mit unbekanntem Täter oder auf freiem Gelände, nächtlicher Mord, Raub und Brandstiftung an Weinstöcken und Bäumen. Gemäß der Art und den Umständen des begangenen Verbrechens konnte also ein Verfahren eingeleitet werden, auch wenn kein Strafantrag vorlag 189• Der Richter mußte schließlich eine pesquisa einleiten, wenn der öffentliche Verdacht auf Personen schlechten Rufes fiel 190• Außer den beschriebenen Fällen existierte eine weitere Modalität der pesquisa. Es handelte sich um die vom König angeordnete allgemeine Untersuchung bezüglich möglicher Verbrechen bestimmter oder sämtlicher Bewohner eines Ortes, auch wenn es keine Anhaltspunkte für die Begehung konkreter Delikte gab. In diesen Fällen konnte die pesquisa Anlaß zur Einleitung eines Inquisitionsprozesses geben191. Im Rahmen des inquisitorischen Prozesses ordnete der Richter (oder der König) die Nachforschung an, führte sie aber selbst nicht durch. Diese wurde immer von den Pesquisidores vorgenommen 192 . Der Prozeß teilte sich in zwei Phasen. Die erste bestand in der Untersuchung durch die Pesquisidores, bei der alle beteiligte Personen einen Schwur ablegen mußten (Pesquisidores, Schriftführer, Zeugen, Verdächtigen). Die Frist zur Durchführung der pesquisa belief sich auf drei bis neun Tage ab dem Zeitpunkt der Ankunft des Untersuchungsrichters am Ort, wo die pesquisa durchgeführt werden sollte 193 • In Übereinstimmung mit der Logik des Inquisitionsprozesses wurden Beweise gesucht, ohne daß der Verdächtige Kenntnis von dem Ablauf der Untersuchung nahm. Je nach dem, ob der Verdächtige schon bekannt war oder nicht, nannte sich diese Phase inquisici6n particular oder inquisici6n general 194• P. VII, Präambel. P. III, 17, 3. 190 P. III, 17, l. Vgl. auch ein Gesetz aus dem Jahre 1447 (Novfsima Recopilaci6n 12, 34, 7, in: C6digos espaiioles, Bd. 10). Die P. VII, 1, 28 verfügt, daß der Richter von Amts wegen 188
189
auch bei notorischen Delikten sowie bei denjenigen, die im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens begangen werden, einschreiten muß (Vorlage gefälschter Dokumente, Meineid, böswillige Anklage). 191 P. II, 7, 1. Der Fuero Real erwähnt die vom König angeordnete pesquisa general (4, 20, 12, C6digos espaiioles, Bd. 10). Ein Gesetz Alfonsos XL aus dem Jahre 1325 untersagt die pesquisa general, es sei denn der König betrachtet sie als notwendig und wird hierzu von einer Stadt gebeten (Novfsima Recopilaci6n, 12, 34, 3, C6digos espaiioles, Bd. 10); vgl. Alvarez Posadilla, S. 16 f. Nach Villadiego durfte eine allgemeine Untersuchung unabhängig von Verdachtsmomenten auch der neu ernannte Richter nach der Übernahme seines Amts führen (Villadiego, Cap. III, Nr. 9, S. 32). 192 P.III, 17, 3. Zu den Funktionen der Pesquisidores s. auch P.III, 17,2-8. 193 P. III, 17, 9. 194 Alvarez Posadilla, S. 17.
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Mit der Übergabe der Ergebnisse der pesquisa an den Richter begann die zweite Prozeßphase. Wenn die Untersuchung durch die Anzeige einer Privatperson eingeleitet wurde, war ihre Teilnahme am Prozeß erlaubt (inquisitio cum promovente)195. Die Festnahme und die Einsperrung der Angeklagten unterlag denselben Regeln wie beim Anklageprozeß 196. Der Richter übermittelte den Angeklagten die Namen und die Zeugnisse derjenigen, die gegen sie ausgesagt hatten, damit sie ihre Verteidigungsrechte ausüben konnten ("porque se puedan defender a su derecho")197, mit Ausnahme der gesetzlich vorgesehenen Fälle 198. Nach der Vorstellung der Verteidigungsgründe (für die keine Frist festgelegt wurde), kam es zur Diskussionsphase. Wenn die Schuld des Angeklagten nicht nachgewiesen werden konnte, gab es die Möglichkeit von der Folter Gebrauch zu machen. Obwohl wir die Regelung der Folter in den Partidas weiter unten behandeln werden, kann schon hier darauf hingewiesen werden, daß das Rechtfertigungsargument für die pesquisa dasselbe war wie für die Rechtfertigung der Folter: die Wahrheitssuche in besonders schwierigen Fällen 199. b) Die inquisitorisch geprägten "gemischten" Verfahren Um die weitere Entwicklung des Strafprozesses in Kastilien zu zeigen, stützt sich die rechtsgeschichtliche Forschung auf die juristische Lehre, auf einige Prozeßakten sowie auf Regelungen der Cortes und der Könige, die vor allem die Fristen der Prozeßphasen bestimmten und eine Vereinheitlichung der Gerichtspraxis beabsichtigten200. Die Studie von Alonso Romero zeigt auf, daß die Strafprozeßstruktur Gegenstand von Umbildungen war und daß sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts zwei Verfahrenstypen herauszukristallisieren begannen, die bis zum 19. Jahrhundert nebeneinander bestanden201 . Unter den Gründen, die zur Veränderung der Prozeßstruktur führten, befanden sich die Beschränkungen des Handeins der Richter im Anklageprozeß sowie die engen Grenzen, die dem Einsatz des Inquisitionsprozesses gesteckt waren. Die geAlonso Romero, S. 59. P. VII, 29, Präambel und Gesetz 1. 197 P. III, 17, I 1; vgl. aus der Lehre Parexa Quesada, Tit. VI, Resol. 8, Nr. 24, S. 64 198 P. III, I 7, 1I. Der Text erwähnt die Unterschlagung öffentlichen Gelder; Lopez fügt die Häresie hinzu (Glossa 2, P. III, 17, 11 ). 199 P. III, 17, 1; P. VII, 17, Präambel; P. VII, 30, 1. 200 s. die Verfügungen von 1499, 1502 und 1503, die in der Novisima Recopilaci6n enthalten sind (11, 21, 1 in: C6digos espai'ioles, Bd. 9 sowie 12, 32, in: C6digos espai'ioles, Bd. 10). 2o1 Alonso Romero, S. 65 ff.; zur Tendenz einer "Vereinfachung" des Prozesses zu Lasten der Garantien des Angeklagten in Italien und in Kastilien s. Tonuis y Valiente, Gobiemo, S. 238 ff. 195
196
s•
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schichtliehe Entwicklung setzte die Auffassung des Interesses der Res publica für die Verfolgung der Delikte durch. In dem Maße, wie die Privatperson nicht mehr die zentrale Figur des Prozesses war, war es notwendig geworden, die Verfahrensmodelle neu zu überdenken. Es wurde eine Trennung zwischen .,öffentlichen" und .,privaten" Straftaten eingeführt202 und zu Beginn des 17. Jahrhunderts wird zwischen leichten und schweren Delikten unterschieden203, wobei jede Kategorie eine andere prozessuale Behandlung kannte, insbesondere was die Möglichkeit einer amtlichen Verfolgung betraf. In diesem Entwicklungsprozeß kann auch das Auftauchen der Figur des Fiskals festgemacht werden204• So lösten sich die klaren Unterscheidungen zwischen der akkusatorischen und der inquisitorischen Verfahrensform in einem Verfahren auf, das als Synthese beider erscheint und in dem die inquisitorische Ausprägung vorherrsche05 . Die gelehrten Juristen des 17. Jahrhunderts verwenden nicht die Unterscheidung zwischen ordentlichem und extraordinärem Prozeß, um sich auf den Unterschied zwischen akkusatorischem und inquisitorischen Prozeß zu beziehen. Im Rahmen des vereinigten Anklage- und Untersuchungsprozesses entsteht die Unterscheidung zwischen einem neuen ordentlichen Verfahren (.,orden complejo"), das sich durch langsamen und rituellen Verlauf charakterisierte, und einem neuen außerordentlichen Prozeß (.,orden simplificado"), der schneller und effektiver war und die - an sich minimale- Garantien des Angeklagten weiterhin beschränkte206• Beide Prozesse übernahmen normative Elemente der Partidas und der kastilischen Doktrin, wobei der .,vereinfachte" Prozeß auf dem .,Stil" des Gerichts de Casa y Corte basierte207• Matheu y Sanz präsentiert dieses .,breviter de forma procedendi in nostra Aula", indem er anführt, daß die Praxis des Gerichts nicht nur 202 s. etwa Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. III, Cap. 15, Nr. 96-97, S. 288; Villadiego, Cap. III, Nr. 5, S. 32. .,Öffentliche" Verbrechen waren u. a. der Totschlag, der Patrizid, der Meineid und die Majestätsbeleidigung. 203 Eine königliche Verfügung aus dem Jahre 1600 sieht vor, daß diejenigen Delikte als schwer gelten, die mit Galeerenstrafe, Verbannung oder Leibstrafe geahndet werden; die übrigen seien die "leichten" ("delitos y causas livianas"); s. Novisima Recopilaci6n, 12, 32, 8, in: C6digos espaiioles, Bd. 10. 204 Zu den Aufgaben des Fiskals in den kastilischen Chancillerias y Audiencias s. Novisima Recopilaci6n, 5, 17, 1, in: C6digos espaiioles, Bd. 8. Aus der Doktrin s. Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. III, Cap. 15, Nr. 99, S. 289; De Ia Pefia, Parte II, S. 92-92v. Villadiego (Cap. III, Nr. 6, S. 32) bemerkt, daß bei "öffentlichen" Delikten ein Fiskal die Funktion des Anklägers übernimmt. 205 Alonso Romero, S. 91-98. 206 Ebda, S. 99. 207 Aus normativer Sicht galten immer noch die Regelungen der Partidas. Die Verfügungen der ,,katholischen Könige" haben keine bedeutende Änderungen bezüglich der Struktur des Strafprozesses herbeigeführt und konzentrierten sich auf die Frage der Verfahrensfristen (s. oben, Kap. B, Anm. 216). Ein Gesetz aus dem Jahre 1480 (4, 27, 8, in: Novisima Recopilaci6n, C6digos espaiioles, Bd. 7), das das Strafverfahren vor dem Gericht de Casa y Corte regelt, deutet auf eine vereinfachte Verfahrensform, ohne jedoch konkrete Fristen festzulegen oder die Verfahrensphasen ausführlich zu beschreiben.
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per se Gesetzeskraft hat, sondern darüber hinaus gemäß einer königlichen Anordnung aus dem Jahre 1502 für alle kastilische Gerichte bindend ist208 . aa) Komplexes Verfahren
Das "komplexe Verfahren" Kastiliens, das auf der iberischen Halbinsel weit verbreitet w~09 gab dem Richter die Möglichkeit, im Fall von Delikten gegen das Wohl der Republik von Amts wegen einzuschreiten, d. h. unabhängig von der Anwesenheit und den Anträgen der Parteien zu handeln210• Bezüglich der Prozeßstruktur wurden drei Etappen unterschieden: die summarische Phase, das Hauptverfahren (plenaria) und die Urteilsverkündung211 • In der summarischen Phase kann der starke Einfluß des inquisitorischen Verfahrens beobachtet werden. Diese konnte sowohl von Amts wegen (wie im Inquisitionsprozeß der Partidas) als auch auf Initiative einer Partei (wie im Anklageprozeß der Partidas) durch mündlichen oder schriftlichen Strafantrag eingeleitet werden. Das Hauptziel war die Ermittlung aller Umstände sowie der Täterschaft des Delikts. Dafür überprüfte der Richter die Existenz des corpus delicti, hörte die Zeugen an und leitete alle weiteren notwendigen Maßnahmen ein. Dieses Verfahren wurde geheim durchgeführt, um den Verdächtigen keine Gelegenheit zu geben, der Justiz zu entfliehen212• Wenn bei der Ermittlung Schuldindizien gegen bestimmte Personen festgestellt wurden, konnte der Richter ihre Festnahme anordnen sowie die Beschlagnahme ihrer Güter verfügen, zwecks der Sicherung der Zahlung eines eventuellen Schadenersatzes213• Auch in diesem Fall erfüllte das Gefängnis keine 208 Matthaeu et Sanz. Tractatus de re criminali, Contr. 25, Nr. 80-82, S. 188-189. Das Gesetz ist in der Novfsima Recopilaci6n, 12, 32,4 (in: C6digos espaiioles, Bd. 10) enthalten. Gonzalez Davila führt ebenso an, daß sämtliche Verfügungen des Gerichts Gesetzeskraft hatten (S. 405) und erwähnt als Hauptmerkmal der gebräuchlichen Verfahrensart die Nicht-Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Regeln ("no guardar ley"), u. a. durch die Verkürzung der Prozeßphasen nach Gutdünken der Richter, die Anordnung der Folter in der summarischen Phase und den Ausschluß der Supplikation (S. 404). 209 Die unten beschriebene Prozeßstruktur ist auch in Portugal anzutreffen, wo sie in den Ordena,.öes Filipinas von 1603 geregelt war. Die Verabschiedung dieser Gesetzessammlung während der Regierungszeit Felipe II. von Kastilien, der auf dem portugiesischen Thron saß, erklärt vielleicht, wie die von den kastilischen Juristen beschriebenen Prozeßformen in Portugal Aufnahme fanden. S. die Bücher I, III und V der Ordena,.öes Filipinas. Unter den Autoren, die die Prozeßstruktur in Portugal detailliert darstellen, s. Lopes Ferreira. 210 Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. III, Cap. 15, Nr. 84 ff., S. 284 ff., bes. Nr. 98, S. 288 f. 211 Zum folgenden vgl. Alonso Romero, passim, die sich auf die Analyse der Doktrin sowie auf sieben Prozeßakten aus dem 15., 16. und 17. Jahrhundert stützt. 212 s. De la Peiü:l, Parte II, S. 75-76\ 81 im Rahmen einer Beschreibung der Ermittlungsphase und der Maßnahmen, die der Richter nach einer Flucht des Angeklagten zu veranlassen hatte. 213 Zum Ablauf der Ermittlungsphase s. einige Hinweise in der ,Jnstrucci6n para Corregidores" aus dem Jahre 1500 (Novfsima Recopilaci6n, 12, 32, 2, in: C6digos espafioles,
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Straffunktion214• Am Ende der Ermittlungsphase und der Aufnahme allen Indizien wurde der Angeklagte gehört, zwecks der Abgabe eines Geständnisses. Es war allerdings möglich mit den Ermittlungen auch nach der Anhörung des Verdächtigen fortzufahren 215 • Die zweite Phase war die Hauptverhandlung. Im Rahmen der Festlegung der litis contestatio wurden dem Ankläger, der eine Privatperson oder der Fiskal sein konnte, die Prozeßakten bekanntgegeben, damit er seine Akkusation formulieren konnte. Im Fall des FehJens eines Klägers schrieb der Richter selbst die Akkusation. Dem Angeklagten wurde die Möglichkeit gegeben, gegen die Anklagepunkte Einwände geltend zu machen, was allerdings vor der Erwiderung der Anklage geschehen mußte. Wenn der Prozeß von Amts wegen eröffnet wurde, endete diese Phase hier und der Richter ging zur Zeugenanhörung über. Wenn es einen Kläger gab, war auch seine Gegenrede zugelassen, wobei auch Gegenerwiderungen möglich waren. Jede Partei durfte jedoch maximal zwei Erwiderungen vorlegen. Der zweite Teil der Hauptverhandlung umfaßte die Beweisaufnahme216, die Vorlage von Behauptungen der Prozeßgegner2 17 , den Vorschlag von Zeugen und die Vernehmung des Verdächtigen. Die vom Richter eingeräumten Fristen konnten auf Antrag der Parteien verlängert werden, durften aber auf keinen Fall sechs Monate überschreiten218 • Die Beweise jeder Partei wurden getrennt aufgenommen und anschließend den Prozeßakten hinzugefügt. Die Zeugenaussagen wurden zwingendermaßen vom Richte~ 19 unter Eid220 abgenommen, und die Gegenpartei mußte Bd. 10); vgl. gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Beschreibung von Cayetano Sanz, Caso 1, Nr. 2 ff., S. 3 ff. Castillo de Bovadilla bezeichnet diese Phase als die eigentliche Grundlage des ganzen Verfahrens (T. II, Lib. III, Cap. 15, Nr. 46, S. 276). In den von Alonso Romero (S. 189) untersuchten Prozeßakten war die summarische Phase die am längsten dauernde des ganzen Verfahrens. 214 Casrillo de Bovadilla, T. II, Lib. III, Cap. 15, Nr. 85-86, S. 288 f.; Sandoval, Cap. 12, S. 33v -38. 21s Dazu Alonso Romero, S. 179 ff. 216 Zu den Fristen bei der Beweisaufnahme sowie zu der Möglichkeit, Beweise erst in zweiter Instanz vorzulegen, s. Novisima Recopilaci6n, 12, 10, 1-15, in: C6digos espafioles, Bd. 9 (die meisten Normen stammen aus den Jahren 1499-1503). 217 Zur Form der Vorlage dieser Berichte sowie zum Imperativ der Beschleunigung des Prozesses s. ein Gesetz aus dem Jahre 1387, das 1476 bestätigt wurde (Novisima Recopilaci6n, 11, 14, l, in: C6digos espafioles, Bd. 9). In den Jahren 1503 und 1617 wird verfügt, daß jede Partei in jeder Instanz höchstens zwei Behauptungsberichte vorlegen darf (11, 15, I sowie 11, 14, 2, ebda). 218 s. eine Ordenanza aus dem Jahre 1503 (Novisima Recopilaci6n, 11, 10, 2, in: C6digos espafioles, Bd. 9). 219 s. eine Pragmatica aus dem Jahre 1500, die mehrmals bekräftigt wurde (Novisima Recopilaci6n, 12, 32. 16, in: C6digos espafioles, Bd. 10). 22o Ordenanzas de Madrid von 1502, Cap. 15 (Novisima Recopilaci6n, 11, 10, 3, in: C6digos espafioles, Bd. 9). Zu der Zahl der vorzuladenden Zeugen und zu den Regeln ihrer Vernehmung s. die Ordenanzas von 1503 (Novisima Recopilaci6n, 11, 11, 2-9, in: C6digos espaiioles, Bd. 9). Eine Bestimmung aus dem Fuero Real (Lib. 2, Tit. 8, Ley 10), der in der
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vorgeladen sein221 • Wenn es sich um Zeugen handelte, die in der summarischen Phase schon gehört wurden, mußten sie ihre früheren Aussagen bei obligatorischer Anwesenheit des Richters bestätigen222; ohne diese "Ratifikation" hatten ihre Aussagen keine Beweiskraft223 • Der Richter hatte immer die Möglichkeit, Zeugen vorzuladen, auch wenn diese nicht von den Parteien aufgeführt worden waren. Nachdem die Vernehmungen beendet waren, verfügte der Richter die Bekanntmachung der Beweise an die Parteien, die das Recht hatten, Makel an den Beweisen zu behaupten und nachzuweisen224• Die Parteien mußten einen Bericht anfertigen, in dem sie eine Bewertung der eigenen und gegnerischen Beweise vornahmen. Auf Grund dieser Berichte gewährte der Richter den Parteien eine neue Frist, um den Bericht des Prozeßgegners zu erwidern225 • Im Fall, daß der Kläger die Beweise gegen den Angeklagten für nicht ausreichend hielt, blieb ihm noch die Möglichkeit, die Folterung des Angeklagten zu beantragen. Die letzte Phase entfiel auf die Urteilsverkündung, die ohne öffentliche Begründung erfolgte226•
Novfsima Recopilaci6n aufgenommen wurde ( II, 11, 1, in: C6digos espaiioles, Bd. 9), beauftragt die Richter, auf den Zeugen Druck auszuüben ("apremiar"), damit sie bei der Vernehmung erscheinen und vor Gericht die Wahrheit sagen. All diese Gesetze bestehen auf der Notwendigkeit, daß die Zeugen einen Eid ablegen. 221 Cantera, Q. III, Nr. 47, S. 243-244. 222 Ordenanzas de Madrid von 1502, Cap. 17 (Novfsima Recopilacion, 12, 32, 17, in: C6digos espaiioles, Bd. 10). 223 Gomez. Pars 111, Cap. 13, Nr. 21, S. 510 f.; Cantera, Q. 111, Nr. 46, S. 241-243; Cayetano Sanz. Caso 1, Nr. 33, S. 18 f. 224 Ordenanzas de Madrid von 1502, Cap. 10 (Novfsima Recopilacion, 11, 12, 1, in: Codigos espaiioles, Bd. 9), wonach ein solcher Bericht innerhalb von sechs Tagen nach der Bekanntmachung der Beweise vorzulegen sei. 22s Zu dem Prozedere bezüglich der Behauptungen der Parteien, wobei die Sorge der Beschleunigung des Prozesses besonders sichtbar ist, s. Novfsima Recopilacion, II, 14, 1 -3, in: C6digos espaiioles, Bd. 9. Zu den abschließenden Berichten der Parteien s. ebda, 11, 15, I -3. Die Sorge um die Beschleunigung des Prozesses ist auch in einer Bestimmung aus dem Jahre 1503 deutlich, wonach sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen ein Urteil getroffen werden kann sobald die Wahrheit festgestellt wird, auch wenn einige formelle Voraussetzungen nicht erfüllt sind (Novisima Recopilacion, 11, 16, 2, ebda). 226 s. etwa Tonuis y Valiente, Derecho, S. 181 ff. Indirekt zeugt von dieser Praxis eine Verfügung aus dem Jahre 1778, die der Audiencia von Mallorca verbietet, ihre Urteile öffentlich zu begründen unter Hinweis auf die diesbezügliche Praxis des Consejo Real und der meisten Gerichte Kastiliens (Real Cedula vom 23. 06. 1778, Cap. 5, in: C6digos espaiioles, Bd. 9, S. 474). Castillo de Bovadilla, T. I, Lib. II, Cap. 21, Nr. 140, S. 684 bemerkt allerdings, daß wenn der Richter aufgrund der Schwere des Delikts oder des schlechten Rufes des Angeklagten die prozessualen Regeln nicht respektierte, die Gründe in der Entscheidung konkret anzuführen hatte.
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bb) Einfaches Verfahren
Das kastilische "einfache Verfahren" ist eine beschleunigte Version des ordentlichen Verfahrens. Die erste Phase entspricht der oben beschriebenen summarischen Phase mit dem Unterschied, daß der Verdächtige nicht in dieser Phase vernommen wird, sondern in der Hauptverhandlungsphase, die in einer wesentlich kürzeren Form durchgeführt wird. Die Parteien werden zur Hauptverhandlung bestellt, die keine Untergliederung in Phasen kennt. Der Richter schritt nacheinander zum Verhör des Angeklagten, zur Bestätigung der Zeugenaussagen aus der summarischen Phase, zur Formulierung der Anklage und zur Erwiderung seitens des Angeklagten, zur Vernehmung weiterer Zeugen und zur Vorladung der Parteien zur Urteilsverkündung. Das ganze Verfahren durfte prinzipiell drei Tage dauern, aber das Gericht konnte eine andere, jedenfalls kurze Frist bestimmen. Wenn der Anwalt des Angeklagten um einen Aufschub ersuchte, wurde er normalerweise eingeräumt und manchmal wurden sogar mehreren Aufschüben stattgegeben227 • Laut Castillo de Bovadilla war es allerdings möglich, bei schwerwiegenden Delikten, wo eine Person schlechten Rufes angeklagt war, den Prozeß innerhalb eines Tages zu beenden und eine Strafe nach Ermessen des Richters zu verhängen228 • Obwohl die kastilische Doktrin von einer fast gänzlichen Ersetzung des ordentlichen durch das "einfache" Verfahren spricht, kommt Alonso Romero in ihrer Untersuchung von Prozeßakten zum Ergebnis, daß das einfache Verfahren zwar auch außerhalb des Gerichts de Casa y Corte Anwendung fand, aber nicht vorherrschend war29.
Abschließend ist eine Bemerkung bezüglich des FehJens von Garantien für den Angeklagten im Rahmen des "einfachen Verfahrens" notwendig, auf das Alonso Romero aufmerksam macht230• Die Feststellung des Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten unter der Vorherrschaft eines "effizientistischen" Inquisitionsprozesses ist zweifellos zutreffend. Sie hat aber den Mangel, daß sie aus einer Lektüre der Entwicklung des Strafverfahrens in Kastilien hervorgeht, welches stark von den aufklärerischen Vorstellungen bezüglich des "fairen" Verfahrens beeinflußt ist231 • Somit kann die "garantistische" Kritik an dem Strafsystem einer Zeit, 227 Matthaeu et Sanz. Tractatus de re criminali, Contr. 25, Nr. 73-74 und 80, S. 188. Der Autor bemerkt, daß seine Suche im Archiv des Gerichts de Casa y Corte (wo er Richter war) ergeben hat, daß schon Mitte des 16. Jahrhunderts die "außerordentliche" ("einfache") Verfahrensform Anwendung fand (ebdß, Nr. 81, S. 189) und behauptet, daß die oben erwähnte Ordenanza aus dem Jahre 1502 diese Verfahrensform allgemein bekräftigte (ebdß, Nr. 8081, s. 189). 228 Castillo de Bovadilla, T. I., Lib. II, Cap. 21, Nr. 139, S. 684. 229 Alonso Romero, S. 173 ff. mit Hinw. auf die Doktrin dieser Periode (der erste von der Autorin identifizierte Prozeß, wo die "einfache" Verfahrensform Anwendung fand, stammt aus dem Jahre 1621 - S. 169, Anm. 7). 230 Ebdß.
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wo die Vorstellung von der Zentralität und dem Schutz des Individuums kaum Bedeutung hatte, leicht zum Anachronismus werden. Insbesondere werden dabei nicht die damaligen kulturellen Gegebenheiten und das Problem der Glaubwürdigkeit der Quellen solcher Informationen berücksichtigt232 . Und schließlich bleiben durch eine solche Kritik an der "Ungerechtigkeit" des neuzeitlichen Strafverfahrens seine bereits dargestellten Wandlungen im Laufe der Zeit unerklärt. cc) Berufungsmöglichkeiten
Gegen die Entscheidung war eine Berufung möglich233 , obwohl es dabei mehrere Einschränkungen gab. Die Berufung ist ein Thema, das in der Doktrin ausführlich diskutiert wird und mit den rechtlichen Garantien des Angeklagten zusammenhängt, so daß sie eine allgemeine Charakterisierung des kastilischen Strafprozesses erlaubt. Die Partidas sahen vor, daß bei bestimmten schwerwiegenden Delikten ("publici latrones, et seditionem commoventes, et eorum duces, aut virginum raptores, aut monetae, vel regis sigilli falsarii, benefici, proditores, vel alevosi") keine Berufung möglich war, wenn ein vollständiger Beweis der Schuld durch ein spontanes ("sin premia") Geständnis oder durch glaubwürdige Zeugenaussagen vorlag234. Somit folgten die Partidas zum Teil der Regel des gemeinen Rechts, daß das Geständnis die Appellation ausschloß, weil sie das Delikt zum notorium machte235 • Lopez betrachtet dieses Gesetz als den einzigen Fall, wo die Eigenschaft des Angeklagten als Geständigen oder Überführten die Berufung ausschließt236• Er 231 Der aufklärerische Diskurs hat bekanntlich das zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert entwickelte europäische Strafverfahren und -recht mit einem Wort bezeichnet: Barbarei. 232 Wenn z. B. Alonso Romero den Widerspruch zwischen den Ausführungen der Lehre zur Verbreitung des einfachen Verfahrens und dem Inhalt der Prozeßakten feststellt, versucht sie nicht eine kritische Lektüre der Doktrin zu unternehmen, deren Diskurs sich eventuell mehr für die Symbolik der Expansion der königlichen Justiz als für die treue Widerspiegelung der Rechtspraxis interessierte. 233 Die Novfsima Recopilaci6n widmet der Berufung einen ganzen Titel, wobei insbesondere die Fristen geregelt werden (II, 20, Gesetze I - 10 und 12-24, in: C6digos espafioles, Bd. 9). Das Gesetz Nr. I, das aus dem Fuero Real stammt, bestimmt, daß die Berufung innerhalb flinf Tagen nach Urteilsverkündung einzulegen sei. Zu den Fristen der ersten und der zweiten Supplikation s. Novfsima Recopilaci6n, 11, 21, 1-14 und 17, ebda; ll, 22, 1-2 und 4-18, ebda). 234 P. III, 23, 16. Das Gesetz P. VII, 29, 7 sieht vor, daß im Fall eines vollständigen Beweises durch Zeugen oder Geständnis "der gesetzlich befohlene Justizakt zu vollziehen ist" und wird von der Lehre als allgemeiner Ausschluß der Appellation beim Vorliegen eines vollen Beweises gedeutet (Quevedo y Hoyos, Parte II, Cap. 3, Nr. 2 und 6, S. 85- 86). Darüber hinaus sah die P. III, 23, 13 vor, daß der König die Berufung in einem konkreten Fall verbieten konnte, wobei die Lehre bemerkte, daß gegen diese Anordnung nur eine Supplikation vor dem König selbst möglich war (Lopez, Glossa Nr. 10, P. III, 23, 13). 23S s. etwa Marchetti, S. 144 f.; zum Begriff und den Konsequenzen des notorium s. unten Kap. B, II, 3, b).
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setzt jedoch unter Berufung auf die italienische Lehre eine weitere, von den Partidas nicht vorgesehene, Einschränkung der Appellation durch das Erfordernis einer ,justa causa": Wenn der Richter das Berufungsanliegen als nicht ernsthaft fundiert ("frivola") beurteilte, konnte er das Urteil sofort vollziehen 237 . Gomez seinerseits macht eine "freie" Auslegung der Partidas. Einerseits schränkt er ihre Regelung durch die Behauptung ein, daß die Berufung nur beim gleichzeitigen Vorliegen des Geständnisses und der Überführung auszuschließen ist, d. h. daß der vollständige Zeugenbeweis dazu nicht ausreicht238 ; andererseits dehnt er diese Regelung durch die Hinzufügung weiterer Delikte aus: Häresie, Gewaltdelikte ("crimine violentiae super aliqua re vel possessione") sowie andere ähnliche Verbrechen239• Hevia Bolanos wird den extensiven Weg gehen und den Ausschluß der Berufung auch bei den Verbrechen der Majestätsbeleidigung, der Häresie, der Sodomie, sowie - unter Berufung auf königliche Normen - bei den "casos de Ia Hermandad" behaupten240• Weit ausgedehnter ist die diesbezügliche Liste bei Castillo de Bovadilla. Unter Berufung auf die "modernen Autoren nach Baldus", betrachtet er als von der Appellation ausgeschlossen sämtliche schwerwiegenden Delikte ("enormes y atrozes"), Straftaten, die an einem Ort besonders oft begangen werden, sowie andere Fälle, wo das öffentliche Interesse (z. B. bei Räubern oder Vagabunden) einen prompten Vollzug verlange41 . Die Lehre informiert jedoch, daß in besonders komplizierten Fällen die Niedergerichte die Prozeßakten einem hohen Gericht zur Entscheidung vorlegten, mit dem Ergebnis, daß au236 "et nota bene casus hujus legis, nam ita bene alibi non reperies casus, in quibus sufficit quem esse convictum, vel confessum" Lopez, Glossa Nr. 1, P. III, 23, 16. Lopez bemerkt allerdings unter Berufung auf die italienische Lehre, daß wenn der Angeklagte sein Geständnis als fehlerhaft anfechtet, die Appellation zulässig sei (Glossa Nr. 10, P. III, 23, 16). 237 Lopez, Glossa Nr. 10, P. III, 23, 13. 238 Gomez. Pars III, Cap. 13, Nr. 31, S. 516; vgl. Miranda, T. II, Q. 29, Art. 7, Concl. 5, s. 356 f. 239 Gomez. Pars III, Cap. 13, Nr. 31, S. 516 mit der Klarstellung, daß der Richter, wenn er aus Versehen die Berufung zuläßt, sie nicht nachträglich verbieten kann (dazu s. auch Lopez, Glossa Nr. 6, P. III, 23, 16). 240 Hevia Bolaiios, T. I, Parte III, § 13, Nr. 10-12, S. 234 f. Die Hermandades waren Verbindungen von kastilischen Städten, die gegenseitigen Schutz zum Ziel hatten. Es gab Verbindungen von Städten mit ähnlichen Handelsinteressen, Verbindungen von Städteräten in Zeiten eines Aufstandes und Verbindungen von Eigentümern. Die Hermandades hatten eine eigene Jurisdiktion in bezug auf Sicherheitsanliegen (z. B. Verfolgung von Räubern und Dieben im Bezirk der Hermandad), die von den "alcaldes de Hermandad" ausgeübt wurde (allgemein dazu Tonuis y Valiente, Derecho, S. 32 ff.; Escudero, S. 517; Gonzales Ant6n, S. 188 ff.; Rauchhaupt, S. 90 ff.). Die Novfsima Recopilaci6n enthält mehrere Normen, die die Rechtsprechungskompetenzen der Hermandades sowie den Ausschluß der Appellation regeln (12, 35, 1-27, in: Codigos espailoles, Bd. 10). 241 Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 80-86, S. 554-555; an einer anderen Stelle beschränkt jedoch der Autor den Ausschluß der Berufung auf Urteile, die die ordentliche Strafe verhängen, weil bei arbiträren Strafen keine legale Vermutung der Richtigkeit der Entscheidung besteht (T. I, Lib. II, Cap. XXI, Nr. 142-143, S. 684 f.).
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tomatisch Berufungseffekte entstanden, auch wenn die Berufung angesichts der Schwere des Deliktes oder der Beweislage nicht gegeben w~2 • Covarrubias betrachtet die Appellation als ausgeschlossen im Fall der Häresie sowie im Fall eines Geständnisses, wobei er jedoch bemerkt, daß bezüglich des Geständnisses die Praxis der kastilischen Gerichte, die Berufung auszuschließen, keine legale Basis hat, und dem Richter besondere Vorsicht empfiehlt, wenn er das Urteil sofort vollziehen will243• Die Einschränkungen der Berufung versucht der Autor durch die Unterscheidung zwischen Verteidigungsrecht während des Prozesses und nach dem Urteil theoretisch zu begründen. Die Verteidigung des Angeklagten im Rahmen des Prozesses sei ein natürliches Recht, das nicht einmal der Fürst entziehen kann ("peccandi mortaliter"; "mortalis criminis"); die Appellation sei dagegen eine Schöpfung des positiven Rechts, das prinzipiell eingeschränkt werden kann244 • Die Komplexität der Berufungsproblematik zeigt schließlich die ausführliche Behandlung von Quevedo y Hoyos an. Er geht vom Prinzip aus, daß das Geständnis immer die Berufung ausschließt245 und sieht ein dazu ausreichendes Geständnis in drei Fällen: erstens bei einem spontanen gerichtlichen Geständnis246; zweitens bei einem unter Folter erfolgten und danach ratifizierten Geständnis, weil es auch als spontan betrachtet wird247; drittens bei einem Geständnis, das vor dem Richter selbst vor der Einleitung eines Prozesses aus freien Stücken abgegeben wird, mit der Einschränkung, daß es nur bei Zivilsachen die Berufung ausschließen könne248 • Zusammenfassend ist also zu bemerken, daß die kastilische Lehre ab dem 16. Jahrhundert unter dem Einfluß der gemeinrechtlichen Doktrin und vermutlich auch der kastilischen Gerichtspraxis die Appellationsmöglichkeiten erheblich einschränkte und jedenfalls die normativen Aussagen der Partidas besonders "weit" auslegte. Somit wurde die bedeutendste Verteidigungsmöglichkeit des Angeklagten vor einem richterlichen Beschluß durch sukzessive Auslegungen auf ein Minimum reduziert249 - und jedenfalls gaben die voneinander erheblich abweichenden Auslegungen der Lehre den Gerichten die Möglichkeit, Restriktionen des Appellationsrechts durch theoretische Sätze zu legitimieren. 242
Villadiego, Cap. III, Nr. 45, S. 34; Castillo de Bovadilla, T. I, Lib. Il, Cap. 21 , Nr. 142,
s. 684.
Covarrubias, Practicarum, Cap. 23, Nr. 5, S. 466-468. Ebda, Nr. 6, S. 468 f. (hier S. 468). 245 Quevedo y Hoyos, Parte li, Cap. 4, Nr. I, S. 85. 246 Ebda, Nr. 2-5, S. 85v-86. 247 Ebda, Nr. 6-17, S. 86-89 mit Zitierung der P. VII, 30, 4; P. VII, 29, 7; so auch Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 80-86, S. 554-555; Miranda, T. Il, Q. 29, Art. 7, Concl. 5, S. 356 f. 248 Quevedo y Hoyos, Parte li, Cap. 4, Nr. 18-24, S. 89 - 90 mit Zitierung der P. Il, 13, 5. 249 Vgl. dazu Tonuis y Valiente, Gobiemo, S. 237 f. 243
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3. Der Aufbau des legalen Beweissystems und seine Geltung in Kastilien Um die Darstellung der Prozeßstruktur zu vervollständigen, ist es noch notwendig, auf das in ihrem Rahmen geltende Beweissystem einzugehen. a) Definition des legalen Beweises Die strafprozessualen Beweissysteme sind im allgemeinen ein Mechanismus, der Gewißheit über ungewisse Punkte herbeibringen soll250• Eines von diesen Beweissystemen ist das legale oder formelle. Zeitgenössische Analysen zeigen, daß keine eindeutige Definition dieses Systems möglich ist251 : Die verschiedenen Definitionen, die auch neuere Arbeiten geben252, sind in der Tat vereinfachend und entsprechen nicht der kasuistischen Komplexität und den geschichtlichen Wandlungen im Rahmen dieses Systems, vor allem weil sie die Frage des Ermessens des Richters völlig verneinend behandeln. Die "einfachen" Definitionen entsprechen nämlich weniger diesem System als dem Bild, das die aufklärerische Polemik davon machte, um seine Undurchführbarkeit bzw. Widersinnigkeit zu zeigen. Um dieses System zu definieren, ist es nötig, die Bedeutung des Begriffs der Wahrheit für die damalige juristische Lehre zu bestimmen und die Mittel zu analysieren, die als geeignet zur Feststellung der Wahrheit angesehen werden. Eine solche Untersuchung impliziert, auch die geistigen Quellen und Einflüsse dieser Lehre zu berücksichtigen. Das würde zu einer besonders weiten Untersuchung über die juristische Logik und die Auffassung jedes Autors über die Wahrheit (und die Rationalität im allgemeinen) führen, die sich auf schwer verifizierbare Hypothesen und Klassifizierungen stützen kann253• Hier werden wir uns auf einige grundsätzliche Feststellungen beschränken, die durch Hinweise auf die gemeinrechtliche Lehre belegt werden können, ohne zu versuchen, die Frage erschöpfend zu behandeln, d. h. die Vorstellungen jedes Autors bezüglich des Wesens und der Feststellungsmittel der Wahrheit in all ihren Implikationen zu untersuchen. Zweck des gemeinrechtlichen Strafverfahrens ist offensichtlich die Feststellung der Wahrheit254, die mit allen (legalen) Mitteln gesucht werden muß und darf255 • 25o s. z. B. Uvy-Bruhl, S. 15. 251 Alessi Palazzolo, S. 7, Anm. 7. 252 s. etwa Koch, S. 247 f.: "Für eine subjektive, willkürliche Bewertung der tatsächlichen Umstände des Falles war danach kein Raum mehr. ( ... ). Ein Indizienbeweis ( ... ) kam hingegen in der Beweistheorie nicht vor, da er mit gesetzlich vorbestimmten Wertungen nicht zu regeln war". Beide Aussagen werden, wie wir hier sehen werden, von der gemeinrechtlichen Lehre direkt widerlegt. 253 Eine solche Studie juristischer Logik hat Giuliani (Concetto, passim) vorgelegt. 254 s. z. B. die Nachweise auf die Lehre bei Uvy, S. 23.
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Es ist jedoch möglich festzustellen, daß sich die Autoren der Periode bewußt sind, daß das Strafverfahren keine ausreichenden Garantien gibt, daß die "wahre" Wahrheit in allen Fällen ermittelt werden kann. Aus ihren Ausführungen geht die Überzeugung hervor, daß der Richter keinen direkten Zugang zur "materiellen" Wahrheit haben kann - was z. B. in einem System der "göttlichen Beweise" behauptet werden konnte -, sondern daß er die Wahrheit durch einen mühsamen, "menschlichen" und "fehlerhaften" Ermittlungsprozeß konstruieren muß256. Um die Risiken eines Justizfehlers zu minimieren, muß der Richter eine Reihe von prozeduralen Beweisregeln anwenden. Es handelt sich um Regeln logischer oder empirischer Natur, die die verschiedenen normativen Quellen aufstellen und den Weg der Ermittlungen, die zugelassenen Beweismittel, ihren Wert sowie die Art der Bewertung konkreten Situationen vorschreiben. Als Hauptgarantie der Wahrheit dient somit die Ermittlungsarbeit des Richters, der logische Schlüsse zu ziehen versucht durch ein Denken, das sich auf Wahrscheinlichkeiten (das ,,Normale" oder "Übliche") stützt und Regeln folgt, die die Wahrheitssuche objektivieren257. Sicher ist auch, daß das Strafverfahren dieser Zeit nicht nur die Wahrheit durch Verfahrensregeln zu ermitteln versuchte, sondern daß diese Regeln auch sicherten, daß am Ende jedes Verfahrens eine Wahrheit erzeugt wird. Diese Verfahrensart erlaubte nämlich nach Abschluß der Wahrheitssuche kein ignoramus und beinhaltete keine Regel, die den Zweifel des Richters als ausreichenden Entscheidungsgrund betrachtete (wie es heute bei der Freisprechung im Zweifelsfall geschieht) 258 . Das Endurteil wird als materielle Wahrheit betrachtet (und legitimiert), d. h. als eine gültige Aussage über das tatsächliche Geschehen, die durch die Vollstreckung auch materielle Effekte erzeugen wird. So können wir das legale Beweissystem als ein Bündel von Regeln betrachten, die dem Richter die Ermittlung der Wahrheit erlauben, d. h. ihm ermöglichen, eine Vgl. Sbriccoli, "Torrnentum", S. 24. Das geht mit besonderer Klarheit aus den Ausführungen der Lehre zur Beweiskraft der Folter hervor. Wie wir weiter unten sehen werden, betont die Lehre, daß die Tortur ein besonders riskantes Beweismittel ist (,,res est fragilis et periculosa et quae veritatem fallat", hieß es schon in den Digesten, D., 48, 18, I, 23): Ein Unschuldiger konnte aus Angst oder Schmerzen zu einem wahrheitswidrigen Geständnis gezwungen werden wie auch ein ,,harter" Delinquent die Folter bestehen konnte mit anschließender "Reinigung" der Schuldindizien. Die Lehre weiß wohl, daß mit der Folterung ein für alle Beteiligten und für die Wahrheit selbst "gefährliches" Spiel gemacht wird, und deswegen argumentiert sie immer im Rahmen einer "graduellen Gewißheit" (so Rosoni, S. 67 f.). Die Sorge um die Irrtümer, zu denen die legale Beweismaxime führen kann, ist auch in der Gewährung der Verteidigungsrechts an den Angeklagten, selbst wenn ihn bereits ein voller Beweis belastet, sichtbar; dasselbe gilt für das Appellationsrecht, das z. T. auch beim Vorliegen eines vollen Beweises anerkannt wird. Wir werden jedoch sehen, daß die "Graduation" der Gewißheit in der Konstruktion des notorium als eines über jeden Zweifel erhabenen Beweises eine Grenze findet. 257 Dazu Giuliani, Concetto, S. 159 ff. 258 s. etwa Marchetti, S. 146, Anm. 398. 255
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
Entscheidung zu treffen, die aufgrund von prozeduralen Regeln als Wahrheit betrachtet wird. Der Richter muß dabei die Verfahrensregeln streng einhalten, weil sie von den normativen Quellen und von den opiniones der Doktoren als zweckmäßig und rational betrachtet werden, d. h. als geeignet zur Feststellung der Wahrheit ("fides veri legitimis modis et temporibus facta") 259. So wird in Kastilien Antonio Gomez den vollständigen Beweis als "perfecta cognitio facti, vel delicti per modos a iure diffinitos" betrachten260• Die Wendung "per modos a iure diffinitos" bezeichnet die Spezifizität des legalen Beweissystems. Es wurde zutreffend bemerkt, daß das System der legalen Beweise zum Zwecke der Wahrheitsfeststellung eine Art "doppeltes Register" verwendee61 • Im Rahmen des "ersten Registers" werden die zulässigen Beweiskategorien abschließend festgelegt. Jede Kategorie hat unterschiedliche prozedurale Konsequenzen, die wiederum von den normativen Quellen definiert werden. Das "zweite Register" basiert auf einer detaillierten, kasuistischen Beschreibung typischer Situationen, die in der Praxis auftreten können und den vorbestimmten Beweiskategorien normativ eingeordnet werden. Auch diese Bewertung ist für den Richter bindend. Dies kann anhand eines Beispiels verdeutlicht werden. Bezüglich des "ersten Registers" gibt die Lehre eine Definition des indicium indubitatum262 und bestimmt seine prozessuale Hauptkonsequenz: sie legt fest, daß solche Indizien zur Folterung ausreichen (indicia ad torturam) 263 • Auf der Ebene des "zweitens Registers" wird eine Art "Subsumption" gemacht, indem z. B. festgelegt wird, daß die Drohung gegen eine Person, die später ermordet gefunden wird, ein indicium indubitatum gegen den Drohenden bildet - und dies unabhängig von der jeweiligen Meinung oder Überzeugung des Richters264• 2S9 Baldus, zitiert nach Uvy, S. 23. Zur Legalität und Rationalität dieses Systems s. ebda, S. 24, 72; vgl. Marr:hetti, S. 35; Giuliani, Concetto, S. 246; Rosoni, S. 39 f.; Jerouschek, Herausbildung, S. 103 f., 111 ff. Rationalität meint die strukturelle Tatsache, daß die Beweise gemäß der legalen Maxime sich auf logische Überlegungen und Verbindungen und nicht auf "Wunder" (Gottesurteil), auf rein formelle Beweise (Zweikampf, Reinigungseid) oder auf die intuitive richterliche Überzeugung beziehen. Die Rationalität ergibt sich aus verschiedenen Positionen der Lehre, wie u. a. aus dem Mißtrauen vor dem Indiz der famc~ (s. Uvy, S. 114). Diese Rationalität gilt allerdings nur innerhalb eines bestimmten wissenschaftlichen und juristischen "Klimas". Darüber hinaus ist auch zu bemerken, daß "irrationale" Elemente im legalen Beweissystem präsent sind und zwar sowohl direkt durch die Akzeptanz .,göttlicher Beweise" (zum sog. iudicium feretri s. unten, Kap. B, Anm. 490) als auch durch das religiöse "Klima", das die juristischen Vorstellungen beeinflußte. So wird z. B. behauptet, daß Gott, wenn er eine Person bestrafen will, die dafür notwendigen Indizien erscheinen lassen wird (Quevedo y Hoyos, Parte II, Cap. 4, Nr. 16, S. 88v), mit dem Ergebnis, daß das Beweisverfahren nicht ausschließlich von menschlichen Regeln oder von der richterlichen Logik abhängig gemacht wird. 260 Gomez. Pars III, Cap. 12, Nr. 3, S. 489. 261 Marr:hetti, S. 23 f. 262 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 9, Nr. 1, S. 36. Der Autor benutzt als Synonym des indicium indubitatum den Terminus ,Jndicio pleno". 263 Ebda, Nr. 5, S. 36-36v.
II. Zur Justizorganisation Kastiliens
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Neuere Forschungen zeigen, daß ab dem 13. Jahrhundert die juristische Lehre sich von der Meinung entfernt, "circa modum probandi non posse dari regulam", die ein fluides Beweissystem gründete und dem Richter besonders weite Handlungs- und Entscheidungsspielräume ließ265 . Das legale Beweissystem führt eine starke Beschränkung der Ermessensmöglichkeiten des Gerichts ein. Der Richter muß seine Überzeugung nur im Rahmen der im vornherein rechtlich festgelegten Regeln bezüglich der Notwendigkeit und des Werts der Beweise bilden266, und er darf nicht nach seinem "Gewissen" argumentieren, d. h. subjektive oder psychologisch-intuitive Wahrheitskriterien benutzen267 . So schreibt z. B. Covarrubias, der Richter habe nicht "ex particulari scientia", sondern nach den jeweils öffentlich vorliegenden Beweisen zu entscheiden: "iudicat secundum publicam veritatem ( ... ). Semper instruatur iudicis conscientia ex allegatis, probatisque"268 . Der Richter habe also nach der "conscientia publica", die aus der Legistik und Kanonistik hervorgeht, und nicht nach dem eigenen "arbitrium, discretio, & conscientia" bzw. "suum sensum, & suam phantasiam, sive suam praesumptam aequitatem" zu entscheiden, weil all diese subjektiven Elemente zwangsläufig zu Fehlern führen269. In diesem Sinne ist die häufige Feststellung zutreffend, daß "im neuen [sc. legalen] Beweissystem die Rolle des Richters rein passiv, technisch und arithmetisch wird'm0 , d. h. der Richter mit einer "Beweismittelarithmetik" arbeitet271 . Dabei ist jedoch eine Einschränkung notwendig. Der Richter arbeitet nicht als ein "Automat"272, als Notar, der bestimmte Handlungen oder Vorgänge registriert, ohne sie zu bewerten. Bei genauerem Hinsehen läßt sich nämlich im Rahmen des legalen Beweissystems auch die Existenz eines "dritten Registers" festzustellen, das die Behauptung der Formalität des Systems relativiert. Es handelt sich um die aktive Rolle des Richters, der immer von der Wahrheit der herangezogenen Beweismittel "überzeugt" sein muß. Wie die Lehre betont, müssen die Beweise den Geist des Richters "bewegen" (movens animum); nur dadurch sei die Gewißheit über die Wahrheit oder die Unwahrheit einer Aussage zu gewinnen273 . Der Richter 264
Ebda, Nr. 7, S. 36v.
Dieser Satz stammt von Jacobus da Porta Ravegnana und ist bei vielen Autoren anzutreffen (dazu Salvioli, S. 408; Marchetti, S. 25 f., 34 ff.). Zur besonders komplexen Auslegungsgeschichte der Regel, der Richter habe nach den ihm ordnungsgemäß zur Kenntnis gebrachten Beweise und nicht nach seinem "Gewissen" zu entscheiden, s. die Studie von Nörr. 266 s. etwa Rosoni, S. 40 f. 267 s. dazu die Ausführungen und Beispiele bei Jerouschek, Herausbildung, S. 111 f. 268 Covarrubias, Variarum, L. I, Cap. I, Nr. 7, S. 4. Als Ausnahme erwähnt Covarrubias die Möglichkeit des Königs, unabhängig von der Beweislage zu entscheiden, eine Ausnahme, die jedoch als Gesetzesänderung im konkreten Fall betrachtet wird, d. h. dem König in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber zusteht (ebda) . 269 So Damhouder, Cap. XXXVI, Nr. 3, 4, 6, 7, S. 65. 270 Giuliani, Concetto, S. 187. 271 Jerouschek, Thomasius, S. 669. 272 So aber Langbein, S. 6. 265
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8. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
wird also die Operationen der ersten beiden "Register" in seinem "eigenen", dritten Register durchführen, und nur dadurch erlangen sie prozessuale Geltung. Die aktive Rolle des Richters ist bei der Sammlung der Beweise, besonders im Rahmen des inquisitorischen Prozesses, zu beobachten. Er setzt die inquisitorische Maschine in Gang und bestimmt ihren Lauf mit Entscheidungen bezüglich der Ausrichtung der Ermittlungen 274 . Dasselbe gilt bezüglich seiner Aufgabe, die Zeugenaussagen kritisch zu beurteilen oder Lücken und Widersprüche zu vermuten. Die Spezifizität lag darin, daß der Richter, wenn er sich z. B. von der Glaubwürdigkeit zweier katholischer Augenzeugen guten Rufes überzeugte, die Regeln der Beweiskraft nicht abändern und ihr Zeugnis etwa als bloßes Indiz bewerten konnte. Das legale Beweissystem in seiner ursprünglichen "strengen" Form erlaubte keine Verurteilung auf der Basis von ungewissen, komplexen und tendenziell widersprüchlichen Beweiselementen, wie Indizien und Mutmaßungen. Für eine Verurteilung wurde ein "vollständiger" Beweis verlangt. Dies beschränkte das Ermessen des Richters, ohne jedoch die Notwendigkeit seiner persönlichen Überzeugung hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der einzelnen Beweise - geschweige denn seine Handlungsfreiheit bei den Ermittlungen- auszuschließen. Nur unter diesem Vorbehalt ist die häufig anzutreffende Behauptung anzunehmen, daß das legale Beweissystem den Richter zwinge, ein bestimmtes Urteil "unabhängig von seiner Meinung"275 zu treffen bzw. daß "die Entscheidung nicht von der Überzeugung des Richters abhängt"276. Die aktive Rolle des Richters zeigt sich auch in der Tatsache, daß selbst das Geständnis als regina probationum oder probatio probatissima im Rahmen des legalen Beweissystems nicht nur vom Willen des Angeklagten abhängt. Das Geständnis weist eine duale Strukturierung auf277, da seine Gültigkeit die Anerkennung seitens des Richters voraussetzt, der im inquisitorischen Verfahren auch eine ,,Partei" ist. Der Richter verbindet mit dem Geständnis den Schutz "übergeordneter" Interessen und trägt zu seiner Herbeiführung aktiv bei 278 . Das Geständnis im Strafverfahren ist nämlich keine ,,Erzählung", sondern ein Akt der Kommunikation, der eine Reihe von Bedingungen respektieren muß. So ist z. B. ein logisch oder juri273 s. die verschiedenen Definitionen der Lehre der ius commune bezüglich der Mutmaßungen und der Indizien bei Rosoni, S. 136 f. 274 Ebda, S. 42 f.; umfassend zum Ermessen der Richter in Strafsachen Tonuis y Valiente, Gobiemo, S. 34, 227 ff. 21s Rosoni, S. 174. 276 Giuliani, Concetto, S. 186. 277 Aus dynamischer Sicht weist das Geständnis eine dreiteilige Struktur auf, da es auch mit den jeweils institutionell anerkannten Wahrheitsgarantien zusammenhängt (normative Texte, Inquisitionsmethoden, Rituale usw.). Zur ,Jnstance absolue de Ia verite" als dritter Dimension des Geständnisses, s. Legendre, S. 278 f. 278 Ebda, S. 278.
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stisch unmögliches Geständnis nichtig, und die Lehre vergleicht oft das Geständnis mit einem Vertrag279. Darüber hinaus bringt das Geständnis keine automatischen prozessualen Konsequenzen mit sich. Ein vollständiger Beweis wird gebildet nur, wenn der Richter seine Gültigkeit anerkennt, u. a. durch die vorherige Feststellung des corpus delicti sowie durch die Feststellung anderer Indizien der Schuld des Angeklagten, die auch nach der Ablegung des Geständnisses ermittelt werden könnten. So wird das Geständnis in eine ,,Dynamik der Tat" eingegliedert, oft wird seine Ratifizierung verlangt und der geständige Angeklagte hat die Möglichkeit, sich zu verteidigen, indem er Einwände gegen ein fehlerhaftes (z. B. unter Druck abgelegtes) Geständnis vorlege80. Die Autoren des ius commune führen zwei Ausnahmen vom logischen Schema der vorbestimmten und strengen "Legalität" der Beweise ein. Die erste betrifft bestimmte Kategorien von Delikten oder Delinquenten, wo die Beweiserfordernisse "gesenkt" werden. Hier finden wir Ausnahmen, die mit der Struktur einer standesmäßigen Gesellschaft zusammenhängen (Privilegien der Adligen oder der Personen "guten Rufes") oder aus Gründen des "öffentlichen Interesses" gelten (effektive Verfolgung schwerwiegender Delikte, wie Majestätsbeleidigung oder okkulte Verbrechen). Die zweite Kategorie von Ausnahmen, die zweifellos mit der Logik der formellen Beweismaxime in Widerspruch steht, hängt mit den Versuchen zusammen, die Handlungsfähigkeit und das Ermessen des Richters zu erweitern durch die Lehrmeinung, daß - zumindest in einigen Fällen - der Richter aufgrund einer "freien" Entscheidung die Beweisregeln derogieren darf, indem er z. B. als "legitimes" Indiz eine Tatsache bewertet, die die Lehre als solche nicht klassifizierte281 • Zusammenfassend können wir sagen, daß das legale Beweissystem in der detaillierten Regelung der Beweismittel besteht. Die normativen Quellen legen den Wahrheitsgrad fest, der jedem Beweismittel zugerechnet werden muß. Die Entscheidung über die Schuld des Angeklagten hängt somit von dem Wert ab, die die jeweils bestehenden Beweise nach der vorbestimmen Bewertung haben. Dieses System hat seinen Ursprung in der Rezeption römisch-kanonischer Normen; es wird durch die Arbeit der gelehrten Juristen nach dem 13. Jahrhundert fortentwickelt282, wobei im Bereich des Strafrechts die Verurteilung zur ordentlichen Strafe nur beim Dazu Livy, S. 55, 57; Legendre, S. 275. AusfUhrlieh zu den Bedingungen der Gültigkeit eines Geständnisses Marchetti, S. 21, 49 ff.; Livy, S. 55 ff.; Fiorelli, Confessione, S. 868; aus der kastilischen Lehre s. De Ia Pefia, Parte II, S. 68, 70; Miranda, T. II, Q. 19, Art. 2, Concl. 2, S. 8-10; Gomez, Pars 111, Cap. 12, Nr. 3, S. 489. Anders als bei dem unter Folter erpreßten Geständnis betrachten die meisten kastilischen Autoren die Bestätigung einer spontanenconfessioals nicht erforderlich (s. z. B. Gomez. ebda); seine Bestätigung wird jedoch wännstens empfohlen ("consultissimum" Miranda, T. II, Q. 19, Art. 14, S. 59 f.). 281 s. etwa Suarez de Paz, T. I, Pars V, Cap. 3, § 12, Nr. 37, S. 168•. 282 Giuliani, Concetto, S. 187, 231 ff.; Marchetti, S. 34. 279
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Vorliegen eines vollständigen Beweises - gemäß den vorbestimmten Beweisarten und -verfahren - zulässig ist. b) Die Beweisarten und -hierarchie Wir haben schon gesehen, daß das legale Beweissystem auf einer Hierarchisierung der Beweismittel basiert. Auch wenn es in der Lehre eine Vielzahl von diesbezüglichen Meinungen gibt283 , wird im allgemeinen folgende Klassifizierung akzeptiert: vollständiger Beweis, halber Beweis, Indizien und Mutmaßungen. Außerhalb und gewissermaßen über dieser Klassifizierung steht das notorium. Ein voller Beweis (probatio plena, vera, legitima, perfecta) ist gegeben, wenn zwei "klassische" (omni exceptione maiores) Augenzeugen übereinstimmende Aussagen liefern, wenn der Angeklagte vor Gericht gesteht284, oder wenn es bestimmte schriftliche Beweise gibt285 . Die schriftlichen Beweise hatten kaum Bedeutung im Strafverfahren286 , was auch mit der Tatsache zusammenhängt, daß es im Mittelalter und in der Neuzeit keine große Entwicklung des schriftlichen Beweises gab287 • Der halbe Beweis ist eine unvollständige Beweisform. In Strafsachen reicht sie in der Regel für die Verurteilung des Angeklagten zur ordentlichen Strafe nicht aus. Als halber Beweis wird einerseits jeder Beweis verstanden, der an sich oder aufgrund eines Formfehlers nicht die Kraft des vollständigen besitzt und andererseits die arithmetische Hälfte des vollen Beweises288 • Das einfachste Beispiel für den zweiten Fall ist die Aussage eines klassischen Zeugen289. Die Kontroversen in der Lehre kreisen um zwei Fragen: erstens, ob der halbe Beweis mit anderen Beweiselementen addiert werden kann, um einen vollen Beweis zu bilden290 , und s. etwa Ghisalberti, S. 411 f. "Quid sit plena, & legitima probatio ( ... ) dico, quod est perfecta cognitio facti, vel delicti per modos a iure diffinitos, & principaliter sit per confessionem partis, vel per testis legitimos ( ... ) fide dignos, & omni exceptionem maiores, & sufficiunt duos" (Gomez, Pars III, Cap. 12, Nr. 3 und 9, S. 489, 492). 285 s. etwa Mascardi, Q. 4, Nr. 11, S. 4, der als vollständige Beweise auch den Eid und die praesumptio iusta betrachtet. Zu den verschiedenen Auffassungen zum vollständigen Beweis und zu dem schriftlichen Beweis (instrumentum) s. Uvy, S. 67 ff., 72 ff.; aus der kastilischen Lehre s. zum Beweisper scripturam Cantera, Q. X, Nr. 1-2, S. 353-355. 286 Rosoni, S. 75. 287 Salvioli, S. 423; Tomas y Valiente, Tortura, S. 100. 288 Zu den beiden Deutungen s. Uvy, S. 106 ff.; Rosoni, S. 79 ff.; Alonso Romero, S. 234. Die kastilische Lehre meint meistens den halben Beweis im "arithmetischen" Sinne (s. statt vieler Gomez. Pars III, Cap. 12, Nr. 2, S. 489). Es wird jedoch auch die weite Auffassung vertreten. So betrachtet Lopez. G1ossa Nr. 1, P. VII, 30, 3 die "fama" als halben Beweis. 289 Bruni, Pars I, Cap 2, Nr. 2, S. 246v; Mascardi, Q. 4, Nr. 17- 18, S. 4v; Gomez, Pars III, Cap. 12, Nr. 2, S. 489. 290 s. z. B. (bejahend) Lopez, Glossa Nr. 3, P. III, 14, 12. Ausführlich dazu unten, Kap. B, IV,4. 283 284
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zweitens, ob der halbe Beweis an sich oder in Verbindung mit anderen Beweiselementen, die zur Bildung eines vollständigen Beweises nicht ausreichen, die Verhängung einer Strafe erlaubt291 . Unter dem halben Beweis im "arithmetischen" Sinne des Wortes befinden sich die Indizien und die Vermutungen - eine besonders komplizierte und kontroverse Materie. Die Indizienlehre bildet sich im 13. Jahrhundert durch die Werke von Autoren wie Azo, Durante, Gandinus, Bartolus und Baldus, obwohl dabei weder eine eindeutige Definition noch eine genaue Festlegung ihrer Zahl und Beweiskraft gegeben wird292. Die Traktate, die sich ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der Indizienlehre auseinandersetzen (Menochius, Mantica, Mascardi), weisen signifikante Abweichungen von den Schemata der früheren Jahrhunderte auf und führen - in Zusammenhang mit der gerichtlichen Praxis - zur Entstehung "einer komplexen Ökonomie der Indizien, die sich in den sog. reifen Inquisitionsprozeß integrieren wird"293. Diese Traktate entwickeln eine Kasuistik des Indizienbeweises, die bei jedem Autor andere Dimensionen hat. Das Beweisproblem erreicht eine außerordentliche Komplexität, die die einfache Logik des vollständigen Beweises und der Folter als Mittel zur Erreichung der Wahrheit (,ja oder nein") vollkommen ändert. Um die Wahrheit festzustellen wird nunmehr etwas viel stärkeres und effizienteres als der körperliche Schmerz oder die "perfekte" Zeugenaussage verlangt, und aus diesem Grund steht die Entwicklung der Indizienlehre in Zusammenhang mit einer doktrinalen Infragestellung der Zuverlässigkeit der Folter als Mittel der Wahrheitssuche294. Die Indizienlehre des 16. Jahrhunderts führt zu einer Kasuistik, die dem Richter besondere Denkanforderungen setzt: Von unzureichenden Beweiselementen ausgehend, muß er eine höhere Ebene der Gewißheit erreichen. Das Interesse wird auf die logischen Mechanismen der Tatsachenfeststellung verschoben, ohne jedoch die legale Beweismaxime und die Meinungen der früheren Lehre radikal in Frage zu stellen. Die "neue" Indizienlehre wird von den Entwicklungen der Mathematik und der anderen Naturwissenschaften beeinflußt. Dies wird an der Tatsache deutlich, daß es nicht mehr darum geht, heterogene Indizien zu addieren, um einen Beweis zu bilden. Es wird versucht, die vorhandenen Indizien zu "dynamisieren", d. h. ihre Beweiskraft durch ihre logische Verbindung und durch eine induktive 291 Meistens wird die Möglichkeit der Verhängung einer extraordinären Strafe eingeräumt. Die Verhängung einer ordentlichen Strafe wird bezüglich besonderer Kategorien, wie die delicta excepta oder die okkulten Verbrechen befürwortet, wo die Verfahrensregeln sowohl bezüglich der Ausübung der Rechte des Angeklagten als auch bezüglich der Strafverhängung nicht einzuhalten seien (so z. B. in bezugauf die schwerwiegenden Delikte Cantera, Q. III, Nr. 60, S. 255- 257). 292 s. etwa Livy, S. 128 ff. 293 Rosoni, S. 12. 294 Ebda, S. 13, 77.
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Denkweise zu erhöhen, um das Ganze zu etwas zu machen, das "mehr" ist als die Summe der Elemente 295 . Die praktische Schwierigkeit, einen vollen Beweis zu haben, und der immer häufigere Rekurs auf die Verdachtsstrafe setzen die Indizien ins Zentrum der juristischen Aufmerksamkeit. In diesem Bereich ist es aber unmöglich ein System zu bilden, das - gemäß der Idee des ursprünglichen legalen Beweissystems - alle möglichen Indizien sowie ihre Beweiskraft formalisieren kann. Die Indizienlehre ist eng mit einer kasuistischen Vorgehensweise geknüpft: die Feststellung der Wahrheit ist das Produkt einer besonders komplizierten und nur den Spezialisten zugänglichen "Kunst"296• Der erfahrene Richter kann sich der Wahrheit schrittweise annähern durch Regeln, die auf Wahrscheinlichkeilen abstellen (z. B. macht die plötzliche Bereicherung einer Person nach einem Einbruch im Nachbarhaus sie des Einbruchs verdächtig; dieser Verdacht wird durch schlechten Ruf, Gerüchte u.ä. verstärkt, so daß der Richter durch die Akkumulation von Wahrscheinlichkeiten eine Gewißheit erreicht). Der Richter kann durch diese probabilistische Denkweise auch in komplizierten Fällen eine Antwort finden. Zwischen den strengen Regeln des legalen Beweissystems, die die Wahrheit "garantieren", und der kasuistisch gesuchten Wahrheit im Rahmen der Indizienlehre entsteht ein seltsames und wenig stabiles Gleichgewicht, das das neuzeitliche Strafverfahren prägt. Das Interesse für die Indizien führt zunächst zur Flexibilisierung des legalen Beweissystems, durch die Steigerung der Möglichkeit des Richters nach seinem Ermessen, d. h. nach seiner "moralischen" Überzeugung zu entscheiden. Diese Entwicklung wird dann den Übergang zur "freien Beweiswürdigung" erleichtern297, da der Indizienbeweis einen ,,Punkt der Konvergenz" zwischen der legalen und der "freien" Beweismaxime bildee98• Die Lektüre der kastilischen und katalanischen Strafrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts zeigt, daß der Diskurs bezüglich des Beweissystems sich auf zwei Fragen konzentriert: den vollständigen Beweis, wo die Akzeptierung der legalen Beweismaxime eine kurze und eindeutige Antwort erlaubt, und die Indizien299 • Wir werden in dieser Arbeit mehrmals feststellen, daß die iberischen Autoren die italienischen Indizientraktate weitgehend verwenden und den Indizien eine große Bedeutung bezüglich der Verurteilung und der Anordnung der Folter zumessen. Bei den iberischen Autoren ist eine semantische Gleichsetzung verschiedener Indizienarten festzustellen 300, und jeder Autor stellt eine "persönliche" Klassifizierung auf. Das 295 Zur "algebraischen" Methode und zur logischen Struktur des neuen Indiziensyllogismus, s. ebda, S. 20 ff. 296 Dazu Foucault, S. 39 ff. 297 Ausführlich dazu Rosoni, S. 11-46. 298 Ebda, S. 97. 299 Der halbe Beweis wird eher oberflächlich in Verbindung mit der Frage der zur Folterung ausreichenden Beweise behandelt. 300 s. unten, Kap. C, IV, 2, e), bb).
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wichtigste ist jedoch dabei, daß das Thema der Indizien den theoretischen Bereich bildet, wo die Problematik des richterlichen Ermessens und der Flexibilisierung der legalen Voraussetzungen der Anordnung der Folter erörtert wird. Die letzte Kategorie der formellen Beweise ist das notorium, das im Gipfel der Beweise steht: "probatio indubitata et finita, nulla discussione egens, probatio assumitur, ut genus in diffinitione, dicitur indubitata & finita, ad differentiam aliarum probationum; quia notorium est probatio probata alias probationes probantes, dico indubitata ut quia detur notorium oporter ibi dare gradum ultimum fidei, dico nulla discussione egens, ad differentiam aliarum probationum quae discussione & examinatione egent" 301 • Das notorium ermöglicht es, zumindest auf theoretischer Ebene, Schwierigkeiten des legalen Beweissystems zu begegnen, indem es als antiprozessuale Maßnahme, als Ausnahme von dem ordo iudiciarius fungiert 302: Notorische Taten brauchen nicht im Rahmen des Prozesses bewiesen zu werden. Das notorium ist eine Konstruktion des kanonischen Rechts ohne römisches Vorbild, die sich allmählich zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert entwickelte303 . Die Autoren des auf der iberischen Halbinsel vorherrschenden mos italicus betrachten das notorium als ein Mittel der Prozeßökonomie, das den Formalismus des Strafprozesses erheblich mindert. Die Notorietät ist in Situationen anzutreffen, die eine Tatsache unzweifelhaft erscheinen lassen. Gegen die Notorietät ist kein Zweifel und kein Beweis möglich. Aus diesem Grund können wir auch sagen, daß das notorium wertmäßig über den anderen Beweismitteln steht. Am Anfang des 13. Jahrhunderts unterscheidet die Lehre drei Hauptformen der Notorietät, deren gemeinsamer Punkt die Vereinfachung des Prozesses ist304: Das notorium facti, das sich auf Evidenz gründet305 ; das notorium iuris, das sich auf gerichtlich und ordnungsgemäß festgestellte Tatsachen bezieht (res iudicata und spontanes Geständnis306); schließlich gab es das notorium praesumptionis (oder praesumptio iuris), das in einer unwiderlegbaren Wahrheitsvermutung bestand (z. B. Vaterschaft des Ehemannes oder das berühmte "solus cum sola, nudus cum nuda" als Vermutung des Ehebruchs)307• 301
302 303 304
So der wichtigste Theoretiker des notorium: Butri, Cap. II, Nr. I, S. so•. Ghisalberti, S. 445. Uvy, S. 33 ff.; Ghisalberti, S. 403 ff. Uvy, S. 41 f.
305 "Notorium facti sie diffinitur ad antiquis + notorium facti est publica & famosa vox proveniens ex evidentia, quam nulla tergiversatione celari potest", Butri, Cap. II, Nr. 2, S. so• Ausführlich zu den Formen des notoriumfacti Uvy, S. 43 ff. 306 "Confessio inducit notorium, si sponte facta sit, & nullo metu precedente", Butri, Cap. II, Nr. 27, S. 52•; ausführlich zu den Bedingungen der Betrachtung des Geständnisses als notorium iuris Uvy, S. 54 ff. 307 Uvy, S. 62 ff.; Ghisalberti, S. 432 ff.; zur praesumptio iuris des Ehebruchs (.,quando los vieron desnudos en Ia misma cama") s. aus der kastilischen Lehre, Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 9, Nr. 38, S. 44•.
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
Die Doktrin hat allerdings die "antiprozessualen" Effekte und den Automatismus des notorium stark relativiert, indem sie Beweise der Notorietät durch Zeugen verlangte sowie die Einhaltung verschiedener prozessualer Regeln, wie die gerichtliche Anhörung des Angeklagten. Das notorium führte also eine Verkürzung des Prozeßverlaufs ein, vermochte jedoch nicht den Prozeß zu ersetzen308• Hier interessiert die Notorietät vor allem aufgrund der Betrachtung des Geständnisses als einer Form des notorium iuris. Dadurch kann die Anerkennung der Schuld seitens des Angeklagten "Sanierungseffekte" in Bezug auf prozessuale Unregelmäßigkeiten haben309• So wird das Geständnis zum zentralen Element für die Aufrechterhaltung des legalen Beweissystems; es ist ein vollständiger Beweis und zugleich, als notorium, eine Beweisform, die die Weiterführung des Prozesses unnötig macht. Die große Bedeutung, die die formelle Beweismaxime dem Geständnis zurechnet, zeigt auch die "strategische" Position der peinlichen Befragung als Mittel zur Erreichung eines Geständnisses. Die Folter gewinnt ihre Bedeutung (und auch ihre Legitimation) aus dem besonderen Stellenwert des gerichtlichen Geständnisses, das einerseits zur Verurteilung führen kann, d. h. eine Ökonomie bei den Ermittlungen erlaubt, andererseits den Angeklagten in die Produktion der strafrechtlichen Wahrheit einbezieht: Derjenige, der per definitionem die Wahrheit kennt, der eine Art "lebendige Wahrheit" ist, gibt den bereits gesammelten Schuldindizien eine "authentische" Bestätigung310• Würde das Geständnis aufhören, die strafprozessuale regina probationum sein, dann würde auch die Folter ihre Berechtigung verlieren311 • Das ist tatsächlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschehen, als der Verlust der Zentralität der Selbstbezichtigung als Beweisform die faktische Abschaffung der peinlichen Befra-
Ghisalberti, S. 441 ff. Marchetti, S. 38, 141 f. 310 Zur symbolischen Bedeutung der Mitwirkung des gestehenden Angeklagten im Verfahren seiner Bestrafung, der durch die öffentliche Anerkennung seiner Schuld das Verfahren legitimiert und als abschreckendes Beispiel wirkt, s. Foucault, S. 39 ff.; Marchetti, S. 148 ff.; Cacciari, S. 166 f.; vgl. van Dülmen, S. 85 ff., mit Erwähnung der mehrfachen Gunstbezeugungen flir die geständigen Delinquenten bezüglich der Vollzugsbedingungen. Zu den Hauptfuktionen des Geständnisses (Rationalität des Beweises, Konstruktion des Subjektivität durch die Einwirkung auf das "verantwortliche" Subjekt sowie durch die entsprechenden "individualisierenden" öffentlichen Diskurse) s. Legendre, S. 280 ff. 311 Zur Verbindung zwischen Geständnis, Reinigung von der Schuld und Folter, s. etwa Tonuis y Valiente, Gobiemo, S. 34; vgl. unten Kap. B, V, 3. Die humanitäre Ideologie des 18. Jahrhunderts hat die enge Beziehung zwischen strafprozessualer Folter, Geständnis und legaler Beweismaxime eingesehen: Die Zentralität des Geständnisses und die Tortur sind im inquisitorischen prozessualen Rahmen gegenseitig bedingt (Langbein, S. 9; Cacciari, S. 166 ff.; Sbriccoli, "Tormentum", S. 24). So forderten die Theoretiker der Aufklärung die tiefgreifende Reform des legalen Beweissystems durch die Anerkennung einer ,,freien" richterlichen Würdigung der Beweislage (s. etwa Fiorelli, Tortura, Bd. II, S. 5; Tarello, S. 391). 308 309
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gung bewirkte312• Den Boden haben auf der Ebene des Beweissystems die Indizienlehre und auf der Ebene der Sanktionen die poena extraordinaria vorbereitet.
c) Die Frage der arbiträren Strafe Die Lehre des gemeinen Rechts ist im Bereich des Strafrechts von einer theoretisch-rationalen Sorge geprägt: Die Beweise niedrigen Ranges werden prinzipiell als unzureichend für eine Verurteilung zur (ordentlichen) Strafe betrachtet, was in einer unermüdlich wiederholten Forderung zum Ausdruck kommt: probationes Iuce (meridiana) clarioresP 13 Die strengen Regeln und Grenzen bezüglich der Bildung eines vollständigen Beweises haben jedoch zu einem schwer handhabbaren System geführt. Die Herbeiführung eines vollen Beweises stieß auf praktischen Schwierigkeiten, weil die zwei ,,klassischen" Augenzeugen, der glaubwürdige schriftliche Beweis oder das spontane Geständnis (das meistens zur Verhängung der Todesstrafe führen sollte!) Anforderungen waren, die in vielen Fällen nicht erftillt werden konnten. Das Resultat war die Einführung bedeutender Änderungen im Beweissystem. Die wichtigste Änderung, die wahrscheinlich von der Gerichtspraxis initiiert und später von der Lehre bestätigt wurde314, betraf, wie bereits erwähnt, die Addierung heterogener Beweismittel, die zwar zur Bildung eines vollständigen Beweises nicht ausreichten, aber zur Bestrafung führen konnten. So konnten Indizien und Mutmaßungen nicht nur die Anordnung der Folter erlauben, d. h. eine "Brükke" zur Erlangung des vollständigen Beweises bilden, sondern auch die unmittelbare Verurteilung zu einer "arbiträren" oder "extraordinären" Strafe bewirken. Seit dem 16. Jahrhundert akzeptiert ein großer Teil der Lehre die Idee, daß ein niedriger Beweis eine niedrige Strafe rechtfertigen kann, die der Richter innerhalb bestimmter Grenzen nach seinem Ermessen festlegt. Diese Meinung war zumindest formell mit der legalen Beweismaxime zu vereinbaren und wurde "moralisch" durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, Taten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Angeklagten zugerechnet werden konnten, nicht unbestraft zu lassen315 . Aus sozialgeschichtlicher Sicht diente die poena extraordinaria der Intensivierung der repressiven Kontrolle, als die Migrationsbewegungen, die Entwicklung der Städte, die soziale Marginalisierung breiten Bevölkerungsschichten und das Wachstum der Eigentumskriminalität ein effizienteres Justizsystem forderte. Dieses System sollte die Bedürfnisse nach Sicherheit und Gefahrenabwehr befriedigen und gründete sich auf die Idee des bonum rei publicae und nicht mehr auf das theokratische Rechtfertigungsschema316• 312 313 314 315
Marchetti, S. 169 ff. Uvy, S. 123; Alessi Palazzolo, S. 4 ff.; Marchetti, S. 93 f. Alessi Palazzolo, S. 99 ff.; Marchetti, S. 107, Anm. 282. Fiorelli, Tortura, Bd. II, S. 140; Alessi Palazzolo, S. 19, 21, 23.
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Dabei muß auch berücksichtigt werden, daß das System der territorialen Justiz der Neuzeit parallel zu anderen Systemen der Konfliktschlichtung und der sozialen Kontrolle funktionierte, die mindestens dieselbe Legitimation wie das königliche Justizsystem besaßen. Man denke an die kirchlichen Institutionen, an das "System der Kontrolle durch die Ehre" 317 oder an die Verhaltenskontrolle durch die besonders häufigen Begnadigungen, die die Vorstellung vom König als Justizträger und zugleich "Vater" (Verbindung von Furcht und Liebe, Bestätigung der königlichen Macht) bekräftigten318 • Die praktische Unzulänglichkeit der legalen Beweismaxime und allgemeiner die Funktionsprobleme der königlichen Justiz konnten festgestellt und "korrigiert" werden nur, wenn dieses System sich in der Praxis verbreitete und seine Disfunktionalitäten offenbarte. Die Kluft zwischen dem Vorliegen von Beweisen, die den Geist des Richters zur Annahme der Schuld des Angeklagten "bewegten", und der legalen Unmöglichkeit einer Verurteilung wegen des Fehlens eines vollen Beweises wurde zu einem praktischen Problem, erst als das territoriale Justizsystem einen großen Teil der gesellschaftlichen Konflikten und "Abweichungen" auf sich nahm. Erst dann erschien die strafprozessual bedingte Straffreiheit als skandalös, was nicht der Fall war, solange die königliche Justiz einen beschränkten und eher symbolischen Aktionsradius hatte. In dem "effizientistischen" Rahmen wird die Initiative der Opfer zwangsläufig von der inquisitorischen Maxime ne delicta remaneant impunita319 ersetzt, eine Zielsetzung, die die Handlungs- und Bewertungsfreiheit des Richters impliziert und legitimiert320• Den materiellen Anlaß zu dieser Entwicklung hat wahrscheinlich die oben angedeutete politisch-ökonomische Entwicklung der Städte und der Eigentumskriminalität gegeben, eine Dimension, die von der Rechtsgeschichte oft vernachlässigt wird321 • Zwischen beiden gibt es jedoch keine unmittelbare kausale Beziehung. Ausschlaggebend für die Wandlung des Beweissystems waren die praktischen Erfahrungen mit der "Ineffizienz" der legalen Beweismaxime, die dann zum systematischen Rekurs auf die poena extraordinaria führten. Das ius commune kannte viele Formen der extraordinären oder arbiträren Strafe. Sie wurden angeordnet, wenn aus material- oder prozessualrechtlichen Gründen 316 Marchetti, S. 106 f.; Alessi Palazzolo, S. 20; allgemeiner zu dieser Wandlung Falk, S. 133 ff.; Sbriccoli, .,Torrnentum", S. 19 ff. 317 Zum letzteren s. die Ausführungen und Literaturhinw. bei Herzog, S. 88 ff. 318 Zu den besonders weiten .,gnädigen" Vorrechten des kastilischen Königs s. De Dios, Gracia, S. 35 ff., 85 ff.; zu den symbolischen Funktionen der Begnadigungs. Hespanha, Gracia, S. 230 ff. 319 Zu dieser von den Legisten und Kanonisten des ius commune breit rezipierten römischen Maxime s. Jerouschek, Geburt, S. 507. 320 s. etwa Rüping, S. 15. 321 Sbriccoli, .,Torrnentum", S. 20; vgl. allgemeiner Rüping, S. 1, 122 f., der zugleich auf die großen Schwierigkeiten einer empirischen Verifizierung dieser These hinweist (S. 48 f. m. w. Hinw.).
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die Erhöhung oder die Minderung der ordentlichen, d. h. der für den Normalfall vorgesehenen, Strafe geboten war. So erwähnt z. B. Castillo de Bovadilla, daß es über 2.000 Fälle der Verhängung einer außerordentlichen Strafe im gemeinrechtlichen Strafprozeß gab322 • Hier interessiert uns die Kategorie der arbiträren Strafe, die als "Verdachtsstrafe" bekannt ist; sie wurde angeordnet, wenn die vorliegenden Beweise nicht den Rang der p/ena probatio erreichen konnten, d. h. wenn die Strafmilderung aus prozessualen Gründen geboten war323• Die Verdachtsstrafe war ein Mittel, Freisprechungen zu vermeiden, wenn es Schuldindizien gab, und zugleich die Anwendung der Folter drastisch zu vermindern: Sie verbindet die ,,Bestrafungsbedürfnisse" mit der immer noch geltenden legalen Beweismaxime324, steht aber zugleich in Widerspruch zur "Legalität" der Bestrafung, was die Krise des legalen Beweissystems anzeige25 . Der Widerspruch wird sichtbar in der Vielzahl der Lehrmeinungen bezüglich der bereits angedeuteten Möglichkeit einer Addierung der Indizien, um einen höheren Grad oder sogar einen vollständigen Beweis zu erlangen, sowie bezüglich der prozessualen Konsequenzen einer solchen Addierung. Die Auffassung, daß die indicia indubitata die Verhängung der ordentlichen Strafe erlauben, wird nur vereinzelt vertreten 326• Unter den gelehrten Juristen ist die Meinung vorherrschend, daß ein halber Beweis oder ein Indizienbündel nur eine Verdachtsstrafe rechtfertigen kann, die der Richter nach seinem Ermessen bestimmt und die im Fall der okkulten Delikte auch eine körperliche Strafe sein kann 327• Die Verdachtsstrafe erhöhte erheblich den Raum der richterlichen "Freiheit", vor allem weil sie den Gerichten erlaubte, zwischen der Anordnung der Folter und der unmittelbaren Verhängung einer (verminderten) Strafe zu wählen. Autoren des 16. Jahrhunderts, wie Antonio Gomez, sehen die Verdachtsstrafe als ein Mittel, 322 Castillo de Bovadilla, T. I., Lib. II, Cap. 21, Nr. 147, S. 685, der allerdings auf diese Kasuistik nicht eingeht. 323 Schaffstein, S. 501 ff.; Langbein, S. 46 ff.; Alessi Palazzolo, S. 20, Anm. 22. Die Autorin kritisiert die Verwendung des Terminus .,Verdachtsstrafe" für diese Kategorie der arbiträren Strafe, weil es sich nicht um die Bestrafung eines bloßen Verdächtigen handelt; die poena extraordinaria wird dabei aufgrund von Beweisen der Schuld verhängt, die zwar nicht ausreichend für die Verhängung der ordentlichen sind, wohl aber Beweise und nicht nur Verdachtsmomente bilden (S. 40, Anm. 6). 324 Schaffstein, S. 495; Marchetti, S. 181; Rosoni, S. 80. 325 Langbein, S. 60, der in bezug auf die Einführung der Verdachtsstrafe sogar von einem .,new system of proor· (S. 11) spricht; zurückhaltender Alessi Palazzolo, S. 25, 29, 32 f.; Rosoni, S. 126. 326 Ein Beispiel dafür ist die Pragmatica, die der Vizekönig von Neapel, Kardinal Zapata im Jahre 1621 erließ. Diese Nonn erlaubte die Verhängung der ordentlichen Strafeaufgrund von unzweifelhaften Indizien, wenn es sich um grausame Delikte handelte und die Entscheidung von einem hohen Gericht getroffen wurde. Zu den besonderen gesellschaftlichen Umständen, die zu dieser Regelung führten, sowie zur Tatsache, daß die Juristen des Königreichs auch nach dem Erlaß der Nonn diese Fonn der Bestrafung als unzulässig betrachteten, s. ausführlich Alessi Palazzolo, S. 192 ff.; in bezugauf Kastiliens. Kap. B, Anm. 336. 327 Marchetti, S. 99; Alonso Romero, S. 237; Rosoni, S. 87, 125, 138 ff.
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Lücken des legalen Beweissystems auszufüllen, insbesondere wenn der Angeklagte nicht folterfähig ist oder aus anderen Gründen die Folterung des Verdächtigen untersagt wird. Für die übrigen Fälle empfehlen sie jedoch die Folterung, weil die extraordinäre Strafe verhältnismäßig mild ist und ihre Verhängung ohne Erschöpfung der Möglichkeiten einer Überführung durch Folterung als ,.iniustum & damnosum reipublicae" bewertet wird328 • Im Lauf der Zeit und mit der Vermehrung der Stimmen, die die Folter als ,.unmenschlich" kritisieren, wird jedoch auf die poena extraordinaria immer häufiger rekurriert, was zu einer besonders starken Beschränkung der Folter in der Praxis führt, ohne jedoch die Effektivität der Strafrechtssystems zu vermindem 329• Hier interessiert uns jedoch weniger der quantitative Aspekt, als die Feststellung, daß aus theoretischer Sicht, erstens, die Möglichkeit des Richters zwischen zwei repressiven Varianten zu wählen, mit der Relativierung der legalen Beweismaxime verbunden ist, und zweitens, die Indizienlehre zum praktisch entscheidenden Element des ,.reformierten" legalen Beweissystems wird. d) Das legale Beweissystem in Kastilien Für die Partidas bestand der Beweis in der gerichtlichen Untersuchung einer zweifelhaften Tatsache330; er mußte wahrhaftig, gewiß und ,,klar wie das Licht" sein331 • Aufgrund ihrer starken Beeinflussung durch das ius commune übernehmen die Partidas das legale Beweissystem. Als vollständiger Beweis werden dort das Geständnis, die Zeugen und die Schriftstücke definiert332. Der Zweikampf wird als Beweismittel verworfen, u. a. weil ,.videtur pugnans Deum tentare, quod non licet, dicente Christo: Non tentabis Dominum Deum tuum"333 . Als weitere Beweisarten (,.otra natura") führen die Partidas die ,.presumpciones" aurJ 34 sowie den Augenschein des Richters (,.cuando el juez ha visto una cosa"), offensichtlich in bezug auf Tatsachen, die für das Verfahren relevant sind335 • In beGomez. Pars In, Cap. 12, Nr. 27, S. 499 f. Schaffstein, S. 504 ff.; Jerouschek, Thomasius, S. 665, 671 (die poena extraordinaria sei in Deutschland im 17. Jh. schon vorherrschend und habe die Folter praktisch beseitigt). 330 ,,Es averiguamento que se faze en juyzio, en raz6n de alguna cosa que es dubdosa", P. VII, 14, l. 331 ,,Leales, e verdaderas, e sin ninguna sospecha; y que los dichos, e Jas palabras que dixeren ftrrnando, sean ciertas y claras como Ja luz, de manera, que no pueda sobre ellas venir dubda ninguna" (P. VII, l, 26); ähnlich P. III, 14, 12. 332 P. III, 13, 1-5; P. III, 14, 8 und 12-13. Die Partidas erwähnen auch umstandsbedingte Sonderformen des vollständigen Beweises. Wenn z. B. der Verdacht besteht, daß eine Frau defloriert wurde (.,dizen que es corrompida"), ist die Meinung von weisen Frauen ausschlaggebend (P. III, 14, 8 und 13). 333 P. III, 13, 8 (lateinische Zusammenfassung des Textes in der Edition Lopez). 334 P. III, 13, 8, wo die Vermutung als .,grand sospecha" definiert wird. 328 329
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zug auf die Strafsachen wird schließlich bestimmt, daß nur vollständige Beweise zur Verhängung der ordentlichen Strafe führen können, eine strenge Auffassung, die auch ein Teil der Lehre vertreten wird336• Die kastilische Lehre wird das System der legalen Beweise ausführlich darstellen und die Lücken der Partidas, z. B. bezüglich der Definition und des Wertes des halben Beweises, mit Anleihen aus der Lehre des ius commune "ausfüllen"337 . In der Erörterung des legalen Beweissystems zitieren die kastilischen Juristen der Mitte des 16. Jahrhunderts (Lopez, Gomez) besonders oft Bartolus und Baldus, während diejenigen, die am Ende desselben Jahrhunderts schreiben, sich eher auf Clarus und Farinacius sowie auf die "erste Generation" der kastilischen Strafrechtslehre stützen. Schließlich werden die Autoren des 17. und des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich die Literatur der iberischen Halbinsel benutzen und die oben genannten Relativierungen des legalen Beweissystems einführen338 . Das betrifft insbesondere die Möglichkeit der Verhängung einer Verdachtsstrafe auf der Basis von nicht vollständigen Beweisen339• In die Richtung der "effizientistischen" Entwicklung des Strafrechtssystems deuten auch einige Gesetze, die dem Gericht die Möglichkeit geben, auf die ordentliche Strafe aufgrund unvollständiger Beweise zu erkennen, wenn es sich um schwerwiegende und schwer beweisbare Delikte handelt, und als vollen Beweis auch die Aussagen unglaubwürdiger Zeugen oder Personen zu betrachten, die vom Hörensagen berichten340. Im Rahmen des legalen Beweissystems akzeptiert schließlich das kastilische territoriale Recht das notorium, das auch die Lehre erwähnt. Das ist der Fall bei LoP. III, 13, 8. P. VII, I, 26; P. III, 14, 12; s. aus der Doktrin Lopez. Glossa Nr. 4, P. VII, I, 26; Gomez, Pars III, Cap. 12, Nr. 25, 27, S. 498 f. (eine Verdachtsstrafe ist zulässig, nur wenn die Person nicht gefoltert werden kann, und sie darf niemals eine körperliche Strafe sein); Perez Villamil, L. LXXVI, Nr. 17, S. 243; Castillo de Bovadilla, T. I, Lib. II, Cap. 20, Nr. 33, S. 643, der diese Notwendigkeit selbst in den summarisch entschiedenen Fällen sieht. 337 Die Kommentare von Lopez zu den Partidas zeigen, daß die kastilische Lehre die Diskussion der italienischen Lehre bezüglich der Beweisarten besonders gut kennt. Vgl. aus den kastilischen Autoren Cantera, Q. IV, Nr. 1-69, S. 270-334; De Ia Peiia, Parte II, S. 83v, 84v; Hevia Bolaflos, T. I, Parte III, § 15, Nr. 11, 14, S. 226 f.; s. auch die Hinw. unten Kap. B, IV,4. 338 Zum ausschließlichen Zitieren spanischer Autoren s. etwa Cayetano Sanz. 339 Villadiego, Cap. III, Nr. 269, 301, S. 45v-46 (wenn die Indizien und Vermutungen für die Anordnung der Folter ausreichen, dann darf der Richter davon absehen und eine poena extraordinaria anordnen - .,se ha de imponer pena arbitraria conforme a Ia culpa"). Quevedo y Hoyos zitiert Menochius und betrachtet als zulässig die Verurteilung zu einer gemäßigten Strafeaufgrund von unzweifelhaften Indizien (Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 9, Nr. 36-40, S. 44v -46). 340 s. die Gesetze aus den Jahren 1497 und 1598, die Ausnahmen bezüglich der Sodomie einführen: Novisima Recopilacion, 12, 30, 1-2 (C6digos espaiioles, Bd. 10); vgl. etwa Elizondo, Nr. 8, S. 270. 33s
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pez, der in der Partida I in bezug auf das kanonische Strafrecht den Begriff notorium erwähnt und in der Partida VII mehrmals die Zulässigkeil eines "außergerichtlichen" Vorgehens bei notorischen Delikten erwähnt {"non servatur ordo iuris"; "procedit judex extrajudicialiter" 341 ). Die meisten Autoren sprechen über das notorium facti, einige jedoch erwähnen auch das notorium iuris342 und praesumptionis343. Als Hauptelemente bzw. -konsequenzen des notorium betrachtet die Lehre die öffentliche Begehung einer Tat (vor dem Richter oder einer Mehrzahl von Personen) und die Möglichkeit einer amtlichen Verfolgung ohne Einhaltung der prozessualen Ordnung344• Allerdings mußte das notorium facti durch zwei Zeugen bewiesen werden, wobei allerdings Bovadilla behauptete, daß die Feststellung des notorium dem richterlichen Ermessen ("alvedrio")345 zu überlassen sei 346• Als Folge der Notorietät erwähnt schließlich die Lehre den Entzug des Appellationsrechts des Angeklagten 347 •
111. Die normative Regelung der strafprozessualen Folter Die Siete Partidas enthalten eine Reihe von Gesetzen, die detailliert die strafprozessuale Folter regeln und dabei die Normen des gemeinen Rechts berücksichtigen, die die Legisten und Kanonisten des 12. und 13. Jahrhunderts ausgearbeitet hatten. Die Bedeutung dieser Normensammlung spiegelt sich in der Tatsache wider, daß sie fast über fünfhundert Jahre in Kastilien Geltung hatte und ein wichtiger Bezugspunkt für die gelehrten Juristen blieb, selbst dann, als diese Juristen bestimmte Regelungen in Frage stellten und versuchten, sie an neue diskursive Kontexte anzupassen. 341 Als Beispiele einer Bestrafung ohne gerichtlichen Beweis und Einhaltung der prozessualen Ordnung erwähnt Lopez den notorischen Hochverrat und andere öffentliche Angriffe oder Beleidigungen der Obrigkeit (z. B. die bewaffnete Rebellion eines Barons gegen den König); Glossa Nr. 3, P. VII, 2, 4. 342 S. in bezug auf das Geständnis und das Gerichtsurteil als notorium iuris Castro, L. II, Cap. 15, C-D, S. 257v; Miranda, T. I, Q. 7, Art. 10, S. 278; Cantera, Q. I, Nr. I, S. 117. 343 Cantera, Q. II, Nr. 43-44, S. 198 f. 344 ,,Es, el que se comete ante el juez ( . . . ) 6 del numero de personas, que seg1ln Ia calidad del lugar, tiempo lo induzga arbitrio del juez, el qua! en el puede proceder de oficio, sin preceder acusador, ni acusaci6n, ni confesi6n del delinquente, ni otra solemnidad, ni orden de juicio", Hevia Bolafios, T. I, Parte 111, § 14, Nr. I, S. 222; vgl. Elizondo, Nr. 7, S. 259 ("en lo notorio el orden de proceder es no guardar el orden"); Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 10, Nr. 13, S. 50v; Miranda, T. II, Q. 19, Art. 12, Concl. I, S. 50 f. 345 Als Ermessen wird hier der bei den Autoren des ius commune übliche Ausdruck arbitrium (judicis) wiedergegeben, ohne somit eine Ähnlichkeit mit dem heutigen Begriff des Ermessens staatlicher Organe zu unterstellen. 346 Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 85, S. 555; Hevia Bolafios, T. I, Parte 111, § 14, Nr. I, S. 222. 347 s. etwa De la Pefia, Parte II, S. 95- 95v; Lopez. Glossa Nr. 10, P. 111, 23, 13; Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 80-86, S. 554-555.
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III. Die normative Regelung der strafprozessualen Folter
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1. Das legislative SchatTen Alfonsos X. Zuerst werden wir die Hauptpunkte der Diskussion um die Partidas und die anderen Normensammlungen, die aus der Zeit Alfonsos X. stammen, vorstellen. Das entspricht der Notwendigkeit, den Zeitpunkt und den Kontext aufzuzeigen, in denen die Folterung im 13. Jahrhundert in das königliche Recht Kastiliens eingeführt wird. Alfonso X. (1252-1284) wird gewöhnlich eine Reihe juristischer Werke zugeschrieben, die eine für ihre Zeit bemerkenswerte Qualität und Umfang haben. Unter ihnen befinden sich die Siete Partidas. Alfonso X. war ein Monarch mit solider Bildung, der in der Zeit der ersten Verbreitungswelle des gemeinen Rechts auf dem europäischen Kontinent lebte. Er zeigte ein tiefes Interesse für das Recht, und es wird behauptet, daß er nicht nur seinen Juristen die Gesetzesausarbeitung aufgetragen hat, sondern selbst an deren Ausarbeitung teilgenommen hat348• Es wird behauptet, daß Alfonso X. eine von seinem Vater begonnene juristische Normensammlung, den Setenario, vollendete und die schon erwähnten Gesetzessammlungen Especulo, Fuero Real und Partidas verfaßte 349. In der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts begann man in Spanien die Behauptungen zu hinterfragen, die bis dato über das juristische Schaffen dieses Königs gemacht worden waren. Nach Garcia Gallo wurden die Siete Partidas nicht während der Regierungszeit Alfonso X. verfaßt, sondern erst Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts. Garcia Gallo behauptet weiter, daß die Gesetzessammlungen Fuero Real, Especulo und Partidas, Überarbeitungen eines einzigen Textes sind, dessen Urheberschaft und Inhalt stark umstritten bleibe50• Diese Thesen sind in der spanischen Rechtsgeschichte auf Widerspruch gestoßen351. Es wird nämlich behauptet, daß sie auf einer falschen Datierung der Quel348 Lehrer des Monarchen war der Rechtsgelehrte Jacobo de Junta (,)acobo de las Leyes"), der ihm den Traktat ,,Flores de las Leyes" widmete (Gonza/ez Jimenez. S. 18). Zur Frage der Anteilnahme Alfonsos X. an der Redaktion juristischer und nicht juristischer Werke seiner Zeit s. Sanchez, S. 79; Gan:ia Gallo, EI "libro de las Leyes", S. 424 ff. 349 Alfonso X. werden auch folgende Werke zugerechnet: Fuero Real, Leyes de Estilo, Leyes Nuevas, Leyes para Adelantados Mayores, Ordenamiento de las Tafurerias (Sanchez, S. 82; Lalinde Abadia, Iniciaci6n hist6rica, S. 203 ff.; Craddock, Legislative Works, passim; Escudero, S. 442). Jso s. die Arbeiten von Gan:ia Gallo: EI "libro de las leyes"; Nuevas observaciones; Obra legislativa. Nach Garcia Gallo war der Especulo das erste Werk Alfonsos X.• während den kastilischen Städten seit 1255 der Especulo - und nicht, wie allgemein behauptet wird, der Fuero Real - verliehen wäre. Der Fuero Real sei ein späteres Werk, das den Especulo als Normensammlung ersetzt. Was die Partidas betrifft, behauptet Garcia Gallo, daß sie eine neuereVersiondes Especulo seien, die zwischen Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts, d. h. nach dem Tode Alfonsos X., redigiert wäre. Unbekannte Juristen hätten die Partidas nach der "antialfonsinischen Reaktion" von 1272-1274 redigiert, um politisch umstrittene Punkte des Especulo zu beseitigen. JSI s. z. 8. die Kritik an der Datierung Garcia Gallos in Craddock, Cronologia, passim. Andere Autoren bezweifeln, daß der Especulo vor dem Fuero Real verfaßt wurde (s. Jglesia Ferreir6s, Creaci6n del derecho, S. 21 ff.).
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
len und ihrer Urheberschaft basieren352, während andere Historiker auf der Autorenschaft Alfonsos X. bestehen und behaupten, daß Alfonso ein Kaiserreich griinden wollte, so daß er auch legislative Texte universellen Charakters verfaßte 353 • Auf alle Fälle gibt es in der spanischen Rechtsgeschichte keinen Konsens zu diesem Thema354 • Unbestritten ist nur, daß die Siete Partidas der wichtigste Gradmesser des Rezeptionsprozesses des römisch-kanonischen und des feudalen Rechts sind355 • Das Ende der Ausarbeitung der Siete Partidas pflegt man zwischen 1263 und 1265 anzugeben 356• 1491 und 1555 wurden die ersten Ausgaben der Siete Partidas gedrucke57 . Wie bereits erwähnt, traten die Partidas 1348 offiziell in Kraft, als der Ordenamiento de Alcahi sie an die dritte Stelle in der Rechtsquellenhierarchie für das Königreich setzte. Die aus sieben Teilen bestehenden Partidas bestimmen die Rechtsquellen, regeln Probleme der politischen und kirchlichen Organisation, FraArias Honet, passim. s. die Arbeiten von lglesia Ferreir6s: Alfonso X el Sabio, passim; Fuero Real y Especulo, passim; Creaci6n del derecho, S. 31 ff., wonach Alfonso X. vor allem ,,Recht schaffen" wollte, um sein Königreich durch eine kontrollierte Verbreitung des ius commune juristisch zu vereinheitlichen. 354 Zu den unterschiedlichen Meinungen der spanischen Rechtsgeschichte bezüglich der Datierung und der Urheberschaft der Partidas, s. Tomas y Valiente, Manual, S. 237 ff.; Scheppach, S. 43 ff. 355 Neben juristischen Quellen (corpus iuris civilis, Werke der Romanisten und der Kanonisten) beziehen sich die Partidas auf die Bibel, die Schriften der Kirchenväter und die griechischen und römischen Philosophen. Dazu Lalinde Abad{a, Iniciaci6n hist6rica, S. 203 ff.; ders., Derecho, S. 113; Scheppach, S. 45 ff. 356 Sanchez. S. 82. Vgl. neulich lglesia Ferreir6s, Creaci6n del derecho, S. 31; Tonuis y Valiente, Manual, S. 237. 357 Die erste gedruckte Auflage der Partidas erfolgte im Jahre 1491 und wurde von Alonso Diaz de Montalvo betreut; die zweite im Jahre 1555, herausgegeben von Gregorio Lopez. Zweck dieser Auflagen war es, der Rechtspraxis einen leicht zugänglichen Text zur Verfügung zu stellen unter Verwendung von Manuskripten aus dem 14. Jahrhundert. Die Herausgeber wollten nämlich die Rechtspraxis erleichtern und interessierten sich nicht für die Herstellung einer "authentischen" Version. Eine dritte Auflage unter Verwendung von älteren Manuskripten, die jedoch weitgehend auf der Edition Lopez basierte, hat die spanische Academia de Historia im Jahre 1807 veröffentlicht. Zu diesen Auflagen s. Garda Gallo, EI "libro de las Leyes", S. 350 ff. ; Scheppach, S. 50 ff. Die Auflage Lopez, die von besonders kenntnisreichen Kommentierungen des Textes begleitet wird, setzte sich in der kastilischen Rechtspraxisabsolut durch und erschien bis 1885 in sechzehn Auflagen (Scheppach, S. 59; Ross, S. 391). Da sie höchstwahrscheinlich nicht nur von den Juristen der Praxis, sondern auch von der hier kommentierten Rechtslehre verwendet wurde, wird sie im folgenden, wenn nicht anders vermerkt, als Grundlage für die Zitierung der Partidas benutzt. Sie ist nämlich die einzige entwicklungsgeschichtlich "wahre" Version der Partidas, auch wenn sie keine "Originaltreue" garantiert (zur Unauffindbarkeil des Originals s. Tomds y Valiente, Manual, S. 237). Für einen Vergleich der Editionen der Partidas s. Garr:ia Gallo, EI "libro de las Leyes", passim; aus dem Vergleich ergibt sich allerdings, daß bezüglich der Bestimmungen zur Folterung keine bedeutende Abweichungen zwischen den bekannten Manuskripten und den drei Haupteditionen bestehen. 352 353
III. Die nonnative Regelung der strafprozessualen Folter
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gen der Gerichtsverfassung und des Strafprozesses und enthalten zivil- und strafrechtliche Nonnen358 • Die Mehrheit der Regelungen zum Strafrecht sind im siebten Teil aufzufinden.
2. Folter im Lokal- und Territorialrecht vor den Partidas Die verschiedenen mittelalterlichen Fassungen des lokalen Gewohnheitsrechts in Kastilien und Le6n erwähnen nicht das Institut der Folter359. Die erste Regelung wurde mit dem Fuero Juzgo im 13. Jahrhundert eingeführt360. Wir haben bereits gesehen, daß diese Nonnensammlung nicht dem Gesetzeswerk Alfonsos X. im Kontext der Rezeption des gemeinen Rechts gehört, sondern eine kastilische Version des Liber Judiciorum ist, die König Fernando III. als Gemeinderecht in bestimmten Regionen verliehen hat. Der erste Text von Alfonso X. und seinen in Bologna ausgebildeten Juristen, der die strafprozessuale Folter regelte, war das Esptkulo 361 • Im Especulo wird die strafprozessuale Folter für servi in Eigenschaft als Zeugen und für den freien Mann als Angeklagten erwähnt, wenn er schlechten Rufes ist oder gegen ihn Schuldindizien vorliegen 362• Die Zulassung der Folterung des servi im Especulo wurde wahrscheinlich durch den Fuero Juzgo angeregt, während die Folterung des freien Mannes vom gemeinen Recht stammen soll. Auf alle Fälle erfuhr die Folter im Especulo keine systematische Regelung, und dasselbe gilt für andere Nonnensammlungen aus der Zeit Alfonsos X., wo die Folter erwähnt wird363 • So bilden die Siete Partis. die ausführliche Darstellung in Scheppach, S. 67- 189. Weder die Fueros brevesnoch ihre elaborierten Versionen, die Fueros extensos des 12. und 13. Jahrhunderts, enthalten Hinweise auf die Folter. Dasselbe gilt für die späteren Fueros genera/es (Ordenamientos de Najera, Libro de los Fueros de Castilla, Fuero Viejo de Castilla). Dazu Martfnez Dfez, Tortura, S. 249 f.; Gibert, S. 45 f. ; Fiorelli, Bd. I, S. 100. 360 Unter den Bestimmungen des Buches VI des Fuero Juzgo "De los malfechos, et de las penas, et de los tonnentos", Titel I "De los que acusan los malfechores" s. die Gesetze II ("Por quales cosas 6 en qua! manera los omnes libres deven seer tonnentados"), IV ("Por quales cosas 6 en qua) manera los siervos deven seer tonnentados contra los sennores") und V (,,Por quales cosas 6 en qual manera el omne franqueado seia tonnentado"), in: Fuero Juzgo en Latin y Castellano, S. 99 ff.; dazu aus der deutschen Literatur Rauchhaupt, S. 40, 45. 361 Zu den Manuskripten und den Editionen des Especulo sowie sämtlicher Werke, die Alfonso X. zugerechnet werden, s. Craddock, Legislative Works, passim. 362 s. die Gesetze 4, 7, I; 4, 7, 3; 4, 3, 5; 3, 16, 1, in: C6digos espafioles, Bd. 6; dazu s. auch Mart{nez D{ez, Tortura, S. 250 ff. 363 Die Folter wird geregelt auch in dem fünften Gesetz der ,,Leyes de los Adelantados mayores" (in: C6digos espafioles, Bd. 6, S. 217-219), wo eine dem Especulo ähnliche Regelung bezüglich der Folterung des freien Mannes getroffen wird. Anders als im Especulo werden aber dabei als Voraussetzung der Folter der schlechte Ruf und die Schuldindizien additiv (und nicht disjunktiv) festgelegt. Vgl. Martfnez D{ez. Tortura, S. 252. Schließlich finden sich einige Referenzen untergeordneter Bedeutung in den "Leyes del Estilo" (ebda, S. 252 f.). 358 359
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
das den ersten Gesetzeskörper, der auf der iberischen Halbinsel eine detaillierte Regelung der strafprozessualen Folter enthält.
3. Die Regelung der Folter in den Partidas Das Institut der strafprozessualen Folter wird hauptsächlich im Titel 30 des siebten Teils der Partidas geregelt, wo ihr neun Gesetze gewidmet sind. Andere Gesetze dieses wenig systematischen Werkes enthalten ebenso Bestimmungen, die Aspekte der Folterung betreffen364 . Die Partidas behandeln die zentralen Punkte der Folterung, die die Rechtsgelehrten des gemeinen Rechts und die italienische Gesetzgebung bearbeitet hatten: Definition der Folter, legale Voraussetzungen der Folterung, Berufungsmöglichkeiten, Folterinstrumente und -verfahren, Ratifikation des erpreßten Geständnisses, Wiederholung der Folter, Reinigungseffekt, Unterscheidung zwischen Folterung des Angeklagten und des Zeugen. a) Definition der Folter
Als Ausgangspunkt nehmen wir die Präambel des Titels 30 der siebten Partida, wo die Notwendigkeit der strafprozessualen Folter dargelegt wird. Die "antiken Weisen" (sabios antigos) haben die Folterung vorgeschlagen, um Delikte zu entdecken, die durch andere Mittel nicht bewiesen werden könnten 365 . Der Ausdruck .,antike Weise" wird im Sinne der Anerkennung des römischen Rechts als Autorität verwendet und kann als Lobpreisung der Arbeit der römischen Rechtsgelehrten interpretiert werden366, die die große Nützlichkeit der Folter innerhalb eines Justizsystems, das auf die Sicherung der Interessen der Obrigkeit abzielte, erkannten. Auch die Rechtfertigung der Folter durch die Wahrheitstindung hat ihren Ursprung im römischen Rechr367, und wird von den Juristen des ius commune häufig wiederhole68. 364 Es handelt sich insbesondere um folgende Gesetze: li, 9, 20; li, 21, 24; III, 11, 10; III, 13, 3; III, 13, 5; III, 16, 8; III, 16, 13; III, 16, 42; III, 23, 13; VII, 1, 19; VII, 1, 26; VII, 14, 26; VII, 29, 7; VII, 31, 7. J6S "Cometen los omes a fazer grandes yerros, e malos encubiertamente, de manera que no pueden ser sabidos, ni provados. E porende tovieron por bien los sabios antigos que fizessen tormentar a los omes, porque pudiessen saber Ia verdad ende dellos" P. VII, 30, Präambel. 366 Mart{nez. Diez, Tortura, S. 254. Derselbe Ausdruck findet sich in der P. III, 14, 12 bezüglich der Notwendigkeit "klarer Beweise" und in der P. III, 17, Präambel bezüglich des inquisitorischen Prozesses. 367 Ulpian, D. 47, 10, 15, 41: ...Quaestionem' intelligere debemus tormenta et corporis dolorem ad eruendam veritatem. nuda ergo interrogatio uelleuis territio non pertinet ad hoc edictum"; vgl. folgende in den Digesten enthaltene Definition, die auch die Regeln der Subsidiarität und des Foltergebrauchs nur bei schwerwiegenden Verbrechen enthält: ,,Edictum diui Augusti ( ... ) in hunc modum exstat: ,Questiones neque semper in omni causa et persona desiderari debere arbitror, et, cum capitalia et atrociora maleficia non aliter explorari et
III. Die nonnative Regelung der strafprozessualen Folter
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Die Partidas legen Regeln fest, um zur Wahrheitsfindung zu gelangen, und die Folter wird als eine der Arten der "conocencia" im Strafprozeß betrachtet. Unter "conocencia" verstehen die Partidas das Geständnis, das, wie bereits erwähnt, als vollständiger Beweis gale69 • Drei Formen des Geständnisses werden in den Partidas erwähnt: das gerichtliche, das außergerichtliche und das unter Folter erpreßte370. Trotz der Zulassung der Folter zum Erlangen des Geständnisses betrachten die Partidas nur das spontane Geständnis als gültig371 . So wird die Ratifikation als Mittel der "Bekräftigung" des erzwungenen Geständnisses verlange72• Die Definition der Folterung wird im ersten Gesetz des Titels 30 vorgestellt, wo die Ausführungen der Präambel bezüglich der Wahrheitsfindung wiederholt werden. Dabei wird klargestellt, daß die Folter ein ,,Beweismittel" ist, das streng subsidiär einzusetzen sei373 . Das bedeutet, daß seine Anwendung nur erlaubt war, wenn alle anderen Beweismöglichkeiten des Prozesses ausgeschöpft waren und sich als ungenügend für die Aufklärung der Deliktumstände und der Täterschaft bzw. für die Entlastung des Angeklagten erwiesen hatten. Aus prozessualer Sicht betrachten die Partidas die Folterung als letztes verfügbares Mittel, um einen vollständigen Beweis herbeizuführen 374. Aus diesem Grund war ihre Anwendung in der summarischen Phase des Prozesses sowie allgemein vor dem Abschluß der Beweisermittlung nicht zulässig375 .
inuestigari possunt quam per seruorum quaestiones, efficacissimas eas esse ad requirendam ueritatem'" (D. 48. 18. 8). 368 s. etwa Bruni: "quaestio est inquisitio veritatis per tonnenta ( ... ). Et dicitur quaestio a quaerendo, vel inquirendo, quia per eam inquiritur seu quaeritur veritas negotii de quo disputatur, & ad illuminandum veritatem fieri debet & non aliter", Pars II, Q. I, Nr. I -2, S. 251. 369 P. III, 13, 2. In der lateinischen Zusammenfassung der Gesetzte der Partidas in der Edition Lopez wird die .,conocencia" immer als .,Confessio" wiedergegeben (z. B. P. III, 13, 1). 370 P. III, 13, 3. 371 P. III, 13, 4 ( ..se haga de su grado, e non por premia"), wo auch weitere Bedingungen der Gültigkeit des Geständnisses gestellt werden (Bestimmtheit und Deutlichkeit, Ablegung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens, keine natürlich oder juristisch unmögliche Aussage usw.). 372 P. III, 13, 5. 373 .,Tonnento es una manera de prueva que fallaron los que fueron amadores de Ia justicia para escodriiiar, e saber Ia verdad por el, de los malos fechos que se fazen encubiertamente, e non pueden ser sabidos, nin provados por otra manera", P. VII, 30, 1. 374 P. VII, 1, 26: ,,E si las pruebas que fuesen dadas contra el acusado, non dixessen, e testiguassen claramente el yerro sobre que fue fecha Ia acusaci6n ( ... ). E si por aventura fuese ome mal enfamado, otrosi por las pruebas fallase algunas presumpciones contra el, bien lo pueda estonce fazer atonnentar, de manera que pueda saber Ia verdad del." 375 P. VII, 1, 26. Die Unzulässigkeil der Folterung am Beginn des Prozesses wird auf Augustus zurückgeführt: .,non esse a tonnentis incipiendum et diuus Augustus constituit" (Ulpian, D. 48, 18, 1, I; s. auch D. 48, 18, 20). Dieses Prinzip wird von den Autoren des ius commune oft wiederholt; s. Fiorelli, Tortura, Bd. Il, S. 3. 7 Sabadell
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8. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
b) Foltervoraussetzungen Die Partidas beschrieben detailliert die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um den Gebrauch der Folter zu genehmigen. Es gab eine sachliche Voraussetzung, eine Beweisvoraussetzung, zwei formelle und eine "negative" Bedingung persönlichen Charakters. Die P. VII, l, 26 erlaubt die Folterung nur bei Delikten, die mit Lebens- oder Leibstrafe geahndet wurden. Wie bereits erwähnt, sah eine andere Bestimmung vor, daß nach der Anwendung der Folter im Rahmen eines akkusatorischen Prozesses eine Rücknahme der Anklage nur mit Einwilligung des Angeklagten möglich war. Die Schwere der Folter macht es erforderlich, daß der Ankläger den Prozeß fortführt und das Risiko der Talionsstrafe auf sich nimmt376• Diese beide Bestimmungen haben ihre Logik. Da die Tortur ein körperliches Leiden bedeutet, geht die erste Bestimmung davon aus, daß der Druck zur Erpressung einer Aussage nicht "schlimmer" als die angedrohte Strafe sein dürfe377; die zweite Bestimmung versucht ein mißbräuchliches Verhalten zu beschränken und führt eine minimale Garantie für den Angeklagten ein. Die Beweisvoraussetzung ist mit der Regel der Subsidiarität verbunden; sie verlangt, daß vor Anwendung der Folter Schuldindizien vorliegen sollen, die jedoch für die Verurteilung nicht ausreichend sind. Die Mehrzahl der Gesetze spricht allgemein vom Vorhandensein von Vermutungen und starken Verdachtsmomenten 378• Die P. VII, 30, 3 sieht allerdings konkret vor, daß die Folter nur erlaubt ist, wenn ein Zeuge mit gutem Leumund gegen den Angeklagten aussagt, oder wenn der Verdächtige durch Gerüchte mit der Begehung des Delikts belastet ist und es sich um eine Person schlechten Rufes oder niedrigen Standes handeJe79• Es wurde behauptet, daß die "Vermutungen" und die "Verdachtsmomente", die als allgemeine Voraussetzungen der Folterung verlangt werden, nur durch die öffentliche "Diffamation" oder durch einen glaubwürdigen Zeugen belegt werden können, wie es die P. VII, 30, 3 vorschreibe80• Wenn jedoch alle Verweise auf die 376 P. VII, I, 19. Mit der fortschreitenden Durchsetzung des inquisitorischen Prozesses hat diese Regel ihre praktische Bedeutung verloren, und aus diesem Grund wird sie von den hier kommentierten Autoren aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert nicht erwähnt. 377 Dies geht aus der P. VII, I, 26 hervor; vgl. dazu Alonso Romero, S. 247. 378 P. VII, I, 26; P. VII, 31, 7; P. VII, 30, 2. 379 Andere Gesetze insistieren auf dem schlechten Ruf oder dem niedrigen Stand des Angeklagten als Foltervoraussetzung bzw. -grund: ,,Et si las pruebas que fuesen dadas contra el acusado non dixiesen nin testiguasen claramente el yerro sobre que fue fecha Ia acusaci6n, et el acusado fuese ome de buena fama, debelo el judgador quitar por sentencia. Et si por aventura fuese ome mal enfamado, e otrosi por las pruebas fallase algunas presunciones contra el, bien Je puede estonce facer torrnentar, de manera que pueda saber Ia verdat del" (P. VII, 26, I); "ende si fuere home vil 6 de mala fama 6 sospechoso, que por tales seilales 6 una prueba que fuese sin sospecha que testiguase contra el, debiese seer metido torrnento" (P. III, II, I 0). 380 Alonso Romero, S. 247.
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III. Die nonnative Regelung der strafprozessualen Folter
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inditia ad torturam in den Partidas in Betracht gezogen werden, dann sticht die eindeutige Intention hervor, die Konkretisierung der zur Folterung ausreichenden Beweiselemente dem Ermessen des Richters zu überlassen, wobei die Konkretisierung der P. Vll, 30, 3 nur Beispielswert hat. Zwei weitere Voraussetzungen sind formalen Charakters. Es handelt sich um die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Anordnung des Richters, der die Folterung genehmige81, und die Respektierung des Berufungsrechts des Angeklagten 382. Bezüglich der richterlichen Verfugung wird behauptet, daß die Partidas solche Regeln vor dem Hintergrund eines maßlosen Gebrauchs der strafprozessualen Folter aufstellen, um ihre Verwendung zu begrenzen; mehrere Akten der kastilischen Cortes vor der gesetzlichen Regelung dieses Bereiches zeugen nämlich von einem übermäßigen Gebrauch der Folter383. Bezüglich der zweiten Voraussetzung soll bemerkt werden, daß die Folteranordnung das einzige Interlokut ist, wo immer eine Berufung, und zwar mit aufschiebenden Wirkung, zugelassen wird. Dieses Recht war auch die einzige legale Garantie, die dem Angeklagten eingeräumt wurde, um möglichen Mißbräuchen durch die Richter während des Prozesses zu begegnen384. Die letzte Voraussetzung bezieht sich auf den Personenkreis, der aufgrund von Privilegien oder kategoriebezogenen Ausnahmen nicht gefoltert werden kann. Die Privilegien sind nichts anderes als die Konsequenz der hierarchischen Gesellschaftsstruktur und beziehen sich auf den hohen Rang des Angeklagten (Adligen, milites) oder auf die Ausübung bestimmter Berufe: Rechtsgelehrte, ,,Meister" anderer Wissenszweige und königliche Berater. Die berufsbedingten Privilegien dehnten sich auch auf die Nachkommen aus, wenn es sich um Personen mit guten Leumund handelte. Die Privilegien der milites waren allerdings relativ, da im Fall der Majestätsbeleidigung ihre Folterung erlaubt war. Ein königlicher Berater konnte gefoltert werden, wenn er wegen Mißbrauchs des Amts des Schriftführers angeklagt war385 . Die Ausnahmen hängen dagegen vom physischen Zustand des Angeklagten im Moment einer eventuellen Folteranordnung ab. So durften Schwangere, Minderjährige unter 14 Jahren und Greise keiner Folterung unterworfen werden386.
P. VII, 30, 2. P. III, 23, 13. "de otro mandamiento 6 juicio que ficiese el judgador andando por el pleito ante que diese sentencia definitiva sobre el principal, non se puede nin debe ninguno alzar, fueras ende quando el judgador mandase por juicio dar tonnento a alguno tuerto por raz6n de saber Ia verdad de alg6n yerro 6 de algun pleyto que era movido antel". 383 Alonso Romero, S. 70 f. 384 Ebda, S. 248. 385 Zu diesen Privilegien und zu ihrer Relativierung s. P. II, 21, 24; VII, 30, 2. 386 P. VII, 30, 2. Die Ausnahme der Jugendlichen unter 14 Jahren und der Schwangeren sind in den Digesten erwähnt: D. 48. 18. 10; D. 48. 19. 3. 381
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
c) Folterarten und -verfahren
Was die Folterungsarten angeht bemerken die Partidas, daß es verschiedene gibt, verzeichnen jedoch nur zwei, die als gebräuchlichste erachtet werden: das Auspeitschen und das Aufziehen des Inquisiten mit einer Seilzugvorrichtung, wobei ein Gewicht angehängt wird387. In einer anderen Bestimmung macht der Gesetzgeber darauf aufmerksam, daß während der Folterung dem Angeklagten keine tödlichen Verletzungen beigebracht werden dürfen 388. Wenn der Richter mit unerlaubten Mitteln oder aus illegalen Gründen (persönliche Feindschaft, Bestechung usw.) foltert und der Angeklagte dabei stirbt oder amputiert wird, dann ist der Richter mit einer Strafe zu ahnden, die dem Schaden des Gefolterten ähnlich ist oder ihn übertrifft389. Die Partidas stellen eine detaillierte Verfahrensregelung dar, die bei der Folterung zu befolgen ist. Die Folter soll an einem abgelegenen Ort durchgeführt werden, im Beisein des Richters und des Schriftführers, der die Pflicht hatte, die ganze Folterungssitzung für die Prozeßakten niederzuschreiben, so daß der Angeklagte sein Geständnis nicht nachträglich bezweifeln kann390. Der Richter spielt eine besonders wichtige Rolle während der Folterung, da er nicht nur die Sitzung leitet, sondern auch die Vernehmung persönlich durchführen muß391 . Die Partidas geben sehr sorgfältig die Art und Weise an, wie die Vernehmung durchgeführt werden sollte und verfügen eine besondere Zurückhaltung des Richters, der suggestive Fragen streng zu vermeiden hae92• Sollten mehrere Angeklagte wegen des gleichen Verbrechens peinlich befragt werden, dann wurde die Reihe der Befragung mit dem Ziel festgelegt, die Wahrheit mit der höchstmöglichen .,Ökonomie" beim Gebrauch der Folter zu ermitteln. Das kann aus dem Ge387 ,,La una se faze con feridas de a~otes. La otra es colgando al ome que quieren tormentar de los bra~os, e cargandole las espaldas, e las piernas, de lorigas, o de otra cosa pesada", P. vn. 30, 1. 388 P. VII, 30, 5. 389 ,,E sin algun judgador atormentasse alglin ome, si non en Ia manera que mandan las leyes deste nuestro Libro, o si lo metiesse maliciosamente a tormento por enemistad que aya contra el, o por don, o por cierto, que den aquellos que lo fizieren prender o por otra raz6n qualquier, si del tormento muriese, o perdiere miembro por las feridas, deve el judgador que lo mando atormentar recibir otra pena tal como aquella que fizo dar a aquel, o mayor, catando Ia persona que fue assi atormentada, e Ia del judgador que lo mando assi fazer" P. VII, 30, 4. 390 P. II, 9, 20. 391 P. VII, 30, 3. Für Kriminalsachen, die in die Zuständigkeit der Hofrichter gehörten, wurde die Folter von dem ,,Alguazil" durchgeführt (P. II, 9, 20). Zu den Alguaziles, die allgemein mit dem Vollzug der Verfügungen und der Urteile der Alcaldes beauftragt waren, s. Gonzalez DavikJ, S. 404. 392 ,,Preguntando el Juez por si mismo en esta manera al que metieren en tormento: Tu, fulano, sabes alguna cosa de Ia muerte de fulano? Agora di lo que sabes, e non temas, que non te faran ninguna cosa, si non derecho. E non deve preguntar, si lo mato el, nin seiialar a otro ninguno por su nome por quie preguntasse, ca tal pregunta como esta non seria buena, porque podria acaescer que Je daria carrera para dezir mentira", P. VII, 30, 3.
111. Die nonnative Regelung der strafprozessualen Folter
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setzestext geschlossen werden, wo angegeben wird, daß die Foltersitzung mit dem jüngsten Angeklagten beginnen sollte oder mit dem am lasterhaftesten erzogenen, der vermutlich auch die kleinste Resistenz gegen Schmerz zeigen würde. Man sollte sie getrennt foltern, um die Kommunikation zwischen ihnen zu verhindern393.
d) Reinigungseffekte der Folter Wenn der Angeklagte sich weigerte, die ihm zur Last gelegte Tat während der Foltersitzung zu gestehen, dann war er freizusprechen 394 . Hiermit übernahmen die Partidas die gemeinrechtliche Lehre von der Reinigungswirkung der "negativen" Folter, die sämtliche Schuldindizien vernichtete. Das erpreßte Geständnis bildete zwar die Grundlage einer Verurteilung, war jedoch dazu nicht ausreichend. Ein Geständnis unter Schmerzen implizierte nicht, daß die Aussage glaubwürdig war und so konnte ihm nicht ohne weiteres ein "voller" Beweiswert zugemessen werden. Es war deshalb notwendig, daß dieses Geständnis am nächstfolgenden Tag ratifiziert wurde. Die Partidas gaben eine detaillierte Orientierung zu diesem Vorgehen: Die Bestätigung war außerhalb der Folterkammer einzuholen und der Richter, ohne daß er auf den Inhalt des Geständnisses einging, erinnerte den Angeklagten, daß er unter Folter gestanden hatte und er jetzt, nachdem er frei von Folter war, die "Wahrheit" sagen sollte395 . Die Partidas sind das erste europäische Gesetzeswerk, das die Notwendigkeit der Ratifikation ausdrücklich regelt, obwohl auch in diesem Punkt die "Vorarbeit" der Glossatoren ausschlaggebend war396. Der Gesetzgeber betrachtete die Ratifizierung des Geständnisses des gefolterten Angeklagten als besonders wichtig, da er in anderen Bestimmungen der Partidas auf ihrer Erfüllung bestand397. Wenn der gefolterte Angeklagte sich weigerte, das Geständnis zu ratifizieren, konnte er sogar freigesprochen werden, je nach dem, welche Motive er dafür vorgab398. Diese Möglichkeit des Freispruchs war der Übernahme der oben erwähnten Regel von der Reinigungswirkung der "negativen" Folter aus dem gemeinen Recht zuzuschreiben. Der Freispruch bei Nicht-Ratifizierung war jedoch nicht automatisch. In solchen Fällen sahen die Partidas die Möglichkeit vor, die strafprozessuale 393 394 395
P. VII, 30, 5. P VII, I, 26; P. VII, 30, 4. P. VII, 30, 4.
Dazu Fiorelli, Tortura, Bd. II, S. 107 ff. P. III, 13, 4; P. III, 13, 5; P. VII, 29, 7. 398 P. VII, 30, 4: "Pero si en ante que fagan Justicia del fallare el judgador en verdad que lo que conoscia non era assi: mas que lo dixo con medo de las feridas, o con despecho que avia porque Je ferian, o por locura, o por otra razon semejante destas, develo quitar ( ... ) e si estonce non conosciesse el yerro, devele el judgador dar por quito, porque Ia conoscencia que fue fecha en el tonnento, si non fuere confinnada despues sin premia, no es valedera." 396
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
Folter bis zu zweimal zu wiederholen bei Delikten wie Hochverrat, Falschmünzerei, Raub oder Diebstahl399•
e) Folterung von Zeugen und Sklaven Außer der Tortur des Angeklagten regelten die Partidas zwei weitere Modalitäten der Folterung: die der Zeugen und die der servi. Der Tradition des ius commune folgend, besaß die Zeugenaussage große Bedeutung, bis zu dem Punkt, daß sie als der wichtigste Beweis nach dem Geständnis betrachtetet wurde400• Der Zeugenbeweis hatte allerdings volle Gültigkeit, wenn es sich um einen Augenzeugen handelte, der die übrigen im Rahmen des gemeinen Rechts festgelegten Voraussetzungen des "klassischen" Zeugen erfüllte401 • Zur Zeugenfolterung kam es, wenn es Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit gab402 • Von dieser Regelung wurden ausgenommen die Verwandten des Angeklagten, die allgemein keine Verpflichtung hatten, gegen ihn Zeugnis abzulegen403 und erwartungsgemäß nicht durch Folterung zu einer solchen Aussage gezwungen werden sollten404 • Der Regelung der Zeugenfolterung unterlagen auch nicht Personengruppen, die die obengenannten Privilegien und Ausnahmen genossen405 • Die übrigen Zeugen waren, wie die Partidas selbst bestimmten, der Macht und dem Ermessen des Richters ausgeliefert ("llevo poderio"), ohne Möglichkeiten der Verteidigung zu haben. Ein Gesetz spezifiziert, für welche Art sich widersprechender Zeugen die Folterung angeordnet werden kann: für die "viles omes"406• An dieser Stelle weisen die Partidas einen Widerspruch auf, da die Gesetze 8 und 9 des Titels 30 des siebten Teils die Zeugenfolterung allgemein für Zeugen, die lügen oder deren Aussagen sich verändern, zulassen. Die Partidas sehen auch den speziellen Fall vor, bei dem der Zeuge immer der Folterung unterworfen wird, unabhängig davon, ob er lügt oder seine Aussagen änP. VII, 30, 4; vgl. P. VII, 29, 7. So die P. 111, 16, 1. 401 P. 111, 16, 28 und 32. 402 P. III, 16, 8: "Aducho seyendo algun ome para testigo delante el judgador para firmar sobre algun fecho, si el judgador entendiere, que anda desvariando en sus dichos e se mueve maliciosamente, para dezir mentira, desque entendiere esto, bien lo puede meter a tormento, porque diga Ia verdad, y que se non cambien della en ninguna manera". Auch hier ist die Folter als ein Mittel der Feststellung der Wahrheit dargestellt. 403 P. III, 16, Gesetze 8-10, 11, 15. 404 P. VII, 30, 9. 405 P. VII, 30, 8. 406 P. VII, 16, 42: "otorgamos por esta ley lleno poderio a los Judgadores que han poder fazer justicia, que quando entendieren, que los testigos que aduzen ante ellos, van desvariando sus palabras, e cambiandolas, si fueren viles omes aquellos que esto fizieren, que los puedan atormentar, de guisa que puedan sacar Ia verdad de ellos". 399
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III. Die normative Regelung der strafprozessualen Folter
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dert. Es handelt sich um Zeugen mit schlechtem Leumund, der im Normalfall nicht als einwandfreier, ,,klassischer" Zeuge betrachtet wird; er wird nur in Fällen des Hochverrats als Zeuge zugelassen, wobei jedoch seine Befragung unter Folterung erfolgt407 • Das Argument, das für die Rechtfertigung der Folterung der servi benutzt wurde, findet seinen Ursprung im römischen Recht408 • Die Dienerschaft oder der niedere soziale Stand wurde als Grund der peinlichen Befragung betrachtet, da es sich um Personen handelte, die keine Würde hatten, um ein freiwilliges und glaubwürdiges Zeugnis abzulegen. Die übernommene Alternative war die Akzeptanz dieser Zeugnisse, wenn sie unter der Folter abgegeben wurden409. In den Partidas wird- realistischerweise - angeführt, daß der servus eine "hoffnungslose" Person sei und als solche immer der Lüge verdächtig410 • Wer keine Rechte hat und nicht in die Gesellschaft "integriert" ist, kann sich mit dem herrschenden Wertsystem nicht identifizieren und wird von ihm als prinzipiell verdächtig betrachtet. Die Partidas legen fest, daß der servus nur ausnahmsweise Zeuge sein kann und sein Zeugnis immer unter Folter abzulegen hat411 • Die erste Ausnahme betrifft den Hochverrat und wird durch die Schwere des Verbrechens gerechtfertigt412 • Die zweite bezieht sich auf den Fall, bei dem die Aussage des servus gegen seinen Herrn erlaubt ist (Folter in caput domini)413 • Eine dritte Ausnahme tritt ein, wenn der Sklave als Zeuge aber auch als Verdächtiger vernommen wird (Folterung des häuslichen servus, wenn seine Herren oder ihre Kinder ermordet aufgefunden werden)414. f) Geschichtlich-juristische Bedeutung der Folterregelungen
in den Partidas
Zusammenfassend ist zu bemerken, daß im Rezeptionsprozeß des gemeinen Rechts Kastilien die strafprozessuale Tortur in einem Normkomplex akzeptiert, der P. 111, 16, 8. Die Digesten (22, 5, 21, 2) bestimmen, daß der harenarius sowie Personen ähnlichen Standes nur unter Folter als Zeuge gehört werden dürfen. 409 Fiorelli, Tortura, Bd. I, S. 13 f., 22 ff.; Peters, S. 20-22, 45. 410 P. 111, 16, 13: "E el tormento le deben dar por esta razon: porque los siervos son como omes desesperados, por Ia servidumbre en que estan. E deve todo ome sospechar que diran de ligero mentira, e que encubriran Ia verdad quando alguna prernia non les fuere fecha". 411 P. 111, 16, 13 ("debenlo tormentar quando dixiere el testimonio, preguntandole, e amonestando1e que diga Ia verdad del fecho"); vgl. P. VII, 30, 6. 412 P. III, 16, 13. 413 P. III, 16, 3; P. VII, 30, 6. Es handelt sich, neben dem Fall des Hochverrats, um die Delikte des Ehebruchs, der Betrugs gegen den König, des Mordversuchs und der Geldfälschung. 414 Dabei wird bestimmt, daß ein servus unter 14 Jahren keiner schweren Folter zu unterwerfen sei (P. VII, 30, 7). 407 408
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
darauf abzielt, sie nonnativ einzuschränken, d. h. das diesbezügliche ,,Ermessen" des Richters zu zähmen. Die Sorge um die Beschränkung +.rird durch die bereits erwähnte Regelung verständlich, daß für den Fall des Amtsmißbrauchs oder der Übertretung der durch das Gesetz festgelegten Grenzen Sanktionen gegen das richterliche Handeln vorgesehen werden. So versuchte der kastilische Gesetzgeber, konkrete Regelungen aufzustellen und den Bereich nicht offen zu lassen, wie es im Fürstentum Katalonien geschah. Durch die Rezeption römischer Regelungen und die Arbeit der italienischen Rechtsgelehrten wird versucht, eine höchstwahrscheinlich schon verbreitete Folterpraxis rechtlichen Regeln zu unterwerfen, also ,.wilde" Aspekte der Anwendung körperlicher Gewalt im Strafverfahren zu unterbinden und den Bereich durch konsistente Regelungen zu ,.verrechtlichen", die ihn auch rechtfertigen konnten415 • Deshalb bilden die Partidas eine wichtige Etappe für die Zulassung und Regelung des Folterinstituts in Kastilien in der Zeit vom 13. bis 18. Jahrhundert. Die Partidas sind darüber hinaus die wichtigste Gesetzgebung bezüglich der strafprozessualen Folter auf der iberischen Halbinsel416, die auch auf europäischer Ebene durch das Zitieren kastilischer Kommentatoren Bedeutung erlangen417 und in ganz besonderem Maße das Recht der spanischen Kolonien beeinflussen werden418 • Wenn wir von dieser Wertung ausgehen, wird es verständlich, daß die kastilische Lehre sich im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder auf diesen Gesetzestext bezieht, wenn es um das Thema der strafprozessualen Folter geht, und daß die Könige keinen besonderen Regelungsbedarf in diesem Bereich sahen. Die wenigen Normen, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bezüglich der Tortur in Kastilien erlassen werden, bringen praktisch keine nennenswerten Neuerungen.
4. Andere Bestimmungen des territorialen Rechts zu Folterfragen Wie wir bereits erwähnt haben, beginnt am Ende des 15. Jahrhunderts in der kastilischen Krone die emsige Phase der Kompilation von Nonnen, die sich in den m Dazu s. Fiorelli, Bd. I, S. 84 ff., 117 f., Anm. 10; Sbriccoli, "Tormentum", S. 20. In bezug auf Kastilien wird ähnliches unter Berufung auf die bereits erwähnten Akten der Cortes von Alonso Romero, S. 70 f. behauptet; vgl. auch Du Boys, S. 202. 416 Die Partidas wurden ins Katalanische (s. unten Kap. C, Anm. 179), ins Galizische (Garria Gallo, Manual, S. 400) sowie ins Portugiesische übersetzt. In Portugal galten sie seit Ende des 13. Jahrhunderts als subsidiäres Recht und prägten die erste Phase der Rezeption des gemeinen Rechts. Dazu s. Hespanha, Hist6ria das Institui~töes, S. 493. 417 s. z. B. Fiorelli, Tortura, Bd. I, S. 171 ff., der die Werke von Gomez, Quevedo y Hoyos und Matheu y Sanz als die in anderen europäischen Ländern zitierten kastilischen Kommentare anführt. 418 Perez Martin, Derecho comun, S. 84; Ross, S. 391.
Ill. Die nonnative Regelung der strafprozessualen Folter
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folgenden Jahrhunderten noch verstärkte419. 1567 wird die Nueva Recopilaci6n veröffentlicht. Die Verabschiedung territorialer Nonnen wird fortgesetzt und führt zu Projekten, eine andere Sammlung anzufertigen, die allerdings erst 1805 fertiggestellt wird420. Diese Kompilation ist als Novisima Recopilaci6n bekannt und enthält die neuen Nonnen sowie alle weiterhin geltenden Regelungen der Nueva Recopilaci6n. Die Gesetze, die das Thema der Folter behandeln und die in die Nueva Recopilaci6n übernommen wurden, fanden ausnahmslos in die Novfsima Recopilaci6n Eingang, d. h. sie galten in der gesamten hier untersuchten Periode. Es handelt sich um Gesetze, die zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert verabschiedet wurden. Wir finden drei Arten von Bestimmungen: Einige, die Nonnen für Bereiche aufstellen, die nicht in den Partidas geregelt waren bzw. Regelungen der Partidas konkretisieren, andere, die auf die Beachtung der in den Partidas aufgestellten Regelungen dringen, und schließlich königliche Entscheidungen, die die Anwendung der Folter gegen Mitglieder von Machtgruppen weiterhin einschränken. Die bedeutendste Bestimmung, die eine Neuerung einführt, stammt aus dem Jahre 1489 (Ordenanzas de Medina del Campo) und betrifft das Handeln der Alcaldes del Crimen in den Audiencias y Chancillerias von Valladolid und Granada. Es wird festgelegt, daß für die Verurteilung zum Tode, zu Körperstrafen, zur öffentlichen Peinigung sowie bei Folterinterlokuten die Zustimmung von drei Alcaldes notwendig ist. Sollte die Teilnahme von mindestens drei Alcaldes in der Abstimmung nicht möglich sein, dann mußte ein Zivilrichter (Oidor) sich daran beteiligen421. Diese Nonn zielte zwar auf die Regelung des Kriminalverfahrens der Chancillerfas; es ist jedoch offensichtlich, daß sie durch das Erfordernis der Zustimmung dreier Richter eine prozessuale Beschränkung auch bezüglich der Folter einführt, die für den Angeklagten Garantiewirkungen hatte. Die Ordenanzas reales de Castilla ("Ordenamiento de Montalvo") enthalten die Bestimmung, daß bei zivil- und strafrechtlichen Entscheidungen (lnterlokute und Endurteile) die Berufung innerhalb einer Frist von ftinf Tagen nach der Urteilsverkündung eingelegt werden muß422. Obwohl diese Bestimmung nicht ausdrücklich von der Tortur spricht, ist die Tatsache, daß eine Frist für die Appellation bezüglich Interlokuten in Kriminalsachen eingeführt wird, eine Präzisierung der Regelung der Appellation in den Partidas. Unter den Bestimmungen, die auf die Einhaltung der Regelungen bezüglich der Folter dringen, befinden sich an erster Stelle diejenigen, die auf die Privilegien des Adels eingehen. Es sind Bestimmungen, die verschiedene Male im Verlauf der
s. oben, Kap. 8, I, 2, b). Rauchluzupt, S. 196 ff.; Tomßs y Valiente, Manual, S. 397 f. 421 Ordenanzas de Medina von 1489, Cap. 5, Novlsima Recopilaci6n, 5, 12, I, in: C6digos espafioles, Bd. 8. 422 Ordenanzas reales de Castilla, 3, 16, I, in: C6digos espafioles, Bd. 6. 419
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
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Jahrhunderte bestätigt wurden. Die erste, die wir identifiziert haben, wurde 1348 in den Cortes de Alcala verabschiedet423 und war im Jahre 1545 Gegenstand einer Erneuerung: Sie mahnt die Respektierung der Privilegien der Hidalgos an, nicht gefoltert zu werden, und wird in den "Ordenamiento de Montalvo" und später in die Novisima Recopilacion aufgenommen424 • 1480 wurde an den Cortes de Toledo eine Nonn angenommen, die das Handeln der Richter de Casa y Corte und der Chancillerfa in Strafrechtsfällen betrifft. Es wird dazu ennahnt, die Folter nicht während der summarischen Phase des Prozesses anzuwenden und jedenfalls bevor dem Angeklagten das Recht auf Verteidigung eingeräumt worden sei425 • Eine Regelung aus der Ordenamiento de Alcala von 1348 erwähnt, daßtrotzdes allgemeinen Verbots der Appellation im Falle eines Zwischenurteils eine Berufung erlaubt werden solle, wenn das Urteil einen irreparablen Schaden erzeugt ("gravamen irreparable por Ia definitiva") und daß diese Regelung sowohl auf strafrechtliche als auch zivilrechtliche Prozesse Anwendung findet426 • Somit wird die Regelung der Partidas bekräftigt, die das Rechtsmittel der Appellation im Falle eines Folterinterlokuts zuläßt. Mitte des 16. Jahrhunderts wird nochmals auf das Respektieren der Privilegien des Adels eingegangen, da eine Anzeige die Nicht-Befolgung der diesbezüglichen Regelungen der Partidas beklagte (Anordnung der Folter gegen Adlige in "nicht besonders schwerwiegenden Fallen"). Dabei wird wiederholt, daß erstens die Folter bei allen Fällen und in sämtlichen Gerichten durch ein schriftlich verfaßtes und dem Angeklagten bekanntgegebenes Urteil und nicht durch bloße richterliche Verfügung angeordnet werden muß, zweitens das Appellationsrecht immer zu gewährleisten sei und drittens die Privilegien der Adligen unantastbar bleiben427 • Ordenanzas reales de Castiiia, 4, 2, 4 (ebda). Ordenanzas reales de Castilla, 4, 2, 4 (ebda); Novfsima Recopilaci6n, 6, 2, 2, in: C6digos espaiioles, Bd. 8; zu einer ähnlichen Bestimmung aus dem Jahre 1548 s. Mart{nez D{ez. Tortura, S. 264. 425 Ordenanzas reales de Castilla 3, 2, 10, in: Cooigos espaiioles, Bd. 6. 426 1, 13 der Ordenamiento de Alcahi, aufgenommen in: Novfsima Recopilaci6n, 11, 20, 23 (Cooigos espaiioles, Bd. 9). 427 ,,Los nuestros Alcaldes del Crimen de essa Audiencia [sc. Valladolid] ( ... ) quando mandan poner question de tormento, no dan sentencia ni Ia firman, porque no se pueda ver si son conformes 6 no, para que el condenado pueda suplicar, 6 alegar de su derecho; y que lo mismo se ha acostumbrado en todas las otras justicias, aunque sean de muerte, y que solamente dan un mandamiento para que el Alguacil execute, sin notificarlo al delinqüente, porque no apele; y que han atormentado a muchos hijos-dalgo, aunque no sean casos enormes: y porque esto es cosa muy grave, y contra todo el Derecho y leyes: mandamos, que sin embargo de qualquier costumbre y estilo, que en esto pretendan tener ellos y los pasados, en el proceder y determinar los negocios, asf civiles como criminales, guarden las leyes y ordenamientos de nuestros Reynos, y no excedan en ellos" Real Cedula von 1534, Novfsima Recopilaci6n, 5, 12, 13, in: C6digos espaiioles, Bd. 8. Zu einer Real Cedula ähnlichen Inhalts aus dem Jahre 1536, die die Audiencia von Granada betrifft, s. Alonso Romero, S. 249. 423
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III. Die normative Regelung der strafprozessualen Folter
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Eine Bestimmung aus dem Jahr 1480 zeigt uns, wie das Machtverhältnis zwischen den Adligen und dem König auf normativer Ebene zum Ausdruck kam. Es handelt sich um eine Norm, die auf das Einhalten der P. VII, 29, 4 und 6428 und P. VII, 30, 2429 dringt und bekräftigt, daß außer den gesetzlich vorgesehenen Fällen die Privilegien bezüglich der Folterung, der Verhaftung und der Beschlagnahme von Gütern zu respektieren seien; solche Privilegien seien vollkommen gerechtfertigt, da die Könige sich der "Hijosdalgo" immer "bedienen" und nur durch ihre Hilfe Territorien erobern konnten430• Ähnliche Bestimmungen wurden bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts erlassen. So wird im Jahr 1593 -auf Bitten der Cortes -darauf gedrängt, daß die bereits genannten Privilegien des Adelsstandes zu berücksichtigen seien, da es sich um Privilegien handele, die ursprünglich durch die Fueros verliehen wurden431 • Diese Mahnung wiederholt sich in den Jahren 1598 und 1604. Bei dieser Gelegenheit bemerken die Berater des Königs, daß die Richter jenen Regeln nicht folgen und jeder sie "nach seinem Gutdünken zermürbe". Aber im Jahre 1604 wird auch versucht, die Regelungen der Partidas im Sinne der Erweiterung der Privilegien der Adligen auszudehnen. Der König wird ersucht, daß "in keinem Fall noch Verbrechen, was es auch sei", ein Adliger gefoltert werden darf, und er billigt es432 • Solche Klagen bedeuten natürlich nicht, daß die Dinge in der Praxis so geschahen wie sie in den Petitionen der Adligen an den König beschrieben werden. Es ist nämlich zu fragen, ob die Darlegungen solcher Petitionen sowie der Tatsachenbehauptungen, die in normativen Texten enthalten sind, als eine zuverlässige Quelle für die damalige Rechtspraxis zu betrachten sind. Diese Quellen als Beweise für die wirklichen Geschehnisse zu betrachten könnte zu Irrtümern führen, wenn nicht klargeste"llt wird, unter welchen sozialen, institutionellen und politischen Bedingungen sie verfaßt wurden. Die erneute Verabschiedung einer Norm oder eine dies428 Diese Gesetze bestimmten, daß Adlige sowie Personen, die sich durch ihr Vermögen oder ihr Wissen besonderen Respekt verdienten, auf keinen Fall im gemeinen Gefängnis ("carcel", .,prision"), sondern höchstens an einem "sicheren Ort" einzusperren seien. 429 Dieses Gesetz verbot, wie bereits erwähnt, die Folterung der hohen Stände. 430 ,,Porque las leyes de suso contenidas son justas y razonables; y porque deben ser favorecidos los Hijosdalgo por los reyes, pues con ellos hacen sus conquistas, y deilos se sirven en tiempo de paz y de guerra, y por esta consideraci6n les fueron dados privilegios y libertades, especialmente por las leyes suso contenidas, las cuales confirmamos: mandamos, que los hijosdalgo no sean puestos a qüestion de tormento; ni les sean tomados por dendas sus arrnas ni caballos, ni sean presos por deudas" (Novfsima Recopilaci6n, 6, 2, 9, in: C6digos espaiioles, Bd. 8). 4Jt Novfsima Recopilaci6n, 6, 2, 13 (ebda). 432 Novfsima Recopilaci6n, 6, 2, 14 (ebda). Da der König diese Bitte mit der Bemerkung billigte, daß diese Regelung schon in der Gesetzgebung des Königreichs enthalten sei (,,mandamos alos de nuestro Consejo, que pues por leyes de nuestros Reynos esta provefdo y mandado, que esto se guarde inviolablemente, que den de nuevo provisiones, para que se observe y cumpla asf") behauptet Mart{nez D{ez. Tortura, S. 265, daß dadurch die Zulassung der Folterung der Adligen in Fällen der Majestätsbeleidigung (P. li, 21, 24) nicht angetastet wurde.
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
bezügliche Bitte der Cortes können höchstens als Indiz betrachtet werden, daß der Gesetzesinhalt nicht befolgt wurde, lassen aber keine beweiskräftigen Schlüsse zu. Es kann auch die Hypothese aufgestellt werden, daß der Adel die Strategie befolgte, immer wieder beim König auf die Berücksichtigung seiner Privilegien zu dringen, um seine Macht öffentlich zu bekräftigen, oder daß, vor dem Hintergrund der Verletzung der Vorrechte eines Adligen, die Vertreter dieses Standes die Gelegenheit ausnutzten, das Handeln der königlichen Justiz einzuschränken. Sich im Zusammenhang mit den Klassenprivilegien auf die Nichteinhaltung der prozessualen Regeln zu beziehen ist eine Strategie, die es erlaubt, die königliche Macht unter Druck zu setzen und sie zu beschränken. Dabei stellt sich die allgemeinere Frage der symbolischen Bedeutung der Wiederholung einer Norm. Der Inhalt einer Norm wird wiederholt nicht nur, um ihre Respektierung in der Praxis zu sichern. Von einem symbolischen Standpunkt aus erinnert der Hinweis auf Vorrechte an das Vorhandensein eines Paktes, der die gehobene soziale Stellung bestimmter Gruppen garantierte und den der König zu respektieren hatte. Solche Bekräftigungen in den Cortes funktionieren als ein Ritual der Beschränkung der königlichen Macht. Der König wird verpflichtet, seine ,,Abhängigkeit" von den Adligen aus gegebenem Anlaß anzuerkennen und seine eigene "Unterwerfung" unter die Prinzipien der rechtlichen und sozialen Ordnung einer hierarchisch aufgebauten Gesellschaft zu bestätigen. Allgemeiner ist daran zu erinnern, daß die Funktionen der rechtlichen Regelungen im Mittelalter und in der Neuzeit sich von der "modernen" Rechtserzeugung grundlegend unterscheiden. Es handelte sich nicht um die Verabschiedung von Normen, die ihre Geltung von einem politischen Willen bekamen und "selbstverständlich" galten, solange dieser Willen nicht ausdrücklich geändert wurde. Die Normkomplexe hatten die symbolisch-politische Bedeutung der Anerkennung der Bereitschaft des Herrschers, die göttliche und natürliche Ordnung zu respektieren. Das "gesetzte Recht" wurde als Widerspiegelung oder Objektivierung einer höheren Ordnung göttlichen Ursprungs empfunden, einer Ordnung, die die Menschen erkannten und formulierten. Die Gesetzgebung bedeutete die Anerkennung und Konkretisierung höherer und vorgegebener Imperative. Ihre Wiederholung wurde somit als eine Art "Bekenntnisakt" empfunden und hatte als solcher seinen Sinn. Bei der Erklärung der Wiederholungen bezüglich der Privilegien der Adligen muß also nicht nur ihre unmittelbare politische Funktion (Bekräftigung der Machtstellung der Adligen unter entsprechender Beschränkung der königlichen Justiz), sondern auch eine scheinbare Paradoxie berücksichtigt werden: Ein König, der das "schon immer" geltende Recht periodisch bestätigt, ist ein guter König, während ein modernen Gesetzgeber, der die Regelungen "seiner" Gesetze wiederholt, seine politische Unsicherheit oder ein Fehlen von Systematizität beweist.
IV. Das Institut der Folter in der kastilischen Doktrin
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IV. Das Institut der Folter in der kastilischen Doktrin Die strafprozessuale Folter weckt ein besonderes Interesse in der kastilischen Rechtslehre, wo auch die einzige iberische Abhandlung zum Thema "Folter und Indizien" geschrieben wird433 • Viele kastilische Autoren seit dem 16. Jahrhundert widmen den verschiedenen Aspekten der peinlichen Befragung ausführliche Analysen, wobei die Arbeit dieser Juristen in enger Verbindung mit der gerichtlichen Praxis war und auf sie Einfluß übte434 • Die Analyse dieses doktrinären corpus hat von der Feststellung auszugehen, daß alle kastilischen Autoren unter dem Einfluß des gemeinen Rechts standen. Genauso wie die kastilischen Normensammlungen seit dem 13. Jahrhundert Entwicklungen und Inhalte des ius commune widerspiegeln, bewegt sich die Lehre in der Kultur des gemeinen Rechts, insbesondere in derjenigen des mos italicus. Mit anderen Worten kommentieren die kastilischen gelehrten Juristen weder ausschließlich noch hauptsächlich das in Kastilien geltende territoriale Recht; vor allem stellen sie die Meinungen der Autoren des ius commune bezüglich der peinlichen Befragung dar und nehmen zu kontroversen Fragen Stellung435 . Somit erfolgt durch die Lehre eine Art .,zweite Rezeption", die die Regelungen des territorialen Rechts, und insbesondere der Partidas, komplettiert und in vielen Punkten modifiziert. In bezug auf die literarische Produktion der kastilischen Juristen muß hervorgehoben werden, daß die vor 1500 geschriebenen gelehrten Werke wenig erforscht sind436 • Aus der Sekundärliteratur und aus unserer Untersuchung geht allerdings hervor, daß vor dem 16. Jahrhundert die Lehre kaum Interesse für Strafrechtsfragen zeigt und jedenfalls die Folter nicht zum Gegenstand der Analyse macht. So werden wir uns hier auf die Werke, die seit dem 16. Jahrhundert geschrieben werden, konzentrieren. Die bedeutendsten Werke zu strafrechtlichen Themen haben in Kastilien Gregorio Lopez, Diego Covarrubias und Antonio Gomez vorgelegt437 • Es handelt sich um das Werk von Quevedo y Hoyos. Alonso Romero, S. 244 ff.; Tonuis y Valiente, Tortura, S. 96 ff., 213 ff. 435 Tonuis y Valiente, Tortura, S. 95 behauptet, daß der Einfluß der italienischen Kommentatoren auf die kastilische Lehre so stark war, daß die Werke der letzteren keine theoretische Originalität aufweisen. Diese Behauptung erscheint uns als problematisch, weil die kastilischen Autoren den Diskurs der gemeinrechtlichen Lehre stark selektiv übernehmen mit dem Ergebnis, daß bestimmte Konstruktionen zurückgewiesen oder stark modifiziert werden. Aus symbolischer Sicht ist das ius commune der zentrale Bezugspunkt in Kastilien, da niemand seine Autorität bestreitet. In der Praxis wird es jedoch von den Autoren den .,Optionen" des ius proprium angepaßt, d. h. aufgrund der rechtlichen und politischen Gegebenheiten modifiziert, und vor allem "persönlich" ausgelegt. Die kastilischen Autoren haben also eine hoch .,produktive" Arbeit geleistet, wie die großen Meinungsunterschiede zwischen den Rechtsgelehrten trotz des Bezugs auf denselben legalen und doktrinären corpus zeigen. 436 Zu diesen Autoren, deren Werke in handschriftlicher Form vorhanden sind, s. die Hinweise bei Horn, S. 298 ff. 433
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
Neben diesen steht eine beeindruckende Anzahl von Traktaten, die sich zumindest teilweise mit strafrechtlichen Fragen auseinandersetzen438 • 437 Diese Autoren zitieren kaum die ältere kastilische Lehre, und in strafrechtlichen Fragen stützen sie sich vor allem auf Baldus, Bartolus, Hippolitus de Marsiliis und Gandinus. Ihre herausragende Bedeutung wird von der späteren Lehre einstimmig anerkannt. S. z. B. Matthaeu et Sanz Tractatus de re criminali, Contr. 26, Nr. 17, S. 195: "quod ex nostratibus plures dum negare non possunt Praesulem Covarrubias, qui Bartolus Hispanus ab exteris nuncupatur, Gregorium Lopez qui quoad jura nostra non inferior Accursio censendus est, & Antonium Gomez, purissimae doctrinae criminalis Coryphaeum". 438 Biographische Daten konnten wir zu folgenden Autoren ermitteln (soweit nicht anders vermerkt, sind die Daten aus dem mehrbändigen biographischen Werk von Herrero Mediavilla entnommen und werden mit bloßer Angabe des jeweiligen Bandes angeführt). Alvarez Posadilla, J. (18. Jh.). Richter und Corregidor in verschiedenen Städten; er hat gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine mehrbändige "Practica criminal" veröffentlicht (Bd. 6 sowie Tomas y Valiente, Derecho, S. 150). Ayl16n y Uinez, J. (17. Jh.). Priester und Mönch aus Utrera. Er hat die ,,Resolutiones" von Gomez in der zweiten Hälfte des 17. Jh. kommentiert (Bd. 1). Azevedo, A. (gest. 1598). Doktor der Rechte aus Palencia, der verschiedene Ämter ausübte und einen bekannten Kommentar der Nueva Recopilaci6n veröffentlichte (Bd. I sowie Tomas y Valiente, Derecho, S. 137). Bermudez de Pedraza, F. (erste Hälfte des 17 Jh.). Bekannter Rechtsanwalt mit klassischer Bildung (Bd. 2). Cantera, D. (geb. Anfang des 16 Jh.). Er hat in Salamanca und Oviedo studiert. War Inquisidor in Murcia, Vicario general des Episkopats von Pamplona und Richter in Santiago und Cuenca. Er hat "Quaestiones criminales" (veröffentlicht 1589) geschrieben (Bd. 2). Castillo de Bovadilla, J. (1546/7 -1605). Doktor der Kanonistik aus Medina del Campo; Rechtsanwalt, Fiskal der Audiencia von Valladolid, Berater des Königs Felipe II. Seine "Politica" (beendet 1597, veröffentlicht 1605) hat neun Auflagen gekannt (Tonuis y Valiente, Gobiemo, S. 181 ff., 202 f.). Castro, A. (gest. 1558). Franziskaner aus Zamora, Lehrstuhlinhaber an der Univ. Salamanca. Er hat im Jahre 1550 "Oe potestate Iegis poenalis" veröffentlicht (Bd. 2). Cayetano Sanz, M. (18. Jh.). Rechtsanwalt bei der Chancilleria von Valladolid und Berichterstatter ihrer Sala del crimen. Er hat die Rechtspraxis des Gerichts dargestellt (Bd. 2). Covarrubias Leyva, D. (1512-1577). Professor für kanonisches Recht in Salamanca; Oidor der Chancilleria von Granada, Präsident des Real Consejo von Kastilien, Bischof von Segovia. Seit 1550 veröffentlichte er mehrere Traktate. Seine "Opera Omnia" haben mehrere Auflagen und eine große Verbreitung gekannt (Tomas y Valiente, Derecho, S. 92; See/mann, Covarubias). Oe Ia Peiia, A. (geb. 1514/ 5). Richter, hat um 1570-1580 den "Tratado" geschrieben (Bd. 6; Tomas y Valiente, Derecho, S. 143). Elizondo, F. A. (18 Jh.). Jurist aus Lucena, Fiskal der Chancilleria von Granada und Mitglied des Real Consejo. Er hat im letzten Drittel des 18. Jh. eine achtbändige "Practica Universal Forense" geschrieben (Bd. 3; Tomas y Valiente, Derecho, S. 150). Femandez de Herrera y Villarroel, G. (zweite Hälfte des 17 Jh.). Gerichtsschreiber der Sala de los Alcaldes de Casa y Corte; er hat eine "Practica Criminal" (1671) verfaßt (Tomas y Valiente, Tortura, S. 73). Gomez, A. (nach 1500- vor 1572). Berühmter Jurist aus Talavera Ia Vieja. Er hat in Salamanca studiert, wo er später eine Professur für Zivilrecht erhielt. Neben den ,,Resolutiones" (1552), die für strafrechtliche Fragen von besonderer Bedeutung sind, hat er im Jahre 1552 die Gesetze de Toro kommentiert (Bd. 3; Reichardt, G6mez). Sein Werk wird von Autoren wie Farinacius, Clarus und Menochius zitiert.
IV. Das Institut der Folter in der kastilischen Doktrin
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All diese Autoren folgen den italienischen Rechtsgelehrten in der Dreiteilung der Behandlung der Folter. Erstens werden die Voraussetzungen ihrer Anordnung, d. h. die Regeln ihrer Beschränkung (z. B. Vorliegen von ausreichenden Indizien) dargestellt; zweitens werden die Regelungen bezüglich der Durchführung der peinGonzalez d'Avila (Davila), G. (1578-1678). Bekannter Historiker und Literat aus Avila. Er hat in Rom studiert und war Chronist des Königs Felipe III. (Bd. 3). Gutierrez, J. (1535 -1618). Jurist aus Palencia. Er hat in Salamanca studiert und war als Rechtsanwalt tätig. Autor vieler juristischer Werke (Bd. 4; Tonuis y Valiente, Manual, S. 313). Hevia Bolafios, J. Berühmter Jurist aus Oviedo. Seine Curia Philipica (1603) wurde mehrfach aufgelegt und kommentiert und am Anfang des 19. Jahrhunderts als Basislehrbuch für das Jurastudium in Spanien verwendet (Tonuis y Valiente, Derecho, S. 140; ders., Manual, S. 392). Lopez de Tovar, G. (1496-1560). Aus Puebla de Guadalupe, er hat in Salamanca studiert; Anwalt bei der Chancilleria von Granada, Oidor der Chancilleria von Valladolid, Fiskal des Real Consejo und Mitglied der Überseeverwaltung "Consejo de lndias". Sein Hauptwerk ist die besonders gelehrte Kommentierung der Partidas in der von ihm betreuten Ausgabe von 1555 (Tonuis y Valiente, Derecho, S. 129 f.; ders., Manual, S. 311 f.; Ross, S. 390 f.). Lopez Salzedo, I. Inhaber des Lehrstuhls für Kanonistik in Alcala de Henares. Er hat die "Practica criminalis canonica" des Bischofs von Calahorra Juan Bernardo Diaz Lugo 1595 herausgegeben und kommentiert (Informationen aus dem Vorwort des Buches). Malheu y Sanz, L. (1618-1680). Berühmter Jurist aus Valencia. Nach einer Karriere in Valencia (u. a. Fiskal und Kriminalrichter der dortigen Real Audiencia), wurde Aleaide des Gerichts de Casa y Corte, Mitglied des Consejo de lndias und des Consejo Supremo von Aragonien (Tonuis y Valiente, Tortura, S. 40 ff.). Monterroso y Alvarado, G. (16. Jh.). Jurist aus Toro. Seine "Practica civil" wurde wahrscheinlich erstmals 1563 veröffentlicht (Bd. 5; Tonuis y Valiente, Gobierno, S. 198, Anm. 85). Pareja (Parexa) Quesada, G. (17. Jh.). Jurist aus Toledo; er arbeitete in Madrid und war um 1625 advocatus pauperum bei der Inquisition (Bd. 5). Perez Villamil, J. (1754-1824). Jurist und Philosoph aus SantaMariade Vega. Er war Rechtsanwalt und Richter und hat politische Ämter übernommen. Neben anderen Arbeiten, hat er die Kommentierung der Gesetze de Toro von Gomez mit neuen Glossen herausgegeben (Bd. 6). Plaza de Moraza, P. (16. Jh.). Seine ,,Epitome" (1558) verbindet das weltliche mit dem kanonischen Strafrecht (Tonuis y Valiente, Derecho, S. 130). Quevedo y Hoyos, A. (geb. Ende des 16. Jh.). Berühmter Richter in Madrid mit besonderen Kenntnissen im Strafrecht. Im Jahre 1632 hat er sein ,,Libro de indicios y tormentos" veröffentlicht. Autor vieler anderer juristischer Abhandlungen (Bd. 6; Tonuis y Valiente, Tortura, S. 96). Sandoval, B. (gest. 1572). Jurist und Professor in Toledo. Er hat zwei juristische Werke verfaßt (Bd. 6). Suarez de Paz, G. (gest. 1590). Jurist aus Salamanca. Doktor und Professor des kanonischen Rechts an dieser Universität. Richter der Audiencia von La Corufia. Er hat seine "Praxis" 1583 veröffentlicht (Bd. 7). Torneo, F. G . (zweite Hälfte des 16. Jh.). Gerichtsschreiber und Verfasser einer ,,Practica de Escribano" (Bd. 3). Villadiego Vascufiana y Montoya, A. Jurist aus Toledo, Herausgeber einer Sammlung gotischer Gesetze und Verfasser der hier kommentierten "lnstrucci6n" (1612), die mehrfach aufgelegt wurde (Bd. 7; Tonuis y Valiente, Derecho, S. 140). Viszcayno Perez, V. (zweite Hälfte des 18. Jh.). Fiscal der Real Audientia von Galizien, der 1797 eine Darstellung der Gerichtspraxis veröffentlichte (Informationen aus seinem Buch "C6digo").
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B. Die strafprozessuale Folter im Königreich Kastilien
liehen Befragung analysiert (z. B. Folterinstrumente) und drittens die strafprozessualen Effekte der Folter diskutiert (z. B. Rechtsfolgen eines Geständnisses).
1. Definition und Zwecke der Folter Die kastilischen Autoren verwenden mehrere Termini zur Bezeichnung der Tortur: tortura, tormento, cuesti6n de tormento, cuesti6n und die ihnen entsprechenden lateinischen Ausdrücke. Besonders geläufig ist der Terminus "tormento". So folgt die kastilische Lehre den Digesten, die die Termini quaestio und tormenta als Synonyme gebrauchen439. In bezug auf die Definition der Folter stützen sich die kastilischen Rechtsgelehrten auf die vom gemeinen Recht übernommenen Formulierungen der Präambel und des ersten Gesetzes der P. VII, 30440, die sie mit kaum bedeutsamen Abweichungen wiedergeben441 • Eine relativ eigenständige begriffliche Bestimmung der Tortur ist bei Quevedo y Hoyos zu finden, der die Definition der Partidas vervollständigt, indem er die Verbindung der Folter mit der Wahrheitssuche sowie den subsidiären Charakter der peinlichen Befragung als Beweismittel betont442 • In dieser Hinsicht systematisiert er Definitionselemente, die in der übrigen Doktrin aufzufinden sind443 • Viel bedeutender istjedoch der Versuch des Autors, die verfahrensrechtliche Stellung der Fol439 Ulpian, D. 48. 18. l. Vgl. aus der kastilischen Doktrin Miranda, T. li, Q. 26, Art. 1, S. 127: "quaestio sive torrneoturn aut tortura". Cervantes seinerseits bezeichnet die Folter als "ansia", ein Wort, das die gelehrten Juristen u. W. nicht verwenden (M. de Cervantes, ,,Rinconete y Cortadillo", in: Novelas Ejemplares, Bd. I, PML, Madrid 1995, S. 168). Zur Folterterminologie im Rahmen des gemeinen Rechts s. Fiorelli, Tortura, Bd. I, S. 181 ff., der die Tendenz vieler italienischer Autoren darstellt, die quaestw als allgemeinen Begriff ftir die gerichtlichen Ermittlungen zu verwenden, in deren Rahmen die tortura als spezielles Mittel der Wahrheitssuche fungiert (ebda, S. 186 ff.). 440 s. oben, Kap. B, 111, 3, a). 441 Hevia Bolaiios, T. I, Parte III, § 16, Nr. 2, S. 229; Cantera, Q. IV, Nr. 1, S. 204; Vizeaino Perez. Nr. 404, S. 374; Elizondo, Nr. 1, S. 273; S. auch Lopez, Glossa 1, P. VII, 30, 1, der verschiedene Definitionen der italienischen Lehre erwähnt. 442 "Tormento es un remedio subsidiario, manera de prueba, que falta de Ia verdadera hallaron los Sabios antiguos, amadores de justicia, para por medio del descubrir y saber Ia verdad de los delitos, y conocer los delinquentes, que no pueden ser descubiertos ni conocidos por otro medio ni genero de prueba que por este", Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 1, Nr. 7, S. 3. 443 Suarez de Paz. T. I, Pars V, Cap. 3, § 12, Nr. 7, S. 167v: "tortura inventa fuit in subsidium & defectum probationum pro veritate eruenda"; Gomez, Pars III, Cap. 13, Präambel, S. 501 (Wahrheitssuche) sowie Nr. 19, S. 509 (Subsidiarität); Covarrubias, Practicarum, Cap. 23, Nr. 5, S. 467: "optimo zelo veritatis inquirendae hisce quaestionibus utantur"; ähnlich Miranda, T. II, Q. 26, Art. 1, S. 130; zur Verbindung zwischen Folter und Schmerzens. Femandez de Herrera, Lib. II, Cap. 3, § 1, Nr. 1, S. 231. S. schließlich die Definition der Folter in einem Lexikon des 18. Jahrhunderts: "genero de prueba, que se usa en los juicios criminales para Ia averiguaci6n del delito" (Comejo, S. 574).
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ter zu präzisieren, indem er sie als eine der Arten der "inquisition" auffaßt444 • Seiner Meinung nach bezeichnen die (synonymen) Termini quaestiones und tormento das gesamte inquisitorische Verfahren, das er in drei Phasen unterteilt: Ermittlungen in Bezug auf die Begehung einer Untat (Feststellung des corpus delicti), Suche nach dem Tciter und peinliche Befragung des Verdächtigen445 • Befragung oder "tormento" im allgemeinen wäre also der gesamte Prozeß, zu dem auch die eigentliche peinliche Befragung als Methode der Wahrheitssuche gehört. Im Gegensatz dazu steht die Auffassung von Matheu y Sanz: Die Folter werde benutzt "non ad finem condemmandi, vel absolvendi, sed praeparandi judicium", sie bilde also eine "Vorbereitungsmaßnahme" und stehe weder unmittelbar noch ausschließlich mit der Ermittlung der Wahrheit in Verbindung446• Es handelt sich um eine vereinzelte Position, die die Erweiterung der Fälle der Folterung beabsichtigt, vor allem durch den Abbau des Subsidiaritätsprinzips447 • Sowohl die Partidas als auch die Lehre verbinden die Definition der Tortur mit ihrer Rechtfertigung. Es wird gefoltert, weil es die Aufklärung der schwerwiegenden und okkulten Delikte erlaubt448 , wobei die Bestrafung der Täter in erster Linie dem allgemeinen Interesse, d. h. dem Wohl der Republik, dient449 • Wenn die Richter die rechtlich festgelegten Grenzen der Folter einhalten und sie mit ,,Moderation" anordnen und durchführen, dann ist sie als Methode der Wahrheitssuche und des Schutzes des Allgemeinheit auch legitimiert. So wird z. B. Covarrubias bemerken: ,,Nos vero non adeo improbamus tormentorum & questionum usum, etiam in Christiana republica: modo iudices caute legitimis indiciis preacedentibus ( ... ) hisce quaestionibus utantur" 450• 444 "tormento o question es especie, y nace de Ia inquisicion, como de su genero y que se diferencia de las demas especies contenidas debaxo deste genero", Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. I, Nr. 8, S. 3. 445 Ebda, Nr. 4-5, S. 2-2v. Diese Dreiteilung bedeutet, daß Quevedo die Folter nur am Ende des Prozesses und nach Erschöpfung allen anderen Beweismittel als zulässig betrachtete. Wie wir noch sehen werden, ist diese "Ortsbestimmung" das erste Element der strengen Theorie Quevedos bezüglich der Einhaltung der Foltervoraussetzungen. 446 Matthaeu et Sanz, Tractatus de re criminali, Contr. 25, Nr. 8, S. 175. 447 Dazu s. unten Kap. B, IV, 5. 448 Castillo de Bovadilla, T. I. Lib. II, Cap. 21, Nr. 151, S. 686; Gomez, Pars 111, Cap. 13, Nr. 1, S. 501. 449 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. I, Nr. 1-2, S. 1- 1v (das Wohl der Republik rechtfertigt selbst die Bestrafung einiger Unschuldiger); Miranda, T. II, Q. 26, Art. I, S. 130-132; Gomez. Pars III, 13, Nr. 1, S. 501 sowie Pars li, Cap. 10, Nr. 22, S. 282 f.; vgl. mit ausführlicher Darstellung und Widerlegung der Kritiken gegen die Folter Vitanova y Mafiez, Obs. 10, § V, S. 330 ff.• 339 ff. Es ist zu bemerken, daß das Argument des Wohls der Republik allgemein zur Rechtfertigung des Systems der Strafjustiz und ihrer Methoden benutzt wird. So begegnen wir bei kastilischen Autoren oft der Wendung "ne delicta remaneant impunita" mit der Hinzufügung, daß es dem Wohl der Republik dient. S. statt vieler De la Pena, Parte I, S. 62 ("conviene a Ia Republica que los delitos no queden sin castigo"). 450 Covarrubias, Practicarum, Cap. 23, Nr. 5, S. 467.
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Eine davon teilweise abweichende Bestimmung der Zwecke der Tortur finden wir bei De Torneo, der der üblichen Feststellung, die Folter diene der Ermittlung der Wahrheit, eine weitere Überlegung hinzufügt: Wenn Schuldverdacht gegen eine Person besteht, dann dient die Folter nicht nur der Erpressung eines Geständnisses, sondern auch der Vernichtung vorhandener belastender Indizien ("Reinigung"/51. Diese Zweckbestimmung, die sich mühelos in die allgemeine Lehre der strafprozessualen Wirkungen der Folter einordnen läßt, zeigt uns die Verbindung des Instituts mit Prinzipien der christlichen Religion: Die Folter wird als eine Beichtinstanz aufgefaßt, die die vorhandenen Schuldindizien durch die Erzeugung von Schmerz "reinigen" kann452. Der Versuch der Legitimierung der Folter mit rationalen Argumenten (Notwendigkeit der Aufklärung von Verbrechen, wobei die Folterung ein unerläßliches Mittel zur Bildung des vollständigen Beweises ist, positive Auswirkungen auf die Gemeinschaft) ist ein Indiz des Rechtfertigungszwangs, dem die Autoren der Periode ausgesetzt waren. Sie waren sich nämlich der vielfältigen Risiken der Folter ftir den Angeklagten aber auch für die Legitimation des Justizsystems vollkommen bewußt. Einschlägige Untersuchungen zeigen, daß die Argumente und Bedenken gegen die Folter, die die Autoren der Aufklärung verwenden, schon am Beginn des 17. Jahrhunderts in Werken von gelehrten Juristen sowie von Theologen in vollständiger Form erhalten sind, und daß schon in früheren Jahrhunderten die juristische Doktrin viele Bedenken bezüglich der Folter ausdrückte. Die Autoren der Aufklärung werden dieser Kritik eine neue Struktur geben, indem sie sie nach den Prinzipien des "Vernunftrechts" systematisieren und säkularisieren und daraus die radikale Konsequenz der Abschaffung der Folter und der legalen Beweismaxime im allgemeinen ziehen453 . Die Substanz der Argumente und die Einsicht in die vielfältigen Gefahren einer Folterung sind jedoch bereits bekannt. Dies führt viele Juristen des ius commune dazu, an den Richter, der die Folter anordnet, folgende Forderung zu stellen: "ante omnia habere debere & iuris & humanitatis considerationem", wobei bei Mißachtung des Legalitäts- und Humanitätsgebots die Verhängung scharfer Sanktionen angedroht wird454. Das Bewußtsein der Legitimationsprobleme der Folter ergibt sich mit besonderer Klarheit aus den Hinweisen der kastilischen Doktrin auf die Gefahren der Ablegung eines falschen Geständnisses455 sowie aus ihren Zweifeln, inwiefern die FolGonzalez de Tomeo, Lib. I, Tit. 22, S. 46. Dazu s. unten Kap. B, V, 3. 453 s. etwa Fiorelli, Tonura, Bd. II, S. 229 ff.; Langbein, S. 11; Jerouschek. Thomasius, s. 662,671-673. 454 So z. B. Damhouder, Cap. XXXV, Nr. 2, 13, S. 62 f. 455 Gomez. Pars 111, Cap. 13, Präambel, S. 501: "materia est necessaria, & periculosa", vgl. ebda, Nr. 24, S. 512: ,,res fragilis et periculosa & quae veritatem fallit"; Covarrubias, Practicarum, Cap. 23, Nr. 5, S. 467: "saepissime torqueantur innocentes, ut appareat nocens"; 451
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terung eines Menschen mit den Prinzipien der christlichen Religion vereinbar ist456, Themen, die bei den italienischen Autoren des ius commune präsent sind457 • Die Eignung der Folter zur Feststellung der Wahrheit sowie ihre Abschreckungseffekte für potentielle Verbrecher werden zur Beseitigung von Berechtigungsbedenken erwähnt458 • Komplementär dazu fungierten die Mahnungen zur Moderation bei der Folteranwendung und insbesondere zur strengen Einhaltung sämtlicher Bedingungen und Grenzen, die die Folter "legal" machten und deren Mißachtung für die Richter bedeutete, daß sie nicht nur bestraft werden könnten, sondern auch eine "tödliche" Sünde begehen würden459• Wir werden im Folgenden diese Voraussetzungen der legalen Folter einzeln untersuchen.
2. Die angedrohte Strafe als sachliche Voraussetzung der Folter Eine der sachlichen Voraussetzungen der Zulässigkeil der Folter bezieht sich auf die Härte der Strafe, die für das dem Inquisiten zur Last gelegte Delikt vorgesehen ist. In Kastilien wurde die Folter prinzipiell als zulässig betrachtet, wenn eine Lebens- oder Leibstrafe angedroht wurde, eine Beschränkung, die schon die Partidas vorsahen460• Es handelt sich um eine allgemeine Regel des ius commune, wonach freie Menschen nur bei schweren Strafen gefoltert werden konnten; als solche betrachtete die herrschende Meinung diejenigen, die in der Härteskala die Verbannungsstrafe überstiegen, eine Regelung, die viele Gesetzgebungen nach dem 13. Jahrhundert adoptieren461 • Die meisten kastilischen Autoren folgen diesbezüglich den Partidas462 • Gomez erklärt, daß die Zulässigkeit der Folter von der Schwere des Delikts abhängt, wobei Miranda, T. II, Q. 26, Art. I, S. 128: "experientia constet, quod saepissime per tormenta
nocentes probentur innoxij, e contra vero innocentes ex sua confessione tormentis extorta, condemnentur tanquam noxij & criminosi" ; Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. I, Nr. I, S. 1 (die Folter sei eine gefahrliehe Methode der Wahrheitsermittlung und könne zur Verurteilung eines Unschuldigen führen). 456 "dicant esse tyrranicum quodam inventum, christanae charitati & mansuetudini, & omni humanitati contrarium" (Miranda, T. II, Q. 26, Art. I, S. 130). 457 s. etwa Casoni, Cap. I, Nr. 1-3 und 5, S. 241 •. 458 s. die Hinw. bei Tonuis y Valiente, Tortura, S. 206 ff. 459 Zum letzten s. etwa De La Pefiß, Parte II, S. 87•-88. 460 s. oben, Kap. B, III, 3, b). 461 Fiorelli, Tortura, Bd. II, S. 244 ff.; aus der kastilischen Lehre s. etwa Vilanova y Maiiez. Obs. 10, § V, Nr. 5, S. 346. 462 Hevia Bolafios, T. I, Parte III, § 16, Nr. 3, S. 229; Villadiego, Cap. III, Nr. 313, S. 46•; Castillo de Bovadilla, T. I, Lib. II, Cap. 21, Nr. 151, S. 686; Matthaeu et Sanz, Tractatus de re crimina1i, Contr. 27, Nr. 23-24, S. 202; Vizcaino Perez. Nr. 407, S. 375; vgl. Fernandez de Herrera, Lib. II, Cap. 3, § 1, Nr. 3, S. 233 (Folter bei schwerwiegenden und schwer beweisbaren Delikten); Suarez de Paz, T. I, Pars V, § 12, Nr. 32-34, S. 168v ("atroci & gravi", Nr. 32, S. 168•). 8•
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diese Schwere sich nach dem Kriterium der angedrohten Strafe feststellen läßt: "in atroci & gravi, ex quo veniat imponenda poena mortis, vel saltem corporalis"463 . Quevedo y Hoyos wird unter Hinweis auf ältere Autoren klarstellen, daß die Folter nicht nur bei angedrohten Strafen bis zur Verbannung, sondern auch in Zivilsachen ausgeschlossen bleibt464, es sei denn, letztere werden mit einem Verbrechen verbunden465. Matheu y Sanz bemerkt seinerseits, daß das eventuelle Geständnis keine Geltung hat, wenn ohne Einhaltung dieser Grenze gefoltert wird, selbst wenn das Geständnis anschließend ratifiziert wird466. Die verhältnismäßige Verbindung der Strafe mit der Tortur ist eine Konsequenz der Betrachtung der peinlichen Befragung als einer besonders schweren Maßnahme und zeigt, daß sie als Bestrafungsform aufgefaSt wird467 . Die Nicht-Respektierung dieses "Gleichgewichts" würde die Folter in eine "ungerechte" Peinigung verwandeln und die Darstellung des Königs als obersten Justizträgers beeinträchtigen. Wenn die angedrohte Strafe nicht besonders schwer ist, "maior esset torturae poena, quam illa quae speratur pro delicto imponi: quod contra omnem esse videtur rationem"468. Der Einhaltung dieser Verhältnismäßigkeits- und Gerechtigkeitsgrenze diente aus strafprozessualer Sicht die oben erwähnte "Sanktion" der Nichtigkeit des Geständnisses. ~J Gomez. Pars III, Cap. 13, Nr. 2, S. 501. In den Kommentaren, die diesem Werk im 17. Jh. hinzugefügt wurden, wird klargestellt, daß die Folter bei Androhung der Lebens-, Leib-, oder Galeerenstrafe zulässig ist (Ayllon LayfU!Z, T. 111, Cap. 13, Nr. 1-2, S. 371 mit Hinweis auf kastilische Autoren wie Bovadilla, Hevia Bolanos und Quevedo y Hoyos). 464 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 4, Nr. II - 13, S. 14 -14v; vgl. Miranda, T. II, Q. 26, Art. 2, Concl. 1, S. 134. 465 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 4, Nr. 13, S. 14v; Gomez. Pars III, Cap. 13, Nr. 29, S. 515; beide Autoren betonen, daß im Zivilbereich die Folterung des rechtswidrig handelnden "depositario" erlaubt ist, d. h. einer Person, die in ihrer Verantwortung Personen oder Immobilien hat und die, wenn sie ihrer Überwachungspflicht nicht nachkommt, sich auch eines entsprechenden Delikts verdächtig macht; vgl. Cantera, Q. III, Nr. 3, S. 205, der die Folter allgemein bei Zivilsachen als erlaubt betrachtet, wenn "causa sit gravis, vel atrox". Es sei schließlich bemerkt, daß die Digesten bestimmen, Sklaven seien in Zivilsachen "non facile" und nur beim Fehlen jeder anderen Beweismöglichkeit zu foltern (D. 48. 18. 9). 466 Matthaeu et Sanz, Tractatus de re criminali, Contr. 27, Nr. 25-27, S. 202. 467 In bezug auf die kastilische Lehre, s. unten Kap. B, V, 3. 468 Miranda, T. II, Q. 26, Art. 2, Concl. 1, S. 134; fast buchstäblich wiederholt von Hevia Bolaiios, T. I, Parte III, § 16, Nr. 3, S. 229; s. auch Gomez, Pars III, Cap. 13, Nr. 2, S. 501 f.; Vilkldiego, Cap. III, Nr. 313, S. 46v. Diese "garantistische" Idee wird vom modernen Strafrecht übernommen: "Wenn auch das öffentliche Interesse an der Aufklärung von Verbrechen ( . . . ) im allgemeinen selbst Eingriffe in die Freiheit des Beschuldigten rechtfertigt, so genügt dieses allgemeine Interesse um so weniger, je schwerer in die Freiheitssphäre eingegriffen wird ( ... ). Das gilt besonders fiir die in den §§ 81 und 81 a StPO zugelassenen schwerwiegenden Maßnahmen ( ... ); hier fordert eine dem Sinn der Grundrechte Rechnung tragende Gesetzesanwendung, daß der beabsichtigte Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Tat steht, damit nicht die mit der Aufklärung der Tat verbundenen Folgen den Taler stärker belasten als die zu erwartende Strafe" (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 16, 194, 202).
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3. Feststellung des corpus delicti Die Feststellung des Deliktkörpers ist eine von der Lehre einstimmig erwähnte Voraussetzung der Folter, deren Nichtbeachtung ebenfalls zur Nichtigkeit des Geständnisses fUhrt. Verlangt wird dabei, daß entweder das konkrete "Objekt" der Einwirkung des Taters vom Richter festgestellt wird, oder - im Fall von Delikten die keine Spuren hinterlassen bzw. wegen ihren okkulten Charakters die Entdekkung des corpus delicti nicht erlauben -, die richterliche Gewißheit der Begehung des Delikts, die aus Zeugenaussagen, aus einer Verbreitetenfama oder aus anderen starken Vermutungen entstehen soll469• Im Rahmen der oben erwähnten dreiteiligen Konzeption des Ermittlungsverfahrens als "Befragung" oder "Folterung" bemerkt Quevedo y Hoyos, daß die ersten zwei Phasen eng miteinander verbunden sind, da es nach der Vernunft (raz6n), die hier die Gesetzeslücke auszufiillen hat, zwischen Delikt und Tater immer eine reziproke Beziehung gibt470. Nichtsdestotrotz bildet die richterliche Feststellung, daß ein Delikt begangen wurde, eine notwendige Voraussetzung der Suche nach dem Delinquenten; dies bedeutet, daß die Ermittlung des corpus delicti schon in die erste Phase des Verfahrens gehört, d. h zeitlich immer vor der Anordnung der eigentlichen peinlichen Befragung erfolgen muß471 • Einige "praktische" Autoren Kastiliens erwähnen die Voraussetzung des corpus delicti nur flüchtig, ohne daß es möglich ist, festzustellen, ob sie die Beschäftigung mit einer "offensichtlichen" Beschränkung als überflüssig betrachten, oder ob sie dadurch einer "elastischen" Praxis theoretische ,,Deckung" geben wollten472 • Infolge der Übernahme der gemeinrechtlichen Meinung, die Feststellung des Deliktes habe vor der Folterung zu erfolgen, betrachten die kastilischen Autoren eine "präventive" Anwendung der Folter als Quelle von Informationen bezüglich der Frage, ob ein Delikt begangen wurde, als unzulässig. Hier finden wir einen der bedeutendsten Unterschiede zwischen der gemeinrechtlichen legalen Tortur und den per dejinitionem illegalen Folterpraktiken der letzten zwei Jahrhunderte.
469 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 4, Nr. 3, 5-10, S. l2v-14; vgl. Gomez, Pars 111, Cap. 12, Nr. 3, S. 489; Miranda, T. II, Q. 26, Art. 15, Concl. 1, S. 222; Elizondo, Nr. ll, S. 260; Cayetano Sanz, Caso 1, Nr. 2-17, S. 3-12; Villadiego, Cap. 111, Nr. 23, S. 33. Ausführlich dazu unten Kap. C, IV, 2, d). 470 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 1, Nr. 6, S. r. 471 Ebda, Cap. 4, Nr. 1, S. l2v.
472 In die zweite Richtung deuten die Ausführungen von Villadiego (Cap. III, Nr. 21-22, 190-199, S. 32v, 41), der allgemein über die Notwendigkeit von Informationen bezüglich der Begehung eines Deliktes spricht, sowie von Castillo de Bovadilla (T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 7-8, S. 538 f.), der nur die Folterung ohne vorherige Informationen über das Delikt als strafbar betrachtet.
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4. Indizien und Vermutungen als sachliche Voraussetzung der Folter Die kastilische Doktrin zeigt ein besonderes Interesse für die Frage der Beweise, die der peinlichen Befragung vorangehen müssen. Dabei werden insbesondere die Indizien und Vermutungen, die zur Anordnung der Folter ausreichen, behandelt. Unsere Ausführungen bezüglich der Verbindung der Indizien mit der Verdachtsstrafe nach dem 16. Jahrhundert zeigen zwar, daß die Entwicklung der Indizienlehre mit der Krise des legalen Beweissystems und deswegen auch mit der Infragestellung der Effizienz und der Berechtigung der Folter verbunden ist473 . Parallel dazu bleibt jedoch das Folterinstitut Gegenstand der juristischen Abhandlungen (und der gerichtlichen Praxis), und die Indizienlehre erlaubt die Festlegung der Beweisvoraussetzungen der Folterung. Als allgemeines Prinzip gilt dabei, daß ohne vorherige Anzeigen einer individuellen Schuld keine Folterung erlaubt ist. Wie Plaza emphatisch schreibt, darf ohne Indizien nicht gefoltert werden, selbst wenn der Inquisit es beantragt474 . Dasselbe Prinzip bestätigt die Mahnung, daß der Richter, der ohne Indizien foltert, nicht nur auf Erden bestraft, sondern auch seine Seele verlieren wird475 . Würden keine zur Folterung ausreichende Indizien gegeben, dann könnte höchstens der Inquisit durch das Vorzeigen der Folterinstrumente "terrorisiert" werden476. Die Partidas hatten die Beweisvoraussetzungen der Folter in einer "offenen" Form behandelt. Sie sahen lediglich vor, daß das Vorhandensein von Schuldvermutungen oder Verdachtsmomenten notwendig ist, wobei die öffentliche Diffamierung und die belastende Aussage eines glaubwürdigen Zeugen als Beispiel dienten477. Die kastilische Lehre leistet eine Arbeit der Konkretisierung dieser Verdachtsmomente, die auf die Kontrolle der Gerichte und vor allem auf die praktische Durchführbarkeit und ,,Effizienz" der peinlichen Befragung abzielt. Genauso wie in der italienischen Lehre werden in Kastilien das Indizienproblem ausführlich behandelt, der Folterung Grenzen gesetzt und zugleich die Frage der Beweisvoraussetzungen offengelassen, d. h. dem richterlichen Ermessen ein weiter Handlungs- und Entscheidungsbereich erkannt. Welche Beweise reichen zur Folterung aus? Gomez geht vom festen gemeinrechtlichen Prinzip aus, daß im Bereich des Strafrechts "exigantur luce clariores probationes"478 und behauptet, daß die Folter nur beim Vorliegen von starken IndiKap. B, II, 3, b) und c). Plaza. Cap. 33, Nr. 24, S. 412. 475 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 2, Nr. 16, S. 8; vgl. ebda, Nr. 4, S. Sv. 476 Vitanova y Manez, Obs. 10, § V, Nr. 14, S. 353. 477 s. oben Kap. B, III, 3, b). 478 Gomez. Pars III, Cap. 13, Nr. 8, S. 505 sowie Cap. 12, Nr. 25, S. 498-499; vgl. etwa Miranda, T. II, Q. 26, Art. 4, Concl. 2, S. 154. 473
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zien erlaubt ist479 . Unter Heranziehung der italienischen Lehre480 sieht er die Folter in folgenden Fällen als zulässig an: - Ein Augenzeuge "omni exceptione maior", d. h. ein "großes" und "heftiges" Indiz, das zur Bildung eines halben Beweises führt481 • Das außergerichtliche Geständnis, das die "höchste" Vermutung liefert, wenn es schlüssige und klare Aussagen über die Tat und den Tater enthält482 • Die Beichte wird nicht als ein solches Geständnis betrachtet, weil sie ein Bekenntnis vor Gott und nicht vor den Menschen ist483 . - Die fama, die als "volles" Indiz und damit als zur Folter ausreichend gilt, wenn sie besonders verbreitet ist ("publica vox & fama inter omnes, vel maiorem partem eorum in illo loco, quod talis reus commissit illud delictum")484 • Die Flucht des Verdächtigen nach der Begehung eines Delikts ("fuga ")485 • Die Gegnerschaft zwischen dem Opfer und den Angeklagten, wenn mit ihr auch andere Schuldindizien konvergieren, wie etwa die Tatsache, daß der Angeklagte in der Nähe des Orts, wo sich das Opfer aufhielt, bewaffnet gesehen wurde486 • - Wenn der Verdächtige von der Wohnung eines Mordopfers mit "gladio evaginato" ausging487 • Wenn eine Person ein Verbrechen anzeigt, ohne Informationen über den möglichen Tater anzugeben, und diese Haltung mit anderen Schuldindizien verbunden wird488 • Im Fall eines Diebstahls kann gefoltert werden, wenn die gestohlene Sache in den Händen einer "persona vilis, & levis opinionis" aufgefunden wird, bzw.
Gomez. Pars III, Cap. 13, Präambel, S. 501. Diesbezüglich werden u. a. Bartolus, Baldus, Hyppolitus de Marsiliis, Aretinus, Franciscus Bruni, Panormitanus und Paris de Puteo zitiert. 481 Gomez. Pars III, Cap. 13, Nr. 7, S. 504. 482 Ebda, Nr. 8, S. 505, wo Gomez betont: "Confessio extraiudicialis in delictis ( ... ) non inducit plenam probationem, cum exigantur luce clariores probationes". 483 Ebda, Nr. 9, S. 506. 484 Ebda, Nr. 10, S. 506. 48S Ebda. 486 Ebda, Nr. 11, S. 506. 487 Ebda, Nr. 11, S. 507. 488 Ebda, Nr. 14, S. 507, wo folgender Fall erwähnt wird: ,,Et ego vidi meo tempore hunc casum de facto in hac civitate Salamanticensi, in qua quidam ex levi causa de nocte alium interfecit secrete, & statim ipsemet ivit ad iudicem, & ei denunciavit illud homicidium, & qualiter certae personae incognitae de nocte in domo sua illum occiderunt, & fugerunt, & quod eos non cognovit, & habita inquisitione & informatione repertus fuit suspectus, & culpablis, & tandem captus fuit, & comperto & probato delicto, fuit condemnatus ad mortem, & furca suspensus". 479 480
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wenn nach einem Diebstahl ein Nachbar plötzlich reich wird und weitere Indizien gegen ihn sprechen (z. B. der schlechte Rut)489 • Schließlich diskutiert Gomez ausführlich das Problem des göttlichen Beweises, wobei er sich von der herrschenden Meinung distanziert. Die meisten Autoren des ius commune waren nämlich der Ansicht, daß es ein göttliches Schuldindiz gibt, wenn eine des Mordes verdächtige Person vor der Leiche des Opfers vorgeführt wird und aus der Leiche plötzlich Blut fließt. Es handelte sich um das sogenannte iudiciumferetri, das in der Praxis eingesetzt wurde und von den meisten gelehrten Juristen als ein zur Folterung ausreichendes Indiz bewertet wurde490• Gomez erwähnt diesbezüglich einen Fall aus dem Jahre 1546: Laut Prozeßakten sei aus der Leiche des Opfers in Anwesenheit der bereits überführten Verbrecher Blut geflossen. Gomez will die Glaubwürdigkeit und den göttlichen Ursprung dieses Indizes nicht in Frage stellen; er bemerkt jedoch, daß es kein aus dem Recht hervorgehendes Indiz ist und jedenfalls nicht auf eine juristisch konkludente Ursache zurückgeführt werden kann. Es handele sich um ein Phänomen, das der juristischen Welt nicht zugehört und im Rahmen des Strafverfahrens keine Relevanz hat, wobei er - um Zweifel seiner Leser zu beseitigen - darauf hinweist, daß die Folter eine besonders schwere Maßnahme ist, und es ratsamer sei, einen Schuldigen freizusprechen als eine Person ungerecht zu bestrafen491 . Diese Darlegung gibt ein gutes Beispiel der strengen ,,Legalität" und "Rationalität" der legalen Beweismaxime, wobei jedoch Gomez - wie allgemein die Autoren des ius commune - nicht offen mit der religiösen Dimension des "Wunders" brechen will. Hier stellt sich eine zweite Frage. Wie werden verfahrenstechnisch die ad torturam ausreichenden Indizien bewiesen? Die belastende Aussage des ,,klassischen" Zeugen stellt kein technisches Problem. In bezug auf die anderen Indizien erwähnt Gomez, daß es in der Lehre zwei Meinungen gibt: Einige sagen, daß jedes Indiz von einem klassischen Zeugen bewiesen werden soll, andere wiederum, daß zwei Zeugen notwendig sind, die jedoch nicht die Voraussetzungen des ,,klassischen" erfüllen müssen. Die erste Lösung betrachtet Gomez als unzureichend und die zweite Ebdß, Nr. 12-13, S. 507. s. dazu Fiorelli, Tortura, Bd. II, S. 47 f.; van Dülmen, S. 26; vgl. die Zitate aus der italienischen Lehre bei Rosoni, S. 154, Anm. 206 und S. 226 ff., Anm. 39. Rosoni bemerkt, 489
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daß viele Autoren die Bahrprobe als "wissenschaftlich" und nicht als göttlich zu rechtfertigen versuchten. Dies ist ein Indiz der Rationalität der gemeinrechtlichen Beweislehre, die prinzipiell nur logisch nachvollziehbare Beweise zuließ - vgl. oben Kap. 8, li, 1, a). Unter den kastilischen Autoren, die die Bahrprobe akzeptieren, s. Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 8, Nr. 9, S. 34•; Miranda, T. II, Q. 26, Art. 12, Concl. 10, S. 201. 491 Gomez. Pars III, Cap. 13, Nr. 15, S. 507 f.: "tortura est actus gravissimi praeiudicij, ex quo faciliter posset sequi mors, ideo in dubio sanctius esset, nocentem impunitum relinquere, quam innocentem condemnare" (S. 508). Gomez zitiert dabei die Digesten (D. 48, 19, 5) und als guter Katholik ersetzt er das Digesten-Wort "satius" mit "sanctius". Zur entsprechenden Formulierung in den Panidas s. oben Kap. 8, Anm. 177.
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als zwecklos: "ita quando omnia simul iuncta sunt, nulla vitiosa, vel imperfecta, non causatur, nec producitur aliquid perfectum"492. So vertritt er eine strenge (und ftir den Angeklagten Garantien gewährende) Auslegung: Jedes Indiz ist durch zwei klassische Zeugen zu belegen, es sei denn, es handelt sich um eine mit der Tat unmittelbar zusammenhängende Schuldvermutung (z. B. das Indiz des "gladio evaginato"), wo ein Zeugnis ausreicht493 . Durch die hohen Beweisanforderungen und die ausführliche Erwähnung der inditia ad torturam behandelt Gomez diese Voraussetzung in einer sachlichen, strengen (und streng ,juristischen") Weise, die auch bei Miranda494, Suarez de Paz495 und Elizondo496 zu finden ist. Im Unterschied zu den meisten Autoren des ius commune vermeiden sie die abstrakten Bezeichnungen, wie "dringende", ,,klare" usw. lndizien497 . Bei Gomez und Miranda zeigt auch die "geschlossene" Form der Darstellung der lndizienliste, daß eine "Rechtsfortbildung" im Sinne der Betrachtung von weiteren Indizienarten als zur Folter ausreichend ausgeschlossen wird. Das Ermessen des Richters wird jedoch nicht vollkommen ausgeschaltet. Dies betrifft bei Gomez nur Grenzsituationen der Bewertung von Indizien, wie z. B. die Beantwortung der Frage, ob die Gegnerschaft zwischen Verdächtigen und Opfer "groß" ist - und somit in Verbindung mit anderen Vermutungen zur Folterung führen kann. Der gewissenhafte und gerechte Richter sollte im Fall einer "kleinen" Gegnerschaft die Folter vermeiden, worüber allerdings Gomez keine konkretere Anweisung geben will: "ista est regula & doctrina generica, quod ( ... ) iudex arbitrabitur, an debeat interponere torturam, vel non, quod totum relinquitur iudicis arbitrio"498. Dieser Satz deutet auf eine ,,Freiheit" des Richters hin. Er berechtigt jedoch nicht zu der nivellierenden Beurteilung, in der kastilischen Lehre "triumphiere das Prinzip, daß die Bewertung der zur Folterung notwendigen Indizien vom richterlichen Ermessen abhängt", wobei insbesondere Gomez "zur Schlußfolgerung geGomez. Pars III, Cap. 13, Nr. 18, S. 509. Ebda. 494 Miranda, T. II, Q. 26, Art. 5-9, 12, S. 161-181, 192-195,202 übernimmt vollständig die Indizienliste von Gomez. 49S Suarez de Paz zitiert oft Gomez und behauptet, daß nur ein halber Beweis oder starke Indizien die Folter erlauben (T. I, Pars V, Cap. 3, § 12, Nr. 6, S. 167v); es muß sich um "legitima inditia & sufficientia" handeln (ebda, Nr. 36, S. 168v), die, wie bei Gomez, durch zwei klassische Zeugen zu belegen seien, es sei denn, sie hingen mit dem Delikt unmittelbar zusammen; dann reicht ein einziger klassischer Zeuge aus (ebda, Nr. 38-41, S. 168v). Ähnliche Aussagen finden wir bei Hevia Bo/anos, der ebenfalls oft auf Gomez rekurriert (T. I, Parte III, § 16, Nr. 6-11, S. 229 f.). 496 Elizondo, Nr. 4-11, S. 275-277 unter Hinweis auf Gomez. 497 s. etwa die Hinw. bei Fiorel/i, Tortura, Bd. II, S. 10 ff. 498 Gomez Pars III, Cap. 13, Nr. 11, S. 507; das arbitrium erwähnen mit allgemeineren Formulierungen Suarez de Paz, T. I, Pars V, Cap. 3, § 12, Nr. 36-37, S. 168v und Hevia Bolafios, T. I, Parte III, § 16, Nr. 9, S. 230. 492 493
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langt ( ... ), die ganze Materie sei dem richterlichen Ermessen zu überlassen"499 • Diese Behauptung läßt den "garantistischen" Aufbau der Darstellung von Gomez außer Acht und zieht nicht in Erwägung, daß für die Autoren der Periode das arbitrium kein Synonym der Willkür oder der richterlichen Freiheit war. Bei Miranda finden wir z. B. einen zu Gomez ähnlichen "offenen" Schluß bezüglich der inditia ad torturam, wobei Miranda klarstellt, daß das arbitrium den Richter nicht zum beliebigen Handeln berechtigt: Er darf nur aufgrund von klaren und sicheren Indizien die Folter anordnen, und im allgemeinen gebe es kein Ermessen "omnino liberum, & absolutum"500. Ähnliches finden wir bei Cantera, der zwar die Entscheidung über die Bildung des für die peinliche Befragung erforderlichen halben Beweises (Stärke und Zahl der daftir notwendigen Indizien) dem Richter anvertrauen will, gleichzeitig aber betont, daß er diesbezüglich keineswegs frei ist: "non regulavit ex suo capite, sed secundum ius, & doctrinas doctorum"501 • Noch kategorischer ist zu dieser Frage Azevedo, der zwar zugibt, daß die Folterindizien dem richterlichen Ennessen überlassen werden, das arbitrium aber mit rechtlichen Regeln, Begründungszwängen und Androhung von Sanktionen verbindet: "secundum ius regulari, & causam exprimere, nein Syndicatu teneatur"502 . In diesem Rahmen vertritt Azevedo eine vereinzelte und "strenge" Meinung: Er behauptet, daß der halbe Beweis (z. B. Aussage eines klassischen Augenzeugen) zur Folterung nicht ausreicht, sondern auch andere nebensächliche Schuldindizien nötig sind ("cum alijs adminiculis"). Der Autor bemerkt, daß er somit von der communis opinio der Doktoren abweicht, findet jedoch, daß in Strafsachen die Indizien viel stärker als im Zivilbereich sein müssen, um ähnliche Beweiswirkungen zu entfalten und verwirft die Möglichkeit einer Folterung aufgrund eines starkes Indizes wie der fuga 503 . Lopez wird dagegen die klassische Position vertreten: "indicia sufficientia ad torturam, relinquitur arbitrio judicis"504• Für ihre genauere Bestimmung weist er auf die italienische Lehre hin und erwähnt einige Indizienkategorien, wie die Aussage des klassischen Zeugen "de visu"505 , das außergerichtliche Geständnis506, das öffentliche Gerlicht der Begehung eines Delikts durch eine bestimmte Person507,
499
So aber Alonso Romero, S. 247 f.; ähnlich Tonuis y Valiente, Tortura, S. 109- 111.
soo Miranda, T. II, Q. 26, Art. 4, Concl. 6, S. 160. SOl Cantera, Q. III, Nr. 61, S. 258; vgl. Vilanova y Maiiez. Obs. 10, §V, Nr. 7, S. 346 ("esta facu1dad debe ser reg1ada e juridica, no abso1uta"). soz Azevedo, Lib. IV, Tit. 10, L. 3, Nr. 99, 114-115, S. 226, 228. so3 Ebda, Nr. 82-84, 101-102, S. 225-227. S04 Lopez, Glossa Nr. 2, P. VII, 30, 2.
sos Lopez, Glossa Nr. 3, P. VII, 30, 3.
Lopez, Glossa Nr. 2, P. III, 13, 7, der unter Hinweis auf Ba1dus die Gültigkeitsbedingungen des außergerichtlichen Geständnisses erwähnt: "certa, et qualificata, quae contineat 1ocum, et tempus commissi crirninis". so1 Lopez, Glossa Nr. I, P. VII, 30, 3. 506
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und allgemein die inditia indubitata 508 • Schließlich mahnt er den Richter, bezüglich der Indizien das rechtlich Gebotene einzuhalten509 und betont, daß eine ohne ausreichende Indizien angeordnete Folter niemals (d. h. nicht einmal bei den schwersten Verbrechen wie der Majestätsbeleidigung) zu einem gültigen Geständnis führen kann510• Diese Behandlungen der Frage der inditia ad torturam sind typisch für die Haltung der Autoren des gemeinen Rechts. Anfänglich wird das Prinzip der absoluten Notwendigkeit von ausreichenden und "legitimen" Schuldindizien gesetzt; dann wird versucht, möglichst alle Fälle, die sich in der Praxis stellen könnten, zu behandeln und schließlich angeführt, daß es sich um eine Frage des richterlichen Ermessens handelt511 • Diese Haltung ist eine Folge der bereits angedeuteten Unmöglichkeit, das Indizienproblem abschließlieh zu behandeln512 wie auch ein Spezifikum der kasuistischen Denkweise, die der nicht immer vorhersehbaren Praxis den Vorrang einräumt. Cantera wird sich hauptsächlich auf Gandinus berufen und eine besonders klare Beschreibung der Indizien vornehmen. Es gibt Indizien urgentia oder indubitata, die sowohl zur Verurteilung als auch zur Folterung ausreichen. Ein solches wäre "verbi gratia" das Indiz des "gladio evaginato" in Verbindung mit der fama, daß eine Person den Mord beging. Es gibt aber auch Indizia probabilia, verosimilia oder proxima, die nur zur Folterung ausreichen. Unter diesen erwähnt Cantera "verbi gratia" das von ehrenhaften und respektierten Personen erzählte Gerücht bzw. das Zeugnis eines klassischen Augenzeugen513 ; dann präsentiert er verschiedene Indizien, die allein (außergerichtliches Geständnis, Geständnis vor einem unzuständigen Richter) 514 oder in Verbindung mit anderen Verdachtsmomenten (schlechter Ruf, starke Gegnerschaft, Flucht)515 zur Folterung ausreichen. Von den üblichen Indizienaufzählungen entfernt sich Cantera, weil er Folterungsindizien auch aus dem Verhör des Inquisiten ableitet: Seine vacillatio kann in Verbindung mit anderen Indizien zur Folterung führen 516; sollte jedoch ein unter Eid verhörter sos Lopez, Glossa Nr. 4, P. VII, 1, 26. Lopez. Glossa Nr. 1, P. 111, 13, 5: ,,Et ideü judices no sint faciles ad torturam: sed procedentibus indiciis, et juris ordine servato procedant". 510 Lopez, Glossa Nr. 2, P. III, 13, 5 sowie Glossa Nr. 2, P. VII, 30, 2; vgl. Suarez de Paz. T. I, Pars V, Cap. 3, § 12, Nr. 25, S. I6r; Hevia Bolafios, T. I, Parte 111, § 16, Nr. 20, S. 231-232. m Villadiego, Cap. III, Nr. 312, S. 46v; Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 12-16, S. 540f.; FernandezdeHerrera, Lib. I, Cap. IV,§ 1, Nr. 2 ff., S. 17 ff.; Lopezde Cuellar y Vega, Nr. 814, 999, 1064, 1242-1243, S. 128 ff. m s. oben Kap. B, II, 1, b). m Cantera, Q. III, Nr. 4, S. 206. 514 Ebda, Nr. 24, S. 224. m Ebda, Nr. 8-16, 32-47, S. 210-220,227-244. 516 Ebda, Nr. 20, S. 221, wo der Autor die Entscheidung eines Richters der Chancilleria von Granada aufgrund von widersprüchlichen Aussagen eines Häresieverdächtigen, die Folter anzuordnen, hart kritisiert. 509
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Inquisit zu Widersprüchen gelangen, dann macht er sich des Meineids schuldig, und die Begehung dieses Delikts reicht zur peinlichen Befragung für das Hauptdelikt aus517• De Ia Pefia analysiert vor allem das außergerichtliche Geständnis als Beweis, das zur Folterung und eventuell auch zur Verurteilung ausreicht. Einen halben Beweis bildet es in Verbindung mit der fama der Täterschaft und führt zur peinlichen Befragung. Als voller Beweis gilt ein solches Geständnis, wenn es vor mehreren Personen, von einem Amtsträger oder in Anwesenheit des Opfers abgelegt wurde518 . Das Geständnis muß allerdings durch zwei Zeugen bewiesen werden, die über dieselbe Aussage (und nicht etwa über zwei an verschiedenen Orten und Zeiten abgelegte Geständnisse) berichten519• Eine Rücknahme des Geständnisses hat seine Ungültigkeit zur Folge520. In bezug auf die übrigen Folterindizien wird La Pefia verschiedene Lehrmeinungen darstellen und betonen, daß in diesem Bereich der Richter nach einem durchdachten Ermessen entscheiden darf ("diligentemente arbitrar")521 • Letztere Meinung war nicht nur in Kastilien, sondern bei fast allen Autoren des ius commune vorherrschend522 • Quevedo y Hoyos wird diese Meinung ausführlich und stark kritisieren. Sein Hauptargument ist logischer Natur. Es sei widersprüchlich, einen Richter, der ohne ausreichende Indizien foltert, zur Verantwortung zu ziehen, ein eventuelles Geständnis selbst wenn es "tausendmal" ratifiziert wird als nichtig zu betrachten und den Angeklagten selbst von der Antwortpflicht zu befreien (wie er und die herrschende Meinung behaupten523 ) und gleichzeitig die Bewertung der Indizien ad torturam dem richterlichen Ermessen zu überlassen; letztere Meinung sei "besonders gefährlich" und ftihre zur "Konfusion" bei den Richtern524• Für Quevedo ist das Ermessen mit der Subjektivität gleichbedeutend 525 , was ihn zur Behauptung führt, daß unmöglich das königliche Recht Kastiliens die Indizienfrage dem richterlichen Ermessen überlassen wollte. So will er in seinem Werk "die Meinung vertreten und verteidigen, daß die Indizien keine Ermessensfrage seien"526, und unternimmt eine besonders detaillierte Darstellung der Indizienarten und ihrer prozessualen Konsequenzen, die den Anspruch erhebt, ftir sämtliche
517 518 519 520 521 522 523 524
525 526
Ebda. De la Peiia, Parte II, S. 68- 68v. Ebda, S. 69-69v. Ebda, S. 69v. Ebda, S. 81 ff. (hier S. 85). Dazu s. Fiorelli, Tortura, Bd. II, S. 162 ff.; Rosoni, S. 165 ff. Quevedo y Hoyos, Parte II, Cap. 3, Nr. 2, S. 83 sowie Cap. 4, Nr. 10, S. 87. Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 3, Nr. 1, S. 9. "tantos fueron los juezes, tantas senin las diferencias de los arbitrios", ebda. S. 8v. Ebda, Nr. 2, S. 9v.
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Fälle, die in der Praxis sich stellen könnten, dem Richter Lösungsansätze anzubietens27. Zuerst stellt Quevedo auf theoretischer Ebene die verschiedenen Klassifikationen der Indizien in der Lehre (proximos I remotos, dubitables I indubitables, de factoliurislde iure) dar und bewertet sie anband ihrer prozessualen Wirkung, z. B. inwiefern sie für die Anordnung der Folter ausreichen, um im allgemeinen die Meinungen von Baldus zu akzeptieren528 . Anschließend unternimmt er eine rein kasuistische Beschreibung der Indizien nach verschiedenen Kategorien und Arten und verbindet sie mit konkreten Situationen und Delikten529; dabei untersucht er selbst skurrile Fragen, wie die Methoden zur Indizienbildung bezüglich einer falschen Jungfräulichkeitsbehauptung bzw. der Frage der männlichen Impotenz530. Die Rechtsgeschichte bewertet besonders herablassend den Versuch von Quevedo, dem Richter konkrete Anweisungen zu geben und somit tendenziell sein Ermessen auszuschalten. Seine Klassifizierung der Indizien sei chaotisch, nebulös und "schrecklich"531 ; "er zählt die Indizien so ausführlich auf, daß der Leser vollkommen im Dunkel bleibt"532. Solche Kommentierungen werden der Bedeutung des Werkes von Quevedo im Rahmen der Literatur des ius commune nicht gerecht. Quevedo steht in enger Verbindung mit den Theorietendenzen seiner Zeit. Als die Krise der legalen Beweismaxime im 16. Jahrhundert deutlich wird und die Folter als Beweismethode in Frage gestellt wird, weil die Juristen weniger auf den körperlichen Schmerz als auf die logischen Mechanismen der Tatsachenverbindung zwecks Wahrheitsfeststellung abstellen 533, versucht Quevedo, durch die ausführliche Bewertung der Indizien dem Richter konkrete Anweisungen zu geben, um seine Praxis möglichst zu "verrechtlichen". Quevedo kritisiert weder die Folter noch die legale Beweismaxime. Wie die italienischen Protagonisten der Indizienlehre versucht er durch eine "Verwissenschaftlichung" der Indizienmaterie eine weitere Rationalisierung des Beweissystems zu erreichen, das somit weniger von Gewaltanwendung oder Zufall abhängig sein soll. Dieser Versuch, die Regeln des ius commune an die neuen Daten der Rationalitätskonzeption und an die Bedürfnisse der Praxis anzupassen, ist weder "schrecklich" noch "nebulös", auch wenn er heute so erscheinen mag. Er ist ein Produkt seiner Zeit, das die älteren fragmentarischen Behandlungen der Indizienfrage in Kastilien qualitativ übertrifft. m Ebda, Nr. I, S. 9-9v; der Gerichtsschreiber Fernandez de Herrera, Lib. I, Cap. IV, § I, Nr. 3 ff., S. 17 ff. wird in Bezug auf die Folterindizien auf Quevedo y Hoyos verweisen und bemerken, daß dieses äußerst schwierige Thema die Richter und nicht die Gerichtsschreiber interessiert. 528 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 3, S. 8v-11 v. s29 Ebda, Cap. 4-9, S. 12v-47. 530 Ebda, Cap. 9, Nr. 17-18, S. 39-40. 531 Tonuis y Valiente, Tortura, S. 110. 532 Alonso Romero, S. 248. 533 s. oben, Kap. B, II, 1, b).
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Bezüglich der inditia ad torturam stellt sich eine letzte Frage. Alle Autoren sind der Meinung, daß prinzipiell ohne Indizien nicht gefoltert werden darf. Das Gegenteil hat nicht nur die Nichtigkeit des Geständnisses zur Folge (selbst wenn es ratifiziert wird)534 , sondern kann auch zur Bestrafung des Richters führen 535 . Auch diese Regel kannte jedoch bedeutende Ausnahmen. Aus den Ausführungen der kastilischen Lehre, die sich auch diesbezüglich auf Autoren des ius commune beruft, geht hervor, daß es zwei Kategorien von Ausnahmen gibt, die die Garantien für den Angeklagten beschränken, indem sie die Indizienvoraussetzung tendenziell beseitigen. Die erste Ausnahme betrifft die Möglichkeit, die Folterung ohne ausreichende Indizien ("leves", "dudosos", "equivocos") anzuordnen536• Dies wurde jedoch nur im Falle von schwerwiegenden bzw. schwer beweisbaren Delikten zugelassen. Auf diese Ausnahme beziehen sich Castillo de Bovadilla537 , Villadiego 538, Quevedo y Hoyos539, Elizondo540, Miranda541 und zwischen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts Vizcaino Perez542 und Vilanova Maiiez543 • Die zweite Ausnahme führt zum vollkommenen Bruch mit der Notwendigkeit der lndizienvoraussetzung. Castillo de Bovadilla und Villadiego behaupten mit lapidaren Sätzen, daß eine Folterung auch ohne Vorhandensein von Schuldindizien möglich ist544• Quevedo y Hoyos, der einige Jahrzehnten nach diesen Autoren 534 s. etwa Miranda, T. II, Q. 26, Art. 17, Concl. 1, S. 242. m s. etwa Castillo de Bovadilla, II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 12, S. 540. 536 s. die Hinw. auf die gemeinrechtlichen Autoren bei Farinacius, Pars I, T. I, Q. 37, Nr. 79-95, 153-155, S. ll7ff. 537 Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 16, S. 540-541. 538 Villadiego, Cap. 111, Nr. 316, S. 46v: .,Yaunque en los delitos notorios, como dicho es, y en los muy ocultos, enormes y muy atroces, contra hombres facinorosos, no tiene pena el juez si diere tormento con indicios menos suficientes". 539 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 2, Nr. 1 ff., S. 4v ff. (grausame Delikte, Verdächtige schlechten Rufes sowie nächtliche oder gemeinschaftlich begangene Delikte) mit akribischer Bestimmung der zur Folterung ausreichenden .,leichten" oder .,entfernten" Indizien. 540 Elizondo, Nr. 12, S. 277.
541 Miranda, T. II, Q. 26, Art. 4, Concl. 5, S. 158 f. (okkulte und schwer beweisbare Verbrechen). Diese Ausnahme wird auch von Cantera verteidigt, der bei Verbrechen wie Mord kleinere Beweise als ausreichend betrachtet; seine Besonderheit liegt darin, daß er diese Behauptung mit der ebenso verbreiteten Meinung verbindet, die Folterindizien seien dem richterlichen Ermessen überlassen. Wenn aber der Richter für jeden konkreten Fall die zur Folterung ausreichenden Indizien festlegen darf, dann erübrigt sich eine niedrige Beweisschwelle bezüglich bestimmter Delikte ( Cantera, Q. 111, Nr. 60, S. 255- 257). 542 Vizcaino Perez, Nr. 407, S. 375 (nur im Fall der Majestätsbeleidigung). 543 Vilanova y Mafiez, Obs. 10, § V, Nr. 7, S. 349. 544 Villadiego, Cap.lll, Nr. 313, S. 46v ("aunque hay casos en que permite e1 derecho darle sin indicios"); Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 13, S. 540 (.,aunque ay cosas en que el Derecho permite dar tormento sin indicios algunos"). Bovadilla meint vielleicht den Fall einer Folterung nach Anordnung des Königs; an anderer Stelle bemerkt er, daß in einem
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schreibt545 , behauptet dagegen, daß es überhaupt keinen Fall gibt, wo eine Folterung ohne Indizien zulässig wäre. Dies gilt selbst bei der Majestätsbeleidigung und hat zur Konsequenz, daß ein unter solchen Bedingungen erpreßtes Geständnis selbst nach seiner Ratifizierung ohne jegliche Wirkung bleibt546. Quevedo zitiert dabei weder Bovadilla noch Villadiego, nimmt aber zum Ziel seiner Kritik Autoren wie Mascardi, die eine Folterung ohne Indizien gegen Personen schlechten Rufes, die für schwere Verbrechen angeklagt werden, befürworten547. Quevedo findet diese Meinung an sich widersprüchlich, da der schlechte Ruf ein inditium remotum sei, das schon zur Folterung (gemäß der obengenannten Ausnahme) führen kann548 ; die zweite Ausnahme wäre also nur scheinbar, d. h. Konsequenz einer fehlerhaften Betrachtung der lndizienlehre. Dieses der Indizienlehre immanente Argument reicht jedoch nicht aus, um die allgemeine Bejahung einer Folterung ohne Indizien zu widerlegen. Wir sahen, daß Castillo de Bovadilla und Villadiego eine solche Aussage ohne konkrete Fallbeschreibung, etwa durch Erwähnung des schlechten Rufes, aufstellten. Quevedo präsentiert jedoch ein "unschlagbares" Argument, da er sich nebst eines Verweises auf Lopez auf die höchsten Werten des katholischen Europa beruft, um die juristische Kontroverse durch religiösen Wertbezüge zu lösen. Der Inquisit darf ohne Indizien niemals gefoltert werden "weil, wenn der Richter keine Indizien hat, es sich um ein okkultes Delikt handelt, das nicht der Jurisdiktion des irdischen Richters unterliegt; das Richten über alle okkulte Sachen gehört nur der himmlischen Majestät ( .. . ); und somit fällt in eine Todsünde und wird zur Hölle verurteilt deijenige, der den Angeklagten über das befragt, was Gott nicht zumindest durch einige Indizien offenbaren wollte"549. solchen Fall der Richter, der der Anordnung folgt, keine Verantwortung trägt. Interessant ist dabei die theologische Begründung: ,,La raz6n es, porque se presume por el Rey, cuyo coraz6n esta en Ia mano de Dios, que es bueno, y justo, y que sus mandatos son segun justicia y no se Je puede replicar" (Castillo de Bovadilla, T. I, Lib. II, Cap. 10, Nr. 61 , S. 325; vgl. ebda, Nr. 64, S. 326). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird Elizondo (Nr. 5, S. 275) eine Tortur ohne Indizien nur im Fall von besonders grausamen Delikten (,.atrocissimos") als zulässig betrachten. 545 Bovadillo veröffentlicht sein Buch 1605, Villadiego 1612 und Quevedo 1632. 546 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 2, Nr. 13, S. 1•; Parte II, Cap. 4, Nr. 10, S. 87. 547 Baldus hatte die Folterung ohne Indizien im Fall von Verbrechen gegen den Staat akzeptiert, obwohl er an anderer Stelle eine solche Folterung kategorisch ausschloß. Dazu s. Fiorelli, Tortura, Bd. II, S. 20. 548 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 2, Nr. 14, S. 1•-8. 549 Ebda, Parte II, Cap. 3, Nr. I, S. 83. Vgl. ebda, Cap. 4, Nr. 16, S. 88•: .,wenn Gott will, daß das Delikt entdeckt und der Delinquent herausgefunden wird, dann wird seine göttliche Majestät einen Weg finden, Indizien zu entdecken und sie ans Licht zu bringen; und wenn es keine gibt noch sie sich feststellen lassen, dann will Gott vielleicht nicht, daß die Delikte auf dieser Welt bestraft werden und somit erfüllt der Richter seine Pflicht gemäß dem rechtlich Befohlenen und soll nicht weiter suchen, weil andernfalls er wahrscheinlich beim Versuch, den Delinquenten zu bestrafen, sein Gewissen belasten und seine Seele verurteilen wird".
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Somit vertritt Quevedo eine "garantistische" Position, indem er extremen Versuchen der Flexibilisierung der Folterungsvoraussetzungen gegenüber die Notwendigkeit der Einhaltung von Regelungen betont, die die Folter "legal" machten, d. h. ihre Anwendung nur beim Vorhandensein von ausreichenden Schuldindizien erlaubten. Die "theologische" Begründung dieser Notwendigkeit zeigt uns die engen Beziehungen zwischen den verschiedenen Kontrollsystemen dieser Periode. Alle standen innerhalb der Wertsystems einer göttlichen Ordnung: Das Strafrechtssystem kann es sich "leisten", ein Verbrechenunbestraft zu lassen, weil der Verantwortliche am Ende die verdiente Strafe bekommen wird. Auch wenn er in der Beichte sein Verbrechen, das auch eine Sünde ist, nicht gesteht, wird er von Gott bestraft. Somit kann das irdische Strafrecht auch im Rahmen der Legalität bleiben, d. h. nicht zum Zweck der Verbrechensverfolgung in eine manische (und barbarische) Inquisition entarten. Diese Komplementarität, die bei Quevedo y Hoyos besonders sichtbar ist, zeigt schließlich, daß das legale Beweissystem auch eine absolute Wahrheitsgarantie besaß: Gott weiß alles, und am Ende wird er die Gerechtigkeit triumphieren lassen. Dies erlaubte den Juristen diese absolute Garantie zwecks der Beschränkung des Systems zu aktivieren. Und darüber hinaus konnte der Jurist, als das Unvermögen des Systems, befriedigende Lösungen zu entwerfen und die Wirklichkeit effektiv zu kontrollieren, sichtbar wurde, sein "Gewissen" beruhigen und die "destruktive" Lösung des Abbaus von rechtlichen Garantien vermeiden.
5. Die Subsidiarität der Tortur a) Die Subsidiaritätsregel Die meisten kastilischen Autoren behandeln das Thema der Subsidiarität der Folter und verteilen sich auf zwei Gruppen. Die erste akzeptiert die strenge Version der Subsidiarität in den Partidas550 und behauptet, daß die Folter nur nach Erschöpfung sämtlicher Beweismöglichkeiten erlaubt ist551 • Die zweite Gruppe, der die meisten späteren Autoren angehören, folgt der Auffassung von Castillo de Bovadilla und führt zu einer teilweisen Aufhebung dieser Beschränkung der peinlichen Befragung552. sso P. VII, 1, 26; dazu oben Kap. B, III, 3, a). ss1 Gomez. Pars III, Cap. 13, Nr. 19, S. 509; Azevedo, Lib. IV, Tit. 7, L. 10, Nr. 4, S. 141; Alvarez Guerrero, S. XXUV; Miranda, T. II, Q. 26, Art. 3 und Art. 4, Concl. 1, S. 137, 150 ff.; De Ia Pefia, Parte I, S. 62v-63, Parte II, S. 83v-84, demgemäß der Richter, der in den Verfahrensakten nicht das Fehlen jeder anderen Möglichkeit der Wahrheitsermittlung belegt, zu bestrafen sei (S. 84). ss2 Zu diesen zwei Autorengruppen s. auch Alonso Romero, S. 249 f., die den Unterschied mit der Durchsetzung des Prinzips des öffentlichen Interesses für die Verbrechensverfolgung erklärt. Diesbezüglich ist zu bemerken, daß es sich hier nicht um einen polaren Gegensatz handelt. Beide Gruppen akzeptieren grundsätzlich das Subsidiaritätsprinzip, mit dem Unter-
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Die Subsidiaritätsregel bedeutete in ihrer strengen Version, daß die Anwendung der Folter nur nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens (und jedenfalls der summarischen Phase) erlaubt war, als der Richter sämtliche Beweiselemente besaß und die Möglichkeit der Anordnung der Folter als eine Art "letzte Chance" anordnen konnte. Die Tortur kam also nur im Moment der Entscheidung angesichts der vorliegenden Beweise in Betracht. Dabei hatte der Richter nach den Partidas drei Möglichkeiten: Verurteilung zur ordentlichen Strafe, wenn der Inquisit aufgrund eines vollen Beweises überführt war, Freisprechung bei ungenügenden Schuldindizien und Anordnung der Folter, wenn die Beweislage es als notwendig erscheinen ließ553 • Diese Subsidiaritätsregel faßte Gomez folgendennaßen zusammen: .Jtem quaero, quando & in qua parte processus & causa debeat adhiberi tortura? in quo resolutive dico, quod debet adhiberi post publicationem factam in processu, vel causa, quia ante non potest iudici liquere & constare de meritis causae ( ... ). Debet adhiberi in subsidium, quando non sunt aliae plenae & legitimae probationes ipsu delicti" 554• Ähnlich war die Position von Lopez in der Kommentierung der Partidas ("in subsidium"), der hinzufügte, daß bei Nicht-Respektierung dieser Voraussetzung das eventuelle Geständnis nichtig ist und der Richter, der die Folter in der summarischen Phase anordnet, zur Verantwortung gezogen werden kann ("tenebuntur in sindicatu")555 • Unter den späteren Autoren vertritt Hevia Bolanos dieselbe Auffassung556, und im 18. Jahrhundert erwähnt Cayetano Sanz das Subsidiaritätsprinzip ohne Relativierungen und weist auf eine diesbezügliche Praxis der Chancilleria von Valladolid hin557 • Azevedo ist ausführlicher zu dieser Frage und zeigt die konkreten "garantistischen" Auswirkungen des Subsidiaritätsprinzips. Die Folterung erst am Ende des Ermittlungsverfahrens dient nicht nur der "Ökonomie" der Gewaltanwendung, sondern erlaubt es auch dem Angeklagten, von seinen Verteidigungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, d. h. sie garantiert ein gewisses "Gleichgewicht" im Ablauf des Prozesses. Vor Anordnung der Folter ist nämlich nicht nur die Erschöpfung aller Beweismöglichkeiten erforderlich, sondern es müssen auch zwei formelle Voraussetzungen erfüllt sein: Dem Inquisiten ist eine Kopie der vorliegenden Beweise zu überreichen, und sämtliche Zeugen sollen ihre Aussagen aus der summarischen Phase in Anwesenheit der Parteien bekräftigen, was selbst bei hohen Gerichten und bei schwerwiegenden Delikten erforderlich ist. Sein prinzipielles Argument schied, daß die zweite Ausnahmen einführt, die sich auf den Charakter des Delikts, des Delinquenten oder I und auf die hierarchische Stelle des zuständigen Gerichts beziehen. m P. VII, 1, 26; vgl. etwa Gomez. Pars III, Cap. 13, Präambel, S. 501. SS4 Gomez. Pars 111, Cap. 13, Nr. 19, S. 509. sss Lopez, Glossa Nr. 2, P. VII, 30, 2; Glossa, Nr. 8, P. VII, 30, 4. SS6 Hevia Bolafios, T. I, Parte 111, § 16, Nr. 1, S. 229. ss1 Cayetano Sanz, Caso I, Nr. 2-44, S. 4-21, der neben kastilischen Autoren auch den katalanischen Juristen M. Cortiada oft zitiert. 9 Sabadell
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für die Kritik von konträren Praktiken hoher Gerichte ist die Respektierung der prozessualen Ordnung, die vor allem als göttliches Gebot erscheint. Was den Angeklagten betrifft, muß er von seinem Verteidigungsrecht Gebrauch machen, "nam cum membrorum suorum, nemo dominus dicatur"; der Verzicht auf die Verteidigungmöglichkeiten käme also einem Selbstmord gleich. Was die Gerichte betrifft, ist die Zurückweisung jeder Abweichung von der prozessualen Ordnung mit dem Hinweis belegt, daß, da der allwissende Gott Adam Verteidigungsmöglichkeiten einräumte, auch jeder Richter dasselbe machen muß; der Richter sei nämlich nichts anderes als ein "homunculus, cuius sapientia coram Deo est stultitia"558 • Daraus ergibt sich die Verbindung der Subsidiarität mit der Verteidigung des Inquisiten und die doppelte Funktion der Subsidiarität, die die Folter in Bezug auf die Beweislage an eine ,,Zwischenstelle" legt und das richterliche arbitrium stark beschränkt. Einerseits ist die Tortur noch nicht anzuordnen, wenn nicht sämtliche Beweismöglichkeiten erschöpft werden, wenn der Angeklagte noch keine Verteidigung vorgelegt hat und die gesammelten Indizien gemäß der Lehre der inditia ad torturam zur Folterung nicht ausreichen. Andererseits darf die Folter nicht mehr angeordnet werden, wenn schon ein vollständiger Beweis vorliegt. Aus den beiden "strengen" Regeln der Beschränkung der Folter wird ein Teil der Lehre Ausnahmen einführen. b) Ausnahmen aa) Folterung vor Erschöpfung sämtlicher Beweismöglichkeiten
Miranda beginnt die Behandlung der Frage mit der Akzeptierung der Regel, daß eine Folterung ohne ausreichende Indizien und ohne Einhaltung der übrigen Voraussetzungen nicht einmal bei besonders schwerwiegenden Delikten ("atrocissima", "excepta") zulässig ist. Auch wenn der Fürst "de sua absolute potestate" eine entsprechende Anordnung gibt, hat der Richter ihr nicht zu folgen ("in eo iudex non illi tenebitur obedire")559• Die prozessualen Regeln beschränken also die "absoluta potestas" und garantieren auch die Verteidigungsrechte eines Exkommunizierten und selbst des "Teufels"560. Miranda wird jedoch in kasuistischem Stil Ausnahmen von der Subsidiaritätsregel in mehreren Fällen annehmen: Verzicht des Inquisiten auf seine Verteidigung, notorische Delikte einschließlich der jlagranti, Raub und Mord, leichte Delikte, die nicht mit Leibstrafe geahndet werden561 • sss Azevedo, Lib. IV, Tit. 10, L. 3, Nr. 103-109, 150, S. 227, 232 (hier Nr. 150, S. 232 und Nr. 107, S. 227); "verba Alphonsi de Azevedo" folgt Parexa Quesada, Tit. VI, Resol. 8, Nr. 7, 53, S. 62, 69 (hier Nr. 53, S. 69), der für diejenigen, die die Verteidigungsrechte nicht respektieren, bemerkt: "ipsi viderint, quia ad nosnon attinet eorum conscientias scrutari" (ebda). SS9 Miranda, T. II, Q. 26, Art. 4, Cohcl. 1, S. 152 und Art. 14, Concl. 1, S. 215. S60 Ebda, T. II, Q. 26, Art. 14, Concl. 1, S. 215. 561 Ebda, T. II, Q. 26, Art. 14, Concl. 2, S. 216 f.
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Andere kastilische Rechtsgelehrte werden die Liste und die Reichweite der Ausnahmen erweitern und bei einigen Deliktkategorien das Prinzip faktisch beseitigen. In diesem Versuch sind sie sicherlich nicht allein. Die italienische Lehre behauptete seit Baldus, daß in Anbetracht der Schwere oder der Umstände des Verbrechens die Abweichung von der prozessualen Ordnung erlaubt oder sogar geboten ist: "propter enormitatem delicti non concedenda conceduntur: & licitum est Ieges transgredi"562 • Auch wenn also die kastilischen Autoren mit den Relativierungen der verfahrensrechtlichen Garantien für den Angeklagten "zu weit" gehen, folgen sie dem kasuistischen Schema der Anpassung abstrakter Regeln an konkrete Verfolgungsbedürfnisse. Castillo de Bovadilla, Villadiego, Quevedo y Hoyos, Fernandez de Herrera, Matheu y Sanz und Elizondo befürworten eine ausnahmsweise Anwendung der Folter in der summarischen Phase des Verfahrens, wenn es sich um grausame, besonders schwere oder okkulte Verbrechen handelt, während der Gerichtsschreiber De Torneo allgemeiner (und vereinzelt) behauptet, daß die Richter, wenn sie von der Schuld des Inquisiten "stark überzeugt" sind, seine Folterung schon vor der Bekanntmachung der Beweise anordnen563 • Castillo de Bovadilla behandelt das Thema in einer Art und Weise die als "widersprüchlich" bezeichnet wurde564• Im ersten Band seines Hauptwerks übernimmt er die Meinung von der strikten Subsidiarität der Folter und weist auf die italienische Lehre hin565 . Im zweiten Band akzeptiert er jedoch die peinliche Befragung auch in der summarischen Phase des Verfahrens ohne Bekanntmachung der Indizien, wenn es sich um besonders okkulte oder schwerwiegende Delikte handelt und die Inquisiten Personen von schlechtem Ruf sind. In solchen Fällen hat die Nicht-Einhaltung der prozessualen Ordnung keine negativen Konsequenzen für die Richter: Sie werden ftir die Abweichung "entschuldigt"566. Zur Bekräftigung seiner Argumentation verwendet Bovadilla den rhetorischen topos der "Praxis": Dies sei gängige Praxis sowohl bei den hohen als auch bei den lokalen Gerichten des 562 Baldus, ad Lib. primum, Tit. Oe precibus Imperatori offerendis, Licet servilis, Nr. 2, S. 83. Die italienische Lehre hatte drei Deliktkategorien herausgearbeitet, die eine "besondere" Behandlung erfuhren. Erstens, die crimina difficilis probationis, die aufgrundihrer ,,Natur" (Delikte, die keine Spuren hinterlassen, Begehung an privaten Orten oder in dem forum internum) immer Beweisschwierigkeiten stellten; dabei wurden die Beweiserfordernisse "gesenkt": "Leichte" Indizien führten zur Folterung und einige Vermutungen galten als vollständiger Beweis. Zweitens, die crimina atrocia, atrociora, atrocissima: die besondere Schwere des Delikts und das Interesse an einer exemplarischen Bestrafung führten zur Beschleunigung des Verfahrens und zum Abbau von Verteidigungsgarantien. Drittens, die crimina nocturna, die aufgrund der konkreten Begehungsumstände besondere Aufklärungsschwierigkeiten erzeugten, und wo ebenfalls die Beweiserfordernisse gesenkt wurden. Dazu s. Rosoni, S. 193 ff. Zur Frage der Nicht-Respektierung der prozessualen Ordnung s. auch unten Kap. C, IV, I, d). 563 Gonzalez de Tomeo, Lib. I, Tit. 22, S. 46. 564 Alonso Romero, S. 250. 565 Castillo de Bovadilla, T. I, Lib. II, Cap. 21, Nr. 152, S. 686. 566 Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 16, S. 540 f.
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Königreichs, und er selbst sei als Corregidor flir 21 Jahre von der Subsidiaritätsregel abgewichen567. Aus theoretischer Sicht bezieht sich Castillo de Bovadilla auf Paris de Puteo, um die Abweichung von der Subsidiaritätsregel bei den Hohen Gerichten zu rechtfertigen568. Sein Hinweis ist sachlich nicht vollkommen gerechtfertigt. Paris de Puteo führte an, daß eine Norm den Richtern der Hohen Gerichte ("magna curia vicaria") die Anwendung der Folter in der summarischen Phase erlaubte, die Gerichte jedoch einen besonders restriktiven Gebrauch von dieser Möglichkeit machten569. Allerdings gibt es in der italienischen Lehre viele Meinungen, die die Behauptung von Castillo unterstützen, d. h. sie innerhalb der gemeinrechtlichen Lehre als "normal" erscheinen lassen570. Spätere kastilische Autoren werden der Meinung von Castillo folgen. Das ist der Fall bei Villadiego, der bei besonders schwerwiegenden Delikten die Folterung in der summarischen Phase beftirwortet571 sowie bei Fernandez de Herrera und Elizondo, die die Folterung in der summarischen Phase nur bei Hohen Gerichten bzw. auf Anordnung der Pesquisidores befürworten572. Als allgemein erlaubt betrachtet Quevedo y Hoyos die Tortur vor Beendigung des Ermittlungsverfahrens insofern es sich um grausame Delikte handelt573 . Er ftigt allerdings hinzu, daß "der Doktrin von Bobadilla" nur bezüglich der ersten Foltersitzung zu folgen sei; soll die peinliche Befragung wiederholt werden, dann sind die vorliegenden Beweise dem Inquisiten bekanntzugeben574 . Die ausführlichere Behandlung der Frage wird Matheu y Sanz vorlegen575 . Ausgangspunkt bildet die ständige Praxis der Hohen Gerichte, die Folter in der summa567 Ebda: s. auch T. I, Lib. II, Cap. 21, Nr. 137, 151, S. 682 f., 686. Eine solche Praxis des Gerichts de Casa y Corte, wenn ein Fall "schnell" entschieden werden sollte, erwähnt Gonzalez Davila, S. 404. 568 Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 16, S. 540 f. S69 Paris de Puteo, Et an si quis, Nr. 8-9, S. 304v. s1o s. etwa die Literaturhinw. bei Farinacius, Pars I, T. I, Q. 39, Nr. 42-43, S. 140 und Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 10, Nr. 6, S. 49-49v. S71 Villadiego, Cap. III, Nr. 307,312, 316, S. 46-46v. m Fernandez de Herrera. Lib. II, Cap. 3, § I, Nr. 4, S. 233 sowie § 2, Nr. 4, S. 238; Elizondo, Nr. 4, S. 274 f.; ähnlich Vitanova y Maflez. Obs. 10, §V, Nr. 18, S. 356 f. mit Hinweis auf eine solche Praxis der Hohen Gerichte, die er jedoch als "selten" bezeichnet, sowie auf die Möglichkeit der Niedergerichte, nach Beratung mit den Hohen, die Folter in der summarischen Phase anzuordnen (ebda, Nr. 20, S. 358). S73 Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. 1, Nr. 8, S. 3-3v sowie Cap. X, Nr. 5, S. 49-50. S14 Ebda, Cap. X, Nr. 5 ff., S. 49 ff. im Rahmen einer ausführlichen Behandlung der Frage der Vorladung des lnquisiten und der Bekanntmachung der Beweise. s1s Matthaeu et Sanz. Tractatus de re criminali, Contr. 25, Nr. 1-96, S. 171-191. Dieses Werk stammt aus der zweiten Schaffensperiode des Autors, der nach einer beachtenswerten juristischen Karriere in Valencia in Kastilien tätig wird und in Bezug auf die Folter "effizientistische" Thesen des Abbaus der Garantien des Angeklagten vertreten wird, die im Gegen-
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rischen Phase ohne Gewährung der Verteidigungsrechte anzuwenden, eine Behauptung, die er mehrmals wiederholen und zu begründen versuchen wird576. Matheu erwähnt die starke Kritik an dieser Praxis, die viele gelehrte Juristen geübt hatten577, und versucht sie zuerst durch eine allgemeine Reflexion zur Einteilung des Strafprozesses zu widerlegen. Die summarische Phase bezweckt die Vorbereitung des Urteils, während das Hauptverfahren zum Endurteil führt, was die Verschiedenartigkeit der Prozeßregeln in jeder Phase zur Konsequenz hat. So muß der Richter in der summarischen Phase besonders schnell vorgehen, und dies hat Konsequenzen bezüglich einer eventuellen Anwendung der Folter. Die Prozeßregeln der summarischen Phase sind "außerordentlich", was auch bezüglich der Folter, die in dieser Phase bei schwerwiegenden Delikten erlaubt ist, gilt: "extrajudicialis reputetur", d. h. sie erfahrt eine besondere Beschränkung der Verteidigungsrechte578. Keine Norm zwinge den Richter, dem Inquisiten in der summarischen Phase die Beweise bekanntzugeben, damit er seine Verteidigung vorbereiten kann, und jedenfalls kann die ständige Praxis eines hohen Gerichts das geschriebene Recht abändem579. Sein stärkstes Argument ist nämlich nicht der theoretische Unterschied der Prozeßphasen, sondern eine allgemeine Gewohnheit der höchsten Gerichte "orbis Christiani", dergemäß die Folter in der summarischen Phase bei "gravioribus & exceptis" ohne Verteidigung angeordnet werden konnte580. Was insbesondere Kastilien betrifft, bemerkt Matheu, daß dieselbe Praxis auch von den Niedergerichten gefolgt wird581 , was er mit dem Hinweis rechtfertigt, daß bei schwerwiegenden oder Sonderdelikten die Nicht-Respektierung der prozessualen Regeln "rechtlich" erlaubt sei582. Dem Einwand, daß die Verteidigung ein natürliches Recht sei, das durch rechtliche Regelungen nicht beschränkt werden kann, hält er entgegen, daß das Naturrecht zwar unabänderlich und unantastbar ist, jedoch nur den Entzug sämtlichen Verteidigungsmöglichkeiten verbietet, um die Verurteilung einer vollkommen unschuldigen Person zu vermeiden; im vorliegenden Fall handelt es sich nur um Verteidigungsrechte, die das ius civilis gewährt hat und die jederzeit beschränkt oder zurückgenommen werden können583.
satz zu seinen Schriften aus der Valencianischen Periode stehen (ausführlich dazu Tonuis y Valiente, Tortura, S. 37 ff.). 576 Matthaeu et Sanz. Tractatus de re criminali, Contr. 25, Nr. l, S. 174. 577 s. die Hinweise auf 23 Autoren, ebda, Nr. 2-3, S. 174. 578 Ebda, Nr. 5- l 0, 13, S. 175- 176 (hier Nr. 13, S. 176). 579 Ebda, Nr. 17-22, S. 176-177. 580 Matheu zitiert zahlreiche Autoren aus Italien, Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland sowie einige "ex nostrae Hispaniae Doctoribus" (ebda, Nr. 19-22, S. 176- 177). 581 Ebda, Nr. 22, S. 177. 582 Ebda, Nr. 26, S. 178; zur Unterstützung dieser These werden italienische Rechtsgelehrte zitiert, die bei solchen Delikten sogar die Folterung ohne Indizien als zulässig betrachten (Nr. 35, S. 181). 583 Ebda, Nr. 36, 49, S. 181, 183; ähnlich Vitanova y Manez. Obs. l 0, § V, Nr. 18, S. 357.
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Aus theoretischer Sicht zeigt die Argumentation von Matheu y Sanz, daß er die Ausnahme der Folterung in der summarischen Phase ohne Einhaltung der prozessualen Regeln hauptsächlich durch eine Gewohnheitsregel begründet. Diesbezüglich folgt er der allgemeinen Lehre des gemeinen Rechts, daß eine Gewohnheit nur unter drei Bedingungen gilt: Wenn sie im Einklang mit dem Naturrecht steht, die Lehren der christlichen Religion respektiert und rationalibis ist584• Die Ausführungen von Mattheu y Sanz versuchen in der Tat, die Respektierung naturrechtlicher Normen sowie christlicher Prinzipien (durch Hinweis auf eine ständige Praxis der Hohen Gerichte "orbis Christiani") zu zeigen und die Rationalität dieser Ausnahmeregelung durch die Analyse der Struktur und Zwecksetzung der Verfahrensphasen zu begründen. Der Begründung der Rationalität der Ausnahme dient schließlich der bei den Autoren der Periode übliche Hinweis auf die "ratio publicae utilitatis consistens in eo, quod similia delicta non remaneant impunita, semper praevalet privatae utilitati": Die Gefahr der Flucht eines Mittäters oder die negative Beeinträchtigung der Ermittlungen durch eine vorzeitige Bekanntmachung der Beweise rechtfertigt die Beschränkung der Verteidigungsrechte in der summarischen Phase585 • Als Nebenargument dient dabei der Hinweis darauf, daß der Angeklagte im Rahmen der Ratifikation des Geständnisses sich verteidigen kann, d. h. die Verteidigungsrechte ihm nicht vollkommen entzogen werden: Es handele sich nur um eine Ausgestaltung der Verteidigung gemäß der "Qualität" jeder Verfahrensphase586• Matheu y Sanz schließt die Behandlung der Frage mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Repression gegen Personen, die "purgamenta suae Patriae esse solent". Dabei bezieht er sich auf den exemplarischen Charakter und die Symbolizität des königlichen Justizsystems, die das entscheidende Argument für die Annahme einer Folterung in der summarischen Verfahrensphase gibt: "impositio torturae ex summaria in tribus, aut quatuor criminibus atrocissimis plurimas atrocitates per decennium vitavit"587 . Matheu gibt also zu, daß das königliche Recht keine Ansprüche auf systematische Verfolgung der Delikte durch strikte Anwendung der Prozeßregeln hat. Seine Wirksamkeit stützt sich auf die exemplarische Bestrafung von "drei oder vier" Personen, die notfalls auch durch Überschreitung der rechtlichen Regelungen geschieht, um abschreckende Wirkungen für "ein Jahrzehnt" zu entfalten. Gerichtliche Bräuche einer "außerordentlichen" Folterung stehen also vor allem mit der einleitend angedeuteten restriktiv-symbolischen Funktionsweise der Justizsystems im ancien regime im Einklang. 584 Zu diesen Bedingungen, die die Digesten und die Lehre aufstellten, s. etwa Coing, S. 109. 585 Matthaeu et Sanz, Tractatus de re criminali, Contr. 25, Nr. 8, 51, S. 175, 184. 586 Ebda, Nr. 53-55, S. 184-185. 587 Ebda, Nr. 95, S. 191, wo auch behauptet wird, daß die Delinquenzprobleme anderer europäischer Länder in Kastilien dank der Strenge und der Exemplarität der Bestrafung nicht existieren (Nr. 94-95, S. 190).
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Wie schon mehrmals erwähnt, versuchten die gerichtliche Praxis und die Lehre verschiedene Wege, um die Effizienzprobleme des legalen Beweissystems zu lösen, da die vielfältigen normativen Beschränkungen in den Augen der Justizoperatoren keine zufriedenstellende Antwort auf die Kriminalitätsprobleme gaben. Der Diskurs von Matheu y Sanz zeigt uns, worin der Beitrag eines gelehrten Juristen bestand. Matheu versteht, daß die Abweichung von der Subsidiaritätsregel eine der Praxis entsprungene Notlösung ist, die die Effizienz des richterlichen Handeins erhöht. Als Jurist kann er sich nicht damit begnügen, diese Wendung zu registrieren und mit Effizienzüberlegungen politischen Charakters zu rechtfertigen; noch will er diese verbreitete Praxis als ,,rechtswidrig" verwerfen, eine Wahl, die seine Analyse als wirklichkeitsfremd diskreditieren würde. So beginnt er eine "technische" Diskussion, die durch Verbindung und Kommentierung verschiedener Lehrmeinungen und allgemeiner Prinzipien der Rechtsordnung die rechtliche Zulässigkeit dieser Ausnahme behauptet, d. h. sie als rechtlich vollkommen gerechtfertigt und nicht als eine "politisch" diktierte Abweichung darstellt. In Anbetracht der Intentionen mag stimmen, daß die gelehrten Juristen durch die Einführung von zahlreichen Ausnahmen von den rechtlichen Schranken der Folter nur die Herbeiführung eines Geständnisses erzielen wollten588 . Ihr spezifischer Beitrag bestand jedoch darin, solche Ausnahmen juristisch zu bearbeiten und sie nur insoweit zu akzeptieren, als sie eine juristische Rechtfertigung hatten. Dadurch konnte die Respektierung des "iuris ordinis" bei der Handhabung von Instituten wie der Folter belegt werden und die Vorstellung des Justizsystems als gerecht, d. h. als mit göttlichen und königlichen Geboten konform, aufrechterhalten werden.
bb) Foltertrotz desBestehenseines vollständigen Beweises Die Partidas erlaubten die Folter nur, wenn die Begehung eines Delikts nicht "anders bewiesen werden" konnte, was bedeutet, daß sie die peinliche Befragung beim Vorliegen eines vollständigen Beweises untersagten589• Dasselbe behaupteten die Vertreter der strengen Version der Subsidiarität, was De La Peiia mit der Feststellung ausdrückte, daß der Richter, der beim Vorliegen eines vollständigen Beweises die Folter anordnet, "eine tödliche Sünde begeht"590• Wir werden im folgenden sehen, daß ein großer Teil der kastilischen Lehre unter Berufung auf die gemeinrechtliche Lehre in drei Fallbeispielen die Folterung auch nach der Überführung des Inquisiten befürwortete.
588
s. etwa Alonso Romero, S. 251.
589
P. VII, 30, 1.
590
De la Pefla, Parte I, S. 62v.
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(1) Folter zum Entzug des Appellationsrechts
Die kastilische Doktrin wird die Meinung vertreten, daß eine peinliche Befragung nach der Überführung erlaubt ist, um ein Geständnis zu erpressen und somit den Angeklagten von der Ausübung des Berufungsrechts auszuschließen. Dies war in keiner Bestimmung des königlichen Rechts vorgesehen, und Gomez bemerkte, daß eine solche Folterung illegal ist und ein eventuelles Geständnis nichtig bleibt, d. h. das Berufungsrecht nicht ausschließt, und der Richter, der dabei unter Mißachtung des Subsidiaritätsgebots foltert, zu bestrafen ist. Die gegenteilige Meinung von Autoren wie Baldus, Bartalus und Hippolytus de Marsiliis bezeichnete und kritisierte Gomez als "conclusio nova et singularis"591 . Eine ähnliche strenge Auffassung finden wir bei Suarez de Paz592 und Miranda593 . Die Autoren, die die Folterung zwecks der Ausschließung der Appellation befürworten, betrachten diese Ausnahme von der Subsidiaritätsregel nur bei grausamen Delikten, die einen schleunigen Vollzug der Strafe erfordern, als zulässig594 . Covarrubias schließt sich dieser Meinung an in Bezug auf "enormia & gravissima" Delikte, die er allerdings nicht näher bestimmt. Er akzeptiert jedoch diese Ausnahme mit großen Bedenken und bemerkt, daß eine allgemeine Anwendung der Folter zum Ausschluß der Berufung eine "falsa" und "manifeste iniqua" Meinung wäre595. Ähnliche Bedenken, die für die Schwierigkeit der Juristen, eine solche Abweichung von der prozessualen Ordnung zu rechtfertigen, symptomatisch ist, finden sich bei Castillo de Bovadilla. Er geht vom Prinzip aus, daß der Richter, der das Appellationsrecht nicht gewährt, eine Todsünde begeht596 und kritisiert vehement diejenigen Richter, die um jeden Preis eine körperliche Strafe vollziehen wollen und aus diesem Grund den Überführten foltern; daftir werden sie von Gott zur Rechenschaft gezogen. Eine solche Praxis will er jedoch bei grausamen Delikten zulassen, allerdings mit der Bemerkung, daß es in der kastilischen Gerichtspraxis sehr selten geschieht597 . Hier stellt sich das Problem der Harmonisierung dieser Ausnahme mit den Partidas, die, wie bereits dargelegt, die Berufung nur im Fall eines spontanen GeständGomez. Pars III, Cap. 13, Nr. 20, S. 509 f . Suarez de Paz. T. I, Pars V, Cap. 3, § 12, Nr. 4-9, S. 167v. 593 Miranda, T. II, Q. 26, Art. 3, S. 137 f. 594 Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 80-86, S. 554-556; Quevedo y Hoyos, Parte I, Cap. I, Nr. 8, S. 4; Matthaeu et Sanz. Tractatus de re criminali, Contr. 26, Nr. 31-32, 591
592
s. 196.
Covarrubias, Practicarum, Cap. 23, Nr. 5, S. 467. Castillo de Bovadilla, T. II, Lib. V, Cap. 3, Nr. 78, S. 554. 597 Ebda, Nr. 80-81, S. 554. Matheu, der diese Meinung akzeptiert, bemerkt, daß ihm kein solcher Fall aus der kastilischen Rechtsprechung bekannt ist (Matthaeu et Sanz. Tractatus de re criminali, Contr. 26, Nr. 31 -32, S. 196- 197). 595
596
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nisses ausschlossen598 • Castillo rekurriert dabei auf die Fiktion der Spontaneität eines unter Folter erpreßten Geständnisses, wenn es nachträglich ohne jeglichen Druck ratifiziert wird: "Wenn dieses Gesetz [sc. der Partidas] sagt, daß das Geständnis ohne Druck erfolgen muß, gilt das auch, wenn das Geständnis unter Folter abgelegt wird und nach 24 Stunden vor dem Richter ratifiziert wird"599• (2) Folter in caput sociorum Die Lehre betrachtete die Folterung des bereits überführten Delinquenten zum Zweck der Entdeckung von eventuellen Mittätern als zulässig. Auch hier folgt die kastilische Lehre einer gemeinrechtlichen Meinung600, die sich auf keine Norm des territorialen Rechts Kastiliens stützen konnte6