Theologische Aufsätze 9783161565236, 9783161565243, 3161565231

Ulrich Luz legt in diesem Band theologische, ekklesiologische, hermeneutische, religionsgeschichtliche und biographisch-

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German Pages 516 [529] Year 2018

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Studien zur neutestamentlichen Theologie
1. Einleitung
2. Theologia crucis als Mitte der Theologie im Neuen Testament?
3. Absolutheitsanspruch und Aggressionspotenzial im frühen Christentum
4. Theologie und Religionswissenschaft aus theologischer Sicht
5. Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive
II. Studien zur Ekklesiologie
6. Einleitung
7. Charisma und Institution in neutestamentlicher Sicht
8. Die Kirche und ihr Geld im Neuen Testament
9. Ekklesiologie und Gelder der Kirche
10. Das Problem der eucharistischen Gastfreundschaft in neutestamentlicher Sicht
11. Stages of early Christian Prophetism
12. Die korinthische Gemeindeprophetie im Kontext urchristlicher Prophetie
13. Ortsgemeinde und Gemeinschaft im Neuen Testament
14. Das Schriftprinzip und kirchliche Identität heute. Eine Thesenreihe
III. Studien zur Hermeneutik
15. Einleitung
16. Erwägungen zur sachgemäßen Interpretation neutestamentlicher Texte
17. Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein?
18. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel
19. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift
20. Textauslegung und Ikonographie
21. Postmoderne Bibelinterpretation?
22. Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments als Hilfe zum Reden von Gott
IV. Studien zur spätantiken Religionsgeschichte
23. Einleitung
24. Religionen, konkurrierende Wahrheitsansprüche, Konflikte und ihre theologisch-reflexive Bearbeitung in der Spätantike
25. Bekehrung im Neuen Testament und in der Spätantike
V. Biographische und autobiographische Studien
26. Einleitung
27. Eduard Schweizer (1913–2006)
28. Was aber hast du, das du nicht empfangen hast? (I)
29. Orientierung nach unten und grenzenlose Vergebung nach Matthäus 18
30. Ost-Gänge
31. Was aber hast du, das du nicht empfangen hast? (1 Kor 4,7) (II)
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Stellenregister (Auswahl)
Personenregister (Auswahl)
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Theologische Aufsätze
 9783161565236, 9783161565243, 3161565231

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ J. Ross Wagner (Durham, NC)

414

Ulrich Luz

Theologische Aufsätze

Mohr Siebeck

Ulrich Luz; geb. 1938; Studium der Ev. Theologie in Zürich, Göttingen und Basel; 1963 Ordination; 1967 Promotion; 1968 Habilitation; 1969–1971 Dozent an der International Christian University und an der Aoyama Gakuin University Tokyo; 1972–1980 Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen; 1980–2003 Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Bern; seit 2003 im Ruhestand.

ISBN 978-3-16-156523-6 / eISBN 978-3-16-156524-3 DOI 10.1628/978-3-16-156524-3 ISSN 0512-1604 / eISSN 2568-7476 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Times New Roman gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Dem grossen „Meister des Dialogs“ und unvergesslichen Freund

Milan Machovec 1925–2003 zum Andenken

Vorwort Meinem ersten Aufsatzband folgt nun ein zweiter, den ich mit „Theologische Aufsätze“ überschreiben möchte. Als Neutestamentler bin ich immer auch Theologe und frage nach der Bedeutung der biblischen Texte heute, nach ihrer Wahrheit, nach der Kirche und nach Gott. Dazu nötigen mich die Texte des Neuen Testaments mit ihrem Sinnüberschuss, die von mir als Theologen eine Antwort verlangen. Darum gibt es in diesem Band auch kaum einen Aufsatz, der nicht einen deutlichen Bezug auf die Gegenwart enthält. Freunden einer distanzierten und tendenziell neutralen Wissenschaft mag das missfallen; aber als Theologe kann ich nicht distanziert und neutral bleiben. Der Titel des Bandes gilt allerdings nur cum grano salis: Am Schluss des Bandes stehen fünf Aufsätze, die biographischen oder autobiographischen Charakter haben. Von den sechsundzwanzig Aufsätzen dieses Bandes sind achtzehn Nachdrucke von teilweise an sehr entlegener Stelle erschienenen Texten; drei sind Neubearbeitungen früher erschienener Aufsätze und fünf sind Erstveröffentlichungen. Die Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln haben die Funktion eines „Editorials“, in dem ich manchmal auch angedeutet habe, wo sich meine Sicht seither verändert hat. Mein herzlicher Dank gilt allen Studierenden, Kolleginnen und Kollegen, Pfarrer / ​innen, Pastor / ​innen und Priestern, mit denen ich im Gespräch stand und deren Anregungen und Fragen in mannigfacher Weise in die hier veröffentlichten Aufsätze eingeflossen sind. Mit besonderer Dankbarkeit denke ich an alle unvergesslichen Begegnungen und Gespräche zurück, welche ich vor und nach der Wende in Osteuropa haben durfte. Mehr als ein Aufsatz lebt davon. Die Widmung bezeugt, wem ich am meisten verdanke. Ohne Hilfe hätte ich diesen Band nicht veröffentlichen können, da meine Computerkenntnisse aus dem vorigen Jahrhundert stammen. Mein herzlicher Dank gilt Dr. Zbynek Kindschi-Garsky und Prof. Benjamin Schliesser für ihre Hilfe in solchen Fragen. Mein herzlicher Dank gilt auch dem Verlag MohrSiebeck, vor allem Dr. Henning Ziebritzki, der den Band ermöglicht und geduldig auf ihn gewartet hat, Frau Elena Müller, der Herstellerin Susanne Mang und dem Lektor Dr. Hans Cymorek, welche die Drucklegung umsichtig betreut haben. Laupen und Bern, im April 2018

Ulrich Luz

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

I. Studien zur neutestamentlichen Theologie   1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3   2. Theologia crucis als Mitte der Theologie im Neuen Testament? . . . . . . 7   3. Absolutheitsanspruch und Aggressionspotenzial im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29   4. Theologie und Religionswissenschaft aus theologischer Sicht . . . . . . . 49   5. Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive . . . . . . . . . . . . 59

II. Studien zur Ekklesiologie   6. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77   7. Charisma und Institution in neutestamentlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . 83   8. Die Kirche und ihr Geld im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103   9. Ekklesiologie und Gelder der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 10. Das Problem der eucharistischen Gastfreundschaft in neutestamentlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 11. Stages of early Christian Prophetism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 12. Die korinthische Gemeindeprophetie im Kontext urchristlicher Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

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Inhaltsverzeichnis

13. Ortsgemeinde und Gemeinschaft im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . 191 14. Das Schriftprinzip und kirchliche Identität heute. Eine Thesenreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

III. Studien zur Hermeneutik 15. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 16. Erwägungen zur sachgemäßen Interpretation neutestamentlicher Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 17. Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? . . . . . . . . . 253 18. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel . . . . . . . 275 19. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 20. Textauslegung und Ikonographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 21. Postmoderne Bibelinterpretation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 22. Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments als Hilfe zum Reden von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

IV. Studien zur spätantiken Religionsgeschichte 23. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 24. Religionen, konkurrierende Wahrheitsansprüche, Konflikte und ihre theologisch-reflexive Bearbeitung in der Spätantike . . . . . . . . 387 25. Bekehrung im Neuen Testament und in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . 405

Inhaltsverzeichnis

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V. Biographische und autobiographische Studien 26. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 27. Eduard Schweizer (1913–2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 28. Was aber hast du, das du nicht empfangen hast? (I) . . . . . . . . . . . . . . . 455 29. Orientierung nach unten und grenzenlose Vergebung nach Matthäus 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 30. Ost-Gänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 31. Was aber hast du, das du nicht empfangen hast? (1 Kor 4,7) (II) . . . . . 501 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Stellenregister (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Personenregister (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514

I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

1. Einleitung Der erste Aufsatz dieses Kapitels geht zurück auf einen Text von 1974, den ich unter dem anspruchsvollen Titel „Theologia Crucis als Mitte der Theologie im Neuen Testament“ veröffentlicht hatte (= Nr. 2). Hier erscheint er in einer gründlich „entschlackten“ und veränderten Fassung. Das betrifft nicht nur, aber auch den wissenschaftlichen Apparat, der von allen heute nicht mehr interessanten Auseinandersetzungen entlastet worden ist. Der veränderte Titel – zum ursprünglichen Titel ist ein Fragezeichen hinzugekommen  – macht deutlich, dass ich nicht mehr uneingeschränkt zu ihm stehen kann. „Theologia Crucis“ wird hier in der Weise Martin Luthers als Gegenentwurf zu einer „Theologie der Herrlichkeit“ verstanden. „Theologia crucis“ ist also eine polemische Theologie. Für Luther lag hier ein Zentrum seines theologischen Denkens. Ein Blick ins Neue Testament (= Abschnitt I) zeigt, dass es eine „theologia crucis“ im Sinne Luthers nur bei Paulus und vielleicht bei Markus gibt. Die grosse Mehrzahl der neutestamentlichen Entwürfe, eingeschlossen die vorpaulinischen Traditionen und die Schüler des Paulus, sowie natürlich das Johannesevangelium, zeigen ein untrennbares Neben‑ und Ineinander von Tod und Auferstehung Jesu bzw. von Kreuz und Herrlichkeit. „Theologia crucis“ ist also nicht die Mitte der Theologie im Neuen Testaments, sondern eine ganz besondere Sichtweise seiner Mitte. Der alte Aufsatz war aber für mich reizvoll, weil er versuchte, den unsystematischen Charakter der Theologie des Paulus systematisch zu erfassen (= Abschnitt II): Geht man vom „Wort des Kreuzes“ in 1 Kor 1,18–25 aus, so ist paulinische Theologie ein Versuch, jede menschliche Weisheit, gerade auch die christliche Weisheitstheologie der Korinther, vom Kreuz her in Frage zu stellen. In diesem Sinn ist Kreuzestheologie bei Paulus polemisch. Sie besteht nicht darin, dass Paulus das Kreuz interpretiert, sondern darin, dass er vom Kreuz her die Welt, den Menschen, das Leben der Gemeinde und nicht zuletzt seine eigene „kreuzförmige“ Existenz interpretiert. Damit wendet er sich gegen ein „enthusiastisches“ Heilsverständnis vieler Korinther, die sich in ihrer Weisheit, ihrer Geistbegabung und vielleicht in ihrem Auferstehungsverständnis schon als „gesättigt“ (1 Kor 4,8) und vollständig erlöst wähnten. Der nächste Hauptabschnitt über Markus (= Abschnitt III) setzt voraus, dass die wichtigste theologische Leistung des zweiten Evangelisten darin bestand, die Wunder‑ und Streitgesprächüberlieferung mit der Passionsgeschichte zu verbinden. Schon 1974 war diese Interpretation umstritten – und so ist das über

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

Markus Gesagte weit hypothetischer als die Ausführungen über Paulus. Ich interpretiere Markus als Kreuzestheologen, der Paulus zwar kaum kennt, aber in vielem ähnlich denkt wie er. Auch die Markuserzählung ist polemisch: Die Leser / ​innen seiner Jesusgeschichte müssen ihre anfängliche Identifikation mit den Jüngern Jesu aufgeben, weil diese unverständig sind und im Leiden versagen. Auch hier geht es um „kreuzförmiges“ Leben der Jünger (und der Leser / ​ innen): Auch sie müssen ihr Kreuz auf sich nehmen: Der Evangelist schreibt sein Buch m. E. in der Situation nach dem Stadtbrand von Rom (64 n. Chr.), als die Jesusanhänger zum ersten Mal als eigenständige religiöse Gruppe ins öffentliche Bewusstsein rückten und jederzeit mit ihrer Verhaftung oder gar mit dem Martyrium rechnen mussten. Der Aufsatz schliesst mit einem kurzen Schlussabschnitt (= IV), der – mit „Thesen und Fragen“ überschrieben – die Ergebnisse bündelt und offene Fragen formuliert. Die kritischen Fragen, die ich heute an den damaligen Aufsatz habe, habe ich teilweise schon angedeutet: 1. Diese Art der Kreuzestheologie ist nicht die Mitte des Neuen Testaments, sondern ein wichtiges Zeugnis neben anderen, z. B. dem johanneischen und dem lukanischen. Im Blick auf das ökumenische Gespräch heute ist gerade diese Vielfalt im Neuen Testament wichtig. 2. Ich finde meinen damaligen Versuch, die unsystematische und situationsbezogene Theologie des Paulus von seiner „theologia crucis“ her zu systematisieren, reizvoll  – aber ich glaube nicht mehr, dass sich Paulus auf diese Weise systematisieren lässt. Wahrscheinlich gehört mein damaliger Aufsatz zu den vielen Versuchen, Paulus möglichst „reformatorisch“ zu lesen. Der zweite Aufsatz „Absolutheitsanspruch und Aggressionspotenzial im frühen Christentum“ (= Nr. 3) richtet sich gegen ein beliebtes, aber allzu einliniges Verständnis des Christentums als friedensfördernde Religion. In den neutestamentlichen Texten scheint das zwar weitgehend so zu sein. Aber die Perspektive ändert sich, sobald man nach versteckten Aggressionspotenzialen im neutestamentlichen Christentum fragt. Im Gespräch mit sozialpsychologischen Ansätzen stellt der Aufsatz im Abschnitt II verdeckte, phantasierte Aggressionen zur Debatte, wie sie vor allem in der Johannesapokalypse deutlich sind. Im Abschnitt III stehen Texte aus dem Matthäusevangelium im Vordergrund: Der absolute Autoritätsanspruch, den Jesus für sich stellte, und die Gerichtsankündigungen, die gleichsam die Kehrseite seiner Verkündigung des Gottesreichs sind, führen im Matthäusevangelium (und im Johannesevangelium) zu unfairer Polemik gegen die jüdischen Führer, die in krassem Widerspruch zum Zentrum von Jesu Ethik, der grenzenlosen Liebe, steht. Ein vierter Abschnitt untersucht Texte zum Problemkomplex von Häresie und Apostasie (IV). Die schroffen Urteile und zahlreichen Beschimpfungen, die in ihnen zu finden sind, können sozialpsychologisch als relationale Aggressionen gedeutet werden. Sie gehen in ihrer Schärfe über das, was wir in zeitgenössischen jüdischen Texten finden können, weit hinaus. – Im Ganzen versucht der Aufsatz, einen Beitrag

1. Einleitung

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zur Aufarbeitung der Frage zu leisten, warum das Christentum in seiner Geschichte immer wieder aggressiv gewirkt hat, obwohl das Friedenspotenzial des frühen Christentums bei weitem überwiegt. Er ist als selbstkritischer christlicher Rückblick auf die eigenen Ursprünge und auch für das Gespräch mit dem Islam wichtig, der heute mit ähnlichen, wahrscheinlich noch viel schwierigeren Fragen seines Grundtexts, des Koran, zu ringen hat. Der Aufsatz „Theologie und Religionswissenschaft aus theologischer Sicht. Ein Plädoyer für Zusammenarbeit“ (= Nr. 4) geht auf meine Abschiedsvorlesung in Bern 2003 zurück. Er erschien in einer ersten Fassung 2005 in der Zeitschrift Reformatio und wurde für eine Vorlesung in Uppsala 2006 weiter ausgearbeitet. Darauf basiert der jetzige, in dieser Form unveröffentlichte Text. Das Verhältnis zwischen Theologie und Religionswissenschaft ist im deutschen Sprachbereich belastet – einerseits durch die dialektische Theologie, andererseits und noch viel mehr durch die Religionswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (M. Eliade, R. Otto, F. Heiler), die von späteren, kulturwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftlern als „theologisch“ empfunden wurde. Dennoch denke ich, dass beide Disziplinen aufeinander angewiesen sind. Die Theologie ist auf die Religionswissenschaft angewiesen, denn sie versteht sich als selbstkritische Reflexion der Wahrheit kirchlicher Verkündigung und nicht als Apologetik. Deshalb benützt sie religionswissenschaftliche Methoden und Fragestellungen und sucht das Gespräch mit der Religionswissenschaft. Aber ist die Religionswissenschaft auch auf das Gespräch mit der Theologie angewiesen? Die meisten deutschsprachigen Religionswissenschaftler verneinen dies. Ich meine aber, dass Religionswissenschaftler „Religion“ nicht nur als kulturelle Lebensäusserung neben anderen verstehen sollten. Dann laufen sie Gefahr, den spezifischen Forschungsgegenstand der Religionswissenschaft, nämlich die Religionen, aufzulösen. Sie müssen sich m. E. mit konkreten Religionen, ihren Zeichensystemen und ihren Wahrheits‑ und Machtansprüchen befassen. Das können auch Religionswissenschaftler nicht nur „von aussen“, rein beschreibend tun. Darum wären sie eigentlich auf das Gespräch mit der Theologie angewiesen. Aber dass es so sei und werde, kann ich nur hoffen. Meine Aufgabe als Theologe ist es nicht, den Religionswissenschaftlern irgend etwas vorzuschlagen. Der letzte Aufsatz „Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive“ (= Nr. 5) geht zurück auf einen Vortrag, den ich 2006 vor Lehramtskandidaten und Lehramtskandidatinnen in Paderborn gehalten habe. Das macht verständlich, warum ich die Bibeltexte relativ ausführlich zitiert habe; sie erklärt auch den allgemein-verständlichen Charakter dieses Textes. Die „ökumenische Perspektive“ hat verschiedene Dimensionen, nämlich die jüdisch-christliche Ökumene (II), die christlich-konfessionelle Ökumene (III) und schliesslich die universale Ökumene, die sich daraus ergibt, dass die Bergpredigt ein Text ist, der die ganze Menschheit bewegt (IV). Im jüdisch-christlichen Dialog ist vor

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

allem die Frage wichtig, wie weit sich die Bergpredigt als jüdischer Text verstehen lässt. Ich möchte Jesus als Juden, aber als ganz besonderen Juden interpretieren. Seine exemplarischen Gebote und Maximen haben viele Parallelen im Frühjudentum Trotzdem kann ich Jacob Neusners Klage, dass Jesus ausschliesslich „to me, but not to us“ spreche, gut verstehen:1 Die rechtlichen Ordnungen des Volkes Israel interessierten Jesus nicht. Nicht leicht, aber nicht unmöglich ist es, die Antithesenformel, in der sich Jesus m. E. Moses und nicht jüdischen Torah-Auslegern gegenüberstellt, ins zeitgenössische Judentum einzuordnen. Fast unmöglich wird das aber, wenn ich andere Jesustexte, die einen ausserordentlichen Autoritätsanspruch Jesu bezeugen, heranziehe. In der Bergpredigt ist das Hausbauergleichnis Mt 7,24–27 ein Beispiel dafür. – Im innerchristlichkonfessionellen Dialog ist mir weniger das Gespräch mit dem Katholizismus wichtig, als dasjenige mit den Vertretern der „Ersten Reformation“ und der „Radikalen Reformation“, also z. B. mit Täufern oder Quäkern. Sie stehen der Verkündigung Jesu wohl am nächsten. – Im Schlussabschnitt über die universale, „menschheitliche“ Ökumene konzentriert sich der Aufsatz auf die Frage, warum die Bergpredigt ein Text ist, der Menschen auf der ganzen Welt, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit anspricht.

 Jacob Neusner, A Rabbi talks with Jesus, New York etc. 1993, 83.

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2. Theologia crucis als Mitte der Theologie im Neuen Testament? I. Ein Blick auf das Neue Testament im Ganzen I.1  Zur Definition von Kreuzestheologie. Fast jede christliche Theologie beschäftigt sich in irgendeiner Art und Weise mit dem Kreuz Christi. Viele christliche Theologien erheben den Anspruch, Kreuzestheologien zu sein. Um nicht von jeder christlichen Theologie und damit von der brennenden Frage nach christlicher Identität nur vernebelnder Vielfalt handeln zu müssen, sei Kreuzestheologie in einem eingeschränkten Sinn verstanden. Von einer Kreuzestheologie in dem hier gemeinten Sinn soll folgendes gelten: 1. Sie versteht das Kreuz als Grund des Heils in dem Sinn exklusiv, daß alle anderen Heilsereignisse (z. B. Auferstehung, Parusie) dem Kreuz zugeordnet und von dort her verstanden werden bzw. ihr gängiges Verständnis von dort her kritisiert wird. 2. Sie versteht das Kreuz Christi als Ausgangspunkt der Theologie in dem Sinn, daß es nicht eine neben der Kreuzestheologie bestehende und von ihr nicht betroffene Gotteslehre geben kann. Sie versteht sich also nicht als einen Bestandteil der Theologie, sondern als die Theologie schlechthin, in der alles, auch die Gottesfrage, auf dem Spiel steht.1 3. Sie versteht das Kreuz als den Angelpunkt der Theologie, von dem aus theologische Ansätze in die Anthropologie, die Geschichtsphilosophie, die Ekklesiologie, die Ethik etc. hinein entfaltet werden können. I.2  Damit reduziert sich das Spektrum der zu betrachtenden Theologien nicht nur außerhalb des Neuen Testaments, sondern vor allem auch im Neuen Testament selber. Eine Kreuzestheologie, die sich selbst etwa in der Weise Luthers2 als Gegenentwurf zu einer Theologie der Herrlichkeit oder einer Theologie der Auferstehung versteht, ist im Neuen Testament eine extreme Theologie, die meines Erachtens nur von zwei, allerdings pointierten Zeugen vertreten wird, nämlich von Paulus und vermutlich von Markus. 1 Vgl.

für Paulus 1 Kor 1,25, für Markus Mk 15,34.  Vgl. dazu Gerhard Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 259– 261. 2

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

Vom Neuen Testament im Ganzen kann man sagen, daß alle Zeugen in der Bestimmung ihrer eigenen Gegenwart durch Jesus Christus das spezifisch Christliche sehen. Aber wie diese Bestimmung erfolgt, ist sehr verschieden. Nicht nur der Jakobusbrief, sondern auch die Logienquelle, deren Träger Israel das Gericht des kommenden Menschensohns Jesus ankündigen, deuten den Tod Jesu nicht eigens.3 Natürlich mögen das Sonderfälle sein, aber für die meisten neutestamentlichen Theologien ist zutreffend, daß das Kreuz nicht in exklusivem Sinn in ihrer Mitte steht. Vielmehr ist in den meisten neutestamentlichen theologischen Entwürfen von dem durch Gottes Handeln in Christus eröffneten Heil her das Kreuz so ins Heil hineingenommen, daß es selbst  – wider allen Anschein – als Teil der göttlichen „Herrlichkeit“ gedeutet werden konnte. Eine sogenannte „Kreuzestheologie“ ist dann von einer sogenannten „theologia gloriae“ nicht mehr unterscheidbar. Einige Beispiele: Um die Interpretation des Johannesevangeliums tobt gegenwärtig ein Streit, der sich in Kürze etwa auf den Nenner bringen läßt, ob das vierte Evangelium von einer theologia gloriae oder einer theologia crucis her zu interpretieren sei.4 Die Schwierigkeit der Johannesinterpretation liegt meines Erachtens darin, daß sich das johanneische Kreuz fugen‑ und nahtlos in die Herrlichkeit Christi einfügen läßt, so daß die Alternativfrage: theologia crucis oder theologia gloriae? gar nicht möglich ist. Wie auch immer der Streit entschieden werden wird, die Entscheidung wird nicht an Alternativen, sondern an Nuancen bei Johannes fallen, daran, ob man die eine oder die andere Nuance stärker akzentuiert findet. Meines Erachtens prallt der Streit am kunstvollen Gefüge der johanneischen Theologie ab. Etwa am johanneischen Erhöhungsverständnis wird schlaglichtartig deutlich, daß Kreuzestod und Verherrlichung im Grunde genommen zwei Aspekte derselben Sache sind, keinesfalls aber zwei fundamentale Grundansätze für grundsätzlich verschiedene theologische Denkmöglichkeiten. Die Theologie, die sich mit dem Kreuz befaßt, dient bei Johannes gerade dazu, das Kreuz als herrliches Heilsereignis verständlich und damit zugleich verkündbar zu machen. Auch bei anderen neutestamentlichen Schriften läßt sich Ähnliches beobachten. Etwa im Hebräerbrief steht Jesu Niedrigkeit letztlich meines Erachtens in keinem Gegensatz zu seiner Hoheit, im Gegenteil: Nur deshalb, weil der himmlische Hohepriester seinen Brüdern, für die er Hohepriester ist, in allem gleich geworden ist, vermag er überhaupt Hohepriester zu sein (2,16–18). Die Niedrigkeit Jesu ist hier also Bestandteil seiner Hohheit und notwendig, um den Menschen an seiner Herrlichkeit Anteil zu geben. Auch für die Johannesapokalypse ist es schwer, alternativ zwischen theologia crucis und theo3 Paul Hofmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, NTA NF 8, Münster 1972, 187 ff stellt zwar im Anschluß an Odil H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, WMANT 23, Neukirchen 1967, mit Recht fest, daß in der Logienquelle der Tod Jesu gedeutet worden ist, nämlich im Anschluß an die deuteronomistische Prophetenmordtradition. Wichtig ist aber seine Feststellung (a. a. O. 183), daß dies keine kerygmatische Deutung des Todes Jesu bedeute, weil Jesu Tod damit in eine lange Reihe anderer Morde gestellt wird und gerade nicht als einzigartiger Sonderfall gedeutet wird. In der Tat: An den beiden wichtigsten Stellen Lk 11,49–51 und 13,34 f wird Jesus nicht einmal explizit erwähnt; die Deutung seines Todes erfolgt höchstens implizit. 4  Er wurde von Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 1966, neu entfacht.

2. Theologia crucis als Mitte der Theologie im Neuen Testament?

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logia gloriae zu unterscheiden. Man kann sich das am besten am Bild des Lammes aus Apk 5 veranschaulichen: Hier wird im himmlischen Thronsaal das geschlachtete Lamm mit seinen sieben Hörnern und sieben Augen gezeigt, das zugleich der Löwe aus dem Stamm Juda ist (5,5 f).

Vielleicht ist es am besten, mit der Beobachtung einzusetzen, daß die beiden großen Kreuzestheologen des Neuen Testaments, Paulus und Markus, polemische Theologen sind. Ihre Kreuzestheologie ist eine Auseinandersetzung nicht so sehr mit jüdischen oder heidnischen Heilsentwürfen als vielmehr mit christlicher Frömmigkeit und christlichen Theologien.5 Greifen wir als Beispiel die uns erhaltenen vorpaulinischen und nebenpaulinischen Gemeindetraditionen heraus, so stellen wir auch dort dieses untrennbare Ineinander von Kreuz und Herrlichkeit fest. Von der Herrlichkeit Christi, d. h. der Auferstehung her, wird das Kreuz gedeutet. 1 Kor 15,3–5 formuliert die Todes– und die Auferstehungsaussage genau parallel. Das Kreuz ist ein Heilsereignis: er starb für unsere Sünden. Die Auferstehung ist parallel dazu auch ein Heilsereignis: er wurde auferweckt durch die rettende Tat Gottes am dritten Tag.6 Ein anderes Beispiel ist die vorpaulinische Bundesformel Röm 3,24 ff, die allein den Tod Jesu als Heilsereignis nennt. Die Formel macht den Tod Jesu verständlich im Licht der Bundestreue Gottes, aber von Ostern her. Von Ostern her wird es möglich, das Kreuz Jesu als Teil der göttlichen Gerechtigkeit zu verstehen und es in sie hineinzunehmen. Die Theologie, die von Ostern her über das Kreuz nachdenkt, ist darauf aus, den Widerspruch zwischen Kreuz und Ostern zu versöhnen. Das Kreuz wird von Ostern her gedeutet, nicht umgekehrt. Noch deutlicher wird das im Traditionsstück Röm 14,9: Tod und Auferstehung begründen Christi Herrschaft über Tote und Lebendige. Sie sind keine konträren Pole, sondern zwei Aspekte desselben Heilsereignisses. Sicher lag darin, daß ein Gekreuzigter zum Grund des Glaubens wurde, von Anfang an ein die Gläubigen ernsthaft in Frage stellendes Moment. Aber die theologische Interpretation nimmt dem Kreuz Jesu weithin den Stachel des Unbewältigten, des Unfaßbaren, dessen, wovor der Mensch nur verstummen kann, und macht es zum Heilsereignis. In den vorpaulinischen Gemeinden können Kreuz und Auferstehung alternativ, je für sich oder auch miteinander, das Heil begründen. Neben solchen Aussagen stehen andere, in denen der Tod Jesu gar nicht vorkommt, aber in ähnlicher Weise die Niedrigkeit Jesu als Aspekt oder Stufe seiner Herrlichkeit interpretiert wird, besonders deutlich etwa Kol 1,15 ff oder auch Röm 1,3 f.

Auch in den vorpaulinischen Traditionen liegen also Kreuz und Auferstehung so beisammen, daß eine Theologie des Kreuzes einer Theologie der Herrlichkeit nicht entgegensteht. Vielmehr besteht die Theologie des Kreuzes gerade darin, 5  Den polemischen Charakter echter Kreuzestheologie hat Käsemann sehr schön herausgearbeitet; vgl. Ernst Käsemann, Die Heilsbedeutung des Todes Jesu bei Paulus, in: Ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 67 ff. 6 Die Parallelität beider Aussagen wäre besonders deutlich, wenn man mit Karl Lehmann, Auferweckt am dritten Tage nach der Schrift, QD 38, Freiburg 1968, 262 ff, den dritten Tag im Anschluß an Midraschim‑ und Targumimstellen als den Tag des heilsamen Eingreifens Gottes deuten dürfte.

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

die Herrlichkeit des Kreuzes zu verkünden. Die Zuordnung des Kreuzes zur göttlichen Herrlichkeit macht geradezu die Verkündbarkeit und damit die theologische Relevanz des Kreuzes aus. Was für die vorpaulinische Tradition gilt, trifft auch weithin für die Nachfahren des Paulus zu. Über die Paulusschule sind wir verhältnismäßig gut informiert. Alle in ihrem theologischen Profil recht verschiedenen Dokumente, die sie uns hinterlassen hat, haben eine negative Gemeinsamkeit: Von der kritischen Potenz der paulinischen Kreuzestheologie ist weder im Epheserbrief noch im 2. Thessalonicherbrief noch in den Pastoralbriefen etwas zu spüren. Allein beim Kolosserbrief und bei dem indirekt zur Paulusschule gehörenden 1. Petrusbrief könnte man überlegen, ob hier eine theologia crucis im eigentlichen Sinn des Wortes vorliegt.7 Bei den Nachfahren des Markus ist der Befund noch eindeutiger: Von den beiden Großevangelisten hat Matthäus zwar die Kreuzestheologie aus der Markus-Quelle übernommen, aber durch andere christologische Aspekte ergänzt. Lukas, der in 1,1–4 andeutet, wie er über seine Vorgänger denkt, ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, wie das Kreuz aus der Mitte der Theologie verdrängt und zu einem ihrer Gegenstände neben andern wird: Es ist ein trauriges, von den böswilligen jüdischen Führern gegen den Willen der römischen Autoritäten und gegen den Willen auch des besseren Teils des Jerusalemer Volkes Jesus zu Unrecht zugefügtes Verbrechen, das Gott dann zum Glück durch sein herrliches Eingreifen in die Geschichte nach drei Tagen wieder korrigiert. Es ist eigentlich ein bedauerlicher Zwischenfall, ein Wellental der Heilsgeschichte,8 das keine singuläre Bedeutung hat und, wie die Predigten der Apostelgeschichte zeigen, allein in der Verkündigung an die Juden9 als Topos der Anklage weiterlebt. In den Heidenpredigten Apg 14,15 ff und 17,22 ff kommt es nicht vor. Kurz, auch von der Nachgeschichte des Paulus und des Markus her zeigt sich: Reflexion über das Kreuz gibt es im Neuen Testament überall. An der christologischen Grundthese, daß der Gekreuzigte auferstanden ist, halten alle neutestamentlichen Autoren fest. Diese Grundthese ist auch die Voraussetzung jeder Kreuzestheologie im engeren Sinn des Wortes. Kreuzestheologie 7  Beim Kolosserbrief fällt das Urteil schwer. Wohl hat der Verfasser 1,20 das Kreuz in den traditionellen Hymnus hineingenommen; insofern ist er guter Pauliner. Aber den Einsatzpunkt seines Kampfes gegen die Häresie bildet gerade nicht das Kreuz, sondern der kosmische, jede andere Macht ausschließende Charakter Christi, also die von ihm übernommene Tradition, nicht sein paulinisierender Zusatz. In 2,14 f versteht der Verfasser – oder eine Tradition? – das Kreuz als den Ort, wo der Schuldschein des Menschen angeheftet wird, ohne zu sagen, warum das gerade am Kreuz geschehen ist. Wichtiger ist im Zusammenhang der folgende Gedanke, daß am Kreuz (?) der Triumph über die Mächte stattfindet. Das Kreuz ist dann also ähnlich wie in 1 Kor 2,8 ein Ort der Herrlichkeit; und gerade das ist ein Argument gegen die Gegner. Zum 1. Petrusbrief s. u. 2.4.1. 8 Vgl. Oscar Cullmann, Heil als Geschichte, Tübingen 1965, 107. 9  Bezeichnend ist, daß Lukas in seinen Heidenpredigten (Apg 14,15 ff; 17,22 ff) auf das Kreuz verzichten kann.

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im eigentlichen Sinn des Wortes aber ist im Neuen Testament nichts Selbstverständliches, sondern ein singuläres Phänomen  – ganz ähnlich, wie es der Aufbruch einer polemischen theologia crucis seither in der Kirchengeschichte geblieben ist. Daß das Kreuz Christi bei Paulus plötzlich zu einer kritischen Potenz wurde, die sich gegen andere das Kreuz auch reflektierende Theologien richtete, ist eine erstaunliche Sache, die einer Erklärung bedarf. Bald nach Paulus ist in einem ganz anderen Traditionsmilieu10 offenbar unabhängig von Paulus bei Markus etwas Ähnliches geschehen. Wir möchten von diesem Befund her zwei Leitfragen formulieren. 1. Wie kommt es zu diesen Aufbrüchen? In welcher Situation haben einzelne neutestamentliche Theologen das Kreuz Christi als kritische Mitte ihres theologischen Denkens verstehen gelernt? 2. Welche möglichen Kriterien gibt es für die Wahrheit einer Kreuzestheologie? Ist die Wahrheit einer Theologie des Kreuzes eine Wahrheit an sich, die grundsätzlich auch die Mitte jeder künftigen christlichen Identität sein könnte, oder ist sie eine kontingente, situations‑ oder persongebundene Wahrheit? Wir wenden uns nun Paulus und Markus zu und versuchen, am Schluß jedes Hauptabschnittes etwas zu den hier gestellten Fragen zu sagen.

II. Paulus II.1  Grundsätzliches. Paulinische Kreuzestheologie besteht meines Erachtens gerade nicht darin, daß der Kreuzestod Jesu mit Hilfe traditioneller soteriologischer, kultischer oder profaner Kategorien interpretiert wird. Die im engeren Sinn christologischen und soteriologischen Aussagen über den Tod Jesu hat Paulus fast ausnahmslos aus der Gemeindetradition übernommen und in sich kaum weiter ausgebaut. Die theologische Leistung des Paulus besteht vielmehr darin, daß er diese ihm vorgegebenen christologischen Aussagen nicht als interpretandum sondern als interpretans aufgenommen und mit ihrer Hilfe Mensch, Welt, Geschichte, Zukunft, Gemeindeprobleme, ethische Fragen etc. interpretiert. Mit anderen Worten: Für Paulus besteht Kreuzestheologie nicht darin, daß er das Kreuz interpretiert, sondern daß er vom Kreuz her die Welt, die Gemeinde und den Menschen interpretiert. Daß diese These richtig ist und nicht nur deswegen dieses Bild der paulinischen Theologie entsteht, weil fast nur Gelegenheitsschreiben des Apostels erhalten sind, zeigt der Römerbrief, der dasselbe, was Paulus im 1. Korintherbrief anhand von Gemeindeproblemen und im 2. Korintherbrief anhand seines Apostolates ausführt, grundsätzlich als 10 Zum Verhältnis Paulus–Markus ist immer noch die Monographie von Martin Werner, Der Einfluß paulinischer Theologie im Markusevangelium, BZNW 1, Giessen 1923 zu Rate zu ziehen.

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Interpretation von Welt und Mensch von der Gerechtigkeit Gottes her entfaltet. Die These Bultmanns, daß paulinische Theologie bzw. Christologie zugleich Anthropologie bzw. Soteriologie sei,11 weist trotz der mit ihr gegebenen Gefahr individualistischer Engführung in eine richtige Richtung. Für Paulus ist also – so könnte man sagen – Kreuzestheologie immer angewandte Christologie. Die Wahrheit des Wortes vom Kreuz steht nicht an sich zur Debatte, sondern in den Problemen der korinthischen Gemeinde oder im Problem des Unglaubens Israels oder im Problem der menschlichen Sünde.12 Man könnte sagen: Das „Wort vom Kreuz“ ist nicht „Objekt“, sondern „Subjekt“ der paulinischen Kreuzestheologie. Oder mit den eigenen Worten des Paulus: Das Wort vom Kreuz ist eine δύναμις (1 Kor 1,18), die den Menschen bestimmt, zurechtbringt oder zuschanden macht. Wenn also in der paulinischen Kreuzestheologie der Mensch im Licht des Kreuzes zum Gegenstand theologischen Denkens wird, so entspricht das der paulinischen Aussage, daß das Wort vom Kreuz eine göttliche Macht ist, die den Menschen bestimmt, ja, durch die Gott zuallererst das Nichtseiende zum Sein ruft (1 Kor 1,28). Wie diese Macht des Wortes vom Kreuz sich am Menschen auswirkt, zeigt Paulus an den Korinthern (1Kor 1,26 ff) und noch deutlicher an sich selbst: Das Wort vom Kreuz macht ihn, den Apostel, selbst kreuzförmig (1 Kor 2,1 ff; 2 Kor 4,7 ff; Gal 6,14) und weist ihm so die Rolle zu, die ihm überhaupt vom Kreuz legitim zu reden allererst erlaubt. Ich brauche hier nicht ausführlich zu werden und kann auf das verweisen, was Ernst Käsemann und Erhardt Güttgemanns über das durch den Apostel repräsentierte Leiden Jesu sagen.13 Weil das Wort vom Kreuz eine sich am Menschen und in der Welt verwirklichende δύναμις Gottes ist, kann es seine Wahrheit nicht in sich haben, sondern immer nur an einem durch es kreuzförmig gewordenen Menschen. Die durch das Wort vom Kreuz ausgelegte Welt ist ebenso wie die durch das Wort vom Kreuz geprägten Verkündiger und Gemeinden gleichsam Wirkungsfelder des machtvollen Wortes vom Kreuz. Das entscheidend Neue bei Paulus gegenüber den erhaltenen vorpaulinischen Traditionsstücken14 ist also die Umkehrung der Interpretationsrichtung: Die Welt wird zum Gegenstand der Kreuzestheologie. Dem entspricht nicht nur  Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 19583, 192.  Deutlich wird das am Aufriß von 1 Kor 1–4: Die Wahrheit des Wortes vom Kreuz (1,18– 2,16) wird durch das Verhalten der Korinther in Frage gestellt (1,12 ff) und von Paulus auf die korinthische Situation bezogen (3,1 ff). 13  Ernst Käsemann, Die Legitimität des Apostels, Nachdruck Darmstadt 1956, bes. 38 ff; Erhardt Güttgemanns, Der leidende Apostel und sein Herr, FRLANT 90, Göttingen 1966, bes. 94 ff. Gegen Güttgemanns hat Karl Martin Fischer, Die Bedeutung des Leidens in der Theologie des Paulus, Diss. masch. Berlin (Humboldt-Universität), 1967, meines Erachtens mit Recht daran festgehalten, daß das Leiden ein Spezifikum der christlichen, nicht nur der apostolischen Existenz ist. 14 Eine Einschränkung ist allerdings nötig: Wir haben zwar die vorpaulinischen keryg­ma­ tischen Formeln erhalten; verloren ist uns jedoch die Funktion, die diese Formeln im Leben der vorpaulinischen Gemeinden hatten. Wir wissen also wohl, wozu Paulus die Glaubensformeln 11

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die Thematik der paulinischen Briefe, sondern auch die situationelle und unsystematische Gestalt der paulinischen Theologie, deren Themen dem Apostel von den Gemeinden aufgegeben werden. Was ihnen Paulus schreibt, ist das Licht, das durch das Wort vom Kreuz auf diese Themen fällt. Nur wird man den heuristisch fruchtbaren Gedanken der beiden verschiedenen Interpretationsrichtungen nicht verabsolutieren dürfen: Das Wort vom Kreuz, mit dessen Hilfe Paulus die Welt interpretiert, ist bereits vom Menschen interpretiertes Wort vom Kreuz. Um die Welt interpretieren zu können, braucht Paulus die Kerygmen der Gemeinden, in denen das Kreuz interpretiert wird und zu denen er sich ja nicht in einem Gegensatz weiß. Außerdem geschieht dadurch, daß Paulus die Welt durch das Kreuz interpretiert, indirekt auch eine Interpretation des Kreuzes. Interpretation des Kreuzes und Interpretation der Welt durch das Kreuz stehen also nicht in einem Gegensatz zueinander, sondern das eine setzt das andere voraus, auch wenn wahr bleibt, daß Paulus vor allem das eine betreibt. Diese Bemerkung ist wichtig, weil sie auf ein Dilemma in der paulinischen Theologie hinweist: Das Wort vom Kreuz, das nach Paulus den Menschen neu schafft und das menschliche Weisheit zerstört, ist zugleich von Menschen ausgelegtes Wort vom Kreuz, also selbst menschliche Weisheit. II.2  Wie wird vom Wort vom Kreuz her bei Paulus die Welt ausgelegt? Was geschieht durch das Wort vom Kreuz? Daran zeigt sich in indirekter Spiegelung der Inhalt des Wortes vom Kreuz. Es scheint mir, daß drei inhaltliche Gesichtspunkte für den paulinischen λόγος τοῦ σταυροῦ wesentlich sind: II.2.1  Das Wort vom Kreuz legt die Welt so aus, daß sie durch es in ein Gericht kommt. Menschliche Heilsvorstellungen und ‑entwürfe werden durch es zuschanden. Theologie wird als Menschenweisheit entlarvt (1Kor 1,18 ff). Religiöse und moralische Versuche werden als Werkgerechtigkeit, als Versuch eigener Leistung deutlich. Paulinische Rechtfertigungslehre und paulinische Kreuzestheologie intendieren dasselbe; der Anfang des Römer‑ und des 1. Korintherbriefes ist von derselben Sache bewegt. Solchem Gericht sind, wie die Polemik des Paulus gegen die Korinther zeigt, nicht bloß jüdische oder heidnische, sondern gerade auch christliche Taten oder Denkansätze unterworfen. Verstehen wir Theologie als einen menschlichen Denkversuch, so ist das Wort vom Kreuz ihre ständige Infragestellung, obwohl es selbst nichts anderes ist als ein menschliches theologisches Wort. II.2.2  Das Wort vom Kreuz legt die Welt so aus, daß Gott von der Welt unterschieden wird und sich gerade so als Gott erweist. Ich denke, daß es von der Gemeinde brauchte; bei den Gemeinden selbst aber müssen anstelle konkreter Kenntnisse notgedrungen allgemeine traditionsgeschichtliche Postulate über den „Sitz im Leben“ treten.

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Paulus her gerechtfertigt ist, von einer theologia crucis zu sprechen, in der es um nichts weniger als die Gottesfrage geht. In den schon genannten grundsätzlichen Erörterungen zu Beginn des Römer‑ und des 1. Korintherbriefes ist diese Dimension mitenthalten: Die Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Weisheit (1Kor 1,18 ff) läuft auf eine prinzipielle Aussage über Gott hinaus. Gott erweist sich im Wort vom Kreuz als von der Welt so verschieden, daß das „Törichte Gottes weiser ist als die Menschen und das Schwache Gottes stärker ist als die Menschen“ (1 Kor 1,25). Ausführlicher entfaltet Paulus denselben Gedanken in seiner Rechtfertigungslehre im Anschluß an das alttestamentliche Motiv vom Rechtsstreit: Unsere Ungerechtigkeit erweist Gottes Gerechtigkeit, seine Wahrheit ist überragend in unserer Lüge (Röm 3,5.7). Auch Röm 3,26 nimmt Paulus denselben Gedanken im Anschluß an eine traditionelle Rechtfertigungsaussage auf und formuliert: Gott erweist seine Gerechtigkeit in Christus, „auf daß er selbst gerecht sei und gerecht mache den aus dem Glauben an Jesus“. Wenn wir daran denken, daß für den Juden Paulus Gottes Sein sich in seinem Handeln erweist, so können wir ermessen, welche grundsätzliche Dimension die paulinische Kreuzestheologie für den Apostel hat. Die Gottesfrage ist ihr heimlicher Horizont und ihr Ziel. Das expliziert Paulus wiederum am Verkündiger, an sich selbst: An seiner eigenen Schwäche wird die Stärke Gottes erkennbar (2 Kor 4,7; 12,9), damit Gott und Mensch radikal unterschieden bleiben. Es geht also Paulus in seiner Kreuzestheologie um die Gottheit Gottes.15 Aber wiederum wird diese Kreuzestheologie ihre Zweideutigkeit nicht los. Es ist der Mensch, der von Gottes Gottheit spricht und der Gottes Stärke auch zur Kaschierung seiner eigenen Schwächen verwenden könnte. Gerade die Person des Paulus selbst bleibt eine hilfreiche Erinnerung an diese Zweideutigkeit des Wortes vom Kreuz. II.2.3  Der dritte Aspekt ist, daß durch die Macht des Wortes vom Kreuz Mensch und Welt zu einem neuen Sein kommen, und zwar eben dadurch, daß sie die Wahrheit Gottes als Gericht über sich erfahren. Ich meine mit dem an sich problematischen Ausdruck „neues Sein“ das, was Paulus in Anlehnung an die Gemeindetradition als „neue Schöpfung“16 bezeichnet und was er selbst als dasjenige Sein ausgelegt hat, in dem der Mensch zur Liebe für den Mitmenschen frei ist, weil seine eigene Person von Gott her konstituiert ist. Nach Paulus ist diese grundlegende Neuordnung nur möglich, wenn der Christ der Welt ge15  Diese Intention hat er mit der Apokalyptik gemeinsam. Von der Apokalyptik aber unterscheidet er sich dadurch, daß er von Gott nicht abgesehen von dem durch das Kreuz Christi an ihm selbst geschehenen Gericht sprechen kann, d. h. nur als Sünder. Eine in diesem Sinn „abstrakte“ Gotteslehre ist für Paulus ausgeschlossen, weil erst das Wort vom Kreuz ihm von Gott zu reden ermöglicht. 16  Vgl. Peter Stuhlmacher, Erwägungen zum ontologischen Charakter der καινὴ κτίσις bei Paulus, EvTh 27 (1967), 4.

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kreuzigt wird (vgl. Gal 6,14). Als neues Sein ist das Heil des Kreuzes ganzes Heil, nicht bloß partielles Heil. Darum kann Paulus auch nicht dabei stehen bleiben, daß nur ein Teil Israels in die christliche Kirche inkorporiert ist, sondern muß auf der Rettung von Ganz-Israel beharren (Röm 1l,25 ff), damit Gottes Gnade durch den Ungehorsam der Menschen hindurch triumphiere (Röm 11,32–36). Darum ist ihm auch wesentlich, daß die Korinther das Heil nicht verkleinern und zunichte machen, indem sie die Auferstehung der Toten ablehnen und dadurch das Bekenntnis zur Auferstehung des Gekreuzigten zerstören. Nur im Triumph über den Tod selbst kann Gott ganz triumphieren (1 Kor 15,28.54–57).17 II.3  Nach diesen kurzen Bemerkungen zu den drei Hauptzügen der paulinischen theologia crucis möchte ich skizzieren, inwiefern in den verschiedenen Bereichen des paulinischen Denkens tatsächlich das Wort vom Kreuz Mitte und Norm wird. Dies geschieht meines Erachtens nicht so, daß Paulus Anthropologie, Geschichtsverständnis, Eschatologie, Apostolat und Ethik etc. abstrakt christologisch begründet, sondern so, daß sich eben diese drei Hauptzüge, die wir oben als Spiegelungen der Wirksamkeit des Wortes vom Kreuz beschrieben haben, in ihnen als grundlegend erweisen. II.3.1  Kreuzestheologie und Anthropologie. Ernst Käsemann hat eindrücklich den Impetus herausgearbeitet, mit dem Paulus die Diskontinuität zwischen altem und gerechtfertigtem Menschen sogar anhand der sogenannten neutralen anthropologischen Begriffe herausarbeitet, damit Gottes Rechtfertigungshandeln als ein Akt völliger Neuwerdung des Menschen verständlich wird.18 Paulus ist gerade nicht an der Kontinuität zwischen altem und neuem Menschen interessiert und benutzt anthropologische neutrale Begriffe nicht, um mit ihrer Hilfe ein an sich bestehendes Wesen des Menschen zu erläutern. II.3.2  Kreuzestheologie und Geschichtsverständnis. Auf der einen Seite weiß sich Paulus auf die alttestamentliche Geschichte angewiesen und läßt alttestamentliche Gottesworte direkt in die Gegenwart hineinsprechen, weil die Geschichte des alten Bundes der Ort ist, wo der souveräne Gott seinen Namen bekanntgemacht (Röm 9,15) und seine freie Macht ausgeübt hat. Andererseits aber vermeidet es Paulus, Gottes Verheißung durch Sukzession oder das Alte Testament als ganzes durch eine hermeneutische Theorie verfügbar zu machen und vor den Karren des Evangeliums zu spannen. Er kennt zwar geschichtstheologische Ansätze, nicht aber einen die ganze Geschichte bewältigenden Gesamtentwurf.19 II.3.3  Kreuzestheologie und Ekklesiologie. Die paulinische Kreuzestheologie zeigt sich daran, wie Paulus aus der Gemeindeüberlieferung vorgegebene ekklesiologische Kategorien aufnimmt: Die Kategorie des Gottesvolkes ist ihm um der Treue Gottes zu seinem Handeln in der Geschichte willen wichtig, aber so, daß weder „Israel nach dem Fleisch“ (Röm 9,6 ff) noch die heidenchristliche Kirche (Röm 11,16 ff) einen Anspruch darauf besitzen können, Gottes erwähltes Volk zu sein. Die vermutlich ebenfalls aus der 17  Es ist zu beachten, daß die beiden Hauptteile von 1 Kor 15, V 12–34 und V 35–57 trotz verschiedener Gedankengänge auf dasselbe Ziel zulaufen. 18 Ernst Käsemann, Zur paulinischen Anthropologie, in: Ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 20 ff. 19  Vgl. Ulrich Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus, BEvTh 49, München 1968.

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Gemeindetheologie stammende Konzeption von der Kirche als dem Leib Christi20 betont die alle sozialen Differenzen aufhebende neue Wirklichkeit des Heils (1 Kor 12,13; Gal 3,28). Paulus aber greift sie so auf, daß er die notwendige Verwirklichung des Heils im Zusammenleben in der Gemeinde betont (1 Kor 12,12–31). Auch hier ist wieder ein gemeindekritisches Element deutlich. II.3.4  Kreuzestheologie und Eschatologie. Für Paulus wird jüdische Zukunftserwartung durch die Auferstehung Jesu zur gewissen Hoffnung.21 Dennoch zeigt sich gerade in der Eschatologie deutlich die Signatur der paulinischen Kreuzestheologie, die exemplarisch deutlich macht, wie vom Kreuz her die Bedeutung der Auferstehung Jesu präzisiert wird. Paulus läßt sich nicht darauf ein, die Zukunftsperspektive des christlichen Glaubens auf ein künftiges individuelles Heil zu beschränken, und hält entschlossen an der kosmischen Dimension des künftigen Heils und an der Überwindung des Todes fest, was allein der künftigen Weltherrschaft Gottes entspricht (1 Kor 15,28). Er stellt den Christen zusammen mit der unerlösten seufzenden Kreatur (Röm 8,18 ff) und verhindert so, daß aus dem künftigen Heil ein privater, die Leiden der Gegenwart überspielender Triumph wird. Schließlich hält er entschlossen am Gerichtsgedanken fest, auch um den Preis einer begrifflichen Inkonzinnität mit der Rechtfertigungsbotschaft,22 damit die Rechtfertigungsgnade nicht zum menschlichen Heilsbesitz wird, sondern den Menschen in seine Verantwortung gegenüber dem allmächtigen Gott in seiner weltlichen Existenz weist. II.3.6  Kreuzestheologie und Apostolat. Der paulinischen Kreuzestheologie entspricht das eigenartige Zögern, mit dem Paulus gegenüber den Gemeinden seine eigene Autorität zum Zuge bringt:23 Einerseits wird von Gottes richtender Gnade her gerade jede Möglichkeit, gegenüber anderen Menschen eine menschliche Autorität aufzurichten, zerstört, andererseits muß Paulus als Apostel konkrete Wegmarken der Herrschaft des Herrn aufrichten. Darum schreibt der Apostel Paulus Briefe, in denen er argumentiert und seinen Gemeinden kaum je befiehlt, sondern sie zu überzeugen versucht oder sie bittet. II.3.7  Kreuzestheologie und Ethik. Der durch das Kreuz Jesu erfahrenen selbstlosen Liebe Gottes entspricht die nicht am eigenen Selbst orientierte Liebe zum Mitmenschen als oberste Richtschnur paulinischer Ethik. Vor allem aber entspricht der paulinischen Kreuzestheologie das unerhörte theologische Gewicht, das auf der Ethik als solcher liegt; denn die Theologie des Kreuzes bestimmt die Welt als Ort, an dem Gott seine Herrschaft aufrichtet, die er durch sein Gericht geheiligt hat und die er dem Menschen als Ort der Rechtfertigung schenkt.

II.4  Im Anschluß an diese kurze Skizze der paulinischen Kreuzestheologie als kritischer Mitte des paulinischen Denkens überhaupt versuchen wir nun, unsere oben erarbeiteten Leitfragen anhand der paulinischen Theologie ein Stück weit voranzutreiben. 20  Vgl. Luz, a. a. O. 212 f Anm. 299; Ernst Käsemann, Das theologische Problem des Motivs vom Leibe Christi, in: Ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 183 f. 21  Vgl. Luz, a. a. O. 323 ff. 22  Ich halte den Versuch einer logischen Systematisierung, den Lieselotte Mattern, Das Verständnis des Gerichtes bei Paulus, AThANT 47, Zürich 1966, durch die Unterscheidung zwischen dem Gericht über die Person des Christen und dem Gericht über das Werk des Christen unternommen hat, für mißglückt. 23  Vgl. Hans von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, BHTh 14, Tübingen 1953, 50.

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II.4.1  Warum kam es bei Paulus zu einer theologia crucis, die vom Kreuz her den Menschen, seinen Heilsbesitz und auch seine Christlichkeit kritisch in Frage stellt? Woher erhielt die paulinische Kreuzestheologie ihre grundsätzlich-polemische Wendung? Man kann natürlich auf den „Enthusiasmus“ verweisen, mit dem sich Paulus in Korinth und anderswo auseinandersetzen mußte. Paulus sah hier die Gefahr, daß das Heil verkürzt wurde, indem es der Mensch zu seinem Besitz machte, und daß entsprechend der Mensch und nicht mehr Gott in den Mittelpunkt des christlichen Glaubens zu treten drohte. Aber die Frage bleibt, ob wirklich erst der Enthusiasmus die Genese der paulinischen Kreuzestheologie ausgelöst hat oder ob nicht vielmehr die paulinische Kreuzestheologie in ihren Grundlinien bereits vorhanden war und es ermöglichte, daß Paulus überhaupt gegen den Enthusiasmus Stellung beziehen konnte. Das einzige, was sich sagen läßt, ist, daß die paulinische Kreuzestheologie mit ihrer Kritik an menschlicher Weisheit und Gerechtigkeit und ihrer Betonung der Souveränität Gottes in erstaunlicher Weise dem entspricht, was Paulus selbst in seiner Bekehrung erfahren haben muß. Hierüber wissen wir bekanntlich wenig. Aus Gal 1,13 f und Phil 3,6–10 ergibt sich, daß der Eiferer Paulus die christlichen Gemeinden – vermutlich vor allem die Hellenisten um Stephanus – um des Gesetzes willen verfolgt hat. Wie auch immer er die ihm in der Bekehrung zuteil gewordene christologische Erkenntnis formuliert haben mag, klar ist, daß sie für ihn gerade in dem, was ihm das Zentrum war, in seinem Gesetzesverständnis, eine grundlegende Neuorientierung bedeutet haben muß.24 Paulus erfährt also in seiner Bekehrung – für ihn kontigent und unableitbar – das, was er dann in seiner Kreuzestheologie als das gnadenvolle Gericht des Kreuzes über die menschliche Gerechtigkeit auslegt. So versteht er auch seine Bekehrung selbst retrospektiv (vgl. Phil 3,8 f; 1 Kor 15,10a). Man kann also sagen, daß Paulus von allem Anfang an das, was er später als Gottes Gerechtigkeit in Christus, als Gottes Kreuz in Christus und als die Werkgerechtigkeit überwindende Neustiftung des Menschen durch Gott verkündet hat, selbst durchlitten hat. Wie seine eigene apostolische Existenz, die integrierender Bestandteil seiner Verkündung ist, zeigt, erleidet er sie fortwährend weiter. Paulinische Kreuzestheologie ist nicht zu trennen von der eigenen Existenz des Apostels. Eine negative Feststellung ist noch wichtig: Es gibt bei Paulus keinerlei Anzeichen dafür, daß seine Kreuzestheologie so etwas wie eine Projektion seines eigenen Leidens gewesen wäre. Er hat nicht sein eigenes Leiden in Christus hineinprojiziert, um es so, mit Hilfe von Christi Auferstehung und künftiger Herrlichkeit, zu legitimieren und zu verklären. 24  Damit rechnen sowohl Urich Wilckens, Die Bekehrung des Paulus als religionsgeschichtliches Problem, ZThK 56 (1959), 273 ff, als auch Peter Stuhlmacher, Das Ende des Gesetzes, ZThK 67 (1970), 14 ff. Wenn Stuhlmachers These (a. a. O. 29) richtig ist, daß gerade das Ja zum Gekreuzigten das Nein zur der Gekreuzigte verfluchenden Torah (Gal 3,13) impliziert, so hat Paulus in seiner Bekehrung das Gericht über seinen bisherigen Lebensinhalt, den Kampf für die Torah, gerade durch den Gekreuzigten erfahren.

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

Von diesem Ansatz her wäre gerade der kritische, auch ihn selbst in Frage stellende Zug der paulinischen Kreuzestheologie nicht zu erklären. Hier liegt vermutlich auch der entscheidende Unterschied zwischen der kritisch-polemischen Kreuzestheologie des Paulus und der Kreuzestheologie des 1. Petrusbriefes, die das gerade nicht ist: Das Kreuz spielt hier eine entscheidende Rolle, weil die Gemeinde leidet und gerade in ihrem Leiden sich an die Entsprechung des Leidens Christi halten kann. Die eigene Existenz der Christen wird aber, weil sie leiden, vom Kreuz her nicht kritisch hinterfragt, sondern bestätigt: Leiden ist Chance, die eigenen Sünden loszuwerden (1 Petr 4,1), in die Fußstapfen Christi zu treten und, ohne zu rebellieren, gerecht zu leiden (2,21). Leiden ist damit eine Chance zur Rettung, derer der Gottlose und Sünder kaum teilhaftig wird (4,18). Der Weg zu einer Tugendlehre des Leidens ist nicht groß, wohl aber die Distanz zu Paulus.

II.4.2  Was ist das Kriterium für die Wahrheit einer Kreuzestheologie? Paulus hätte vermutlich die Frage nach einem Wahrheitskriterium für seine Kreuzestheologie abgewiesen, sofern sie so gestellt ist, daß der Mensch über die Wahrheit des Kreuzes befinden kann. Eine Andeutung seiner Antwort ist mit dem Hinweis gegeben, daß das Wort vom Kreuz eine δύναμις ist, die über den Menschen verfügt und ihn richtet. Ein Wahrheitskriterium im üblichen Sinn für das Wort vom Kreuz kann es also nicht geben, weil im Wort vom Kreuz sich entscheidet, was der Mensch in Wahrheit ist, und nicht umgekehrt der Mensch über die Wahrheit des Wortes vom Kreuz entscheidet. Die Frage nach Wahrheitskriterien für das Wort vom Kreuz kann also nur hinterher, in Betroffenheit durch das Kreuz, als Frage nach sekundären Wahrheitskriterien gestellt werden, die verhindern, daß das Wort vom Kreuz doch wieder zu einer selbstangemaßten Menschenweisheit wird. Hier ist in zwei Richtungen weiterzufragen: a) Einmal in Richtung auf die Geschichte. Das paulinische Wort vom Kreuz ist dem Apostel vorgegeben, weil es das Wort vom Kreuz Jesu von Nazareth ist und nicht einfach ein in sich wahres Symbol. Den Willen zur Orientierung des Glaubens an der Geschichte zeigt Paulus, indem er traditionelle Glaubensaussagen, in denen der Glaube die Geschichte Jesu erzählt, z. B. Phil 2,6–11, aufnimmt und sie – gerade durch den Hinweis auf den Kreuzestod Jesu – deutlich als geschichtliche Aussagen versteht. b) Darüber hinaus ist noch eine zweite Art sekundären Wahrheitskriteriums zu überlegen. Wir sahen, daß es bei Paulus keine Kreuzestheologie ohne Existenz unter dem Kreuz gibt, keine kritische Destruktion menschlicher Weisheit vom Kreuz her, ohne daß der Kreuzestheologe seine eigene Existenz und seine eigene Theologie unter dieses Gericht stellt. Von da her scheint mir die Existenz ein sekundäres Kriterium für die Wahrheit einer Kreuzestheologie zu sein, nämlich dafür, ob das Gericht über den Menschen, von dem sie spricht, wirklich ergeht und ob die menschliche Solidarität, die sie stiftet, wirklich besteht. Konkreter: Der φόβος und τρόμος (1 Kor 2,3), mit dem Paulus in Korinth auftritt, die Liebe und der demütige apostolische Dienst an den Gemeinden sind sekundäre

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Kriterien für die Wahrheit seiner Kreuzestheologie, während eine alleswissende und im Namen Gottes befehlende Inanspruchnahme der Wahrheit, die mit dem Menschen, den sie verurteilt, nicht zutiefst solidarisch ist, ein Kriterium gegen ihre Wahrheit sein könnte. Dann liegt die Wahrheit der Theologie, die Kreuzestheologie sein will, nicht einfach in ihrem Inhalt oder in ihrer Schlüssigkeit, sondern ist durch die Lebenswirklichkeit der sie vertretenden Menschen mitbestimmt.25 Am Schluss bleibt aber eine letzte Zweideutigkeit. Deutlich kommt sie in 1 Kor 2,1–5 heraus: Paulus kann den „überredenden Weisheitsworten“ der Korinther, die christliche Pneumatiker sind, nichts anderes gegenüberstellen als den „Erweis von Geist und Kraft“. Das ist phänomenologisch aber nichts anderes ist als die Geistbegabung der Korinther auch, gegen deren Verabsolutierung Paulus kämpft. Für die ihm selbst von Gott gegebene Geisteskraft beansprucht Paulus also eine andere Autorität, als er den Korinthern für ihren Geist zuzubilligen bereit ist. Es bleibt also eine letzte Unausgeglichenheit.

III. Markus III.1  Über die markinische Kreuzestheologie lassen sich weniger präzise Angaben machen, denn die Interpretation der Markusredaktion hat bis heute nicht zu einer opinio communis der Forschung geführt. Gerade die These, daß die Theologie des Markus im Kreuz ihre Mitte habe, ist in der Forschung umstritten. Nach einigen Forschern ist das Markusevangelium vom hellenistischen Kerygma vom Abstieg und Aufstieg des Erlösers (Phil 2,6–11) her zu deuten.26 Falls Philipp Vielhauer recht hätte und das Markusevangelium in seinen drei markanten Kernstellen 1,11; 9,7 und 15,39 am alten ägyptischen Inthronisationszeremoniell orientiert wäre,27 so läge der Akzent des Markusevangeliums auf Inthronisation und Erhöhung, allerdings in paradoxer Form. Sehr zu bedenken ist auch der Interpretationsvorschlag von Georg Strecker, der das Markusevangelium als heilsgeschichtlichen Bericht versteht; mit der Auferstehung Jesu (vgl. 9,9) sei das Messiasgeheimnis ein für allemal aufgelöst. Die nachösterliche Gemeinde – erst sie! – sei imstande, Jesu wahres Wesen frei und offen zu verkünden.28 Wenn ich selber mit anderen dazu neige, das Markusevangelium als 25  Es ergäbe sich eine Analogie zur Verkündigung Jesu, deren integrierender Bestandteil, wie vor allem Ernst Fuchs immer wieder gelehrt hat, Jesu Person, sein Verhalten, seine Tat ist. 26  Johannes Schreiber, Die Christologie des Markusevangeliums, ZThK 58 (1961), 154 ff. 27 Philipp Vielhauer, Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums, in: Ders., Aufsätze zum Neuen Testament, ThB 31, München 1965, 195 ff. 28  Georg Strecker, Zur Messiasgeheimnistheorie im Markusevangelium, Studia Evangelica 3, TU 87, Berlin 1964, 87 ff.

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

Passionsevangelium zu verstehen,29 bin ich mir bewußt, daß diese Interpretation nicht mit allgemeiner Anerkennung rechnen kann, obwohl sie in dieser Skizze nicht weiter begründet wird. Ich denke, daß die Zuordnung der Jesusüberlieferung zum Leiden und Sterben Jesu die eigentliche theologische Leistung des Markus ist, die ihn auch zu seiner Form des Evangeliums als „Bericht“ geführt hat und die in dieser Weise in den Stoffen der vormarkinischen Gemeinde noch nicht angelegt war. Die vormarkinischen Überlieferungen sind meines Erachtens stark vom Bild Jesu als des vollmächtigen Gottesmannes etwa vom Typ Elias geprägt.30 Nicht nur die zahlreichen Wundergeschichten und Legenden, sondern auch die für die markinische Überlieferung charakteristischen Streitgespräche, die die Vollmacht Jesu nicht in seiner Tat, sondern in seinem Wort zum Skopus haben, weisen in diese Richtung. Vom Bild des vollmächtigen Gottesmannes Jesus wußte sich die Gemeinde in ihrem Leben bestimmt: Unter seinem wunderbaren Schutz stand sie (4,35–41; 6,45–51). Seine Wunder wiederholten die Jünger (6,7–13); sie bildeten wohl einen wesentlichen Inhalt der Missionsverkündigung der Gemeinde. In der durch seine vollmächtige Lehre geschaffenen Freiheit vom jüdischen Gesetz lebte sie.31 Markus ging es darum, die Überlieferung vom Gottesmann Jesus an die Passion zu binden. Nur von Jesu Leiden und Sterben her wird verständlich, daß Jesus der Gottessohn ist (15,39). Nur in der Situation äußerster Niedrigkeit  – im Prozeß vor dem Synhedrium  – kann Jesus direkt offenbaren, wer er in Wirklichkeit ist (14,61 f). Hier, als Angeklagter und Mißhandelter, spricht Jesus zum erstenmal unverhüllt von seiner Sendung und faßt die beiden im Evangelium wichtigsten Titel Gottessohn und Menschensohn zusammen. Die Herrlichkeit Jesu, die sich etwa in seinen Wundern äußert, wird nach Markus nur dann wirklich verständlich, wenn Jesus als Leidender akzeptiert wird, und nur denjenigen wirklich verständlich, die sich von Jesus nicht nur zu eigenen wunderbaren Erfahrungen, sondern auch ins eigene Leiden führen lassen (8,34).

Die Unterschiede zwischen paulinischer und markinischer Kreuzestheologie sind durch ihre verschiedene Form gegeben und liegen auf der Hand. Paulus treibt Kreuzestheologie, indem er argumentiert; Markus, indem er erzählt. Paulus treibt Kreuzestheologie, indem er vom Kreuz her sich der Gegenwart zuwendet; Markus interpretiert primär die Geschichte Jesu, die Vergangenheit. Wir werden nun so vorgehen, daß wir zunächst das, was beiden Theologen gemeinsam ist, näher beleuchten, sodann das, was sie unterscheidet. III.2  Die drei Grundelemente paulinischer Kreuzestheologie, die wir herausarbeiteten (o. 2.2.1–3), nämlich der Gedanke des Gerichts, der Souveränität 29  In ähnlicher Weise deuten u. a. Euard Schweizer, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 1967; Theodore Weeden, Mark, Traditions in Conflict, Philadelphia 1971; Maria Horstmann, Studien zur markinischen Christologie, NTA NF 6, Münster 1969. 30  Vgl. dazu Hans D. Betz, Jesus as Divine Man, in: F. Thomas Trotter (Ed.), Jesus and the Historian (Festschrift E. C. Colwell), Philadelphia 1968, 114 ff; Helmut Köster, in: Helmut Köster / ​James M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, 173 ff. 31  Vgl. Ulrich Luz, Das Jesusbild der vormarkinischen Tradition; neue Fassung in: ders., Exegetische Aufsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 415–434.

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Gottes und der Totalität des Heils, sind bei Markus teils deutlich feststellbar, teils wenigstens angedeutet. III.2.1  Auch die markinische Kreuzestheologie impliziert ein Gericht über den Menschen. Dieses Gericht betrifft nicht den Nichtchristen, sondern gerade den Christen. Die von Markus übernommenen Geschichten sind so angelegt, daß die hörenden Gemeindeglieder sich zunächst mit den Jüngern Jesu identifizierten und gleichsam in ihnen bei Jesus dabei waren.32 Die Jünger sind meines Erachtens im Markusevangelium die primären Identifikationsfiguren für die Leserinnen und Leser. Von da her mußten sie das seit dem vierten Kapitel immer deutlicher werdende Jüngerunverständnis als schneidende Kritik an sich selbst empfinden. Das Markusevangelium zeigt den Gegensatz zwischen den immerwährenden Versuchen Jesu, den Jüngern durch Erläuterung seiner Lehre (4,11 f.34; 7,17 ff; 9,28 f etc.) und durch seine Wunder seine Herrlichkeit zu erschließen, und der völligen Erfolglosigkeit dieser Bemühungen (4,13.40; 6,52; 7,18; 8,14 ff etc.). Im zweiten Teil des Evangeliums konzentriert sich das Jüngerunverständnis auf das Leiden Jesu. In seiner Passion wird Jesus von seinen Jüngern im Stich gelassen. Durch Kontraste wird die negative Rolle der Jünger hervorgehoben: Es stehen sich gegenüber: die Jünger und der gläubig-ungläubige Vater (9,14 ff); die Jünger und die kleinen Kinder (10,13 ff), der Jünger Judas und die Frau in Bethanien oder der verleugnende Petrus und der bekennende Herr. Das Bekenntnis der Gemeinde angesichts des Kreuzes wird von einem heidnischen Hauptmann gesprochen (15,39), nicht von einem Jünger und auch nicht von den von ferne zuschauenden Frauen. Der Aussenstehende Simon von Kyrene ist es, der – mit Anspielung auf Mk 8,34?  – Jesus sein Kreuz trägt. Das Markusevangelium enthält auch keine direkte – etwa wie Joh 21,15 ff – oder indirekte – etwa durch das Widerfahrnis von Erscheinungen – Rehabilitation der Jünger. Im zweiten Teil des Evangeliums wird sehr deutlich ausgesprochen, warum die Jünger versagen: Weil sie nicht bereit sind, Jesu Niedrigkeit und Leiden als Modell ihrer eigenen Existenz zu übernehmen (8,34 f; 9,33 ff; 10,35 ff). Auch bei Markus ist wie bei Paulus das Verstehen des Kreuzes mit der Existenz unter dem Kreuz verbunden. Das Nichtverstehen der Jünger erfährt seine Bestätigung in ihrem Verhalten in der Passion. Weniger deutlich sind die Beziehungen zwischen dem Leidensunverständnis im zweiten Teil des Evangeliums und dem Jüngerunverständnis in Mk 4–8 (Parabel‑ und Wunderunverständnis). Stellt Markus einfach beides nebeneinander und sagt, daß die Jünger weder Jesu Wunder noch sein Leiden verstanden haben? Oder sieht er eine Beziehung zwischen 32  Darauf wies schon Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 31957, 50 f. 276, hin. Weiteres Material bei Ulrich Luz, Die Jünger im Matthäusevangelium, ZNW 62 (1971), bes. 165 ff. Eine andere Position vertreten z. B. Jürgen Roloff, Das Markusevangelium als Geschichtsdarstellung, EvTh 29 (1969), bes. 83 ff und Kenzo Tagawa, Miracles et Evangile, Paris 1966, 174 ff.

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beidem, so daß man vom Ende her formulieren könnte, daß nach Markus die Jünger deswegen, weil sie Jesu Leiden nicht verstanden, auch seine Wunder nicht verstehen konnten? Eine Entscheidung ist unmöglich, weil die markinische Erzählung hier offen ist.

III.2.2  Weniger deutlich, aber immerhin sichtbar ist, daß es in der markinischen Kreuzestheologie um die Gottesfrage geht. Zentraler Text ist die Kreuzigungsgeschichte. Die letzten Stationen des Lebens Jesu zeigen mit unerhörter Dichte, was im Kreuz auf dem Spiel steht. Jesu Ruf nach dem Gott, der ihn verlassen hat (15,34), markiert sein Leiden als den Ort, wo die Entscheidung über die Nähe und Ferne Gottes fällt. Das sich bis zum letzten Moment durchhaltende Mißverständnis, daß es Jesus um den Versuch einer direkten, sichtbaren Demonstration der Macht Gottes gehen könnte (15,31 f.35 f), wird ein letztes Mal explizit abgewiesen: Jesus stirbt mit dem lauten Schrei der Gottverlassenheit (15,37).33 Eine direkte Demonstration der Präsenz Gottes erfolgt auch jetzt nicht; durch durch das Zerreißen des Tempelvorhangs wird sein Gericht über den jüdischen Kultus nur angedeutet (15,38). Die Reaktion der Anwesenden bleibt ambivalent: Neben dem Bekenntnis des Außenseiters (15,39) steht die relative Distanz der nachfolgenden Frauen (15,40 f). Natürlich ist die Markuspassion getragen von dem Glauben, daß im Tod des Gottessohnes Gott selbst sein Gerichtswort sowohl über den Tempelkult als auch über die Jünger spricht. Aber Gott bleibt undemonstrierbar und unverfügbar, ein Gegenstand des Glaubens. Schwieriger ist die Frage, ob das Kreuz bei Markus seinen bestimmenden Platz verliert, indem der Evangelist den Faden von Jesu Kreuzigung weiterführt zu Jesu Auferstehung. Sie ist verbunden mit der alten und nach wie vor unlösbaren Frage nach dem eventuell verlorenen Markusschluß. Hält man diese These für unwahrscheinlich, so muß der jetzige Schluß des Evangeliums in 16,8 gedeutet werden. Die Furcht und das Schweigen der Frauen bedeuten dann vielleicht einen negativen Rückverweis auf das Kreuz, wo die Verkündigung Jesu als des Gottessohns, wie 15,39 zeigt, ihren Anfang genommen hat und wo sie ihren Grund hat. Durch die Begegnung mit dem Engel am leeren Grab wäre dann die Auflösung des Messiasgeheimnisses nicht erfolgt. Diese Interpretation paßt zur markinischen Passionsgeschichte, die von Markus durchweg als Epiphanie unter paradoxem Vorzeichen gestaltet worden ist. Die Geschichte des leeren Grabes wäre dann gleichsam ein Anhang zum Markusevangelium, der diese in der Gemeinde überlieferte Tradition an die Passion rückkoppelt. Ein Gegenargument gegen dieses Verständnis ist natürlich Mk 9,9.34

III.2.3  Wie bei Paulus, so ist auch bei Markus das Verständnis des Heils durch die Kreuzestheologie entscheidend geprägt. Bei Markus ist das Kreuz Jesu nur unbetont als Ort der Sühne oder der Stellvertretung verstanden; viel wichtiger 33  Der laute Schrei wird von Johannes Schreiber, Theologie des Vertrauens, Hamburg 1967, 34, als Gerichtsruf gedeutet. Diese Deutung scheint mir unwahrscheinlich, denn V 37 steht in engster Nachbarschaft zu V 34 und muß von dort her gedeutet werden. 34 Die Stelle ist der Hauptbeleg Georg Streckers (s. o. Anm. 28). Doch bleibt zu bedenken, daß auch die Abfolge Mk 8,27–9,13 dasselbe enge Ineinander von Niedrigkeit und Hoheit zeigt, das für die markinische Passionsgeschichte charakteristisch ist.

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ist, dass Jesus so etwas wie grundlegendes Modell für das Leben der Gemeinde ist. Die Gemeinde partizipiert an seiner Vollmacht, Wunderherrlichkeit und Gesetzesfreiheit, und – so betont nun Markus in kritischer Neuakzentuierung der Tradition – sie partizipiert auch an seinem Leiden. Daß die Gemeinde leiden muss, ergibt sich nicht nur aus 13,9–13, sondern vor allem aus dem markinischen Verständnis von Nachfolge. Im Nachfolgeteil des Evangeliums (8,27–10,52) wird sie deutlich als Nachfolge auf dem „Weg“ nach Jerusalem, d. h. ins Leiden dargestellt. Durch die Betonung des Leidens als Ort, an dem Jesu Hoheit zu allererst verstehbar wird, hält Markus die Tiefe der in Jesus offenbar gewordenen göttlichen Herrlichkeit fest: Sie reicht hinein bis in die Tiefen des Todes und der Gottverlassenheit. Es geht also Markus ähnlich wie Paulus im Kreuz um die Ganzheit des Heils. III.3  Die Unterschiede zwischen Markus und Paulus liegen in der Gestalt ihrer Kreuzestheologie. Doch sollte meines Erachtens zwischen der vorwiegend narrativen Kreuzestheologie des Markus und der vorwiegend argumentativen Kreuzestheologie des Paulus keine exklusive Alternative konstruiert werden. Der wichtigste Unterschied zwischen beiden Formen der Kreuzestheologie liegt darin, daß Markus den Anfang der Verkündigung erzählen wollte (1,1), während die paulinischen Briefe die geschehene Verkündigung voraussetzen und ihre Konsequenzen erörtern. Angesichts der vielen Ähnlichkeiten möchte ich aber narrative und argumentative Kreuzestheologie nicht als zwei Alternativen sehen, sondern als sich ergänzende Möglichkeiten. Wir müssen nun fragen, welche spezifischen Chancen und Möglichkeiten jede Gestalt der Kreuzestheologie hat. III.3.1  Die markinische Form der Erzählung entspricht der geschichtlichen Vorgegebenheit des Kreuzes. Sie schließt jede Möglichkeit aus, daß das Kreuz Jesu eine bloße Idee sein könnte oder durch eine solche, z. B. durch einen in bestimmter Weise strukturierten Gottesbegriff, ersetzbar wäre. Insofern ist eine narrative Substruktur der Kreuzestheologie auch ein unaufgebbares Grundelement der paulinischen Kreuzestheologie. III.3.2  Die markinische Kreuzesverkündigung nimmt die Hörer in die Erzählung mit hinein. Die Erzählung ist ein Geschehen an den Hörerinnen und Hörern. In ihrem Verlauf wird ihr eigenes Vorverständnis verändert; ihr Verständnis von Jüngerschaft und von Christi Herrlichkeit wird in Frage gestellt. Das Markusevangelium verfremdet seine Hörer. Es vollzieht also ein Gericht des Kreuzes an den Hörern, indem es sie auf den Weg Jesu mitnimmt. Die δύναμις des Kreuzes, die von argumentativer Kreuzestheologie statuiert wird, wird in der markinischen Erzählung erfahrbar.

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III.3.3  Eine Erzählung läßt den Hörerinnen und Hörern Freiheit; sie legt das, was sie von ihnen will, nicht eindeutig fest. Sie definiert die Hörerinnen und Hörer nicht. Sie erteilt ihnen keine Befehle und spricht keine sie in Unfreiheit bindenden Urteile aus. Eine Erzählung läßt Freiheit, obwohl sie die Hörerinnen affiziert und beansprucht. Gerade deshalb scheint sie mir von der Art, wie Paulus die absolute Autorität des Wortes vom Kreuz argumentativ, nicht autoritativ zu vertreten versucht (vgl. o. 2.3.6), nicht weit entfernt. III.3.4  Eine Erzählung ist anschaulich und konkret. Wenn es in einer Kreuzestheologie darum geht, daß das von Gott geschenkte Heil totales, umfassendes Heil ist, das die Tiefen der menschlichen Existenz erreicht, so gilt, daß die erzählte Leidensgeschichte es den Hörerinnen und Hörern erleichtert, das Heil als wirkliches, sie selbst betreffendes Heil zu erfahren. Die Leidensgeschichte bewahrt das Heil davor, zu einem Abstractum zu werden. Erzählen kann man nur von wirklichem Leiden, argumentieren kann man auch mit einem Begriff des Leidens.35 Immerhin ist zu bemerken, daß auch die paulinische Kreuzestheologie nicht abstrakt argumentativ ist. Zum Argument gehört nicht nur  – wenigstens in Rudimenten – die Erzählung vom Leiden Jesu, sondern vor allem der konkrete Mensch Paulus, der das Leiden Jesu an seinem Leibe herumträgt. III.3.5  Eine argumentative Kreuzestheologie hat dort ihre Stärke, wo die narrative ihre Schwäche hat: Paulus kann seine Hörerinnen und Hörer ganz konkret auf ihre eigene Situation hin ansprechen. Er braucht es nicht den Hörern zu überlassen, wo sie sich selbst unter das Gericht des Kreuzes stellen und sich selbst in der Geschichte der Kreuzigung Jesu platzieren wollen. Im Gericht des Kreuzes bleibt bei Paulus nichts ungesagt; seine Relevanz für die Situation der Gemeinden wird deutlich. Da Paulus selbst vom Kreuz her mindestens versuchsweise seine eigene Autorität kritisch begrenzt, enthält die argumentative Kreuzestheologie des Paulus zugleich die Möglichkeit eines Dialogs zwischen Paulus und seinen Leserinnen und Lesern. Das Dialogische gehört im Rahmen einer Kreuzestheologie zusammen mit dem Argumentativen. Damit dürfte die größte Chance des vorwiegend argumentativen Verfahrens angedeutet sein.36

35  In ähnlicher Weise stellt dies Jean Baptiste Metz, Kleine Apologie des Erzählens, Conc 9 (1973), 339 fest. Der vorliegende Aufsatz verdankt Metz viele Anregungen und steht in ständigem Gespräch mit ihm. 36 Mit Metz bin ich darin einig, daß argumentative und erzählende Kreuzestheologie sich nicht exklusiv gegeneinander ausspielen lassen. Anders als er denke ich aber, daß auch eine vorwiegend argumentative Kreuzestheologie ihre spezifische Chance und Möglichkeit hat, wie uns gerade Paulus zeigen kann.

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III.4  Wenden wir uns zum Schluß wieder unseren Leitfragen zu. III.4.1  Die erste Leitfrage nach dem geschichtlichen Grund des Aufbrechens seiner Kreuzestheologie ist bei Markus schwerer beantwortbar als bei Paulus, weil wir über Markus nur wissen, was wir aus dem Evangelium erschließen können. Wir können vermuten, daß der Evangelist mit seiner Kreuzestheologie Traditionen aufnimmt, die von der Vollmacht Jesu in Streitgesprächen und Wundern geprägt sind, und sie polemisch vertieft, indem er sie mit der Passion Jesu verbindet und sie so auf die von Leiden und Martyrium gezeichnete Wirklichkeit seiner Gemeinde bezieht. Versuche, die markinische Kreuzestheologie als durch eine ganz bestimmte geschichtliche Situation angestoßen zu verstehen, sind natürlich riskant. Der Gedanke ist aber verführerisch, an die Situation der römischen Christen nach dem Stadtbrand von Rom im Jahre 64 zu denken, für den sie zu Sündenböcken gemacht wurden und durch den sie zugleich als besondere, von den Juden unterschiedene religiöse Gruppe in das öffentliche Bewusstsein rückten. III.4.2  Auch Markus gibt keine direkte Auskunft auf die zweite Leitfrage, diejenige nach Wahrheitskriterien für seine Kreuzestheologie. Dem entspricht die Form der Erzählung. Eine Erzählung reflektiert nicht über ihre Wahrheit, sondern sie wird erzählt. Markus beantwortet die Wahrheitsfrage indirekt, indem er die Geschichte von Jesus als dem Gekreuzigten erzählt. Er lässt seine Leserinnen und Leser, die als Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu an dieser Geschichte beteiligt sind und von ihr betroffen werden, selbst über ihre Wahrheit urteilen. Die Worte über die Leidensnachfolge (Mk 8,34; 9,33 ff; 10,35 ff) zeigen, daß dieses Urteil nur im eigenen Engagement in der Leidensnachfolge Jesu positiv ausfallen kann. Für beide, Markus und Paulus, gehört die „Kreuzförmigkeit“ des Verkündigers bzw. des Nachfolgers konstitutiv zur theologica crucis. Eine vom Leben und Leiden der vom Kreuz Betroffenen ablösbare, abstrakte Kreuzestheologie gibt es nicht. Im Ganzen war für mich auffällig, wie groß die theologische Übereinstimmung in den Grundansätzen zwischen markinischer und paulinischer Kreuzes­theologie ist, wahrscheinlich ohne dass Markus Paulus gekannt hat. Der tiefen Übereinstimmung zwischen Paulus und Jesus, die sich auch nicht kannten, in wesentlichen Grundanliegen ist die ebenso tiefe Übereinstimmung zwischen Paulus und Markus an die Seite zu stellen.

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IV. Thesen und Fragen Zum Schluss möchte ich die wesentlichen Ergebnisse der voranstehenden Überlegungen in einigen Thesen formulieren und anschliessend die Fragen, die durch sie gestellt bzw. offen gelassen werden, stellen. IV.1 Thesen 1. In einer Theologie des Kreuzes geht es um Gott, der seine Gottheit und Souveränität so erweist, daß er sich menschlichen Heilsvorstellungen und Maßstäben gerade nicht anpaßt. 2. Der Mensch und die Welt sind immer mit ein Gegenstand einer Theologie des Kreuzes, weil sie menschliche Selbstverwirklichung, Religiosität und Theologie in Frage stellt. 3. Kreuzestheologie ist dort aufgebrochen, wo das Heil verkürzt, Gott verkleinert und menschliche „Heilserfahrungen“ in den Mittelpunkt gestellt wurden. Sie zielt demgegenüber auf ein volles Ernstnehmen des Heils und eine radikale Unterscheidung zwischen Gott und Mensch. 4. Von einer „Kreuzestheologie“, die menschliches Leiden hinnimmt oder sich mit dem Morgenrot einer künftigen Umkehr der jetzigen Verhältnisse vertröstet, unterscheidet sich die echte theologica crucis durch ihre kritisch-polemische, immer auch gegen den Kreuzestheologen selbst gerichtete Stossrichtung. 5. Von einer unpolemischen Reflexion des Glaubens über die Heilsbedeutung des Kreuzes unterscheidet sich echte Kreuzestheologie durch die kritische Infragestellung auch dieses Glaubens durch das Kreuz. Der Glaube an die Heilsbedeutung des Kreuzes ist zugleich inhaltliche Voraussetzung und Gegenstand der Kritik solcher Kreuzestheologie. Es ist die kritische Potenz des Kreuzes, die dazu führt, nicht das Kreuz als einen Gegenstand der Theologie neben anderen aufzuführen, sondern die ganze Theologie kritisch im Lichte des Kreuzes zu entwerfen. 6. Ein Signum echter Kreuzestheologie ist die Betroffenheit des Menschen durch das Gericht des Kreuzes: sein Leiden an Gott und der Welt, die kritische Infragestellung seiner selbst. Ohne dieses existentielle Beanspruchtsein gibt es keine glaubwürdige Theologie des Kreuzes. Karl Rahner formulierte prägnant: „Die Theologie ist selber gekreuzigte Theologie und redet nicht nur vom Kreuz.“37 7. Es kennzeichnet echte theologia crucis, daß sie nie die Gestalt eines geschlossenen Systems haben kann, das Gott innerhalb des Systems einen Ort anweist, statt sich das eigene System von Gott her in Frage stellen zu lassen. 37

 Karl Rahner, Art. Theologia crucis II, LThK 10, 1965, 61.

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IV.2 Fragen 1. Die erste Frage betrifft das Verhältnis der beiden ausgesprochenen Kreuzestheologien zu den übrigen Theologien im Neuen Testament. Im Rückblick scheint polemische, kritische Charakter der markinischen und paulinischen Theologie das zu sein, was Markus und Paulus von den meisten anderen Theologien des Neuen Testaments unterscheidet. Darin, daß in der Christologie die Hoheit an die Niedrigkeit, die Auferstehung an das Kreuz gebunden bleiben muß, sind sich Markus und Paulus mit vielen Theologen des Neuen Testaments einig, nicht aber in der Frage, was das für Konsequenzen für den christlichen Glauben hat. Fehlt der kritische Aspekt in einer Kreuzestheologie, so wird diese leicht zu einer bloßen paradoxen Außenseite einer Herrlichkeitstheologie wie bei Johannes oder zur Basis eines Versuchs, das eigene Leiden zu bewältigen wie im 1. Petrusbrief. Im Lichte dieser Frage müßten die übrigen theologischen Entwürfe des Neuen Testaments noch einmal differenziert untersucht werden. Dann erst kann ein Versuch einer Antwort auf die eigentlich brennende Frage gemacht werden, ob Kreuzestheologie in der hier skizzierten Zuspitzung für christliche Identität grundlegend ist oder ob es sich eher um ein protestantisches, vielleicht sogar nur lutherisches Spezifikum handelt. 2. Eine zweite offene Frage ist die nach dem Verhältnis von Kreuzestheologie zur Geschichte der Kreuzigung Jesu Christi. Was würde an der Wahrheit der Kreuzestheologie zerstört, wenn sich das Kreuz als ein von der Geschichte lösbares religiöses Symbol erwiese, das natürlich dem hörenden Menschen auch von außen begegnen und ihn kritisch in Frage stellen kann? Diese Frage ist besonders wichtig für die Frage der christlichen Identität im Gespräch mit dem Mahayana-Buddhismus, der in gewissen Schulen dem Kreuz Christi sehr nahe kommende religiöse Symbole kennt.38

38 Ich denke vor allem an Amitabha-Amida, den Bodhisattva, der sich weigert, Buddha zu werden, bis alle anderen Menschen die Buddhaschaft auch erlangt haben. Vgl. dazu Shojun Bando, Jesus Christus und Amida, in: Ulrich Luz / ​Seiichi Yagi (Hg.), Gott in Japan, München 1973, 72 ff, und Hajibe Tanabe, Memento mori, ebd. 113 ff.

3. Absolutheitsanspruch und Aggressionspotenzial im frühen Christentum I. Einführung und Grundlegung Meine Grundvoraussetzung ist, dass Religionen, wie alle anderen menschlichen Lebensäußerungen, ambivalent sind. Das gilt auch für das Christentum, ebenso wie für andere Religionen. Es enthält ein sehr großes Friedenspotenzial, aber vermutlich auch ein nicht geringes Aggressionspotenzial. Nach ihm frage ich heute. Ich frage nicht von außen um das Christentum zu kritisieren oder schlecht zu machen, sondern ich frage als betroffener christlicher Theologe. Ich denke, dass christliche Theologie vor den Ambivalenzen der eigenen christlichen Religion nicht die Augen schließen darf, sondern sie aufarbeiten muss. Selbstkritik und Fähigkeit zur Selbsthinterfragung sind meines Erachtens Stärken der christlichen Theologie. Selbstkritik dient meines Erachtens der Stärkung der eigenen Identität, nicht ihrer Unterminierung. Meine Fragestellung ist anachronistisch. Sie ist durch Erfahrungen bestimmt, die wir in der Geschichte der Kirche machten. Christliche Mission ging oft mit militärischen Eroberungen einher – ich erinnere etwa an die Sachsenmission, die Eroberungen des Deutschen Ordens im Baltikum und die Anfänge der außereuropäischen Kolonisations‑ und Missionsgeschichte seit 1500. Die Folge der neuen christlichen Selbstdefinitionen in der Reformationszeit waren die Konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts. Schließlich erinnere ich an die Ketzer‑ und Hexenverfolgungen, die während Jahrhunderten zu Aggressionen und zur physischen Vernichtung unzähliger Menschen im Namen des rechten Glaubens geführt haben. Überwunden sind solche Verbindungen von Glauben und Aggressionen auch im 20. und 21. Jahrhundert nicht. Dass ein gläubiger Präsident einer christlichen Großmacht seine Aggressionsdrohungen gegen ein anderes Land christlich-religiös untermalt und vielleicht gerade deshalb rationalen Gegenargumenten wenig zugänglich ist, entspricht Verhaltensmustern, welche in Europa bis zum Ende des ersten Weltkriegs häufig anzutreffen waren. Mein Interesse gilt aber heute nicht der Kirchengeschichte, sondern dem Neuen Testament, denn ich möchte wissen, ob und inwiefern das Neue Testament mit Recht als Legitimationsbasis für aggressive Handlungen benutzt werden kann oder als Ausgangspunkt einer geschichtlichen Entwicklung interpretiert werden

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muss, die Aggressionshandlungen von Christen und Kirchen hervorbrachte. Methodisch verbinde ich in diesem Aufsatz exegetische und sozialpsychologische Fragestellungen. Die Frage nach einem allfälligen Aggressionspotenzial der neutestamentlichen Texte bringe ich mit derjenigen nach dem sog. Absolutheitsanspruch des Christentums in Verbindung. Auch das ist natürlich anachronistisch. Die Art des christlichen Absolutheitsanspruchs hat sich ebenso wie seine geschichtlichen Folgen im Laufe der Geschichte gewandelt – der missionarische, nicht zuletzt durch Hinweis auf Wunder vorgebrachte Absolutheitsanspruch der Alten Kirche beispielsweise ist etwas anderes als der systematisch durchreflektierte Absolutheitsanspruch des Christentums gegenüber den anderen Weltreligionen in der Zeit nach Hegel.1 Vor allem aus der Perspektive des interreligiösen Dialogs und aus anderen Außenperspektiven wird heute oft gefragt, ob die in der Geschichte zutage getretene relative Aggressivität des Christentums mit einem kirchlich statuierten Absolutheitsanspruch zu tun haben könnte. Es müsste sich dabei um einen exklusiv formulierten Absolutheitsanspruch handeln,2 der keine Möglichkeit zur Differenzierung zwischen einem Exklusivitätsanspruch für Gott und einem solchen für seine menschlich-kirchlichen Repräsentanten enthält. Es geht mir im folgenden darum, nach möglichen Gründen von allenfalls im Neuen Testament liegenden aggressiven Sinnpotenzialen zu fragen und insbesondere danach, ob dabei auch ein christlicher Absolutheitsanspruch eine Rolle spielen könnte. Die zahlreichen Aggressionsdefinitionen heutiger Sozialpsychologie konvergieren darin, dass zu einer Aggression erstens eine wirkliche Schädigung eines Betroffenen und zweitens eine bewusste Absicht des Aggressors gehört. Ein Verhalten ist „dann … aggressiv, wenn ein Akteur eine Handlung ausführt, die gegen eine zweite Person (den Betroffenen) gerichtet ist, die Konsequenzen hat, die für den Betroffenen unangenehm oder schädigend sind, die aber vom Akteur absichtlich herbeigeführt wurden“.3 1  Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, in: ders., Kritische Gesamtausgabe V, Berlin 1998, 54 f. unterscheidet in den Thesen von 1901 den neuzeitlichen, im Anschluss an Hegel formulierten inklusiv-exklusiven Absolutheitsanspruch des Christentum gegenüber den Weltreligionen von der altkirchlichen Apologetik, die im wesentlichen aufgrund des Wunderbeweises das Christentum „der Form nach als unbedingte Wahrheit“ erweisen wollte (54). Die Auffassung, dass das historisch gewachsene Christentum „die höchste und zugleich allen übrigen Stufen prinzipiell überlegene Gestalt der Religion“ sei, ist eine „auf persönlicher Überzeugung beruhende bekenntnismässige Entscheidung“ (ebd. 55). 2  Es geht dabei um einen exklusiv, nicht inklusiv formulierten Absolutheitsanspruch, der sich nicht nur auf Jesus Christus, sondern darüber hinaus auf bestimmte Wahrheiten, Kirchen bzw. auf „das Christentum“ bezieht. Vgl. zu den begrifflichen Differenzierungen Henk M. Vroom, Art. Absolutheitsanspruch des Christentums, in: RGG4 I, Tübingen 1998, 82 f. 3  Amelie Mummendey, Aggression, in: Dieter Frey / ​Siegfried Greif (Hg.), Sozialpsychologie, München / W ​ einheim 21987, 150.

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Geht man von einer solchen Definition aus, so ist klar, dass es aggressives Verhalten im frühen Christentum nicht gegeben hat. Im Gegenteil ist das Friedenspotenzial der frühen Jesusüberlieferung außerordentlich hoch. Jesus und die durch ihn entstandene jüdische Bewegung ist die einzige Reformbewegung im damaligen Judentum, welche Israel nicht durch Abgrenzung definiert hat, sondern die Grenzen Israels geöffnet hat. Zöllner, Sünder, Frauen, Arme, Unreine, Galiläer rückten ins Zentrum des Gottesvolkes. Zur bereits erfahrbaren Gegenwart der Gottesherrschaft gehörten Heilungen, Exorzismen, Integration von Kranken, Mahlzeiten mit Sündern, Offenheit auch gegenüber einigen Heiden, kurz: die an Jesus und seinen Jüngern erfahrbare Annahme aller Israelitinnen und Israeliten durch Gott. Zu den grundlegenden ethischen Impulsen Jesu gehörten die Aufsprengung jeder allenfalls in der Nächstenliebe inhärenten Grenze durch das Gebot der Feindesliebe (Q 6,27 f), das Verbot des Richtens (Q 6,37 f), das Gebot fortwährender Vergebung (Mt 18,21 f), das dem Kult vorangehende Gebot der Versöhnung (Mt 5,23 f), die Ausdehnung des Aggressionsverbotes auf alle verbalen Aggressionen (Mt 5,21 f) und die in einem provokativen Sinn zugespitzte Forderung der aktiv praktizierten Gewaltlosigkeit: Halte einem Schläger auch die andere Backe hin (Q 6,29). Diese zugespitzten Worte Jesu zielen auf eine Unterbrechung des menschliche Beziehungen bestimmenden Zirkels von Gewalt und Gegengewalt.4 Ähnliches gilt für die paulinische Tradition: Die Liebe wird von Paulus als eschatologische Größe verstanden, die „bleibt“ (1 Kor 13,13). Sie ist Leitlinie der Gotteserkenntnis (1 Kor 8,1–3), überwindet Spaltungen (1 Kor 1,10–17; 11,17 ff) und schöpfungsmäßige, kulturelle und soziale Grenzen (Gal 3,26–28). In traditioneller Sprache kann Paulus sagen, dass das Gottesreich nicht Essen und Trinken, sondern „Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist“ ist (Röm 14,17). Der wesentlichste Unterschied zwischen Jesus und Paulus und anderen neutestamentlichen Autoren besteht darin, dass nachösterlich die Gemeinde, d. h. der Leib Christi, der primäre Ort ist, an dem Liebe, Ausgleich und Gemeinschaft verwirklicht werden.5 Für andere Bereiche des frühesten Christentums, etwa die johanneischen Gemeinden,6 trifft das in noch stärkerem Masse zu als für Paulus. Immerhin macht Paulus klarer als andere, dass die Liebe über die Grenzen der Gemeinde hinausreicht (Röm 12,18–21). Sie gilt auch später als das Erkennungszeichen der Christinnen und Christen. Negativ formuliert: Wenn Christen nicht einmal die wieder lieben, die sie auch lieben,

4  Formulierung nach Paul Hoffmann, Eschatologie und Friedenshandeln in der Jesusüberlieferung, in: Ulrich Luz u. a., Eschatologie und Friedenshandeln, SBS 101, Stuttgart 1981, 134. 5 Ulrich Luz, Eschatologie und Friedenshandeln bei Paulus, in: Ulrich Luz u. a., Eschatologie (a. a. O.), 192 f. 6  Vgl. Joh 15,1–17; 1 Joh 4,7–16.

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geschweige denn ihre Feinde, so lachen die Heiden und der Name Gottes wird in den Schmutz gezogen (2 Clem 13). Das Friedenspotenzial des Urchristentums hängt mit dem Zentrum des Glaubens zusammen. Nur die Haltung der Liebe entspricht nach dem 1. Johannesbrief Gottes Liebe zum Menschen (1 Joh 4,7–16) und nur die Haltung der Liebe entspricht Jesu eigener Haltung, die er in seinem Leben und Sterben verkörperte. An anderer Stelle habe ich die These vertreten, dass es bei Paulus und überhaupt im Neuen Testament die Christologie ist, welche die Friedenspraxis der Gemeinde inhaltlich bestimmt.7 Jesus Christus als Lehrer, als Vorbild, als Handlungsmodell, als Leidender und Auferstandener, der Erhöhte als gewaltloser Weltenherr, als Leib Christi, der zugleich Raum der Liebe ist (1 Kor 12–13) usw. ist inhaltlich bestimmend für christliche Friedenspraxis. Aggressionen im eigentlichen Sinn sind also im frühen Christentum nicht zu erwarten; sie gelten auf der zwischenmenschlichen Ebene als Sünde und werden verurteilt. Das friedensfördernde Potenzial des frühen Christentums ist nicht leicht zu überschätzen. Aggressionen von der Art, wie wir sie später in der Kirchengeschichte finden können, also Kriege, Misshandlungen und Hinrichtungen, gab es in der Frühzeit des Christentums sowieso nicht. Solche Aggressionen hatten die frühen Christinnen und Christen gegebenenfalls zu erleiden, aber sie anderen zuzufügen waren sie weder in der Lage noch willens. Anders wird die Sache, wenn wir den Begriff der Aggression ausdehnen und darunter auch direkte oder indirekte verbale Aggressionen, relationale Aggressionen, d. h. Ausgrenzungen, und verdeckte, phantasierte Aggressionen verstehen.8 Sie sind im Neuen Testament nicht ganz selten. Verdeckte, d. h. indirekte verbale Aggressionen enthält vor allem die Johannesapokalypse, z. B. gegen Rom und seine Profiteure. – Direkte verbale Aggressionen sind oft die Reaktion auf die Ablehnung der christlichen Missionsverkündigung. Darunter fallen vor allem neutestamentliche Äußerungen gegen Juden und ihre Führer.9 Charakteristisch für diese beiden Typen verbaler Aggression ist, dass Gott Träger der Aggression bzw. Richter ist: Aggressives Handeln resp. das Gericht und die 7  Ulrich Luz, Die Bedeutung der biblischen Zeugnisse für kirchliches Friedenshandeln, in: Ulrich Luz u. a., Eschatologie (a. a. O.), 209; ders., Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKKI / ​1, Neukirchen / D ​ üsseldorf 52002, 388 f. 8 Herbert Selg, Aggressionsdefinitionen  – und kein Ende, in: Reinhard Hilke  / ​ Wilhelm Kempf (Hg.), Aggressionen, Bern 1982, 352; Deborah Richardson / ​Laura Green, Circuitous Harm. Determinants and Consequences of Nondirect Aggression, in: Robin M. Kowalski (Hg.), Aversive Interpersonal Behaviours, New York 1997, 172–174. Unter „relationalen Aggressionen“ werden Ausgrenzungen aus einer Gruppe und Abbruch von Beziehungen verstanden; vgl. u. Anm. 10. 9  Dass es vergleichbare direkte Verbalaggressionen gegen Heiden kaum gibt, hat verschiedene Gründe: 1. Von einem weitgehenden Misserfolg der Heidenmission (wie bei der Israelmission) kann in nt-licher Zeit nicht die Rede sein; 2. die Ablehnung der Jesusbotschaft durch die Mehrheit Israels traf insbesondere die jüdischen Jesusanhänger im Kern ihres eigenen Selbstverständnisses.

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Vernichtung des Bösen wird nicht in eigenem Namen ausgesprochen, sondern von Gott erbeten bzw. im Namen Gottes angekündigt. Die Unterscheidung zwischen prophetisch geprägter Gerichtsankündigung und verbaler Aggression ist dabei schwierig. Die Schwierigkeit weist auf ein Beurteilungsproblem: Mit dem Interpretament „Aggression“ ist in der Regel eine negative, mit „Gericht Gottes“ bei vielen eine positive Konnotation verbunden. Auch das damit verbundene menschliche Handeln kann verschieden beurteilt werden: Man kann das Gewicht darauf legen, dass mit der Ankündigung des Gerichtes Gottes meist gerade der Verzicht auf eigene Aggression verbunden ist, oder man kann die Gerichtsankündigung selbst als eine verbal-aggressive Handlung ansehen. – Auf relationale Aggressionen10 stoßen wir vor allem, wenn wir den Umgang neutestamentlicher Autoren mit Gegnern betrachten, die einen „anderen Jesus“ verkünden, oder nach Meinung der Verfasser vom Glauben abgefallen sind. Auch in diesem Bereich gibt es zahlreiche verbale Aggressionen, allerdings relativ selten Gerichtsankündigungen, aber umso häufiger schroffe Polemik und umfangreiche Beschimpfungen.  – Mit diesen drei Formen verbaler Aggressionen beschäftigen sich die folgenden Abschnitte II–IV.

II. Verdeckte, phantasierte Aggressionen: Die Johannesapokalypse Die Grausamkeiten, die in der Johannesapokalypse vorkommen, und die Blutströme, welche in ihr fließen, sind bekannt. Für viele heutige Leserinnen und Leser dieses Buches – auch für mich – bilden sie ein großes Problem. Ich nenne zwei Beispiele. Das erste ist der Posaunen-Zyklus von Apk 8,2– 9,21 und der weithin parallele Zornschalen-Zyklus von Apk 16,1–21. Traditionsgeschichtlich sind die beiden Zyklen Varianten; ihr wichtigster biblischer Bezugstext sind die Plagen beim Auszug Israels aus Ägypten (Ex 7,20 f.; 8,2; 9,10 f.26; 10,13.22).11 Die Plagen  – nach 8,3 f. ausdrücklich auf die „Gebete der Heiligen“ hin geschehend – sind furchtbar: Die Pflanzen und Bäume (8,7), die Fische im Meer gehen zugrunde (8,9; 16,3); die Flüsse und Quellen werden 10  Zum Begriff vgl. Nicole E.  Werner / ​Maureen A.  Bigbee / ​Nick R.  Crick, Aggression und Viktimisierung in Schulen, in: Mechthild Schaefer / ​Dieter Frey (Hg.), Aggression und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen, Göttingen / B ​ ern 1999, 154–156. Gemeint ist ein Verhalten, das die Beziehungen einer Person zu anderen Personen oder die Gefühle sozialer Zugehörigkeit beschädigt. 11  Nach Jürgen Roloff, Die Offenbarung des Johannes, ZBK.NT 18, Zürich 1984, 95 ist das Grundschema der beiden Reihen nicht aus den ägyptischen Plagen Ex 7–10 entwickelt, sondern durch diese sekundär erweitert. Auf der Ebene erkennbarer textlicher Anspielungen trifft das sicher zu. Da wir aber ein beiden Reihen zugrundeliegendes gemeinsames traditionelles Schema textlich nicht mehr rekonstruieren können, lässt sich für frühere Phasen der Überlieferungsgeschichte nichts mehr aussagen. Man muss auch damit rechnen, dass manche Übereinstimmungen zwischen beiden Reihen erst durch Reminiszenzen des Joh an seinen eigenen Text entstanden sind.

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bitter und untrinkbar (8,10 f.; 16,4); Sonne, Mond und Sterne werden verfinstert (8,12; vgl. 16,8). Die ungläubigen, nicht durch die Taufe versiegelten Menschen werden von Heuschrecken und Skorpionen nicht etwa getötet, sondern gepeinigt und gefoltert; der Tod ist erstrebenswert im Vergleich zu diesen Plagen (9,4–6). Die Menschen werden von der Glut der Sonne versengt; sie beißen sich die Zungen ab vor Qual, lästern aber trotzdem den Gott des Himmels und tun keine Buße (16,8–11). Ein unvorstellbar großes, dämonisches Reiterheer von 200 Millionen tötet einen Drittel der Menschheit (9,16–19)  – nicht alle, denn die übrigen Menschen bleiben unbußfertig, sodass für künftige Plagen noch Menschen übrig bleiben (9,20 f). Zweimal – rechnet man die Siegelvision von Kapitel 6 hinzu, dreimal – werden solche Plagenreihen angekündigt, in der Siegelvision in relativ enger Anlehnung an zeitgeschichtliche politische und ökonomische Erfahrungen der Leserinnen und Leser, in den beiden folgenden Plagenreihen auf grässliche Weise mythisch überhöht. Die unschuldige Schöpfung leidet mit;12 die Leiden der Bösen werden durch grauenhafte, ab und zu an der Grenze des Sadismus stehende Bildern angekündigt. Das zweite Beispiel ist die endgültige Besiegung der Bösen durch den wiederkommenden Christus in Kapitel 19: In V 17 f erklingt der Ruf des Engels an die Vögel des Himmels, sich zum „großen Mahl Gottes“ zu versammeln und das Fleisch der von Christus besiegten Könige, Kriegsführer und Starken, der Rosse und Reiter, und aller Freien und Sklaven, Kleinen und Großen zu fressen – literarisch großartig, inhaltlich grauenvoll. Der Text nimmt die biblische Weissagung Ez 39,17–20 auf und gestaltet sie neu. Vom Kampf des Parusiechristus und der himmlischen Heere gegen die Heere des Tiers war noch gar nicht die Rede: der Ruf des Engels, der am höchsten Punkt des Firmaments steht, nimmt den Sieg Christi vorweg. Die Leserinnen und Leser erinnern sich an 6,15, wo sich die Könige, Kriegsführer, Reichen und Starken, Sklaven und Freien vor Angst in den Höhlen und Felsspalten verstecken, und an 19,9, das Hochzeitsmahl des Lamms als himmlisches Gegenbild zu diesem Mahl. Aber auch dieser schreckliche Leichenfraß nach dem großen Sieg ist ein „Mahl Gottes“ (19,17). Vor allem der Gedanke, dass nicht nur die Großen und Mächtigen der Erde, sondern alle, Kleine und Grosse, Sklaven und Freie von den Geiern gefressen werden, lässt heutige, sozial engagierte Leserinnen und Leser erschaudern. Nicht viel anders reagieren heute Leserinnen und Leser beim folgenden Textabschnitt 19,19–21: Bei lebendigem Leib werden das Tier und der Pseudoprophet in den Feuersee geworfen, der in Schwefel brennt. Aber nicht nur sie, sondern auch „die übrigen“, d. h. alle ihre Anhänger und Mitläufer werden durch das Schwert des Reiters auf dem weißen Pferde getötet – dass Christus tötet, wird nicht direkt gesagt (V 20 f). Es gibt keine Zwischentöne und keinen Pardon, auch nicht für die kleinen Mitläufer des Tiers. So, wie es vorher in 13,16 12

 Apk 8,7–12: 16,3; anders 9,4.

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für Kleine und Grosse, Freie und Sklaven nur zwei Möglichkeiten gab, nämlich entweder das Mal des Tiers auf der rechten Hand und der Stirne zu tragen oder sich das Siegel der Knechte Gottes auf die Stirne setzen zu lassen (7,3; vgl. 20,3), d. h. sich taufen zu lassen und Märtyrer zu werden, so gibt es auch jetzt, wenn Christus kommt, nur zwei mögliche Formen des Endes: Entweder man wird getötet, von den Geiern aufgefressen, egal, ob groß oder klein, und dem zweiten, endgültigen Tod verfallen sein, oder man wird „überwinden“ und im neuen Jerusalem Gott und das Lamm von Angesicht zu Angesicht sehen (21,7 f). Hier muss ich von verdeckten, phantasierten Aggressionen sprechen. Sie sind in dieser Weise im Neuen Testament sonst zwar kaum mehr anzutreffen, in der Apokalypse aber nicht zu verschweigen. Bevor ich frage, wie sie zu erklären sind, möchte ich noch drei exegetische Bemerkungen machen: 1. Auch in der Johannesapokalypse scheint die Christologie die verbale Aggressivität zu mildern. Beim Vergleich von Apk 9 und 16 mit Apk 19 fällt auf, dass der Verfasser in Apk 19 zurückhaltender ist: Während er früher keine Grenzen zu kennen schien, als himmlische Engel ihre Posaunen bliesen oder ihre Zornesschalen ausgossen, formuliert er in Apk 19,11 ff, wo es um die Parusie Christi geht, zurückhaltender. Zwar ist sein wiederkommender Christus, anders als überall sonst im Neuen Testament, eine kriegerische Gestalt: Er sitzt auf einem weißen Pferd, heißt „Treu und Wahrhaftig“, „und in Gerechtigkeit richtet er und führt Krieg“ (19,11). Er trägt ein blutrotes Gewand und ist der Keltertreter von Jes 63,3, der Gottes Zorn vollstreckt, und der Gottessohn von Ps 2,9, der die Heiden mit eisernem Stabe zerschlägt. Aber dennoch fällt auf, dass von seinem Krieg fast nichts berichtet wird. Das Christusbild der Apokalypse ist ambivalent: Christus trägt zwar ein Schwert, aber es kommt aus seinem Munde (19,15). Bereits in V 17 f, also noch vor dem Kampf, wird sein Sieg ausgerufen und die Geier werden zum Mahl Gottes versammelt. Das Tier und seine ihm dienenden „Könige der Erde“ (vgl. 17,12–14) werden gepackt und in den Feuersee geworfen, bevor es überhaupt zur Schlacht gekommen ist. Das Lamm bzw. der auf dem weißen Pferd reitende Parusiechristus ist eben der göttliche „Sieger“ (3,21; 5,5; 17,12) und nicht ein irdischer Kriegsheld. Sein Sieg steht für die Gläubigen von Anfang an fest; er wird bejubelt, aber nicht geschildert oder gar ausgemalt.13 Die Christologie setzt den phantasierten Verbalaggressionen gewisse Grenzen. Aber auf der anderen Seite ist deutlich, dass der Christus der

13  Das entspricht den zahlreichen zeitlichen Antizipationen und Aufblicken zum Himmel in der Apk, die den leidenden Gemeinden immer wieder, z. B. in ihren Gottesdiensten, die Gewissheit vermittelt, dass der Sieg des Lamms bereits geschehen ist: vgl. 6,9–11; 7,1–17; 11,15–19; 12,10.12; 18,1–19,10. Zu dieser „präsentischen Eschatologie“ in der Apk. vgl. Peter Lampe, Die Apokalyptiker – ihre Situation und ihr Handeln, in: Ulrich Luz u. a., Eschatologie (o. Anm. 4) 98–101; Martin Karrer, Die Johannesoffenbarung als Brief, FRLANT 140, Göttingen 1986, bes. 131–136. 218 f. 282–284. 310 f.

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Apokalypse nicht der den Kosmos versöhnende Friedensmacher ist (vgl. Kol 1,19 f), sondern eben der „Sieger“. 2. Die phantasierten Verbalaggressionen in der Johannesapokalypse führen gerade nicht zu einem aggressiven Verhalten der Gemeinde gegenüber denen, auf deren Untergang man sehnlichst hofft. Für das eigene Verhalten der Gemeinde gilt allein: ὑπομονή und πίστις, Aushalten, Durchhalten, Standhaftigkeit, Geduld, Glaubenstreue (13,10; 14,12). Irgend eine Form von eigener Aggressivität ist damit gerade nicht verbunden. Es fällt auf, dass sogar am Endsieg des Parusiechristus die Christinnen und Christen nicht als Mitkämpfer beteiligt sind. Nicht einmal die 19,14 en passant erwähnten himmlischen Heere14 spielen im Endkampf eine Rolle, geschweige denn die irdische Gemeinde – ganz anders als etwa in der Kriegsrolle von Qumran. Vielmehr entspricht dem endgültigen Sieg des Lammes das irdische Leiden seiner Zeugen: Sie haben keinerlei Verteidigungsmöglichkeiten mehr; für sie gilt nur die Devise der Treue bis zum Tod (2,10) und die Verheißung, dermaleinst Throngenossen dessen zu werden, der das Böse besiegt hat (3,21; 20,4). 3. Dieser klaren Verschiebung der Aggression auf Gott und Christus entspricht, dass wirkungsgeschichtlich die Johannesapokalypse kaum je zur Legitimationsbasis von eigener Aggressivität von Christen geworden ist. Vielmehr geschah in der Wirkungsgeschichte etwas, was ansatzweise schon in Texten der Apokalypse selbst sichtbar wird: Das gegen die Feinde der Gemeinde gerichtete verdeckte verbale Aggressionspotenzial wurde in späterer Zeit nach innen gewendet und wurde zum Sprachmaterial christlicher Autoaggression.15 Einzelne, in der Apokalypse am Rande stehende Drohungen an die christlichen Gemeinden, Warnungen vor Untreue und Abfall etc., wie etwa die Bußrufe 2,5.16; 3,3 oder unvermittelte Warnungen wie 21,8 deuten dieses Sinnpotenzial der Apokalypse bereits an.16 Wie ist die auf Gott, seine Engel und den Parusiechristus projizierte, verdeckte und phantasierte Aggressivität der Johannesapokalypse zu erklären? Am wichtigsten ist der Hinweis auf das Leiden der Gemeinde. Häufig liest man zwar, die Zeiten Domitians seien doch verhältnismäßig friedlich gewesen  Es besteht nur aus Engeln; vgl. 12,7! Auto-Aggression im Lichte der Frustrations-Aggressions-Hypothese vgl. John Dollard / ​Leonhard W.  Doob / ​Neal E.  Miller / ​O.  H.  Mowrer / ​Robert R.  Sears, Frustration und Aggression, Nachdruck Weinheim 1994 (engl. New Haven 1939), 54–59. 16  Viel deutlicher ist dieses Sinnpotenzial im Matthäusevangelium, wo eine ganze Reihe von in der Tradition, vor allem in Q, an Israel gerichtete Gerichtsworte nun nach innen gewendet und auf die Gemeinde bezogen werden; vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I / ​3, Neukirchen / ​Zürich 1997, 546 f. Hand in Hand damit geht eine erhebliche Verstärkung der Höllen-Drohungen gegenüber der Gemeinde: 8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51; 25,30; vgl. 3,10 f.; 5,22; 13,30.40; 18,8 f.; 25,10 f.41. Die Hölle wird zwar bei Mt nie ausgemalt, bleibt aber so konkret, dass sie bedrohlich wirkt. Hier kann am ehesten in Bezug auf das NT von „Autoaggression“ gesprochen werden. 14

15 Zu

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und von einer reichsweiten Verfolgung der Christen könne keine Rede sein. Ein Blick in die Korrespondenz zwischen dem Statthalter des der Provinz Asien benachbarten Bithynien, Plinius, und dem Kaiser Trajan, der aus einer, wie Trajan selbst meint, zivilisierten Zeit stammt,17 zeigt aber, wie es damals wirklich stand: Das „nomen ipsum“, d. h. die bloße Zugehörigkeit zum verderblichen Aberglauben des Christentums war Grund für die Todesstrafe, und gerade die Standhaftigkeit der Deliquenten, in der Apokalypse ὑπομονή, bei Plinius „pertinacia“ genannt, ist strafbar (Plin Ep 10,96,2.3). Die archäologischen Daten sprechen eine deutliche Sprache: der im Jahre 83 in Laodizea gebaute Kaisertempel; der „Thron des Satan“ in Pergamon, nämlich der große Zeusaltar; der Kaiserkoloss im Dianatempel von Ephesus. Die Texte der Apokalypse verraten noch genauer, worauf die Angst der Christen beruht: Es ist die Angst vor dem „Tier“, vor Nero also (17,8; vgl. 13,3). Durch ihn wurden die Christen zum ersten Mal öffentlich benannt, bekannt und wegen eines Verbrechens zum Tod verurteilt, welches nicht sie begangen hatten, sondern der Kaiser.18 Weil sie nicht, wie die früher die „Starken“ in Korinth, in der Götzenopferfleischfrage liberal waren (vgl. 2,14 f.20) und eben deswegen in der Öffentlichkeit auch nicht verborgen blieben, sondern als Christen erkannt wurden, verschärfte sich die Situation.19 Nein, die Gemeinden, denen sich der Prophet Johannes verbunden wusste, waren wirklich leidende, bedrängte, verfolgte Gemeinden, und es ist diese Leidenssituation, welche ihre in den Gedanken der Rache Gottes an ihren Feinden hinein sublimierten Aggressionswünsche und ihre verdeckten Verbalaggressionen verstehbar werden lässt. Insofern passt die Johannesapokalypse zur klassischen Frustrations-Aggressionshypothese,20 nur eben mit dem sehr wichtigen Unterschied, dass von diesen Gemeinden erfahrene Frustration nicht eigene Aggressionen auslöste, sondern als Hoffnung auf die Rache Gottes und den Sieg des Lamms über die Bösen sublimierte „verdeckte“ Aggressionen und in der Praxis gerade Aggressionsverzicht. Aber nicht nur diese sozialpsychologische Grundhypothese, sondern auch die Hypothese kognitiver Psychologie, dass Aggressionen ebenso wie Aggressionsvermeidung lernbar sind,21 findet in der Johannesapokalypse eine gewisse Bestätigung. Der Prophet Johannes hat für seine Verbalaggressionen bzw. für seine Art der Aggressionssublimation sehr viel aus der Bibel gelernt. Er hat in Apk 8 f und 16 die Plagen zur Zeit des Exodus in Ägypten ins Eschatologische und 17  Vgl. Plin Ep 10,97: Anonyme Denunziationen sollen nicht berücksichtigt werden; sie sind „pessimi exempli nec nostri saeculi“. 18  Zum Stadtbrand in Rom vgl. Tac Ann 15,38–41; zu den Christen 44. 19  Beobachtung von Lampe, Apokalyptiker (o. Anm. 13), 94: Es konnte Böswilligen nicht verborgen bleiben, was wer auf dem Markt einkaufte und wer bei öffentlichen Festen und Feiern zu Hause blieb. 20 Vgl. o. Anm. 15. 21  Wilfried Belschner in: Herbert Selg / ​Wilfried Belschner, Zur Aggression verdammt?, Stuttgart 61982, 54–97.

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ins Kosmische ausgeweitet; er hat in Apk 19 f den von Ez 38 f geschilderten Endkampf Gottes mit Gog und Magog neu und in kosmischen Dimensionen erzählt. Aber ich formuliere es lieber positiv: Aus seiner Bibel schöpfte der Prophet die Gewissheit, dass durch den Sieg des Lamms Christus Gott zum Sieger über alles Böse werden würde, und aus dieser Gewissheit schöpfte er wiederum den Mut zur gewaltfreien ὑπομονή, zum Ausharren, zur Glaubenstreue in auswegloser Situation. Das Sprachmaterial seiner aggressiven Phantasien war ihm aus der Bibel vorgegeben und daraus schöpfte er seine Kraft zur Treue und zum eigenen Aggressionsverzicht. So eng verschlungen sind hier problematische und positive Aspekte! Mir liegt daran, dass die aggressiven Phantasien der Apokalypse nicht einfach von außen be‑ und verurteilt werden, sondern in aller Problematik zugleich als das verständlich werden, was sie damals bewirkten: als Kraft zur Standhaftigkeit, als Sprache, die Hoffnung stiftete. Hat die in der Apokalypse zu Worte kommende verdeckte Aggressivität etwas mit dem „christlichen Absolutheitsanspruch“ zu tun? Indirekt gewiss. In den Neuformulierungen biblischer Traditionen in der Johannesapokalypse, z. B. der Exodusplagen in Apk 8 f und 16, ist ja sowohl eine Verschärfung als auch eine kosmische Ausweitung der Aggressivität zu beobachten. Die Plagen, die hier angedroht werden, gelten nicht nur einem Volk, nämlich den Ägyptern, sondern sie gelten der ganzen nichtchristlichen Menschheit. Sie gehören zum Ende der Welt und stehen im Zusammenhang mit der Thronbesteigung des neuen Weltenherrn, des Lamms. Auch insofern, als Standhaftigkeit, unbedingte Glaubenstreue, Verweigerung jedes religiösen Kompromisses, welche das Leiden der Christinnen und Christen auslösen, Antwort auf einen absoluten, unbedingten Anspruch des christlichen Glaubens sind, hat dieser Anspruch indirekt etwas mit den aggressiven Phantasien der Apokalypse zu tun. Aber wie verschieden ist dieser Absolutheitsanspruch von Leidenden von demjenigen, den christliche Kirchen und Staaten in Zeiten christlicher Vorherrschaft geltend machten!

III. Mission und Aggressivität Ich möchte in diesem Abschnitt vor allem anhand von Matthäustexten argu­ mentieren und setze mit dem berühmtesten neutestamentlichen Text zu diesem Thema ein, dem matthäischen Missionsbefehl in Mt 28,16–20: „Geht hin und macht alle Völker zu Jüngern, indem ihr sie tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und sie alles halten lehrt, was ich euch geboten habe“. Begründet wird dieser Missionsbefehl durch die Weltherrschaft des erhöhten Christus: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf der Erde“. Gerade die Verbindung beider Aussagen ist für unser Thema interessant. Die Herrschaft Christi ist universal: Sie „umfasst das Religiöse ebenso wie das

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Politische, das Private ebenso wie das Soziale“22. Sie ist exklusiv: „Es gibt objektiv keine andere Gewalt neben der, über die Jesus verfügt.“23 Im Makrotext des Matthäusevangeliums ist sie der satanischen Herrschaft über „alle Reiche der Welt und ihren Glanz“ (Mt 4,8) gegenübergestellt. Diese Art der Herrschaft lehnt Jesus gerade ab. Seine Herrschaft ist vielmehr von der Art, wie sie sich in seiner ἐξουσία (Vollmacht) über Dämonen und Krankheiten gezeigt hatte (10,1; 21,23), also eine heilende und menschliche Herrschaft. Sie manifestierte sich schon zu seinen Lebzeiten als Vollmacht des Wortes (7,29) und als Macht zur Sündenvergebung (9,6). Sie ist gewaltfrei: Sie ist keine Macht wie die der Fürsten der Heiden und ihrer Großen, sondern entspricht der Macht des Menschensohns, der gekommen ist, zu dienen (Mt 20,25–28). Ihr Instrument ist allein die Verkündigung der Jünger, welche wehrlos, Kranke heilend und den Friedensgruß aussprechend in die Welt ziehen, um die Gebote Jesu zu verkünden, Feindesliebe, Vergebung, Gewaltlosigkeit. Es ist eine Macht, die „dem Verdacht der Ohnmacht ausgesetzt ist“24. Bei Matthäus steht also die Mission unter dem Vorzeichen dessen, was Jesus die Menschen gelehrt hat: Sie hat keine anderen Machtmittel als das Wort; sie zielt auf eine neue Praxis und hat darum ihr Kriterium in der Liebe.25 Natürlich ist christliche Mission im Laufe ihrer Geschichte nicht immer, oder sogar meistens nicht, dieser matthäischen Leitlinie gefolgt. Seit dem Hochmittelalter und insbesondere in der frühen Neuzeit erfolgte sie überwiegend durch Ausweitung des christlichen Gebietes mit damit verbundenen Zwangsbekehrungen. Ich kann jetzt den komplexen Ursachen dieser Veränderung nicht nachgehen, sondern begnüge mich mit dem Hinweis, dass der matthäische Missionsbefehl zur Begründung dieser mit Aggressionen verbundenen Mission kaum je verwendet wurde; er wurde vielmehr in der Auslegungsgeschichte in der Regel auf die vergangene Zeit der Apostel begrenzt. Es mag Zufall sein, dass er erst für die auf die Bekehrung von Individuen zielende Mission des 19. und 20. Jahrhunderts zum Schlüsseltext wurde, genauer: seit 1792, als der englische Baptist William Carey seine berühmte Schrift „An Inquiry into the obligations of Christians to Use Means for the Conversion of Heathens“ veröffentlichte.26 Das Verhältnis der Mission des 19. und ohnehin des 20. Jh.s zur Eroberungs‑ und Ausbeutungspolitik der Kolonialmächte war bekanntlich ambivalent: Aber nichts wäre verkehrter und ungerechter, als die christliche Mission einlinig als eine Fortsetzung der kolonialen Expansion mit geistlichen Mitteln zu inter Jürgen Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, München 1975, 119.  Karl Barth, Auslegung von Matthäus 28,16–20, Basler Missionsstudien NF 17, Basel 1945, 12. 24 Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens II, Tübingen 1979, 336. 25 Vgl. das Fazit bei Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), EKK I / 4 ​, Neukirchen / D ​ üsseldorf 2002, 458 f. 26  Luz, Mt 26–28 (a. a. O.), 445 f. 22 23

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pretieren und die Bedeutung der Proteste und der Opposition der Missionare gegen die Politik der Kolonialmächte herunterzuspielen. Ein Blick auf andere neutestamentliche Texte bestätigt im Großen und ganzen dieses Bild, auch wenn viele Linien nur implizit sind: Für das Selbstverständnis des Apostels und Missionars Paulus ist charakteristisch, dass er das Sterben Jesu an seinem Leibe herumträgt (2 Kor 4,10) und das Evangelium von der Macht Gottes in Schwäche verkündet (1 Kor 2,1–5); sogar das Wort des Paulus ist „für nichts zu achten“ (2 Kor 10,10). An der Schwäche und an der Liebe des Paulus zu seinen Gemeinden wird die Macht Gottes sichtbar (2 Kor 4,7–10). Im lukanischen Schrifttum führt der Weg des Missionars par excellence, des Paulus, nach Rom zum Martyrium. Der Märtyrer Jesus ist das Vorbild auf diesem Weg. Eine andere Vollmacht als die der Verkündigung, des Gebetes und der Krankenheilung kennt der lukanische Paulus nicht. Vom nachpaulinischen Verfasser des Epheserbriefs wird die paulinische Mission unter das Vorzeichen des „Friedens“ zwischen Juden und Nichtjuden gestellt, weil sie die Scheidewand zwischen ihnen, welche in der Torah besteht, dem „Gesetz der Vorschriften in Rechtssatzungen“ (Eph 2,15), aufhebt. Dennoch hat die frühchristliche Mission auch ihre aggressive Seite. Wieder geht es um Verbalaggressionen. Sie werden zum geringeren Teil in den problematischen Schwarzmalereien von Heiden und Juden z. B. in Rom 1,18–3,2027 sichtbar, die offenbar zur paulinischen Missionsverkündigung gehören: Um erfolgreich zu missionieren, muss man eine kognitive Dissonanz erzeugen und das bisherige Leben in schwarzen Farben malen, also gleichsam einen „Vorentscheidungskonflikt“. Deutlicher werden sie an der verbreiteten „Rückseite“ der Missionsverkündigung: Wer die Christusbotschaft ablehnt, verfällt dem Gericht. Hier liegt ein Zug bereits in der Verkündigung Jesu vor, den ich insgesamt als sehr problematisch empfinde. Die Kehrseite der von Jesus als Anbruch des Gottesreichs verkündigten grenzenlosen Liebe Gottes ist das Gericht. Wer die Liebe Gottes ablehnt, ist draußen, endgültig draußen. Er nimmt nicht teil am Gastmahl (Lk 14,24), nicht am Hochzeitsmahl, sondern steht vor verschlossener Tür (Mt 25,11–13). Wer den großen Schuldenerlass, welchen Gott schenkt, nicht weitergibt, hat ihn verwirkt (Mt 18,31–34). Dieses Folgegericht ist an die Verkündigung bzw. die Person Jesu gebunden. Wer Jesu Worte hört und sie nicht tut, dessen Haus wird im Gericht zusammenfallen (Q 6,49). Wer sich nicht zu Jesus bekennt vor den Menschen, wird das Gericht des Menschensohns, der 27  Paulus ist m. E. in Röm 1,18–3,20 inkonsequent und erliegt einem „Systemzwang“, wenn er um der Universalität der Gnade willen auch die Universalität der Sünde bei Juden und Heiden nicht nur behauptet, sondern empirisch aufweisen will. Die Inkonsequenz zeigt sich etwa darin, dass die in Röm 1,24–32 insgesamt in Grund und Boden verdammten Heiden in 2,14–16 plötzlich als Täter des in die Herzen geschriebenen Naturrechts den nunmehr insgesamt bösen Juden gegenübergestellt werden. Oder sie zeigt sich in 2,25–29, wo der „Jude im Verborgenen“ unversehens von dem die Torah erfüllenden Heiden zum gläubigen Christen wird.

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kein anderer als Jesus ist, nicht bestehen (Q 12,9). Zu den wahrscheinlich auf Jesus selbst zurückgehenden, in den Aussendungsreden enthaltenen Missionsregeln gehört die Symbolhandlung des Schütteins des Staubes von den Füssen, als Zeichen des Abbruchs der Gemeinschaft und des kommenden Gerichts über einen Jesus ablehnenden Ort (Q 10,11 f). In der Logienquelle sind uns mehrfach Weherufe über Städte überliefert, welche die Verkündigung Jesu oder seiner Boten abgelehnt haben und sich auch von seinen Wundern nicht beeindrucken ließen: Chorazin, Betsaida (Q 10,13 f), Kafarnaum (Q 10,15) und Jerusalem (Q 13,34 f). Ihnen wird es im Gericht schlimmer gehen als Sodom und Gomorra. Ob diese Jesusworte auf Jesus selbst zurückgehen oder die Situation nachösterlicher Verkündigung widerspiegeln, ist im Einzelnen schwer zu sagen. Klar ist aber, dass der eschatologische, unhinterfragbare, absolute Anspruch, den Jesus hier für sich bzw. den seine Missionare für ihn stellten, notwendigerweise dazu führte, dass seine Ablehnung zur Katastrophe, d. h. zur Gerichtsankündigung führen musste. Da sich in neutestamentlicher Zeit die Ablehnung der Jesusverkündigung durch die Mehrheit Israels bereits deutlich abzeichnet, ist nicht verwunderlich, wenn sie im besonderen Juden trifft. Öfters hören wir, dass die Verkündigung der Jesusmissionare jüdische Gegenaggressionen ausgelöst habe. Verständlich, denn niemand hört es gern, wenn ihm Feuer und Schwefel angedroht wird, und kein Jude hat daran Freude, wenn seine eigene Stadt als schlimmer dargestellt wird als die sündigen Heidenstädte Tyrus und Sidon. So hören wir von Verfolgungen von Stadt zu Stadt, von Synagogenstrafen, Ausgrenzungen und einzelnen Hinrichtungen in besonderen Situationen. Es sind vor allem, aber nicht nur Stellen aus der Logienquelle, die uns darüber unterrichten (Q 6,22 f; 11,49–51; 12,4–9; aber auch Mt 10,23; 1 Thess 2,15). Sie zeigen, dass sich solche Gegenaggressionen ausschließlich gegen die Verkündiger Jesu richteten, nicht gegen die normalen Mitglieder der Jesusgemeinschaften. Die „Pharisäerrede“ Q 11,37–52  / ​/ Mt 23 bezeugt in ihrer traditionsgeschichtlichen Entwicklung die zunehmende verbale Aggressivität der Jesusverkündiger, welche sich gegen die Führer der jesusfeindlichen Mehrheit Israels zu wehren und zugleich die immer deutlicher werdende relative Erfolglosigkeit ihrer eigenen Israelmission zu verarbeiten hatten. Zu dieser Verarbeitung gehört, dass die Gegner, mit denen man nach der Trennung nichts mehr zu tun haben darf, möglichst schwarz gemalt werden. Sozialpsychologisch ist das gut verständlich: Der in der Trennung von Israel erfahrene Schmerz und die Erfahrung des definitiven Scheiterns der eigenen Israelmission führt zu verstärkter Verbalaggression nach außen.28 Das dunkle Pharisäerbild, das negative Eigenschaften verallgemeinert, die bei einigen Pharisäern gelegentlich vorgekommen sein mochten, zementiert Vorurteile, welche die eigene Gruppen28

 Vgl. Dollard u. a., Frustration und Aggression (o. Anm. 15). 180–191.

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stabilität erhöhen.29 Zuneigung zur Binnengruppe („ingroup love“) und Hass auf die Fremdgruppe („outgroup hate“) stehen oft in enger Verbindung zueinander und können sich kognitiv zu langlebigen Stereotypen verfestigen.30 Mt 23 und andere neutestamentliche Texte haben wirkungsgeschichtlich vor allem in der Neuzeit Wesentliches zur stereotypen Wahrnehmung von Juden durch Christen beigetragen. Die Negativierung des Bildes der jüdischen Führer im Matthäusevangelium (und auch im Johannesevangelium) entspricht dem Bedürfnis von Menschen, die in der Situation eines Nachentscheidungskonfliktes leben, die nicht mehr zur Verfügung stehende Entscheidungsalternative möglichst schwarz zu malen.31 Der Evangelist Matthäus hat die bereits traditionellen Verbalaggressionen gegen die jüdischen Führer nicht dadurch verstärkt, dass er neue Weherufe gebildet hätte, sondern dadurch, dass er sie in rhetorisch meisterhafter Weise in einer siebenfachen monotonen Sequenz neu komponierte (Mt 23,13–33) und ihnen in einem doppelten Drohwort eine abschließende Gerichtsankündigung folgen ließ (23,34–39).32 Vor allem aber hat er durch seinen Makrotext deutlich gemacht, dass der Bruch Jesu mit Israel definitiv ist: Jesus verlässt nach seiner Pharisäerrede mit seinen Jüngern den Tempel endgültig (24,1 f), um bald darauf von den Römern auf Betreiben der jüdischen Führer und unter Zustimmung des ganzen Volkes (27,24 f.) zum Kreuzestod verurteilt zu werden. Im Johannesevangelium ist die Situation grundsätzlich ähnlich – ich verzichte aus Platzgründen darauf, näher auf es einzugehen und weise nur darauf hin, dass Joh 8,44 – „ihr seid aus dem Teufel als eurem Vater!“ – wohl die stärkste Verbalaggression ist, welche es im Neuen Testament gibt. Anders als in den aggressiven Gerichtsphantasien der Johannesapokalypse beziehen sich die Gerichtsdrohungen des matthäischen Jesus gegen Juden nicht auf das Endgericht. Matthäus dürfte in der Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 ihre Erfüllung gesehen haben – darauf weisen 22,7; 23,38 und auch 27,24 f. In der Perspektive der matthäischen Texte war es für Spätere daher relativ leicht, in der gegenwärtigen Situation der Juden, z. B. in ihrer Zerstreuung, die Erfüllung der göttlichen Strafandrohung für die Ablehnung Jesu oder gar eines Fluches zu sehen. Der Schritt von dieser Feststellung zu aktiven Aggressionen gegen Juden, die ja gerade in der Passionszeit häufig vorkamen, war nicht so groß. Natürlich hat der Jude Matthäus dies nicht gewollt, aber es ist dennoch verstehbar, warum seine „verbalaggressiven“ Texte zu Auslösern oder 29  Vgl. Ulrike Six, Art. Vorurteile, in: Dieter Frey / ​Siegfried Greif (Hg.) Sozialpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, München / W ​ einheim 31987, 366. 30  Hans W. Bierhoff, Sozialpsychologie. Ein Lehrbuch, Stuttgart 52000, 296 f., vgl. 285. 31  Vgl. Werner Herkner, Lehrbuch Sozialpsychologie, Bern / S ​ tuttgart / ​Toronto 51991, 90 f. 32 Ulrich Luz, Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, Heuchler!, in: Klaus Wengst u. a. (Hg.), Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels (FS W. Schräge), Neukirchen 1998, 265 f.

3. Absolutheitsanspruch und Aggressionspotenzial im frühen Christentum

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gar Legitimierungen für wirkliche Aggressionen gegen Juden werden konnten. Die endzeitlichen Gerichtsschilderungen der Apokalypse dagegen mit ihren nur allgemein bezeichneten Adressaten und ihren phantastischen und hyperbolischen Bildern eigneten sich für solchen Missbrauch weniger. Wie werden solche Verbalaggressionen verständlich? Wiederum hilft die Frustrations-Aggressionshypothese zu einer Erklärung: Die Erfahrung der Ablehnung und Verfolgung der Jesusmissionare und ihrer Botschaft in Israel und die dadurch im Judenchristentum entstandene Identitätskrise spielen eine wesentliche Rolle, nicht nur in der Logienquelle, im Matthäus‑ und im Johannesevangelium, sondern auch für die Erklärung der antijüdischen Entgleisung des Paulus in 1 Thess 2,15 f. Wie in der Apokalypse spielt auch hier die vorgegebene Tradition eine Rolle als „Lernhilfe“: Die überlieferten polemischen Jesusworte gewannen in der neuen Erfahrungsperspektive der Gemeinde eine neue, grundsätzlichere Bedeutung. Dazu kamen übergeordnete Traditionen: Die Jesusgeschichte im Ganzen wurde im Lichte der nach Ostern erfahrenen Ablehnung der Jesusbotschaft in Israel zunehmend antijüdisch gelesen. Das, was die Gemeinden nach Ostern erfahren haben, ist in der Jesusgeschichte gleichsam prototypisch vorgebildet. Noch wichtiger ist, dass es die grundlegende Überzeugung aller frühchristlichen Gemeinden ist, dass sich an Jesus Heil und Unheil entscheidet. Das Ja oder Nein zu ihm konnte also nicht folgenlos bleiben. Insofern kann man, ja muss man wohl sagen, dass die Verbalaggressionen gegen die Juden mit einem christologisch ausgelegten Absolutheitsanspruch zu tun haben: Weil nach christlicher Grundüberzeugung Gott durch die Auferweckung Jesu sich zu Jesus gestellt hat, der für sich selbst einen unerhörten Anspruch gestellt hatte, und weil er seinen Namen ein für alle Mal mit Jesus verbunden hatte, wurde die Christologie zum Nadelöhr, an dem keiner mehr vorbeikam.

IV. Das Problem von Häresie und Apostasie Abfall und Häresie sind von der Kirche immer als verwandte Phänomene betrachtet worden. In der Regel verstand man unter Apostasie den bewussten Abfall vom Glauben überhaupt, unter Häresie die bewusste Leugnung eines von der Kirche dogmatisch festgelegten Glaubenssatzes. Obwohl Häresie in diesem Sinn das geringere Vergehen war, galten für beide kirchenrechtlich ähnliche Strafen.33 Zuerst kurz etwas zur Apostasie: In den späteren neutestamentlichen Schriften ist Apostasie im Hebräerbrief, wahrscheinlich im 1. Johannesbrief und in der Apokalypse ein Problem. Der Verfasser des Hebräerbriefs setzt Abfall vom Glauben einer zweiten Kreuzigung Christi gleich (Hebr 6,6). Der, der vom Glauben abfällt, „tritt den Sohn Gottes mit Füssen und entheiligt das Blut des 33

 Audomar Scheuermann, Art. Apostasie, LThK2 I, Freiburg u. a. 1957, 733 f.

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Bundes“ (Hebr 10,29). Ihm bleibt nur noch das Gericht Gottes. Abfall wurde von seiner Gemeinde mit Abbruch der Gemeinschaft beantwortet.34 Auch nach dem Nachtrag zum 1. Johannesbrief gibt es für die „Sünde zum Tode“35 – vermutlich ist damit der Abfall gemeint36 – keine Möglichkeit der Fürbitte mehr (5,16–19). In der Apokalypse wird davor gewarnt, unter dem Druck der Verfolgungen nicht „getreu bis in den Tod“ (Apk 2,10) zu sein – das hat Verlust des ewigen Lebens zur Folge. Dass Abfall von der eigenen Bezugsgruppe und ihren Grundüberzeugungen etwas ganz Schwerwiegendes ist und nur mit totalem Bruch der Gemeinschaft beantwortet werden kann, ist eine Überzeugung und ein Verhalten, welches das frühe Christentum mit dem zeitgenössischen Judentum verbindet: Es ist schon die Grundüberzeugung des Jubiläenbuchs, dass ein Abfall Israels vom Bund zum Heidentum eine unvergebbare Sünde ist: „Sie haben keine Vergebung und Verzeihung mehr …, dass ihnen verziehen würde von aller Sünde dieser Verirrung, die in Ewigkeit ist“ (Jub 15,34).37 Die Sektenregel von Qumran kennt ein gestuftes Ausschlussverfahren: Für verschiedene Vergehen droht als Strafe ein unterschiedlich befristeter Ausschluss von der Gemeinschaft. „Wer“ aber „gegen die Grundlage der Gemeinschaft murrt, den soll man fortschicken, und nicht darf er zurückkehren“ (1QS 7,17). Jeder Mann, der sich volle zehn Jahre im Rat der Gemeinschaft befindet, „aber sein Geist wendet sich ab, sodass er abtrünnig wird von der Gemeinschaft und er weggeht zu den Vielen …, der soll nicht in den Rat der Gemeinschaft zurückkehren“, und wer mit ihm gemeinsame Sache macht, soll auf Dauer ausgeschlossen werden (1QS 7,22–25). Etwa zeitgleich mit dem frühen Christentum entstand im Judentum der „Segen“ gegen die „Minim“, zu denen auch die Judenchristen gehören, also gegen alle diejenigen, die man als Apostaten vom Judentum betrachtete: Im Unterschied zu den Heiden, mit denen das Zusammenleben geregelt war, gibt es bei den „Minim“ keinerlei Möglichkeiten von menschlichem Verkehr oder Handel; der Bruch der Gemeinschaft ist total. Sozialpsychologen haben beobachtet, dass in Gruppen gegenüber Vertretern extremer Positionen zunächst eine intensive Kommunikation entsteht: Man redet auf Dissidenten ein und versucht, sie von ihren Meinungen abzubringen. Diese Kommunikation ist allerdings nur von begrenzter Dauer und schlägt in Kommunikationslosigkeit um, wenn es nicht gelingt, die Dissidenten zu  Vgl. Hebr 12,15b.  Der Ausdruck ist biblisch (Dtn 21,22; 22,26; Jub 21,22; 26,34; 33,13.18: Test Iss 7,1; vgl. Lev 18,29; 19,8; 20,27; Num 18,22; Dtn 17,12) und bezieht sich in jüdischer Tradition auf die bewusste Übertretung grundlegender Gebote. 36  Vgl. Werner Vogler, Die Briefe des Johannes, ThHKNT 17, Leipzig 1993, 176; Klaus Wengst, Der erste, zweite und dritte Brief des Johannes, ÖTK 16, Gütersloh / W ​ ürzburg 1978, 220; etwas offener Hans J. Klauck, Der erste Johannesbrief, EKK XXIII / ​1, Neukirchen / ​ Zürich 1991, 329 f. 37  Vgl. Jub 30,10. 34 35

3. Absolutheitsanspruch und Aggressionspotenzial im frühen Christentum

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einer Meinungsänderung zu bringen.38 Neuere sozialpsychologische Forschung spricht von „relationaler Aggression“ bzw. „relationaler Viktimisierung“ innerhalb von Gruppen, z. B. Schulklassen.39 Die Schädigung des Opfers ist in diesem Fall eine soziale: Es wird in seiner Gemeinschaft isoliert, resp. von ihr ausgeschlossen. In Gemeinschaften mit nicht hinterfragbaren normativen Grundregeln (zu denen im frühen Christentum der Glaube an Christus gehört) wird dieser Kommunikationsabbruch institutionalisiert und zu etwas, was man eine „institutionalisierte relationale Aggression“ nennen könnte. Darin unterscheiden sich das frühe Christentum und das zeitgenössische Judentum nicht grundsätzlich. Wohl aber unterscheiden sie sich in ihren Verurteilungen von Irrlehrern. In manchen Spätschriften des Neuen Testaments scheint, anders als in der späteren kirchenrechtlichen Tradition, Irrlehre noch viel schlimmer zu sein als Abfall. Während es gegenüber Abgefallenen kaum verbale Aggressionen gibt, häufen sie sich bei Irrlehrern. Der Katalog von Schimpfworten ist manchmal imposant – man lese 1 Tim 1,6; 4,1; 6,4; 2 Tim 3,1–7; Tit 1,10–12; Jud 4.8.10–13 und vor allem 2 Petr 2,2 f.l0–22. Zu den Beschimpfungen gehören Diffamierungen der Lehre („irreführende Geister“, „Lehren von Dämonen“ [1 Tim 4,1]; „krankhafte Sucht nach Streitfragen“, „Lästerungen“, „zerrütteter Verstand“ [1 Tim 6,4 f]; „Gottlosigkeit“, „Krebsgeschwür“ [2 Tim 2,16 f], „verderbter Sinn“, „Torheit“ [2 Tim 3,8 f], „unvernünftige Tiere“ [2 Petr 2,12], „Quellen ohne Wasser“, „Nebelwolken“ [2 Petr 2,17]), ethische Diffamierungen („Heuchelei“ [1 Tim 4,2]; „Hochmut“, „Lieblosigkeit“, „Wollust“ und ein langer Lasterkatalog [2 Tim 3,2–4]; „Ausschweifung“ [Jud 4; 2 Petr 2,2.18], „Schwelgerei“, sexuelle Begierden [2 Petr 2,13 f]) und immer wieder finanzielle Verdächtigungen (1 Tim 6,5; 2 Tim 3,2; Tit 1,1; 2 Petr 2,3). Vor allem die ethischen Diffamierungen sind oft nichts anderes als Rufmord. Verbreitet ist auch die Anonymisierung und ein abwertendes „labeling“ der Gegner: Sie sind τινές (1 Tim 1,3) oder τινὲς ἄνθρωποι (Jud 4; vgl. 2 Petr 3,9). Meist bleiben sie anonymisiert; dass in 1 Tim 2,17 f zwei Namen genannt werden, Hymenäus und Philetus, ist eine große Ausnahme. Dafür kriegen sie ausgiebig negative labels: Sie sind lügnerische Kreter (Tit 1,12), Pseudo-Apostel (Apk 2,2; vgl. 2 Kor 11,4 f). Sie vertreten die Lehre Bileams (Apk 2,14; Jud 11; 2 Petr 2,15), wandeln auf den Wegen Kains (Jud 11; 1 Joh 3,12) – obwohl sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Mörder waren! – und gleichen der Rotte Korahs (Jud 11). Sie sind „Antichristen“ (1 Joh 2,18; 4,3; 2 Joh 7) und „Söhne des Teufels“ (1 Joh 3,8.10). Eine missliebige Prophetin nennt der Apokalyptiker Johannes kurzerhand „Isebel“ (Apk 2,20).

38 39

 Herkner, Lehrbuch (o. Anm. 31), 471 f.  Werner / ​Bigbee / ​Crick, Aggression (o. Anm. 10), 154.

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

Verbreitet ist auch im Fall von Irrlehre der Ruf nach Abbruch der Gemeinschaft mit solchen Leuten: Man soll sich von ihrem „Geschwätz“ fernhalten (2 Tim 2,16) und sich absondern (2 Tim 2,2). Eine oder zwei Zurechtweisungen genügen, dann soll man sie sich selbst überlassen (Tit 3,10 f). Eine Trennung von den Gegnern setzt auch 1 Joh 2,19 voraus. Wenn jemand in die Gemeinde kommt, der nicht die wahre Lehre vertritt, so soll er nicht aufgenommen werden, ja, nicht einmal begrüßt werden, also von der Liebe ausgeschlossen werden (2 Joh 5.10). Wir finden hier eine Praxis der „Exkommunikation“ im eigentlichsten Sinne des Wortes, die umso gravierender ist, als die geschwisterliche Liebe in den johanneischen Briefen nichts anderes ist als die Liebe Gottes, welche in der Gemeinde zu ihrer Vollendung kommt (1 Joh 4,12). Im Sendschreiben an die Gemeinde von Pergamon besteht der Fehler der Gemeinde darin, dass sie Irrlehrer in ihrer Mitte duldet (Apk 2,14 f) und nicht ausschließt. Nur der Judasbrief fordert ausdrücklich zur Rettung der Irrlehrer auf (Jud 20–23). In 1 Tim 4,1 wird die Häresie der Gegner ausdrücklich als „Abfall“ bezeichnet. In drastischer Weise vertritt der 2. Petrusbrief dieselbe Position: Die Gegner haben den Weg der Gerechtigkeit zunächst erkannt und nun das Schlimmste getan, was man tun kann, nämlich sich vom heiligen Gebot, das ihnen überliefert war, abgewendet (ὑποστρέψαι ἐκ τῆς παραδοθείσης αὐτοῖς ἁγίας ἐντολῆς). Sie sind wie die Hunde im Sprichwort, welche zu ihrem Ausgespuckten zurückkehren, oder wie Schweine, die immer wieder, nachdem sie gewaschen wurden, in ihrem eigenen Mist suhlen (2 Petr 2,21 f). Der Vorwurf des Abfalls bedeutet in diesen Fällen eine rhetorische Verstärkung der Anklage resp. der Beschimpfung – die Gegner selbst dürften sich ja durchaus noch der Gemeinde zugerechnet haben. Zugleich unterstreicht er gegenüber den Adressaten die Notwendigkeit der Trennung: Mit Apostaten sollen sie nichts mehr zu tun haben. Ich konfrontiere das Verhalten gegenüber den Gegnern nochmals mit der sozialpsychologischen Definition der relationalen Aggression: „Eine relationale Aggression liegt beispielsweise dann vor, wenn ein gleichaltriges Kind, dem man böse ist, absichtlich ignoriert wird, wenn Gerüchte über ein missachtetes Klassenmitglied gestreut werden, oder wenn andere Kinder aufgefordert werden, mit einem bestimmten Kind … nicht mehr zu spielen.“40 Mutatis mutandis ist es etwa das, was die zitierten späten Briefe des Neuen Testaments bezeugen, nur mit einer ganz massiven verbalen Aggression, die über das Streuen böser Gerüchte weit hinausgeht, und in ihren Folgen vielleicht besonders schlimm, weil die Bedeutung der κοινωνία in frühchristlichen Gemeinden größer war als die soziale Bedeutung einer Schulklasse heute. Die Häufigkeit, mit der sie etwa seit der dritten christlichen Generation auftreten und die Heftigkeit der Verbalaggressionen gegen sie von Seiten der Kirche ist sehr auffällig. Wie ist diese schroffe und im beschriebenen Sinn aggressive 40

 Werner / ​Bigbee / ​Crick, Aggression (o. Anm. 10), 154.

3. Absolutheitsanspruch und Aggressionspotenzial im frühen Christentum

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Haltung des frühen Christentums zu erklären? Sie hat ja in der späteren Geschichte des Christentums ihre Fortsetzung gefunden: Die hohe Aggressivität, mit der die jeweils herrschenden christlichen Kirchen Irrlehren und Irrlehrer bekämpften und unterdrückten, ist bis zur Aufklärung ein Kennzeichen des Christentums geblieben. Die Frustrations-Aggressionshypothese scheint hier zu versagen. Die vorher genannte These, dass andauerndes Abweichen von einer „Normalposition“ in einer Gruppe mittelfristig zum Kommunikationsabbruch führt, hilft hier auch nicht zu einer Erklärung, denn sie erklärt die verbalaggressive Polemik gegen die Abweichler gerade nicht. Eine gewisse Hilfe zum Verständnis bieten Hypothesen über Vorurteile und Stereotype: Die Beispiele für Anonymisierung und Labeling, die ich vorher nannte und die zum Teil in ganz verschiedenen Schriften dieselben sind, illustrieren, dass die Stereotypisierung der Gegner schon weit vorangeschritten ist. Dass der polemische Judasbrief im zweiten Petrusbrief weitestgehend verwendet werden konnte, zeigt, welch großen Raum die Stereotype bereits einnehmen, einen so großen, dass es in sehr vielen Fällen für uns gar nicht mehr möglich ist, aufgrund der Polemik zu erschliessen, was die Gegner eigentlich vertreten haben. Stereotype und Vorurteile stabilisieren die Identität der eigenen Gemeinschaft in mannigfacher Weise:41 Sie ermöglichen eine einfache Orientierung in einem kognitiven Chaos, das etwa durch die „Mythen und Genealogien“ (1 Tim 1,4) der judenchristlichen Gnostiker, welche der Verfasser der Pastoralbriefe bekämpft, angerichtet wurde. Sie haben paränetische Funktion: Die Leserinnen und Leser der Pastoralbriefe wissen, dass sie nicht „selbstsüchtig, geldgierig …, hochmütig …, den Eltern ungehorsam“ etc. (2 Tim 3,2) sein dürfen, wenn sie sich von den bösen Gegnern unterscheiden wollen. Sie stärken den sozialen Zusammenhalt einer Gruppe, denn die Stereotype und Vorurteile werden von allen gemeinsam getragen und ausgesprochen.42 Sie stärken den ideologischen Zusammenhalt der Gruppe, indem sie indirekt auf die grundlegenden Normen weisen, welche die eigene Gruppe konstituieren, z. B. die „Frömmigkeit“ (1 Tim 6,6), die durch die Tradition überlieferte „Wahrheit“ (2 Tim 2,18; 3,7), den Glauben, dass Jesus Christus ins Fleisch gekommen ist (1 Joh 4,2), den alleinigen Herrscher Jesus Christus des überlieferten Glaubens (Jud 3 f). Es gibt also mannigfache sozialpsychologische Erklärungsmöglichkeiten, die einiges verständlicher machen. Aber die Intensität der Auseinandersetzungen, die Schroffheit der Polemik, die Entschlossenheit, mit der die Gemeinschaft abgebrochen wurde und den Umfang der verbalen Aggressionen gegen innerchristliche Gegner erklären sie meines Erachtens letztlich nicht. 41 Vgl. Ulrike Six, Vorurteile, in: Frey  /  ​G reif (Hg.), Sozialpsychologie (o. Anm. 3), 366–368. 42  Nach Bierhoff, Sozialpsychologie (o. Anm. 30), 358 f erhöht eine starke Gruppenkohäsion aggressive Neigungen. Bierhoff spricht in diesem Zusammenhang von „Deindividuation“.

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

Alles das wird nur verständlich, wenn man sieht, dass es im frühen Christentum schon sehr früh eine Reihe von Grundüberzeugungen gegeben hat, die nicht mehr in Frage gestellt werden durften, weder durch immerwährendes Lernen (2 Tim 3,7), noch durch Berufung auf den Geist (vgl. 1 Joh 4,1 f; Jud 19), noch durch neue Auslegungen der Paulusbriefe und anderer heiliger Schriften (2 Petr 3,16).43 Welches diese Grundüberzeugungen waren, ist nicht einheitlich zu beantworten. Relativ oft sind christologische Grundüberzeugungen im Spiel (1 Joh 2,22 f; 4,3; 2 Joh 9; Jud 4; 2 Petr 2,1; vgl. 1,16; 3,11). Fast überall wird ihre absolute Gültigkeit durch den Hinweis auf die Autorität der Tradition begründet (1 Tim 6,2; 2 Tim 1,12.14; 2 Petr 2,21; Jud 3; 1 Joh 2,24). Zu den Aggressionen kam es, weil die „Anderen“ letztlich die selbe christliche Identität beanspruchten, d. h. weil es in diesen Auseinandersetzungen um Geschwisterkämpfe ging.44 Sie hängen damit zusammen, dass partikulare Interpretationen der eigenen christlichen Identität mit einem absoluten Geltungsanspruch verbunden wurden. Verstärkt wurden sie dadurch, dass es in der Zeit nach dem Tod der Apostel und vor der Institutionalisierung einer die Ökumene umspannenden Amtskirche noch keine Instanz gab, die gültig festlegte, was an differenten Auslegungen noch tolerabel war. Die rechtgläubigen Theologen waren also in hohem Maße darauf angewiesen, durch verbale Aggressionen ihre Rechtgläubigkeit in der Kirche durchzusetzen. Die Gnostiker hatten es leichter, tolerant zu sein, weil sie die gewöhnlichen Kirchenchristen nicht als Materiemenschen und schon gar nicht als Abtrünnige, sondern als immerhin erkenntnisfähige Pistiker betrachteten. Und auch die Muslime hatten es später in Bezug auf Juden und Christen leichter, weil sie diese zwar nicht als Gläubige, aber immerhin als Schriftbesitzer betrachteten. Das alles mag verständlicher machen, warum die Aggressionen gegen das Fremde im Eigenen gerade im Christentum oft besonders heftig gewesen sind.

43 Das alles sind Vorwürfe, welche später im Kampf der Kirchenväter gegen die Gnosis wieder auftauchen. 44  Lewis A. Coser, Theorie sozialer Konflikte, Neuwied / B ​ erlin 1972, 78–84.

4. Theologie und Religionswissenschaft aus theologischer Sicht Ein Plädoyer für Zusammenarbeit Im letzten Bulletin der „Schweizerischen Theologischen Gesellschaft“ hat ihr langjähriger Präsident, Mariano Delgado, ein „Plädoyer für mehr Sachlichkeit im Gespräch zwischen Religionswissenschaft und Theologie“ veröffentlicht.1 Er hatte offenbar den Eindruck, dass dieses Gespräch heute nicht gut funktioniert. Dies trifft mindestens für den deutschen Sprachbereich wahrscheinlich weitgehend zu. Ein Zitat des Religionswissenschaftlers Udo Tworuschka beleuchtet das: „Zum Selbstverständnis der Religionswissenschaft gehört wesentlich, nicht Theologie sein zu wollen“.2 Abgrenzung gegenüber der Theologie ist offenbar für die Religionswissenschaft wesentlich. Dann ist natürlich das Gespräch nicht einfach. Wo liegen die Gründe für seine Schwierigkeiten? Sie haben mit der sehr unterschiedlichen Geschichte und Gegenwartssituation beider Disziplinen zu tun: Theologie – einst Königin der Wissenschaften und Kerndisziplin vieler Universitäten zur Zeit ihrer Gründung – ist heute in unserer multireligiösen und weitgehend postchristlichen Gesellschaft mit dem Problem schwindender Öffentlichkeitsrelevanz konfrontiert. Religionswissenschaft dagegen ist eine junge, sich wesentlich erst im 20. Jahrhundert in ihren verschiedenen Subdisziplinen voll entfaltende Wissenschaft. Sie verbindet heute religionsgeschichtliche mit systematischen Fragestellungen und verstehende, hermeneutische Aspekte mit kulturwissenschaftlichen. Mindestens in der Religionsdidaktik hat sie auch eine anwendungsorientierte Komponente. Darin ist sie strukturell der Theologie sehr ähnlich. In unserer multireligiösen und postchristlichen Gesellschaft scheint sie wissenschaftsgeschichtlich die Theologie möglicherweise zu ersetzen bzw. abzulösen. Im deutschen Sprachraum ist das Gespräch zwischen beiden Disziplinen schwieriger als z. B. im angelsächsischen Sprachraum. Warum? Ohne Anspruch 1 Mariano Delgado, Nach den Früchten fragen – Plädoyer für mehr Sachlichkeit im Gespräch zwischen Religionswissenschaft und Theologie, Bulletin der SThG, Nr. 1, März 2005. 2  Udo Tworuschka, Selbstverständnis, Methoden und Aufgaben der Religionswissenschaft und ihr Verhältnis zur Theologie, ThLZ 126 (2001), 123.

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

auf Vollständigkeit möchte ich auf drei „Erbschaften“ hinweisen, die es in besonderer Weise belasten.

Geschichtliche Lasten Die erste Last ist das Erbe der dialektischen Theologie, vor allem Karl Barths. Denkt man von seinem Ansatz aus, so sind die Gegenstände von Theologie und Religionswissenschaft durch Welten getrennt. Hier menschliche Religionen in ihrer ganzen Vielfalt, dort Gott und sein Wort; hier auch das Christentum als Religion, dort der Name Jesus Christus. Mit Religionswissenschaft hat Barth sich kaum je auseinandergesetzt. Gegenüber Rudolf Otto betonte er gelegentlich lakonisch, dass das „Heilige“ nicht das Wort Gottes oder gar die Wirklichkeit Gottes sei.3 Dann ist die Unterscheidung einfach: Theologie beschäftigt sich mit dem Wort Gottes, Religionswissenschaft mit menschlichen Religionen. Beide brauchen sich nicht in die Quere zu kommen. Wie Theologie ihre Wissenschaftlichkeit versteht, ist dann ihr eigenes Problem. Die zweite Last ist das Erbe der grossen Religionsphänomenologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für Mircea Eliade und Rudolf Otto war jedes religiöse Phänomen letztlich eine „Hierophanie“, eine Manifestation des Göttlichen bzw. des Heiligen. Friedrich Heiler forderte in seinem Spätwerk „Erscheinungsformen und Wesen der Religion“ das „Ernstnehmen des religiösen Wahrheitsanspruches“ und stellte von da aus die These auf, dass nur Menschen, die Religion lieben und „persönliche religiöse Erfahrung haben“, Religion letztlich verstehen können. Sein Spitzensatz lautet: „Alle Religionswissenschaft ist letztlich Theologie“.4 Dieser Satz ist von unzähligen Religionswissenschaftlern zitiert und mit einem kräftigen „So nicht!“ abgelehnt worden. Die Abkehr von den als „theologisch“ empfundenen eigenen Vätern scheint deutschsprachige Religionswissenschaft heute noch weitgehend zu prägen. In scharfem Protest gegen die Religionsphänomenologie versteht sich heute die deutschsprachige Religionswissenschaft überwiegend als historisch-empirische Kulturwissenschaft, deren Gegenstände nicht die Gegenstände von Religionen sind (also z. B. „Gott“ oder „das Heilige“), sondern empirisch untersuchbare Religionen. In seiner letzten Konsequenz führt dieser Ansatz nach Burkhard Gladigow „zu einer ‚Auflösung‘ des religionshistorischen Gegenstandes in kulturwissenschaftliche Parameter“.5 3  Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I / 1​ , Zollikon 71955, 140; Kirchliche Dogmatik II / 1​ , Zollikon 1940, 405. 4 Friedrich Heiler, Erscheinungsformen und Wesen der Religion, Stuttgart 2 1979, 17. 5 Burkhard Gladigow, Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft, Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (= HrwG) I, Stuttgart 1988, 32.

4. Theologie und Religionswissenschaft aus theologischer Sicht

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Die dritte, ganz anders gelagerte „Last“ ist ein inhaltlich zwar wenig bedeutender, aber wirkungsmächtiger Vortrag von Adolf Harnack, den er 1901 über „Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte“ gehalten hat.6 Harnack hat in diesem Vortrag die Verwandlung theologischer Fakultäten in religionswissenschaftliche und zugleich die Einrichtung religionswissenschaftlicher Lehrstühle an theologischen Fakultäten, also das „holländische“ Modell, entschieden abgelehnt. Nach ihm ist „das Christentum in seiner reinen Gestalt nicht eine Religion neben anderen … , sondern die Religion“.7 Sein Votum war mit dafür verantwortlich, dass an deutschen Universitäten die Religionswissenschaft sich im Wesentlichen an philosophischen Fakultäten etablierte und an theologischen Fakultäten ein Mauerblümchen blieb. Das bedeutete, dass Deutschland in der universitären Etablierung der Religionswissenschaft gegenüber anderen, vom Protestantismus geprägten Ländern einen Sonderweg ging.8

Versuche von Verhältnisbestimmungen Ich stelle im folgenden als Beispiele einige Verhältnisbestimmungen vor, die ich für nicht zureichend ansehe: 1. Der Religionswissenschaftler Kurt Rudolph versteht Theologie folgen­der­ massen: „Der Theologe muss oder soll die Wahrheit seiner eigenen Religion und ihrer Grundaussagen demonstrieren … Der Religionswissenschaftler hat es dagegen nur mit der Wirklichkeit einer Religion zu tun … . Er ist nicht an der Wahrheit als solcher interessiert, sondern an der Richtigkeit seiner Erfassung bzw. Darstellung nach den Regeln kultur‑ bzw. geisteswissenschaftlicher Methodologie“. Um diese Art Scheidung durchzuführen, ist für ihn „die von K. Barth betriebene Theologie hilfreicher als manche andere“.9 – Wer aber die Aufgabe der Theologie nicht darin sieht, eine vorgegebene kirchliche Wahrheit zu „demonstrieren“, sondern in dieser Formulierung ein Zerrbild der Theologie sieht, wird sich mit dieser Scheidung nicht anfreunden können. 2. Der Theologe Wolfhart Pannenberg verlangt von der Religionswissen­ schaft, dass sie „nach der im religiösen Leben und seiner Geschichte erfahrenen 6  Adolf Harnack, Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Re­li­ gions­geschichte, abgedruckt in: ders., Reden und Aufsätze II, Giessen 1904, 159–178. 7  A. a. O. 172. 8  Der „Normalfall“ in Ländern mit überwiegend protestantischer Tradition ohne strikte Trennung von Staat und Kirche ist, dass Theologie und Religionswissenschaft in theologischen Fakultäten miteinander verbunden wurden (z. B. in England, Holland und Skandinavien), während in Ländern, wo Staat und Kirche voneinander getrennt sind (in vielen katholischen Ländern Europas und fast überall in den USA), Religionswissenschaft in philosophischen Fakultäten resp. in den „humanities“ angesiedelt wurde. 9  Kurt Rudolph, Art. Religionswissenschaft und Theologie, HrwG V, Stuttgart 2001, 196.

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

Wirklichkeit“ fragt. „Blosse Psychologie, Phänomenologie oder Soziologie der Religionen bekommt deren spezifische Thematik gar nicht in den Blick“. Diese könne vielmehr „nur in einer Theologie der Religionen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung werden; Religionswissenschaft habe sich über diese „Hilfsdisziplinen“ zu erheben und zur Theologie der Religionen zu werden.10 Religionswissenschaft wird sich gegen diese „theologische“ Zumutung entschieden wehren und betonen, dass sie die in den Religionen behauptete göttliche Wirklichkeit nur als menschliche Wirklichkeit untersuchen kann und will, d. h. mit psychologischen, soziologischen, semiotischen, historischen etc. Kategorien. Ich formuliere ein vorläufiges Fazit aus diesen beiden ersten Beispielen: Sie zeigen, dass es keine neutralen Verhältnisbestimmungen von Theologie und Religionswissenschaft gibt. Jede Verhältnisbestimmung geht vielmehr von einem bestimmten Selbstverständnis und vor allem auch von einem bestimmten Verständnis der anderen Disziplin aus. Noch schärfer ausgedrückt: Jede Disziplin scheint durch solche Verhältnisbestimmungen der Schwesterdisziplin „mitzuteilen, was sie ‚eigentlich‘ tun oder wie sie ‚eigentlich‘ verstehen müsste, was sie zu tun meint“.11 3. Ich nenne noch eine dritte Verhältnisbestimmung, die mehr in die Tiefe führt, auch wenn sie mich auch nicht voll befriedigt. Sie wird von vielen, u. a. vom Religionswissenschaftler und Theologen Fritz Stolz vertreten. Nach Stolz reflektiert die Theologie eine Religion „von innen“, die Religionswissenschaft „von aussen“.12 Diese Unterscheidung kann aber – wie auch Stolz weiss – nur eine vorläufige sein. Jeder Theologe weiss, wie brüchig seine „Innenperspektive“ ist. „Glaube“ ist ein Wagnis und ein Geschenk, eine Haltung des Vertrauens, und nicht eine Position, welche man einfach einnehmen könnte. Kein Glaubender ist frei von Fragen oder Zweifeln; diese sind vielmehr ein Wesensmoment des Glaubens selbst. Ebenso steht keine Religionswissenschaftler / i​n einfach „draussen“. Sie oder er lebt in einem bestimmten Verhältnis zur Religion oder den Religionen, als Europäer / i​n vor allem zum Christentum. Fragestellungen, Wertungen und auch die Art und Weise der eigenen Selbstdistanzierung vom Forschungsgegenstand Religion sind auch bei Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftlern durch die eigene religiöse und kulturelle Sozialisation mitbestimmt.

10

368.

 Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973, 366–

11  Ingolf U. Dalferth, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, ThLZ 126 (2001), 12. 12 Fritz Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft, UTB 1980, Göttingen 21997, 35–44. Die Überlegungen von Stolz werden in differenzierter Weise weitergeführt durch Klaus Hock, Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 2002, 162–170.

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Vor allem aber denke ich, dass gerade das Suchen einer Aussenperspektive gegenüber der eigenen Religion ein zentrales Wesensmoment christlicher, besonders protestantischer Theologie sei. Ich verstehe Theologie als selbstkritische Reflexion des Glaubens; gerade dafür ist eine Aussenperspektive notwendig. Hier liegt meines Erachtens ein ureigenes Potential des christlichen Glaubens, insbesondere seiner protestantischen Spielart. Für eine solche Aussenperspektive darf es keine davon ausgenommenen Reservate geben, weder Jesus, noch der biblische Kanon, noch die kirchliche Lehre. Dass nicht nur die Religionswissenschaft, sondern gerade auch die Theologie sich gegenüber ihrem Forschungsgegenstand Christentum in die Alterität einer „Aussenperspektive“ begibt, gehört meines Erachtens zu ihrer Grundaufgabe als Wissenschaft.

Eigene Überlegungen zum Verhältnis der beiden Disziplinen 1. Von ihrem Gegenstandsbereich her hat christliche Theologie ihren Ort innerhalb der Religionswissenschaft: Während sich die Religionswissenschaft mit allen Religionen beschäftigt, untersucht christliche Theologie nur die christliche Religion.13 Im Blick auf ihren Untersuchungsgegenstand ist Religionswissenschaft übergeordnete Integrationsdisziplin der Theologie. Darin hat sie eine ganz besondere Bedeutung für die Theologie: Dass Theologie ihren Ort innerhalb anderer Wissenschaftsdisziplinen hat, gilt zwar für manche ihrer Teilbereiche in Bezug auf andere Disziplinen, so für die Kirchengeschichte im Verhältnis zur allgemeinen Geschichte oder für die neutestamentliche Wissenschaft im Verhältnis zur klassischen Philologie und zur antiken Geschichte. Aber nur in Bezug auf die Religionswissenschaft gilt, dass die Theologie als ganze ihren Gegenstandsbereich innerhalb desjenigen der Religionswissenschaft hat. Man könnte sogar sagen: Im Blick auf ihren Gegenstandsbereich müsste die Theologie eigentlich eine Subdisziplin der Religionswissenschaft sein.14 2. Noch in einer anderen Weise gilt, dass die Religionswissenschaft ihren Gegenstandsbereich weiter fasst, als die Theologie dies meistens tut: Theologie neigt zu einer idealisierenden Betrachtung ihrer Gegenstände. Weil sie nach der Wahrheit und dem Anspruch christlicher Tradition fragt, neigt sie dazu, sich vorzugsweise mit Lehre, Dogmen, mit dem Wesen von Kirche etc., kurz, mit dem, was christlicher Glaube oder christliche Kirche sein sollte, zu beschäftigen. Sie neigt z. B. dazu, den wirklichen Zustand der Kirchen aus ihrer Frage nach der wahren Kirche auszublenden. Sie beschäftigt sich meistens eher ungern mit Be13  Ich klammere hier aus, dass sie sich, als „Theologie der Religionen“, natürlich auch mit der Frage nach der Offenbarung Gottes in nichtchristlichen Religionen beschäftigen kann. Ihr Ziel dabei ist eine christliche Sicht nichtchristlicher Religionen. 14  Religionswissenschaft muss sich deshalb auch mit dem Christentum beschäftigen; vgl. z. B. Peter Antes, Das Christentum. Eine Einführung, München 2004.

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reichen, die sie für blosse „Volksfrömmigkeit“ hält, wie z. B. Krankenheilungen, Tischgebete, Gespensterglauben, Heiligenverehrung, Totenkulte, ekstatische Erfahrungen etc. Religionswissenschaft beschäftigt sich dagegen programmatisch mit allen Lebensäusserungen von Religionen. Theologie hat sich von ihr daran erinnern zu lassen, dass es kein Wesen der Kirche ohne ihre faktische Wirklichkeit und keinen wahren Glauben abgesehen von praktizierter Frömmigkeit gibt. In diesem Sinn bedeutet Religionswissenschaft eine Herausforderung für eine aufgrund ihrer eigenen Tradition manchmal zu einer gewissen Wirklichkeitsblindheit neigenden Theologie.15 3. In ihren Methoden unterscheiden sich Theologie und Religionswissenschaft nicht. Vielmehr sind sie durch die gleiche methodische Interdisziplinarität miteinander verbunden. Beide Schwesterdisziplinen stehen vor der Aufgabe einer Integration philologischer, historischer, literaturwissenschaftlicher, religionssoziologischer, religionspsychologischer und religionsethnologischer Methoden. Ich behaupte also eine volle Identität des Methodenkanons beider Disziplinen, obwohl die hier wie dort gesetzten Akzente manchmal verschieden sein können. Etwa in den biblischen Disziplinen scheint in der Theologie das Interesse an den Aussagen der Texte vorrangig zu sein. Damit ist auch ein gewisser Vorrang textwissenschaftlicher, philologischer, literaturwissenschaftlicher und literaturgeschichtlicher Methoden und hermeneutischer Fragestellungen gegeben. Zugleich ist es aber für jeden Bibelwissenschaftler klar, dass es kein Verstehen der Texte ohne Verstehen ihrer Kontexte gibt. Methodisch heisst das: Es gibt keine textwissenschaftliche Befragung der Texte ohne ihre soziologische, psychologische, historische, ethnologische oder anthropologische Hinterfragung. Und umgekehrt gilt auch: Es gibt keine Möglichkeit einer kulturwissenschaftlichen Einordnung von Religionen, ohne dass man vorher genau zu verstehen versucht, was denn da „eingeordnet“ werden soll. Keine Theologie kann sich m. E. davon dispensieren, die Kontextualität ihrer eigenen Wahrheitsansprüche kulturwissenschaftlich zu hinterfragen. Tut sie dies nicht, wird sie leicht zu einer blossen Demonstrationsgehilfin kirchlicher Wahrheitsansprüche. Umgekehrt kann sich m. E. keine Religionswissenschaft davon dispensieren, religiöse Wahrheitsansprüche und Weltdeutungen in ihrem eigenen Zusammenhang verstehen zu wollen. Tut sie dies nicht, so wird sie leicht zu ideologisch missbrauchbarer Religionskritik. Deshalb hat jedenfalls die Theologie das intensive Gespräch mit einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Religionswissenschaft nötig. Ich denke, dass die Theologie in allen ihren Disziplinen voll und ohne jede Reserve in den interdisziplinären Methodenkanon der Religionswissenschaft eintauchen und sich ihm aussetzen muss. Sie darf nicht sich selbst oder das Christentum 15 Ein ausgezeichnetes Beispiel für ein konstruktives Gespräch zwischen Religionswissenschaft und Theologie in diesem Sinn ist das Buch von Christoph Bochinger, ‚New Age‘ und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen, Gütersloh 21995.

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aus einer religionswissenschaftlichen Betrachtung herausnehmen. Nur dann wird sie in der Lage sein, von der Wahrheit Gottes nicht normativ, sondern kommunikativ, nicht verfügend, sondern dialogisch zu reden. Unter der Voraussetzung einer vollen Kongruenz des Methodenensembles beider Disziplinen könnten sie füreinander komplementäre Funktionen haben: Religionswissenschaftler können Theologen helfen, nicht kontextlos zu denken. Vielleicht können umgekehrt Theologen Religionswissenschaftlern helfen, nicht textlos zu denken. 4. Von ihrem Anspruch her überschreitet die Theologie denjenigen der Religionswissenschaft bei weitem. Theologie beschäftigt sich ja nicht nur mit den grundlegenden Traditionen der eigenen Religion, mit ihrer Geschichte und ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit, sondern sie beansprucht zugleich, im Lichte des christlichen Glaubens an Gott die ganze gegenwärtige Wirklichkeit zu deuten, d. h. die Gesellschaft, den Menschen, die Wirtschaft etc. Dabei denkt sie in ihrer Interpretation der Welt und des Menschen von ganz bestimmten christlich-theologischen Grundaxiomen her. Sie hat nicht den Anspruch, gegenüber irgend einer anderen Disziplin übergeordnete Integrationsdisziplin zu sein, aber sie mischt sich in Diskurse anderer Disziplinen und in Diskurse der Gesellschaft ein. Damit tut sie etwas, was die Religionswissenschaft gerade nicht tun will. Religionswissenschaft will zunächst deskriptive Wissenschaft sein. Wenn sie das Christentum und seine Theologie untersucht, so wird sie auch die Art und Weise, wie Theologie und Theologen sich in die Diskurse der Gesellschaft eingemischt haben, beschreiben wollen. Theologie hat also gegenüber der Gesellschaft einen weiterreichenden und andersartigen Orientierungsanspruch. Aber gerade um ihn einzulösen, braucht sie die kritische Begleitung durch eine Religionswissenschaft, zu deren Untersuchungsgegenständen auch die christliche Religion gehört. Religionswissenschaft kann der Theologie helfen, sich in in ihrer Deutung des Menschen und der Gesellschaft vom christlichen Glauben her ständig selbstkritisch zu hinterfragen: Ihre Wirklichkeitsinterpretation ist ja nichts anderes als eine menschlich-religiöse Wirklichkeitsinterpretation. Ihr Reden von Gott ist nichts mehr als eine menschliche Konzeptualisierung einer bestimmten Wirklichkeitsinterpretation. Theologisches Reden von Gott darf nicht mehr sein wollen als eine menschliche Wahrheit, sonst wird es leicht unmenschlich. Daran kann Religionswissenschaft die Theologie erinnern. 5. Damit komme ich zu einem letzten Punkt, der vielleicht den Kern des Unterschieds zwischen Theologie und Religionswissenschaft betrifft: Theologie muss die Wahrheitsfrage stellen und reflektieren. Sie fragt: Was ist an den in der Bibel bezeugten kulturellen Zeichensystemen, welche die Welt und den Menschen im Lichte Gottes deuten, im heutigen Kontext wahr? Die Wahrheitsfrage stellt sie primär im Blick auf die Verkündigung des Evangeliums durch die Kirchen. Theologie ist darum auf die Kirche bezogen und begleitet sie. Diese

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Begleitung ist komplex und für beide Partner keineswegs einfach. Ich deute die Komplexität hier mit einigen Sätzen aus Gerhard Ebelings „Diskussionsthesen für eine Vorlesung zur Einführung in das Studium der Theologie“ an, welche mich seit Beginn meines eigenen Studiums begleitet und geprägt haben: „Theologie ist notwendig um der intellektuellen Redlichkeit des Glaubens willen … – Theologie ist notwendig, um das Christentum in Frage zu stellen. – Theologie ist notwendig, um dem Prediger das Predigen so schwer wie nötig zu machen … Theologie ist notwendig zum Schutz der Gewissen vor religiöser Vergewaltigung. – Theologie ist notwendig zur Verteidigung der Vernunft gegen die Unvernunft“.16 Die Religionswissenschaft hat eine solche Aufgabe nicht. Sie kann und will nicht über die Wahrheit der von ihr untersuchten Religionen urteilen. Dieser Punkt scheint eine grundlegende Differenz zwischen Theologie und Religionswissenschaft anzudeuten. Dennoch ist diese Differenz m. E. nicht absolut und darf es nicht sein. Eine Religionswissenschaft, welche die Lebensäusserungen der Religionen und ihre Texte in ihren Eigenaussagen ernst nimmt, hat auch die Wahrheitsansprüche der Religionen zu interpretieren und zu hinterfragen. Täte sie das nicht, so nähme sie die von ihnen untersuchten Religionen gar nicht voll ernst und verlöre ihre Orientierungskraft gegenüber den in der Gesellschaft real existierenden Religionen. Sie könnte dann auch den interreligiösen Dialog in einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr begleiten und erhellen. Auch Religionswissenschaftler und Religionswissenschaftlerinnen müssen sich zu den Wahrheitsansprüchen der von ihnen untersuchten Religionen verhalten, und sei es noch so distanziert und indirekt. „Die Forderung eines … ‚objektiven‘ Herantretens an eine Religion ist pure Naivität“.17 Eine völlige Neutralität der Religionswissenschaft und ein ausschliesslich deskriptives Verständnis der Disziplin ist unmöglich. Sie sind m. E. auch gar nicht erstrebenswert, weil die Erkenntnisse der Religionswissenschaft für die Gesellschaft und damit auch für die Religionen in ihr in irgend einer Weise wirksam werden sollen. Aus der Sicht einer Theologie, die ihre Aufgabe in einer kritischen Begleitung der Kirchen sieht, ist dies geradezu erwünscht. Alles das heisst aber, dass der Unterschied zwischen Theologie und Religionswissenschaft kein absoluter sein kann. Christliche Theologie wird das Gespräch mit der Religionswissenschaft suchen, wenn sie ihre eigene Aufgabe in der kritischen Reflexion des Lebens der Kirchen und in der kritischen Reflexion der Wahrheit ihrer Verkündigung sieht. Nur eine den christlichen Glauben verabsolutierende und darum ausschliesslich apologetische Theologie kann darauf verzichten. Für eine offene und selbstkritische Theologie aber ist das Gespräch 16 Gerhard Ebeling, Diskussionsthesen für eine Vorlesung zur Einführung in das Studium der Theologie, in: ders., Wort und Glaube (I), Tübingen 1960, 447 f. 17  Fritz Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen 1988, 39.

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mit der Religionswissenschaft entscheidend wichtig, wenn sie die Wahrheit des christlichen Glaubens in der Gesellschaft kommunikativ und nicht normativ oder direktiv vertreten will.

Und nun? Plädoyer für einen Modus convivendi Die Beziehungen zwischen Religionswissenschaft und Theologie sind im deutschen Sprachraum heute im ganzen kühl und distanziert. Nach meiner Wahrnehmung wird die Distanz vonseiten der Religionswissenschaft heute viel stärker betont als vonseiten der Theologie.18 Mein Artikel mag für Religionswissenschafterinnen und Religionswissenschaftler den Eindruck einer versteckten Liebeserklärung machen, etwa nach dem Motto: „Habt uns doch auch ein bisschen gern, denn wir brauchen euch dringend!“ Der Eindruck ist richtig! Als protestantischer Theologe, der seine Aufgabe in einer kritischen Begleitung seiner Kirche und in einer reflektierten und kommunikativen Auslegung der Botschaft von Gott in der Gesellschaft, in der er lebt, sieht, möchte ich diese Liebeserklärung deutlich aussprechen. Aber Liebe muss bekanntlich gegenseitig sein. Ein Religionswissenschaftler oder eine Religionswissenschaftlerin wird sagen: „Warum wir für – mindestens gewisse  – Theologen so wichtig sind, haben wir gehört! Aber hat denn die Theologie auch für uns eine Bedeutung, abgesehen davon, dass sie uns einen Ausschnitt aus der Lebenswirklichkeit einer bestimmten Religion, nämlich des Christentums, in einer jedenfalls nie ganz unparteilichen Selbstauslegung gleichsam wissenschaftlich pfannenfertig aufbereitet?“ Es ist zwar nicht meine Aufgabe als Theologe, den religionswissenschaftlichen Kolleg / i​nnen zu sagen, was sie nötig haben und was wir Theologen / i​nnen ihnen bieten könnten. Ich möchte deshalb hier sehr zurückhaltend sein. Aber ich möchte doch andeutungsweise zur Diskussion stellen, in welche Richtung meine Überlegungen gehen: Religion ist für mich nicht nur eine sich in bestimmten „kulturellen Produkten“ objektivierende kulturelle Leistung, ähnlich wie Literatur, Kunst oder Technologie.19 Sie ist mehr als ihre jeweilige Positionierung in kulturellen Kontexten. Vielmehr bleibt Religion an die sie vertretenden Menschen und ihre Innenperspektive gebunden: Religionen sind von konkreten Menschen aufgrund 18  Einige Hinweise: Das wichtigste theologische Rezensionsorgan, die Theologische Literaturzeitung, versteht sich als Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft (obschon sie letzteres de facto nicht ist!). Das wichtigste theologische Lexikon, Religion in Geschichte und Gegenwart ist ein Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Umgekehrt ist das heute für die deutsche Religionswissenschaft repräsentative Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe ein Lexikon, dessen Herausgeber offenbar bewusst auf die Mitarbeit von Theologen fast ganz verzichtet haben. 19  Formulierungen im Gespräch mit Günther Kehrer, Art. Religion, Definitionen der, HrwG IV, Stuttgart 1998, 425.

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bestimmter Erfahrungen und Traditionen entworfene und immer wieder neu entworfene Zeichensysteme, mit denen sie in ihren jeweiligen Kontexten ihre Lebenswirklichkeit deuten und bewältigen. Sie sind m. E. nicht wirklich verstehbar, ohne dass die Erfahrungen und das Selbstverständnis ihrer Anhänger / ​ innen ernst genommen werden. Täte die Religionswissenschaft dies nicht und bliebe sie bei der These stehen, Religion sei „solely the creation of the scholar’s study“,20 so gäbe es keinen Grund mehr, warum sie diese oder jene kulturellen Leistungen gerade als Religionswissenschaft analysieren sollte. Sie könnte ja auch auf solche definitorischen „Kreationen“ verzichten und z. B. in der Ethnologie aufgehen. Nochmals anders: Auch Religionswissenschaft muss m. E. zu allererst verstehende Wissenschaft sein. Nur so und erst dann kann sie Kulturwissenschaft sein. „Es existiert die Trias von ‚Theologie‘  – Religionswissenschaft  – Kulturwissenschaft“,21 in der die Religionswissenschaft als Religionswissenschaft meines Erachtens leben muss. In dieser Trias hat die Theologie – nicht ausschliesslich, aber in unserer kulturellen Situation exemplarisch – die Aufgabe, durch ihre Selbstinterpretation des christlichen Glaubens die Religionswissenschaft vor die Frage nach der Ganzheit und Einheit ihrer Untersuchungsgegenstände zu stellen. Peter Antes hat einmal das Studium der Religionswissenschaften mit einem Wein-Seminar verglichen, in dem „Burgunderweine mit Hilfe von Lichtbildern“ und vielleicht durch Beschnuppern des Bouquets der geöffneten Flaschen studiert werden. „Getrunken aber wird nicht, das ist … nicht das Bier der Religionswissenschaft“.22 Ich meine: Trinken muss man vielleicht nicht (obwohl Weindegustationen für die Kenntnis von Weinen sehr bereichernd sein können!). Aber ohne das Gespräch mit denen, die trinken, geht es kaum!

20  Jonathan Z. Smith, Imagining Religion. From Babylon to Jonestown, Chicago / L ​ ondon paperback 1988, XI. 21 Gerd Theissen, mündlich. 22  Zitiert nach Udo Tworuschka, Selbstverständnis, Methoden und Aufgaben der Religionswissenschaft und ihr Verhältnis zur Theologie, ThLZ 126 (2001), 133.

5. Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive I Mein Thema ist komplex. Was heisst „ökumenische Perspektive“ angesichts der Bergpredigt? Ich denke an drei Perspektiven. Die erste Perspektive ist die klassische ökumenische, die konfessionelle. In der Reformationszeit ist auch die Bergpredigt in den Strudel der konfessionellen Auseinandersetzungen geraten. Aber aber ebenso wichtig wie diese Auseinandersetzungen ist meines Erachtens das Gespräch, das Katholiken und Protestanten mit ihren kritischen Minoritäten führen müssen, die sie beide aus ihren Kirchen ausgeschlossen oder in ihren Kirchen marginalisiert haben. Ich denke hier an die Anhängerinnen und Anhänger der „Ersten Reformation“ des 13. und 14. Jahrhunderts und an die Anhänger der „Radikalen Reformation“1 des 16. und 17. Jahrhunderts und ihre Bergpredigtinterpretation, also an Waldenser, Hussiten, Wyclifiten, Täufer, Quäker und andere. Es gibt aber noch zwei andere „ökumenische Perspektiven“, welche durch die Bergpredigt ermöglicht werden. Die erste ist die jüdisch-christliche Ökumene. Jesus, auf den ziemlich viele der in ihr überlieferten Einzelworte zurückgehen, war Jude und wollte nichts anderes sein als ein Jude. Gewiss war er ein ganz besonderer Jude  – einer derjenigen Juden, dessen Frömmigkeit ihre Mitte und ihr Zentrum weder in der Sinaitorah, noch im Tempel in Jerusalem, noch überhaupt in der Tradition hatte, sondern in einer Zukunftshoffnung, in einer Utopie, nämlich im kommenden Gottesreich. Dessen Farben und Inhalte waren natürlich aus der Tradition Israels genährt, aber im Ganzen war das kommende Gottesreich doch etwas gegenüber dem Bisherigen Neues, Ich nehme hier einen Grundansatz von Gershom Scholem auf und formuliere mit ihm, dass Jesus zu denjenigen Juden gehörte, bei denen das Utopische das Restaurative überwog.2 Und wenn wir von Jesus zum Evangelisten weitergehen, den ich aus Gründen der Einfachheit „Matthäus“ nenne, obwohl wir nicht wissen, wie er hiess, der 1 Ausdrücke wie „Vorreformation“ oder „Schwärmer“ vermeide ich, weil sie negative Wertungen beinhalten. 2 Gershom Scholem, Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus, in: ders., Judaica III, Frankfurt 1981, 152–197; ders., Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum, in: ders., Judaica IV, Frankfurt 1984, 189–228.

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die Bergpredigt aus traditionellen Jesusworten komponiert hat, so war auch er ein Jude. Seine Gemeinden hatten sich zwar von den Synagogen in einem schmerzlichen Prozess trennen müssen. Aber wenn man ihn selbst gefragt hätte, welcher Religion er angehöre, so hätte er wohl gesagt: Ich bin Jude, Jünger des Messias Jesus, den Gott zum Herrn der Welt gemacht hat. Das bringt er auch in seiner Bergpredigt zum Ausdruck, indem er Jesus auf einem Berg sprechen lässt, wie einst Mose, der auf dem Sinai die Torah empfing (Mt 5,1; 8,1), und indem er betonte, dass Jesus nicht gekommen sei, um Gesetz und Propheten aufzulösen, sondern um sie zu erfüllen (Mt 5,17–19). Es gibt also in der Bergpredigt auch eine Basis für eine jüdisch-christlichen ökumenischen Dialog. Diese ökumenische Perspektive ist mir sehr wichtig, und ich behandle sie im folgenden zuerst. Zur jüdisch-christlichen Ökumene kommt noch eine dritte Perspektive der Ökumene. Es ist die weiteste – sie führt über die christlich-jüdische Ökumene hinaus. Die Bergpredigt enthält Texte, die immer wieder Menschen fasziniert haben, die mit christlichem Glauben gar nichts zu tun hatten. Mahatma Gandhi ist vielleicht das bekannteste Beispiel unter ihnen. In den achtziger Jahren, der Zeit der atomaren Bedrohung und der Friedensbewegung, als die Bergpredigt zu einem der meistdiskutierten Texte wurde, zeigte sich dies besonders deutlich. Diese Faszination bezieht sich nicht nur auf Sätze, die von Hause aus universal sind, wie z. B. die goldene Regel von Mt 7,12, sondern gerade auf ganz radikale Forderungen, wie etwa Feindesliebe, Gewaltverzicht, absolute Wahrhaftigkeit des Redens oder Verzicht auf Richten. Die Bergpredigt scheint jedenfalls kein Text zu sein, der von einer bestimmten Kirche, von einer einzelnen religiösen Gruppierung oder von einem einzelnen Volk mit Beschlag belegt werden kann, sondern sie drängt darüber hinaus. Von diesen drei Ebenen der Ökumene möchte ich in den folgenden Abschnitten sprechen. Wenn ich dabei – abgekürzt – von „Bergpredigt“ spreche, schliesse ich immer zwei zeitliche Ebenen ein. Ich spreche einerseits von Jesus. Auf ihn geht vermutlich ein Grossteil der in der Bergpredigt zusammengestellten kurzen Aussprüche zurück. Der Evangelist hat die Worte Jesu gesammelt und daraus die Bergpredigt komponiert. Er hat dazu auch schriftliche Quellen benützt – aber das Arrangement der ganzen Bergpredigt geht weithin auf ihn selbst zurück. In seinem Evangelium funktioniert die Bergpredigt als die erste, programmatische Rede Jesu, welche die Basis der Missionsverkündigung seiner Gemeinde ist. „Lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe“ befiehlt der auferstandene Jünger seinen Jüngern auf dem Berg in Galiläa im letzten Vers seines Evangeliums (28,20). Die meisten Gebote Jesu stehen in der Bergpredigt. Von Jesus und Matthäus spreche ich also heute. Alles, was zeitlich dazwischen liegt, lasse ich weg. Ich spreche also nicht von der mündlichen Überlieferung der Worte Jesu auf Aramäisch und auf Griechisch; ich spreche nicht von der

5. Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive

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sogenannten Spruchquelle Q. Alles das lasse ich weg, um die Sache nicht zu kompliziert zu machen. Ich beginne mit der zweiten Perspektive, der jüdisch-christlichen Ökumene.

II Der grosse holländische Humanist Hugo Grotius (17. Jh.) schrieb einst vom Unservater, in ihm stehe alles, was in den Gebeten der Hebräer lobenswert sei. Der Erlöser sei jeder Sucht nach unnötiger Neuerung abhold gewesen und habe darum ein jüdisches Gebet formuliert.3 In der Tat waren es die Humanisten und Aufklärer, welche die Möglichkeit einer christlich-jüdischen Ökumene bei der Bibellektüre wieder entdeckten. Sie schlossen darin nicht nur den Tanach bzw. das christliche Erste Testament, sondern auch den Juden Jesus und grosse Teile des Neuen Testaments ein. In Bezug auf das Unservater würden wir heute sagen, dass es zwar ein ganz jüdisches, aber zugleich ein unverkennbar jesuanisches Gebet sei. Jesuanisch an ihm ist z. B. die betonte und sehr schlichte „Vater“-Anrede zu Beginn, die aus der Perspektive armer Taglöhner formulierte Bitte um das Brot für morgen und die Betonung der Vergebungsbitte, welche menschliches Handeln in das Gebet einschliesst: „wie auch wir vergeben haben unsern Schuldnern“. Jesuanisch ist sicher auch die grosse Schlichtheit der Bitten. Gut zu Jesus passt auch die grosse Offenheit in ihrer Formulierung – sie sind so formuliert, dass viele und auch recht verschiedene Menschen dieses Gebet sprechen und mit ihren eigenen Inhalten füllen können. Aber alles Jesuanische ist nicht unjüdisch, sondern eine der innerhalb des damals noch sehr wenig normierten Judentums schlummernden Möglichkeiten. Ich wähle als zweites Beispiel die erste Antithese, Mt 5,21–26. Im Moment interessiert mich daran nur die eigentliche Antithese Mt 5,21 f  – über die sogenannte Antithesenformel spreche ich später. Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen. Wer aber zu seinem Bruder sagt: „Hohlkopf“, soll dem Synhedrium verfallen! Wer aber sagt: „Dummkopf“, soll der Feuerhölle verfallen! (Mt 5,21 f)

Solche Sätze sind gut jüdisch und vor allem in weisheitlichen Ermahnungen häufig anzutreffen. Zorn ist für die Rabbinen etwas ganz Schlimmes. Im Zorn verlässt einen Weisen seine Weisheit, sodass sogar Moses selbst die Halakah vergessen hatte, als er in Zorn geriet.4 Wer seinem Nächsten „Sklave“, oder „Bas-

3 Hugo Grotius, Annotationes in Novum Testamentum, 2 Bde, Nachdruck Groningen 1826/27, I 223. 4  Pes 66b = Bill. I 277. Die Warnungen frühjüdischer Weisheitslehrer vor dem Zorn sind zahllos; besonders häufig sind sie in den Test XII anzutreffen.

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tard“ sagt, soll vierzig Geisselhiebe bekommen und in den Bann getan werden.5 Und wer seinen Nächsten öffentlich beschämt, dem nützen Torahkenntnis und gute Werke nichts – er hat keinen Anteil an der künftigen Welt. Die Warnungen frühjüdischer Weisheitslehrer vor dem Zorn sind zahllos.6 Gibt es hier etwas, was Jesus von anderen Juden unterscheidet? Nur wer Judentum als äusserliches Rechtssystem versteht, welches das ganze Leben, das Verbotene und das noch Erlaubte, ganz genau regelt, kann sagen, das absolut Besondere an Jesus sei gewesen, dass er „den Willen Gottes aus der Versteinerung der Rechtstafel“ befreit und nach dem „Herzen des Menschen“ gegriffen habe.7 Aber hier zeigt sich ein christliches Cliché des Judentums: Auch für die Rabbinen war die Torah der lebendige Gotteswille, der nach dem Herzen des Menschen griff und Gehorsam des ganzen Menschen forderte. Auch für die Rabbinen gehörte die Paränese ebenso zur lebendigen Torah wie die Halakah, die bindende Rechtsvorschrift. Auch die Rabbinen, nicht nur Jesus, waren Erben der Weisheit. Natürlich ist es richtig, dass Jesus besonders radikal formuliert hat – aber als Jude. Wenn man schon einen Unterschied zwischen Jesus und den Rabbinen finden will, dann müsste man eher auf das Ganze seiner Verkündigung gehen und sagen: Auffällig an Jesus ist, dass er sich für die Halakah überhaupt nicht und für die Paränese ausschliesslich interessiert hat. Aber damit steht Jesus in der Tradition sowohl der Propheten als auch der jüdischen Weisheitslehrer, die sich auch nicht für die Halakah interessiert haben. Jesus war zwar kein Schriftgelehrter, aber er war Jude. Und trotzdem bleibt hier für Juden ein Problem. Jacob Neusner hat es folgendermassen formuliert: „Jesus … has spoken to me, but not to us; there is no dimension of holy and eternal Israel in his reading of the Tora’s fundamental teaching“.8 Joseph Ratzinger sieht das ähnlich, aber wertet es ganz anders: Nach ihm hat Jesus, der sich an den Einzelnen wandte, „die konkreten politischen und sozialen Ordnungen … aus der gottesrechtlichen Gesetzgebung entlassen und der Freiheit des Menschen übertragen“9 und so den Gotteswillen universalisiert. Ich komme zu einem dritten Beispiel, nämlich der vierten Antithese gegen den Eid Mt 5,33–37. Dieser Text ist vermutlich ursprünglich nicht als Antithese formuliert gewesen; der ursprüngliche Traditionsbestand ist am ehesten in Jak 5,12 erhalten, der Mt 5,37 weitgehend entspricht: Vor allem, meine Brüder, schwört nicht,   weder beim Himmel, noch bei der Erde, noch irgend einen andern Eid,  Qid 28a = Bill. I 280.  Vgl. z. B. Av 3,11: Wer öffentlich den Nächsten beschämt, hat auch bei Torahkenntnis und guten Werken keinen Anteil an der künftigen Welt; BM 58b: Wer seinen Nächsten öffentlich beschämt, ist wie einer, der Blut vergiesst. 7 Günther Bornkamm, Jesus von Nazareth, UB 19, Stuttgart 1956, 96. 8 Jacob Neusner, A Rabbi talks with Jesus, New York etc. 1993, 83. 9  Joseph Ratzinger (Benedikt XVI), Jesus von Nazareth I, Freiburg / ​Basel / W ​ ien 2007, 151. 5 6

5. Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive

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Vielmehr sei euer Ja ein Ja und euer Nein ein Nein,   damit ihr nicht unter das Gericht fällt. (Jak 5,12)

Kritik am Eid ist nicht nur in der jüdischen, sondern auch in der griechischen Überlieferung geübt worden. Im Judentum hat sich der Alexandriner Philo hier besonders pointiert geäussert. Er geht vom 3. Gebot aus, also der Heiligkeit des Gottesnamens, und sagt: „Das blosse Wort eines wackeren Mannes soll ein Eid sein“.10 Wahres Schwören ist nur die zweitbeste Möglichkeit.11 Auch die Essener lehnten nach dem Bericht des Josephus den Eid ab12 und waren deshalb von Herodes vom Untertanen-Treueid befreit. Allerdings haben sie – oder wenigstens einige Gruppen unter ihnen – dennoch vor Gericht Eide geschworen.13 Für das Judentum insgesamt gibt es aber kein Eidverbot. Jesus hat also hier eine Möglichkeit, die es im Judentum auch gab, aufgegriffen. Ob Jesus mit seinem Verbot auch z. B. Gerichtseide treffen wollte, oder ob er sich – wie vielleicht die Essener – nur gegen das private Schwören richtete, können wir nicht mehr sicher sagen. Ob sein Verbot irgendwelche Konsequenzen für das öffentliche Leben haben sollte, wird also aus dem Text nicht ersichtlich. Auch hier gilt aber wohl die Beobachtung von Neusner, dass sich Jesus für die Gestaltung des Alltags des „heiligen Israel“ nicht zu interessieren scheint. Ihn interessiert allein die Wahrheit von Gottes Willen. Er ist, um eine Unterscheidung von Max Weber aufzunehmen, radikaler „Gesinnungsethiker“,14 dem die Wahrheit seines Handelns alles bedeutet und der sich um die Folgen seines Handelns kaum kümmert. Hat das mit Jesu Hoffnung auf das nahe Gottesreich zu tun, das der Welt ein Ende setzt? In der vierten Antithese ist auch das nicht angedeutet. Der nächste Text, den wir kurz anschauen wollen, sind die drei Aufforderungen zu radikaler Gewaltlosigkeit, aus denen Matthäus seine fünfte Antithese gebildet hat: Wer dich auf die rechte Backe schlägt,   biete ihm auch die andere! Dem, der mit dir prozessieren und dein Untergewand nehmen will,   lass ihm auch den Mantel! Wer dich zu einer Meile Frondienst zwingt,   geh mit ihm zwei! (Mt 5,39–41)

Solche Sätze knüpfen an verbreitete griechische und jüdische Mahnungen zum Gewaltverzicht an. Besser ist es, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun!15 Aber  Philo, Spec Leg 2,2.  Philo, Spec leg 4,40; Decal 93; Decal 84. 12  Josephus, Bellum Judaicum II 135; vgl. Philo, Omn Lib Prob 84. 13  CDC 9,8–12; 15,3 f. 14 Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte politische Schriften, Tübingen 21958, 539 15  Vgl. z. B. Spr 24,29; weitere antike Belege bei Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I, Neukirchen / D ​ üsseldorf 52002, 387 Anm. 26–28. 10 11

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

es fällt auf, wie provokativ hier Jesus formuliert. Die rhetorische Stärke dieser Befehle liegt im Überraschungsmoment: Man soll sich gerade nicht so verhalten, wie es der andere von einem erwartet. Gewaltlosigkeit ist hier nichts Passives, sondern etwas sehr Aktives. Es geht um gewaltlosen Widerstand. Gewaltlosigkeit ist nicht Hinnehmen von Gewalt, sondern Protest des unterdrückten Schwachen gegen sie. Das ist meines Erachtens etwas sehr anderes als was wir in antiker und jüdisch-weisheitlicher Ethik finden. Es fällt auch schwer, diese drei Mahnungen auf den privaten Bereich zu begrenzen und den Gedanken an Politik oder Recht draussen vor der Tür zu lassen. Es kann nicht zufällig sein, dass die drei Beispiele, die Jesus gewählt hat, aus drei verschiedenen Bereichen stammen, dem zwischenmenschlichen einer Schlägerei, dem juristischen eines Pfändungsprozesses und dem politisch-militärischen einer Frondienstleistung gegenüber der Besatzungsmacht. Hier muss man von einer erheblichen Transformation jüdischer und antiker Ethik sprechen. Das Wort „Kontrastethik“, das Gerhard Lohfink für die Bergpredigt braucht, drängt sich auf.16 M. E. denkt Jesus vom Reich Gottes her, wenn er mit diesen Beispielen widerständiger Gewaltlosigkeit Zeichen gegen alle Gewalt setzt, obwohl er nicht von ihm spricht. Aber das ist bei fast allen Geboten Jesu in der Bergpredigt so. Auch sonst fällt ja auf, dass Jesus vom kommenden Reich Gottes nur indirekt spricht. Er erzählt z. B. in seinen Gleichnissen, wie der Alltag durch das Gottesreich verändert wird. Mir fällt das Bild von einem Sonnenaufgang ein, der in einer Landschaft neue Konturen, neue Lichter und neue Schatten bewirkt. Jesus spricht vom Gottesreich, indem er von der Landschaft, also vom Leben hier und jetzt spricht. Er legt den Willen Gottes im Angesicht des nahen Gottesreiches aus, ohne auf die ihm entgegenstehenden oder ihn eingrenzenden menschlichen, politischen oder rechtlichen Gegebenheiten einzutreten. Ich komme jetzt zur Einleitungsformel in die Antithesen, die mindestens in zwei Fällen, nämlich bei der ersten und zweiten Antithese, alt ist und auf Jesus zurückgehen dürfte. Sie lautet in ihrer vollständigen Form: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde … Ich aber sage euch … (Mt 5,21 f)

Die Frage ist, ob diese antithetische Formulierung sich noch in irgend einer Weise dem zuordnen lässt, was in jüdischer Torahauslegung möglich bzw. üblich ist. Geht man von der matthäischen Formulierung aus, die wir natürlich nur auf griechisch erhalten haben, so richtet sich die Antithese gegen den Bibeltext und nicht gegen andere Auslegungen der Torah. „Es wurde gesagt“ ist bei Matthäus eine für Bibelzitate häufig gebrauchte Wendung: mit den „Alten“ ist wohl die Generation am Sinai gemeint. Hier stellt sich also der Sprecher, Jesus, der Torah gegenüber – er ordnet sich ihr nicht unter. Das ist stark – die Auto16

 Gerhard Lohfink, Wem gilt die Bergpredigt, Freiburg etc 1988, bes. 99 ff.

5. Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive

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rität des Sprechers ist ausserordentlich hoch. Auf der anderen Seite ist so etwas aber nicht völlig unmöglich im damaligen Judentum. Man darf nicht vergessen, dass die Mosetorah damals noch im Fluss war – sie wurde ständig abgeändert und partiell neu geschrieben. Dies geschah nicht nur in der Form von Auslegungen, sondern ganz direkt. Bücher wie das nachbiblische Jubiläenbuch oder die Tempelrolle, die man unter den Schriften von Qumran gefunden hat, sind Versuche, die Grundgeschichte Israels und auch die Sinaitorah noch einmal neu zu schreiben. Sehr auffällig ist aber, dass Jesus dies nicht tut, indem er sich quasi anonymisiert und in die Haut des Mose schlüpft, um nochmals eine neue Mosetorah zu schreiben; vielmehr tut er das ganz offen – in eigener Autorität: „Ich, Jesus, sage euch“. Er stellt sich Mose direkt gegenüber. Das ist schon sehr ungewöhnlich und m. E. im damaligen Judentum zwar verstehbar, aber doch einmalig. Es ist nicht zufällig, dass hier einige christliche Exegeten wie z. B. Gustav Dalman von einem „Eingriff in göttliche Prärogative“ gesprochen haben17 und dass Joseph Ratzinger als gläubiger Katholik  – nicht als wissenschaftlicher Exeget  – formuliert, dass hier Gott selbst, als Menschgewordener, durch den Sohn, „als Mensch zu den Menschen“ spreche.18 Andere versuchen, Jesus doch noch in die Reihe jüdischer Ausleger der Torah zu stellen und ihn als solchen zu verstehen, als Rabbi unter Rabbinen. Die Meinungen hierüber gehen quer durch die gar nicht mehr bestehenden Fronten jüdischer und christlicher Gelehrten. Steht Jesus also über der Torah oder unter oder neben ihr? Ich persönlich denke, dass eine Einordnung Jesu in die Reihe anderer jüdischer Torahausleger nicht leicht möglich ist. Zu besonders und zu stark ist dafür der Autoritätsanspruch Jesu. Er kommt in einem letzten Text aus der Bergpredigt, den ich noch erwähnen möchte, besonders deutlich zum Ausdruck, nämlich im Gleichnis von den Hausbauern Mt 7,24–27. Hier sagt Jesus: „Jeder, der meine Worte hört und sie tut, der gleicht einem Mann, der sein Haus auf Fels“, bzw. im gegenteiligen Fall auf Sand gebaut hat. Der Sturm, der das auf den Sand gebaute Haus zerstört, ist das Weltgericht. Jesus bindet hier das Hören und Tun seiner Worte und das Schicksal eines Menschen im Endgericht direkt zusammen. Er sagt nicht, wie dies manche Rabbinen sagten: Wer die Torah studiert und sie tut …, sondern: Wer meine Worte hört und sie tut. Das ist schon unerhört. Jacob Neusner sagt zu Jesus: „It looks as though you see yourself as Moses, or as more than Moses“.19 Nicht nur ihn, sondern auch mich beunruhigt das: Denn der ausserordentlich hohe Selbstanspruch Jesu im Lichte des anbrechenden Reich Gottes hat mit dem späteren christlichen Absolutheitsanspruch, der sich in der Geschichte so verhängnisvoll ausgewirkt hat, einiges zu tun. 17  Gustav Dalman, Die Worte Jesu I, Nachdruck Darmstadt 1965, 258. Fortsetzung: „… dass er nicht wie Mose im Namen Gottes, sondern in eigenem Namen verkündet, was künftig rechtens sein soll“. 18  Ratzinger, Jesus von Nazareth I (o. Anm. 9), 97. 19  Neusner, A Rabbi (o. Anm. 8), 32.

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

Es ist hohe Zeit, dass wir uns nun endlich dem Evangelisten Matthäus und seiner Bearbeitung der Bergpredigt zuwenden. Auch er hat zur Frage, wie sich Jesus zur Torah stellt, eine klare Meinung. Er hat sie in einem Vorspruch zu den Antithesen, den er ihnen in 5,17–20 voranstellte, klar geäussert. Er lässt Jesus sagen: Denkt nicht, ich sei gekommen, um Gesetz und Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen (Mt 5,17).

Diesem Jesuswort fügt er zwei weitere an, eines, das zum Halten auch des geringsten Jota und des kleinsten Häkchens in der Torah auffordert (Mt 5,18), und eines, das demjenigen, der auch nur ein einziges ganz kleines Gebot auflöst, androht, der allerkleinste im Himmel genannt zu werden (Mt 5,19). Offensichtlich war man sich auch schon im frühen Christentum nicht einig, wie denn eigentlich Jesu Stellung zur Torah aufzufassen sei. Es gab Leute, welche sagten, dass mit Jesus das Ende der Torah gekommen sei und dass die ganze Torah mit allen Einzelgeboten durch ein einziges Gebot ersetzt werde, nämlich die Liebe. „Das Gesetz Christi“, so nannte Paulus, der diese These vertrat, dieses neue Gebot (Gal 6,2). Matthäus ist gar nicht dieser Meinung Er ist vielmehr der Meinung, dass Jesus die Torah erfüllt habe und dass sie deshalb auch von den Menschen in allen ihren Geboten erfüllt werden müsse, mit der Liebe als Mitte, aber bis zum letzten Jota und Häkchen. Vielleicht ist es – ohne dass Matthäus das explizit sagen würde – Paulus gewesen, den er in 5,19 „den Geringsten im Himmelreich“ nennt.20 Matthäus sieht Jesus viel jüdischer als Jacob Neusner und Joseph Ratzinger. Als Jude, der im ersten Jahrhundert lebte, stand er ihm vielleicht näher als wir Späteren. Damit sind wir ein bisschen in den jüdisch-christlichen Dialog über Jesus eingetaucht, den die Bergpredigt ermöglicht. Er ist noch nicht beendet und sein Resultat ist offen.

III Ich komme zur zweiten Perspektive des ökumenischen Dialogs über die Bergpredigt, zur innerchristlich-konfessionellen. Dabei ist für mich der Streit um die Bergpredigt, der zwischen den beiden grossen Konfessionen des Westens, der katholischen Kirche und den protestantischen Volkskirchen, stattgefunden hat, nicht der wichtigste. Mit scheint vielmehr, dass die Auslegungsgeschichte der Bergpredigt in der Alten und mittelalterlichen Kirche und in den Reformationskirchen in gewisser Weise parallel verlaufen sei. Am Anfang stand in der Alten Kirche wie in den reformatorischen Kirchen die Überzeugung, dass die Berg20  So z. B. Hans Dieter Betz, The Sermon on the Mount, Hermeneia, Minneapolis 1995, 188 f.

5. Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive

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predigt für alle Christinnen und Christen gelte. In der Alten Kirche dominierte ein perfektionistischer Auslegungstyp, der am eindrücklichsten von Johannes Chrysostomus und Augustin vertreten wird.21 Die Gebote der Bergpredigt sind erfüllbar und gelten für alle Christinnen und Christen. Die Erfahrungen der Kirche, die nach der konstantinischen Wende zur Volkskirche wurde, zeigten dann allerdings, dass dieses Ziel nicht zu erreichen war. So wurde das perfektionistische Ideal auf verschiedene Art und Weise gemildert. Der bekannteste Milderungsversuch ist die sog. Zweistufenethik, die im vierten Jahrhundert entstand und die sich seit dem Hochmittelalter mehr und mehr durchsetzte.22 Ihre klassische Form hat die Zweistufenethik in der westlichen Kirche in der Unterscheidung zwischen den für alle geltenden Geboten und den „Evangelischen Räten“ für Priester und Mönche gefunden. Auch nach den Reformatoren gelten die Gebote der Bergpredigt für alle. Aber bereits Luther sah, dass ihre Durchführung im öffentlichen Leben nicht möglich sei. Dies führte ihn zur Unterscheidung der zwei Reiche. Seine These war, dass „Christus … gar nicht handlet vom weltlichem regiment und ordnung, sondern wil allein von dem geistlichen reden, wie man ausser und über das eusserliche fur Gott leben soll“.23 Die Bergpredigt gelte also allein den Christen, lehre aber nichts darüber, wie man sich in äusserlichen Relationen, also als Richter, Erzieher, Soldat, Fürst etc. im äusserlichen Reich der Welt, zu verhalten habe. Da aber alle Menschen in äusserlichen Beziehungen und nie einfach für sich leben, führte dieser Ansatz mit einer gewissen Notwendigkeit zur Gesinnungsethik: Die Bergpredigtgebote zielen auf den inneren Menschen, auf seine Gesinnung, sein Gewissen, aber nicht oder nur mittelbar auf seine Praxis. Im Endeffekt läuft das auf eine Ausserkraftsetzung der Bergpredigt im lutherischen Protestantismus hinaus, die noch viel durchgreifender war als im Katholizismus, wo nach der Ausklammerung der „Evangelischen Räte“ für das gewöhnliche Volk wenigstens eine sehr milde Form perfektionistischer Ethik erhalten blieb. Im Calvinismus war die Entwicklung etwas anders: Calvin kann sich Christus „nicht als neuen Gesetzgeber vorstellen, der zu der ewigen Gerechtigkeit seines Vaters etwas hinzufügen will, sondern er ist wie ein getreuer Ausleger anzuhören, da-

21  Johannes Chrysostomus, Kommentar zum Evangelium des hl. Matthäus, 4 Bde, BKV I / ​23.25.26.27, München 1915/16. Die Auslegung der Bergpredigt ist in den Predigten 15–24 enthalten; Augustinus, De Sermone Domini in Monte, PL 34, 1230–1308; übers. Albert Schmitt, Augustinus zur Bergpredigt, St. Ottilien 1952. 22  Ein klassisches Dokument dieser Zweistufenethik ist das syrische „Stufenbuch“ aus dem 4. Jahrhundert. Es unterscheidet zwischen „grossen Geboten“, z. B. den Antithesen der Bergpredigt, welche nur für die Vollkommenen, d. h. die Asketen verpflichtend sind, und den „kleinen“, z. B. dem Nächstenliebegebot, das für alle gilt. 23  Martin Luther, Das fünffte, sechste und siebend Capitel S. Matthaei gepredigt und ausgelegt (1532), WA 32, 299–555, dort 307.

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mit wir erfahren, wie das Gesetz beschaffen ist“.24 So legt er immer wieder die Gebote der Bergpredigt vom Alten Testament her aus, nicht umgekehrt. Damit kann er ihre Gültigkeit auch für den öffentlichen Bereich festhalten, aber nicht, ohne ihre radikalen Spitzen abzubrechen. Jacob Neusner und andere Rabbinen hätten Freude an Calvin, wenn sie ihn kennen würden. Faktisch hat es also in allen grossen Volkskirchen eine Tendenz zur Milderung, zur Domestikation, bis hin zur faktischen Ausserkraftsetzung der Bergpredigt gegeben. Ihre Erfahrungen zeigten, dass sich die Gebote der Bergpredigt sich nur dann realisieren lassen, wenn die Kirche eine kleine, überschaubare Gemeinschaft ist, zu der man gehörte, weil man sich dem einzigen Lehrer Jesus gegenüber verpflichtet wusste. So war es in der Kirche des Matthäus und so blieb es bis zur konstantinischen Wende. Die Volkskirchen haben es darum angesichts der Bergpredigt schwer. Man kann nicht zugleich das Salz in der Suppe und die Suppe sein. Ihnen gegenüber standen in vielen Epochen der Kirchengeschichte kleine Minoritätskirchen mit einem verpflichtenden Ethos und einem starken inneren Zusammenhalt, wie die matthäische Kirche eine war: Dazu gehören vor allem in der Zeit der sog. „Ersten Reformation“ Armutsbewegungen, wie die Franziskaner und die Waldenser, etwas später die Wyclifiten und die Hussiten. Seit dem 16 Jahrhundert gehören die Anhänger der „Radikalen Reformation“ dazu: die Täufer,25 später die Quäker und die frühen Methodisten. In der Terminologie der Religionssoziologen, die vor allem von Ernst Troeltsch und Max Weber geprägt ist, müsste man bei diesen Gemeinschaften von „Sekten“ sprechen.26 Besonders eindrücklich geworden sind mir bei meiner Arbeit an der Wirkungsgeschichte der Bergpredigt die Schweizerischen Täufer des 16.–18. Jahrhunderts, welche von ihren reformierten städtischen Obrigkeiten gnadenlos verfolgt wurden. Sie waren einfache Leute, meistens Bauern und keine Theologen. Einen hermeneutischen Schlüssel zur Bibel hatten sie keinen – es sei denn, dass man ihr einfaches Festhalten am Wortsinn der Texte für einen solchen ansehen will. „Christus ist einfältig ja und nein, und alle, die ihn einfältig suchen, werden sein Wort verstehen“, heisst es im Schleitheimer Bekenntnis der schweizerischen und süddeutschen Täufer von 1527.27 Ähnlich wie der matthäische Jesus gegenüber der Torah so vertraten auch die Täufer die Gültigkeit aller Gebote Jesu, an denen es nichts wegzudiskutieren gibt. Auch 24  Johannes Calvin, Auslegung der Evangelien-Harmonie I, übers. v. Hiltrud Stadtland-Neumann / ​Gertrud Vogelbusch, Neukirchen 1966, 185. 25  Vgl. Hugh Barbour, The Sermon on the Mount in the Radical Reformation, in: Milan Opocensky (Hrsg.), Towards a Renewed Dialogue. The First and Second Reformations, SWARC 30, Genève 1966, dort 85–121. 26 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften 1, Tübingen 31923. 27  Artikel 7. Text in: Heinold Fast, Der linke Flügel der Reformation, KlProt. 4, Wuppertal 1988, 69 f.

5. Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive

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sie vertreten, wie Jesus in Mt 5,18 f, das Prinzip, dass alle, auch die kleinsten Gebote Jesu zu halten sind. Es war für mich immer wieder eindrücklich und erstaunlich, wie nahe sie matthäischen Verständnis des Glaubens gekommen sind: Christ sein, bedeutet, die Worte Jesu zu hören und zu tun (Mt 7,24–27). Radikale Praxis der Bergpredigt ist offenbar fast nur in einer überschaubaren engen Gemeinschaft möglich. Die Unmöglichkeit für grosse Volkskirchen, ihr entsprechend zu leben, ist aus mathäischer Sicht eine Anfrage an diese Gestalt der Kirche. Ich stelle nun die Bergpredigtrezeption der Grosskirchen einerseits Jesus, andererseits der matthäischen Bergpredigt gegenüber. Für Jesus müssen einige grundlegende Bemerkungen genügen. Jesus bedeutet eine grundsätzliche Anfrage an alle Kirchen. Er war Verkünder des nahe herbeigekommenen Gottesreichs, das dieser Welt ein Ende setzen wird und das in seinem eigenen Wirken schon einen zeichenhaften Anfang nahm. Das in den Logien der Bergpredigt sichtbar werdende radikale Ethos setzt eine Welt voraus, die im Lichte dieses anbrechenden Gottesreichs neue Konturen, neues Licht und neue Schatten erhält. Das Gottesreich verkündete Jesus als Jude und für Israel; an eine von Israel getrennte Kirche dachte er nicht. Dass dieser Jesus nach seinem Tod in sehr kurzer Zeit zum Stifter und zur Erlösergestalt einer mehrheitlich aus Heiden bestehenden Kirche werden konnte, bedeutete eine gewaltige Transformation. Viele der sogenannten Religionsstifter sind erst posthum, nach ihrem Tode zu Stiftern von neuen Religionen geworden, aber ich denke, dass die nach ihrem Tode einsetzende Transformation bei keinem so rasch erfolgte und so gross gewesen ist wie bei Jesus. Das hatte natürlich Folgen: Die Anpassung radikalen Ethik an die bürgerliche Welt, deren Beginn wir schon bei Paulus und seinen Nachfahren beobachten können, war eine davon; die schroffe Abgrenzung der Kirche gegenüber Israel, das diesen Jesus in seiner Mehrheit ablehnte, eine andere. Beide Folgen sind nachhaltig. Der jüdische Gottesreichverkünder Jesus lässt sich eben nicht so leicht in einen Religionsstifter umwandeln. Ich will damit nicht sagen, dass diese Entwicklung einfach negativ zu bewerten sei. Wir alle verdanken ihr schliesslich unsere eigene christliche und kirchliche Identität. Aber es wäre gut, wenn sich die christliche Theologie mit dem Umbruch, der am Anfang der Geschichte ihres Christusglaubens passiert ist, offener auseinandersetzen würde. Nicht zuletzt dem ökumenischen Dialog mit Israel käme eine solche Offenheit zu gute. Ich komme zur matthäischen Bergpredigt. Wie die Bergpredigtinterpreten der Alten Kirche denke ich, dass sie grundsätzlich perfektionistisch zu interpretieren ist. Dies gilt vor allem für die Antithesen. Matthäus hat sie eingerahmt durch zwei Sätze, die ganz oder weitgehend von ihm formuliert sind. Am Anfang steht 5,20: Ich sage euch nämlich: Wenn eure Gerechtigkeit nicht die der Schriftgelehrten und Pharisäer weit übersteigt, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

Wichtig ist mir hier das quantitativ formulierte „weit übersteigt“. Matthäus fordert von seiner Gemeinde eine bessere Gerechtigkeit als die seiner jüdischen Gegner, aber keine absolute Vollkommenheit. Von der Vollkommenheit ist erst am Ende der Antithesenreihe in 5,48 die Rede: Seid nun vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!

„Vollkommenheit“ bedeutet in jüdischem Kontext einerseits ungeteilten, ganzheitlichen Gehorsam, andererseits vollständige Gebotserfüllung. Hier formuliert Matthäus sein Ziel. Praxis der Antithesen heisst also für ihn Unterwegssein zur Vollkommenheit. Nur wenige Jahrzehnte nach Matthäus nimmt der Verfasser der Didache, einer Kirchenordnung aus dem frühen zweiten Jahrhundert, die aus einer unzweifelhaft matthäisch geprägten Gemeinde stammt, auf diese Stelle Bezug und sagt: Wenn du nämlich das ganze Joch des Herrn zu tragen vermagst, wirst du vollkommen sein; wenn du es nicht vermagst, so tu, was du kannst! (Did 6,2)

Dieser frühe Interpret der Bergpredigt hat gut erfasst, worum es Matthäus geht: Nicht das Erreichen des Ziels ist das Entscheidende, sondern das Gehen auf dem Weg dahin. Das entspricht der perfektionistischen Matthäusinterpretation der Alten Kirche und tönt sehr wenig protestantisch. In der Tat entspricht die matthäische Bergpredigt dem protestantischen Grundpostulat, dass der Zuspruch der unverdienten Gnade Gottes den Vorrang vor dem menschlichen Handeln haben müsse, in keiner Weise. Matthäus ist Jude. Für ihn gibt es keinen Gegensatz zwischen Gebot und Gnade. Für ihn ist es ein Geschenk, Gebote zu haben, welche als Leitlinien für die Jesusgemeinde auf ihrem Weg funktionieren, Für ihn ist es grundlegend, dass der Wille Gottes eine gute, heilsame Gabe ist. Gott, der himmlische Vater ist denen nahe, die sich um die Gerechtigkeit mühen. Darum hat der Evangelist das Unservater-Gebet, das von dieser Nähe Gottes getragen ist, genau in die Mitte seiner Bergpredigt gestellt. Erlauben Sie mir noch eine Schlussbemerkung. Ich sprach davon, dass in der Kirchengeschichte keine christliche Gemeinschaft der matthäischen Gestalt der Kirche und der in ihr möglichen Praxis der Bergpredigt so authentisch nahe gekommen sind, wie diejenigen, die aus der ersten Reformation und aus der radikalen Reformation entstanden sind: Franziskaner, Waldenser, Wyclifiten, Hussiten, Täufer, Quäker. Fast alle sind von unseren Grosskirchen ausgeschlossen und teilweise grausam verfolgt worden. Auch das ist eine sehr ernste kritische Anfrage an die Grosskirchen. Ich denke, dass unsere weltförmigen Kirchen das Zeugnis derjenigen, die die Bergpredigt wirklich ernst nehmen und so vielleicht Zeichen für das Reich Gottes setzen, dringend bräuchten.

5. Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive

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IV Ich komme zur dritten Dimension der Ökumene, der universalen. Ich will mich hier kurz fassen und mich darauf beschränken, aus der Sicht der Bergpredigt selbst vier Hinweise zu geben, welches mögliche Gründe sein könnten, warum sie für Menschen weit über die Kirche hinaus so faszinierend ist. 1. Ich fange mit Äusserlichkeiten an. Die meisten Texte der Bergpredigt sind sind einfach und unmittelbar verständlich. Sie setzen keine z. B. schriftgelehrten Kenntnisse voraus. Sie sind unmittelbar erfahrungsbezogen. Jede und jeder versteht z. B., was der Splitter im Auge eines anderen Menschen ist und der Balken im eigenen (Mt 7,3–5). Jedem leuchtet ein, dass ein Vater seinem Kind nicht die Bitte um ein Stück Brot abschlägt (Mt 7,9). Dazu kommt etwas Zweites. Die meisten Texte der Bergpredigt sind sehr offen formuliert. Ich habe das schon beim Unservater angedeutet: Alle, die es beten, können ihre eigenen Vorstellungen mitbringen und finden damit in den Worten des Unservaters Platz. Etwas Ähnliches gilt für viele Gebote der Bergpredigt: Sie sind oft allgemeine radikale Maximen, die vom Hörer mit seinem eigenen Lebenskontext gefüllt werden müssen. Oder sie sind konkrete Beispiele, welche die Hörer und Hörerinnen einladen, ein analoges Verhalten zu erfinden. 2. Die meisten Bergpredigttexte setzen keine religiösen Vorbedingungen. Das kann man z. B. an den Seligpreisungen zeigen. Jesus sagt: „Glücklich sind die Armen! Glücklich sind die Hungrigen! Glücklich sind die Weinenden!“ (Lk 6,20 f). Die Glücklich-Gepriesenen brauchen weder Israeliten, noch Jesu Anhänger zu sein. Auch für die matthäische Version der Seligpreisungen, die sehr viel stärker ethisch akzentuiert ist, gilt dasselbe: „Glücklich sind, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten! Glücklich sind die Barmherzigen! Glücklich sind die Gewaltlosen! Glücklich sind die Friedensstifter!“ Auch hier kann jede und jeder sich selbst einschliessen – jeder kann und soll z. B. Friedensstifter werden. Anders ist es erst bei der letzten matthäischen Seligpreisung: „Glücklich seid ihr, wenn sie euch beschimpfen und verfolgen und lügnerisch alles Böse gegen euch sagen um meinetwillen“ (Mt 5,11). Hier gibt es eine religiöse Vorgabe. Sie steckt in dem „um meinetwillen“. Hier sind nicht mehr alle Verfolgten angesprochen, sondern nur die verfolgten Christen. Hier gibt es keine Universalität mehr. Aber solche Texte sind in der Bergpredigt die Ausnahme, nicht die Regel. Woran liegt das? Bei Jesus liegt es daran, dass er alle in Israel ansprechen wollte, die Benachteiligten, Randsiedler und Ausgeschlossenen ganz besonders. Er stellte keine Bedingungen. Er wollte gerade nicht eine eigene Schule oder eine besondere Gemeinschaft28 gründen. Israel war für ihn ganz offen. Bei Matthäus liegt es daran, dass sein Christentum ein Christentum der Tat ist, nicht 28

 Wie z. B. die chaburah der Pharisäer oder der jachad der Essener.

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I. Studien zur neutestamentlichen Theologie

der Lehre. Er lässt Jesus sagen: „Nicht jeder, der mir sagt ‚Herr,Herr‘ wird ins Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut“ (Mt 7,21). Diese Chance hat jeder. Anders als in den meisten heutigen Kirchen kommt es bei Matthäus auf die rechte Praxis und nicht auf die rechte Lehre an und schon gar nicht auf bestimmte rechtliche Strukturen. 3. Mein dritter Punkt ist die Art und Weise, wie Jesus über das Gottesreich spricht, das er erwartete und erhoffte. Ich verglich das Reich Gottes mit der Sonne, die aufgeht und ihre ersten Strahlen über das Land wirft und sie dadurch verändert. Das geschieht in Jesu ethischer Verkündigung mit dem Alltag – im Lichte des ankommenden Reiches Gottes gewinnt er neue Konturen und Farben und die Kontraste werden deutlicher. Nun ist es mit dem Reich Gottes ja eine schwierige Sache: Alle hatten darüber ihre eigenen Vorstellungen und ihre eigenen Hoffnungen; und viele heutigen Menschen können gar nichts mit solchen Vorstellungen anfangen. Jesus verbindet nur ganz selten, in den Texten der Bergpredigt fast nie, seine Forderungen mit dem Gottesreich. Um im Bild zu bleiben: Jesus spricht nicht von der Sonne, sondern von der Landschaft, d. h. von der Erfahrungswelt, die durch sie in ein neues Licht getaucht wird. Dieses Licht ist fazinierend und trifft in vielen Fällen tiefe menschliche Sehnsüchte. Sich auf das menschliche Wort voll und ganz verlassen zu können – das wäre grossartig! Friedensstifter müssten alle Menschen sein! Eine Welt, in der die Armen satt werden und die Weinenden lachen können, eine Welt ohne Gewalt  – danach sehnen alle Menschen sich. In die Sonne brauchen die Hörer Jesu dabei nicht direkt zu blicken und über irgendwelche Vorstellungen über das Gottesreich brauchen sie nicht zu streiten, aber das Licht, in das die Welt in den Strahlen der aufgehenden Sonne des Gottesreichs getaucht ist, leuchtet – im buchstäblichen Sinn des Wortes – ein. 4. Im Abschnitt über den christlich-jüdischen Dialog habe ich über das Problem der Autorität Jesu gesprochen, die in dem „ich aber sage euch“ steckt, und die für viele jüdische und nichtjüdische Ohren masslos und sich-selbstverabsolutierend ist. Seine eigenen Worte zum Fundament eines Hauses zu erklären – das geht doch nicht! Sich zum einzigen Lehrer erklären (Mt 23,8), das befremdet. Ich möchte das jetzt nicht wegwischen, aber es gibt hier noch einen anderen Aspekt.29 Was kommt in den Antithesen nach dem „ich aber sage euch“? Jeweils nicht eine Sonderlehre, nicht eine einzig-richtige Auslegung der Torah, nicht die Aufrichtung einer neuen heteronomen Autorität. Sondern es kommt etwas, was jedem einleuchtet, z. B. „Euer Ja sei ein Ja und euer Nein ein Nein“ (Jak 5,12; vgl. Mt 5,37). Oder es kommt eine radikale, aber allgemeine Leitlinie des Handelns wie etwa in Mt 5,44 f: Lieben, nicht hassen, soll man 29 Für den folgenden Abschnitt ist mir wichtig: Hans Weder, ‚Ich aber sage euch‘– Zur Begründung der Gesetzesauslegung Jesu in der Bergpredigt, in: ders., Einblicke ins Evangelium, Göttingen 1992, 201–217.

5. Die Bergpredigt (Mt 5–7) in ökumenischer Perspektive

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seine Feinde! Als Begründung folgt dann eine Erfahrung, die alle nachvollziehen können: Auch Gott schenkt seine Sonne und seinen Regen allen Menschen, nicht nur den Guten. Oder ich erinnere an die drei Aufforderungen zur Gewaltlosigkeit Mt 5,39–41: Sie sind exemplarische Gebote, keine Vorschriften. Gewaltlose Protestzeichen gegen die Gewalt kann man immer nur selbst erfinden, analog zu den drei Beispielen, die Jesus gegeben hat, Kurz: Nach dem „ich aber sage euch“ richtet Jesus – fast immer – keine neue Autorität auf, sondern er formuliert radikale Grundsätze oder setzt Beispiele, nach denen jede und jeder das eigene Handeln selbst gestalten muss. Das, was nach dem „Ich aber sage euch“ kommt, führt also in keine heteronome Abhängigkeit, sondern gibt die Richtung für eigenes, selbstbestimmtes Handeln an. Das ist für mich die positive Seite dieses „Ich aber sage euch“ Jesu. Alles das sind positive Potentiale für den universalen ökumenischen Dialog über die Bergpredigt. Ich kann sie noch etwas allgemeiner formulieren: Ein positives Potential für einen universalen ökumenischen Dialog über die Bergpredigt ist erstens ihre Verständlichkeit, ihre Einfachheit und ihre Bildhaftigkeit. Das zweite positive Potential ist die Unabhängigkeit ihrer Forderungen von irgendwelchen religiösen oder rituellen Vorbedingungen, wie sie Jesu Vision eines „offenen“ Israel entspricht. Das dritte positive Potential ist ihre Kompromisslosigkeit und ihre Radikalität, wie sie nicht nur dem durch weltliche Realitäten nicht gebrochenen Willen Gottes im Anbruch seines Reichs, sondern auch tiefen menschlichen Sehnsüchten nach Wahrheit, Gewaltlosigkeit, Ganzheit und Liebe entspricht. Damit versuche ich anzudeuten, was Jesus mit dem anbrechenden „Gottesreich“ gemeint haben könnte. Das vierte positive Potential, das sich mit dem ersten wieder berührt, ist die Evidenz seiner Forderungen, die zugleich eine klare Richtung des Handelns vorgeben und den Menschen als eigenes und selbst Gott verantwortliches Subjekt des Handelns ernst nehmen. Hier zeigt sich ein wichtiger Grundzug des – durch das Gottesreich radikalisierten – weisheitlichen Erbes Jesu.

II. Studien zur Ekklesiologie

6. Einleitung Viele der folgenden acht Aufsätze zur Ekklesiologie sind nicht aus wissen­ schaftlicher Distanz geschriebene Studien, sondern haben einen Aktualitätsbezug. Die Kirche ist mir zu wichtig, als dass ich über sie ohne persönliches Engagement schreiben könnte. In der Reformation hat man sich allein um Wort und Sakrament gekümmert und die konkrete Ausgestaltung der Kirchen den Landesfürsten bzw. den städtischen Obrigkeiten überlassen. Für diese trat das Neue Testament gegenüber den eigenen Machtinteressen in den Hintergrund. „Sola Scriptura“ schien in Bezug auf die Kirche für Luther und Zwingli nicht zu gelten und für Calvin nur bedingt. Wenn ich nun vom Neuen Testament her über unsere heutigen protestantischen Volkskirchen nachdenke, so wird zuerst der unendliche Abstand zwischen den Kirchen und Gemeinden im Neuen Testament und unseren heutigen Kirchen deutlich. Gewiss muss sich die konkrete Gestalt einer Kirche in neuen gesellschaftlichen Situationen ändern, aber ohne Versuch, sich dafür am Neuen Testament zu orientieren, sollte dies in protestantischen Kirchen nicht geschehen. Solche Versuche sind die folgenden Aufsätze. Sie betreffen oft für unsere Volkskirchen „sensible“ Punkte. Der erste Aufsatz „Charisma und Institution in neutestamentlicher Sicht“ (= Nr. 7) von 1989 geht zurück auf einen Gastvortrag in Jena. Der erste Abschnitt (I) beschäftigt sich mit Definitionen: Eine Definition von „Charisma“ ist relativ einfach, sofern man sich an Paulus (und nicht an Max Weber!) hält. Komplexer ist die Definition von „Institution“. Dafür gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten. Der Aufsatz wählt bewusst  – ausgehend von Berger / ​ Luckmann und Dombois  – ein weites Verständnis von Institution als lebensnotwendige, relativ langlebige, vom Menschen zu gestaltende und veränderbare Lebensordnung. Wichtig ist mir nicht nur die Institution als solche, sondern ebensosehr der Prozess des Instituierens. Der Konflikt zwischen Charisma und Institution ist ein spezifisch neutestamentlich-protestantisches Problem (Abschnitt II): Protestanten sind oft unbewusst von Rudolph Sohms Abneigung gegen kirchliche Rechtsordnungen geprägt und neigen dazu, „Charisma“ und „Institution“ als Gegensätze zu verstehen. Demgegenüber will dieser Aufsatz einen positiven Zugang zu Institutionen ermöglichen. Der dritte Abschnitt (III) „Neutstamentliche Streiflichter“ beschäftigt sich mit Paulus, dem Epheserbrief, den johanneischen Schriften, Matthäus, den neutestamentlichen Spätschriften und den Apostolischen Vätern. In den meisten Texten lassen sich das Wirken

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II. Studien zur Ekklesiologie

des Geistes und der Prozess des Instituierens einander zuordnen; Schwierigkeiten bereiten in unterschiedlicher Weise der 1. Clemensbrief und Ignatius. Der Schlussabschnitt (IV) „Zusammenfassung und Folgerungen“ bündelt die Ergebnisse christologisch: Charismen und institutionelle Prozesse gehören im Lichte des auferstandenen Christus, der lebendiger Geist ist, zusammen. Darum muss gerade das auf Christus sich berufende ius Divinum veränderbares Recht sein. Die Schlussthese des Aufsatzes, nach fast dreissig Jahren wieder gelesen, hat fast ein bisschen prophetischen Charakter. Jedenfalls scheinen wir heute dem, was ich damals als Zukunft der protestantischen Kirchen befürchtete, näher zu sein als 1989. Die folgenden beiden Aufsätze beschäftigen sich mit den Finanzen der Kirche, einem Thema, das nur sehr selten theologisch reflektiert wird, weil die Macht des Faktischen, das Vorhandensein von Immobilien bzw. die Möglichkeit, Kirchensteuern einzuziehen, die kirchliche Realität prägt. Das alles liess den Gedanken, dass die Kirchenfinanzen zur Ordnung und zum Zeugnis der Kirchen gehörten, und damit eine theologische Reflexion und eine Rückfrage nach dem Neuen Testament gar nicht aufkommen. Der erste der beiden Aufsätze „Die Kirche und ihr Geld im Neuen Testament“ (= Nr. 8) war Teil einer umfassenden interdisziplinären Untersuchung der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg.1 Sein erster Abschnitt (I) untersucht die den nachösterlichen Jesusanhängern vermutlich bekannten ausserchristlichen Analogien, nämlich die Finanzierung der Synagogen, die Besitzesgemeinschaft der Essener und das Finanzwesen antiker collegia. Der zweite, längste Abschnitt (II) geht in chronologischer Reihenfolge den neutestamentlichen Zeugnissen nach: Jesus, den nachösterlichen Wanderradikalen; Paulus, seinem Missionswerk und der „ökumenischen“ Diakonie für die Gemeinde in Jerusalem, Lukas und den Pastoralbriefen. Der dritte Abschnitt (III) bündelt die Ergebnisse: Die frühen Gemeinden haben die Finanzierungsmodelle aus ihrer Umwelt, der Synagogen oder der antiken collegia nicht übernommen. Das, was später „Diakonie“ genannt wurde, war die Wurzel und das Zentrum des kirchlichen „Finanzwesens“: Dazu gehörten lokale Fürsorge, „ökumenische“ Solidarität und die Finanzierung der vollzeitlich missionarisch tätigen „Arbeiter“ nach dem Armenrecht. Weitere Grundprinzipien des kirchlichen „Finanzwesens“ im Frühchristentum waren die prinzipielle Unterordnung des Privatbesitzes unter das Gemeindeinteresse und das Prinzip der Freiwilligkeit. Diese Grundpfeiler des Finanzwesens in den frühen Gemeinden haben mit ihrer Verkündigung des Evangeliums zu tun und sind deshalb Perspektiven, auf die hin sich auch heute die Entwicklung des kirchlichen Finanzwesens bewegen sollte.

1  Wolfgang Lienemann (Hg.), Die Finanzen der Kirche. Studien zu Struktur, Geschichte und Legitimation kirchlicher Ökonomie, FBESG 43, München 1989.

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Der nächste Aufsatz „Ekklesiologie und Gelder der Kirche“ (= Nr. 9) von 2001 nimmt diese Ergebnisse auf und spitzt sie auf die heutige Situation unserer Volkskirchen zu. Das Thema des Heftes der „Evangelischen Theologie“, aus dem er stammt, lautete – aktuell genug! – „Ekklesiologie im Sparzwang“. Der Eingangsabschnitt (I) skizziert zuerst die Situation einer Schweizer reformierten Kirchgemeinde, nämlich meiner eigenen. Resigniert stellt er fest, dass die Stimme des Neuen Testaments bei Kirchenleitungen dann, wenn es um Fragen der Finanzen geht, kaum jemanden interessiert. Abschnitte II und III fassen den vorangehenden Aufsatz zusammen und resümieren die Hauptlinien des neutestamentlichen Befundes. Daraus ergeben sich  – im Abschnitt IV  – die beiden Grundthesen des Aufsatzes: „Die sichtbare Gestalt der Kirche gehört zu ihrem Wesen. Darum ist auch die Gestaltung des Finanzwesens der Kirche eine Aufgabe, welche die Ekklesiologie zentral betrifft“ und „Von allen heutigen Modellen der Kirchenfinanzierung … ist keines so weit vom Neuen Testament und damit auch von dem, was seinen Verfassern für die Kirche wesentlich schien, entfernt, wie das Modell der Kirchensteuer“. Steuern werden vor allem für Aufgaben bezahlt, von denen sich der Steuerzahler durch die Steuer entlastet. Die Institution der Kirchensteuer hat darum eine grosse Affinität zu einer Versorgungskirche, während Finanzierungsmodelle, welche auf Freiwilligkeit basieren, eine Affinität zu einer Beteiligungskirche haben. Der Aufsatz schliesst mit ein paar praktischen Vorschlägen, wie man das volkskirchliche Kirchensteuersystem in eine Richtung verändern könnte, die zugleich dem Modell einer Beteiligungskirche und dem neutestamentlichen Zeugnis näher kommt. – Nach der Erstveröffentlichung dieses Aufsatzes im Jahre 2001 wurde ich vom Synodalrat, der Kirchenleitung der Reformierten Kirche Bern–Jura–Solothurn, zu einem Gespräch eingeladen. Die Quintessenz dieses Gesprächs lautete: „Sie haben ja schon Recht, aber sagen Sie es bitte nicht zu laut!“ Der Aufsatz „Das Problem der eucharistischen Gastfreundschaft in neu­ testamentlicher Sicht“ (= Nr. 10) erschien 2006 in Griechenland in der wichtigen internationalen Festschrift für Georg A. Galitis, einem Werk, das in kaum einer westeuropäischen Bibliothek greifbar ist. Galitis hatte in einem Aufsatz über „Interkommunion“ die bekannte orthodoxe Position vertreten, wonach allein die Einheit im Glauben die sakramentale Gemeinschaft erlaube (Abschnitt I). Mein eigener Beitrag zu seiner Festschrift ist ein frontaler Widerspruch gegen den Jubilar (Abschnitt II): Natürlich ist dem Neuen Testament in einem direkten Sinn nichts zum Thema der eucharistischen Gastfreundschaft zu entnehmen; höchstens indirekt ergeben sich aus Texten wie 1 Kor 10,16 f; Gal 3,27 f oder Mk 14,24 f einige Perspektiven. Wahrscheinlich war schon in neutestamentlicher Zeit das Herrenmahl eine Mahlzeit nur der Getauften; sicher bezeugt ist das allerdings erst in der Didache. Eine Verbindung von Gemeindeleitung und Vorsitz beim Herrenmahl ist nirgendwo im NT bezeugt. Viele neutestamentliche Indizien weisen darauf hin, dass das Herrenmahl im NT als Mahl ver-

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standen wurde, das Gemeinschaft stiftet, und nicht als Mahl, das Gemeinschaft voraussetzt. Mein Widerspruch gegen Galitis, den Abschnitt III bündelt, ist selbstverständlich nicht einfach neutral, sondern widerspiegelt meine eigene protestantische Sicht der Bibel und der Tradition und meine eigene Sehnsucht nach eucharistischer Gastfreundschaft unter den Kirchen. Die folgenden beiden Aufsätze beschäftigen sich mit dem Phänomen der Prophetie. Prophetie blüht in den afrikanischen „independent churches“ und in vielen Pfingstkirchen. Aus unseren europäischen Volkskirchen ist sie verschwunden. In der Zürcher Reformation war „Prophezei“ eine Institution öffentlicher Schriftauslegung: Prophetie wurde hier als Schriftauslegung verstanden und so kirchlich domestiziert. Der erste der beiden Aufsätze „Stages of early Christian Prophetism“ (= Nr. 11) bietet eine Skizze der hauptsächlichen Entwicklungsstadien frühchristlicher Prophetie. Der einleitende erste Abschnitt (I) zeigt, dass es im Urchristentum verschiedene Arten von Propheten gab. Ihr wichtigster gemeinsamer Nenner ist der, dass sie sich durch die Selbstbezeichnung „Propheten“ auf die biblische Prophetie zurückbezogen. Der Aufsatz handelt von all den unterschiedlichen Phänomenen im frühen Christentum, die in diesem Sinn als „Prophetie“ verstanden wurden. Ein zweiter Abschnitt (II) handelt unter dem Titel „The Beginnings“ hauptsächlich von den Evangelien, Paulus und der Johannesapokalypse. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen frühchristlicher Prophetie nicht überbetont werden sollten. Das gilt vor allem für die Propheten in den paulinischen Gemeinden und diejenigen der Johannesapokalypse. Auch der Unterschied zwischen Prophetie und Glossolalie war m. E. kein absoluter. Die paulinische Unterscheidung beider war aber für die späteren main-stream-Kirchen folgenreich: „Prophetie“ wurde zur „biblischen“ Bezeichnung vieler Formen von Zuspruch, Ermahnung und von Schriftauslegung. „Zungenrede“ dagegen wurde marginalisiert und weithin verdrängt. Der folgende Hauptabschnitt III beschäftigt sich unter dem Titel „The Crisis of early Christian Prophecy“ mit der Entwicklung im späten ersten und im zweiten Jh. bis zur „neuen“ Prophetie des Montanismus: Prophetie wurde zweideutig und es brauchte Kriterien zur Unterscheidung echter von falscher Prophetie. Mehr und mehr wurde Prophetie nicht als Gabe, sondern als Bedrohung der Kirche empfunden. Man begegnete ihr mit zunehmender Skepsis. Damit beschäftigt sich der letzte Hauptabschnitt „Prophecy gets marginal“ (IV). Der zweite kurze Aufsatz mit dem Titel „Die korinthische Gemeindeprophetie im Kontext urchristlicher Prophetie“ (= Nr. 12) wirft einen Blick auf die korinthischen Gemeindepropheten und bietet gleichsam eine „Detailaufnahme“ in Ergänzung zum vorangehenden Überblicksaufsatz. Er gibt zusätzliche Belege und Argumente für die dort geäusserten Vermutungen und Thesen. Die Bedeutung der Prophetie für Paulus war sehr gross; dasselbe gilt wohl für die Zahl der Propheten in Korinth (= Abschnitt I). Der zweite Abschnitt (II) untersucht das Verhältnis der korinthischen Gemeindepropheten zu anderen Formen der neutestament-

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lichen Prophetie, z. B. in der Apokalypse oder in der Jesusbewegung. Im dritten Abschnitt (III) geht es um das Verhältnis der Prophetie zur Zungenrede. Der Schlussabschnitt IV wirft einen kurzen Blick auf die Verdrängungsgeschichte von Glossolalie und Prophetie in der Kirchengeschichte. Wie die meisten Aufsätze dieses Kapitels, so hat auch der nächste „Ortsgemeinde und Gemeinschaft im Neuen Testament“ (= Nr. 13) einen sehr aktuellen kirchlichen Bezug, den Abschnitt I aufzeigt: In der gegenwärtigen Kirchenreformdiskussion wird die Ortsgemeinde oft abgewertet zugunsten regionaler und überregionaler Aktivitäten der Kirche, die sich auf ihre Dienstleistungen konzentriert. Reformdiskussionen sollten aber nicht in erster Linie auf einem verwaltungsorganisatorischen, sondern auf einem ekklesiologischen Leitbild basieren. Im Neuen Testament sind „Gemeinschaft“ – verstanden als Partizipation an bzw. Gemeinschaft mit Christus und Gemeinschaft unter den Gemeindegliedern – und „Liebe“ die wichtigsten notae ecclesiae. Das zeigt der Aufsatz vor allem an Paulus (Abschnitt III): Für Paulus hat die Ortsgemeinde mit ihrer κοινωνία darum eine fundamentale Bedeutung. Über Paulus hinaus kommen in Abschnitt IV auch das Matthäusevangelium, das Johannesevangelium, die Apostelgeschichte, der Epheserbrief und die Apokalypse in den Blick: „Gemeinschaft“ ist immer konkret und bezieht den ganzen Menschen, seine äussere und innere Situation mit ein. Darum waren in neutestamentlicher Zeit die Ortsgemeinden, in denen sichtbare alltägliche Gemeinschaft ganz unterschiedlicher Menschen von Christus her gelebt werden konnte, die wichtigste, wenn auch nicht die einzige Sozialgestalt der Kirche. Abschnitt V zieht Folgerungen für die heutige Kirchenreformdiskussion: Gegenüber anderen Sozialgestalten der Kirche, die auch eine relative Berechtigung haben, wie z. B. Frauen‑ oder Männerkirchen, Jugendkirchen, Migrationsgemeinden auf ethnischer Basis etc. haben die Ortsgemeinden die Chance, nicht auf Abgrenzungsmerkmalen zu basieren, die aus neutestamentlicher Sicht in Christus überwunden sind (vgl. Gal 3,28; Kol 3,11). Wer von anderen Leitbildern der Kirche ausgeht, z. B. demjenigen der Kirche als einer rechtlich strukturierten Hierarchie oder demjenigen von einer Organisation, welche die Gesellschaft nut Sinnangeboten und Riten versieht, orientiert sich am Zentrum der neutestamentlichen Ekklesiologie vorbei. Der letzte Aufsatz dieses Kapitels „Das Schriftprinzip und kirchliche Identität heute. Eine Thesenreihe“ (= Nr. 14) basiert auf einem Vortrag, den ich im Herbst 2016 auf einer Pastorenweiterbildungstagung der Nordkirche im Dom von Ratzeburg halten durfte. Implizit blickt er voraus auf das Reformationsjubiläum von 2017. Man hört heute oft, das protestantische Schriftprinzip sei in eine Krise geraten. Dagegen formuliert der Aufsatz als Ausgangsthese: Das reformatorische Schriftprinzip hat sich auf seinem Weg durch die Jahrhunderte und besonders in der Moderne verändert; aber wir haben das nicht zureichend reflektiert. Über diese Veränderungen reflektiert die erste Thesenreihe (Abschnitt I). Das

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Ziel des Aufsatzes ist es nicht, das Schriftprinzip „aufzulösen“, sondern es neu „aufzurichten“. Für mich kann das Schriftprinzip heute nur ein ökumenisches Schriftprinzip sein. Das führt die zweite Thesenreihe aus (Abschnitt II). Alle Entscheidungen und Anwendungen der Schrift können nur vorläufig sein und müssen in einem offenen, ökumenischen Dialog zur Diskussion gestellt werden. In diesem Sinn ist die Bibel – so formuliert die Schlussüberlegung in Abschnitt III – eine grundlegende „nota ecclesiae“ einer Kirche, die sich nicht selbst verabsolutiert, sondern die sich als Hör‑ und Dialoggemeinschaft versteht, die unterwegs ist zu ihrem Herrn.

7. Charisma und Institution in neutestamentlicher Sicht1 Lukas Vischer zum 70. Geburtstag

Am Anfang meiner Beschäftigung mit dem Thema standen bei mir einige Spontanreaktionen: Meine Sympathien waren auf Seiten des Charismas und nicht auf Seiten der Institution. Eine spontane Reaktion war ferner bei mir, das Charisma für das Christliche und die Institution für das Unvermeidliche zu halten. Auf jeden Fall war die Spannung zwischen Charisma und Institution für mich unmittelbar einleuchtend.

I. Definitionen Ausgehend von solchen spontanen Reaktionen, versuche ich zunächst zu bestimmen, was „Charisma“ und was „Institution“ ist. Χάρισμα ist ein in der Koine sehr seltenes Nomen, das erst durch Paulus eine theologische Bedeutung bekommen hat.2 Es kommt neutestamentlich nur bei Paulus und in seinem Einflußbereich vor (1 / ​2Tim, 1Petr). Zu übersetzen ist es mit „Geschenk“; die auf ‑μα gebildeten Substantive sind im Griechischen normalerweise nomina rei actae, d. h. sie bezeichnen das Ergebnis einer Handlung. Mit χάρις überschneidet es sich, ist aber in seiner Bedeutung enger: χάρισμα verhält sich zu χάρις etwa ähnlich wie im Deutschen „Geschenk“ zu dem auch ein aktives Moment einschließenden Wort „Gabe“.3 Bei Paulus kann man den Übergang von einem allgemeinen zu einem spezifischen Sprachgebrauch sehr gut beobachten: Er geschieht 1 Kor 12. Dort überträgt Paulus auf die in Korinth so hochgeschätzten Geistesgaben (πνευματικά) den sonst von ihm sehr offen gebrauchten Ausdruck χάρισμα und sagt polemisch: Die πνευματικά sind Geschenke. Mit der durch den  Gastvorlesung in Jena 1986. Die Vortragsform wurde beibehalten.  Ferdinand Hahn, Charisma und Amt. Die Diskussion über das kirchliche Amt im Lichte der neutestamentlichen Charismenlehre, ZThK 76 (1979), 425. 3 Eduard Schwyzer, Griechische Grammatik I, München 51977, 522; Hans Conzelmann, Art. χαίρω κτλ., ThWNT IX, 393,11 f. Von χάρις ist es als das durch die χάρις Bewirkte nur akzentuell zu unterscheiden, vgl. Röm 12,6: ἔχοντες … χαρίσματα κατὰ … τὴν χάριν τὴν δοθεῖσαν. 1 2

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Wechsel des Ausdrucks verbundenen Umwertung ist auch eine inhaltliche Ausweitung und Umwertung verbunden: Für Paulus liegt die Spitze und Mitte der „Geschenke“ bei der Liebe. Unauffällige „Geschenke“ wie Dienstleistungen und Leitungsfunktionen treten neben die „eigentlichen“ χαρίσματα, besonders Prophetie und Zungenrede. Damit werden die Geisterfahrungen der Gemeinschaft zu‑ und eingeordnet. Paulus hat durch diese Umwertung sprachbildend gewirkt: Bereits in den nachpaulinischen Schriften sind χαρίσματα die von Gott dem Einzelnen für die Gemeinde gegebenen Gaben (1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6; 1 Petr 4,10). Im Sinn des Paulus muß man also sagen: Die ganze Fülle der von Gott einzelnen Gemeindegliedern für den Dienst an der Gemeinde geschenkten besonderen Geistwirkungen und der unauffälligeren Funktionen sind Charismen, also jede Form von „Konkretion des göttlichen Gnadenwirkens“.4 Betrachten wir nun den Gegenpol, die Institution. Hier muß ich zunächst bemerken, daß es hier nicht um das Verhältnis von „Charisma und Amt“ geht. So wird das Thema in neutestamentlicher Literatur meistens behandelt..5 Die „Institution“ Kirche meint aber etwas sehr viel Weiteres als „Amt“. Rechtliche Strukturen gehören zu einer Institution ebenso wie sie tragende Gemeinschaften und Rollen für bestimmte Handlungstypen; aber die Verfestigung dieser Rollen zu Ämtern ist nicht unbedingt konstitutiv. Das „Amt“ ist nur ein fakultativer Teilaspekt einer Institution. Man kann dann allerdings sagen: Indem wir unserer Kamera gleichsam einen Weitwinkel und nicht ein Teleobjektiv aufsetzen, erweitern wir das Problem und bringen es dadurch vielleicht durch einen Trick zum Verschwinden. Ich meine aber eher: Wir behandeln es in einer dem Neuen Testament adäquateren Weise. Was verstehen wir also unter einer „Institution“? Nach P. Berger und Th. Luckmann ist die Habitualisierung von Handlungen in einer Gemeinschaft geschichtlich die Voraussetzung des Entstehens von Institutionen. Handlungen, die man häufig wiederholt, verfestigen sich zu einem Modell.6 Von einer Institution kann man dann sprechen, wenn „habitualisierte Handlungen durch Typen von Handlungen reziprok typisiert werden“.7 Das heißt: Eine Institution, 4  Friedrich Grau, Der neutestamentliche Begriff Charisma, seine Geschichte und seine Theologie, Diss. Tübingen 1946, 78. 5  Vgl. z. B. Eduard Schweizer, Konzeptionen von Charisma und Amt im Neuen Testa­ ment, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Charisma und Institution, Gütersloh 1985, 316–334; Ferdinand Hahn, Grundfragen von Charisma und Amt in der gegenwärtigen neutestamentlichen Forschung. Fragestellungen aus evangelischer Sicht, ebd. 335–349; Rudolf Schnackenburg, Charisma und Amt in der gegenwärtigen neutestamentlichen Forschung. Aspekte, Tendenzen und Fragestellungen aus römisch-katholischer Sicht, ebd. 350–367; früher: Hans v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, BhTh 14, Tübingen 1953; Ulrich Brockhaus, Charisma und Amt, Wuppertal 1972; Hahn, Charisma und Amt (o. Anm. 2). 6 Peter L.  Berger  /  ​T homas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Hamburg 51977, 56. 7  Ebd. 58.

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z. B. die Ehe, das Gesetz oder auch die Kirche, setzt voraus, daß bestimmte Handlungen unter allgemeiner Anerkennung nur auf bestimmte Weise vollzogen werden können, ohne daß dieser Vollzug immer wieder neu legitimiert werden muß. Institutionen setzen voraus: 1. konstante Situationen und Handlungen, die über längere Zeit in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen gleich bleiben und als Erfahrungen tradiert werden; 2. damit verbunden feststehende Rollen von Handlungsträgern, die diese Handlungen vornehmen; 3. einen gesellschaftlichen Konsens in einer Gemeinschaft, der das Funktionieren solcher habitualisierter Handlungen und die Anerkennung der Rollenträger, die sie durchführen, ermöglicht. Insofern ist mit einer Institution immer ein geschriebenes oder ungeschriebenes Recht verbunden.8 Dies kann dazu führen, daß zu einer Institution bestrafende Instanzen und Sanktionsmechanismen gehören, die bei Übertretung ihrer Regeln zur Anwendung kommen, muß aber nicht.9 W. D. Marsch definiert von hier aus Institutionen folgendermaßen: Institutionen sind „zweckrationale oder auch nicht rationale Verhaltensstrukturen von relativer Dauerhaftigkeit, die – historisch entwickelt – den Menschen von der permanenten Neuverwirklichung seiner Lebenstriebe entlasten“.10 Zu einer Institution gehört also eine relative Dauerhaftigkeit. Institutionen sind geschichtlich nicht unveränderlich, aber relativ langlebig. Sie begegnen demjenigen, der in sie hinein tritt, z. B. dem Kind in einer Familie oder dem Konfirmanden in einer Kirche, mit einer gewissen Autorität. Diese vorgegebene Autorität muß aber nicht eine fremde, heteronome Autorität sein. Zur Institution gehört ferner ein überliefertes Wissen, „das die institutionseigenen Verhaltensvorschriften mit Inhalt versorgt“.11 Dazu können Rituale, Gesetze, theologische Grundsätze, ethische Maximen, sexuelle Verhaltensweisen etc. gehören. Denkt man vom Institutionsverständnis von Berger und Luckmann her, so erkennt man, daß Institutionen geschichtliche Gegebenheiten sind, ohne die menschliches Leben nicht möglich wäre und jede geschichtliche Kontinuität verlöre. Der Gewinn einer Institution für alltägliches Leben ist erheblich: Institutionen machen menschliches Verhalten transparent und vorhersehbar. Institutionen entlasten von Unsicherheiten und Spannungen. Institutionen entlasten davon, ein Verhalten jedesmal neu zu erfinden und zu legitimieren. Institutionen ermöglichen eine arbeitsteilige Regelung menschlicher Gesellschaft. Dieser grundsätzlichen Überlegung möchte ich noch zwei Hinweise anfügen, die konvergieren. Der erste ist ein Hinweis auf H. Dombois, der in seinem  8  Vgl. Hans Dombois, Das Recht der Gnade Bd. I, Witten 1969, 905: Institutionen sind „rechtliche(r) Ausdruck typischer Beziehungsformen oder Gemeinschaftsformen“.  9  Ich verstehe also Institution in einem weiteren Sinn als z. B. C. Bauer, Art. Institution II, EStL IV, 320: „Zur Institution gehört die Rechtsförmigkeit, die sie zur gültigen und erzwingbaren Norm … macht“. 10  Wolf D. Marsch, Art. Institution, RGG3 III, 783. 11  Berger / ​Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion, (o. Anm. 6), 70.

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großen dreibändigen Werk „Das Recht der Gnade“12 mit einem dem vorher skizzierten eng verwandten Verständnis von Institution arbeitet. Für Dombois ist es wichtig, daß Institutionen Lebensverhältnisse sind, die zwar geschichtlich vorgegeben sind, aber gestaltet werden können und müssen. Er formuliert: „Sie sind wie Pflanzen, die man setzen, beschneiden und auch verkümmern lassen kann, deren Ausgangsformen aber vorgegeben sind“.13 Eine Institution ist wie ein „Haus, welches man beziehen muß. Das ist seine Bestimmung, ohne diese verfällt es. Man muß es mit Leben erfüllen; man kann es auch in gewissen Grenzen umbauen; aber seine architektonische Gesamtkonzeption unter Einschluß seines Standortes, seiner Umgebung ist unverrückbar vorgegeben“.14 Zur Institution gehört also sowohl ihre Vorgegebenheit, die Einrichtung, wie auch ihr geschichtlich sich wandelnder Charakter, der Akt des Instituierens. Das heißt: Institutionen sind Schöpfungen des Menschen, die gleichsam einen Prozeß dauernder Neuschöpfung erfordern, wenn sie nicht ihren Charakter als menschliche Schöpfung verlieren sollen. Dies ist für Dombois wichtig, weil er gerade unter dieser Voraussetzung von der Gnade als dauernder Quelle des Kirchenrechts und von Wort, Taufe, Abendmahl und Absolution als Ursprung des Prozesses der Kirche sprechen kann. Auch in anderen Institutionen findet dieser Prozeßcharakter sein Analogon; R. Smend zeigte das z. B. am geschichtlich sich verändernden Charakter der Institution Staat.15 Der andere Hinweis ist derjenige auf Bergers und Luckmanns Verständnis der Verdinglichung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. „Verdinglichung“  – der Begriff spielt bei Marx eine entscheidende Rolle – ist die Auffassung von menschlichen Produkten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte, z. B. Naturgegebenheiten, Folgen kosmischer Gesetze oder Offenbarungen eines göttlichen Willens. „Verdinglichung impliziert, daß der Mensch fähig ist, seine eigene Urheberschaft der humanen Welt zu vergessen und … daß die Dialektik zwischen dem menschlichen Produzenten und seinen Produkten für das Bewußtsein verloren ist. Eine verdinglichte Welt ist per definitionem eine enthumanisierte Welt“.16 Der Hinweis ist darum so wichtig, weil er ohne Schwierigkeiten auf bestimmte Verständnisse von Theologie und Kirche anwendbar ist. Ein verdinglichtes Verständnis von Ehe könnte z. B. das einer unveränderlichen Ordnung iure divino sein. Ein verdinglichtes Verständnis von Kirche ist das einer unveränderlich vorgegeben autoritativen Anstalt in einer ganz bestimmten Gestalt, die der Mensch nicht mehr „als das opus proprium seiner eigenen produktiven Leistung“ verstehen kann. Verdinglichung geht Hand 12  Hans Dombois, Recht der Gnade, Bd. I, Witten 1969; Bd. II, Bielefeld 1974; Bd. III, Bielefeld 1983. 13 Dombois, Recht der Gnade Bd. I, 905. 14 Ebd. 903. 15  Rudolf Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, ZEE 6 (1962), 65–77. 16  Berger / ​Luckmann, Gesellschaftliche Konstruktion (o. Anm. 6), 95.

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in Hand mit der Etablierung einer „objektiven gesellschaftlichen Welt“.17 In den Bildern von Dombois hieße das: Institutionen in verdinglichter Gestalt gleichen Häusern, die man weder beleben noch umbauen kann. In ihnen ist man eingesperrt. Sie werden zu Zwangsanstalten. So viel zum Begriff der Institution. Es ist klar, daß dieser Begriff nicht einfach vorgegeben ist, sondern daß ich mir aus der juristischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion über das Verständnis von Institution einen mir passenden Institutionsbegriff ausgewählt habe. Ich hätte z. B. auch ein sehr viel engeres Verständnis von Institution im Sinne einer den Menschen zwingenden Anstalt wählen können. Daß ich dies nicht getan habe, liegt einerseits daran, daß das von mir gewählte weite und offene Verständnis von lebendiger Institution am ehesten dem Neuen Testament zu entsprechen scheint. Es liegt andererseits daran, daß es meine Absicht ist, Ihnen einen positiven Zugang zu dem, was für mich Institution ist, zu vermitteln. Aber damit greife ich dem Schluß meines Vortrags vor. Wir blicken zurück: Am Anfang hatte uns der Konflikt zwischen Charisma und Institution spontan eingeleuchtet. Wie ist es aber, wenn die entscheidende theologische Leistung des Paulus gerade die Einfügung der Charismen in die Gemeinschaft, ihre Anbindung an die οἰκοδομή der Kirche ist? Und wie ist es, wenn sozialwissenschaftlich Institutionen zunächst nicht als Zwangsanstalten mit heteronomen Normen und Sanktionen begriffen werden müssen, sondern als notwendige Weisen, in denen gesellschaftliche Normen, Situationen und Arbeitsteilungen Gestalt gewinnen und tradiert werden? Dann eröffnet sich uns die Grunddimension einer Zuordnung von Charisma und Institution. Dies wiederum führt zur kritischen Rückfrage an uns selbst: Warum erscheint uns heute das Verhältnis von Charisma und Institution primär als Konflikt? Warum erscheinen uns Institutionen vor allem als Zwangsanstalten und verdinglichte Institutionen, also als Institutionen, die sich vom Menschen als ihrem Produzenten gelöst haben und ihm nun als objektive Autorität und absolute Instanz gegenübertreten? Hier verkehrt sich die Problemstellung in eine Anfrage an uns selbst.

II. Der Konflikt von Charisma und Institution als neuzeitlich-protestantisches Problem Ich muß mich hier auf wenige und fragmentarische Überlegungen beschränken. Drei Bemerkungen sind mir wichtig: 1. Der paulinische, gemeinschaftsbezogene Sprachgebrauch von χάρισμα hat sich nicht durchgesetzt. Heute ist Charisma weithin wieder zu einer soziologisch und religionswissenschaftlich neutralen Bezeichnung geworden. 17

 Ebd. 97. 95.

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Max Weber, der für die Verallgemeinerung des Charisma-Begriffs wirksam geworden ist, fragte nach Charisma im Kontext der Frage nach Herrschaftsformen. Der Charismatiker war für ihn der „Führer“, der um einer außeralltäglichen Qualität, Eigenschaft oder Kraft willen sich bewährt und Anerkennung findet.18 Charismatische Herrschaft ist labil und revolutionär: „Sie verhält sich … revolutionär alles umwertend und souverän brechend mit aller traditionellen oder rationalen Norm: ‚es steht geschrieben  – ich aber sage euch‘“.19 Es ist leicht einsehbar, warum Charisma – als Herrschaftsform verstanden – eo ipso in Spannung zu den anderen Grundmodellen der Herrschaft sich befinden muß, die in religiösen Gemeinschaften sich auch finden, nämlich der traditionalen und der legalen. Charisma wird also bei Weber idealtypisch verstanden und verbindet sich mit Neuerung, Revolution, Offenbarung, Prophetie etc. Damit ist Charisma wieder etwa das, was die Korinther πνευματικά nannten und was Paulus mit anderen ekstatischen Erscheinungen in hellenistischer Religiosität parallelisierte. Der paulinische Sprachgewinn wurde also bei Max Weber wieder rückgängig gemacht; und genau darum wird das Verhältnis von Charisma und Institution als Konflikt verstanden. 2. Die zweite Vermutung besteht darin, daß die grundsätzliche Spannung zwischen Charisma und Institution einen spezifisch protestantisch-neuzeitlichen Hintergrund hat. Ich erinnere hier an die Grundthese Rudolph Sohms: „Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch … Das Wesen der Kirche ist geistlich; das Wesen des Rechts ist weltlich. Die Kirche will durch das Walten des göttlichen Geistes geführt, regiert werden; das Recht vermag immer nur menschliche Herrschaft irdischer, fehlbarer, der Zeitströmung unterworfener Natur hervorzubringen“.20 Sohm ist Lutheraner: er formuliert diese Grundthese über das Wesen der Kirche von Anfang an in direktem Gegenzug zum Katholizismus. Ihre unmittelbare Evidenz auf dem Hintergrund der Entscheidung der lutherischen Reformation, die Kirche nach situationsgegebenem Notrecht – landesherrlicher Episkopat usw. – zu ordnen, ist deutlich. Wenn man die Kirche als ein „Krankenhaus oder Genesungsheim“ versteht, das eine Rechtsordnung „um der schwächeren Brüder willen“ tragen muß,21 so kann man eigentlich gar nicht anders, als Charisma und Institution in einer fundamentalen Spannung 18 Max

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51980, 140.  Ebd. 657. 20  Rudolph Sohm, Kirchenrecht. Bd. I Die geschichtlichen Grundlagen, München und Leipzig 1923, 1. Vgl. den verwandten Entwurf von Ernst Troeltsch, Religion und Kirche, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. II: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 148 f: „Die Kirche ist … etwas Festes, immer Gleiches, das … immer die Unmittelbarkeit der Religion aufhebt. Ihr Hauptanliegen ist, eine … Autorität aufzurichten und … Zwangsmittel sich zu verschaffen, mit denen eine solche Autorität aufrecht erhalten wird“. Das Verhältnis von Religion und Kirche ist nach Troeltsch ein „durch und durch antinomisches“. 21  Johannes Heckel, Lex Charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, München 1953, 139. 19

7. Charisma und Institution in neutestamentlicher Sicht

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zu sehen. Voraussetzung eines solchen Verständnisses ist meines Erachtens auf der einen Seite die Erfahrung der Kirche als fremder oder, in der Terminologie von Berger und Luckmann, als verdinglichter Institution, nämlich der fremd und feindlich gewordenen katholischen Kirche. Auf der anderen Seite ist es die Unmöglichkeit oder Unfähigkeit der Nachfahren der Reformation, das eigene Verständnis des Glaubens in einer ihm wirklich entsprechenden institutionellen Gestalt zu verwirklichen. Es ist ein geschichtliches Verhängnis, daß der Protestantismus, vorab der lutherische Protestantismus, in seinen Kirchengebilden immer eine Art Notlösung gesehen hat.22 Hinzu kommt die grundsätzliche Kritik der Aufklärung an durch Offenbarung gesetzter und nicht durch die Vernunft begründeter institutioneller Autorität. So scheint mir die Wahrnehmung des Problems Charisma und Institution, von der wir ausgegangen sind, eine typisch protestantisch-neuzeitliche zu sein, und keineswegs eine selbstverständliche oder gar dem Neuen Testament entsprechende. 3. Damit komme ich zu einem noch weiteren, allgemeineren Horizont, der meines Erachtens gerade heute unsere Themaformulierung evident macht. In ihn mündet die Lösung des Charismaverständnisses von seinem gemeinschaftlichen Bezug und das theologisch begründete Mißtrauen gegenüber der Institution Kirche im protestantischen Raum ein. Ich denke an das allgemeine Mißtrauen in unserer Zeit gegenüber Institutionen überhaupt.23 Wir begegnen ihm bei uns im Westen in Gestalt einer zunehmenden Staatsverdrossenheit vor allem der jüngeren Generation, die allmählich bedrohliche Züge annimmt. Sie äußert sich in Abstinenz von der Arbeit von politischen Parteien, oft in Abstinenz von Abstimmungen und Wahlen und in Desinteresse gegenüber politischen Ämtern. Sie äußert sich in einer vor allem in der Bundesrepublik Deutschland manifesten Abneigung gegenüber politisch-realistischen Strategien als Arbeitsform in Institutionen. Sie äußert sich in einem zunehmenden Rückzug in die Dimension persönlicher Authentizität und zwischenmenschlicher Kommunikation etwa in der Friedensbewegung. Von rechts äußert sich dieses Mißtrauen gegenüber lnstitutionen in Gestalt der verbreiteten, populären und in ihren Konsequenzen meines Erachtens überhaupt nicht durchdachten Forderung nach weniger Staat. Solche Forderungen finden ihre Wurzel in der Erfahrung zunehmender Einengung individueller Freiheit durch institutionelle Zwänge, deren Sinn infolge der Komplexität der Zusammenhänge nicht mehr einsichtig ist, in der Erfahrung der Unübersichtlichkeit und Anonymität staatlicher Bürokratien, in der Erfahrung immer großräumiger und anonymer werdender Lebensräume. In der Kirche gibt es parallele Erscheinungen zu diesem generellen Mißtrauen gegenüber Institutionen: Das neue Blühen von Kommunitäten, Hauskreisen und 22 Vgl. Trutz Rendtorff, Das Problem der Institutionen in der neueren Christentumsgeschichte, in: Helmut Schelsky (Hg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1970, 148 f. 23  Für den folgenden Abschnitt vgl. Rudolf v. Thadden, Wahrheit und institutionelle Wirklichkeit der Geschichte, KuD 23 (1977), 113–130.

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parakirchlichen Aktionsgruppen, verbunden mit einer oft fast vollkommenen Lethargie von Kirchgemeinden im Ganzen und einem verbreiteten Mißtrauen gegenüber jeder Form von Synodalräten und Landeskirchenämtern sind bei uns im Westen zu nennen. Solche Zeitstimmung bildet den Hintergrund für das Erstarken der charismatischen Bewegung und zugleich den Hintergrund für die Erfahrung, daß unsere protestantischen Kirchen nur zu einem geringen Teil in der Lage sind, solche Bewegungen wirklich zu integrieren. Das ist die Situation, in der uns – offensichtlich in anderer Weise als im Neuen Testament selber  – die Spannung zwischen Charisma und Institution auf den Nägeln brennt.

III. Neutestamentliche Streiflichter In diesem Abschnitt kann ich nur ein paar Hinweise geben. Ich setze stillschweigend voraus, daß Ihnen bekannt ist, worauf ich anspiele, so daß ich Sie nur zu erinnern brauche. III. 1 Allgemeines Im Neuen Testament haben wir nicht den Eindruck, daß es einen Grundwiderspruch zwischen Charisma und Institution gegeben hat. Wenn Matthäus sein Evangelium mit der Verheißung enden läßt: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ (Mt 28,20), so spricht er sachlich von der Gegenwart des Geistes in der Kirche. Er bindet aber den Geist gerade an das Kontinuum der Zeit. Wenn Jesus, bzw. der Geist „alle Tage bis ans Ende der Welt“ bei der Gemeinde ist, so ist er nicht das Revolutionäre, immer Neue, sondern weit eher das Kontinuum der Zeiten, das, was die Kirche durch die Zeit hindurch zusammenhält. Gerade um das sicherzustellen, spricht Matthäus hier nicht vom Geist, sondern er läßt Jesus selbst bei seiner Kirche sein. Johannes spricht in fast gleicher Formulierung vom Parakleten (Joh 14,16 f, vgl. 20,19–23). Geist und Institution Kirche sind gerade einander zugeordnet. Ähnlich sieht es Lukas: der Geist ist das, was die an Pfingsten beginnende Kirche dauerhaft auszeichnet. Bereits bei Paulus war der Geist mit dem Moment der Tradition und der Institution verbunden, und zwar vom Zeitpunkt an, wo der auferstandene Christus vor Damaskus dem Paulus erschien und ihn nicht etwa zum Religionsgründer werden ließ, sondern ihm dasjenige Evangelium offenbarte, das auch von den Gemeinden in Judäa geglaubt wurde und das ihm nach 1 Kor 15,lf ἐν πρώτοις als Tradition übergeben wurde. Bereits bei Paulus gehörte also zum Geist ein traditionales und ein institutionelles Moment.

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III. 2  Paulus Mir ist wichtig, daß Paulus auf der einen Seite Charismatiker ist  – und hier möchte ich nicht nur an seine visionäre und wahrscheinlich prophetische Begabung, an die Zeichen des Apostels, an seine Berufung und seine apostolische Autorität erinnern, sondern auch an seine persönliche Christusfrömmigkeit, auf die hin meines Erachtens Texte wie Gal 2,20; Röm 8,9–11 oder 2 Kor 4,6 gelesen werden sollten. Auf der anderen Seite denke ich daran, wie der Charismatiker Paulus sich völlig im Dienst und Aufbau der Institution Kirche verzehrt, also an seine Mission, an den täglichen Zudrang und die Sorge für die Gemeinden, an die letzte Jerusalemreise im Dienste der Einheit der Kirche, die ihn letztlich das Leben kostete. Ich denke sprachlich an die paulinische Formulierung ἐν Χριστῷ, die an manchen Stellen deutlich eine ekklesiologische Dimension hat (z. B. 1 Thess 2,14; Gal 3,28; Röm 12,5; vgl. 1 Kor 12,12 f), während vor allem die umgekehrte Formulierung, „Christus in mir“ bzw. „uns“ (vgl. z. B. Röm 8,9–11; Gal 2,20; 2 Kor 13,5) und die verwandte Wendung ἐν πνεύματι (vgl. 1 Kor 3,16; 6,19; Röm 8,9–11 etc.) die Brücke zum Charismatischen schlagen.24 Stellen wie 1 Kor 12,4.12 f zeigen aber, daß πνεῦμα nicht nur die Gestalt ist, in der Christus im Einzelnen wirkt, sondern auch das der Kirche als ganzer vorgegebene Prinzip, das Eine, Identische in den Charismen. Sowohl von Christus, als auch vom πνεῦμα läßt sich im Sinne des Paulus sagen, daß sie zugleich den einzelnen Charismatiker bestimmen und auch das die Kirche im ganzen instituierende Prinzip sind. Vom grundsätzlichen Bezug aller Charismen auf die Kirche bei Paulus haben wir bereits gesprochen. Paulus ordnet die Charismen der Verkündigung und der Gemeinschaft als den beiden grundlegenden Funktionen der Institution Kirche zu. Zur Verkündigung einige Bemerkungen: Sowohl in 1 Kor 12,28 ff als auch in Röm 12,6 ff werden Verkündigungsfunktionen vorangestellt, während Leitungsfunktionen erst später kommen. Die einzigen kirchlichen Mitarbeiter, die Paulus zwar nicht eingesetzt, aber doch wohl erbeten hat, sind die Gemeindebeauftragten für sein Missionswerk.25 Die Bedeutung der Gemeinschaft zeigt sich an der Vorordnung des Leibes Christi vor den einzelnen Charismen, an der οἰκοδομή und daran, daß διακονία von Paulus vermutlich in ähnlich zugespitztpolemischer Weise zum Schlüsselbegriff gemacht wird wie χάρισμα.26 Paulus 24  Ohne von einem einheitlichen Sinn der ἐν Χριστῷ-Formulierungen auszugehen, wird man doch mit Udo Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart, GThA 24, Göttingen 1983, 108 f auf die enge Parallele, die diese Aussagen in vorpaulinischen Geist‑ und Weisheitsaussagen haben, hinweisen müssen. Die Taufe ist wohl ein wichtiger Hintergrund, der sowohl die kirchliche als auch die persönlich-pneumatische Dimension der Aussagen verständlich macht. 25 Wolf-Henning Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter, WMANT 50, Neukirchen 1979, 95–108. 26  Vgl. bes. 1 Kor 12,5 im Gegensatz zu κύριος. Paulus faßt seine eigene Tätigkeit als Apostel und die Tätigkeit anderer als διακονία auf, unter bewußter Vermeidung geläufiger Amts-

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ordnet also die Charismen der Institution Kirche zu, deren Grundtätigkeiten Verkündigung und Gemeinschaft sind. Die Charismen haben damit nichts mehr mit der Potenz oder Macht von Einzelnen zu tun, sondern kommen erst in einer bestimmten Weise des Funktionierens und Wirkens einer Gemeinschaft zu ihrer eigentlichen Bestimmung. Auf der anderen Seite ist für Paulus die Frage, wie die Kirche aufgebaut oder organisiert ist, nicht entscheidend. Wichtig ist allein die Frage, wie sie lebt und ihren Auftrag erfüllt. Darum sind Paulus die rechtlichen Strukturen der Kirche im Sinne von Organisation, Kompetenzen und Aufbau unwichtig. Er nennt 1 Kor 12,28 Apostel, Propheten und Lehrer als Amtsträger, einfach deswegen, weil es sie – vermutlich schon in Antiochien27– überall gab. Er nennt auch die Diakone (Phil 1,1; Röm 16,1). Entscheidend ist, daß er in Röm 12,3 ff, wo er am freiesten formuliert, auch ihre Aufgaben funktional ausdrückt. Die Leitungsfunktionen in den Gemeinden sind offenbar so geordnet, wie sie geordnet sind; Paulus kümmert sich darum wenig. Interessant ist diesbezüglich 1 Kor 16,16: Nicht nur dem Haus des Stephanas als dem Erstbekehrten soll sich die Gemeinde unterwerfen, sondern „jedem, der mitarbeitet und sich müht“. Die Unterordnung ist also eine wechselseitige. Das Interesse des Paulus gilt nicht einer bestimmten Gemeindeverfassung, auch nicht einer sogenannten charismatischen, sondern dem Wirken der jeweils vorhandenen Gemeindeämter, Gaben und Beauftragungen im Dienste der Gemeinschaft und der Verkündigung der Kirche. Zusammenfassend kann man sagen: Bei Paulus kann ein Konflikt zwischen χάρισμα und Institution gar nicht aufkommen. Indem er alle πνευματικά strikt als Geschenke des einen Gottes durch den einen Geist versteht, verhindert er ihre Verabsolutierung von vornherein. Indem er sie von vornherein in den Raum der Institution Kirche stellt, verhindert er, daß diese einen unveränderbaren, starren, anstaltlichen Charakter bekommen kann. Durch die Charismen bleibt die Kirche lebendige Institution; durch den Bezug auf die Kirche bleiben die Charismen Dienste und werden nicht zu Herrschaftsformen. III. 3  Der Epheserbrief Weil die Frage nach den kirchlichen Ämtern im Epheserbrief heftig umstritten ist, muß ich zunächst sagen, wie ich die Sache sehe: 4,11 spricht davon, daß Christus der Kirche Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer gegeben habe. Nach H. Merklein sind die Apostel und Propheten eine Größe der vergangenen Urzeit der Kirche. Evangelisten, Hirten und Lehrer bezeichnen dagegen die terminologie, vgl. Hahn, Charisma und Amt (o. Anm. 2), 426 f; Walter Klaiber, Rechtfertigung und Gemeinde. Untersuchungen zum paulinischen Kirchenverständnis, FRLANT 127, Göttingen 1982, 226. Eine Wurzel liegt bei Jesus: Mk 10,43–45! Der Gegensatz zu Max Weber wird hier besonders prägnant: Charisma ist nicht Herrschaft, sondern Dienst! 27  Vgl. bes. Helmut Merklein, Das kirchliche Amt nach dem Epheserbrief, StANT 33, München 1973, 250–260.

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übergemeindlichen und gemeindlichen Verkündigungs-, Leitungs‑ und Lehrämter in der Gegenwart. Merklein spricht von einer „Institutionalisierung“ der paulinischen charismatischen Gemeindestrukturen,28 wobei er unter Institution eine „kirchenrechtlich festgelegte und definierte Einrichtung“29 versteht. Zeigt also der Epheserbrief die Ablösung des Charisma durch die Institution? Die Schwierigkeit dieser These besteht meines Erachtens darin, daß sowohl „Evangelist“ als auch „Hirt“ keine Amts-, sondern Funktionsbezeichnungen sind;30 außerdem läßt sich kaum nachweisen, daß die Propheten z. Z. des Epheserbriefs ausschließlich eine Größe der Vergangenheit sind. Meines Erachtens sind für den Verfasser des Epheserbriefs die der Kirche geschenkten Verkündigungs‑ und Seelsorgefunktionen wichtig, die damit allenfalls verbundenen amtlichen Bezeichnungen dagegen nicht.31 Darum formuliert er in Eph 4,11 funktional, nicht personal-amtlich. Er unterscheidet sich darin nicht von Paulus. Mir scheint, daß die institutionell-amtliche Interpretation von Merklein das verpaßt, was dem Verfasser des Epheserbriefs an der Institution Kirche wichtig war. Was ist dies? Ein Schlüsseltext zum Verständnis ist Eph 4,1–6. Hier mahnt der Verfasser zur Liebe, zum Frieden und zur Einheit des Geistes (4,3). Diese Mahnung ist möglich, weil ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung bereits gestiftet sind. „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater von allen“, so endet der Verfasser in 4,6 im Stil der gottesdienstlichen Akklamation. Hier wird deutlich, was für den Epheserbrief die Institution Kirche ist. Sie ist zuerst der Ort, wo der eine Herr und Gott gepriesen wird. Darum beginnt auch der Brief so ausführlich mit einem Gebet zu diesem „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“ (1,3–23); und darum führt der Verfasser den Leser durch den Brief gleichsam von Lobpreis zu Lobpreis (3,14–19; 4,4–6; 6,18–20). Der Lobpreis ist meines Erachtens das Kontinuum des Briefes und der Schlüssel nicht nur zu seinem Kirchenverständnis, sondern zum Brief überhaupt. In diesem von Gott durch Christus gestifteten Raum der Einheit und des Lobpreises steht die Institution Kirche, in der aus alten Menschen neue werden (Eph 2,1–11), in der  Ebd. 378–382.  Ebd. 280. 30  Das sieht auch Merklein, Amt (a. a. O. Anm. 27), 346 (für die Evangelisten) und ebd. 365 (für die Hirten). Dennoch spricht er ebd. 368 vom „Hirtenamt“, 369 von ποιμήν als einer „Bezeichnung für Gemeindeleiter“ und 381 von der „Gemeindeleitungsfunktion als institutionellem Amt“. Die Stringenz der Argumentation leuchtet mir nicht ein. 31  Karl Martin Fischer, Tendenz und Absicht des Epheserbriefs, FRLANT 111, Göttingen 1973, 33. 39 vertritt im Gegenzug zu Merklein gleichsam die radikal-protestantische These: Der Briefverfasser verschweige die zu seiner Zeit sich durchsetzenden wirklichen Ämter des Bischofs, des Presbyters und des Diakonen aus polemischen Gründen. Die These beruht auf einem argumentum e silentio. Es gibt m. E. keinen zwingenden Grund anzunehmen, daß sich z. Z. des Epheserbriefs, dessen Datierung überdies sehr unsicher ist, die presbyterial-bischöfliche Kirchenverfassung in den paulinischen Gemeinden bereits so dominant durchgesetzt hat, daß man als guter Pauliner davon nur schweigen kann. Und überhaupt: Verstünden die Gemeinden schweigende Polemik? 28 29

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Christus als der Friede die Juden und Nichtjuden zur Einheit bringt (2,11–22) und in der die apostolische Verkündigung geschieht (3,1–13). Dieser Raum des Lobpreises und des verkündigten und gepriesenen Friedens ist die sichtbare Kirche. Wir finden im Epheserbrief exakt das, was Dombois als Prozeß der Institution von Kirche von der Gnade her zu erfassen versuchte. Für den Epheserbrief gilt auch, was W. Klaiber von Dombois her für Paulus formuliert hat: „Die Kirche selbst ist insofern Institution, als sie selbst als σῶμα Χριστοῦ der Raum und der Inbegriff personaler Institutionsvorgänge ist, durch welche Menschen dem Leib Christi zugeordnet und in ihm an den Ort ihres Dienstes gestellt werden. Das geschieht in der apostolischen Verkündigung, in der Taufe, im Herrenmahl und im Gottesdienst der Gemeinde, der durch die Akklamation konstituiert wird“.32 Hier ist das Zentrum der Institution Kirche im Epheserbrief gut gesehen, nämlich Gebet und Verkündigung. Hat man das begriffen, so mag man in aller Ruhe und Abseitigkeit sich darüber unterhalten, was für Ämter es in ihr nach dem Epheserbrief gegeben hat. III. 4  Die johanneischen Schriften Im 3. Johannesbrief begegnen wir einer Auseinandersetzung, die seit Harnack33 immer wieder als Konflikt zwischen Charismatikern und einem Vertreter der „Institution“ Kirche verstanden wurde: Hier die wandernden Sendboten des „Alten“, Charismatiker, und der „Alte“ selbst, nach Campenhausen ein „Prophet oder Lehrer alten Stils“,34 dort Diotrephes, ein monarchischer oder monarchisch sein wollender Lokalbischof, Vorläufer des Ignatius von Antiochien. Ich zweifle, daß dies richtig ist. Φιλοπρωτεύων (3Joh 9), d. h. „der gern der erste sein will“, spricht nicht dafür, daß es in der Gemeinde des Diotrephes schon klare hierarchische Strukturen gegeben hat. Οὔτε αὐτὸς ἐπιδέχεται καὶ τοὺς βουλομένους κωλύει (V 10) weist am ehesten auf einen christlichen Hausbesitzer, der den wandernden Brüdern sein eigenes Haus verbietet und damit auch den Zutritt zu seiner Hausgemeinde, und vielleicht andere christliche Hausbesitzer ermuntert, dasselbe zu tun. Ἐκβάλλει (3Joh 10) meint wohl den Ausschluß aus der Gemeinde; die Formulierung sagt aber nichts darüber, ob Diotrephes als Bischof oder Hausbesitzer sein Disziplinarrecht ausübte oder ob er als einflußreiches Gemeindeglied den Fall vor die Gemeindeversammlung brachte. Im übrigen darf man nicht vergessen, daß nach 2 Joh 9–11 der „Alte“ gegenüber den christlich-praegnostischen „Häretikern“ das gleiche Verfahren des Abbruchs aller Beziehungen befiehlt. Diotrephes wird nicht mehr und nicht weniger amtliche Autorität besessen haben als der Alte selbst. Der Konflikt mag ein Kon32 Klaiber, Rechtfertigung (o. Anm. 26), 234 mit Zitat aus Dombois, Recht der Gnade I (o. Anm. 12), 920. 33  Adolf Harnack, Über den dritten Johannesbrief, TU 15/3b, Berlin 1897. 34  v. Campenhausen, Kirchliches Amt (o. Anm. 5), 132.

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flikt zwischen Wanderpredigern und einer seßhaften Gemeinde gewesen sein, wie wir ihn auch aus der Didache kennen; er mag dogmatische Hintergründe gehabt haben oder nicht. Ein Konflikt zwischen einem Amtsträger und einem Charismatiker alter Schule war er kaum. Im übrigen möchte ich mich gegen die verbreitete Tendenz wehren, die johanneischen Gemeinden von der Institution Kirche völlig zu lösen und als Musterfall einer neutestamentlichen nicht-institutionellen „charismatischen Bruderschaft“35 zu verstehen. E. Schweizer wies zwar darauf hin, daß in den johanneischen Schriften von Ämtern nicht die Rede sei, es sei denn, von jüdischen, und von der ἐκκλησία nur des Diotrephes.36 E. Käsemann sprach gar vom „naiven Doketismus auch der johanneischen Ekklesiologie“.37 Fehlt also im johanneischen Schrifttum das, was wir den instituierenden Charakter des Christusereignisses und ‑zeugnisses genannt haben? Reicht die Stiftung der Kirche durch den Vater und den Sohn nicht mehr hinunter in die irdisch-institutionelle Existenz der Kirche? Μ. E. doch. Man wird in den johanneischen Schriften besonders sorgfältig unterscheiden müssen zwischen den faktischen Verhältnissen und der Art und Weise, wie die Texte diese Verhältnisse interpretieren. Sicher verstehen sie die Beziehungen zwischen den Gemeindegliedern rein geschwisterlich und das Verhältnis zwischen ihnen symmetrisch.38 Sicher ist von der Autorität von Aposteln, Propheten oder Lehrern nicht die Rede. Aber was ist etwa der Verfasser des 1. Johannesbriefes anderes als ein christlicher Lehrer, der das tut, was christliche Lehrer schon immer getan haben? Er erinnert die Gemeinde an die Tradition, an „das, was von Anfang an war“ (1 Joh 1,1). Auch die Wanderprediger des 2. und 3. Briefes sind christliche Lehrer, die eine Lehre mitbringen und daran erkannt werden können (vgl. 2 Joh 8–10). Ganz unstrukturiert waren die johanneischen Gemeinden jedenfalls nicht; es hat in ihnen auf jeden Fall christliche Lehrer gegeben. Ob es auch Propheten gegeben hat, will ich offen lassen.39 Deutlich ist auch, was ich jetzt nicht weiter ausführen kann, daß die johanneischen Gemeinden nicht einfach losgelöst von der Großkirche gedacht werden dürfen. Die Texte, in denen das Verhältnis des Lieblingsjüngers zu Petrus thematisiert wird, machen das deutlich.40 Es genügt mir hier, wenn ich deutlich machen konnte, daß es in den johanneischen Gemeinden auch institutionelle Autorität und feste 35  Takashi Onuki, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium, WMANT 56, Neukirchen 1984, 80. 36  Eduard Schweizer, Der Kirchenbegriff bei Johannes, in: ders., Neotestamentica, Zürich 1963, 263 f. 37  Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 1966, 124. 38  Symmetrisch wird im Sinne des sozialpsychologischen Verständnisses von P. Watzlawick gebraucht, vgl. Walter Rebell, Gehorsam und Unabhängigkeit, München 1986, 44. 39 So Hans-Josef Klauck, Gemeinde ohne Amt? Erfahrungen mit der Kirche in den johanneischen Schriften, BZ NF 29 (1985), 202–207. 40  Vgl. bes. Joh 20,1–10 und 21,15–23.

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Rollen gibt, gerade in Verbindung mit dem Traditionsbezug. Sie treten vielleicht noch deutlicher zutage als die charismatischen Züge. Dem gegenüber gilt nun allerdings, daß in johanneischer Sicht die Beziehungen innerhalb der Gemeinden konsequent bruderschaftlich interpretiert werden. Dem Lehrer des 1. Johannesbriefes treten die Adressaten auch als Wissende gegenüber (lJoh 2,20). Der Einheit zwischen dem Vater und dem Sohn als dem die Kirche instituierenden Grund entspricht die Bruderliebe als zentrales, ja als einziges Gebot (Joh 17; 13,34 f). Durch Christus als instituierendes Prinzip wird die Bruderliebe gleichsam zur Grundregel, der jede institutionelle Autorität, jede Funktion und Tätigkeit in der Gemeinde sich einzufügen hat. In dieser Weise instituiert Christus das geschichtlich gewordene Haus der Kirche jeweils neu von oben. III. 5  Matthäus Wie das Johannesevangelium, so akzentuiert auch das Matthäusevangelium die kirchenrechtlichen Strukturen in seiner Gemeinde in bruderschaftlich-geschwisterlichem Sinn. Der wichtigste Grundtext ist Mt 23,8–12: Ihr sollt euch nicht Rabbi oder Vater nennen lassen. Die Stelle will nicht grundsätzlich gegen die Existenz christlicher Schriftgelehrter oder Lehrer polemisieren, wohl aber ihre Sonderstellung in der Gemeinde bekämpfen: Sie sollen daran denken, daß einer der Vater und Lehrer ist und daß, wer sich erhöht, erniedrigt werden wird. Daß es in der matthäischen Gemeinde christliche Schriftgelehrte gegeben hat, ist aufgrund von Mt 13,52; 23,34 klar. Wahrscheinlich gab es auch Propheten.41 Das zeigt sich in 23,34, außerdem wohl auch in 5,1lf. 10,41 nennt Matthäus Wanderpropheten, die in seiner Gemeinde Aufnahme finden. Ist die verbreitete These, daß es in der matthäischen Gemeinde Schriftgelehrte und Propheten gegeben hat, richtig, so würden die Verhältnisse in der matthäischen Gemeinde grundsätzlich denen entsprechen, die Apg 13,1 für Antiochien bezeugt. Bischöfe und Älteste werden jedenfalls in der matthäischen Gemeinde nirgendwo sichtbar. Matthäus hat also vermutlich die in seiner Gemeinde vorhandenen rechtlichen Strukturen akzeptiert, aber ihr bruderschaftliches Funktionieren betont. Unsere bisherigen Überlegungen weisen auf einen zweiten wichtigen Sachverhalt: In 7,15–23 und 24,10–12 wird ein Konflikt der matthäischen Gemeinde mit Pseudopropheten sichtbar. Matthäus wirft ihnen schlechte Früchte, Gesetzlosigkeit, Ungehorsam gegenüber dem Willen des Gerichtsherrn (7,16.20–23) bzw. Erkalten der Liebe und Gesetzesverachtung (24,10–12) vor. Wenn auch in der

41 Vgl. z. B. Georg Künzel, Studien zum Gemeindeverständnis des Matthäus-Evangeliums, CThM A / ​10, Stuttgart 1978, 169–175; Wolfgang Trilling, Amt und Amtsverständnis bei Matthäus, in: Albert Descamps u. a. (Hg.), Mélanges Bibliques (FS B. Rigaux), Gembloux 1970, 34–39.

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matthäischen Gemeinde selbst Propheten eine wesentliche Rolle spielen,42 wenn auch für die matthäische Gemeinde Wunder und Prophetie wichtig waren, weil sie selber von den urchristlichen Wanderpropheten begründet und bestimmt ist, von denen Mt 10 spricht, dann geht es auch bei diesem Konflikt nicht um einen Konflikt zwischen Charismatikern und Amtsträgern, sondern um einen Konflikt zwischen Charismatikern und Charismatikern, bzw. zwischen wahren und falschen Propheten. Im ganzen stoßen wir im Matthäusevangelium wie im Epheserbrief und im Johannesevangelium auf ein Verständnis der Institution Kirche, in dem das Rechtliche nur marginal ist. Die zentrale Dimension der Kirche ist für Matthäus der Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters. Vor allem die sog. Aussendungsrede, Mt 10, macht deutlich, daß für Matthäus das Verhalten und das Geschick der Jünger ebenso wichtig ist wie ihre Verkündigung. Diese geschieht denn auch nicht nur durch Worte der Jünger, sondern durch ihre Wunder und Machttaten, ja noch mehr: letztlich geschieht sie vor allem durch ihr Verhalten und durch ihr Leiden. Dazu gehören nach Mt 10 Armut, Wanderschaft, Verfolgung und Martyrium. Darum wird die Rede Mt 10, die als Rede über den Auftrag der Jünger beginnt, zu einer Rede, die im folgenden fast nur noch über ihr Verhalten und ihr Geschick spricht. In praktizierter und gelittener Jüngerschaft besteht also nach Matthäus das Sein der Kirche. In allem haben die Jünger, wie der zentrale Vers 10,25 sagt, zu sein wie der Meister. Darum entscheidet sich an den Früchten nicht nur die Zugehörigkeit der Falschpropheten zur Kirche, sondern auch ihr Geschick im Endgericht. III. 6  Spätschriften und Apostolische Väter Wir kommen zu einem kleinen Ausblick auf die Spätschriften des Neuen Testaments und die Apostolischen Väter. Ich kann die kirchenrechtliche Entwicklung nach Paulus nicht als einen Um‑ und Abbruch verstehen und die Entwicklung der Presbyterialverfassung nicht als einen Rückgriff hinter Paulus zurück auf judenchristliche Traditionen in einer Situation, wo der Paulinismus gegenüber dem Enthusiasmus versagt hatte.43 Vielmehr sehe ich sie im ganzen organisch: Die paulinischen Gemeindestrukturen waren von Paulus gar nicht für die Ewigkeit gedacht; die Zeit bis zur Parusie war nur kurz. Weil es um Adiaphora ging, die im Dienste der Verkündigung und der Gemeinschaft standen, waren sie veränderbar. Es war gerade im Sinn des Paulus, daß in neuer Situation neue Strukturen entstanden. Der Tod des Apostel einerseits, der in den Gemeinden eine ungesicherte Situation und ein Autoritätsvakuum hinterließ, und die sukzessive Verwandlung der Naherwartung, weil die Welt immer noch 42 Vgl. Eduard Schweizer, Gesetz und Enthusiasmus bei Matthäus, in: ders., Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, Zürich 1970, 55–59. 65–67. 43  So Ernst Käsemann, Paulus und der Frühkatholizismus, ZThK 60 (1963), 85.

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bestand, erforderten beständigere Organisationsformen. Daß Gemeindeglieder sich bewähren konnten und mit der Zeit nicht nur eine charismatische, sondern auch eine traditionelle Autorität ausübten, war schlicht eine Frage der Zeit. Daß man sie „Älteste“ nannte, war zwar ein Rückgriff auf judenchristliche Traditionen, aber nicht die Übernahme eines bestimmten Verfassungsmodells.44 Älteste gab es außerdem nicht nur im Judentum.45 Die Entwicklung war also ziemlich natürlich. In den Pastoralbriefen zeigt die bekannte crux, daß das Verhältnis der πρεσβύτεροι zum ἐπίσκοπος oder zu den ἐπίσκοποι nicht klar zu bestimmen ist, wie wenig das Interesse des Verfassers in einer klaren Ordnung der verfassungsrechtlichen Probleme bestand. Außerdem gibt es verschiedene Arten von „Ältesten“, nämlich die, die in der Lehre tätig sind, und die anderen (1 Tim 5,17). Das alles weist auf gewachsene und entsprechend juristisch unklare Strukturen. Auch die Gleichheit der amtlichen Strukturen in allen paulinischen Gemeinden ist, ähnlich wie Apg 14,23, nur vorausgesetzt, wird aber nicht besonders eingeschärft. Wie weit hier die literarische Fiktion den tatsächlichen Verhältnissen entsprach, ist überdies offen. Vor allem aber wird man betonen müssen, daß in den Pastoralbriefen das Amt dienenden Charakter hat, d. h. um der unverändert zu bewahrenden παραθήκη willen da ist. Der Konflikt, der mit den Irrlehrern ausgetragen wird, ist nicht ein solcher zwischen Charisma und Amt: Auch die Häretiker sind διδάσκαλοι (lTim 1,17; 2 Tim 4,3), aber kaum Pneumatiker. Sie sind Lehrer, aber im Unterschied zu den ebenfalls lehrenden Presbytern (1 Tim 5,17) und Bischöfen (1 Tim 3,2) nicht der παραθήκη des großen κῆρυξ und διδάσκαλος Paulus (2 Tim 1,11; 2,7) treu. Umgekehrt erinnert der Verfasser gerade an das χάρισμα des Timotheus, das ihm immerhin διὰ προφητείας vermittelt worden ist (1 Tim 1,14). Daß χάρισμα in einem exklusiven Sinn Amtscharisma ist und nur durch die Ordination vermittelt wird, sagen die Pastoralbriefe nicht explizit. Im ersten Clemensbrief liegen die Verhältnisse etwas anders. Hier könnte ein Konflikt vorliegen, der mit den Stichworten „Charisma versus Amt“ mindestens zum Teil zutreffend beschrieben ist. Mindestens dann, wenn die Jungen, die sich in Korinth gegen die Presbyter erheben, Pneumatiker gewesen sind (so vielleicht nach 48,5 f), wird ein Generationenkonflikt durch einen Konflikt zwischen Pneumatikern und Amtsträgern überlagert. Es läßt sich auch nicht bestreiten, daß im 1. Clemensbrief die Ordnung (τάξις) zum selbständigen Wert geworden 44  ‫ זָ ֵקן‬ist jüdisch ein allgemeiner Ehrentitel: „Ein ‫ זָ ֵקן‬ist nur, wer Weisheit hat“ (Qid 32b) und bezeichnet nicht nur Mitglieder der Gerusien, sondern z. B. auch Gelehrte. In den Diasporasynagogen tritt in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten der titulare Gebrauch stark zurück (Günther Bornkamm, Art, πρέσβυς κτλ., ThWNT VI, 659–661). 45 Πρέσβυς / ​πρεσβύτερος ist hellenistisch geläufig als politischer Titel in der spartanischen Verfassung, als Bezeichnung für Mitglieder von Vereinsvorständen und Ausschüssen in Ägypten, ebenso für Dorfälteste und für einen Tempelvorstand; πρεσβύτεροι gibt es auch in griechischen Vereinen (Bornkamm, ebd.).

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ist und nicht mehr, wie 1 Kor 14,33, von der εἰρήνη her interpretiert wird. Daß dann, wenn die Ordnung nicht mehr grundsätzlich im Dienst des Friedens und der Liebe gesehen wird, das Verhältnis von Geist und Institution zum Konflikt werden kann, ist verständlich. Das Amtsverständnis des Ignatius schließlich ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie vom Geist her Amtsträger und Gemeindeglieder in einer lebendigen Einheit verbunden werden. Ignatius als θεοφόρος (vgl. die Präskripte), χριστοφόρος, ἁγιοφόρος weiß, daß er dies nicht allein, sondern nur zusammen mit allen Weggenossen ist (Eph 9,2). Gerade als Pneumatiker beschwört er die Einheit mit dem Bischof, dem Presbyterium und den Diakonen (Philad 7). Amt und Geist sind bei Ignatius harmonisch vereinigt.46 Die Harmonie ist keine statische, sondern dem Wohlklang des Liedes vergleichbar, das gerade dann zum Wohlklang kommt, wenn jeder mitsingt (Eph 4,lf). Was dieser Wohlklang etwa bedeuten könnte, wird deutlich, wenn man z. B. im Brief an Polykarp (1–5) liest, in welcher Weise der Bischof in Liebe für seine Gemeinde da zu sein hat. Bischöfe, die ihre Gemeindeglieder nicht lieben können, weil die Diözesen so groß sind, daß der Bischof sie überhaupt nicht kennt, sind keine Bischöfe im Sinn des Ignatius, der ein Gemeindebischof gewesen ist! Um das ignatianische Bild vom Lied etwas zu verschieben: Das Wesen der Institution Kirche hängt daran, daß sie eine Partitur ist, die jedem Gemeindeglied erlaubt, mit seiner Stimme in das Lied Christi einzustimmen, so daß das dreigestaltige Amt gleichsam zum Katalysator des großen Liedes der ἕνωσις wird. Aber auch bei Ignatius stehen wir, ähnlich wie beim 1. Clemensbrief, an einer Grenze. Indem das dreigestaltige Amt die himmlische Autorität Gottes, der Apostel und Christi repräsentiert (Magn 6), wird es als solches notwendig. Es wird zur an sich richtigen Partitur, auch unabhängig davon, ob diese Partitur von den Gemeindegliedern gesungen werden kann. Es wird zu einem Haus, das von neuen Bewohnern nicht mehr umgestaltet und renoviert werden kann. Es kann dann, durch göttliche Autorität gestützt, zur verdinglichten Institution werden, die nicht mehr von der Liebe, und das heißt auch: von den Erfordernissen der Situation und nach dem Grundsatz der Freiwilligkeit gestaltet werden kann. Es wird unveränderbar. Zuzufügen ist aber, daß das ignatianische dreigestaltige Amt in der Ortsgemeinde und die spätere dreigestaltige Hierarchie von Regionalbischof, örtlichen Presbyter-Priestern und untergeordneten Diakonen der Sache nach völlig verschieden sind. Nur die formale Struktur wurde unverändert beibehalten. Damit läuft sie aber in ihrer Unveränderbarkeit Gefahr, den Prozeß weitergehender Instituierung von Christus her, der nach Dombois zur Institution Kirche gehört, zu unterbinden.

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 Vgl. Joachim Rohde, Urchristliche und frühkatholische Ämter, ThA 33, Berlin 1976,

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IV. Zusammenfassung und Folgerungen 1. In neutestamentlicher Zeit gab es abgesehen vom Konflikt in Korinth, von dem uns der 1. Clemensbrief berichtet, keine Konflikte, die in wesentlichem Maße als Konflikte zwischen Charismatikern und Amtsträgern verstanden werden könnten. Solche Konflikte sind erst zu einem Zeitpunkt möglich, in dem die Institution Kirche in ihren Strukturen ein hohes Maß an Unveränderbarkeit und Nichtanpassungsfähigkeit erreicht hatte, und vor allem, als die Kirchenlehre schon so weit definiert war, daß charismatische Neuaufbrüche von vornherein unter Häresieverdacht gerieten. Sie sind also erst möglich in einer „verdinglichten“ Gestalt der Institution Kirche. Im ganzen beobachten wir in neutestamentlicher Zeit eine harmonische wechselseitige Durchdringung und Befruchtung von Geist und Institution Kirche, deren rechtliche Strukturen dienenden Charakter hatten und veränderbar waren. 2. Dieser historische Tatbestand hat eine christologische Entsprechung, die wohl ein Stück weit als seine Ursache verstanden werden darf: Versteht man Charismen als aktuelle, neu aufbrechende Geisterfahrungen und Geistbegabungen, und Institution als ein relativ dauerhaftes, traditional bestimmtes Lebens‑ und Gemeinschaftsverhältnis, so ergibt sich von Christus her eine Verbindung beider: Als Auferstandener ist Christus eine gegenwärtige Größe und ereignet sich immer neu durch den Geist. Als auferstandener Jesus aber bleibt er der Gemeinde in seiner einmaligen, geschichtlichen Gestalt dauernd vorgegeben. Deshalb ist in neutestamentlicher Zeit der Geist dauernd an die Tradition gebunden und seine Neuaufbrüche wollen an geschichtlicher Kontinuität verifiziert werden. 3. Inhaltlich ist die Integration von Menschen in eine Gemeinschaft ein konstitutives Moment des Erbes Jesu, das zu kontinuierlicher Gestaltung einer gemeinschaftstragenden Institution führt. Zugleich aber ist diese Institution nicht etwas ein‑ für allemal unveränderlich Vorgegebenes, sondern der Geist des lebendigen Christus will sie ständig erneuern. 4. Von hier aus erwies sich der weit gefaßte Institutionsbegriff geschichtlich orientierter Sozialwissenschaft als für das neutestamentliche Kirchenverständnis passend: Institutionen sind nicht ausschließlich als rechtlich geordnete Anstalten zu verstehen, sondern ihre rechtliche Gestalt ist ein vorgegebenes Gefäß, das mit ständig neuem Leben erfüllt wird und sich dadurch auch verändert. Das aktuelle Leben, also der Akt des Instituierens, gehört mit zur Institution, die einem Haus verglichen werden kann, das bewohnt werden muß und seinen Charakter in einem wesentlichen Ausmaß seinen jeweiligen Bewohnern verdankt. Der Gedanke eines institutionellen Prozesses schien hilfreich für das Verständnis von Kirche im Neuen Testament.

7. Charisma und Institution in neutestamentlicher Sicht

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5. Christus ist neutestamentlich die Vorgabe der Institution Kirche, von der her diese ständig neu gestaltet wurde.47 Versteht man neutestamentlich das Zentrum der Christusbotschaft als Versöhnung, so entsprechen diesem Zentrum Verkündigung, Gemeinschaft und Liebe als Herz der Institution Kirche. Die wechselseitige Durchdringung von Geist und Recht in der Institution Kirche muß also zum Ausdruck des Werks der Versöhnung werden, welche Christus geschaffen hat und welche die Gemeinde weiterträgt. Christusförmigkeit der Institution Kirche bedeutet, „daß sie immer wieder neu fragt, ob“ in ihrer Gestalt und in ihrem Dienst in der Welt „wirklich der Dienst der Versöhnung geschieht“.48 Kirche als Institution hat also den Auftrag, in der konkreten Situation, in der sie lebt, das Versöhnungswerk Christi zu „instituieren“. 6. Merkmale kirchlichen Rechts könnten von da her sein: – es bedenkt nicht nur den Binnenraum Kirche, sondern die Rechte aller, denen die Botschaft der Versöhnung gilt; – es ist in hohem Maß auf Zustimmung, Freiwilligkeit und Kommunikation hin angelegt; – es ist grundsätzlich situationsbestimmt, wie die Liebe selbst situationsbestimmt ist, d. h. es ist nicht unveränderbar, sondern es muß immer wieder neu daraufhin befragt werden, ob es der Versöhnung (noch) entspricht. 7. Gerade das von Christus gesetzte Recht, das ius Divinum, muß also veränderbares Recht sein, denn nur so kann es dem lebendigen Gott, der sich im lebendigen Christus abschließend offenbart hat, wirklich entsprechen. Ist es das nicht, so bekommt es gesetzlichen Charakter und die von ihm geprägte Institution Kirche ist nicht mehr Gefäß der Gnade und Heimat der Begnadeten, sondern verdinglichte, sie zwingende Anstalt. Man mag diese These als Anfrage an einen sich selber traditional verstehenden Katholizismus verstehen.49 Viel dringlicher aber scheint mir die folgende, achte These, die eine meines Erachtens ungleich wichtigere Anfrage an uns Protestanten enthält. Sie ist aus meiner eigenen, westlichen Situation heraus formuliert: 8. Das Ineinander von Geist und Institution scheint im Lichte der Christologie für den christlichen Glauben unaufgebbar, wenn nicht die Institution Kirche eine tote Hülse und der Geist eine weltflüchtige Spiritualität, oder wenn nicht die Kontinuität der Institution Kirche kraftlos und der Geist eine immer wieder neue Sekten hervorbringende absolute Autorität werden soll.

47  Vgl. die bruderschaftliche Akzentuierung kirchlicher Strukturen bei Joh und Mt oben Abschnitte III. 4. und III. 5. 48 Klaiber, Rechtfertigung (o. Anm. 26), 237. 49 Zur katholischen Diskussion über historisch-situationsbedingte und metahistorische Begründung des Kirchenrechts vgl. Knut Walf, Kirchenrecht, in: Peter Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe II, München 1984, 245 f.

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Ich denke manchmal, daß wir heute mit der doppelten Erfahrung des Geistverlustes und des Kirchenverlustes bei uns im protestantischen Teil Westeuropas ziemlich nahe an eine Grenze gekommen sind, jenseits der es keine Wiedergeburt der Kirche mehr gibt. Wir müssen sowohl den Geist als auch die Kirche wiedergewinnen und können meines Erachtens nur beides zusammen wiedergewinnen. Es könnte sein, daß im nächsten Jahrhundert der Katholizismus und einige Freikirchen und Sekten überleben, während an das, was ehemals protestantische Volkskirchen waren, eine noch übrigbleibende freie Geistigkeit, einige, auch ohne Kirche funktionierende soziale Institutionen, ein paar übrigbleibende Landeskirchenämter und Synodalräte und sonstige institutionelle Fossilien und vor allem sehr viele Kirchengebäude erinnern.

8. Die Kirche und ihr Geld im Neuen Testament Andreas Lindt zum Gedächtnis

Eine Untersuchung der Kirchenfinanzen in ihrer geschichtlichen Entwicklung erbringt für die protestantischen Kirchen Deutschlands und der Schweiz im Großen und Ganzen für das siebzehnte bis zwanzigste Jahrhundert den Befund, daß es überwiegend historische Gegebenheiten, ökonomische Veränderungen und das faktische Verhältnis von Staat und Kirche gewesen sind, die das Finanzwesen der Kirche bestimmten. Obwohl es theoretisch so ist, daß „das Geld der Kirche … zu ihrer Ordnung“ und diese „ihrerseits zu ihrem Zeugnis gehört“,1 spricht der geschichtliche Befund dafür, daß es de facto weithin anders war: Das Geld der Kirche und ihr Zeugnis scheinen auf verschiedenen Ebenen zu liegen. In ihrem Zeugnis richtet sich die Kirche nach dem Neuen Testament aus; in ihrem Finanzwesen zeigt die Geschichte mindestens seit dem neunzehnten Jahrhundert „kaum … eindeutige Beispiele für einen prägenden Einfluß des kirchlichen Dienstes und der theologischen Reflexion auf die Gestaltung des Finanzsystems“. „Theologische Reflexion, soweit sie überhaupt auf die materielle Struktur der Kirche … Bezug nimmt“, hat weithin den Charakter einer „nachträgliche(n) Legitimation von Entwicklungen“ ökonomischer Art.2 Protestantische Theologie mit ihrem traditionellen Reflexionsdefizit in Bezug auf die konkrete Gestalt der Kirche hat diese Entwicklung begünstigt. Das Neue Testament spielte im Bereich der Kirchenfinanzen ein Aschenbrödeldasein;3 es hielt da und dort das schlechte Gewissen über die reale Kirche wach. Die Geschichte zeigt auch, daß ein wesentlicher Grund für das Verharren der Kirche in  Alfred Schindler, Die Kirche und ihr Geld, Basel 1983, 36.  Wolfgang Huber, Folgen christlicher Freiheit, Neukirchen 1983, 219 f. 3 Vgl. z. B. Erwin Kleinstück, Art. Finanzwesen III Theologisch, in: RGG3 Bd. II, 1958, 954. O. Friedrich, Art. Finanzwesen der Kirchen, EKL Bd. I, 1956, 1289 entnimmt dem NT lediglich, daß auch die urchristlichen Gemeinden eine „wirtschaftliche Gebarung“ hatten. Recht häufig wird die Einrichtung freiwilliger Sammlungen mit Hilfe der paulinischen Kollekte für Jerusalem „theologisch“ legitimiert, als ob gerade sie eine theologische Legitimation besonders nötig hätte! Hans Liermann, Art. Abgaben, kirchliche, in: TRE I, 1977, 329 versteht bereits die neutestamentlichen Zeugnisse als Ausdruck der „schwerwiegenden grundsätzlichen Problematik“, daß die Kirche als Teil dieser Welt auch materieller Mittel bedurfte. Die neutestamentlichen Zeugnisse aber sehen und gebrauchen Geld nie mit diesem Bewußtsein, sondern immer mit dem selbstverständlichen Anspruch, damit ein Stück ihres Kirche-Seins zu realisieren. 1 2

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ökonomischer Eigengesetzlichkeit zu fast allen Zeiten das Vorhandensein von Vermögen und Einkünften war; am ehesten dann, wenn Geld mangelte, besann man sich auf das Neue Testament und den Auftrag der Kirche. Insofern ist der jetzige Zustand vielleicht nicht ohne Hoffnung. Eine neutestamentliche Studie im Rahmen eines übergreifenden theologischen Arbeitsprojektes4 weckt immer Hoffnungen auf Entdeckung normativer Linien. Darum ist eine Warnung von vornherein am Platz: Es gibt kaum einen Bereich kirchlichen Lebens, wo die geschichtlichen Voraussetzungen im frühesten Christentum und heute so verschieden sind, wie gerade hier. Entsprechend wird eine direkte Übertragung auch nur neutestamentlicher Grundlinien in heutige kirchliche Wirklichkeit sehr schwer sein. Auf der anderen Seite bietet eine neutestamentliche Studie über die Kirchenfinanzen besonderen Reiz: In jeder Epoche ihrer Geschichte waren die Kirchenfinanzen  – meist überwiegend  – durch gesellschaftliche und ökonomische Realitäten und historisch vorgegebene Bindungen und Verpflichtungen bestimmt. So lebte auch in neutestamentlicher Zeit die Kirche in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Umgebung und orientierte sich positiv oder negativ an vorhandenen gesellschaftlichen Modellen. Das Gewicht des Vorgegebenen war aber damals ungleich geringer als in jeder anderen kirchengeschichtlichen Epoche. Das heißt: Man wird erwarten können, daß in neutestamentlicher Zeit die kirchlichen Finanzierungsmodelle in höherem Maße als später vom Auftrag und Wesen der Kirche bestimmt waren, wenn es überhaupt so ist, daß das in der Kirche gebrauchte Geld etwas mit dem Wesen und Auftrag der Kirche zu tun hat. Man kann jedenfalls erwarten, daß die prägende Kraft der damals vorhandenen gesellschaftlichen Analogien zur Kirche, etwa von Synagoge oder antiken Vereinen, geringer gewesen ist als in späteren Zeiten die prägende Kraft der historisch vorgegebenen Kirche. Deshalb ist der Umgang mit den neutestamentlichen Modellen von besonderem Interesse. Zugleich aber sollen die Schwierigkeiten von Anfang an deutlich herausgestellt werden: a) Die Quellen sind naturgemäß nicht sehr ergiebig. Im Neuen Testament ist zwar immer wieder von Geld, Besitz und Besitzverzicht des Christen, aber selten von kirchlichen Finanzen die Rede. In sehr vielen Fällen sind die Informationen nur indirekt. Die Gründe sind natürlich vielfältig, stellen aber auf jeden Fall vor die Frage, ob die kirchlichen Finanzen in neutestamentlicher Zeit wirklich etwas für die Kirche Wesentliches waren. b) Ähnlich wie bei der Verfassung der Gemeinden und der Kirche, so stoßen wir auch hier auf eine große Vielfalt und auf eine schnelle Entwicklung, die sich erst in späterer Zeit wesentlich verlangsamt hat. Deshalb gilt es nicht nur, zu fragen, ob es in dieser Vielfalt überhaupt etwas Gemeinsames gibt, sondern 4  Gemeint ist das Projekt „Die Finanzen der Kirche“ der Forschungstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg. Vgl. Nachweis der Erstveröffentlichungen.

8. Die Kirche und ihr Geld im Neuen Testament

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zugleich auch, ob und mit welchem Recht wir ein allfälliges Gemeinsames für theologisch wesentlich halten. c) Die Sekundärliteratur zu unserem Thema ist spärlich,5 nicht nur, weil die Quellen relativ wenig ergiebig sind, sondern auch, weil aus bekannten Gründen die Theologie höchst selten nach den Kirchenfinanzen gefragt hat. Unser Versuch ist also – wegen der weithin fehlenden Überprüfungsmöglichkeit der eigenen Thesen im Gespräch mit der Sekundärliteratur – riskant. Wir wählen folgendes Vorgehen: In einem ersten Abschnitt sollen summarisch einige antike Analogien zu den frühchristlichen Gemeinden beleuchtet werden, das heißt Organisationen, welche die Gemeinden vor Augen hatten und die Modelle für den eigenen Aufbau der Gemeinde darstellen konnten. In einem zweiten Abschnitt soll der neutestamentliche Befund zu Worte kommen. Wichtig ist dabei die Frage, ob, wie und warum sich die Finanzen der frühchristlichen Gemeinden von ihren antiken Analogien unterscheiden. Ein dritter Abschnitt versucht, den Befund auszuwerten, und fragt nach dem Gemeinsamen in verschiedenen frühchristlichen Modellen.

I. Analogien Wir wählen als Analogien 1. die Synagoge, 2. die Essener und 3. die kultischen Genossenschaften einer hellenistischen Stadt. Dabei beschränken wir uns auf ein paar Grundlinien. II. 1  Die Synagoge: Im Unterschied zu den frühen Christen hatten sich damals die meisten jüdischen Gemeinden mit dem Bau und dem Unterhalt von Gebäuden zu beschäftigen. Kleine Gemeinden trafen sich in Privathäusern.6 Sy5 Grundlegend auch für das Urchristentum Adolf v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 41924, 170–220; zum Neuen Testament: Alois Stöger, Das Finanzwesen der Urkirche, Bibel und Liturgie 50, (1977), 96–103; im ganzen wenig hilfreich: Heinz Schröder, Jesus und das Geld, Karlsruhe 1979; nicht direkt zum Thema, aber sehr hilfreich: Martin Hengel, Eigentum und Reichtum in der alten Kirche, Stuttgart 1973; Gerd Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 1979, 79–105; ders., „Wir haben alles verlassen“ (Mc 10,28), ebd. 106–141; ders., Legitimation und Lebensunterhalt. Ein Beitrag zur Soziologie urchristlicher Missionare, ebd. 201–230; ders., Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde. Ein Beitrag zur Soziologie des hellenistischen Urchristentums, ebd. 231–271. 6  Samuel Krauss, Synagogale Altertümer, Nachdruck Hildesheim 1966, 302 f. Beispiele: Delos, Aegina, Priene (Wolfgang Schrage, Art. συναγωγή, ThWNT VI, 816,17 ff. und Anm. 120), Stobi (der Stifter behält Wohnrecht in seinem zur Synagoge umgewandelten Haus; Martin Hengel, Die Synagogeninschrift von Stobi, ZNW 57 (1966), bes. 161–175). Die Situation ist also hier im Judentum und im Christentum prinzipiell gleich; der Unterschied besteht lediglich darin, daß im Judentum, einer etablierten und anerkannten „väterlichen Religion“

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nagogen wurden in geschlossenen jüdischen Gebieten oft aufgrund eines Gemeindebeschlusses erbaut, wobei die Bürger einer Gemeinde zum Zahlen eines Beitrages gezwungen werden konnten.7 In der Diaspora war entweder nur die jüdische Gemeinde für den Bau der Synagoge verantwortlich, oder die Synagoge wurde durch Spenden finanziert. Vor allem einzelne Ausrüstungsgegenstände und Schmuck, wie etwa Torahrollen, Lampen, aber auch Baumaterialien, Säulen, Türschwellen etc. wurden durch Spenden bezahlt. Lk 7,5 berichtet, daß ein heidnischer Hauptmann eine Synagoge gestiftet habe. Solche Großzügigkeit ist wohl eher die Ausnahme gewesen, immerhin hören wir auch inschriftlich davon, daß zum Beispiel Säulenhallen oder ein Atrium gestiftet worden seien.8 Interessant ist eine Inschrift aus Ägina, die davon spricht, daß die dortige Synagoge aus ihren Einkünften mit einem Mosaikboden belegt worden sei.9 Was die Einkünfte einer Synagoge gewesen sein mögen, ist schwer zu sagen. Da eine Synagoge verschiedenen Zwecken diente und unter anderem auch als Gasthaus, Rathaus und Lehrhaus gebraucht wurde, ist gut denkbar, daß sie so auch ein gewisses Vermögen ansammeln konnte, vielleicht durch Mieten oder Tarife, aber doch wohl eher durch regelmäßige Spenden der Benützer für den Unterhalt. In einigen Fällen hören wir, daß der ἀρχισυνάγωγος den Bau der Synagoge finanziert habe. Öfters hat er für den Unterhalt des Gebäudes erhebliche Aufwendungen aus privater Tasche gemacht.10 Zu den Beamten der Synagoge und ihrer Entschädigung: Es scheint in den Synagogen keine bezahlten Beamten gegeben zu haben. Das Amt des Synagogenvorstehers (ἀρχισυνάγωγος) war ein Ehrenamt, das oft von einem Angehörigen einer vornehmen Familie und meist für eine befristete Zeit innegehalten wurde.11 Da der Synagogenvorsteher nicht nur für den Ablauf der Gottesdienste, sondern auch für die Gebäude verantwortlich war, konnten ihm beträchtliche Kosten erwachsen. Außerdem gab es den Synagogendiener und mindestens drei Almosenpfleger, die für die Verteilung der Armenunterstützung verantwortlich waren. Mir ist kein sicherer Fall dafür bekannt, daß die Inhaber dieser Ämter für ihre Tätigkeit bezahlt wurden.12 Kosten entstanden den Synagogen also für die mit großem Mitgliederbestand, die Haussynagogen nicht das Übliche gewesen sein dürften, während im nicht als Religion anerkannten Christentum die Hauskirche zunächst die einzige Möglichkeit war.   7 TosBM 11,23 (= Bill. IV 118).  8  Schrage, Art. συναγωγή (Anm. 6), 812 f. stellt Belege zusammen. Gestiftet wurden u. a. ἀναθήματα, Säulen, Torahrollen, Leuchter, Lampen, Mosaiken oder gar ein Atrium.  9  CIJ I, 723 (Text sehr unsicher). 10  CIJ I, 722 (Ägina); II, 744 (Teos); II, 1404 (Theodotosinschrift, Ophel); vgl. I, 694 (Stobi); II, 766 (Acmonia in Phrygien). 11  Eine lebenslange Amtsdauer scheinen CIJ II, 744 (Teos) und II, 766 (Acmonia) vorauszusetzen. Vgl. aber dagegen Schrage, Art. συναγωγή (Anm. 6), 844, 18 ff. 12 Postuliert Av 2,2 die Unentgeltlichkeit aller Ämter und Aufträge in der Synagoge? „Alle, die für die Gemeinde tätig sind, sollen für sie im Namen des Himmels tätig sein; das Verdienst der Väter steht ihnen bei und ihre Gerechtigkeit (‫ = ְצ ָד ָקה‬Wohltätigkeit) besteht für immer. Euch

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Mobilien und Immobilien, aber kaum für die Durchführung der Gottesdienste und für Personal. Wichtig ist die diakonische Aufgabe der Synagoge. Einige Andeutungen müssen genügen:13 Mir scheint es nicht nachweisbar zu sein, daß es die organisierte Armenunterstützung durch die Synagoge, die aus späterer Zeit bezeugt ist, bereits vor der Zerstörung des Tempels gegeben hat. Sie basierte später auf einer Beitragspflicht der ortsansässigen Synagogenmitglieder, vermutlich im Rahmen des Armenzehnten. In früherer Zeit scheint man den Armenzehnten eher im Rahmen privater Wohltätigkeit verwendet zu haben. Ansätze zu einer von der Gemeinschaft organisierten Wohltätigkeit gab es im Jerusalemer Tempel in der sogenannten Kasse der Verschwiegenen (Sheq 5,6); wieweit es Ähnliches auch in den einzelnen Synagogen gab, läßt sich nicht mehr sagen. I. 2  Die Essener: Außerordentlich wichtig wäre es, wenn wir etwas über das Finanzwesen einzelner jüdischer Parteien und Vereinigungen wüßten, denn als solche trat ja das frühe Christentum im jüdischen Rahmen zunächst auf. Aber wir wissen nur über die Essener Bescheid. Über die Pharisäer und Sadduzäer gibt auch Josephus keine Auskunft, vielleicht deswegen nicht, weil es nichts Besonderes zu berichten gab. Im Blick auf die Essener ist es nicht ganz einfach, die Informationen aus Josephus (Bell 2,119–161), die sich auf die im Lande in geschlossenen Gemeinschaften offenbar familienweise lebenden Angehörigen des Ordens beziehen, und diejenigen der Sektenregel, die sich auf das Kloster in Qumran beziehen, ins richtige Verhältnis zueinander zu bringen.14 Zunächst hebe ich zu den ausserhalb von Qumran lebenden Essenern einige Dinge hervor, die mir wichtig zu sein scheinen. Josephus berichtet zwar vom νόμος … δημεύειν (= konfiszieren) τὴν οὐσίαν und kennt in den Gemeinschaften die gewählten „Verwalter der gemeinsamen Güter“ (123). Auf der anderen Seite scheint es eine Verfügungsmöglichkeit über das eigene Vermögen nach wie vor gegeben zu haben: Er spricht ausdrücklich davon, daß zwei Dinge ohne Anordnung der Aufseher von den Mitgliedern gemacht werden: ἐπικουρία und ἔλεος. Nur die Hilfe gegenüber eigenen Verwandten bedarf der Zustimmung des Aufsehers (134). Auch aber werde ich großen Lohn anrechnen, als ob ihr es getan hättet.“ Unsicher ist die Sachlage allerdings beim Synagogendiener. Eindeutig belegt ist, daß er in der Synagoge seine Wohnung haben konnte (bEr 55b; bYom 11b). Shemu’el Safrai, The Synagogue, in: ders. / ​Menahem Stern (Hg.), The Jewish People in the First Century II, CRI 1/2, Assen 1976, 935 f. hält den Synagogendiener für einen bezahlten Beamten, aber m. E. ohne zureichende Belege. 13  Vgl. Joachim Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, Göttingen 31969, 142–150; Bill. II 643–647. D. Secombe, Was there Organised Charity in Jerusalem before the Christians?, JThS 29 (1978), 140–143 ist skeptisch gegen Frühdatierung der synagogalen Armenversorgung. 14 Eine Gegenthese vertritt David Mealand, Community of Goods at Qumran, ThZ 31 (1975), 129–139: Er rechnet mit zwei Phasen in der Entwicklung der Essener und ordnet auch die Damaskusschrift der zweiten, weniger rigoristischen Phase zu.

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die Formulierung „unterschiedslos ist jeder einzelne für alle zur Dienstleistung (εἰς τὰς χρείας) verpflichtet“ (123) setzt individuelle Verfügung über den Besitz voraus. Umgekehrt muß es eine Gemeindekasse gegeben haben, aus der die Fürsorge gegenüber den auswärtigen Gästen und gegebenenfalls die gemeinsamen Mahlzeiten bezahlt wurden. Die Fürsorge gegenüber Mitgliedern des Ordens war durch das Kauf‑ und Verkaufsverbot innerhalb des Ordens geregelt: Das Normale scheint unter den Mitgliedern des Ordens das Tauschverfahren gewesen zu sein, und offenbar eher ausnahmsweise ist „auch ohne Gegenleistung die Entnahme von Gütern“ bei irgendeinem Ordensmitglied möglich (127). Ich würde bei den von Josephus geschilderten Essenern am ehesten von einem eingeschränkten Privateigentum sprechen, und zwar so, daß die Bedürfnisse der Gemeinde jederzeit den Vorrang vor der Verfügungsgewalt des Einzelnen über seinen Besitz haben. Kaum wurde der Privatbesitz generell in den Besitz der Gemeinschaft überführt. Das entspricht grosso modo der Damaskusschrift; nur ist dort gesetzlich geregelt (CDC 14,13), daß man dem ‫( מבקר‬Aufseher) mindestens zwei Taglöhne pro Monat abgeben muß, die für diakonische Zwecke bestimmt sind (Greise, Waisen, Arme, Heimatlose, Auslösen von Gefangenen, Unterstützen von Jungfrauen; CDC 14,14–16). Gemeinschaftsbesitz ist aber offenbar das Charakteristikum des Klosters in Qumran gewesen, wo 1QS 6,19 f deutlich macht, daß „der Mann, der die Aufsicht führt (‫ )האיש המבקר‬über die ,Arbeit‘ der Vielen“, das Vermögen der Ordensmitglieder nicht nur verwaltet, sondern auch darüber verfügt. Der Bericht Philos (Omn prob lib 76 f. 84–87) stimmt mit keinem der beiden Texte ganz überein; Philo ist offenbar am wenigsten genau informiert. I. 3  Das antike kultische collegium: In den griechischsprachigen Städten trat für die Christen nach der Trennung von der Synagoge die Analogie des antiken kultischen collegiums als Organisationsform in den Vordergrund. Auch von Außenstehenden mußten die Gemeinden so eingeordnet werden.15 Als Collegien waren viele Mysterienreligionen organisiert: Vor allem der erste Korintherbrief zeigt m. E. deutlich, daß auch für andere Lebensbereiche der Gemeinde die Analogie der Mysterienreligionen prägend wirkte; man vergleiche etwa die Bedeutung der Apostel-Initiatoren16 oder der kultischen Mahlzeiten. Viele antike Vereine kannten eine ähnliche Mischung von kultischer Gottesverehrung 15  Plinius, Ep 10,96,7 spricht von hetaeriae. Nach Lukian, Peregr 11 sind die Christengemeinden θίασοι; Celsus bei Origenes 3,22 nennt die Christen θιασῶται. Die Gleichsetzung des Christentums mit einer Philosophenschule erfolgte bei den Apologeten (Justin!) und war mehr programmatisch als real. Zur Einordnung der Christen in die antiken collegia vgl. auch Robert L. Wilken, Kollegien, Philosophenschulen, Theologie, in: Wayne A. Meeks (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums, ThB 62, München 1979, 184–191. 16  In 1Kor 1,13 f zeigt die Abwehr des Paulus dagegen, daß der Täufer für viele Korinther eine bleibende Bedeutung (als „Mystagoge“?) hatte.

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und Lebensgemeinschaft wie die christlichen Gemeinden.17 Gemeinsame Mahlzeiten, regelmäßige Zusammenkünfte, Gottesverehrung und auch die Anrede Brüder und Schwestern18 lassen sich belegen, von gemeinsamen Begräbnisplätzen nicht zu reden. Umstritten ist seit Mommsen,19 wieweit die sogenannten collegia tenuiorum (Vereinigungen von Leuten niederen Standes) über die Funktion eines Begräbnisvereins hinaus weitere soziale Funktionen hatten, etwa Hilfeleistungen im Fall von Krankheit und Not. Heute neigt man eher dazu, hier vorsichtig zu sein. Eine enge Parallele zwischen antiken Vereinen und christlichen Gemeinden ergab sich auch daraus, daß viele Vereine recht offen waren, zum Beispiel auch für Frauen oder Sklaven. Wir müssen annehmen, daß auch Mysterienreligionen aus dem Osten wenigstens dann, wenn sie einen festen Kultort hatten, als collegium organisiert waren. Zu einem „collegium“ gehören als Institutionen: Statuten; Beamte, die wie städtische Beamte auf Zeit gewählt wurden, eine summa honoraria zu bezahlen hatten und denen dann die Durchführung der Kulte und die Verwaltung des Vermögens oblag; eine Mitgliederversammlung, die mit drei Mitgliedern (tres faciunt collegium!) beschlußfähig war und alle Entscheidungsbefugnis hatte; ein Eintrittsgeld (bei Mysterien der für die Weihe zu bezahlende recht hohe Betrag)20; ein in der Regel monatlicher Mitgliederbeitrag; Schenkungen und Stiftungen, zum Beispiel für Festivitäten oder kultische Auslagen oder auch für die Verschönerung der Gebäude. Unter den Ausgaben fungieren je nach Vereinszweck der Kult, die Begräbnisse, gemeinsame Mahlzeiten, der Unterhalt der Gebäude, die commoda (Spesenentschädigung) der Beamten und so weiter.21 Tertullian, der im Unterschied zu den Apologeten kein Interesse daran hat, die christlichen Gemeinden als Philosophenschule darzustellen, schildert Apol 39 das, was die Gemeinden und die antiken collegia miteinander verbindet und voneinander trennt: Die Christen sind apolitisch und müßten von daher zu den erlaubten collegia gerechnet werden. Ihr Vereinszweck ist aber kein privates Interesse, sondern allein der gemeinsame Gottesdienst. Die Vorsitzenden sind die bewährten Ältesten, die keine summa honoraria für diese Ehre bezahlt haben. Die Gemeindekasse wird nicht durch Aufnahmegebühren, sondern durch freiwillige Kollekten gefüllt. 17  Informationen über die collegia geben umfassend Peter Herrmann / ​Jan H.  Waszink / ​ Carsten Colpe / ​Bernhard Kötting, Art. Genossenschaft, in: RAC X, 1976, 83–155; klassisch ist Jean Pierre Waltzing, Étude historique sur les corporations professionelles chez les Romains, 4 Bde., Brüssel 1895–1900. Zu den collegia tenuiorum vgl. Marina E. Pfeffer, Einrichtungen der sozialen Sicherung in der griechischen und römischen Antike, Berlin 1969, 104–121. 18  Auguste Bouché-Leclerc, Manual des Institutions Romains, Paris 1886, 475. 19  Theodor Mommsen, De collegiis et sodaliciis Romanorum, Kiliae 1843. 20 Apuleius Met 11,28. 21 Über die Finanzen antiker collegia orientieren Erich Ziebarth, Das griechische Vereinswesen, Leipzig 1896, 156 ff und Franz Poland, Geschichte des griechischen Vereinswesens, Leipzig 1909, 483 ff.

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Das Geld wird nicht für Schmausereien ausgegeben, sondern für diakonische Zwecke. Tertullian stellt gleichsam „via negativa“ das Besondere eines antiken collegiums heraus. So ist es sinnvoll, die ersten christlichen Gemeinden in den Städten der Osthälfte des Reiches mit den collegia zu vergleichen.

II. Der neutestamentliche Befund II. 1 Jesus: Ausgangspunkt unserer neutestamentlichen Überlegungen soll die These sein, daß Jesus zwar keine Kirche gegründet hat; sein Jüngerkreis war aber die Urzelle der Gemeinschaft, die nach seinem Willen22 ihn überdauerte. Der Jüngerkreis war in verschiedener Weise eine zeichenhafte Konkretion von Jesu Botschaft: Er integrierte Arme, Frauen, Sünder, Zeloten in diejenige neue Gemeinschaft, die der Botschaft von Gottes Liebe entsprach. Er repräsentierte – als Zwölferkreis – zeichenhaft die Vollzahl des eschatologischen Israel. In ihm nahm – in Gestalt der Nachfolge – der radikale Einsatz für das Gottesreich und der Bruch mit der Umwelt, der dazu gehörte, Gestalt an. Nach allem, was wir sehen können, bedeutete Nachfolge Jesu einen Bruch mit bestehenden ökonomischen Bindungen. Für alle Jünger war mit der Nachfolge der Verzicht auf Berufsausübung und ein Leben in Ungesichertheit (Lk 9,58!) und Armut verbunden. Die Forderung Jesu an den jungen Mann, seinen ganzen Besitz zu verkaufen und den Armen zu geben (Mk 10,17–22), war vielleicht ein Rat in einer besonderen Situation; aber mindestens Verzicht auf Nutznießung von Besitz war grundsätzlich mit der Nachfolge verbunden. So hat es jedenfalls die Gemeinde gesehen, die zu Mk 10,17–22 die Verse 23–30 hinzufügte. So sieht auch der Evangelist Matthäus die Jesusnachfolge, wenn er von der Armut der Jünger unmittelbar nach dem Herzstück der Bergpredigt spricht (Mt 6,19–34).23 So sieht es ganz sicher Lukas, der unentwegt betont, daß die Nachfolger alles, was sie hatten, verließen. Der Besitzverzicht der Nachfolger ist m. E. nicht bloß eine Spezialforderung Jesu, die ausschließlich mit dem besondern „Beruf“ der Nachfolger, der Gottesreichverkündigung, zusammenhängt. Wahrscheinlich ist er auch auf dem Hintergrund der schon in apokalyptischen Texten ausgesprochen grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Reichtum und Gottes Zukunft (vgl. äth Hen 94–105) zu verstehen. Im Logion vom Kamel und vom Nadelöhr hat Jesus ihr einen prägnanten Ausdruck verliehen (Mk 10,25). Ihr entspricht positiv die Zuwendung Gottes zu den Armen im Anbruch seines Reiches (Lk 6,20 f). 22  Kernstelle sind die Abendmahleinsetzungsworte. Mk 14,25 ergibt meines Erachtens, daß Jesus vor seinem Tod am Kommen der Gottesherrschaft nicht zweifelte. Die Tatsache von Einsetzungsworten zeigt auch ohne die Festlegung auf bestimmte Formulierungen, daß Jesus einen Fortbestand der von ihm begonnenen Gemeinschaft über seinen Tod hinaus erhoffte. 23  Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I / 1​ , Neukirchen / ​ Zürich 1985, 354. 371 f.

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So ist es nicht verwunderlich, daß Jesus, auch wenn er nur seinen Nachfolgern konsequent Berufs‑ und Besitzverzicht zumutet, auch in seinen an alle gerichteten Worten Reichtum grundsätzlich kritisch beurteilt. Logien wie Mk 10,25; Lk 6,30, Geschichten wie Lk 16,19–31 oder 12,16–21, oder Begebenheiten wie Lk 19,1–10 vermögen das zu illustrieren: Besitz soll den Armen geschenkt werden. Ein Nein zu weltlichem Reichtum gehört zu Jesu Verkündigung. Jesus verfuhr im übrigen recht unprinzipiell: er liess sich immer wieder einladen und unterstützen. Er hat die die Besitzlosigkeit des Jüngerkreises nicht, wie die Qumrangemeinde, institutionalisiert. Das ist nicht etwa inkonsequent:24 Heimatlosigkeit, Wanderschaft, Annahme von Unterstützungen von Fall zu Fall und eschatologische Naherwartung in der Jesusbewegung gehören ebenso zusammen wie stabilitas loci, organisierter Besitzverzicht und stabilisierte Naherwartung in Qumran. Wenn man im Zusammenhang mit der Frage, ob der Jüngerkreis Jesu Eigentum kannte, betont, daß Jesus und seine Jünger vermutlich eine Kasse hatten,25 hat man jedenfalls die Hauptsache gerade nicht gesagt. Entscheidend ist vielmehr, daß die Heimatlosigkeit und Armut Jesu nicht eine private ist, sondern die Heimatlosigkeit des Menschensohns Lk 9,58, also gleichsam eine „amtliche“ Heimatlosigkeit und Armut aufgrund seines Auftrags. Die Berufungen zur Nachfolge und damit in die Armut sind Berufungen zur Mitarbeit am Gottesreich (Mk 1,16–18; Lk 9,60). Die Regeln der Aussendung, welche die Logienquelle an Lk 9,57–60 anschloß, zeigen deutlich, daß die Existenz der wandernden Boten Jesu als eine Art permanenter Zeichenhandlung verstanden wurde, die das Reich Gottes als Gnade und Gericht personhaft nahebrachte. Die Armut der Jünger ist in diesem Zusammenhang programmatisch (Lk 10,4). II. 2  Das palästinische Urchristentum: Unser Ausgangspunkt bei Jesu Ruf zur Nachfolge und bei der dazu gehörenden Forderung der Heimatlosigkeit und 24 Hengel, Eigentum und Reichtum (o. Anm. 5), 31–38 unterscheidet bei Jesus zwei Linien, die er als „radikale Kritik am Eigentum“ und „freie Haltung zum Eigentum“ charakterisiert und anschließend nach der Weise des Clemens Alexandrinus versöhnt: „Jesus wendet sich … gegen den Mammon, wo dieser die Herzen der Menschen gefangennimmt“ (37). Für Jesu „freie Haltung zum Eigentum“ führt Hengel einerseits die Belege für die Herkunft Jesu und vieler seiner Jünger aus dem Mittelstand an (was besagen sie schon?), andererseits Stellen, die besagen, daß Jesus kein Asket war, sondern sich z. B. einladen und unterstützen ließ. Jesus und seine Jünger, die auf ihren Besitz verzichtet hatten, konnten aber als bewußt inmitten des Volkes lebende „Aussteiger“ weder von Heuschrecken, noch von wildem Honig leben. Daß sie sich einladen ließen, schließt kein verstecktes Ja zum Reichtum ein. Richtig ist, daß Jesus nicht einen allgemeinen Besitzverzicht, sondern situationsbezogene Verwendung des Besitzes für andere bis hin zu seiner Preisgabe um des Gottesreichs willen gefordert hat, ohne dafür gesetzliche Regeln aufzustellen. Vom Gottesreich her aber war es sein Anliegen, daß der Besitz Armen gegeben werde (vgl. z. B. Lk 19,1–10; Lk 1,9 f.; Mk 12,41–44; Mt 25,31–46; Lk 6,30; Mt 5,42; Lk 10,30–37). Die Frage, ob Reiche „durch Reichtum gebunden sind“ und in „angstvoll egoistischer Selbstbehauptung“ (37) leben, stellt er nicht. Im Unterschied zu Späteren geht es ihm darum, was man mit dem Geld tut. 25  Schindler, Die Kirche und ihr Geld (o. Anm. 1), 36.

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der Armut führt uns zu den urchristlichen Wanderradikalen, als deren ersten man wohl Jesus selbst bezeichnen darf. Ich versuche, einige Probleme im Gespräch mit Gerd Theißen anzudeuten: Das Nebeneinander von Wanderradikalen und seßhaften Ortsgemeinden, das Theißen skizziert, ist wohl grundsätzlich richtig. Die schematische Gegenüberstellung von Wanderradikalen mit ihrem radikalen Ethos und seßhaften Gemeinden, die angepaßter und auch eher innerhalb des jüdischen Toraverständnisses leben, ist aber vermutlich eine Vereinfachung.26 Von einem zweistufigen Ethos von Wandercharismatikern und Sympathisanten sollte man nur vorsichtig sprechen. Bereits bei Jesus sahen wir, daß die Richtung des Ethos bei Wanderradikalen und seßhaften Anhängern grundsätzlich dieselbe ist. Es gab Übergänge: Petrus zum Beispiel ist weder der einen, noch der anderen Gruppe einfach zuzuordnen. Er hat, als er mit Jesus herumwanderte, sein Haus nicht verkauft (Mk 1,29). Der radikale Nachfolgerspruch vom Bruch mit der Familie Lk 14,26 gilt zwar von den Wandercharismatikern, aber gerade der Missionar Petrus machte seine Missionsreisen mit seiner Frau, ebenso wie die anderen Apostel und die Brüder des Herrn. Diese setzt Paulus 1 Kor 9,5 als unterwegs befindlich voraus, obwohl der gesetzestreue Jakobus der Prototyp eines Leiters einer seßhaften Gemeinde ist. Das abgestufte Ethos der seßhaften Gemeinden, die innerhalb des Gesetzes und des Synagogenverbandes bleiben und der Wandercharismatiker, die sich unterwegs an das Gesetz nicht strikte halten wollen und halten können (Lk 10,7!), mag eine Wurzel der unterschiedlichen Verhältnisbestimmung zum Gesetz im Urchristentum gewesen sein, aber die Unterschiede zwischen den beiden seßhaften Gemeindeteilen in Jerusalem Apg 6 und 7 zeigen, daß dies kaum die einzige Wurzel war. Das Matthäusevangelium, das die Aussendungsrede in Kap. 10 für die eigene Missionstätigkeit der Gemeinde in seiner Zeit transparent werden läßt (10,18.40–42) und das mit den Wandercharismatikern seiner Zeit enge Berührungen hatte, versteht in 28,16–20 deutlich die Mission als eine Aufgabe der ganzen Gemeinde. Dasselbe gilt für seine Forderung nach Vollkommenheit (5,48), die an alle gerichtet ist und quantitativ so weitgehend wie möglich (5,20!)27 realisiert werden muß, jedenfalls über das hinaus, was die Pharisäer und Schriftgelehrten tun. Bei Markus wiederum, der vielleicht der erste gewesen ist, der Nachfolge als Chiffre verstanden hat, die die Existenz aller Christen umschrieb, ist deutlich, daß sein Verständnis der Kreuzesnachfolge das Gegenteil einer Verbilligung und Spiritualisierung der Nachfolge ist.28 Den alten Spruch „wir haben 26  Gerd Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, TEH 194, München 1977, bes. 14–32 stellt die beiden Typen der Wandercharismatiker und der Sympathisanten einander schematisch gegenüber. Er spricht allerdings auch von den Wandercharismatikern als „geistigen Autoritäten in den Ortsgemeinden“ (14) oder von Antiochien als „,Heimat‑ gemeinde‘ eines Kreises von Wandercharismatikern“ (15). 27 Vgl. Luz, Mt 1–7 (o. Anm. 23), 240 f. 313 f. 28  Vgl. Werner Bracht, Jüngerschaft und Nachfolge, in: Josef Hainz (Hg.), Kirche im Werden, München 1976, 158–165.

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alles verlassen …“ (10,28) bezieht er auf die Situation der ganzen Gemeinde, nicht nur auf die der Wandercharismatiker.29 Man sollte also nicht mit einem starren Nebeneinander völlig besitzloser Wandercharismatiker und mehr oder weniger in die Gesellschaft integrierter Sympathisanten rechnen. Vielmehr galt wohl immer, was schon für Jesus selbst galt: Die Wanderboten lebten von der Hilfe und der Gastfreundschaft von Sympathisanten und Gemeinden. Es gab wohl ganz verschiedene Formen: zeitweise Wanderschaft (vgl. Apg 13,2 f) und vorübergehende Seßhaftigkeit und die Rückkehr in den Kreis der Seßhaften (Did 12,3–5). Das wird auch durch die Logienquelle bestätigt, die viele Traditionen der Wanderradikalen widerspiegelt, aber ebenso Überlieferungen enthält, die nur in seßhaften Gemeinden denkbar sind. Die Mission der Wanderradikalen ist immer auf die Gemeinde bezogen. Man mag für die palästinischen Wanderradikalen von „charismatischer Bettelei“30 sprechen. Wanderbettelei ist damals in Palästina nicht selten gewesen; sowohl in der Mischna als auch in der Damaskusschrift muß darüber eigens gehandelt werden.31 Die Wandercharismatiker im Namen Jesu mochten andere Beispiele evasiven Verhaltens vor Augen gehabt haben.32 Waren die Wanderradikalen Menschen, die ohnehin sehr arm waren und unter sozialem Druck standen? Nur in einzelnen Fällen war dies vielleicht der Fall; für viele, die wir kennen, galt das nicht.33 In den Augen der Gemeinde galten die Wanderradikalen als „Arbeiter“ für die Sache Jesu Christi.34 Ihre Armut wurde als durch den Glauben geforderte 29 V 30: λάβῃ … ἐν τῷ καιρῷ τούτῳ οἰκίας καὶ ἀδελφοὺς καὶ ἀδελφὰς καὶ μητέρας καὶ τέκνα καὶ ἀγρούς … . Wolfgang Stegemann, Wanderradikalismus im Urchristentum?, in: Der Gott der kleinen Leute 2, hg. v. Willy Schottroff u. a., München 1979, 104–115 hat meines Erachtens darin Recht, daß ein Unterschied zwischen der Markus‑ und der Q-Überlieferung eben an diesem Punkt besteht. 30  Theißen, Soziologie (o. Anm. 25), 19. 31 CDC 14,15; Pea 8,7; spätere Texte Bill. II 646. 32  Vgl. Theißen, „Wir haben alles verlassen“ (o. Anm. 5), 139. 33  Unter den Jüngern Jesu sind die Indizien dafür, daß eine soziale Drucksituation die Nachfolge „erleichtert“ haben könnte, gering: Petrus und Andreas (mit Handwerk und Haus), der Zöllner Levi-Matthäus, die Brüder Jakobus und Johannes (nach Mk 1,20 mit größerer Fischerei) und die Jesus nachfolgenden (begüterten) Frauen legen eine solche Vermutung nicht nahe. 34  Wie Theißen, Wanderradikalismus (o. Anm. 5), 85 denke ich, daß der Besitzverzicht mit dem Wanderradikalismus, bei Jesus mit dem Ruf in die Nachfolge zu tun hat. Die Nachfolger Jesu waren von ihrem Verdienst und in der Regel vom Gebrauch ihres Besitzes (z. B. ihres Hauses) abgeschnitten. Gegen Stegemann, Wanderradikalismus (o. Anm. 29), 113 f. und Luise Schottroff / ​Wolfgang Stegemann, Jesus von Nazareth, Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978, 59–62 meine ich, daß Mt 6,25 ff nicht vom Gottvertrauen der ohnehin Armen spricht, sondern vom Gottvertrauen der um des Gottesreichs willen Nachfolgerinnen und Nachfolger, die keine Männerarbeit (säen und ernten, wie die Raben) und keine Frauenarbeit (weben und spinnen, wie die Lilien) ausüben können, weil sie nach dem Gottesreich trachten. Zu beachten bleibt aber, daß Jesus auch für seinen Nachfolgerkreis keine festen Formen des Besitzverzichtes kannte: Der Fall des Reichen von Mk 10,17–22 bleibt offensichtlich als besonderer Fall in Erinnerung.

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verstanden. Darum galt für sie der Grundsatz, daß ein Arbeiter seines Lohnes wert sei (Lk 10,7). Die Gemeinden wußten sich für diese „Arbeiter“ verantwortlich. Sie haben sie nicht einfach ihrem Schicksal, das heißt der jüdischen Privatwohltätigkeit, den Ansätzen synagogaler Fürsorge oder der Kasse der Verschwiegenen im Tempel überlassen. Die Jesusanhänger in Palästina haben, wie die Essener, für ihre armen Wanderprediger eine eigene Fürsorge aufgebaut und damit deren Verkündigungstätigkeit als ihr eigenes Anliegen verstanden. Wie alt der Unterhaltsanspruch der Wandermissionare ist, zeigt seine häufige Bezeugung in der ganzen Kirche (Lk 10,7; Mt 10,10; 1 Tim 5,18; Did 13,1; vgl. 1 Kor 9,5–14; 2 Kor 11,7 f). Neutestamentliche Texte warnen schon früh vor Mißbräuchen: Lk 10,7 warnt davor, sich das Haus mit dem besten Essen auszusuchen. Mt 10,8 fügt ein: Umsonst habt ihr empfangen! Umsonst gebt! und modifiziert die alten Regeln pointiert: Man darf zwar als Gemeindemissionar Besitz haben, aber nichts mitnehmen und vor allem weder Geld noch Silber noch Kleingeld durch die Predigt verdienen (μὴ κτήσεσθε)! Das heißt: Man darf sich für die Predigt nicht bezahlen lassen.35 Darum sagt Matthäus auch betont: Ein Arbeiter ist seiner Nahrung wert (10,10). Die Didache nimmt das auf (13,3) und spricht davon, daß die Gemeinden die Propheten und Lehrer, die sich bei ihnen niederlassen und ihre Gemeindeleiter werden, in Naturalien, nicht in Geld, entschädigen sollen. Die Didache macht also den Übergang deutlich, wo sich die Unterstützung für Wanderpropheten in eine Entschädigung für Gemeindeleiter verwandelt. Umso wichtiger ist, daß die Verbindung mit der Armenunterstützung gewahrt bleibt (13,4–6). Noch Origenes versteht den Lohn der Presbyter als Armenunterstützung; damit ist auch seine Höhe gegeben.36 Das alles ist historisch und theologisch von außerordentlicher Bedeutung. Das missionarische Unterhaltsprinzip von Lk 10,7 läßt uns einen Blick in die Anfänge und in die sachlichen Wurzeln eines neuen „Finanzwesens“ werfen. Hier, bei der Diakonie für die Wanderprediger, zeigen sich die frühesten Anfänge zu einem getrennten Weg von Synagogen und christlichen Gemeinden, noch längst bevor die Gemeinden wegen ihres hartnäckigen Bekenntnisses zu Jesus oder wegen ihrer freieren Gesetzespraxis den Synagogenverband verlassen mußten.37 Wir 35  Vgl. auch die Vorwürfe des Paulus an die judenchristlichen Gegner in 2 Kor 11,13; den umgekehrten Vorwurf 2 Kor 12,16–18; den Vorwurf der Gewinnsucht an die Irrlehrer in den Pastoralbriefen Tit 1,11; lTim 6,5 (νομιζόντων πορισμὸν εἶναι τὴν εὐσέβειαν). Apk 21,6; 22,17 betonen vielleicht nicht ohne Grund: δωρεάν. Diese Stellen bezeugen nicht nur, wie verbreitet das mit der Evangeliumsverkündigung verbundene Problem des Betrugs und der Gewinnsucht ist, sondern auch, daß es eben weithin selbstverständlich war, „vom Evangelium zu leben“. Im zweiten Jahrhundert vgl. Lukians Peregrinus (der Wanderer!) Proteus 13. 36  Origenes, In Mt 16,21 zu 21,2 f.: ἐκ τοῦ εὐαγγελίου μόνον διαζῆν. 37 Lukas datiert also grundsätzlich mit sachlichem Recht die Diakonie in die ältesten Anfänge der Kirche zurück, auch wenn der Text von Apg 6,1–7 in seiner jetzigen Gestalt jung ist. Allerdings entspricht der Ausgangspunkt bei den Witwen wohl späteren Verhältnissen und Problemen (vgl. 1 Tim 5,3–16; Jak 1,27; Aristides, Apol 15,7).

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haben im Bereich der Finanzen eine der frühesten Konkretionen eigenständiger kirchlicher Gestalt. Theologisch scheint wichtig, daß die Diakonie die Wurzel eines eigenständigen Umgangs mit Besitz in der Kirche bildete. Die beiden anderen, später als zentral erkannten Aufgaben eines kirchlichen Finanzwesens lassen sich von der Diakonie nicht trennen: Es sind dies die μαρτυρία, das Verkündigungszeugnis der Wanderprediger, und die κοινωνία, die sich auch in der materiellen Gemeinschaft der Gemeinden mit denen äussert, die für sie und in ihrem Auftrag Christus verkündigen. Wie sah das aus der Perspektive der seßhaften Gemeinden aus? Die Verpflichtungen der Gastfreundschaft und des Unterhalts von Wandercharismatikern bedeuteten eine nicht unbeträchtliche Last für Gemeinden, die, zumal in Palästina, ohnehin arm waren. Dazu kommt, daß arbeitsfähige Gemeindeglieder offenbar immer wieder den Weg der Vollkommenheit wählten und zur Mission aufbrachen.38 In Jerusalem kommt zusätzlich noch dazu, daß manche Jünger nach Jesu Tod und Auferstehung in die heilige Stadt zogen, wo sie zwar das Gottesreich erwarten, nicht aber zum Beispiel fischen konnten. Es verwundert deshalb überhaupt nicht, wenn nach Paulus in der Jerusalemer Gemeinde Arme sind (Gal 2,10; Röm 15,26). Ihre Armut wird sich von der anderer palästinischer Gemeinden nur graduell unterschieden haben. Zuverlässige direkte Informationen über die palästinischen Gemeinden haben wir allerdings keine. Die Notizen des Lukas über den urchristlichen Kommunismus39 sind stark von der Tendenz bestimmt, Armut und κοινωνία des Besitzes als eine ethische Norm darzustellen,40 eine Tendenz, die bekanntlich sein ganzes Werk durchzieht und auch in seiner Jesusdarstellung zu einer Radikalisierung der Armutsforderung führt. Ohne historischen Hintergrund sind seine Summarien aber nicht. Historisch ist wohl, daß die Christen von Anfang an gemeinsame Mahlzeiten gehalten haben wie die Essener, nicht nur zur Freude und zum eschatologischen Jubel, sondern auch zur Sättigung. Das weist darauf hin, daß zur κοινωνία schon sehr früh auch eine soziale Verpflichtung gegenüber allen Gliedern der Gemeinde gehörte, nicht nur gegenüber den Wanderpredigern. Historisch zuverlässig ist wohl auch, daß Lukas nirgendwo einen Produktionskommunismus andeutet; es geht um einen Konsumptionskommunismus. Historisch sind ferner wohl Einzelüberlieferungen, daß einzelne Leute große Teile ihres Besitzes verkauften und der Gemeinde zur Verfügung stellten, auf freiwilliger Basis, wie die Geschichte von Ananias und Saphira deutlich zeigt. Das Stichwort κοινός gehört im zweiten Jahrhundert zu den in Beschreibungen der christlichen Gemeinschaft immer wieder auftretenden Stichworten (Did 4,8 (οὐκ ἐρεῖς 38  Sicher hat es auch Nachfolgerinnen Jesu gegeben (Mk 15,40!). Trotzdem sind als Wanderradikale fast ausschließlich Männer bezeugt (abgesehen von den Apostel-Frauen 1 Kor 9,5). Frauen sind dagegen oft als Kristallisationspunkt von Hausgemeinden anzutreffen (z. B. Röm 16,5 f. 12.15; Phm 1). 39  Zur urchristlichen Gütergemeinschaft vgl. Manfred Wacht, Art. Gütergemeinschaft, in: RAC XIII, 1984, 1–59, hier: 18 f. 40 Zur paränetischen Funktion der Summarien Apg 2,24–47; 4,32–37 vgl. Friedrich W. Horn, Glaube und Handeln in der Theologie des Lukas, GTA 26, Göttingen 1983, 36–49; Schottroff / ​Stegemann, Jesus von Nazareth (o. Anm. 34), 150–153.

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ἴδια εἶναι), Barn 19,8; Justin Ap 1,15,10; Ep Diogn 5,7; Lukian, Peregr 13; Sextus Sent 228; Tert Apol 39). Vermutlich bestimmte der Grundsatz unbedingter Unterordnung des Privateigentums der Gemeinden unter das Gemeindeinteresse (κοινόν) die christliche Praxis von Anfang an. Daß es nicht zur Ausbildung einer festen Ordnung des Besitzverzichtes kam, hängt einerseits mit dem ungesetzlichen Charakter der grundlegenden Impulse Jesu, andererseits vielleicht mit der Naherwartung zusammen.

Wir wissen also über die „Finanzen“ des palästinischen Urchristentums nicht viel. Dennoch wissen wir meines Erachtens so viel, um sagen zu können, daß Bultmanns von seinem Verständnis der „Entweltlichung“ her entworfene Grundthese, daß die eschatologisch ausgerichtete frühe Gemeinde „nicht besondere und feste Formen wirtschaftlichen Gemeinlebens ausgebildet“ habe,41 einseitig ist: Κοινωνία im sozialen Bereich, das heißt Solidarität der Gemeinde mit den Armen, gehört seit frühester Zeit zur christlichen Gemeinde. Die Versorgung der Wanderprediger, also wenn man will, die Selbstfinanzierung der Kirche, gehörte von Anfang an mit der Gemeinschaft mit den Armen zusammen und war gleichsam ihr Spezialfall. Am Anfang eines „kirchlichen“ Finanzwesens stand also das, was später Diakonie hieß. Sie wurde als ureigene kirchliche Aufgabe verstanden. II. 3  Paulus: Wir erfahren bei Paulus bemerkenswert wenig über Geld. Prak­ tisch nur im Zusammenhang mit der Kollekte und mit seinem Unterhaltsverzicht spricht er darüber. Auch über die Diakonie erfahren wir kaum Konkretes. Stellen wie Phil 4,12 verdeutlichen, daß Paulus soziale Probleme als zweitrangig erfährt: „Ich weiß mich zu erniedrigen, ich weiß auch Überfluß zu haben, in alles und alle bin ich eingeweiht; satt zu sein und zu hungern, Überfluß zu haben und zu darben, alles vermag ich in dem, der mich stark macht“. Weder die sozialen Probleme der Sklaven, noch die der hungrig zum Abendmahl in Korinth Kommenden (die Reichen können in ihren eigenen Häusern essen, 1 Kor 11,22!), noch die der schwachen Brüder, die kaum je Fleisch zu essen bekommen, interessieren ihn primär. Das ist auffällig, zumal Paulus zwar vielleicht von bürgerlicher Herkunft, aber in seiner Missionstätigkeit alles andere als auf Rosen gebettet war. So erfahren wir auch über die finanziellen Strukturen seiner Gemeinden nur wenig. Ebensowenig wie er in seinen Gemeinden eine einheitliche Ämterordnung voraussetzt, gibt er generell darüber Anweisungen, wie hinsichtlich der Finanzen zu verfahren sei. Das Organisationsschema der Kollekte nach 1 Kor 16,1 ff spricht nicht dafür, daß in Korinth das Kollektengeld zentral aufbewahrt wurde.42 Existierte also in Korinth keine Gemeindekasse? Das kann, muß aber nicht sein. Das θησαυρίζειν des Geldes zuhause bot viele Vorteile: Eine große 41 Rudolf

Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 31958, 65.  Im Unterschied zu 1 Kor 16,lf berichtet Justin, Ap 1,67,6, daß im Gottesdienst gesammelt wird. 42

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Geldsumme konnte besser dezentral aufbewahrt werden. Daß jeder sein Geld am Sonntag beiseitelegen mußte, spricht immerhin für einen gewissen sachlichen Bezug zwischen Kollekte und Gottesdienst.43 Gibt es in den paulinischen Gemeinden bezahlte Gemeindeämter? In Korinth, respektive in Kenchreae war die Phoebe διάκονος τῆς ἐκκλησίας (Röm 16,1 f). Der Sprachgebrauch von διακονέω bei Paulus könnte dafür sprechen, daß die Phoebe (und auch die διάκονοι in Phil 1,1) mit sozialen Aufgaben betraut war.44 Woraus hat sie, die im Auftrag der Gemeinde handelte, ihre Auslagen bezahlt? Wurde sie entlöhnt? In Galatien gibt es aller Wahrscheinlichkeit nach bezahlte christliche Lehrer (Gal 6,6). Haben nur ihre Schüler sie bezahlt? Wir gewinnen keine Sicherheit. 1 Kor 14,26 ff machen nicht den Eindruck, als ob die Propheten oder Zungenredner, die im Gottesdienst sprechen, ein bezahltes Gemeindeamt gehabt hätten. Bei den Lehrern und bei den Diakonen war das eventuell anders; aber wir wissen es nicht. Paulus ist das nicht wichtig; ihm ist allein entscheidend, daß alle Aufgaben Dienste an der Gemeinde und χαρίσματα sind (Röm 12,5 ff). Das wichtigste Feld, das auch in den paulinischen Gemeinden die finanziellen Mittel der Gemeinde beanspruchte, dürfte die Diakonie gewesen sein. Zunächst müßte ausführlich von der Gemeindediakonie geredet werden, die nicht nur in den schon genannten Amtsbezeichnungen, sondern auch in allgemeinen paränetischen Sätzen wie Röm 12,13 oder Gal 3,11 f genannt wird. Nach Röm 12,7 ist die διακονία das an zweiter Stelle genannte Charisma nach der Prophetie. Auffällig ist, daß bereits kurz nach Paulus in 2 Thess 3,11 f gewisse Leute in der Gemeinde energisch aufgefordert werden müssen, zu arbeiten und ihr eigenes Brot zu essen. Man kann sich unschwer vorstellen, daß sie vorher das Brot der Gemeinde gegessen haben. Ihnen gegenüber formuliert der Briefschreiber gleichsam die Umkehrung der Unterhaltsregel von Lk 10,7: „Wenn jemand nicht arbeiten will, soll er nicht essen“ (3,10). Was auch immer an konkreten Gründen zum Nichtarbeiten da gewesen sein mag – solche Sätze lassen etwas vom Umfang der Gemeindediakonie ahnen. Für Paulus von besonderer Bedeutung ist die ökumenische Diakonie in Gestalt der Kollekte. Sie ist für uns deswegen interessant, weil Paulus in seinen Gemeinden offensichtlich für sie werben mußte, wie die Entwicklung von der Kollektennotiz 1 Kor 16,1 ff  bis hin zu den geradezu plerophorischen Kollektenkapiteln 2 Kor 8/9 zeigt. Paulus begründet vor allem in 2 Kor 8/9 diesen besonderen Fall einer kirchlichen Finanzhandlung aus gegebenem Anlaß theo43  2 Kor 8,1–7 entfaltet Paulus diesen Bezug theologisch: Die Kollekte steht im Wirkungsbereich der göttlichen χάρις. 44  Vgl. Röm 16,2: προστάτις πολλῶν ἐγενήθη καὶ ἐμοῦ αὐτοῦ. Διακονέω / ​διακονία steht Röm 15,25.31; 2 Kor 8,4.19 f; 9,1.12 f mit der Kollekte im Zusammenhang. Röm 12,7 meint διακονία ohne Genetivattribut und in einem Kontext, der einen spezifischen Sinn erfordert, vermutlich die Diakonie (vgl. Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer (Röm 12–16), EKK VI / ​3, Zürich / ​Neukirchen 1982, 14 f).

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logisch. Dabei ist interessant, daß die dominierenden Begriffe in 2 Kor 8 und 9 nicht der technische Ausdruck λογεία, sondern die theologischen Ausdrücke χάρις, κοινωνία und διακονία sind. Alle drei haben eine die Kollekte weit übersteigende Bedeutung und stellen sie in einen theologischen Gesamtrahmen hinein. 2 Kor 8,1–6 spannt den Bogen von der χάρις Gottes bis hin zur χάρις des menschlichen Danks. In diesem Zusammenhang taucht auch das für unser Thema überhaupt wichtige Moment der Freiwilligkeit in theologisch reflektierter Weise auf (2 Kor 8,3.5.8; 9,7): Es geht um die Antwort auf die Gnade, um ἀγάπη und um eine Tat des Herzens. Διακονία ist nicht nur Hilfe gegenüber den Jerusalemern, sondern zugleich Verherrlichung Gottes im Gebet (2 Kor 9,12 f). Parallele Bezeichungen für die Kollekte sind εὐχαριστία und εὐλογία. In all diesen Ausdrücken wird deutlich, daß dieses kleine Stück finanziellen Ausgleichs von Paulus unmittelbar in die Relation zwischen Gott und Menschen hineingestellt wird. Es ist keineswegs ein Stück bloßer Kirchenfinanzen und auch keineswegs nur Gehorsam gegenüber einem menschlichen oder göttlichen Gebot, sondern ein Stück geistliche Wirklichkeit.45 Wiederum fällt auf, daß der soziale Aspekt der Kollekte ganz zurücktritt: Die Evidenz der Kollekte liegt in 2 Kor 8 f nicht primär darin, daß sie dem Mangel anderer abhilft, sondern darin, daß sie der überfließenden Gnade Gottes entspricht. Das Stichwort κοινωνία wird in Röm 15,27 besonders herausgearbeitet, wobei Paulus das Zusammengehören der κοινωνία im Geistlichen und im Fleischlichen besonders betont. Wiederum ist die Freiwilligkeit so deutlich herausgehoben (2 × εὐδόκησεν), daß sich die Frage aufdrängt, ob der Apostel gewisse Dinge nicht sagen will (die einseitige Kollekte wurde ihm wohl im Jerusalemer Abkommen auferlegt!46) und sich hier als ein sehr geschickter Taktiker erweist. Das Entscheidende ist aber, daß bei Paulus ein Stück kirchlichen Geldtransfers als direkter Ausdruck der umfassenden, auch den Bereich des Sarkischen umfassenden Wirklichkeit der Gnade Christi verstanden wird. Welche finanziellen Aufgaben hatten die paulinischen Gemeinden weiterhin? Sie sind für das paulinische Missionswerk finanziell in Pflicht genommen. Gerd Theißen hat den Unterschied zwischen dem Typus des Wandercharismatikers und des Gemeindeorganisators, der Paulus war, herausgearbeitet.47 Diese Unterscheidung ist jedoch nicht absolut. Nur Paulus und Barnabas verzichten 45  Vgl. auch Gal 2,10: μνημονεύω ist ein allgemeiner Ausdruck, der im NT auch für die Fürbitte gebraucht wird (1 Thess 1,1 f.; Kol 4,18). 46  Die These Karl Holls, Der Kirchenbegriff des Paulus in seinem Verhältnis zu dem der Urgemeinde, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte II: Der Osten, Tübingen 1928, 25–62, wonach die Kollekte aus Jerusalemer Sicht eine steuerähnliche Auflage des „Vororts“ Jerusalem an die Heidenchristen war, hat sich in dieser Form nicht durchgesetzt. Eine Analogie zur Tempelsteuer ist meines Erachtens nicht aufweisbar. Damit soll aber nicht bestritten werden, daß Gal 2,1–10 gewisse Asymmetrien zwischen den beiden Verhandlungspartnern am Apostelkonzil aufdeckt, die Paulus eher herunterspielen möchte. 47  Theißen, Legitimation (o. Anm. 5).

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bei ihrer Missionstätigkeit auf das ihnen zustehende Unterhaltsrecht durch die Gemeinde (1 Kor 9,4 ff). Sie tun das um des Evangeliums willen (9,12); es geht dabei um eine persönliche Entscheidung, nicht um ein Missionsprinzip (9,15b.17). Die Paulusbriefe zeigen überdies, daß Paulus das durchaus nicht grundsätzlich getan hat. Wilhelm Pratscher hat meines Erachtens einleuchtend gezeigt, daß für Paulus in seinen Entscheidungen, wann er Unterstützungen von Gemeinden annimmt und wann nicht, missionspraktische Gesichtspunkte leitend waren: Er nimmt keine Unterstützungen von Gemeinden, in denen er gerade arbeitet, und keine Unterstützungen, welche die Integrität seiner Evangeliumsverkündigung gefährden könnten.48 Paulus konnte sich das leisten, weil er – im Unterschied etwa zum Fischer Petrus – sein Handwerk in jeder Stadt ausüben konnte. Andere Missionare – durchaus nicht nur die Gegner des Paulus in Korinth – kamen mit dem Anspruch, vom Evangelium zu leben, in die Gemeinden. Überträgt man die alte palästinische Unterhaltsregel auf die Städte der Diaspora, so wurde sie nicht nur – durch die vielen herumreisenden Missionare, Zauberer, Wanderprediger, Philosophen etc. – zweideutiger, sondern auch teurer: Die Distanzen zwischen den Städten waren groß: manchmal waren Seereisen unumgänglich. Die Regel der Didache, die den Aufenthalt von durchreisenden Missionaren auf drei Tage beschränkte (Did 11,5; 12,2) und den Gemeinden verbot, einem solchen Missionar mehr als Brot für einen Tag auf den Weg zu geben (11,6), war in den großräumigen Verhältnissen der Diaspora kaum anwendbar. Das belastete die Gemeinden finanziell. Paulus bedeutete aber vor allem auch deswegen eine finanzielle Last für die Gemeinden, weil er erwartete, daß die Gemeinden sich durch Delegation von Mitarbeitern an seinem Missionswerk beteiligten.49 Epaphras, Epaphroditus, Stephanas, Fortunatus, Achaikus und Onesimus sind vermutlich Gemeindedelegaten. Wie wurden sie finanziert? Epaphroditus wurde von den Philippern mit ihrer Unterstützungsgabe für Paulus nach Rom (?) gesandt; er ist Apostel der Gemeinde und συνεργός des Paulus. Paulus muß ihn der Gemeinde sehr empfehlen, weil er entgegen ihren Erwartungen nicht bei ihm bleibt. Wir werden annehmen können, daß die philippische Gemeinde ihrem „Apostel“ die Reise bezahlt hat; ob die einzelnen Gemeinden auch für den Lebensunterhalt ihrer Delegaten bei Paulus aufkamen, wissen wir nicht. Jedenfalls hören wir immer nur von Paulus selbst, daß er sich mit seiner eigenen Hände Arbeit durchschlägt. Nicht jede Schiffsreise ist die privat bezahlte Reise eines begüterten Gemeindeglieds gewesen. Auch die Reise des Stephanas, Fortunatus und Achaikus mit dem Gemeindebrief der Korinther und vielleicht einer Gabe für das paulinische Missionswerk (1 Kor 16,17?) war wohl eine Reise im Auftrag 48 Wilhelm Pratscher, Der Verzicht des Paulus auf finanziellen Unterhalt durch seine Gemeinden, NTS 25 (1979), 284–298. 49  Wolf H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter, WMANT 50, Neukirchen 1979, bes. 95–108.

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der Gemeinde. Da die Reisetätigkeit zwischen den verschiedenen Gemeinden im Urchristentum überhaupt sehr groß ist, können wir annehmen, daß dadurch die Gemeindefinanzen erheblich belastet wurden. Für die Diakonie und für die Mission erwuchsen also den paulinischen Gemeinden Auslagen. Die Auslagen für den Eigenbedarf sind dagegen denkbar gering gewesen. Da man sich in Privathäusern versammelte,50 fielen alle Immobilienkosten weg und so zugleich ein großer Teil der Gelegenheiten, die es in antiken Vereinen gab, sich durch Stiftungen zu profilieren. Dieselbe Beobachtung läßt sich vielleicht auch noch in einer anderen Hinsicht machen: Wenn es stimmt, daß es in den paulinischen Gemeinden für die Fürsorge Gemeindediakone gab, so fiel für die Begüterten die Möglichkeit weg, sich durch milde Gaben eine christliche Klientenschaft heranzuziehen. Aber selbstverständlich fehlte es auch in den paulinischen Gemeinden nicht an Gelegenheiten, wo einzelne Christen mit ihren Privatmitteln εἰς τὸ κοινόν herangezogen wurden. Wenn etwa Paulus den Philemon darum bittet, ihm Onesimus als Mitarbeiter zu überlassen, so bedeutete das auch eine erhebliche finanzielle Einbuße des Philemon, ganz egal, wie man die liebenswürdige Versicherung des gefangenen Paulus, er wolle Philemon allen durch Onesimus verursachten Schaden ersetzen (Phm 18 f), beurteilt. Wichtig ist hier auch, daß Paulus betont, Philemon solle das von ihm Erbetene freiwillig leisten (Phm 14). Wir stoßen damit auf ein Motiv, das auch im Zusammenhang mit der Kollekte auftauchte. Erstaunlich wenig erfahren wir darüber, wer in den paulinischen Gemeinden das Geld verwaltete. In der Aufzählung der Ämter und Aufgaben der Gemeinde 1 Kor 12,28 ist von der Verwaltung nicht die Rede: Alles spricht dafür, daß es zu diesem Zweck noch kein Amt gab. Hingegen ist es denkbar, daß zu den Aufgaben der ἐπίσκοποι in Phil 1,1 die Verwaltung der Gemeindekasse gehörte.51 Da sich Paulus aber für sie und ihre Aufgabe nicht weiter interessiert, können wir dies nur aus späteren Texten rückschließen. Zusammenfassend kann man sagen: Die Unterschiede zwischen den paulinischen Gemeinden und den griechisch-römischen collegia sind sehr gross. Zu 50  Hans J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum, SBS 103, Suttgart 1981, bes. 21–47.69–77 zeigt, wie in der alten Kirche Privathäuser da und dort zu Kirchen wurden. Die Verhältnisse sind im frühen Christentum insofern anders als in der Synagoge (vgl. oben I. 1), als die ungesicherte rechtliche Stellung der Gemeinden vor 311 einen offenen Bau von Kirchen schwierig bis unmöglich machten. 51  Ziebarth, Vereinswesen (o. Anm. 21), 131 spricht von der mangelnden Bestimmtheit der Amtsbezeichnungen in griechischen Vereinen und bestimmt ἐπίσκοποι ganz allgemein als Aufsichtsbeamte. Als solche können sie auch Aufsicht über finanzielle Dinge haben (Belege bei Hermann W. Beyer, Art. ἐπισκέπτομαι κτλ., ThWNT II, 609,7 ff.46 ff). Nach Eduard Lohse, Die Entstehung des Bischofsamts in der frühen Christenheit, in: ders., Die Vielfalt des Neuen Testaments, Göttingen 1982, 176 f erwähnt Paulus im Phil die Episkopen und Diakone im Zusammenhang mit der Unterstützung, die er erhalten hat. Oder ist in Philippi die Entwicklung einfach schon weiter fortgeschritten, so daß es dort im Unterschied zu anderen Gemeinden schon ständige Beauftragte für Leitungs‑ und Hilfeleistungsfunktionen (vgl. 1 Kor 12,28) gab?

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erwähnen sind: das Fehlen einer „Verfassung“ bzw. einer Rechtsordnung in den Gemeinden, das weitgehende Fehlen fester und zeitlich befristeter Beamter, das Fehlen von Eintrittsgeldern und Ehrensummen, das Freiwilligkeitsprinzip, der Vorrang der Diakonie und der Mission, die ökumenische Dimension in der Diakonie und in der Mission. Paulus hat seine Gemeinden weder nach dem Vorbild religiöser collegia noch nach dem Vorbild der Synagogen aufgebaut. Maßgeblich war vielmehr in hohem Maße – auch für die Finanzen – das Evangelium! II. 4  Die nachapostolische Zeit: Die deutlichsten Informationen geben uns die lukanischen Schriften und die Pastoralbriefe. Sie stammen beide aus dem Raum der nachpaulinischen Kirche, vielleicht aus Rom oder aus Kleinasien. II. 4. 1  Für Lukas ist die Gemeindediakonie wichtig. Das ergibt sich aus der Einsetzung von Diakonen in Apg 6,1 ff: Aufgrund der Tatsache, daß er davon bereits in der Urgemeinde spricht, können wir vermuten, daß es sie auch in seiner Gemeinde gab. Vor allem aber ergibt sich das aus der lukanischen Armenparänese (Lk 3,11; 11,41; 12,33; Apg 20,35: Geben ist seliger als nehmen). Die besitzlosen Jünger (Lk 5,11.28; 14,33), die „kommunistische“ Urgemeinde (Apg 2,42 ff; 4,32 ff) und Einzelgestalten wie Zachäus (Lk 19,1 ff) dienen der Gemeinde als Modelle. Wolfgang Stegemann dürfte darin Recht haben, daß diese Armenparänese nicht nur auf dem Hintergrund einer Verfolgungssituation52 und auch nicht nur individualethisch53 zu deuten ist, sondern als „konkrete Sozialutopie“ für die Gemeinde zu verstehen: Innergemeindlicher Besitzausgleich ist für „den Evangelisten der Reichen“ ein zentrales Moment des Kircheseins: Eine Kirche, in der Reiche reich sind, während Arme unter dem Existenzminimum leben, ist für ihn keine Kirche. Damit wird auch deutlich, daß Lukas mit seiner Paränese die ganze Gemeinde anspricht: Diakonie ist für ihn eine ebenso zentrale Gestaltwerdung der Gemeinde wie zum Beispiel Mission. b) Viel schwieriger ist es zu entscheiden, ob den lukanischen Schriften etwas über die Bezahlung der Amtsträger zu entnehmen ist. Lukas kennt in seinen Gemeinden Älteste (Apg 14,23; 20,28 u. ö.), zu deren Aufgaben wohl die Wortverkündigung (Apg 20,28.31), die Gemeindeleitung („Aufsicht“: Apg 20,28) und die Fürsorge für die Schwachen (vgl. Apg 20,35) gehörten. Er stellt ihnen Paulus als Vorbild hin: Er hat nie nach Gold und Silber gestrebt, sondern mit seinen eigenen Händen für seine Bedürfnisse gearbeitet (Apg 20,33 f). Ist das als Vorschrift oder mindestens als Rat für die Presbyter gemeint? Wenn ja,54 dann 52  So Walter Schmithals, Die Apostelgeschichte des Lukas, ZBK.NT 3.2, Zürich 1982, 39 und passim. 53 So Horn, Glaube und Handeln (o. Anm. 40), 36–203, bes. 119 f. 54 Heinz Schürmann, Das Testament des Paulus für die Kirche, in: ders., Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien, Düsseldorf 1968, 336: Die Unterhaltsfrage steht in der Abschiedsrede „seltsam betont“ am Schluß. „Abgewehrt werden

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ist Lukas gegenüber der Bezahlung von Presbytern sehr vorsichtig. Οὐδενὸς ἐπεθύμησα (20,33) schließt nicht kategorisch aus, daß die Presbyter Gaben der Gemeinde annehmen, mahnt aber zu äußerster Zurückhaltung. Wie sich Lukas die ökonomische Seite der Presbyterexistenz gedacht hat, könnte auch Apg 18,1 ff zeigen: Neben einer handwerklichen Tätigkeit ist es Paulus möglich, am Sabbat zu predigen (18,3 f). Daneben gibt es aber auch noch ein anderes Modell: Als Paulus auf die Unterstützung durch Silas und Timotheus rechnen konnte, wurde er ganz von der Verkündigung in Anspruch genommen (18,5: συνείχετο τῷ λόγῳ). Wenn man diesen Text für die eigene Gegenwart des Lukas transparent machen darf – dafür könnte Apg 20,17–35 sprechen –, gibt es in seinen Gemeinden offenbar zwei mögliche Modelle: den von seiner eigenen Arbeit lebenden und sonntäglich predigenden, und den von der Gemeinde lebenden und „anhaltend“ predigenden Presbyter. Das würde in etwa dem entsprechen, was wir auch aus den Pastoralbriefen wissen. Eine lukanische Besonderheit gegenüber den Pastoralbriefen bliebe vielleicht seine Vorliebe für das erste Modell. II. 4. 2  Deutlicher spiegeln die vermutlich etwas späteren Pastoralbriefe die finanziellen Regelungen der Kirche. Sie sind „katholische“, an die ganze paulinische Kirche gerichtete Briefe: Die Gestalt der Apostelschüler als Briefempfänger ist eine Fiktion, die literarisch den Brief zum ökumenischen Dokument macht. Sie wollen also in der ganzen paulinischen Missionskirche gehört werden und setzen implizit voraus, daß die Ordnung der Kirche, auch die finanzielle Ordnung der Kirche, überall die gleiche ist. Die Gemeinden sind wohl von Presbytern geleitet, von denen einige auch die Funktion eines ἐπίσκοπος haben. Wir besprechen ihre einzelnen Aufgabenbereiche: a) Die Diakonie: Der Verfasser ist hier sehr zurückhaltend. Es gibt eine Gemeindekasse, aus der die Witwen versorgt werden (1 Tim 5,16), aber nur, wenn es nicht anders geht. Eine wirkliche Witwe zu sein, ist nach unserem Brief recht schwer. Die Bedingungen für die Unterstützung aus der Gemeindekasse sind hart: Untadeliger Lebenswandel, ein minimales Alter, das ihnen eine Wiederverheiratung nicht erlaubt, Nichtvorhandensein von Familienmitgliedern, die sie zunächst unterstützen sollen. Der Verfasser kennt das Amt des Diakons. Wir erfahren aber nicht, was er tun soll; nur eine allgemeine Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß seine Aufgabe die Betreuung der Armen ist. Er betont in 1 Tim 6,17–19 stark die private Wohltätigkeit, zu der die Reichen aufgerufen sind, damit sie ihr Leben retten. Die Zurückhaltung gegenüber der Diakonie fällt auf, auch im Blick auf die spätere Entwicklung. Auch anderwärts ist der Verfasser

soll hier wohl die in Presbyterkreisen vielleicht neu aufkommende Sitte, die Berufsarbeit aufzugeben und sich gänzlich von den Gemeinden unterhalten zu lassen“.

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vorsichtig: Daß die Sklaven auf Gemeindekosten freigekauft werden könnten, ist ein Gedanke, der ihm im Unterschied zu Ignatius55 nicht kommt.56 b) Die zweite finanzielle Aufgabe der Kirche, die wir bei Paulus fanden, die Missionstätigkeit, ist aus den Pastoralbriefen höchstens indirekt zu erschließen, da der Verfasser auf das paulinische Missionswerk zurückblickt. Wie sieht er die paulinische Mission? Der für Lukas wichtige Topos vom arbeitenden Paulus fehlt in den Pastoralbriefen – weil auch die Bischofs-Ältesten kein Handwerk mehr ausüben? Die Finanzierung der Paulusmission ist offenbar kein Problem mehr. 2 Tim 4,9 ff fällt auf, daß Paulus „Chef“ eines relativ umfangreichen Stabs von Mitarbeitern ist (was historisch wohl zutreffend ist). Diese Mitarbeiter kann Paulus delegieren und auf Reisen schicken. Ist das nur Retrospektive? Wir wissen es nicht. Während die Wandermissionare Palästinas im zweiten und dritten Jahrhundert ihre Nachfolger hatten,57 scheint an die Stelle der paulinischen Gemeindegründungsmission mehr und mehr der intensive Kontakt zwischen den Gemeinden zu treten, der natürlich auch Geld brauchte.58 c) Die Finanzierung der kirchlichen Mitarbeiter: Sowohl die Mitarbeiter des Paulus, als auch diejenigen Ältesten, die den Gemeinden vorstehen und in Wort und Lehre arbeiten, sind wohl vollamtliche und langzeitliche (vielleicht lebenszeitliche?) Mitarbeiter. Das paulinische Argument vom Ochsen aus Dtn 25,4 und das synoptische Argument, daß der Arbeiter seines Lohnes wert ist, erscheinen kombiniert und als γραφή (1 Tim 5,17 f). Von da her ist wahrscheinlich, daß die τιμή, von der V 17 spricht, das Gehalt der in Wort und Lehre arbeitenden Presbyter sein muß. Offen ist, ob die διπλὴ τιμή wirklich die doppelte Geldsumme meint oder ob auch an die den Ältesten geschuldete Ehre gedacht ist, so daß die Geldsumme, die sie bekommen, offen gelassen wird.59 Die Honorierung  Ign Pol 4,2.  Offenbar sind aber den christlichen Sklaven christlicher Herren entsprechende Gedanken gekommen; sie erhofften sich entweder Freilassung oder wenigstens brüderliche Behandlung, ὅτι ἀδελφοί εἰσιν (1 Tim 6,2). Der Vf ermahnt hier einseitig nur die Sklaven. 57  Das zeigt die Didache. Ist aus Papias, Fragment 2,4 zu schließen, daß die πρεσβύτεροι gewandert sind (εἰ δέ που καὶ παρηκολουθηκώς τις τοῖς πρεσβυτέροις ἔλθοι)? Vgl. auch die pseudodementinischen Briefe ad Virgines! 58  Die Pastoralbriefe setzen die Möglichkeit ihres Vertriebs in der Ökumene voraus. Die Reise des Ignatius nach Rom zeigt, wie die Gemeinden Kleinasiens und Europas u. a. durch Gemeindedelegaten miteinander verbunden waren. Die römische Gemeinde bezeugt durch die Existenz des Clemens und seines Briefes eine ausgesprochene ökumenische Ausrichtung. Ignatius reist in Begleitung anderer. Noch vor seinem Brief aus Ephesus nach Rom, der auch überbracht werden mußte, ist eine Delegation der antiochenischen Gemeinde direkt nach Rom gereist, um die römischen Gemeinden über das Kommen des Ignatius zu informieren (Ign Röm 10,2). Am weitreichendsten ist wohl die zur Zeit des Ignatius für Kleinasien belegbare und bereits in der Apostelgeschichte und in den Pastoralbriefen postulierte einheitliche Amtsstruktur der Gemeinden, die einen sehr intensiven wechselseitigen Kontakt (mit entsprechenden Kosten!) voraussetzt. 59  Hans v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, BHTh 14, Tübingen 1953, 123 Anm. 1: „sozusagen die doppelte Ration“; 55 56

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der Presbyter wird in diesem Text jedenfalls selbstverständlich vorausgesetzt. Dies entspricht der paulinischen und judenchristlichen Tradition: Wer das Evangelium verkündet, soll vom Evangelium leben, das heißt: Er hat einen Unterhaltsanspruch von seiten der Gemeinde. Dieser Grundsatz, der ursprünglich von den Wanderpredigern galt, ist nun auf die seßhaften Gemeinden und ihre Vorsteher übertragen worden. Damit ist eine folgenschwere Umschichtung eingetreten: Bei Paulus ließ sich, abgesehen von Einzelfällen wie Gal 6,6, noch nicht zeigen, daß das Verkündigungsamt in der Gemeinde ein bezahltes Amt war. Der Grundsatz, daß, wer für das Evangelium arbeitet, vom Evangelium leben soll, galt nur für Missionare. In den Einzelgemeinden gab es kein besonderes Verkündigungsamt, sondern die Verkündigung und die Paraklese war Aufgabe der ganzen Gemeinde, vor allem der Propheten (1 Kor 14,26–33). Auch im Kolosserbrief gilt, daß die ganze Gemeinde das „Amt des Wortes“ verwaltet: „Laßt das Wort Christi reichlich unter euch wohnen; in aller Weisheit lehrt und ermahnt einander mit Psalmen, Lobgesängen, geistlichen Liedern …“ (3,16, vgl. 4,6). Im sicher deuteropaulinischen Epheserbrief scheint 4,11 ein Amt des Wortes vorauszusetzen, auch wenn auffällt, daß „Evangelisten“ und „Hirten“ keine Amts-, sondern Funktionsbezeichnungen sind. In den Pastoralbriefen aber ist klar, daß das Lehramt bei den Episkopen (1 Tim 3,2; Tit 1,9) beziehungsweise einem Teil der Presbyter (1 Tim 5,17) liegt. Die alte apostolische Unterhaltsregel ist also hier auf Gemeinde„beamte“ übergegangen. Gegenüber Paulus bedeutet das eine wesentliche Veränderung. Die Ältestenverfassung bedeutet aber nicht einfach Übernahme jüdischer Strukturen: Die „Ältesten“ stammen zwar historisch aus dem Judentum, aber nicht speziell aus der Synagoge. Um eine feste Amtsbezeichnung hat es sich dort nicht gehandelt, sondern um einen Ehrentitel.60 Wir begegnen also in den Pastoralbriefen einer auch im Blick auf Kirchenfinanzen neuartigen christlichen Ämterordnung. Entscheidend für ihre Entstehung ist meines Erachtens die Transformation des vollamtlichen Arbeitens für das Evangelium in der Missionsverkündigung in ein Gemeindeamt in der veränderten Situation der konsolidierten Gemeinden. Diese Ämterordnung hat sich dann im großkirchlichen Raum schnell durchgesetzt und bewährt. Wie vielleicht schon früher in Philippi, so verwalten auch in den Pastoralbriefen vermutlich die Bischöfe die Gemeindekasse. Das zeigt sich daran, daß sich die Warnung vor Gewinnsucht nun gerade an sie richtet (1 Tim 3,3; Tit

Hans W. Bartsch, Die Anfänge urchristlicher Rechtsbildungen, ThF 34, Hamburg 1965, 93 f hält das Witwengehalt für die Maßeinheit bei der Festsetzung der übrigen Gemeindegehälter. Martin Dibelius / ​Hans Conzelmann, Die Pastoralbriefe, HNT 13, Tübingen 1955, 61: „Honorar … verdoppelt“. Dafür spricht Const Apost = Didask II, 28,4: „si quis … presbyteres voluerit honorare, duplum … dabit illis.“ 60  Vgl. Günther Bornkamm, Art. πρέσβυς κτλ., ThWNT VI, 659–661.

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1,7).61 So war es auch später Praxis der Kirche.62 Zusätzlich zu ihren ursprünglichen Verwaltungsaufgaben haben sie in den Pastoralbriefen den Dienst der Lehre übernommen, eine Entwicklung, die derjenigen von Did 14 entspricht. Wiederum haben wir in den Pastoralbriefen eine kirchliche „Finanzordnung“, die weithin ein Eigenprodukt ist und nicht einfach Modelle aus der Umwelt übernimmt. Die Presbyter der Pastoralbriefe sind etwas anderes als die jüdischen Ältesten. Auch von der Organisation eines Kultvereins unterscheiden sich diese Gemeinden an wesentlichen Punkten: durch die institutionalisierte und private Wohltätigkeit, und durch die Existenz wahrscheinlich hauptamtlicher Mitarbeiter in der Gemeinde, die nicht nur für eine befristete Zeit gewählt werden und dennoch keine Priester sind. Im Vergleich mit Paulus fällt neben der Domestizierung des Verkündigungsamts in der Gemeinde auf, daß in den Pastoralbriefen die rechtlichen Strukturen der Kirche und damit auch die hinter ihnen stehenden finanziellen Regelungen ein Eigengewicht bekommen haben. Es wird nicht mehr ad hoc organisiert, sondern die kirchliche Rechtsordnung wird für den ganzen paulinischen kirchlichen Raum verbindlich.63 II. 4. 3  Wie sieht es mit den Einnahmen der Gemeinden aus? Auch hier erfahren wir wenig. Es gibt keinerlei Indizien dafür, daß in den christlichen Gemeinden Mitgliederbeiträge bezahlt worden wären. Das Freiwilligkeitsprinzip, das für Paulus wichtig war, scheint sich durchzuhalten. Durch das ganze lukanische Werk hält sich als Grundtenor der Appell an die Gebefreudigkeit der Gemeindeglieder: „Geben ist seliger als nehmen“ (Apg 20,35). Genaueres erfahren wir nur aus der Didache: Wenn man 13,3 ff wörtlich deuten darf, so herrschte in dieser Gemeinde mindestens zum Teil eine Naturalwirtschaft; die Propheten wurden nach alttestamentlichem Vorbild durch die Erstlinge der Früchte entschädigt, erst in zweiter Linie durch Kleider und Geld (13,6). Auch hier herrscht das Prinzip der Freiwilligkeit (ὡς ἄν σοι δόξῃ; 13,7). Bei Justin hören wir dann von dem seither vertrauten Brauch der Sonntagskollekte im Gottesdienst (Apol 1,67). Justin betont ihre Freiwilligkeit; ihr Zweck ist ausschließlich die Diakonie. Wie alt dieser Brauch ist, läßt sich nicht mehr sagen. Wahrscheinlich ist nur, daß er in Korinth zur Zeit des Paulus noch nicht geübt wurde.64 61 Ähnlich 1 Petr 5,2 (Älteste); 1 Tim 3,8 (Diakonen). Krass ist der Fall des Presbyters Valens, der sich schwer verfehlt hat ( Pol, Phil 11,1). 62  L. William Countryman, Welfare in the Churches of Asia Minor under the Early Roman Empire, SBL Sem Papers 1979/II, 134. Schroff formuliert Ignatius Pol 4,1 im Zusammenhang mit der Witwenversorgung: „Nichts soll ohne deine Zustimmung geschehen“. 63  Rudolph Sohm, Kirchenrecht I, Nachdruck München / L ​ eipzig 1923, 74 f. sieht in der Alten Kirche eine entscheidende Entwicklung vom Gemeindeeigentum zum Anstaltseigentum, über das der Bischof verfügt. In unserer Zeit bedeutet meines Erachtens die finanzielle Kompetenz des Bischofs noch keine grundlegende Veränderung der Eigentumsstruktur der Gemeinden. 64  1 Kor 16,2: παρ’ ἑαυτῷ.

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III. Ergebnisse 1. Die frühen Gemeinden haben in ihrer finanziellen Struktur nicht einfach Modelle ihrer Umwelt kopiert. Sie haben sich in finanzieller Hinsicht ebenso wenig wie im Gottesdienst nach dem Modell etwa der Synagogen oder der städtischen Kultvereine gerichtet. Das weist darauf hin, daß die finanziellen Strukturen als wesentlicher Ausdruck des Kirche-Seins zu verstehen sind. 2. Im Ganzen dominiert der Eindruck relativ großer Kontinuität durch das Neue Testament hindurch. Die Entwicklung im Urchristentum ist auch im Bereich der „Kirchlichen Finanzen“, soweit wir sehen können, nicht in Gegensätzen und Brüchen verlaufen. Wichtige Grundmomente halten sich durch. Dazu gehören: die Unterschiedenheit der Gemeinde von bestehenden nichtchristlichen Körperschaften, der Vorrang der Diakonie, ihr ökumenischer Charakter, die prinzipielle Unterordnung des Privatbesitzes unter das Gemeindeinteresse, die vollzeitliche Arbeit mancher Christen für das Evangelium, die davon auch leben, und das Prinzip der Freiwilligkeit aller Leistungen der Gemeindeglieder. Anderes verschiebt sich, vor allem durch die zunehmende Konsolidierung der Einzelgemeinden und durch die zunehmende institutionelle Fixierung. Manches verschiebt sich auch dadurch, daß die Kontinuität nur eine verbale ist, während die Realität eine andere wird. So bedeutet zum Beispiel das Stichwort κοινόν in den Sonntagskollekten bei Justin und im Urchristentum nicht einfach dasselbe. 3. In der frühesten Zeit lagen (innergemeindliche und innerkirchliche) Fürsorge und Finanzierung der Missionare eng beieinander. Beides wurde als Fürsorge für die Armen verstanden. Insofern kann man sagen, daß das, was später als „Diakonie“ bezeichnet wurde, die Wurzel und das Zentrum des kirchlichen „Finanzwesens“ war.65 4. Die Diakonie für ihre Armen scheint in direkter Beziehung zu der den Armen zugewandten Verkündigung Jesu und in einer indirekten Beziehung zum Judentum zu stehen. Vor allem in der paulinischen Theologie wird diese Diakonie vertieft theologisch reflektiert, indem der materielle Ausgleich als unaufgehbares Moment christlicher κοινωνία verstanden wird und die διακονία im sozialen Bereich als besonderes Charisma der umfassenden διακονία Χριστοῦ zugeordnet wird. Das heißt mit anderen Worten: Die Zentralität der Diakonie in den Kirchenfinanzen ist evangeliumsrelevant. 5. Diakonie wurde schon in neutestamentlicher Zeit (und auch in der Alten Kirche) als ökumenische Diakonie verstanden. In der Frühzeit wurde das 65  Gerade jener Bereich also, der heute mehr und mehr säkularisiert ist und wo z. B. in der Bundesrepublik Deutschland die Kirchen weithin als Treuhänder von Fremdmitteln auftreten. Obwohl die Verhältnisse natürlich nicht direkt vergleichbar sind, entstehen hier doch Fragen: Kann auf diese Weise – in der Kirche – die Sorge für die Armen als ihre primäre Aufgabe und – in der Diakonie – die soziale Hilfstätigkeit als Ausdruck der umfassenden Gemeinschaft des ganzen Leibes Christi verständlich werden?

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deutlich, indem die Gemeinden gerade die Wandermissionare unterstützten, in der paulinischen Zeit etwa durch die ökumenische Kollekte. Das κοινόν wurde also von Anfang an ökumenisch interpretiert; die kirchlichen Mittel waren nicht uneingeschränkt solche der Lokalkirchen. Auch in dieser ökumenischen Dimension zeigt sich ein christliches Spezifikum vor allem gegenüber den collegia der antiken Mysterienreligionen. 6. Der kirchliche Verkündigungs‑ und Missionsauftrag ist schon früh für manche ein vollzeitlicher Auftrag geworden. Das paulinische Modell berufsbegleitender Verkündigung war im Urchristentum eine Ausnahme. Seine sachlich-theologischen Wurzeln hat das kirchliche „Vollamt“ vermutlich in der völligen Identifikation des Gottesreichsverkündigers mit seiner Verkündigung in der wörtlich verstandenen Nachfolge Jesu (Berufsverzicht!). Es wurde dann mindestens teilweise in die seßhaften Gemeinden auch in der Diaspora übernommen. Die „Finanzierung“ solcher vollamtlicher Verkündiger erfolgte wohl ursprünglich nach dem Armenrecht. Dies blieb zwar schon in neutestamentlicher Zeit nicht überall bestehen, aber die Erinnerung daran blieb noch lange wach. 7. Ein Grundprinzip kirchlichen Finanzwesens ist die Freiwilligkeit. Auf der Freiwilligkeit der Zuwendungen insistierte man von Jerusalem66 über Paulus bis zu Tertullian.67 Sie begleitete immer den alten Grundsatz, daß die Bedürfnisse der Gemeinden (κοινόν) über dem Privatbesitz stehen. Besitzverzicht und Freiheit gehören als zwei Leitmotive zusammen. Das wird gerade bei Lukas deutlich, der mit Hilfe seiner Interpretation der Nachfolgetraditionen ein Ethos des Besitzverzichtes schafft. Diese Freiheit wurzelt meines Erachtens in der Liebesforderung Jesu, die nicht primär eine Veränderung geltender Sozialordnung intendierte. Mir scheint, daß von der jesuanischen Liebesforderung her hier im Freiwilligkeitsmoment ein Essentiale christlichen Umgangs mit Geld liegt. 8. Wenn die Grundannahme dieser Überlegungen stimmt, daß die auffälligen Unterschiede in Sozialgestalt und kirchlichem Umgang mit Geld gegenüber antiken Analogien mit dem Zentrum der christlichen Verkündigung selbst zu tun haben, dann hat die Zusammenstellung derjenigen Momente des „kirchlichen Finanzwesens“, die sich durch die ganze neutestamentliche Zeit durchhalten, mehr als nur historischen Wert. Der Neutestamentler muß die Anfrage an Kirchen und Kirchenleitungen stellen, ob nicht – 1. Zentralität der Diakonie, – 2. prinzipielle und praktische Unterordnung christlichen Privatbesitzes unter das κοινόν, – 3. Ökumenizität der Diakonie,

66 Vgl. die Einzelnachrichten Apg 4,36 f (Barnabas); 5,1 ff (Ananias und Saphira), die die Freiwilligkeit voraussetzen. 67  Apol 39.

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– 4. Verantwortung der Gemeinden für die Verkündiger und deren Leben aus dem Evangelium nach dem Armenrecht und – 5. Freiwilligkeit. Perspektiven sind, auf die hin eine langfristige Entwicklung des kirchlichen Finanzwesens um des Evangeliums willen sich hinbewegen müßte.

9. Ekklesiologie und Gelder der Kirche Neutestamentliche Perspektiven für heute I. Einleitung Über dieses Thema schreibe ich als doppelt Betroffener. Ich schreibe als Mitglied meiner Kirche, der reformierten Kirchgemeinde Laupen in der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Bern–Jura–Solothurn. Und ich schreibe als Neutestamentler, der als solcher für das Ganze der Theologie und die Kirche mitverantwortlich ist. a) In meiner eigenen Kirchgemeinde erlebe ich eine beängstigende Diskrepanz zwischen intakter Institution und gemeindlicher Realität. Unsere Gemeinde umfasst ein kleines, traditionell reformiertes Landstädtchen und zwei kleinere Bauerndörfer im Kanton Bern. Die Zahl der stimmberechtigten = kirchensteuerzahlenden Kirchgenossen und ‑genossinnen beträgt z.Z. etwa 1800. Die Durchschnittszahl der Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher liegt bei 10–25. Das Durchschnittsalter der Gottesdienstbesucher und Gottesdienstbesucherinnen ohne Konfirmandinnen und Konfirmanden und Tauffamilien liegt über 65. Der Durchschnittsbesuch des Gottesdienstes von jungen Erwachsenen zwischen 16 und 40 Jahren liegt abgesehen von Taufsonntagen bei annähernd Null. Wir haben eine gute Pfarrerin mit viel theologischer Substanz  – daran kann es also nicht liegen. Der durchschnittliche Besuch der Kirchgemeindeversammlungen, an denen u. a. auch über das Budget entschieden wird, liegt bei 20–30. Die finanzielle Situation der Gemeinde ist stabil; von einer Kirchenaustrittsbewegung ist wenig zu spüren. Man tauft seine Kinder, schickt sie in den Konfirmandenunterricht (ohne selbst jemals in den Gottesdienst zu gehen), lässt sich in der Regel kirchlich trauen und jedenfalls kirchlich beerdigen.1 Das alles 1  [Heute, im Jahre 2017, haben sich die Zahlen gegenüber dem Jahr 2000 leicht verändert. Die Zahl der steuerzahlenden Kirchenmitglieder ist stabil geblieben; die Beteiligung an den Sonntagsgottesdiensten und Kirchgemeindeversammlungen ist nochmals gesunken; die Kirchenaustritte haben ganz leicht zugenommen, vor allem auch die „stillschweigenden“ Kirchenaustritte bei einem Wechsel des Wohnorts. Nicht nur das Alter der Gottesdienstbesucher, sondern auch das Durchschnittsalter der Kirchgemeindemitglieder ist gestiegen. Der Kirchgemeinderat ist sehr aktiv. Zurückgegangen ist die Zahl der kirchlichen Trauungen, nicht aber die der übrigen Kasualien. Die Kirchgemeinde erodiert also ganz langsam].

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gehört dazu: Die Kirche gehört zwar zum Leben, aber man braucht sie nicht. Unsere Gemeinde mag überdurchschnittlich säkularisiert sein – aber völlig untypisch sind diese Verhältnisse für die deutschsprachige Schweiz nicht. Die Reformierten Laupens zahlen also selbstverständlich und diskussionslos ihre Kirchensteuer, ebenso wie die Staatssteuern, die Feuerwehrsteuern oder die „Schwellensteuer“ (eine Steuer für den Unterhalt der Flussverbauungen zum Schutze vor Überschwemmungen), in der Annahme, dass dadurch ein gewisser Grundservice geliefert wird, der zum Leben nötig ist, und vielleicht auch in der stillschweigenden Hoffnung, dass man darüber hinaus die Leistungen der betreffenden Institution gar nicht benötigt. Wie bei der Feuerwehr! b) Als Neutestamentler bin ich in der Diskussion über kirchliche Finanzfragen in der Regel nicht gefordert – im Gegenteil! Das Neue Testament spielt in den Diskussionen über die finanziellen Strukturen heutiger Kirchen kaum eine Rolle.2 Es war eine meiner Schlüsselerfahrungen, als ich die Auslegungs‑ und Wirkungsgeschichte von Mt 10,9 f untersuchte, dass in der Neuzeit dieser Text kaum je mit der Finanzstruktur der protestantischen Volkskirchen in Verbindung gebracht wurde. Die für mich eindrücklichste Ausnahme ist der große Kirchenrebell des 19. Jh.s, Søren Kierkegaard. Er schreibt zum Pfarrerlohn: „Fürs erste kann er (sc. ein allenfalls existierender ehrlicher Geistlicher) doch wohl nicht so dumm sein, um zu übersehen, dass die Art seiner Entlohnung, christlich betrachtet, ganz unzulässig ist und Christi Vorschrift direkt zuwiderläuft … Ich hatte einmal mit dem verstorbenen Bischof Mynster folgendes Gespräch. Ich sagte ihm: die Geistlichen können ihr Predigen fast ebensogut bleiben lassen; all ihr Predigen habe gar keine Wirkung, da die Gemeinde in aller Stille bei sich denke: Ja, dafür sind sie bezahlt“.3

Literatur von Neutestamentlern zur Frage „Kirche und Geld“ gibt es nur spärlich.4 Sie ist wenig gefragt  – die Neutestamentler äußern sich lieber zu 2  Im Heft der „Evangelischen Theologie“, in dem dieser Artikel erstmals erschien, ist der Berichtsartikel von Walter Klaiber die bemerkenswerte Ausnahme, bezeichnenderweise also der Artikel des Vertreters einer Freikirche! (Walter Klaiber, „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“. Freikirchliche Überlegungen zum Thema kirchliche Finanzen, EvTh 61 (2001), 49–56. 3  Søren Kierkegaard, Der Augenblick 7,8 = Gesammelte Werke XII, Jena 21909, 118. 120. 4  Ich nenne abgesehen von den klassischen Ausführungen bei Adolf v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 41924, 170– 220, von der nicht durchweg befriedigenden Monographie von Heinz Schröder, Jesus und das Geld, Karlsruhe 1979, und dem Aufsatz von Alois Stöger, Das Finanzwesen der Urkirche, Bibel und Liturgie 50 (1977), 96–103 vor allem den von Wolfgang Lienemann herausgegebenen Band, Die Finanzen der Kirche. Studien zu Struktur, Geschichte und Legitimation kirchlicher Ökonomie, Studien und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 43, München 1989, zu dem ich auch einen Artikel beigesteuert habe: Ulrich Luz, Die Kirche und ihr Geld im Neuen Testament, ebd. 525–554 (= in diesem Band Nr. 8). Auf diesen Aufsatz verweise ich für eine ausführlichere exegetische Begründung der folgenden Ausführungen. Die vornehme Ausstattung dieses Bandes, sein großer Umfang (995 Seiten!) und sein stolzer Preis trugen wahrscheinlich zu seiner Nicht-Verbreitung bei. Für den Umgang mit Geld in der Alten Kirche besonders wichtig sind Reinhart Staats, Deposita pietatis – Die Alte Kirche

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Fragen der neutestamentlichen Ekklesiologie und Kirchenordnung. Aber auch Ekklesiologie ist bei Fragen der Kirchenfinanzierung oft wenig gefragt: Beatus Fischer stellt von den vielen ekklesiologischen Grundsatzüberlegungen, welche im Zusammenhang mit der Frage nach den finanziellen Strukturen unserer Kirchen angestellt werden, fest, dass die „dort erarbeiteten ekklesiologischen Entwürfe … auf hohem theoretischem Niveau vor einer Umsetzung in praktisches Handeln verschont“ blieben. Er ist darüber nicht unglücklich, denn „auf ekklesiologische Modelle als Handlungsanweisungen für Struktur‑ und Niveauveränderungen kirchlicher Ausgabenpolitik“ sei seines Erachtens besser „zu verzichten“.5 Insofern ist bereits das Thema dieses Heftes „Ekklesiologie im Sparzwang“6 ein Gegenprogramm dazu. Ich nenne noch zwei Faktoren, welche meines Erachtens erheblich dazu beitragen, dass ausgerechnet in den reformatorischen „Kirchen des Wortes“ die Frage nach der Finanzierung der Kirche kaum als Frage nach dem Neuen Testament und nur wenig wirkungsvoll als ekklesiologische Frage diskutiert wird: 1. Der erste Grund ist ein theologischer. Nach reformatorischer Überzeugung ist wahre Kirche eine communio sanctorum, welche durch Wort und Sakrament konstituiert ist.7 Andere notae, wie z. B. die rechtliche Ordnung der Kirchen, die Kirchendisziplin und die Praxis der Gemeinden und Kirchenglieder gehören nach reformatorischer Grundüberzeugung im Großen und Ganzen8 nicht zu den für die wahre Kirche konstitutiven notae. Die Auswirkungen dieser in der Reformationszeit notwendigen und verständlichen polemischen These führten im protestantischen main-stream zu einem gewissen ekklesiologischen „Doketismus“ und zu einer Art innerkirchlicher Zwei-Reiche-Lehre: Die wahre und die wirkliche Kirche liegen weit auseinander. Eine wirkliche Kirche braucht niemals die wahre Kirche zu sein, denn sie lebt ja immer und allein von Gottes Gnade und Vergebung. Von daher sind die äußerlichen Fragen der Gestalt, der Organisation, der Finanzierung und der Lebenspraxis der Kirche für das Wesen der Kirche von sekundärer Bedeutung. Es war und ist von da her nicht problematisch, in diesen Bereichen vieles den Landesfürsten, der städtischen Obrigkeit, dem Staat oder den Finanzfachleuten zu überlassen. und ihr Geld, ZThK 76 (1979), 1–29 und Klaus Thraede, Diakonie und Kirchenfinanzen im Frühchristentum, in: Lienemann, Finanzen (a. a. O.), 555–573. 5  Beatus Fischer, Das Sparzwang als kirchengestaltende Realität, EvTh 61 (2001), 32 f. und 37. 6  Das war das Thema des von Margot Kässmann herausgegebenen Heftes der „Evangelischen Theologie“, aus dem dieser Aufsatz stammt. 7  Confessio Augustana 7. 8 Ausnahmen: Luther rechnet z. B. in: „Von Conciliis und Kirchen“ auch Leiden und Verfolgung zu den notae ecclesiae (WA 50, 628–643). In calvinistischer Tradition wird seit Calvin die obedientia bzw. die disciplina wichtig (Brief an Sadolet, Opera Selecta I, München 1926, 467).

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2. Der zweite Grund ist ein geschichtlicher: Ich brauche hier nicht ausführlich zu erörtern, dass in nachreformatorischer Zeit die evangelischen Kirchen und Pfarrer weithin zu Repräsentanten der sich mehr und mehr absolutistisch verstehenden weltlichen Obrigkeiten geworden sind, monarchischer oder z. B. in der Schweiz auch aristokratisch-republikanischer. Die Reformatoren hatten in der Tradition der Kirchenväter empfohlen, dass die Prädikanten vom Evangelium ihren Lebensunterhalt haben sollten (Mt 10,10!), aber nicht mehr als das.9 Die großen und repräsentativen Pfarrhäuser der späteren Jahrhunderte in der protestantischen Schweiz – eindrückliche Zeugnisse gehobener bürgerlicher Wohnkultur und in der Schweiz wohl das wichtigste Feld protestantisch-kirchlicher Bautätigkeit im 16–18 Jh. – sind eines der Zeugnisse dafür, wie sich später – ohne weitere theologische Reflexion – die Gewichte zu verschieben beginnen. Als Repräsentanten der Obrigkeit wurden die Pfarrer schließlich auch gehaltsrechtlich zu Beamten.10

II. Hauptlinien des neutestamentlichen Befundes Ich skizziere thesenartig die wichtigsten Themenbereiche: 1. Als wichtiger Ausgangspunkt für ein kirchliches „Finanzwesen“ hat der Ruf in die Nachfolge zu gelten, den Jesus nicht an alle, sondern an wenige Menschen richtete, um sie an der Verkündigung des Gottesreichs zu beteiligen (Mk 1,16– 18; Lk 9,61 f). Er war mit der Forderung verbunden, das Wanderleben und die Armut des Menschensohns zu teilen (Q [= Lk] 9,58). Verzicht mindestens auf Nutzung des eigenen Besitzes und Verzicht auf Familienleben gehören mit zum Leben eines Nachfolgers. Diese sehr auffällige, vermutlich direkt am Modell der Elia / E ​ lisatraditionen orientierte Lebensweise ist bei der Absage an den Besitz eingebettet in Jesu grundsätzliche Zuwendung zu den Armen (Q 6,20 f), seine Reichtumskritik (Mk 10,25; Q 16,13; Lk 12,16–21; 16,19–31) und in seine für alle geltende Forderung nach Wohltätigkeit (Q 6,30; 12,33 f). Alles das ist streng auf das Gottesreich bezogen, dessen Verkündigung die Lebensweise der Verkündiger entspricht.11 Bei Jesus gibt es keine grundsätzliche Askese und keine  9  Vgl. z. B. Huldrych Zwingli, Annotationes in Evangelium Matthaei, Opera VI / 1​ , hg. von Melchior Schuler / ​Johannes Schulthess, Zürich 1836, 265 (gegen den doppelten Irrtum der vollständigen Armut bei den Täufern und des Reichtums bei den Papisten“: „victum … quod ad vitae necessitatem et sustentionem pertinent“); Wolfgang Musculus, In Evangelistam Matthaeum Commentarii … , Basel 1561 („quantum exigebat corporalis necessitas“). Zu den Kirchenvätern vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK I / ​ 2, Zürich / ​Neukirchen 1989, 99 f. Anm. 68.79.81. 10  Dabei ist allerdings ihre finanzielle Situation in Deutschland noch im 19. Jh. teilweise recht schlecht gewesen. 11 Besonders deutlich wird das an den in prophetischer Tradition stehenden Symbolhandlungen der Wandermissionare in Q 10,11–15. Die Armut der Boten ist also keine sozial gegebene, sondern eine nach dem Modell des Menschensohns freiwillig gewählte!

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grundsätzliche Weltfeindlichkeit, wohl aber die Gewissheit der Nähe, ja der verborgenen Gegenwart des alles verändernden und umwertenden Reiches Gottes. 2. Nach dem Tode Jesu ging die Verkündigung durch wandernde Boten weiter. Ebenso wenig wie in der kurzen Zeit des Wirkens Jesu war sie eine feste Institution mit strengen Regeln. Vielmehr wurde sie der sich erstreckenden Zeit und den sich wandelnden Situationen angepasst. Dazu gehörte z. B. die Möglichkeit, nach einer Zeit der Wanderschaft wieder sesshaft zu werden oder sich neu aussenden zu lassen (vgl. z. B. Apg 13,1–3; Did 12,1–3), die eigene Frau auf die Wanderschaft mitzunehmen (1 Kor 9,5) oder die realistische Anpassung der harten Ausrüstungsregel Jesu (Q 10,4) an die Gegebenheiten Palästinas oder der Diaspora (vgl. Mk 6,8; Mt 10,9 f).12 Schon ganz früh scheint sich unter den Jesusanhängern eine Grundregel durchgesetzt zu haben: Die Wandermissionare galten als „Arbeiter“ und waren darum „ihres Lohnes wert“ (Q 10,7).13 Die Gemeinden wussten sich für diese Menschen, welche ihre Berufstätigkeit und ihren festen Wohnsitz um der Verkündigung willen aufgegeben hatten, verantwortlich. Sie überließen sie nicht ihrem Schicksal, d. h. zufällig gewährter Gastfreundschaft, der jüdischen Privatwohltätigkeit, den damals wohl existierenden Ansätzen zu synagogaler Fürsorge oder gegebenenfalls dem Erfolg ihres Bettelns. Der Unterhaltsanspruch der wandernden Jesusmissionare ist sehr alt und im ganzen Urchristentum anerkannt (1 Kor 9,4–15 [Paulus spricht in V 4.12 von einer ἐξουσία]; Mt 10,10; 1 Tim 5,18; Did 13,1). Diese Verantwortung der Gemeinden für ihre „Arbeiter“ ist außerordentlich wichtig; wir finden hier – also im Bereich des Materiellen und auch Finanziellen – einen der frühesten Ansätze zu einer eigenständigen Institutionsbildung im Urchristentum, lange vor der Trennung der Jesusgemeinden von den Synagogen. 3. Ebenfalls in der frühen Zeit weit verbreitet ist die Überzeugung gewesen, dass die Verkündigung des Evangeliums nicht dem Gelderwerb dienen dürfe. Paulus, der als Zeltmacher ein ortsunabhängiges Handwerk ausübte, hat aus freier Entscheidung keine Unterstützungen von Gemeinden, in denen er gerade arbeitete und die die Integrität seiner Evangeliumsverkündigung gefährden könnten, angenommen14 und sich gegen entsprechende Vorwürfe heftig ver12  Gerd Theißen, Legitimation und Lebensunterhalt, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 1979, 202–214 unterscheidet zwischen Wandercharismatikern und Gemeindeorganisatoren und deutet so den Konflikt des Paulus mit seinen Gegnern in 1 Kor 9 und 2 Kor 10–13. Ich denke eher, dass es unterschiedliche Formen der Anpassung frühchristlicher Missionstätigkeit an neue Situationen gegeben haben wird. Auch die Gegner des Paulus sind mit dem Schiff gefahren; auch andere als Paulus und Barnabas haben Gemeinden gegründet. Den Verzicht auf den Unterhaltsanspruch bezeichnet Paulus ausdrücklich als etwas, was nur er und Barnabas tun (1 Kor 9,6). 13  Zu diesem Grundsatz vgl. Takaaki Haraguchi, Das Unterhaltsrecht des frühchrist­lichen Verkündigers. Eine Untersuchung zur Bezeichnung ἐργάτης im Neuen Testament, ZNW 84 (1993), 178–195. 14  Wilhelm Pratscher, Der Verzicht des Paulus auf finanziellen Unterhalt durch seine Gemeinden, NTS 25 (1978/79), 284–298.

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teidigt (2 Kor 12,16–18). Sein Beispiel hat über ihn hinaus gewirkt.15 Matthäus stellt den Grundsatz auf: „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt!“ (10,8)16 und spitzt die Ausrüstungsregel Jesu auf ein Erwerbsverbot von Geld zu. Die „Arbeiter“, d. h. die Evangeliumsverkündiger, sollen nicht in Geld, sondern in Naturalien entschädigt werden: „Ein Arbeiter ist seiner Nahrung wert“ (10,10b). Dass es in erster Linie um materielle Zuwendungen geht, zeigen auch die große matthäische Gerichtsschilderung mit den Liebeswerken gegenüber den „geringsten Brüdern“17 und Did 13,4–7. Die Didache nimmt Mt 10,10 explizit auf (Did 13,1 f, vgl. 11,6: nur Nahrung, nicht Geld sollen die Apostel mit auf den Weg nehmen). Die Vorwürfe, aus der Evangeliumsverkündigung einen Geldverdienst zu machen, sind auch in nachapostolischer Zeit häufig.18 Darum galt in der Alten Kirche auch konsequent der Grundsatz, das Evangelium sei kein Erwerb (πορισμός), sondern nur eine Möglichkeit, den nackten Lebensunterhalt zu bestreiten (μόνον διαζῆν).19 Die Unterstützung der hauptberuflichen Evangeliumsverkünder war also eine ganz früh institutionell geregelte besondere Form der Armenunterstützung, der Diakonie.20 4. Von der Diakonie ist nun zu sprechen. Zur κοινωνία urchristlicher Gemeinden gehörte immer, dass der Privatbesitz in einem hohen Masse der Gemeinde zur Verfügung stand und dass es eine Verantwortung der Gemeinde für ihre Armen gab. Das Ideal des sog. urchristlichen Kommunismus ist ein Modell für die spätere Gemeinde; ganz ohne Anhalt an der geschichtlichen Wirklichkeit ist es nicht. Auch Apg 6,1–6 zeigt, dass Lukas in der Fürsorge für die Armen der Gemeinde eine Grundaufgabe sah, welche von Anfang an in der christlichen Gemeinde wahrgenommen wurde. In paulinischen Gemeinden gibt es das Amt des / ​der διάκονος (Röm 16,1; Phil 1,1). Es ist leider unsicher, was das für ein Amt ist. Da Paulus den Wortstamm διακον‑ aber relativ häufig für die Kollekte für die Armen in Jerusalem braucht (Röm 15,25.31; 2 Kor 8,4; 9,1.12 f.), ist es wahrscheinlich, dass die διάκονοι schon bei Paulus für die Armen der Gemeinde und für den Dienst an reisenden Christinnen und Christen zuständig waren. Dass nach dem Empfinden mancher zu viele Gemeindeglieder versuchten, auf Kosten der Gemeinde zu leben, wird 2 Thess 3,11 f und auch 1 Tim 5,9–16 deutlich; die  Vgl. neben Apg 20,33–35 auch Did 12,3–5. 21,6; 22,17. 17  Damit sind aller Wahrscheinlichkeit nach die Wandermissionare gemeint, vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I / 3​ , Düsseldorf / ​Neukirchen 1997, 537–540. 18  Das schönste Beispiel ist der Wanderradikale („peregrinus“ = der Fremde!) Proteus bei Lukian, Peregr 13. 19  Origenes, In Mt 16,21 (zu 21,12) = GCS Orig X 546. 20 Sehr schön zeigt dies Did 13,4: Wenn eine Gemeinde keinen Propheten, Lehrer oder anderen Arbeiter hat, sollen die „Erstlinge“ den Armen gegeben werden. Vgl. auch die Unterstützungsliste der römischen Gemeinde gegen Ende des 2. Jh.s, wo die Amtsträger der Gemeinde an der Spitze der Armen erscheinen (Euseb, Hist Ecl. VI, 43,11). 15

16 Vgl. Apk

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Zurückhaltung beider Verfasser gegenüber der Versorgung durch die Gemeinde beweist zunächst, wie verbreitet und selbstverständlich sie gewesen sein muss. Dass die Versorgung der Armen als eine Aufgabe der Gemeinde gesehen wurde, ist wichtig, weil auf diese Weise die Entstehung von persönlichen Abhängigkeiten und Klientelbeziehungen innerhalb der Gemeinde wirksam unterlaufen werden konnte. Selbstverständlich schließt die κοινωνία ἐν ἀθανάτῳ (vgl. Did 4,8) die Gemeinschaft in irdischen Dingen ein. Darum gibt es in christlichen Gemeinden nur eingeschränkten Privatbesitz.21 Sowohl durch die private Wohltätigkeit als auch durch die Gemeindediakonie haben sich die christlichen Gemeinden von ihrer Umwelt bemerkenswert unterschieden. Über ihren Umfang wissen wir etwa aus Rom Bescheid: Dort erhielten gegen Ende des 2. Jh.s neben gut 150 Gemeindebeauftragten über 1500 Witwen und Arme von der Gemeinde ihren Lebensunterhalt (Euseb, Hist Eccl VI, 43,11). Am Beispiel der paulinischen Kollekte für Jerusalem sehen wir, dass es auch ökumenische Diakonie gegeben hat. Für Paulus, der diese Kollekte in 2 Kor 8 f und in Röm 15,25–27 geistlich als Dank für empfangene χάρις und als Ausdruck der vollen, geistlich-leiblichen christlichen κοινωνία interpretiert, ist dabei der Aspekt der Freiwilligkeit der Gaben besonders wichtig (2 Kor 8,3.8; 9,7; Röm 15,26 f). Diese ökumenische Diakonie ist für die Alte Kirche in späteren Zeiten wichtig geblieben.22 Kurz: Diakonie in umfassendem Sinn, d. h. Unterstützung der eigenen armen „Arbeiter“ für das Evangelium und der Armen innerhalb und außerhalb der eigenen Gemeinde, ist in den Anfängen der Kirche die zentrale Aufgabe gewesen, welche die Geldmittel der Gemeinden und ihrer Glieder beanspruchte. 5. Bereits Paulus ging davon aus, dass die Gemeinden für die Mission eine personelle und wohl auch finanzielle Verantwortung tragen. Wir haben gelernt, die paulinische Mission als ein breit abgestütztes Missionswerk zu verstehen. An ihm sind die Gemeinden durch Gemeindelegaten beteiligt, für deren Lebensunterhalt sie vermutlich aufkommen.23 Jedenfalls hören wir immer nur von Paulus selbst, dass er durch seine eigene Arbeit für seinen Lebensunterhalt aufkommt. Ähnlich sieht dies auch 2 Tim 4,9–12 in der Retrospektive: Paulus ist von vielen Mitarbeitern umgeben, die er zum Teil auch auf Reisen schickt. Woher das Geld dafür stammt, wird nicht erwähnt. 6. Wie steht es mit der Finanzierung der Verkündiger in den Gemeinden? Zum ersten Mal erfahren wir etwas aus den Pastoralbriefen. Nach 1 Tim 5,17 f kriegen sie wahrscheinlich eine Bezahlung, insbesondere dann, wenn sie in der Lehre tätig sind. Der Unterhaltsanspruch, den in der Frühzeit die Wandermissionare haben, wird hier – mit der selben biblischen Begründung wie schon in 1 Kor 21 Did 4,8: Συγκοινωνήσεις δέ τῷ ἀδελφῷ σου καὶ οὐκ ἐρεῖς ἴδια εἶναι. Vgl. Apg 4,32; Barn 19,8; Tertullian Apol 39. 22  Thraede, Diakonie (o. Anm. 4), 569–573. Vgl. z. B. Euseb, Hist Eccl 4,23,10. 23  Luz, Kirche und ihr Geld (o. Anm. 4), 544 f. (in diesem Band XX–XX).

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9,9 und mit einem Hinweis auf den alten Grundsatz vom Arbeiter, der seines Lohnes wert ist (Q 10,7)  – auf die Verkündiger in der Gemeinde übertragen. Das ist gegenüber der Frühzeit eine bedeutsame Weiterentwicklung. Bei Paulus gibt es das noch nicht.24 Dem entspricht die zwischen der paulinischen Zeit und dem Ende des 1. Jh.s zu beobachtende Umschichtung bei den Trägern der Verkündigung in der Gemeinde: Während bei Paulus grundsätzlich jeder (und jede!) „einen Psalm, eine Lehre, eine Offenbarung … hat“ (1 Kor 14,26) und besondere von der Gemeinde beauftragte Verkündiger gar nicht nötig waren, sind es in den Pastoralbriefen der Bischof und die Ältesten, die lehren. Über die Höhe ihrer Bezahlung erfahren wir nichts; 1 Tim 5,17 deutet wohl an, dass es Abstufungen gegeben hat. Schwierig ist die Frage, ob man auch aus der Apostelgeschichte etwas entnehmen kann. Der lukanische Paulus hat in seinen Gemeinden Älteste eingesetzt, deren Aufgaben primär die Gemeindeleitung und die Lehre gewesen sein dürften (Apg 20,28 f). Im selben Kontext stellt er sich selber als Beispiel hin, weil er weder Silber noch Gold noch Kleidung begehrt hat, sondern sich mit seiner eigenen Hände Arbeit ernährt hat (20,33 f). Wird er hier den Ältesten als Vorbild hingestellt, so dass Lukas ihnen eine Berufstätigkeit und die Übernahme des Ältestendienstes als unbezahlte Tätigkeit empfehlen möchte? Das ist gut möglich. 7. Eigene Gebäude hatten die frühen Christengemeinden, im Unterschied zu manchen Synagogengemeinden in der Diaspora, nicht, denn sie versammelten sich durchwegs in Privathäusern. Damit fiel ein großer Teil der Ausgaben weg, die heutige Kirchen haben. Damit fiel auch für Reiche – das ist in der Antike wichtig – eine wichtige Möglichkeit weg, sich als „Stifter“ oder Wohltäter zu profilieren. Erst seit dem Ende des 2. Jh.s ist uns kirchlicher Immobilienbesitz bezeugt.25 8. Wie wurden allenfalls vorhandene Mittel der Gemeinden verwaltet? Eine originelle Lösung zeigt uns Paulus für die Kollekte: Für die Sammlung der Kollekte in Galatien und Korinth ordnet er an, dass in seiner Abwesenheit jeder am Sonntag bei sich zuhause die ihm mögliche Summe beiseite legen solle (1 Kor 16,1). Am Sonntag soll dies geschehen, damit die geistliche Dimension dieser Kollekte und die Beziehung zum Gottesdienst deutlich wird. Zuhause soll es geschehen – offensichtlich, weil es noch keine zentrale Gemeindekasse gibt, welche solche Mittel verwaltet. Ob es in paulinischen Gemeinden für innergemeindliche Diakonie eine Kasse gegeben hat, aus der etwa die Phoebe dem Paulus geholfen hat (vgl. Röm 16,2), wissen wir nicht. Anders ist dies in der späteren Zeit: 1 Tim 5,16 setzt offensichtlich die Existenz einer Gemeindekasse voraus, aus der die berechtigten Witwen versorgt werden. Die Warnungen vor 24 Gal 6,6 bleibt unsicher. Hier könnte – muss aber nicht – eine Entschädigung eines Unterrichtenden angedeutet sein. 25  Thraede, Diakonie (o. Anm. 4), 562.567

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Gewinnsucht an die Bischöfe (1 Tim 3,3; Tit 1,7), lassen vermuten, dass sehr früh der Gemeindebischof der Verwalter dieser Kassen gewesen ist. Sie waren oft sehr gut dotiert: Wir wissen mindestens aus Rom und Karthago, dass die Gemeinden über mehrere hunderttausend Sesterzen verfügten.26 9. Woher kamen die Einnahmen der Gemeinden? Tertullian nennt in Apol 39,5–7 einige Dinge, welche die christlichen Gemeinden von antiken collegia unterscheiden. Dazu gehört u. a., dass die Gemeindekasse durch freiwillige Kollekten und nicht durch Ehrensummen künftiger Amtsträger und Eintrittsgebühren gespeist wird, wie dies etwa bei Mysterienvereinen der Fall war.27 Jeder zahlt an einem bestimmten Tag im Monat, „oder wenn er will und falls er überhaupt will und falls er überhaupt kann. Niemand wird gezwungen, sondern man zahlt freiwillig.“28 Diese „Darlehen der Frömmigkeit“ dienen ausschließlich der Diakonie, den Armen, Waisen, Alten, Schiffbrüchigen, Gefangenen etc. Auch in neutestamentlicher Zeit ist der Grundsatz der Freiwilligkeit ein Grundton, der immer wieder aufklingt: Schon für die paulinische Kollekte gilt, dass kein Richtbetrag festgesetzt ist; jeder soll geben, was er kann (1 Kor 16,2). Philemon soll das von ihm Erbetene freiwillig leisten (Phm 14). Dasselbe betont der Verfasser der Apostelgeschichte im Rückblick auf die Urgemeinde: Es bestand kein Zwang, dass Ananias und Sapphira den ganzen Verkaufserlös den Aposteln übergeben mussten (Apg 5,4). Tödlich ist nicht, dass sie etwas für sich behalten, sondern dass sie „den Heiligen Geist belügen“ (5,3). Das ganze lukanische Geschichtswerk durchziehen implizite und explizite Appelle an die Gebefreudigkeit der Gemeindeglieder. Diese muss dementsprechend freiwillig gewesen sein. Lukas geht es in seinem Doppelwerk nicht zuletzt darum, ein Ethos der Gebefreudigkeit zu schaffen. Auch in der Didache herrscht das Prinzip der Freiwilligkeit: An Naturalien und Geld soll jeder geben, ὡς ἄν σοι δόξῃ.

III. Kontinuitätslinien im Neuen Testament Zwischen dem Jüngerkreis Jesu und den Gemeinden der Pastoralbriefe liegt ein langer Weg. Sowohl die Verkündigung als auch die Gestalt der Gemeinde änderte sich in gewandelter Situation. Dennoch gibt es meines Erachtens Kontinuitäten, welche sich durch die ganze neutestamentliche Zeit durchhalten. Ich möchte sie kurz benennen: 1. Die christlichen Gemeinden haben nie die Sozialgestalt und damit auch das Finanzwesen von religiösen Gemeinschaften ihrer Umwelt einfach übernommen. Sie imitierten nie einfach Synagogen; sie waren nie einfach ein Orden 26 Staats,

Deposita pietatis (o. Anm. 4), 8 f.  Apuleius Met 11,28. 28  Dazu Luz, Die Kirche und ihr Geld (o. Anm. 4), 528–533 (in diesem Band XX–XX). 27

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wie die Essener und nie einfach ein collegium wie ein Mysterienverein, sondern haben sich immer von diesen „Nachbarn“ charakteristisch unterschieden29 und hinsichtlich ihrer Sozialgestalt, auch im Blick auf ihre Geldmittel Wege zu gehen versucht, welche dem Evangelium entsprachen. 2. Die Unterordnung des Privatbesitzes der Gemeindeglieder unter das κοινόν, seine In-Dienst-Stellung für die kirchliche κοινωνία scheint ein durchgehender Zug des frühchristlichen „Finanzwesens“ zu sein. 3. Die Zuwendung zu den Armen und damit ein Vorrang der Diakonie bei der Verwendung kirchlicher Mittel, der für die Alte Kirche so wichtig war, ist bereits im Neuen Testament zentral. 4. Missionsverkündigung und Diakonie gehören im Frühchristentum eng zusammen: Während es teilzeitliche oder vollzeitliche Verkündiger und Lehrer in den Gemeinden erst in spätneutestamentlicher Zeit gab, war das Unterwegssein als Wandermissionar Christi schon von Anfang an meist ein „Vollamt“. Für diese Wandermissionare war Armut ein Gebot. Die christlichen Gemeinden haben sie immer als ihre „Arbeiter“ unterstützt, sodass sie vom Evangelium leben konnten. Der Gedanke, durch das Evangelium reich zu werden, galt schon von Anfang an als Unmöglichkeit – entsprechende Versuche wurden heftig bekämpft. 5. Grundlegend für den Umgang mit Geld in den Gemeinden des Neuen Testaments ist die Freiwilligkeit. Auf der Freiwilligkeit aller Zuwendungen insistierte man von Jerusalem über Paulus bis zu Tertullian.30

IV. Zwei Grundthesen und ein laienhafter Ausflug eines Neutestamentlers in die Domäne der Kirchenfinanzen Aus dem Gesagten ergeben sich für mich zwei Grundthesen: 1. Zwischen der sichtbaren Gestalt der Kirche und ihrem Auftrag besteht ein unauflösbarer Zusammenhang. Die sichtbare Gestalt der Kirche gehört zu ihrem „Wesen“. Darum ist auch die Gestaltung des Finanzwesens der Kirche eine Aufgabe, welche die Ekklesiologie zentral betrifft. Die Reduktion der sog. notae ecclesiae auf Wort und Sakrament in der Reformationszeit ist vom gesamten Zeugnis des Neuen Testamentes her völlig einseitig und darum falsch. Ich kenne überhaupt keine neutestamentlichen Texte, in denen die sichtbare Gestalt der Kirche, das Leben und die Praxis der Kirche nicht Teil ihres „Wesens“, Spiegelung ihres göttlichen Auftrags, Dimension ihres Zeugnisses und Ort der Erfahrung von wirklichem „Heil“ wäre. Das gilt für Jesus, 29 30

 Dazu Luz, Kirche und ihr Geld (o. Anm. 4), 553 f; in diesem Band 127.  Apg 4,36 f.; 5,4.

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dessen Jüngergemeinschaft den Anbruch des Gottesreiches spiegelte und als Kontrastgesellschaft gegenüber der Welt erfahrbar machte. Das gilt für Paulus, für den gelebte κοινωνία vielleicht die wesentlichste „nota ecclesiae“ ist. Das gilt für Matthäus, der Kirche als gelebte Jüngerschaft Jesu versteht, in Armut, Gehorsam, Zeugnis durch Wort, Wunder, Praxis und Leiden.31 Das gilt für Lukas, für den das ganze Leben der Kirche Gottes wunderbare Führung spiegelt. Das gilt für den Epheserbrief, für den Kirche ein von Christus erfüllter Raum des Segens, des Lobpreises, der Liebe und des neuen Lebens ist. Das gilt für die Pastoralbriefe, in denen gewisse rechtliche Strukturen in der Gemeinde zur Bewahrung des paulinischen Zeugnisses wesentlich werden. Ich könnte fortfahren. Zur sichtbaren Gestalt der Kirche gehört auch ihr Umgang mit Geld und Reichtum. Armut scheint zum Wesen der Kirche zu gehören. Der Primat der Diakonie scheint zum Wesen der Kirche zu gehören. Freiwilligkeit, auch beim Verschenken von Eigentum, scheint zum Wesen der Kirche zu gehören. Die neutestamentlichen Gemeinden sind deshalb in all diesen Bereichen gegenüber ihrer Umwelt neue, eigene Wege gegangen. Nichts ist deshalb so falsch wie die Forderung, die Ekklesiologie, oder ihr Grundtext, das Neue Testament, möge doch, wenn es um die Finanzierung der Kirche gehe, draußen vor der Tür bleiben. Den Ruf, die Theologen möchten doch bitte bei ihrer Sache bleiben und sich in die Sache anderer nicht einmischen, hören wir ja oft, heute nicht zuletzt von Mikrobiologen und Wirtschaftswissenschaftlern. Ich denke im Gegenteil, zur Sache der Theologen gehöre es immer wieder, sich – um des Evangeliums willen – in die Domänen anderer einzumischen. Damit komme ich meiner zweiten These: 2. Von allen heutigen Modellen der Kirchenfinanzierung, die ich kenne, ist keines so weit vom Neuen Testament und damit auch von dem, was seinen Verfassern für die Kirche wesentlich schien, entfernt, wie das Modell der Kirchensteuer. Ich kann zwar nicht in der direkten Weise Kierkegaards sagen, dass das Kirchensteuersystem und die damit verbundene Weise der Bezahlung der Pfarrer „Christi Vorschrift direkt zuwiderläuft“, denn es gibt hier wie überall keine Möglichkeit, neutestamentliche Aussagen direkt in die Gegenwart zu übertragen. Aber das Kirchensteuersystem widerspricht meines Erachtens wesentlichen Grundlinien dessen, was im Neuen Testament Kirche ist, und damit dem Richtungssinn des Neuen Testaments. Gerade in „Kirchen des Wortes“ kann dies nicht gleichgültig sein.32 31  Vgl. Ulrich Luz, Die Jüngerrede des Matthäus als Anfrage an die Ekklesiologie, in: Karl Kertelge u. a. (Hg.), Christus bezeugen (FS W. Trilling), Leipzig 1989, 84–101 = ders., Exegetische Aufsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 245–265. 32  Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, wie sehr sich die Kirchensteuer im Lauf der Zeit gewandelt hat, und wie anders sie heute bewertet werden muss als z. Z. ihrer Einführung

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Ich spreche mich also nicht deswegen gegen dieses System aus, weil ich im Unterschied zu den Finanzexperten dächte, dass es vom Zusammenbruch bedroht sei. Im Gegenteil: Auch ich vermute, dass es mit einigen Modifikationen und Anpassungen den Kirchen in weiten Teilen Deutschlands, der Schweiz und Skandinaviens in den nächsten zwanzig oder fünfzig Jahren am ehesten ihr Überleben in der bisherigen Gestalt sichern werde.33 Denn die Kirchensteuer ist noch (!) kein Thema, über das die Leute diskutieren, ebenso wenig wie die Kirche. Beide sind noch weithin stillschweigend akzeptiert. Man kann sich ihre Bezahlung leisten; sie fällt angesichts der übrigen Steuern, die zu bezahlen sind, kaum ins Gewicht. Bezahlt man sie nicht mehr, so wird man an manchen Orten zum Außenseiter, denn Religion ist zwar überall bei uns Privatsache geworden, aber nicht unbedingt Kirche. Ich denke, dass sich Ex-DDR-Verhältnisse, Hamburger oder Basler Verhältnisse an andern Orten nur langsam einstellen werden. Wenn ich gegen die Kirchensteuer bin, dann vielmehr um der Kirche willen: Wie andere staatliche Steuern, so bezahlt man die Kirchensteuer um der Aufrechterhaltung einer gewissen Grundversorgung willen, die zum Leben nötig ist. Im Fall der Kirche handelt es sich um eine Grundversorgung mit Ritualen und gewissen sozialen Dienstleistungen oder auch ganz einfach darum, dass das Leben, zu dem Kirche immer gehört hat, in allem hektischen Wandel irgendwo so bleibt wie es ist. Mit Beteiligung am Leben der Kirche, mit Engagement für sie, mit eigener gelebter Religion, mit Einsatz für die Kirche oder bewusster Bejahung ihres Auftrags hat die Kirchensteuer in der Regel nichts zu tun. Im Gegenteil: Steuern bezahlt man ja gerade für diejenigen Dinge, bei denen man sich von einer praktizierten Mitverantwortung entlasten kann: Dadurch, dass man Steuern zahlt, ist ein anderer, nämlich der Staat, für die Aufrechterhaltung gewisser Grundfunktionen des Lebens verantwortlich, z. B. für den Bau von Straßen, die Existenz von Schulen, die äußere Sicherheit etc. Zahlt man Kirchensteuern, so entlastet man sich dadurch auch von der direkten Verantwortung für Dinge, die eben Sache der Kirche sind,34 z. B. für die Existenz von Ritualen, für die Erhaltung der zur Heimat gehörenden kirchlichen Gebäude etc. Mit anderen Worten: Die Institution der Kirchensteuer hat eine ebenso große Affinität zu einer Kirche als Versorgungskirche wie Finanzierungsmodelle, die auf echter Freiwilligkeit basieren, eine Affinität zu einer Kirche als Beteiligungskirche haben. Freiwillige Beiträge setzen eine eigene Entscheidung über die Höhe des im 19. Jh. Während ihre Einführung damals gerade ein Schritt zur Loslösung und Verselbständigung der Kirche gegenüber dem Staat war (vgl. Alfred Schindler, Die Kirche und ihr Geld, Basel 1983, 26 f), erscheint sie heute vielmehr als Ausdruck der Bindung der Kirche an den Staat. 33 Aber ist diese Gestalt so gut? 34  Ausdruck dafür ist bei uns der miserable Besuch der Kirchgemeindeversammlungen, die über die Verwendung der Steuergelder entscheiden.

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Beitrags voraus; die Kirchensteuer nimmt den Zahlenden diese Entscheidung ab. Freiwillige Beiträge fordern einen eigenen Akt der Identifikation mit der Kirche; die Kirchensteuer erfordert dies nicht, denn sie verschwindet in den anderen Steuern, die „man“ eben bezahlt, weil sie unausweichlich sind. Zur Kirchensteuer gehört Anonymität ebenso, wie Identifikation mit der Kirche zum System der freiwilligen Beiträge gehört. Ich weiß nicht, ob der Eindruck, den ich durch meine ökumenischen Begegnungen gewonnen habe, generell richtig ist: Mir scheint, dass die Beteiligung der Mitglieder der Kirche an ihrem Leben, z. B. an ihren Gottesdiensten, und die gelebte Gemeinschaft der Kirchenmitglieder untereinander weltweit nirgendwo so gering ist wie in Kirchen mit Kirchensteuersystem. Ausnahmen in beiden Richtungen bestätigen die Regel. Was nun? Was ich im Folgenden als Möglichkeiten vorschlage, sind wirklich nur laienhafte Gedankenspaziergänge eines Neutestamentlers, der zugleich bewusstes Kirchenmitglied ist. Ich bewege mich dabei als Nichtfachmann in einem Garten, der nicht mein eigener ist. Meine Vorschläge sind unprofessionell und keineswegs radikal. Mir ist bewusst, dass der status quo eine prägende Realität ist, und dass man Gutes, was existiert, nicht leichtfertig aufs Spiel setzen soll. Alle meine Vorschläge sind im Vergleich mit dem jetzigen Kirchensteuersystem riskant. Aber sie sind bewegt vom Wunsch nach einer lebendigen Kirche, die hoffentlich auch bei uns in fünfzig Jahren noch eine wirklich erlebbare communio ist und nicht nur ein Fossil einer ehrwürdigen Institution. Ich versuche dabei, mich aus unserer heutigen Situation auf die Kontinuitätslinien des Neuen Testaments hin zu bewegen. 1. Mit oder ohne Kirchensteuersystem denke ich, dass die Hauptverantwortung für die Finanzen der Kirche generell bei den Gemeinden und nicht bei der Landeskirche liegen sollte. Mit einer Gemeinde kann man sich viel eher direkt identifizieren. In ihr kann man Gemeinschaft erfahren; für sie ist man direkt verantwortlich. Ich denke, dass grundsätzlich die kirchlichen Gelder von unten nach oben fließen sollten, d. h. von der Gemeinde zur Landeskirche und in eine gesamtkirchliche Ausgleichskasse, wie dies z. B. bei den Anglikanern, aber auch etwa in der Schweiz der Fall ist, und nicht umgekehrt. Die meisten Ausgaben fallen ja auch in den Gemeinden an. Darum sollen sie z. B. über „ihre Arbeiter“ entscheiden können, also etwa darüber, ob und wie viele Pfarrer und andere Mitarbeiter sie brauchen, ob sie als Gemeinde selbständig bleiben oder einem Regionalverbund in irgend einer Form beitreten wollen. Die kirchlichen Mitarbeiter sind ihre Arbeiter, für die sie die Verantwortung tragen. 2. Aus dem selben Grund halte ich das System des automatischen Einzugs der Kirchensteuer zusammen mit den staatlichen Steuern für problematisch. Es ist zwar unendlich praktisch, wie die Erfahrung des „Drop-outs“ einer großen Zahl von Kirchensteuerzahlern in der ehemaligen DDR zeigt, als diese das System des automatischen Einzugs der Kirchensteuern abschaffte. Aber es vernebelt die Möglichkeit, die Kirche als eigene Größe wahrzunehmen, welche mit Staat und

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Gesellschaft durchaus nicht identisch ist, sondern in ihnen und ihnen gegenüber einen ganz besonderen Auftrag hat. Ein eigenes Steuereinzugssystem  – umd natürlich noch viel mehr ein System des Einzugs freiwilliger Beiträge – stellte die Mitglieder der Kirche ständig vor die Frage, ob sie wirklich Mitglieder der Kirche sein wollen. Ohne eine bewusste Mitgliedschaft ihrer Glieder aber kann die Kirche nicht leben! 3. Auch beim Kirchensteuersystem denke ich, dass die Höhe des Beitragssatzes nicht einfach von der Landeskirche oder der Gemeinde, sondern mindestens bis zu einem gewissen Grade vom einzelnen Kirchenmitglied festgesetzt werden sollte. Das allein entspricht dem Grundsatz der Freiwilligkeit. Hier sind übergangsweise verschiedene Zwischenmöglichkeiten denkbar, z. B. die eines Sockelbeitrags und eines freiwilligen Beitrags, oder die einer „Rahmenangabe“, d. h. einer oberen und unteren Richtgröße für die Kirchensteuer.35 Mit den folgenden beiden Vorschlägen ist dieser Vorschlag kombinierbar. 4. Der Gedanke einer „Kultursteuer“, wie sie z. B. in Italien üblich ist, müsste ernsthaft geprüft werden. Diese Kultursteuer könnte auch Kirchen zur Erfüllung ihrer allgemeinen kulturellen Aufgaben, z. B. der Erhaltung kirchlicher Gebäude, der Finanzierung von Orgeln etc. oder für andere gemeinnützige kulturelle Aufgaben zugute kommen. Darüber hinaus müssten die spezifischen Aufgaben der Kirchen, zu denen vorab Verkündigung und Diakonie gehört, durch die Kirchenmitglieder auf freiwilliger Basis finanziert werden. 5. Der Gedanke eines (eventuell teilweisen) „Splittens“ der Kirchen‑ (oder auch der Kultur‑)steuer und abgestufter Mitgliedschaftsformen ist meines Erachtens ernsthaft zu erwägen. Viele Menschen fühlen sich heute nicht einfach als „Mitglieder“ der Kirche oder ihrer Parochialgemeinde, wohl aber identifizieren sie sich mit bestimmten Aufgaben und Projekten der Kirche. Andere fühlen sich zwar persönlich nicht mehr zur Kirche gehörig, aber sie bejahen grundsätzlich die Existenz und Notwendigkeit von Kirchen. Wieder andere sind zwar formell Glieder der Kirche, in Wirklichkeit aber in anderen Gruppierungen und Gemeinschaften, z. B. einer Freikirche, einer Frauenkirche, einer landes­kirchlichen Gemeinschaft oder einem interkonfessionellen Kreis etc. beheimatet, mit denen sie sich identifizieren. Oft zahlen sie „doppelt“: hier die Kirchensteuer, dort z. B. den „Zehnten“. Für viele Menschen heute stellen sich ganz andere Entscheidungsfragen als diejenige, ob sie Mitglieder einer Kirche sein wollen oder nicht, z. B. die Frage, ob sie als Nichtmitglieder der Kirche eine gewisse Grundunterstützung zukommen lassen wollen oder ob sie bestimmte 35  Den heute häufig geäußerten und auch praktizierten, durchaus zeitgemäßen Gedanken, die kirchlichen Finanzlücken durch „Sponsoring“ aufzufüllen, halte ich in einer allgemeinen Form für schwierig. Die meisten größeren und kleineren potentiellen Sponsor / i​nnen sponsern nicht Aufgaben, wofür sie Steuern bezahlen. Sie sind eben Angelegenheit „des Staates“, bzw. „der Kirche“. Nur für ganz besondere, innovative und in den bisherigen kirchlichen Aufgaben nicht enthaltene Projekte scheint mir dieser Weg fruchtbar zu sein.

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kirchliche Aufgaben und Projekte für eine bestimmte Zeit unterstützen wollen etc. Der Situation heutiger Volkskirchen wären Möglichkeiten „abgestufter Mitgliedschaften“ durchaus angemessen. Für solche Möglichkeiten sollten entsprechende „Gefäße“ geschaffen werden. Dabei sollte der Gesichtspunkt der Qualität und des Grades der Identifikation eines „Mitglieds“ mit „seiner / s​ einen“ „Kirchen“ eine entscheidende Rolle spielen. 6. Die Frage der Pfarrerlöhne sollte ernsthaft überdacht werden. Ich denke dabei an eine Annäherung an den biblischen, altkirchlichen (und reformatorischen!) Grundsatz, dass hauptamtliche Verkündiger und Verkündigerinnen vom Evangelium „leben“ sollten, aber „nur leben“, und zwar nach dem Armenrecht.36 Ich denke aber auch an die Schaffung von Pfarrstellen im Nebenamt oder auf der Basis eines freiwilligen Dienstes, der neben einer anderen Berufsarbeit geleistet wird, nach dem Modell des Paulus. Die deutschen Kirchen hatten ja in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Gottesgeschenk der sog. „Theologenschwemme“ umzugehen – und wie haben sie dies getan! Sie haben diese „Schwemme“ durch sorgfältig geplante Maßnahmen und ein weitgehendes Zuschließen ihrer Türen reguliert, kanalisiert, abgeleitet und schließlich fast zum Verschwinden gebracht. Sie wurde immer als ein Problem und kaum je als ein Segen Gottes betrachtet. Wie viele gute junge Leute, die für die Kirche arbeiten wollten, wurden daran gehindert! Ich halte den Umgang der deutschen Kirchen mit der sog. „Theologenschwemme“, auf die z. B. wir Schweizer immer mit Neid geblickt haben, für eine der ganz großen Fehlleistungen in der neuesten deutschen Kirchengeschichte. Welche Chance hätten die Kirchen gehabt, wenn sie durch mutige Schritte zurück zu dem, was Verkündigergehälter in der Kirche in früheren Zeiten waren, oder in Richtung auf Teilzeitämter und Nebenämter, diese Theologinnen und Theologen nicht von der Arbeit für die Kirche ausgeschlossen hätte! 7. Die Grundentscheidung der neutestamentlichen Zeit und auch der Alten Kirche, dass das wichtigste Feld, auf dem kirchliche Finanzen gefordert sind, die Diakonie ist, muss wieder neu zur Leitlinie der Ausgabenpolitik der Kirchen gerade in der Situation des „Sparzwangs“ werden. „Diakonie“ bedeutet, dass die Kirche ihr Geld immer in erster Linie für Menschen ausgeben muss, die es nötig haben, lokal und weltweit, innerhalb und außerhalb der Kirche. Das Budget einer Kirche ist ein sprechender Kommentar zum Evangelium, das sie verkündet – nur allzu oft stimmt beides nicht überein!

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 Vgl. Origenes o. Anm. 19.

10. Das Problem der eucharistischen Gastfreundschaft in neutestamentlicher Sicht I Vor beinahe vierzig Jahren hat der Jubilar einen Beitrag über „Das Problem der Interkommunion in orthodoxer Sicht“ mit dem Untertitel „Eine biblischekklesiologische Untersuchung“ veröffentlicht.1 Das Thema hat an Brisanz seither nicht verloren. Im Gegenteil: Mit dem ersten deutschen Ökumenischen Kirchentag in Berlin im Mai 2003 hatten viele gläubige evangelische und katholische Christinnen und Christen die Hoffnung verbunden, nun endlich einmal gemeinsam Eucharistie feiern zu können. Die päpstliche Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“ vom 17. April 2003, welche  – unausgesprochen  – auf diesen ersten gemeinsamen Kirchentag hin veröffentlicht worden war,2 bewirkte eine grosse Frustration und verstärkte den Eindruck, dass wir unter dem Pontifikat von Johannes Paul II in einer ökumenischen Eiszeit leben. Die Enzyklika bot naturgemäss nichts Neues: Sie wiederholte nur den bekannten römisch-katholischen Standpunkt in grosser Härte und Deutlichkeit: Eine gemeinsame Feier der Eucharistie bzw. des Herrenmahls „ist nicht möglich, bevor“ die Bande des Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und des kirchlichen Leitungsamtes „in ihrer Unversehrtheit wieder hergestellt sind“ (EE 44). Eine derartige Konzelebration3 ist nach der Enzyklika kein gültiges Mittel, sondern eher ein Hindernis 1  Γεωργιος Α. Γαλιτης, Intercommunio: Τὸ πρόβλημα τῆς μυστηριακῆς κοινωνίας μετά τῶν ἑτεροδόξων ἐξ ἐπόψεως ὀρθοδόξου. Βιβλική καί ἐκκλησιολογική μελετή, Πορευθέντες 8 (1966) 2–6. 23–31. 42; deutsche Fassung: Georg A.  Galitis, Intercommunio, Ökumenische Rundschau 16 (1967), 265–285. Ich zitiere die deutsche Fassung. 2  Papst Johannes Paul II, Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 159, 17.4 (2003), fortan als „EE“ zitiert. 3  Im heutigen deutschen Sprachgebrauch hat es sich eingebürgert, zwischen „Konzelebration“ und „eucharistischer Gastfreundschaft“ zu unterscheiden. Im Falle von „Konzelebration“ leiten zwei Amtsträger verschiedener Konfession gemeinsam das Herrenmahl, wobei die Frage nach dem zu befolgenden Ritus offen bleibt. „Eucharistische Gastfreundschaft“ bedeutet dagegen, dass eine Herrenmahlsfeier nach dem Ritus einer bestimmten Kirche, z. B. der römisch-katholischen oder der lutherischen, auch für Christinnen und Christen anderer Konfessionen offen ist. EE 45 versteht „Interkommunion“ als „Konzelebration“. Galitis a. a. O. 272 f unterscheidet zwischen „geschlossener Kommunion“, d. h. der Praxis von Kirchen, welche nur ihre eigenen Mitglieder zur Kommunion zulassen, „offener Kommunion“, d. h. der Praxis von Kirchen, welche in ihren Herrenmahlsfeiern Angehörigen anderer Kirchen u. U.

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für das Erreichen der vollen Gemeinschaft. Den evangelischen Kirchen blieb nichts anderes übrig, als aus Respekt gegenüber der katholischen Kirche den Versuch einer gemeinsam gefeierten Eucharistie aus dem offiziellen Programm des Kirchentags zu streichen. Sie fand – unter Beteiligung einer sehr grossen Zahl von Gläubigen – trotzdem statt. Der katholische Priester, der sie zelebrierte, ist von seinem Bischof umgehend gemassregelt worden. Die Bedingungen der Enzyklika für eine „Spendung der Eucharistie unter besonderen Umständen und an einzelne Personen“, also für „eucharistische Gastfreundschaft“ für Menschen, welche nicht der römischen katholischen Kirche angehören, sind äusserst restriktiv. Vorausgesetzt ist, dass Christinnen und Christen, welche um eucharistische Gastfreundschaft in einer römischkatholischen Messe bitten, „den Glauben bezeugen, den die katholische Kirche in diesen Sakramenten bekennt“. Leugnen sie eine oder mehrere dieser Glaubenswahrheiten, „etwa die … Wahrheit bezüglich der Notwendigkeit des Weihepriestertums zur gültigen Spendung dieser Sakramente“, so sind sie für den Empfang der katholischen Sakramente „nicht disponiert“ (Zitate EE 46). Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass damit die meisten protestantischen Christinnen und Christen von eucharistischer Gastfreundschaft grundsätzlich ausgeschlossen sind  – im Unterschied zu orthodoxen, orientalischen und anglokatholischen Christen. Sie leugnen ja gerade die Notwendigkeit des Weihepriestertums und betrachten es als eine kirchenrechtliche Einrichtung, welche für das Heil nicht konstitutiv ist. Über die Praxis der orthodoxen Kirchen wurde in diesem Zusammenhang kaum gesprochen. Grundsätzlich vertreten sie dieselbe Position wie die römisch-katholische Kirche. „Nur die Einheit und Verbundenheit der Christen in einem gemeinsamen Glauben kann als notwendige Folge ihre sakramentale Gemeinschaft … ergeben“.4 Grundsätzlich gilt also, dass die Wahrheit vor der vollen κοινωνία rangiert. Allein „die Einheit im Glauben“ … „erlaubt und bedingt … auch die sakramentale … Gemeinschaft“.5 Die protestantische Grundüberzeugung ist hier eine andere: Sie basiert auf der Praxis der „offenen Kommunion“, d. h. der unbeschränkt an alle getauften Christinnen und Christen gewährten eucharistischen Gastfreundschaft. Sie versteht die in der Eucharistie erfahrene Gemeinschaft als von Gott geschenkte Stärkung auf dem gemeinsamen Weg zur vollen Wahrheit. Wenn ich als Protestant über das Thema „eucharistische Gastfreundschaft“ für Georgios Galitis einen Geburtstagsartikel schreibe, so ist es klar, dass ich seiner Argumentation widersprechen muss. Ich hoffe sehr, dass ich ihn durch meinen einseitig eucharistische Gastfreundschaft gewähren, und „voller Interkommunion“, welche auf Wechselseitigkeit basiert und interkonfessionelle Konzelebration einschliesst. 4 Sondererklärung der Orthodoxen zum Bericht der 1. Sektion der Weltkirchenkonferenz von Evanston, zitiert nach Galitis a. a. O. 279. 5  Galitis a. a. O. 277.

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Widerspruch nicht ärgere! Der Grund, warum ich gerade über dieses Thema schreibe, ist eine tiefe innere Betroffenheit, ja, eine Wunde. Wie wohl alle orthodoxen, katholischen und protestantischen Christen halte ich das uns Christen von unserem gemeinsamen Herrn geschenkte und anvertraute Herrenmahl für die kostbarste Gabe, die wir von ihm empfangen haben. Dass ich in orthodoxen Kirchgemeinden einerseits immer wieder herzlich aufgenommen und auch zum Predigen eingeladen werde, dass mir aber andererseits die Kommunion verweigert wird, erfahre ich als tiefen Bruch, der mich mutlos und traurig werden lässt. Ich erfahre immer wieder Annahme und Zurückweisung zugleich. Das Gespräch mit Georgios Galitis wird also nicht bei einem Einverständnis enden. Das ergibt sich schon aus der Anlage meiner Studie: Sie ist aus „neutestamentlicher Sicht“ geschrieben. Dass ich mich auf das Neue Testament konzentriere, ist zugleich eine protestantische Perspektive. Darin spiegelt sich, dass für uns Protestanten die Bibel in erster Linie ein Gegenüber ist: Sie steht den Kirchen und ihren Traditionen gegenüber, belebt sie, erneuert sie, bestätigt sie oder stellt sie kritisch in Frage. Indem ich die Bibel in erster Linie als Gegenüber verstehe, möchte ich die Bedeutung der Tradition nicht leugnen: Ich weiss, dass die Tradition der Kirchen ein Schatz an Erfahrungen ist, ohne den wir die Bibel gar nicht lesen könnten, und ich weiss auch, dass es ein einfaches „Zurück zur Bibel“ gar nicht geben kann. Ich weiss aber auch, dass die Tradition ebenso vielfarbig und reich ist wie die Bibel: Würden wir versuchen, die Traditionen der Kirchen von der Bibel her zu be‑ und verurteilen, so wären wir Biblizisten und würden weder den kirchlichen Traditionen, noch auch dem Reichtum der Bibel gerecht. Würden wir umgekehrt die Bibel der Sichtweise kirchlicher Tradition unterordnen und sie einseitig als gültige Entfaltung der biblischen Zeugnisse betrachten, so wären wir Traditionalisten und würden eben damit weder dem Reichtum der Bibel, noch dem der kirchlichen Traditionen gerecht. „Tradition“ ist dabei für mich nicht nur die patristische, sondern auch die mittelalterliche und neuzeitliche, und nicht nur die östlich-orthodoxe, sondern auch die westlich-katholische und die westlich-protestantische. Ich bin gerade darin Ökumeniker, dass mich die Traditionen aller Kirchen interessieren, und dass ich vom Reichtum der Traditionen anderer Kirchen her die Tradition der eigenen Kirche, also die protestantisch-reformatorische, bereichern, erweitern und manchmal auch kritisch hinterfragen möchte. Dies gilt in besonderer Weise auch für das uns allen gemeinsame Neue Testament, das die anfänglichen Traditionen der Kirche überliefert. Es ist durch seinen Reichtum in besonderer Weise geeignet, unseren Blick zu öffnen, unsere Armut zu bereichern, uns für das Verständnis der Traditionen anderer Kirchen zu sensibilisieren und uns selbst kritisch in Frage zu stellen. Meine protestantische „neutestamentliche Perspektive“ ist also zugleich ökumenisch und traditionsbezogen: Sie ermöglicht es, angeleitet durch die Bibel im Hören auf die Traditionen der eigenen Kirche und anderer Kirchen einen Weg

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zu gehen zu dem hin, der selbst der Weg und die Wahrheit und das Leben ist (Joh 14,6). Sie bleibt aber darin eine sehr protestantische Perspektive, dass sie voraussetzt, dass keine Kirche im Vollbesitz der göttlichen Wahrheit ist, sondern nur unterwegs zu ihr. Sie setzt voraus, dass jede Kirche durch den Heiligen Geist erneuert werden kann und erneuert werden muss.

II Was ist dem Neuen Testament zur Frage der ökumenischen eucharistischen Gastfreundschaft zu entnehmen? Die erste, fast selbstverständliche Feststellung lautet: Direkt nichts, denn die gleichzeitige Existenz verschiedener institutionalisierter konfessioneller Kirchen ist ein neuzeitliches Phänomen. So selbstverständlich diese Antwort ist – sie muss dennoch explizit ausgesprochen werden, gerade angesichts der verbreiteten protestantischen Neigung, alles, oder wenigstens möglichst viel, aus der Bibel begründen zu wollen. Vom Neuen Testament her sind also nur indirekte Schlüsse möglich. Gibt es neutestamentliche Stellen, aus denen sich so etwas wie eine indirekte „neutestamentliche Perspektive“ zur Frage der eucharistischen Gastfreundschaft ergeben könnte? Dazu versuche ich, einige Überlegungen zu machen. 1. Ich beginne mit demjenigen neutestamentlichen Text, der am direktesten eine Verbindung zwischen Herrenmahl und Kirchengemeinschaft herstellt, nämlich mit 1 Kor 10,16 f. Hier scheint das Herrenmahl ausdrücklich als „Einheitssakrament“ verstanden zu werden. Aber in welchem Sinne? Der Text lautet: Der Segensbecher, den wir segnen: ist er nicht Anteil am Blut Christi? Das Brot, das wir brechen, ist es nicht Anteil am Leib Christi? Weil es ein Brot ist, sind die vielen ein Leib, denn alle haben wir an dem einen Brot Anteil.

Paulus versteht den gesegneten Becher bzw. das gebrochene Brot des Herrenmahls im Sinne eines Anteil-Bekommens6 am Blut, bzw. am Leib Christi. „Blut“ ist, wie oft in der Bibel und im Besonderen in den Herrenmahlstexten7 eine Umschreibung eines gewaltsamen Todes; entsprechend meint das parallele „Leib“ den am Kreuz getöteten Leib Christi. Σῶμα und αἷμα verweisen also 6  Κοινωνία wird in V 17.21 durch μετέχειν aufgenommen und hat in V 16 die Bedeutung „Partizipation“. Anthony Thiselton, The First Epistle to the Corinthians, NIGTC, Grand Rapids 2000, 750 übersetzt κοινωνία mit „communal participation“, um beide Aspekte des im Deutschen und Englischen nicht mit einem einzigen Wort übersetzbaren griechischen Worts wiederzugeben. 7 Vgl. Röm 3,25; 5,9; Kol 1,20; ferner Mt 23,30; 27,6. Bei den Einsetzungsworten ist dies in 1 Kor 11,25 (ἡ καινὴ διαθήκη ἐν τῷ ἐμῷ αἵματι), aber auch im mk Becherwort durch die Deutung des Bechers bzw. des Ritus des Kreisen-Lassens des Bechers implizit so. Anders dagegen ist αἷμα im eucharistischen Zusatz Joh 6,53–56 verstanden.

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auf den einmaligen Tod Christi8 und meinen somit etwas anderes und viel mehr als eine übernatürliche Potenz der Elemente Brot und Wein. Vielleicht klingt in dieser Formulierung die Erinnerung an die Einsetzungsworte des Herrenmahls an.9 Unter κοινωνία ist eine reale und nicht nur eine gedachte Verbindung mit dem Herrn zu verstehen. Es geht dabei nicht um etwas Subjektives, etwa im Sinn einer Bedeutung, welche der deutende Mensch dem Becher und dem Brot zuweist.10 Durch das Trinken aus dem Segensbecher und das Essen des gebrochenen Brotes haben die Gläubigen Teil am Herrn, der durch seine rettende Macht in ihnen wirkt.11 Paulus kann diese rettende Macht des Herrn auch anders, nicht-sakramental ausdrücken, z. B. durch den Gedanken des Sühnetodes (2 Kor 5,21; Röm 3,25) oder durch eine direkte, mystisch-personale Verbindung mit Christus (Gal 2,19 f: „ich bin mitgekreuzigt mit Christus – Christus lebt in mir“). In V 17 fügt Paulus einen Zwischengedanken ein, bevor er wieder auf sein gedankliches Ziel, die Unvereinbarkeit der Gemeinschaft am Tisch „der Dämonen“ und am Tisch des Herrn, zusteuert. Die κοινωνία mit dem Herrn hat auch eine horizontale Dimension, nämlich die Gemeinschaft der Kirche. Paulus drückt sie mit dem σῶμα-Gedanken aus. Ausdrücklich wird den „vielen“12 die Einheit des Leibes Christi gegenübergestellt. Das Verhältnis zwischen dem im gebrochenen Brot wirksamen Tod Jesu und der horizontalen κοινωνία in der Kirche ist ein kausales: Paulus sagt nicht: ὥσπερ, sondern ὅτι. Der abgekürzte Satz ὅτι εἷς ἄρτος ist nicht etwa durch ein aus dem Hauptsatz vorangezogenes „wir“ zu ergänzen („weil wir ein Brot sind“),13 sondern durch das den vorangehenden Satz abschliessende ἐστίν: weil ein Brot ist. Das ist Paulus so  8  Σῶμα Χριστοῦ meint also in V 16 nicht die Kirche, wie vor allem protestantische Ausleger immer wieder meinten (vgl. die bei Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther [1 Kor 6,12–11,16], EKK VII / ​2, Neukirchen / ​Düsseldorf 1995, 439 Anm. 342 Genannten). Zwischen V 16 und V 17 findet ein „gleitender“ Bedeutungswandel statt. In V 17 bedeutet ἓν σῶμα mehr als „ein einziger Organismus“. Vielmehr steht von V 16 her fest, dass der eine Leib der Leib Christi ist.  9  Wegen der Parallelität von σῶμα und αἷμα am ehesten in der mk Fassung? 10  Dann würde die ganze Argumentation des Paulus gegen die Partizipation der Korinther am „Tisch der Dämonen“ haltlos. 11  Es ist eine von fast allen Exegeten, auch von einem reformierten wie mir, geteilte Überzeugung, dass das paulinische Verständnis der Gegenwart des Herrn im Herrenmahl am ehesten demjenigen, was die Kirche später „Realpräsenz“ nannte, entspricht. Gegen ein magisches Verständnis von Realpräsenz wehrt sich Pls allerdings in 1 Kor 10,1 ff. 12  Das betonte οἱ πολλοί kann von den Hörern verschieden konnotiert werden. Am nächsten liegt eine Konnotation im Sinn von Röm 5,15: der Heilstod Christi kommt den „vielen“ zugute. Möglich ist auch hier eine Erinnerung an das Becherwort in der Fassung von Mk 14,24 (ὑπὲρ πολλῶν). Nicht verboten ist es aber auch, im Sinne von Gal 3,27 f an die Verschiedenheit von Menschen zu denken. Nicht ferne wird den Korinthern auch der Gedanke an ihre eigene Gemeinde gelegen haben: „Die vielen“ sind dann die Gesamtgemeinde, die sich zu den Herrenmahlfeiern trifft, im Unterschied zu den einzelnen Fraktionen und Parteien, die sich in einzelnen Häusern getroffen haben. 13  So z. B. Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, KEK V, Göttingen 111969, 208.

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wichtig, dass er durch einen weiteren, begründenden Nebensatz dieses kausale und christologische Verständnis des ὅτι-Satzes sichert: „denn wir alle haben an dem einen Brot Anteil“. Das Brot, d. h. der in ihm wirksame gekreuzigte Leib Christi,14 bewirkt also die Gemeinschaft des Leibes, der die Kirche ist. Die Gemeinschaft der Kirche ist also für Paulus nicht etwa die Voraussetzung für den gültigen Empfang des gebrochenen Brotes, welches Leib Christi ist, sondern umgekehrt: die Gemeinschaft der Kirche wird durch den gekreuzigten Christus gestiftet. Das Sakrament ist Ausdruck der δύναμις des Herrn. Diese Deutung wird gestützt durch das paulinische Verständnis der Taufe. Gal 3,27 f argumentieren analog: Die Taufe auf den Namen Christi bedeutet eine Partizipation an Christus (Χριστὸν ἐνεδύσασθε). Auf horizontaler Ebene bewirkt sie die Aufhebung der Grenzen zwischen Juden, Griechen, Sklaven, Freien, Frauen und Männern, denn „ihr seid alle einer in Christus Jesus“. Paulus weist wiederum auf den durch die Taufe verwirklichten christologischen Grund der der Gemeinschaft. Die durch das Sakrament, hier also die Taufe, entstandene Gemeinschaft wird als durch Christus begründete Gemeinschaft verstanden (εἷς … ἐν Χριστῷ). Ähnlich ist es in 1 Kor 12,12 f: Auch hier ist das in V 14 ff eingeschärfte solidarische Miteinander der Gemeinde für die einzelnen Gläubigen durch die Taufe bewirkt. Das organische Miteinander der Glieder in der Gemeinschaft der Kirche ist letztlich nichts anderes als die Wirksamkeit Christi selbst. Es ist auffällig, dass Paulus in der „Sachhälfte“ seines Vergleichs mit einem Organismus in 1 Kor 12,12a.b christologisch formuliert: οὕτως καὶ ὁ Χριστὸς und nicht etwa ekklesiologisch, wie man eigentlich erwarten würde: οὕτως καὶ τὸ σῶμα Χριστοῦ. Das entspricht dem εἷς in Gal 3,28. Als Zwischenergebnis halte ich fest: Bei Paulus ist es so, dass durch Christi Wirken im Herrenmahl, das im Sinn der realen Anteilhabe an Christus verstanden wird, Kirchengemeinschaft entsteht. Es ist nicht umgekehrt so, dass die bestehende Kirchengemeinschaft Voraussetzung für den Empfang der Sakramente ist. Im Blick auf die heutige ökumenische Diskussion erlaube ich mir noch eine Zwischenbemerkung: Es ist aus paulinischer Perspektive erstaunlich, dass Taufe und Herrenmahl von manchen Kirchen so verschieden behandelt werden. Bei der Anerkennung des kirchlichen Charakters der Taufe gibt es offenbar (zum Glück!) kaum Probleme. Warum sind sie beim Herrenmahl so gross? In paulinischer Sicht ist das Verhältnis von Sakrament und Gemeinschaft bei Taufe und Herrenmahl dasselbe. 2. Eine zweite Überlegung: Im markinischen Typ der Einsetzungsworte heisst es vom Blut Jesu: τὸ ἐκχυννόμενον ὑπὲρ πολλῶν (Mk 14,24; vgl. Mt 26,28), während die lukanisch-paulinische Fassung der Einsetzungsworte in 14 Ob im Ritus der korinthischen Herrenmahlsfeiern tatsächlich nur ein Brot verwendet wurde, wie manche mit guten Gründen vermuten, ist keine primär wichtige Frage, weil bei εἷς ἄρτος ohnehin derjenige mitzudenken ist, an dem das Brot Anteil gibt: der eine gekreuzigte Christus.

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verschiedener Weise ὑπὲρ ὑμῶν liest. Die Frage, welche Variante die ältere ist, braucht uns hier nicht zu kümmern. Wichtiger ist, dass die breite Rezeption der markinischen Fassung auch durch das – vermutlich traditionsgeschichtlich von ihr abhängige und sekundäre, aber vormarkinische – Jesuswort Mk 10,45b (λύτρον ἀντὶ πολλῶν) bezeugt wird. Eine traditionsgeschichtlich wiederum spätere hellenistische „Lesung“ dieses Jesuswortes überliefert die Akklamation 1 Tim 2,6: … ὁ δοὺς ἑαυτὸν ἀντίλυτρον ὑπὲρ πάντων.15 Kaum bestritten ist, dass das markinische ὑπὲρ πολλῶν ein Semitismus ist, der sinngemäss den im Hebräischen und Aramäischen fehlenden Plural „alle“ umschreibt. Kaum umstritten ist auch, dass „Blut“ auch hier eine Umschreibung für „gewaltsamer Tod“ ist. Das Deutewort macht also eine Aussage über die Reichweite des Sühnetodes Jesu. Bei der inhaltlichen Deutung der „vielen“ stehen sich zwei Möglichkeiten gegenüber: Man kann das Wort a) im Sinne der überwiegenden rabbinischen Deutung von Jes 53 auf „ganz Israel“ deuten. Dann hängt seine Reichweite vom jeweiligen Israelverständnis des Sprechers ab: In den Qumrantexten16 wird die Grenze um das wahre Israel eng gezogen; in der Jesusüberlieferung, welche Israel nicht durch Abgrenzung definiert, ist das Gegenteil der Fall. Oder man kann das Wort b) im Sinne von 1 Tim 2,6 universal auf alle Völker deuten.17 Mag das für Jesus selbst und die frühe Jesustradition auch zweifelhaft bleiben, so ist doch durch 1 Tim 2,6 klar, dass die frühe heidenchristliche Kirche die Reichweite des Sühnetodes Jesu und damit auch diejenige seiner sakramentalen Vergegenwärtigung im Herrenmahl universal gedeutet hat. Jesus ist für die ganze Welt gestorben. Damit ist keine direkte Aussage über die Zulassung zur Kommunionsfeier gemacht. Immerhin scheint mir eine indirekte Aussage möglich: Angesichts der universalen Bedeutung des Todes Jesu für die ganze Welt, welcher im Herrenmahl vergegenwärtigt wird, wäre eine strenge Selektion derer, welche diesen Tod sakramental feiern dürfen, eigenartig. 3. Meine dritte Überlegung betrifft die eschatologische Dimension des Herrenmahls. Jesus selber hatte das Trinken des Weines bei seiner letzten Mahlzeit ausdrücklich mit der Hoffnung verbunden, ihn im kommenden Gottesreich erneut zu trinken (Mk 14,25). Matthäus hat diesen eschatologischen Ausblick durch die Einfügung von μεθ᾿ ὑμῶν ekklesiologisch akzentuiert: Das „Mit-Sein“ des erhöhten „Immanuel“ Jesus mit seiner Kirche, von dem seine Jesusgeschichte erzählt und das nach matthäischem Verständnis im Herrenmahl 15  Vgl. zu 1 Tim 2,6 die eingehende, in den Grundthesen weithin akzeptierte traditionsgeschichtliche Analyse von Joachim Jeremias, Das Lösegeld für viele (Mk 10,45), in: ders., Abba, Göttingen 1966, 226–229. 16 Z. B. 1QS 6,25; 7,3. 17  So Joachim Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 4 1967, 171–174. 218–223 unter Berufung auf Auslegungen von Jes 53,12 in vorchristlicher Zeit.

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brennpunktartig erfahrbar wird, wird in der kommenden βασιλεία des Vaters seine Vollendung finden. Das Herrenmahl ist deshalb nach neutestamentlichem Verständnis nie bloss eine rückwärtsgerichtete ἀνάμνησις, sondern immer zugleich ein zeichenhafter „Vorgeschmack“18 der Zukunft, die Gott für die Kirche und die Welt bereit hält. Dass Lukas den eschatologischen Jubel (ἀγαλλίασις) gerade mit dem Herrenmahl verbunden hat (Apg 2,46), ist bedeutsam. Besonders eindrücklich wird diese Dimension in den Herrenmahlsgebeten der Didache. Ich kann hier nicht begründen, warum ich die Gebete von Did 9 und 10 nicht für Agape-Gebete halte, sondern für Eucharistiegebete, wobei die beiden weitgehend parallelen19 Danksagungen von Did 9 und 10 eine Sättigungsmahlzeit einrahmten.20 Im Tischgebet über das eucharistische Brot wird dieses deutlich als Vorgeschmack der eschatologischen Einheit der ganzen Kirche verstanden: „Wie dieses gebrochene Brot zerstreut war auf den Bergen, und zusammengebracht ist es eines (ἕν) geworden, so soll deine Kirche zusammengebracht werden von den Enden der Erde in dein Reich“ (9,4a.b). Das Nach-Tisch-Gebet nimmt in 10,5 diesen Gedanken wieder auf. Die prophetische und frühjüdische Hoffnung auf die endzeitliche Sammlung des ganzen Zwölfstämmevolkes Israel wird hier auf die Kirche übertragen und hat später einen dauerhaften Platz in der altkirchlichen Liturgie gefunden.21 Im Herrenmahl, dem Sakrament der Einheit der Kirche, wurde die zukünftige Einheit der Kirche „vorgeschmeckt“ und gerade nicht ihre gegenwärtige Fragmentierung zementiert. 4. Wie steht es im neutestamentlicher Zeit mit den Zulassungsbedingungen zum Herrenmahl? Wir wissen nur von einer einzigen: Schon früh ist das Herrenmahl ein Mahl nur der Getauften gewesen. Dieser heute von fast allen geteilte ökumenische Konsens kann allerdings nur für die spätere neutestamentliche Zeit eindeutig gesichert werden. Explizit formuliert ist der Grundsatz, dass das Herrenmahl ein Mahl der Getauften ist, erst in der Didache, die zugleich das Herrenmahl als ganzes zum ersten Mal als „Eucharistie“ bezeichnet: „Niemand aber soll essen oder trinken von eurer Eucharistie als die, die getauft worden sind auf den Namen des Herrn! „ (Did 9,5a).22 In den von Ignatius beeinflussten Gemeinden, wo es nicht erlaubt ist, ohne die Präsenz des Bischofs zu taufen und 18  So lautet der symbolträchtige Titel der Festschrift für den grossen Ökumeniker Theodor Schneider: Bernd J.  Hilberath / ​Dorothea Sattler (Hg), Vorgeschmack. Ökumenische Bemühungen um die Eucharistie (FS Th. Schneider), Mainz 1995. 19  Vgl. Huub van de Sandt / ​David Flusser, The Didache, CRINT III 5, Assen / ​Minneapolis 2002, 298–304. 20  So z. B. Klaus Wengst, Didache (Apostellehre), Barnabasbrief. Zweiter Klemensbrief. Schrift an Diognet (Schriften des Urchristentums II), Darmstadt 1984, 43–57. Das Problem von Did 10,6 bleibt allerdings schwierig, und die seit Harnack übliche Erklärung, dass der Didachist dieses liturgische Stück um seines eschatologischen Charakters willen an das Ende des NachTisch-Gebets gestellt habe, vermag nur teilweise zu befriedigen. 21  Belege bei Kurt Niederwimmer, Die Didache, KAV 1, Göttingen 1989, 187. 22  Es folgt als Schriftbeweis das Zitat von Mt 7,6.

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Agape zu feiern (Smyrn 8,2), ist das ebenso. Dass die Praxis auch in früherer Zeit so war, ist aus Hebr 13,10; Apk 3,14–20; Apg 2,41 f.46 wenigstens implizit zu erschliessen. Schwieriger ist aber das Urteil für die paulinische Zeit. Vor allem 1 Kor 14,23–25 ist nicht leicht zu beurteilen.23 Weist das Hinzukommen eines ungetauften ἰδιώτης zur Gemeindeversammlung (1 Kor 14,23 f) darauf hin, dass auch Ungetaufte am Herrenmahl teilnehmen konnten? Diese Verse bereiteten nur solange keine Schwierigkeiten, als man selbstverständlich von der traditionellen, seit Plinius Ep 10,96,7 bezeugten Unterscheidung von Wortgottesdiensten24 und Herrenmahlsgottesdiensten ausging.25 Das ist heute nicht mehr möglich: H. J. Klauck, vor allem aber M. Klinghardt haben sich dafür stark gemacht, die korinthischen Versammlungen im Rahmen eines Symposions zu verstehen.26 Dann ist es wahrscheinlich, dass in den korinthischen Versammlungen die „Gesprächsteile“ (vgl. 1 Kor 12,3–11; 1 Kor 14) im Wesentlichen nach dem δεῖπνον (vgl. 1 Kor 11,17–34) stattfanden, ähnlich wie bei antiken Symposien.27 Das Hineinkommen von ἄπιστοι und ἰδιῶται – nach 1 Kor 14,23 offenbar kein ungewöhnlicher Vorgang  – könnte man sich ebenfalls nach Analogie eines antiken Gastmahls mit Symposion vorstellen, wo das Auftauchen von ἄκλητοι, „späten Gästen“, Parasiten jeder Art, und von ἐπίκλητοι, welche von anderen Gästen mitgebracht wurden, völlig üblich war.28 Die Gemeindemahlzeit in Korinth war dann offenbar etwas Anderes als die exklusiv nur den Vollmitgliedern vorbehaltenen gemeinsamen Mahlzeiten der Qumranessener.29 Wäre alles das richtig, so könnte man sich vorstellen, dass manchmal auch Ungläubige oder Unerfahrene30 an den Mahlgottesdiensten der Gemeinde teilnahmen. Dennoch denke ich, dass auch zur Zeit des Paulus das Herrenmahl ein Mahl der Getauften gewesen ist. Ganz abgesehen von der m. E. nach wie vor sehr offenen Frage, ob in den korinthischen Gemeindeversammlungen wirklich nach der Art eines antiken Symposions auf die gemeinsame Mahlzeit der „Wortteil“ folgte, sprechen drei Gründe 23  Die früher für diese Frage wichtigen Stellen 1 Kor 16,20 f und Did 10,6 werden heute zurückhaltend beurteilt; vgl. Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 15,1–16,24), EKK VII / ​4, Neukirchen / ​Düsseldorf 2001, 462–465. Am deutlichsten wird der liturgische Charakter dieses sowohl von Pls wie vom Didachisten „dysfunktional“ eingesetzten Traditionsstücks in Did 10,6. 24  Der von Plinius bezeugte Morgengottesdienst könnte allerdings auch eine christliche Tauffeier gewesen sein. 25  Exemplarisch z. B. Gerhard Delling, Der Gottesdienst im Neuen Testament, Göttingen 1952, 132 f; in neuerer Zeit z. B. noch Jürgen Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 266–270. 26 Hans-Josef Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult, NTA NF 15, Münster 1982, 348 f; Matthias Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, TANZ 13, Tübingen / B ​ asel 1996, 275–371. 27  So Klinghardt a. a. O., 344. Ähnlich schildert Lk in Apg 20,7–12 den Ablauf. 28  Reiches Belegmaterial bei Klinghardt a. a. O., 84–89. 29  1QS 6,13–23. 30  Die Bedeutungen von ἄπιστος und ἰδιώτης gehen ineinander über, aber sind nicht völlig deckungsgleich. Ἰδιώτης ist nach V 16 derjenige, der mit Zungenrede keine Erfahrung hat; er muss nicht notwendigerweise ein Ungläubiger sein. In V 23 f kommen der ἄπιστος und der ἰδιώτης offenbar nachträglich in eine schon im Gang befindliche Gemeindeversammlung hinein; V 25 hebt dann auf den missionarischen Effekt der Prophetie ab.

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für diese These: 1. Paulus insistiert in 1 Kor 11,33 darauf, dass die Gemeindeglieder bei der Feier des Herrenmahls aufeinander warten sollen. Für die Feier des Herrenmahls ist konstitutiv, dass die ganze Gemeinde versammelt ist. Dazu steht das offenbar ungeplante nachträgliche „Hineinkommen“ von „Ungläubigen“ und „Unerfahrenen“ in 14,23 f in latenter Spannung. 2. Auch 1 Kor 10,17 macht deutlich, dass zum Essen des einen Brotes der eine Leib, nämlich die Kirche, konstitutiv gehört. „In den einen Leib“ aber wurden die Gläubigen nach 1 Kor 12,13 hineingetauft. Sowohl nach 1 Kor 10,16 f als auch nach 1 Kor 11,17 ff gehört zum Herrenmahl konstitutiv die Erfahrung von Kirche. 3. Schliesslich – und das ist wohl das stärkste Argument – kann Paulus schlecht das Trinken des Bechers des Herrn und des Bechers der Dämonen bzw. die Anteilhabe am Tisch des Herrn und demjenigen der Dämonen als unvereinbar erklären (1 Kor 10,21) und zugleich eine allfällige Teilnahme von Ungetauften am christlichen Herrenmahl kommentarlos tolerieren.31

Vermutlich war also im ganzen Frühchristentum das Herrenmahl ein Mahl der Getauften. Die Taufe war die einzige „Zulassungsbedingung“ für die Teilnahme am Herrenmahl. Darüber hinaus darf man gerade dem 1. Korintherbrief noch etwas anderes entnehmen, was sehr wichtig ist: Für Paulus ist das Herrenmahl die Feier der ganzen Gemeinde, die dafür „an einem Ort“ (1 Kor 11,20) zusammenkommt, offenbar im Haus des Gaius (Röm 16,23). Darum ist das Herrenmahl auch der Ort, an dem die Spaltungen, welche es in der Gemeinde gab, überwunden werden müssen und können (1 Kor 11,17). In Korinth gab es manche Häuser von Gemeindegliedern, in denen manche Zusammenkünfte stattfinden konnten – irgendwo werden sich ja auch die Anhängerinnen und Anhänger der verschiedenen Richtungen, von denen 1 Kor 1,10–17 spricht, getroffen haben. Aber zum Herrenmahl, in dem sich die Gemeindeglieder als „einen Leib“ erfahren (1 Kor 10,17), versammelt sich die ganze Gemeinde – sonst wäre ja Christus geteilt (1 Kor 1,13) und die σχίσματα und ἔριδες der Gemeinde würden durch das Herrenmahl nicht überwunden, sondern zementiert.32 5. Vor allem für die römisch-katholische Kirche ist das Geheimnis der Eucharistie mit der Anerkennung des priesterlichen Amtes eng verbunden. „Die Vollmacht zur Darbringung der Eucharistie (ist) ausschliesslich den Bischöfen und Priestern anvertraut“.33 Für Orthodoxe ist die „Gemeinschaft des kanonischen (bischöflichen) Aufbaus der Kirche“34 ebenfalls ein Grundmoment der 31 Den deutlichsten Hinweis dafür, dass im Frühchristentum manchmal Ungetaufte am Herrenmahl teilnahmen, gibt wohl nicht der 1Kor, sondern das ausdrückliche Verbot dieser Teilnahme in Did 9,5. Es wird ja nicht ohne Grund erfolgt sein! 32  Für Korinth ist es vermutlich auszuschliessen, dass die einzelnen Fraktionen, welche es in der Gemeinde gab, separate Herrenmahlsfeiern gehabt haben. Generalisieren dürfen wir diesen Befund aber nicht. In Rom, wo es vermutlich keine „Versammlung“ gab, die alle Christinnen und Christen dieser Grossstadt zusammenführte (vgl. das fehlende ἐκκλησία im Präskript und die Adressatenangabe τοῖς οὖσιν ἐν Ῥώμῃ in 1,7), müssen wir damit rechnen, dass in mehreren Hausgemeinden das Herrenmahl gefeiert wurde. 33  EE (o Anm. 2), 30. Vgl. 28 f. 32. 39. 46. 34  Galitis, Intercommunio (o. Anm. 1), 277.

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einen Kirche, in der es allein Eucharistiegemeinschaft geben kann. Da sich für die Orthodoxen aber weder die Amtsfrage noch die Frage der lehrmässigen Übereinstimmung aus dem Ganzen der Einheit der kirchlichen Gemeinschaft herauslösen lässt, in welche die eucharistische Gemeinschaft eingebettet sein muss, stellen sie die Amtsfrage zwar in gleicher Weise,35 aber nicht in der selben Härte wie manche katholische Theologen. Ich möchte mich deshalb hier kurz fassen und fasse den neutestamentlichen Befund zunächst mit den Worten des katholischen Exegeten Michael Theobald zusammen: „Eine Verbindung von Vorsitz bei der Eucharistie und Gemeindeleitung ist im Neuen Testament nicht bezeugt“.36 In den paulinischen Gemeinden scheint es gar kein gemeindeleitendes Amt gegeben zu haben. Wer die Herrenmahlsfeiern in ihnen geleitet hat, erfahren wir nicht. Im ersten Korintherbrief spricht Paulus bezeichnenderweise in allen Fragen die Gesamtgemeinde an, also auch, wenn er von Problemen bei der Herrenmahlsfeier spricht. In den Gemeinden der zweiten und dritten Generation gibt es dann gemeindeleitende Ämter (ἐπίσκοποι, πρεσβύτεροι). Als ihre wichtigste Funktion wird an verschiedenen Stellen die Lehre herausgehoben; dass sie die Herrenmahlsfeiern der Gemeinden leiteten, wird nirgendwo im Neuen Testament erwähnt. Natürlich ist es nicht unwahrscheinlich, dass in der Regel der Bischof oder in anderen Fällen vielleicht auch der Besitzer des Hauses, in dem sich eine Gemeinde versammelte, diese Leitung übernommen hat. Aber das Auffällige ist, dass dies nirgendwo im Neuen Testament als erwähnenswert erscheint. Das hängt auch damit zusammen, dass noch nirgendwo im Neuen Testament die Eucharistie als eine kultisch-sakrale Feier verstanden wird, welche zu ihrer Durchführung ein in diesem Sinn verstandenes Priesteramt benötigt hätte.37 35  Zur orthodoxen Sicht von Eucharistie und Amtsfrage vgl. das Papier „Das Weihesakrament in der sakramentalen Struktur der Kirche … (Valamo 1988)“ der Gemeinsamen Kommission der Griechisch-Orthodoxen Metropolitie von Deutschland und der römisch-katholischen Kirche von Deutschland, dort Nr. 34: „Weil gerade in der Eucharistiefeier die Kirche sich in ganzer Fülle darstellt, erscheint auch im Vorsitz der Eucharistiefeier die Rolle des Bischofs und des Priesters in vollem Licht“, in: Gemeinsame Kommission … , Die Eucharistie der einen Kirche, Bonn 1989, 54. Vgl. auch schon das vorangehende Papier von Bari (1987), bes. Nr. 36, wo die auf den Bischof „als Garanten und Richter“ fokussierte untrennbare Einheit des Glaubens und des sakramentalen Lebens klar formuliert ist (ebd. 44 f). Aus neutestamentlicher Sicht muss hier Widerspruch angemeldet werden. 36  Michael Theobald, Thesen zur neutestamentlichen Begründung des kirchlichen Amtes“, in Bernd J.  Hilberath / ​Otfried Hofius / ​Eberhard Jüngel, Tübinger Thesen zum Amt in der Kirche, in: Konrad Raiser / ​Dorothea Sattler (Hg.), Ökumene vor neuen Zeiten (FS Th. Schneider), Freiburg / ​Basel / ​Wien 2000, 279. Ähnlich auch Marlis Gielen, Mut zur Herrenmahlgemeinschaft. Ökumenische Impulse aus paulinischer Perspektive, BZ 48 (2004), 104–113. 37 Theobald, a. a. O., 279 f verdeutlicht das am Hebräerbrief. Hier schliesst der einzige Hohepriester Christus ein irdisches Priestertum gerade aus. Zur Eucharistie nicht zugelassen sind hier einzig die Juden, und zwar gerade deswegen, weil sie ein irdisches „Zelt“ und ein

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Anders wird es erst bei Ignatius von Antiochien. Für ihn ist nur jene Eucharistie gültig, welche unter dem Bischof oder einem, den er damit beauftragt hat, stattfindet (Smyrn 8,1). Wir müssen annehmen, dass manche der vielen kleinen Hausgemeinden der Grosstadt Antiochia38 ihre eigenen Eucharistiefeiern durchführten  – nur dann macht die Aufforderung von Smyrn 8,1 Sinn. Auch für Ignatius ist, wie für Paulus und die Didache, die Eucharistie das Sakrament der Einheit.39 Am deutlichsten macht das die εἷς-Aufzählung von Philad 4: Μία εὐχαριστία, μία σὰρξ τοῡ κυρίου … Ἰησοῡ Χριστοῡ, ἓν ποτήριον εἰς ἕνωσιν τοῦ αἵματος αὐτοῦ40, ἓν θυσιαστήριον, εἷς ἐπίσκοπος ἅμα τῷ πρεσβυτερίῳ καὶ διακόνοις.41 Die Gegner des Bischofs, welche nicht bekennen, dass die Eucharistie „das Fleisch unseres Heilandes Jesus Christus ist“ (Smyrn 7,1), widersprechen dem Glauben und verachten zugleich die Liebe in ihren Streitereien. Gemeinschaft des Glaubens, in Liebe praktizierte Kirchengemeinschaft, Unterordnung unter den Bischof und das Presbyterium, Einheit des Gebets und die Feier der Eucharistie als Sakrament der Einheit gehören bei Ignatius zusammen und bilden eine unauflösbare Einheit (ähnlich wie im heutigen orthodoxen Verständnis von Kirchengemeinschaft).42 In der lokalen Situation Antiochias mit seinen vermutlich vielen und relativ jungen Hausgemeinden erwies sich der irdisches Priestertum kennen. In der frühen Kirche hat „der Hebräerbrief hier nicht die ihm gemässe Wirkung zu entfalten vermocht“ (Theobald 280). 38 Die Unterscheidung zwischen „orthodoxen“ und „häretischen“ Hausgemeinden ist damals wohl weithin noch ein Anachronismus. 39 Vgl. auch Ign Eph 20,2: ἕνα ἄρτον κλῶντες. 40 Der Ausdruck ist wohl im Sinn von „Einigung durch sein Blut“ (wie 1 Kor 10,17) und nicht im Sinn von „Einigung mit seinem Blut“ zu konnotieren – aber sichere Aussagen sind nicht möglich. 41  Verwandt ist die Aufzählung von Magn 7, wo die Eucharistie fehlt und durch προσευχή und δέησις, νοῦς und ἐλπίς ersetzt ist. Das zeigt, dass die Eucharistie für Ignatius eher paradigmatisch wichtig ist und gegenüber dem den einen himmlischen Vater repräsentierenden Bischof, dem zentralen Bezugspunkt der Einheit der Kirche, zurücktritt. Ich gehe dabei davon aus, dass θυσιαστήριον in Magn 7,2 (und auch in Philad 4) in Parallele zu ναός symbolisch zu verstehen ist und nicht einen realen Altar im Versammlungshaus meint; vgl. William R. Schoedel, Ignatius of Antioch, Hermeneia, Philadelphia 1985, 199. 42  Die orthodoxe Sicht ist eindrücklich in dem wichtigen Buch von John D. Zizioulas, Eucharist, Bishop, Church, Brookline 2001 entfaltet. Zizioulas trägt die Verhältnisse in Antiochia zur Zeit des Ignatius ins Neue Testament zurück. Aus Röm 16,4 f (καὶ τὴν κατ᾿ οἶκον αὐτῶν ἐκκλησίαν) kann man nicht schlüssig folgern, dass die Hauskirche im Haus von Aquila und Priscilla die einzige in Rom gewesen wäre, in der das Herrenmahl gefeiert worden wäre, während es sich etwa bei den in Röm 16,14 f genannten Personen eher um Angehörige von Familien gehandelt habe (gegen Zizioulas 89 f). Ebenso wenig kann man aus 1 Kor 14,23 schlüssig folgern, dass die ἐπὶ τὸ αὐτό versammelte Gemeinde die eucharistische Gemeinde gewesen sei (ebd. 91. Auch aus dem Singular κατ᾿ οἶκον in Apg 2,46 ist natürlich nicht zu schliessen, dass nur in einem einzigen Haus in Jerusalem Brot gebrochen wurde; der Singular ergibt sich, wie in 5,42, aus dem Gegenüber zu ἱερόν. Zu vergleichen ist auch Josephus Ant IV 74.163. Stillschweigend setzt dann Zizioulas voraus, dass auch in den frühesten Zeiten die Eucharistie in den Hausgemeinden unter dem Vorsitz (der Apostel oder) des Bischofs gefeiert worden wäre. Gegen solche Eintragungen in die Texte kann man nur protestieren.

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ignatianische Appell zur ἕνωσις mit dem Bischof vermutlich auch geschichtlich in hohem Masse als die Kirche einende Kraft. 6. Noch ein letzter Punkt: Galitis stellte fest, dass das Neue Testament naturgemäss keine Gemeinschaft zwischen voneinander getrennten Teilkirchen kenne, sondern „nur Kommunion und … Exkommunikation“.43 Nach der Bedeutung der neutestamentlichen Aussagen über Exkommunikation, d. h. Abbruch der Gemeinschaft, für unser Thema ist nun zu fragen. Sie sind bekanntlich sehr zahlreich: Paulus, dessen Gemeinden sich gegenüber Jerusalem in einer Situation befanden, die vielleicht derjenigen von „getrennten Teilkirchen“ in manchem nahekam, hat sich zwar unablässig um Verständigung und Kirchengemeinschaft mit Jerusalem bemüht, aber dennoch gegenüber einigen seiner Gegner ein schroffes „Nein“ formuliert, da sie seines Erachtens „ein andres Evangelium“ (Gal 1,6) oder einen „anderen Jesus“ (2 Kor 11,4) verkündigten. In den späteren Texten des Neuen Testaments, im Vorfeld der gnostischen Krise, häufen sich dann Aufforderungen zum Abbruch der Gemeinschaft mit „Falschbrüdern“ und Häretikern. So wichtig die neutestamentlichen Zeugnisse sind, dass es Fälle gibt, in denen um der Wahrheit des Evangeliums willen Kirchengemeinschaft unmöglich ist, so gross sind die Unterschiede zwischen diesen Zeugnissen und dem uns beschäftigenden Problem der eucharistischen Gastfreundschaft in der heutigen Situation einer konfessionell immer noch gespaltenen Christenheit. Auf folgende drei möchte ich besonders hinweisen: 1. Der Kommunikationsabbruch erfolgte in neutestamentlicher Zeit fast immer in Fällen, die als gravierend angesehen wurden. Die Gegner verkünden einen „anderen Jesus“; sie leugnen die Inkarnation; sie verleugnen Christus; sie verleugnen Gott mit Werken; sie sind Täter der „Gesetzlosigkeit“ etc. Kaum eine heutige christliche Kirche würde andere christliche Kirchen so einschätzen. 2. Der Abbruch der Beziehungen, den neutestamentliche Texte fordern, war immer ein totaler: Vor allem aber soll man sich um die Reinhaltung der Lehre bemühen und erfolglose Diskussionen darüber abbrechen. Die Eucharistie dagegen wurde im Urchristentum nie zum Brennpunkt der Trennung. Die heutige Situation scheint völlig verschieden zu sein: Geschwisterliche Kontakte, zwischenkirchliche Hilfen (ἀγάπη), Gespräche über die Lehre, Gemeinschaft in der Wortverkündigung etc sind glücklicherweise allen Kirchen hochwillkommen – nur gerade an der Eucharistie scheint die Möglichkeit von Schritten zur Gemeinschaft eine unübersteigbare Grenze zu finden. 3. Die institutionell noch nicht konsolidierten Gemeinden der spätneutestamentlichen Zeit befanden sich gegenüber der aufkommenden christlichen Gnosis in einer Phase der Findung und Bewahrung der eigenen Identität, welche Abgrenzungen nötig machte. Wir dagegen leben mit seit 43

 Galitis, Intercommunio (o. Anm. 1), 269.

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Jahrhunderten ererbten Abgrenzungen und mit seit Jahrhunderten tradierten und gesicherten Identitätsdefinitionen, deren unveränderte Gültigkeit heute allerdings von manchen hinterfragt wird. Vor allem diese drei Überlegungen bewegen mich, die von Galitis gewiesene „Spur“ der Exkommunikation im Neuen Testament nicht weiter zu verfolgen. Ich fasse die neutestamentlichen Impulse zusammen: 1. Zuerst muss nochmals wiederholt werden, dass das Neue Testament zum Problem der eucharistischen Gastfreundschaft zwischen verschiedenen christlichen Konfessionskirchen direkt nichts sagen kann. Zu verschieden sind die Situationen damals und heute. Alle unsere Versuche, das Neue Testament daraufhin zu befragen, sind durch die eigene kirchliche Tradition geleitet und zugleich durch unsere eigene Erfahrung und Analyse der heutigen kirchlichen Situation mitbestimmt. 2. Perspektiven, welche sich aus dem neutestamentlichen Herrenmahlsverständnis für die Frage der eucharistischen Gastfreundschaft ergeben könnten, könnten sein: – die gemeinschaftstiftende (und nicht-voraussetzende) Kraft des Herrenmahls, welches Anteil am Tod Jesu vermittelt (o. Nr. 1; vgl. Nr. 4) – die potentiell universale Reichweite der Heilsbedeutung des Sühnetodes Jesu (o. Nr. 2) – die eschatologische Dimension des Herrenmahls, welches ein heute schon „schmeckbarer“ „Vorgeschmack“ auf die Gemeinschaft der im Reich Gottes vollendeten Kirche ist (o. Nr. 3) – in neutestamentlicher Zeit scheint nur die Taufe (o. Nr. 4) selbstverständliche Voraussetzung für eucharistische Kommunion – in neutestamentlicher Zeit scheint die Frage, wer das Herrenmahl leitet, (noch) völlig unerheblich (o. Nr. 5).

III Die Frage nach der Abendmahlsgemeinschaft ist, so formulierte Georg Galitis, „hauptsächlich ein innerprotestantisches Problem“.44 Es gibt nicht nur ekklesiologische, sondern vor allem auch soziologische und historische Gründe dafür, dass es in der Tat so ist: Bewusste Christinnen und Christen, welche in konfessionell gemischten Gebieten leben, empfinden das Problem der fehlenden Herrenmahlsgemeinschaft naturgemäss stärker als solche, die in von starken, traditionellen Mehrheitskirchen dominierten Gebieten leben. Für Kirchen, die 44 Galitis a. a. O. 266. Ähnlich Athanasios Basdekis, Eucharistie und Kirchengemeinschaft aus orthodoxer Sicht, in: Vorgeschmack (a. a. O. Anm. 18), 467: „eine weitgehend innerwestliche Fragestellung und Problematik“.

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historisch aus einer Kirchenspaltung hevorgegangen sind und die Wunde dieser Spaltung nach wie vor deutlich empfinden, ist das Problem brennender und schmerzhafter als für solche Kirchen, auf deren Gebieten andere christliche Konfessionen im wesentlichen durch Einwanderung oder durch Proselytismus Einzug gehalten haben. Beides trifft stärker auf das westliche als auf das östliche Christentum, und stärker auf evangelische und in vielen Ländern auch auf katholische Christinnen und Christen zu als auf Orthodoxe in den traditionell orthodoxen Ländern Osteuropas. Daneben spielt natürlich auch die unterschiedliche ekklesiologische Optik eine Rolle: Für Kirchen die, wie die meisten protestantischen Konfessionskirchen, von sich selbst nie behaupten würden, in irgend einer direkten Weise mit der wahren Kirche Jesu Christi identisch zu sein, ist die ökumenische Frage und damit auch die Frage nach eucharistischer Gemeinschaft und Gastfreundschaft in ganz anderer Weise zentral als für Kirchen, die dazu neigen, sich selbst als die wahre Kirche Christi zu sehen. Das gilt für die offizielle katholische Kirche ebenso wie für die orthodoxen Kirchen, für die die „Einheit der Glieder unter dem Haupt der Kirche“ nur „die orthodoxe Einheit“ sein kann, die in der kirchlichen Feier der Eucharistie bereits verwirklicht ist. Für sie ist die orthodoxe Kirche selbst ökumenisch, ebenso wie wahre und volle Ökumene gar nicht anders sein kann als orthodox. Aus dieser Sicht ist es konsequent zu sagen, dass eucharistische Gemeinschaft nur in der einen Kirche, aber nie zwischen verschiedenen Kirchen stattfinden kann, ebenso wie es konsequent ist zu sagen, dass die Einheit der Kirche keine „moralische, im Sinne einer brüderlichen Gemeinschaft, sondern eine ontologische“45 ist, d. h. sie ist nicht durch menschlich-kirchliche Geschwisterlichkeit herstellbar, sondern von Gott gestiftet. „Eine Eucharistiegemeinschaft vor oder ausserhalb der Kirchengemeinschaft ist nicht möglich“,46 denn die Eucharistie ist „ein Gemeinschaftsakt der Kirche …, durch den ihre Einheit sich verwirklicht und die Kirche selbst zum Ausdruck kommt“.47 Nur: Uns Christinnen und Christen aus anderen christlichen Kirchen hilft das wenig. Auf der globalen und ökumenischen Ebene der Weltkirchen erfahren wir die Stimme der Orthodoxie als Stimme von altehrwürdigen Partikularkirchen mit einem sehr hohen Selbstanspruch. Dieser verbindet sich in besonderer Weise mit der Eucharistie, in der für die orthodoxen mehr als für andere Teilkirchen die Einheit der Kirche sich verwirklicht, denn sie ist „das Sakrament der Kirche selbst und ihrer Einheit“.48 Für Glieder anderer Kirchen, mit ihren eigenen Traditionen und ihren eigenen spirituellen Erfahrungen mit dem Herrenmahl kann dies aber nur schwer als Einladung zu künftiger Einheit verständlich werden. 45 Galitis,

a. a. O. 278. a. a. O. 469. 47  Galitis, a. a. O. 277. 48  Galitis, a. a. O. 278. 46 Basdekis,

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Vielmehr wirkt die orthodoxe Verbindung von Eucharistie, in der volle kirchliche Gemeinschaft zum Ausdruck und zum Ziel kommt, und Kirche, deren Sakrament par excellence die Eucharistie ist, als unübersteigbare Mauer: Vom Eigentlichen, vom Zentralen, nicht nur von der Eucharistie, sondern von der letztlich unteilbaren kirchlichen Gemeinschaft bleiben wir Anderen ausgeschlossen. Uns bleibt nur die Möglichkeit, uns entweder mit dem in unseren (Teil)Kirchen gefeierten und wie auch immer verstandenen Sakrament des Herrenmahls zufrieden zu geben oder dann eben orthodox zu werden. Beides können und wollen wir nicht. Wo die Einheit der Kirche nicht mehr ein Ziel ist, auf das christliche Kirchen „im Sinne einer brüderlichen Gemeinschaft“ schrittweise zugehen können, hat nicht nur die Einheit der Kirche eine ontologische Qualität, sondern es gewinnen leider auch – zu unserer aller grossen Trauer – die vorläufig bestehenden differenten Sichtweisen dieser Einheit so etwas wie ontologische Dignität und werden entsprechend zu unübersteigbaren Hindernissen. Dadurch entsteht nach meiner Erfahrung kein Prozess der Einung, sondern ökumenische Resignation, unter der wir wahrhaftig schon genug leiden. Als kleiner Trost bleibt die menschliche Erfahrung, dass andere, darunter viele Orthodoxe, unter dieser erzwungenen Resignation auch leiden. Und als grosser Trost bleibt die Hoffnung auf den Heiligen Geist, der alles verwandeln kann, sogar die Strukturen von Kirchen und die Köpfe von Hierarchen und Theologen.

11. Stages of early Christian Prophetism I. Introduction I. 1  New Testament and early Christian Prophecy is a complex phenomenon far from all uniformity. Already a glimpse on its history of influence in later ­churches may give an impression of its variety: I recall the beginning of the Swiss Reformation: The Reformation in Zürich started with an institution of daily public Bible study and exegesis: Every morning Zwingli and other theologians read and expounded biblical texts in their original languages, interpreted them in what we would call lecture in a seminar style and finally opened the meeting to the general public for a public exposition of the Bible. They called this institution “Prophezei” – this was the origin of the Theological Faculty in the Carolinum in Zürich.1 On the other side there are the flourishing independent Churches in Africa today, founded mostly by prophets who became their authoritative charismatic leaders, such as Simon Kimbangu in Kongo or Isaiah Shembe in South Africa. Today between 10 % and 20 % of African Christians belong to unnumerable independent “prophetic” churches.2 Both, the Bible based “Prophezei” in Zürich and the various prophetic churches in Africa are descendants of early Christian prophecy and take their legitimation from it. I. 2  I now jump over the centuries to the beginnings of “prophecy”. In Israel, in the centuries before the exile, there was a great variety of people who were seen later as “prophets”, groups and individuals, ecstatics and not-ecstatics, prophets connected with the royal court and the temple and independent prophets, miracle-workers and others, prophets preaching salvation and prophets preaching judgment etc. There was also a variety of designations: Besides ‫ נביא‬we find for example ‫איש אלהים‬, ‫ ראה‬or ‫חזה‬. In the written texts of the preexilic prophets the majority of references ‫ נביאים‬occurs in polemical contexts.3 In the famous answer of Amos to Amaziah in Bethel the whole ambiguity of the term ‫נביא‬ 1  Cf. Gottfried Locher, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen 1979, 161–163. 2  Cf. Bengt G. M.  Sundkler, Bantu Prophets in South Africa, Oxford 21961; on Simon Kimbangu see Werner Ustorf, Afrikanische Initiative. Das aktive Leiden des Propheten Simon Kimbangu, Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums 5, Frankfurt / ​ Bern, 1975. 3  Rolf Rendtorff, Art. προφήτης κτλ. B, ThWNT VI, 1959, 805,21 f.

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becomes evident. Amos protests: “I am no prophet, nor a prophet’s son, but I am a herdsman, and a dresser of sycomore trees”. But his own task he has from Jahwe remains prophesying (‫( )הנבא‬Am 7,14 f). In preexilic times there was a variety of prophetisms and a variety of terms for it. Only later, maybe through the Deuteronomistic redaction of prophetic texts, what we call “prophecy” was seen as one coherent phenomenon, and the term ‫נביא‬, in the LXX προφήτης, became a general term for all people acting as empowered “spokesmen” of God. With other words: Prophetism is not directly perceivable as a real phenomenon but as a secondary concept of real phenomena. I. 3  This is helpful also as introduction into New Testament prophecy. If we look in our sources we find at first view a remarkable variety of phenomena. We can distinguish itinerant prophets and prophets being resident in their local churches.4 We find prophets whose inspiration includes their noetic activity and ecstatic prophets. There seem to be apocalyptic prophets with emphasis on the future and prophets whose main emphasis was on the present and on παράκλησις of their churches.5 We have purely oral prophecy and the author of the Apocalypse whose literary activity seems to be an integral part of his prophetic activity. Just as in Israel we have disputes about what is a true prophet and what is a pseudoprophet. One difference from the Old Testament is that it is very difficult to find certain patterns of speech which are specifically prophetic, such as the “messenger formulas”6 or “oracles of doom”.7 This is the reason why it is almost 4 Migaku Sato, Q und Prophetie, WUNT II / ​29, Tübingen 1988, 397 and others postulate a “fundamental difference” between the Q–prophets and the “church–prophets” of 1 Cor 14: The latter did not share imminent expectation, did not transmit and actualize sayings of Jesus and had not Israel, but the local church congregation as addressees of their messages. The differences are relativized by David E. Aune, Prophecy in Early Christianity and the Ancient Mediterranean World, Grand Rapids 1983, 211–217 and Christopher Forbes, Prophecy and Inspired Speech in Early Christianity and in its Hellenistic Environment, WUNT II / ​75, Tübingen 1995, 241–246: The “itinerant” prophets in Acts (Aune 215: “not aimless wanderers”) or the prophet John fit in neither category. 5  At least is this a very widespread view of New Testament prophecy in German New Testament scholarship. I take Gerhard Friedrich as an example (Art. προφήτης κτλ D, ThWNT VI, 1959, 857,1 ff: “Der Prophet ist der geistbegabte Seelsorger der Gemeinde, der ihr ganz konkret sagt, was sie in der gegenwärtigen Situation zu tun hat, der tadelt und lobt, dessen Verkündigung Ermahnung und Trost, Busswort und Verheissung enthält”. Part of this view is a positive evaluation of prophecy and a negative evaluation of apocalypticism: The Apocalypse is on the borderline between prophecy and apocalypticism (Friedrich, ibid. 855,8 ff.). Similarly Philipp Vielhauer, Einleitung, in: Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II, Tübingen 51989, 515: “Die Propheten waren nicht hauptberuflich Apokalyptiker, sondern (!) charismatisch begabte Gemeindeglieder”. 6  Equivalents to the biblical “messenger formula” are very rare in early Christian literature. Aune, Prophecy (note 4), 328 notes only Acts 21,11 and Ign Philad 7,2 besides the introductions into the seven letters of Rev 2–3: 2,1.8.12.18; 3,1.7.14. 7  Aune, Prophecy (note 4) 231 summarizes: “Christian prophecy produced no distinctive speech forms which would have been readily identifiable as prophetic speech”.

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impossible for scholars to agree on where in our sources we eventually find traces of the voices of early Christian prophets. Several scholars have taken the task of the prophets to offer παράκλησις to the churches (1 Cor 14,3) as a point of departure; consequently they have discovered allegedly prophetical texts in the New Testament on the basis of paracletical speech–forms.8 For Ernst Käsemann the most important activity of early Christian prophets was to formulate principles of sacred law valid in the churches; from these allegedly prophetical “sentences of sacred law” derived his construction of a prophetically governed “enthusiastic” earliest church.9 Briefly, the state of research is rather difficult: Scholars speaking about early Christian prophecy very often speak about very different things.10 It is unclear whether prophecy in earliest Christianity is a very special activity of a few people with a special charism or whether it is the center of early Christian life and forms a basic model for Christian theology as a whole.11 Beyond different ideas of scholars we have to admit that we find in early Christian texts very different forms of prophets and prophecies or – another possibility – that early Christian prophets prophesied in different ways.12 I. 4  But what we can say for sure is this: In order to characterize them or themselves early Christians have used exclusively the term προφήτης. This is not selfevident! From a Hellenistic perspective, terms like ὑποφήτης, μάντις or χρησμολόγος were equally available.13 However προφήτης had a strong biblical connotation, being the exclusive translation-term of the biblical ‫נביא‬. In this respect it is noteworthy that a Jewish author like Josephus was very  8  E. g. Ulrich B. Müller, Prophetie und Predigt im Neuen Testament, StNT 10, Gütersloh 1975; similarly David Hill, Christian Prophets as Teachers and Instructors in the Church, in: Joannes Panagopoulos (ed.), Prophetic Vocation in the New Testament and Today, NT.S 45, Leiden 1977, 108–130.  9  Ernst Käsemann, Sätze heiligen Rechts im Neuen Testament, in: id., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 69–82; id., Die Anfänge christlicher Theologie, ibid. 82–104. 10  David Hill, New Testament Prophecy, London 1979, 141–146 even thinks that the Epistle to the Hebrews has a prophetic origin, because it is pastoral preaching (παράκλησις). 11  For Thomas Gillespie, The First Theologians, Grand Rapids 1994, 238 early Christian prophecy was an exposition of the kerygma in terms of divine wisdom, effected by the Spirit including exposition of the Scriptures. Helmut Merklein, Der Theologe als Prophet. Zur Funktion des prophetischen Redens im theologischen Diskurs des Paulus, in: id., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 377–404 draws extensive systematic conclusions about the relation between kerygma and prophecy from the allegedly similar argumentative structure of 1 Thess 4,13–18 and 1 Cor 15,1–58. Different from them for Edouard Cothenet, Les prophètes chrétiens comme exégètes charismatiques de l’écriture, in: Panagopoulos, Prophetic Vocation (note 8), 77–107 early Christian prophecy is not based on the kerygma but on the Bible: For him prophets are charismatic exegetes not unlike the Qumran pescharists. 12 Aune, Prophecy (note 4), 231 speaks about Christian prophecy as “a relatively unstable and unstructured institution”. 13  Cf. Helmut Krämer, Art. προφήτης κτλ. Α., ThWNT VI, Stuttgart 1959, 784–792; Aune, Prophecy (note 4), 34–47.

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reluctant to use the term προφήτης for other than biblical prophets.14 Using the term προφήτης is an act of selfinterpretation of early Christianity: The earliest Christians saw their own, variegated experiences of divine presence, auditions, visions, inspired speaking etc. in the light of the biblical tradition as prophetic experiences, i. e. as an empowered, public speaking under the mandate of God.15 They understood themselves “biblically” in continuity with or as revival of the biblical prophets. This is the reason why I will limit myself to those phenomena that were interpreted by the early Christians explicitly as “prophetical”. The basis of my sketch will not be a modern – my modern – idea of what prophetism could or should be. I will not deal with a more or less homogeneous religious phenomenon “prophecy”, but with a variety of different, however related experiences and activities which the early Christians themselves interpreted as prophetic experiences in the light of the Bible. There might be more of these experiences which were not labelled explicitly as prophetic in the texts – I omit them in order to remain on the safe side. I now want to give a short survey of early Christian prophecy. Unlike David Aune’s magisterial monograph and Ferdinand Hahn’s recent survey-article16 I will proceed in a roughly historical way sketching three different stages of early Christian prophetism. However my three stages are only roughly chronological and particularly the second and the third overlap.

II. The Beginnings II. 1  The Beginnings. In his Pentecostal sermon the Lukan Peter quotes Joel 3,1–5 in Acts 2:17–21: The manifestation of the Holy Spirit is that “your sons and your daughters prophecise”. In v. 18 the keyword προφητεύω is repeated. Προφητεύω takes up what Luke has narrated in 2:1–13, the miracle of the tongues. Speaking in tongues is the first manifestation of the spirit. For Luke, speaking in tongues and prophecizing is very close together if not the same thing. The difference between the Lukan view and the Pauline perspective in 1. 14  For the use of προφήτης by Josephus cf. Rebecca Gray, Prophetic Figures in Late ­Second Temple Jewish Palestine. The Evidence from Josephus, Oxford 1993, 23–26. 15  Not unlike ‫“ =( נביא‬speaker”?) the Greek word προφήτης has primarily the meaning of a public speaker (“expounder”, “proclaimer”, “herald”) of God’s will (inspired, like a μάντις, or not inspired), and not of a “fore–teller” who predicts the future. This meaning became prominent only later, mainly under Christian influence. 16 Aunes’s book (note 4) has become a classic and is the basis of all newer research on early Christian prophecy. Ferdinand Hahn, Wirken und Reden urchristlicher Propheten, in: Ioannis Galanis et al. (ed.), Διακονία – Λειτουργία – Χάρισμα (FS. G. A. Galitis), Lebadeia 2006, 245–259.

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Corinthians is evident.17 Equally evident is that Luke views speaking in tongues and prophecy as a general gift to every Christian (cf. Acts 10:46; 19:6). The traditions he transmits about some specific prophets (such as Agabos (11:28;21:10), the prophets in Antioch (13:1), the prophets Judas and Silas (15:32) or the daughters of Philip (21:9) cannot be fully harmonized with this view; Luke is generalizing as he often does. We can conclude: Historically in the earliest times of Christianity prophecy was a frequent, but not a general phenomenon. II. 2  The Gospels. According to the Synoptic gospels Jesus was seen by his contemporaries as a prophet (Mk 6:15; 8:28; Mt 21:46). Among the itinerant radicals who continued Jesus’ mission after his death were prophets: I will send prophets and sages, and some of them they will kill and persecute (Q 11:49; cf Mt 22:3 f)

This is confirmed by the Matthean interpretation of our saying, where itinerant sages and scribes are mentioned besides prophets (Mt 23:34) and by another Matthaean logion mentioning itinerant prophets, righteous-ones and ordinary people (10:41 f). In the same tradition is the Didache where itinerant apostles and prophets (11:3) and ordinary Christians (12:1–4) are mentioned, in yet another text itinerant prophets and teachers (13:1 f, cf. 15:1).18 The hottest debate goes about the influence of these prophets on the tradition and actualisation of the words of Jesus. Bultmann spoke en passant about “words of the spirit” that were in the same time words of the exalted Lord Jesus who is the spirit (cf. 2 Cor 3:17) such as Apc 16:15. They could have been transmitted as words of Jesus because the Church drew no distinction between such utterances by Christian prophets and the sayings of Jesus in the tradition, for the reason that … dominical sayings in the tradition were not the pronouncements of a past authority, but sayings of the risen Lord who is always a contemporary for the Church.19

 Contra Forbes, Prophecy (note 4), 218–221.  The situation is not entirely clear: ᾿Απόστολοι and προφῆται are evidently different groups, but still comparatively close to each-other, since the opposite for both is ψευδοπροφῆται (Did 11:6.8). “Prophets” and “teachers” again seem to be different groups of people; the latter might be the same as the Matthean “scribes” (Mt 23:34). Only for them, but not for the “apostles”, there is a possibility that they settle in a local church and serve its need. The apostles are under the strictest itinerance-rules: Ordinary traveling Christians might stay up to three days as guests of a local church, but to the apostles only a second day is conceded and this only ἐὰν δὲ ᾖ χρεία . When were “bishops” and “deacons” elected by the Church? Only in the case when no prophets and teachers were available, or – rather – anyway? How do they take up the λειτουργία of the prophets and the teachers? Do the bishops (plural!!) take over a prophetic role (cf. below IV. 2) and the deacons a teaching function? Or is it open who does what? 19  Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 3 1957, 135; ET.: The History of the Synoptic Tradition, Oxford 1963, 127 f. 17

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On the basis of this general thesis20 Eugene Boring contended that “Christian prophets influenced the synoptic tradition of Jesus in a variety of ways”, through transmitting and actualizing sayings of Jesus and also through “coining of new sayings of the risen Jesus”.21 The textbasis for Borings hypothesis are the saying-source Q and the Gospel of Mark. A somewhat parallel hypothesis was proposed by Migaku Sato: The saying-source Q is according to him a prophetic book. The Q-tradents were “disciple-prophets” of the “master-prophet” Jesus whose message they actualized and whose characteristic forms of speaking they took over.22 Boring’s and Sato’s hypotheses had to face hard criticism in subsequent scholarship.23 The main question is if early Christian prophets formulated new words of Jesus and to what extent. A special, very intriguing subquestion is if they used the “I” of the risen Jesus without distinguishing their own prophetic “I” from the “I” of their risen Lord.24 If this would have been a common praxis the strange infrequency of the biblical “messenger formula” would find an explanation: While O. T. prophets rather distinguished between themselves and God, New Testament prophets speaking in the name of Jesus rather identified themselves with the risen Lord Jesus. The questions are hotly debated and the debates are loaded with a lot of different theological interests and biases of modern interpreters. Let me first give some brief considerations to the main question: It is undisputed in modern scholarship that some Evangelical sayings of Jesus have a post-Easter origin. This is not only true for the Fourth Gospel as a whole (in spite of the fact that many old traditions or words of Jesus are preserved and remodeled there!), but also for the Synoptic Gospels: Numerous dominical sayings are fully or partly redactional, such as in the first Gospel Matt 5:20; 6:1; 13,37–43; 25:12 f; 28:18–20. When the evangelists saw no problem to formulate new sayings of Jesus themselves why should this have been impossible in earlier times? However a different question is if these new sayings of Jesus were created by early Christian prophets or rather by other people, maybe scribal 20  Bultmann himself was very cautious in attributing dominical sayings to early Christian prophets. 21  M. Eugene Boring, Sayings of the Risen Jesus, MSNTS 46, 1982, 233. An updated and popularized new version of this book is: M. Eugene Boring, The Continuing Voice of Jesus. Christian Prophecy and the Gospel Tradition, Louisville 1991. 22  Sato, Q und Prophetie (note 4), esp. 382–406. The discipleship of Elisa towards the “master-prophet” Elijah is an important biblical model according to Sato. 23  For criticism of Boring cf. Aune, Prophecy (note 4), 240–242; James D. G.  Dunn, Jesus Remembered (Christianity in the Making I), Grand Rapids 2003, 186–192. 24  Since a very pronounced use of “I” seems to be a characteristic of Jesus (cf. his [ἀμὴν] λέγω ὑμῖν or the antitheses of the Sermon on the Mount) it is not a priori unlikely according to Sato that his “disciple-prophets” used this characteristic of his language too. The confirmation-formula λέγω ὑμῖν is used already in the Bible; in early Judaism it is used both in sapiental texts (e. g. Testamenta XII) and in prophetic texts (e. g. eth Hen 91–104). Cf. Sato, Q und Prophetie (note 4), 226–247.

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commentators or teachers. Here we have very little possibilities for unambiguous arguments because a lot depends on what we think New Testament prophets could have been. At this point we are “on thin ice”. My own methodological advice is anyway to consider seriously if a saying can really not originate with the historical Jesus as first possibility before we escape to the vague and vastly undelineable territory of early Christian prophetism. The problem of the prophetic ‘I’-sayings posed in the subquestion is equally difficult.25 On one side we have some – rather late and in several respects doubtful – testimonies that early Christian prophets understood themselves as “mouth” of Christ or identified themselves (functionally?) with the risen Christ.26 In the Apocalypse there are some prophetic ‘I’-sayings, but normally they are clearly introduced by the prophet-author: Τάδε λέγει ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ … (2:18; cf. 2:1.8.12; 3:1.7.14;14:13; 22:6a). A rare exception is Apc 16:15. On the other side there is a clear polemic against (false?) prophets who identify themselves with Jesus, e. g. Mk 13:6.22; Mt 24:5.24 f. The evidence from Q-texts is meagre: Among the probably “not authentic” candidates for ‘I’-sayings of Jesus in Q only four (Q 6:22 f;27 10:16; 11:49–51;28 13:34 f 29) might be prophetical. This is not a very strong basis for a hypothesis that early Christian prophets used to identify their own “I” with the “I” of the risen Jesus! Rather such a direct identification functioned as a borderline which became important in later Christian polemics against Montanism. This borderline is all the more important because there is at least one Q-saying that attributes an incredibly high authority to the holy Spirit, namely Q 12:10.30

25  Cf. James D. G.  Dunn, Prophetic ‘I’-Sayings and the Jesus Tradition: The Importance of Testing Prophetic Utterances within Early Christianity, NTS 24 (1977/78) 175–198 for a very strong – and not always convincing – rebuttal of Bultmann’s basic principle quoted above (note 19). 26  Od Sol 42:6 (“and I speak through their mouth” – an often quoted reference – but why should it refer to prophets?; Celsus, in: Origenes, Contra Celsum 7:9 (Christian prophets say “I am God or Son of God or divine Spirit” according to Celsus – but note the doubts of Origen!; Montanistic Oracles Nr. 7. 15. 16 (Heine, cf. below note 55). 27  But this prophetic saying probably did not contain an “I”, because it is Matthew who has replaced υἱοῦ τοῦ ἀνθρώπου by ἐμοῦ in 5:11. 28 The announcement of the imminent judment in v. 51b is introduced by λέγω ὑμῖν, but the whole saying is introduced as a word of σοφία in v. 49a. 29  For the question of authenticity cf. my negative argument in: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I / 3​ , Zürich / ​Neukirchen 1997, 378–380. However Christian Riniker, Die Gerichtsverkündigung Jesu, EHS XXIII / ​653, Bern 1999, 421–425 has presented very serious arguments for the authenticity of this saying. 30  Q 12:10 (diff. from its Markan reinterpretation in Mk 3:28–30!) with its opposition of forgiveable sin of blaspheming the son of man and the unforgiveable sin of blaspheming the holy spirit makes the highest claim ever made in early Christianity for the absolute authority of the spirit, which includes the authority of prophetic utterances. Already in Did 11:7 it is used in order to prevent any theological judgments about the truth of prophecies.

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II. 3  Paul. When we turn now to Paul, we enter a different world: the world of resident community-prophets. Corinth was a congregation of 100 Christians at most. When Paul orders that two or three of the prophets should speak in a Christian gathering and the others – probably prophets31 – should “judge” what they said (1 Cor 14:29), he presupposes that the number of prophets in Corinth was considerably higher than two or three. Maybe ten percent of the congregation were prophets!32 These prophets were resident – there is no hint in the texts that they had any functions beyond Corinth. Unlike the itinerant prophets they had no missionary task – if we disregard the missionary function of their prophecising upon the ἄπιστοι who happen to come to a Christian assembly (1 Cor 14:24 f). We can guess that this situation was not much different in other Pauline churches: The warning προφητείας µὴ ἐξουθενεῖτε (1 Thess 5:20) is easily understandable if there was an abundance of prophecies in Thessaloniki so that some members of the congregation had reserves either towards specific prophecies or – rather – towards prophetism as a whole.33 In the post-Pauline tradition – and almost only here – we read that the Church is built on the foundation of the apostles and prophets (Eph 2:20) who received the revelation of the divine mystery (Eph 3:5).34 This is an almost unique statement that leads to the question, if the great importance of prophets in the Christian congregations could have been a phenomenon characteristic specifically for Pauline churches. We have not enough source-material in order to give an answer to this question. According to Paul the effect35 of prophetic preaching is οἰκοδοµή, παράκλησις (adhortation) and παραµυθία (consolation, comforting) (1 Cor 14:3). In a list of liturgical elements of a Christian gathering prophecy is described as ἀποκάλυψις (1 Cor 14:26).36 Contentwise prophecy deals with divine µυστήρια (1 Cor 13:2); 31  Οἱ ἄλλοι (v. 29b) refers most naturally to “prophets”. In 1 Cor 12:10 Paul mentions the gift of “weighing spirits” as a gift independent from prophecy, so that one should not be too rigid here. Cf. Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 11,17–14,40), EKK VII / ​3, Neukirchen / Z ​ ürich 1999, 451 f. 32  However it is not sure if the (traditional!) personal formulation of 1 Cor 12:28 presupposes a certain stability of the charisma of prophecy, so that one could tell who was a prophet or a teacher in a local church. On the other side 1 Cor 12:31; 14:1 presuppose a certain flexibility: Members of the church can “strive” for the gift of prophecy. In 1 Thess 5:19–21 and in Rom 12:6 the noun προφήτης is absent. 33  The general formulations favour the latter interpretation. 34  The only non-”Pauline” reference where prophets are mentioned together with the apostles as foundational figures of the Church is Apc 18:20. In Q 11:49 and Did. 11:3 there is another concept of “apostle”. 2 Petr 3:2 and Herm Sim 9:15,4 (= 92:4) refer to Old Testament prophets. 35  Not: The content! This is the problem with Müller, Prophetie und Predigt (note 8), 109–234 who subsumes all kinds of hortatory and eschatologically oriented Pauline texts under the category “prophetic”. 36 This is clear from the context: In v. 6 ἀποκάλυψις corresponds with προφήτεια, γνῶσις with διδαχή. V. 30 presupposes that each prophecy is based on an ἀποκάλυψις in the sense of an unforeseeable, instantaneous experience of insight into a divine mystery.

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in this respect it is not different from glossolaly (cf. 1 Cor 14:2). Μυστήριον is used here in its traditional sense of a divine reality which is not accessible to “normal” earthly knowledge. In Rom 11:25a and in 1 Cor 15:51a it is used for something God will do in the yet hidden eschatological future. In Paul’s epistles we have only three “safe” traces of Christian prophecies: One is the prophetic and apocalyptic λόγος κυρίου in 1 Thess 4,16 f and the other two are the µυστήρια in Rom 11:25bf and 1 Cor 15:51bf. Their “comforting” function (cf. 1 Cor 14:3!) is evident! Conclusion: Taking all into account there cannot be a fundamental difference between the little what we know about the activities of prophets in Pauline churches and prophetism in the Apocalypse. Paul’s own major and for the future very important contribution to the definition of prophecy is his clear distinction between prophecy and glossolaly.37 The criterion of this distinction is a functional: Prophecy is “edifying” and “disclosing hearts” (1 Cor 14:25) because it can be understood. Glossolaly is not edifying in a direct sense because it is dependent on its translation. Glossolaly is “speaking for God” (1 Cor 14:2) and thus comes close to prayer. Prophecy is speaking for men, and thus comes closer to preaching. The problem of ecstasy however was not the main Pauline concern: Naturally he believed that the ecstasy of glossolales that bypasses the human νοῦς is different from the ecstasy of prophets.38 But the difference is relative: Neither did he deny to the glossolales any possibility of self-control: If there was no διερµηνευτής available they had the capacity to remain silent in the Christian assembly (1 Cor 14:28). Nor did he consider prophecy to be totally unecstatic: Divine revelation is an instantaneous and spontaneous activity of the spirit; if somebody gets a new revelation, there must be room for the activity of the spirit and the first prophet has to be quiet (1 Cor 14:30).39 Paul’s concern is that the human νοῦς can bear fruits for the spirit (cf. 1 Cor 14:14), or with other words: Paul’s concern are the effects of different χαρίσµατα for the οἰκοδοµή of the church. The farreaching consequences of the Pauline distinction between prophecy and glossolaly in the history of the main-stream churches are evident: In later centuries “prophecy” was integrated into church-life and became a “biblical” label denoting new forms of παράκλησις or παραµυθία of the church such as actualizing preaching or different forms of spiritual or “charismatic” exegesis; Glossolaly was marginalized and widely lost.

 Cf. Hahn, Wirken und Reden (note 16), 255.  The Platonist Philo had a clear concept of different forms of ἔκστασις (Rer Div Her 249 ff). The highest form of ἔκστασις is the prophetic ἔνθεος … κατοκωχή τε καὶ µανία (ibid. 264). It is characterized by the exit of human νοῦς in the moment of the arrival of θεῖον πνεῦµα (265). This concept is unknown to Paul. It became important in the polemics of the church fathers against Montanism. 39  In Qumran it was different: 1QS 6:10 f; cf. also Josephus Bell 2:132. 37 38

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II. 4  We now turn to the Apocalypse. There is a wide agreement among scholars that the author of this book is a Jewish Christian prophet with the name John, maybe a refugee from Palestine and probably a member or even the “masterprophet” of a prophetic school (22:6.9).40 This prophetic circle or school had a supralocal function in Asia.41 What is not so clear, however, is if the members of this prophetic school were members of the local churches to which the Apocalypse was adressed and “community-prophets” there. I agree with Akira Satake that the various references to “prophets” in the Apocalypse, often together with “saints” and in connection with martyrdom (11:18; 16:6; 18:24; and particularily 22:9: τῶν ἀδελφῶν σου τῶν προφήτων), are best understood when the prophets were members of the local churches and were highly respected there on account of their fidelity as martyrs. However I disagree with his conclusion that the churches of the Apocalypse were led by prophets42 – it is equally possible (and I think more probable!) that the Apocalypse was adressed to the Post-Pauline Churches in Asia which at that time might have been led by bishops or presbyters.43 The majority of the prophets (with the exception of “Isebel” and her followers!) belonged to the rigorists in their churches and might have formed a “critical minority” in some of them. Unfortunately the author of the Apocalypse does not tell us anything about the activities of the local community prophets in Asia. II. 5  Let me close this section with a general remark: In the beginnings of Christianity we never could prove that early Christian churches were led or “governed by prophets”.44 This farreaching synthesis between charisma and church-order which was propagated by Ernst Käsemann is historically not valid. Neither could the itinerant prophets govern a church, nor did the resident prophets govern a church. Their task was hardly to promulgate “sacred law”, if this type of law ever existed in early Christianity. Their task was to exhort and to comfort, both in Pauline churches and in the Apocalypse.

 Cf. David E. Aune, Revelation I, WBC 52A, Dallas 1997, LIIIf. cannot be proved that the author of the Apocalypse has a background of itinerant radicalism or itinerant prophetism, as Ulrich B. Müller, Zur frühgeschichtlichen Theologiegeschichte, Gütersloh 1976, 30–35 thinks. His Palestinian origin and his stay in Patmos is no prove for this assumption. 42  Akira Satake, Die Gemeindeordnung in der Johannesapokalypse, WMANT 21, Neu­ kirchen 1966, 47–81. 194 f. 43  It could be well be that the author of the Apocalypse does not mention them on purpose: Cf. Aune, Prophecy (note 4), 205 f. The hypothesis that the bishops are the adressees of the seven letters Apc 2–3 and are designated as “angels” of their churches is unwarranted. What would be the reason of such a literary fiction? 44  Käsemann, Sätze heiligen Rechts (note 9), 79. 40

41 It

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III. The Crisis of early Christian Prophecy Towards the end of the first century we observe a rather dramatic crisis of early Christian prophecy. Almost everywhere the problem of the ambiguity of prophecy became visible. The Christian Churches seem to be beleagered by “false prophets” who appear everywhere and had to be refuted. III. 1  Paul. The problem of the ambiguity of prophecy is not a new one. It is already part of the Biblical heritage. It is well known also in early Judaism. In early Christianity already Paul is conscient of it. Prophecy has to be “tested” (1 Thess 5:21) and “decided upon” (1 Cor 12:10; 14:29).45 It has to happen κατὰ τὴν ἀναλογίαν τῆς πίστεως (Rom 12:6b), as an action of faith in the right relation to it.46 In his introduction to the section “about the πνευµατικά” (1 Cor 12:1) Paul establishes a fundamental criterion for all those who speak “in the spirit of God”: “Nobody can say ‘Lord is Jesus’ except in the holy spirit” (1 Cor 12:3b). The oppositional phrase ἀνάθεµα ᾿Ιησοῦς is a “hypothetical literary device” – no Christian in Pauline times will ever have anathematized Jesus.47 The confession “Lord is Jesus” – the basis for all true gifts of the spirit – is the acclamation all Corinthian Christians confessed when they came together for worship. That means: This Pauline criterion functions inclusively and not exclusively: All members of the Church have the spirit as believers in Christ, not only those who believe that they are “sages” or pneumatics in a “higher” sense of the word. This harmonizes with the fact that in 1 Cor 12–14 Paul is always adressing the whole church and never a special group of people or the “leaders” of the Corinthian Church (if there were any!): All baptized Christians are the body of Christ! (12:27). All can strive for greater gifts (12:31), particularily for love (14:1). “When you come together, each-one” has something to contribute (14:26). And this again corresponds with the positive and not restrictive atti45  ∆ιακρίνω means not to “interpret” (against Gerhard Dautzenberg, Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der διάκρισις πνευµάτων, BZ NF 15 [1971] 93–104). The meaning of διακρίνω in Greek texts is overwhelmingly, in Pauline texts exclusively to “make a distinction”, “judge upon”. 46  Κατὰ τὴν ἀναλογίαν τῆς πίστεως (Rom 12:6b) has to be interpreted in parallelism to κατὰ τὴν χάριν τὴν δοθεῖσαν ὑµῖν (Rom 12:6a) and takes up µέτρον πίστεως (v. 3) = “proportionally to faith” – cf. James D. G.  Dunn, Romans, WBC 38, 1988, 727 f. There is no need to interpret πίστις here as “objective faith” or as “fides quae creditur” in the sense of a doctrinal norm of prophecy, as most German commentators do (e. g. Ernst Käsemann, An die Römer, HNT 8a, Tübingen 1973, 326; Heinrich Schlier, Der Römerbrief, HThK VI, Freiburg 1977, 370; Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer [Röm 12–16], EKK VI / 3​ , Zürich / N ​ eukirchen 1982, 14; Eduard Lohse, Der Brief an die Römer, KEK IV, Göttingen 2003, 342; diff. only Klaus Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer, ThHKNT 6, Leipzig 1999, 255 f ). 47 Anthony C. Thiselton, The First Epistle to the Corinthians, NIGTC, Grand Rapids – Cambridge 2000, 920. For the impressive list of many good scholars who endeavered to discover Christians who really might have anathematized Jesus, cf. Thiselton op.cit. 918–926.

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tude towards the spirit Paul shows in 1 Thess 5:19: Τὸ πνεῦµα µὴ σβέννυτε, προφητείας µὴ ἐξουθενεῖτε. III. 2  Post-Pauline times. The situation is very different in the decades before and after 100 p. C. It looks like as if from everywhere “ false prophets” appeared on the scene. One case is mentioned in the (deutero-Pauline!)48 Second Epistle to the Thessalonians (2:2). Another case is Mark 13:6.21 f in the early years of the first Jewish war. In the last decades of the first century we find false prophets in the Matthean churches (Matt 7:15–23; 24:11 f) and in Asia (Apc 2:14. 20–23). With the “pseudoprophets” attested in 1 John 4:1–3; cf. 2:18–26 and those predicted in 2 Petr 2:1(–22) we finish our survey over the later texts of the New Testament. The majority of the so called “heretics” of the later writings of the New Testament is labeled as “pseudoprophets” or is connected with prophetism by their ecclesiastical ennemies. Naturally it is very difficult to distinguish between what they really were and the negative label they got. Beyond the New Testament we have to mention the explicit fear of the author of Didache that among the itinerant prophets and apostles visiting the congregations might be pseudoprophets and heretical teachers (11:2; cf. 6.8–10). The church of Rome where Hermas might or might not have been a prophet himself 49 has a problem with prophet-entrepreneurs who worked for individuals, not on divine command but on human demand, i. e. as Christian variants of Hellenistic µάντεις.50 Among the Gnostics there were several prophets accused by the church-fathers to be magi and pseudoprophets, the best known being the Valentinian Markos.51 The Phrygian “New Prophecy” which probably started in the 160-ies52 in Western Phrygia was the culmination of the conflict of early Christian prophetic movements with the main-stream of the Christian Church. Already very early the “New Prophecy” was rejected as heresy by church-authors.53 This is all the more astonishing because the orthodoxy of the “Phrygians” concerning Bible, 48  2Thess is deuteropauline according to the majority of scholars; cf. Wolfgang Trilling, Untersuchungen zum 2. Thessalonicherbrief, EThS 27, Leipzig 1972; Ingo Broer, Einleitung in das Neue Testament II, NEB.ENT II, Würzburg 2001, 475–484. 49  This is disputed. Hermas does not designate himself as a prophet. For negative arguments see Norbert Brox, Der Hirt des Hermas, KAV 7, Göttingen 1991, 19–22; for a positive answer Aune, Prophecy (note 4), 218 and 299–310. 50  Cf. Jannes Reiling, Hermas and Christian Prophecy, NT.S 37, Leiden 1973, 79–96. 51  Cf. Ir haer I 13 ff, esp. 13:3.6. On other Gnostic prophets cf. Aune, Prophecy (note 4), 402 note 28. 52  According to Christine Trevett, Montanism. Gender, authority and the New Prophecy, Cambridge 1996, 32–45. According to the source of Epiphanius Montanus started his prophecy in the 19th year of Antoninus Pius (= 156) (Epiph Pan 48:2) 53 The Anonymus (Euseb, HE 5,16 f, cf. 5,16:19) did possibly write around 192–193 (Trevett op. cit. 30), Apollonius (ibid. 5,18; cf. 5,18:12) fourty years after the beginning of Montanism (shortly after 200?).

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creation and christology is attested by several authors.54 What was wrong with them? It is difficult to say. The well attested identification of Montanus with God and Christ and maybe with the Paraclete55 was probably only a functional-one.56 On the other side the self-understanding as “New Prophecy” attests a very strong claim for authority, surpassing usual claims of early Christian prophets. This corresponds with the fact that the New Prophecy had a very immediate and strong understanding of inspiration and ecstasy57 and with the fact that Maximilla thought that she would be the last prophet before the end.58 One other very unusual feature of the “New Prophecy” was its very strong missionary activity59 – its claim was ecumenical and not just local. As a whole we can say that the “New Prophecy” was an unusual phenomenon in the variegated, “unstable” and “unstructured” movement of early Christian prophetism. But that it was excluded so quickly from the main-church as a heresy despite of its orthodoxy remains remarkable. II. 3  Criteria. It is not my concern her to discuss what the intention of all these so called “false prophets” might have been. Only briefly I want to remember the criteria used by the church-authors to distinguish between true and false prophecy. Basically they are within the lines inherited by the biblical tradition:60 False prophets either do not correspond in their teaching to the truth of Gods message or they do not correspond in their behaviour to his commands. In early Christianity the first line of thinking developed rapidly into a strict application of the unchangeable canon of traditional norms. More popular and more effectful became the second line of thinking. Because the conviction that the Divine spirit

 Epiphan Pan 38:3 f; Hipp Ref 10:25 f.  Fragments 1. 2. 7. 15 (numbering according to Ronald E. Heine, The Montanist Oracles and Testimonia, North American Patristic Society. Patristic Monograph Series 14, Leuven / ​ Macon 1989); Nr. 15 is doubtful according to Heine. “Paraclete” is the normal designation for Montanus in Tertullian’s Montanistic writings. 56  Trevett, Montanism (note 52), 79: “In early sources Montanus seems to be just the mouth-piece of the Spirit”. 57  Cf. the Anonymus in: Eus HE 5,16:7; 17:2 (παρέκστασις). According to the Anonymus (HE 5,16:7) this ecstasy is contrary to the tradition of the church. However, if we take Celsus’ famous testimony about Christian prophets in Palestine and Syria (Orig, Cels 7:9) seriously, this kind of ecstasy and God-possession was not unusual among some of the “several kinds of prophecies” observed by Celsus. Montanus, Maximilla, Priscilla etc. were not absolutely unusual in this case. Trevett, Montanism (note 52), 92 thinks with good reasons that Montanism brought also a revival of glossolaly with it. 58  Nr. 6 (Heine). 59  According to Apollonius Montanus himself organized the mission and payed the preachers of his doctrine (Eus HE 5,18:2, cf. 11). The tradition of poverty of itinerant missionaries was evidently discontinued by the Montanists. 60  Cf. Hans-Jürgen Hermisson, Kriterien “wahrer” und “falscher” Prophetie im Alten Testament, ZThK 92 (1995) 121–139. 54 55

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cannot not be judged by earthly human beings61 remained very strong, it seemed much more viable to judge upon the behaviour of a prophet. This line of thinking deteriorated very rapidly into an obviously unjust moral diffamation of the “false prophets”. The second Epistle of Peter is already a remarkable example of this. III. 4  Final reflections. What puzzles me most is the question why from the third generation of Christianity on the “prophetical crisis” became so virulent so that prophecy was met with suspicion in many places. To a large extent it was interpreted as a threat and not as gift for the church. In the polemics of church-authors against those whom they thought to be “pseudoprophets” vilifying, demonizing and even diabolizing of the “other” prophets62 became quite common. Let me present four very different considerations that can help to understand the phenomenon better. They need to be completed by other reflections and they do not contain a value judgment. III. 4. 1  The category “pseudoprophecy” was an inherited biblical category that was well known by everybody. Its application to the new situation was easy. This category did not allow any differentiation  – the question was simply, if somebody was a true prophet or not. III. 4. 2  One gets the impression that in many cases the “false prophets” came from outside into the churches. In some cases prophets might have been itinerant prophets or itinerant missionaries whose claims for authority came into conflict with the norms and traditions of resident communities. This is probably the case in the (Jewish Christian, rigorist) Matthean churches63 and surely in Did 11–13. This might also be partly true for the rigorist Jewish Christian Palestinian prophet John, author of the Apocalypse, vis à vis the more “liberal” post-Pauline local churches of the province Asia. And what about the “false” prophet of the Shepherd? He does not come “near the assembly of just men” (Mand 11:13), i. e. he does not belong to the local church. About the Marcosians Irenaeus tells that they were itinerant preachers (haer 1,13:6). The disciples of the “New Prophecy” were called Φρύγες by their church-ennemies, and this naturally had the connotation: They do not belong to us and to the oikumene, but to a remote and somehow barbaric country far away in Asia.

61  Cf. already 1 Cor 2:15: The spiritual people are subject to no one else’s judgment. The strongest expression of this conviction probably is Q 12:10 (cf. above note 30). It is taken up in Did 11:7. Another expression of this conviction (and a new application) is Herm mand 11:5 (a spirit coming from God speaks “on its own accord”). Cf. also EvThom log 44. 62 For diabolizing cf. Herm mand 11,3–5.17; Anonymus Eus HE 5,16:8 f; Justin dial 82:2; Ir haer 1,16:6. 63  Cf. Matt 7:15: ἔρχονται πρὸς ὑµᾶς.

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III. 4. 3  Among the religions of late antiquity Christianity was a rather singular case. Christianity was an offspring of Judaism, but it had given up the principle of an ethnic identity: Ethnic identity was finally prevailing in Judaism in late antiquity, and this identity could not be lost, however “false” somebody’s doctrine, praxis or prophecy was.64 Christianity was one of the oriental religions spreading out over the Roman empire – but the “ecumenical identity” of Christians was much stronger than that of adherents of Isis, Kybele, Mithras or other religions. Christians knew that through Christ they were “one body” and their communities developed into a universal “church” whose identity rested on the same ecumenically valid baptism and on the basic beliefs. The communal and ecumenical identity of early Christians was different from that of Jews and much stronger than that of any other religion of late antiquity. This might explain why the necessity to establish borderlines was bigger than elsewhere. III. 4. 4  Naturally this necessity to set up border lines was augmented through the conflict with so called Gnostic Christians and their tendency to individualize, spiritualize, de-traditionalize and internalize the difference between spiritual and material people. In this situation the “unstable”, “unstructured” (David Aune) and somewhat unpredictable phenomenon of early Christian prophecy was an irritating factor.

IV. Prophecy gets marginal My third section can be brief. It has to sketch how Christian prophecy gradually became marginal during the second century. This is little investigated,65 because our sources are scattered and not numerous. IV. 1  Prophecy gets marginal. My first remark is an open question. How marginal was prophecy at the end of the second century? There are very few concrete informations about prophetic activities in our sources.66 Reading Irenaeus one can get the impression that not much has changed: He mentions exorcisms, 64  For the difference between Judaism and Christianity which finally emerged after many and complex intercourses cf. Daniel Boyarin, Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2004. 65  Cf. the important monograph of Matthias Wünsche, Der Ausgang der urchristlichen Prophetie in der frühkatholischen Kirche, CThM 14, Stuttgart 1997. Besides him also: Heinrich Kraft, Vom Ende der urchristlichen Prophetie, in: Panagopoulos, Prophetic Vocation (note 8), 162–185; Georg Schöllgen, Der Niedergang des Prophentums in der Alten Kirche, JBTh 14 (1999), 97–116. 66  After Agabus, Judas, Silas, the daughters of Philippus only Amnia (from Philadelphia) and Quadratus belong to the prophetic διαδοχή mentioned by the Anonymus in Eus HE 5,17:3.

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prophecies, healings, even resurrections that happen still in his time in the church (haer 2,32:4). In haer 5,6:1 he says: We also hear many brethren in the Church who possess prophetic gifts, and who through the Spirit speak all kinds of languages, and bring to light for the general benefit the hidden things of men, and declare the mysteries of God.67

Justin martyr is more careful when he says that “the prophetical gifts remain with us, even to the present time (καὶ µέχρι νῦν) (Dial 82:1), and likewise Origen, who speaks about “traces” (ἴχνη) of the holy Spirit, among them prophecy, that still exist in his own times (Cels 1:46). Even Irenäus seems to experience a lack of prophetical gifts in the church when he reproaches the heretics that they declare themselves to be (pseudo‑)prophets and thus deprive the church of the gift of prophecy (haer 3,11:9). This might have been true also in an indirect way: When prophecy gets more and more ambiguous and pseudoprophecy is an omnipresent problem, the acceptance for prophecy diminishes. As a whole it is difficult to get a clear picture. Surely prophecy has not entirely disappeared from the church. But it did not flourish too. Maybe it is correct to speak about a certain marginalisation of prophecy in the church. IV. 2  No conflict between prophecy and institutional ministry. When I title this section “prophecy gets marginal” I want to negate that there was something like a power-struggle between charismatic prophecy and institutional ministry.68 Only the rejection of Montanism can be interpreted in this way, and even there, the legitimacy of prophecy itself was never a point of debate. In earlier times we rather observe a harmony between institutional ministry and prophetic claim: This is already visible in the Pastoral Epistles (1 Tim 4:14). Ignatius of Antioch (Philad 7:1 f), Polykarp of Smyrna (Mart Po1 6:2) and maybe Melito of Sardes, author of a book about prophecy, were bishops with prophetic gifts or claims. Another example of harmony between prophecy and ministry is provided by the Didache: 15:1 recommends bishops and deacons, “because they too provide the service of prophets and teachers”. Evidently the congregation could not be sure that a prophet or teacher was always available; therefore bishops and deacons are recommended as a to be respected second choice. Among the services of prophets mentioned in the Didache are free prayers in the liturgy (10:7) and teaching (11:10). Hermas too presents an example of harmony: The true prophet faithfully attends the assembly of the Church and gets his inspiration during the  Translation ANF. The text alludes to 1 Cor 2,6 ff.  This was Overbecks famous hypothesis: Franz Overbeck, Zur Geschichte des Kanons, Chemnitz 1880, 111 f. Such a conflict is fitting within a concept like Käsemann’s who thinks that originally “the whole leadership of the congregations was with early Christian prophets” (Ernst Käsemann, Die Anfänge christlicher Theologie, in: id., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 96) and subsequently charismatic was replaced by institutional authority. 67 68

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prayer of the other Christians (mand 11:9). From the perspective of the second century it is very difficult to speak about a conflict between charismatic and institutional authority. Rather it is important that the “ministry” of a prophet does never appear in a list of institutional ministries, such as bishops, presbyters and deacons.69 Prophets were highly respected, but they remained charismatics and could not be elected for a prophetic ministry. Thus they always remained outsiders without an institutional backing as part the hierarchy. In this respect they were at the margins of the church. IV. 3  Influence of the Canon? For Adolf Harnack the formation of the New Testament canon was a decisive factor that made early Christian prophecy obsolete. The New Testament has … put an end to the possibility that any Christian, inspired by the spirit, could pronounce authoritative informations and rulings, that his imagination could enrich the history of the past in a credible way and predict events of the future in an equally credible way.70

There is some truth in this. Matthias Wünsche has justly observed that for Justin Martyr the “prophets” are exclusively the biblical prophets and that the whole Old Testament is for him a prophetical book.71 The Pauline list of charisms of 1 Cor 12:6–8 is replaced by the following in Justin, Dial 39:2: σύνεσις, βουλή, ἰσχύς, ἴασις, πρόγνωσις, διδασκαλία, φόβος θεοῦ. Prophecy is not mentioned any more. It is certainly correct that there is a certain shift of the life of the church towards teaching.72 However it is difficult to prove a direct connection between the relative disappearance of prophecy and the formation of the canon. The Montanists fully accepted the New Testament canon.73 The Montanist Tertullian can easily reconcile his Biblicism with his faithfulness to the new teacher Montanus, because the Paraclete is a restorer and not an innovator.74 IV. 4  The idea of the author of the Epistle to the Ephesians was that apostles and prophets were the foundation of the church (2:20), i. e. they belong to its foundational past. It did not find many followers in the second century, as far as I can see.75 Quite the contrary: The Anonymus states explicitly and polemically against Maximilla who pretended to be the last prophet before the end of the  Cf. Brox, Hirt des Hermas (note 49), 539 for Hermas.  Adolf Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte I, Tübingen 41909, 387 (translation mine). 71  Wünsche, Ausgang (note 65), 135–169. 72  Wünsche, Ausgang (note 65), 300 formulates: “In the church during the second century the prophet has become the teacher”. 73 Cf. the source of Epiphanius in Epiph Pan 48:3. 74 Cf. Tert De Monog 4:1. 75  Forbes, Prophecy (note 4) mentions the Canon Muratori 78 f and Hippolyt, De antichristo 2:31 (= PG 10, 729). 69 70

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world that “the apostle is of the opinion that the prophetic charisma must be in the whole church until the last parousia”76. Naturally the Anonymus would have had some difficulties if he would have had to demonstrate the truth of this Apostolic opinion in his own church. But evidently the biblical word can be true without proof. This sketch of New Testament prophecy is not complete. We possess only a few accidental sources. My principle to take only the explicit interpretations of a religious experience as “prophecy” as basis further limits the sources. I renounce on any application of this sketch on our different ecclesiastical situations today. I rather hope that some of my observations speak for themselves.

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 Fragment 6 (Heine).

12. Die korinthische Gemeindeprophetie im Kontext urchristlicher Prophetie Ich setze im folgenden eine Gesamtsicht urchristlicher Prophetie voraus, die ich an einem andern Ort veröffentlicht habe.1 Im vorliegenden Aufsatz möchte ich die Nachrichten aus dem 1. Korintherbrief in das Gesamtbild urchristlicher Prophetie einordnen. Insbesondere soll es um folgende drei Fragen gehen:

I Welche Bedeutungen hatte Prophetie in den paulinischen Gemeinden und welche Bedeutung hatte die Prophetie für die paulinische Sicht der Gemeinde? Lukas vermittelt bekanntlich den Eindruck, dass die ganze Gemeinde prophetisch begabt ist. Er zitiert in seiner Pfingstpredigt des Petrus Joel 3,1: Ich giesse von meinem Geist aus über alles Fleisch, und eure Söhne und eure Töchter werden prophezeien (Apg 2,17).

Petrus deutet damit nicht das Auftreten von Propheten, sondern das Pfingstwunder, in dem nach der lukanischen Schilderung der Geist, als Feuerzungen verkörperlicht, auf die Jesusjünger und Jesusjüngerinnen fällt und sie zum Reden in fremden Sprachen ermächtigt (Apg 2,1–4). Wahrscheinlich war es Lukas, der die Zungenrede als Sprachenwunder neu gefasst hat.2 Durch πάντες in Apg 2,3 und durch πᾶσα σάρξ im Joelzitat ist das folgende „eure Söhne und Töchter“ im Sinne von „alle eure Söhne und Töchter“ interpretiert. Nun ist es offensichtlich, dass diese Sicht eine nachträgliche lukanische Konstruktion ist. Bereits die von Lukas aus der Tradition übernommenen Nachrichten von einzelnen Propheten scheinen sie zu widerlegen. Nach allen anderen neutestamentlichen Zeugnissen ist die Prophetie zwar ein verbreitetes, aber keineswegs ein allgemeines Phänomen. 1  Ulrich Luz, Stages of Early Christian Prophetism, Sacra Scripta 5, Cluj-Napoca 2007, 45–62; in diesem Band Aufsatz Nr. 11. 2 So z. B. Jürgen Roloff, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen 1981, 39; Alfons Weiser, Die Apostelgeschichte. Kapitel 1–12, ÖTK 5/1, Gütersloh 1981, 80 f; Daniel Marguerat, Les Actes des Apötres (1–12), CNT Va, Genève 2007, 69 f; ähnlich auch Charles Kingsley Barrett, The Acts of the Apostles I, ICC, Edinburgh 1994, 109 f.

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Ich möchte hier die vorsichtige Vermutung äussern, dass sich in dieser lukanischen Charakterisierung des Urchristentums als prophetisch ein paulinisches Erbe zeigen könnte. Mit der lukanischen Sicht in gewisser Weise verwandt ist die ebenso ungewöhnliche Sicht des deuteropaulinischen Epheserbriefs in 2,20: Die zur Kirche gerufenen Heiden sind „auf das Fundament der Apostel und der Propheten aufgebaut“. Exegetischer Konsens ist aufgrund von Eph 3,5 und 4,11, dass mit „Propheten“ nicht biblische, sondern urchristliche Propheten gemeint sind. Dann haben wir im Epheserbrief ein zweites Zeugnis aus nachpaulinischer Zeit, das der frühchristlichen Prophetie eine grundlegende Bedeutung zuschreibt. Wie steht es damit bei Paulus? Die Bedeutung der Prophetie muss für ihn sehr gross gewesen sein, und zwar nicht nur darum, weil sie zur Erbauung der Gemeinde wichtig war. Ich nenne zuerst einige Stellen, an denen die Prophetie hervorgehoben wird. In Röm 12,6, einem Text, der ganz unabhängig von konkreten Phänomenen und Problemen in den Adressatengemeinden formuliert ist und wo für Paulus weniger wichtige oder problematische Charismen schon gar nicht mehr vorkommen, wird Prophetie als erstes genannt. In 1 Kor 12,28 folgen die Propheten unter „zweitens“ unmittelbar nach den Aposteln, bzw. anders gesagt: Paulus nennt sie als erste unter den in einer lokalen Gemeinde tätigen Charismatikern. In 1 Thess 5,20 formuliert er: προφητείας μή έξουθενεῖτε. Unabhängig davon, was man als Gemeindekontext dieser Mahnung voraussetzt,3 zeigt diese Stelle, dass er die Prophetie hoch schätzte. Ich komme zu den Verhältnissen in Korinth. In 1 Kor 12,28 f setzt Paulus klar voraus, dass der Kreis der Propheten ein begrenzter Kreis ist: Nicht alle Gemeindeglieder sind Propheten, genau so, wie nicht alle Apostel oder Lehrer sind. Die personale Formulierung spricht dafür, dass man sagen konnte, wer in der Gemeinde Prophet war und wer nicht. Ausserdem setzt sie eine gewisse Dauerhaftigkeit des prophetischen Charismas voraus. Auf der anderen Seite fordert Paulus in 1 Kor 14,1 alle Gemeindeglieder auf, nach prophetischen Geistesgaben zu streben. In ähnlicher Weise kann er in 1 Kor 14,24 als hypothetische Annahme formulieren, dass alle Teilnehmer an der christlichen Versammlung als Propheten sprechen könnten. Der Kreis der Prophetinnen und Propheten in Korinth ist also begrenzt, aber zugleich durchlässig und erweiterbar. Dafür spricht auch 1 Kor 14,37: εἴ τις δοκεῖ προφήτης εἶναι … Diese Formulierung spricht dagegen, dass zum Status eines Propheten eine Beauftragung durch die Gemeinde gehört; der Kreis der Propheten war also nicht durch eine allfällige Approbation durch

3 I. Howard Marshall, 1 and 2 Thessalonians, NCBC, Grand Rapids 1983, 158 vermutet Skepsis gegen die Prophetie bei einigen Gemeindegliedern; ähnlich Günter Haufe, Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher, ThHK 12/1, Leipzig 1999, 106.

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die Gemeinde begrenzt. Wie jeder πνευματικός, so wird auch der Prophet allein durch das Wirken des Geistes zum Propheten.4 In 1 Kor 14,29 ordnet Paulus an, dass nur zwei oder drei Propheten sprechen sollen. Im Unterschied zu den Zungenrednern sagt Paulus nicht: τὸ πλεῖστον – „maximal“. Es können also notfalls auch mehr als drei Propheten sprechen. Kai οἱ ἄλλοι kann sich, wenn man Paulus nicht eine ziemlich unpräzise Formulierung zumuten will, nur auf die anderen Propheten beziehen. Obwohl die „Unterscheidung der Geister“ für Paulus eine eigene Geistesgabe ist (vgl. 1 Kor 12,10), geht er offenbar hier davon aus, dass in Korinth vor allem Propheten die Geister unterscheiden. Bei der Formulierung δύνασθε γάρ καθ’ ἕνα πάντες προφητεύειν in V 31a will πάντες zwar kaum sagen, dass alle Gemeindeglieder prophetische Gaben haben,5 weist aber ebenfalls darauf, dass die Zahl der Propheten in Korinth ziemlich gross gewesen sein könnte, jedenfalls grösser als die zwei oder drei, welche in der Regel in einem Gottesdienst sprechen sollen. Es ist natürlich völlig müssig, über Zahlen zu spekulieren. Wenn man aber nach verbreiteten Schätzungen davon ausgeht, dass die Gemeinde von Korinth vielleicht gut 50 Mitglieder umfasst haben könnte,6 ist der prozentuale Anteil der Propheten unter ihnen wahrscheinlich nicht ganz gering gewesen.

II Wie verhalten sich die Gemeindepropheten in den paulinischen Gemeinden zu anderen Formen urchristlicher Prophetie, insbesondere zu den Wanderpropheten in der Jesusbewegung und zu den kleinasiatischen Propheten der Johannesapokalypse? Frühchristliche Prophetie ist ein sehr vielfältiges Phänomen und entsprechend ist die Forschungslage diffus. Weil sich im Unterschied zur alttestamentlichen Prophetie bisher im Frühchristentum noch keine eindeutig als prophetisch zu bezeichnenden Gattungen herausgeschält haben, varieren die Texte ziemlich stark, welche von der Forschung als direkt oder indirekt prophetisch bestimmt werden. Man neigt dazu, sich nach einem weithin ungeklärten eigenen Prophetieverständnis diejenigen neutestamentlichen und frühchristlichen Texte auszuwählen, die prophetischen Charakter haben. Die verschiedenen Verständnismöglichkeiten von frühchristlicher Prophetie, die wir bei heutigen Forschern 4  So Dace Balode, Gottesdienst in Korinth, Greifswalder theologische Forschungen 21, Frankfurt 2011, 114. 5  Obwohl das nicht ganz auszuschliessen ist, denn es sind ja in V 31b auch alle Gemeindeglieder, die „lernen“ bzw. „getröstet werden“. Aber es ist aus inhaltlichen Gründen wahrscheinlicher, dass Paulus in V 31a locker formuliert und sinngemäss sagen will: „alle“, die prophetische Gaben haben. 6  Cf. Jérôme Murphy O’Connor, Corinthe au temps de Saint Paul ďaprès les textes et l’archéologie, Paris 1986, 240.

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finden, sind oft sehr stark davon mitbestimmt, wie in der eigenen kirchlichen Tradition dieser Forscher Prophetie verstanden und bewertet wird.7 Paulus ist an dieser Schwierigkeit nicht ganz unschuldig, denn er setzt bei seinen christlichen Lesern voraus, dass sie wissen, was Propheten sind, um sich fast ausschliesslich der Frage zuzuwenden, worin ihre Funktion besteht. Angesichts dieser Schwierigkeiten schlage ich vor, dass wir diejenigen Phänomene des Frühchristentums als „prophetisch“ bezeichnen, die von den frühen Christinnen und Christen selbst als „prophetisch“ oder als „Prophetie“ interpretiert worden sind, d. h. nicht direkt vom historischen Phänomen „Prophetie“, sondern von der Interpretation von vielleicht verschiedenartigen Phänomenen im Urchristentum als Prophetie auszugehen. Mit einer solchen Interpretation ist immer ein eine Anknüpfung an die biblische Prophetie verbunden. Die frühen Christen haben gewisse, u.U. auch verschiedenartige, charismatische Phänomene, die in ihren Gemeinden geschahen, im Lichte ihrer Bibel als „Prophetie“ verstanden und mit Hilfe der Bibel bewertet.8 Die Vielfalt frühchristlicher „Prophetien“ im Vergleich mit der in Korinth auftretenden „Prophetie“ wird vor allem an zwei Brennpunkten diskutiert. Der erste betrifft das Verhältnis der paulinischen Gemeindepropheten zu den Propheten in der Johannesapokalypse. 1. Die Propheten in der Johannesapokalypse und die Gemeindepropheten in Korinth. Sachlich geht es bei dieser Frage um das Verhältnis der Gemeindeprophetie in den paulinischen Gemeinden zur Apokalyptik. Vor allem in der protestantischen deutsch‑ und englischsprachigen Forschung gab es eine starke Tendenz, Propheten und Apokalyptiker zu unterscheiden. Entsprechend gross wurde der Graben zwischen den Propheten der Johannesapokalypse und den paulinischen Gemeindepropheten. Letztere verstand man als „geistbegabte Seelsorger der Gemeinde“ (G. Friedrich),9 als das Kerygma weiterführende Theologen (H. Merklein oder Th. Gillespie),10 als Prediger, wie die Apostel

 Zu Einzelheiten vgl. Luz, Stages (Anm. 1), 46–48; in diesem Band 161–164.  Vgl. Luz a. a. O. 48 = 164.  9  Gerhard Friedrich, Art. προφήτης κτλ., ThWNT VI, Stuttgart 1959, 857,1 ff versteht als „Propheten“ den „geistbegabte(n) Seelsorger der Gemeinde, der ihr ganz konkret sagt, was sie in der gegenwärtigen Situation zu tun hat, der tadelt und lobt, dessen Verkündigung Ermahnung und Trost, Busswort und Verheissung enthält“. 10 Helmut Merklein, Der Theologe als Prophet. Zur Funktion prophetischen Redens im theologischen Diskurs des Paulus, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 402–404 (Propheten sind das Kerygma weiterführende Theologen); vgl. Thomas Gillespie, The First Theologians, Grand Rapids 1994, bes. 238.  7  8

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(D. Hill)11 oder als charismatische Schriftausleger (E. Cothenet),12 jedenfalls aber nicht als „hauptberufliche Apokalyptiker“ (P. Vielhauer).13 Die paulinischen Gemeindepropheten galten daher grundsätzlich als möglicher Modellfall für eine christliche Gemeinde, die Johannesapokalypse dagegen nicht als das prophetische Buch des NT, sondern eher als ein borderline-Phänomen, weil in ihr die Ermahnungen eher am Rande stünden.14 Wenn ich die paulinischen Gemeindepropheten mit der Johannesapokalypse vergleiche, so scheint es mir falsch, einen grundsätzlichen Unterschied anzunehmen. Aufgabe eines Propheten ist es nach Paulus, göttliche μυστήρια zu verkünden (1 Kor 13,2). In 1 Kor 14,26 umschreibt Paulus dies – er nennt hier Prophetie allerdings nicht  – mit ἀποκάλυψις.15 Denken wir an die konkreten μυστήρια, die Paulus verkündet, nämlich Röm 11,25 und 1 Kor 15,51a, so ist klar, dass solche Geheimnisse sich entsprechend apokalyptischem Denken in erster Linie auf Gottes im Himmel für die Menschen verborgene Zukunft beziehen. Die beiden genannten Stellen sind neben dem λόγος κυρίου 1 Thess 4,16 f vermutlich die einzigen direkten Wiedergaben von Prophezeiungen, die uns Paulus überliefert. Natürlich betont Paulus, die Aufgabe der Propheten sei Erbauung (οἰκοδομή), Ermahnung (παράκλησις) und Tröstung (παραμυθία) der Gemeinde (1 Kor 14,3). Aber eben dies trifft ja auf die drei von ihm überlieferten apokalyptischen Prophetensprüche in hervorragender Weise zu, wie auch auf die gesamte Prophetie der Johannesapokalypse. Man sollte also keinen Gegensatz zwischen „seelsorgerlicher“ Prophetie bei Paulus und „apokalyptischer“ Prophetie in der Johannesapokalypse konstruieren, um dann in gut protestantischer Manier die Apokalypse abzuwerten. 2. Die Wanderpropheten in der Jesusbewegung und die Gemeindepropheten in Korinth. Grösser sind die Unterschiede zwischen den Wanderpropheten, die wir u. a. in der Logienquelle entdecken, und den paulinischen Gemeindepropheten. Zwischen den Wanderpropheten in Q und im Matthäusevangelium, die missionarisch tätig waren einerseits, und den sesshaften Gemeindepropheten in Antiochien (Apg 13,1) und den Propheten in den paulinischen Gemeinden, die 11  David Hill, New Testament Prophecy, London 1979, 110–140: Propheten nehmen das „teaching ministry“ in den Gemeinden wahr, das „pastoral teaching“ und gelegentlich auch Prophezeiungen einschloss. In diesem Sinn hat für ihn sogar der Hebräerbrief prophetischen Ursprung (ebd. 141–146). 12  Edouard Cothenet, Les prophètes chrétiens comme exégètes charismatiques de l’Ecriture, in: Joannes Panagopoulos (Hg.), Prophetic Vocation in the New Testament and today, NT.S 45, Leiden 1977, 77–107. 13  Philipp Vielhauer, Einleitung, in: Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II, Tübingen 51989, 515: „Die Propheten waren nicht hauptberuflich Apokalyptiker, sondern (!) charismatisch begabte Gemeindeglieder“. 14  Friedrich, Art. προφήτης (o. Anm. 9), 855. 15  Vgl. Balode, Gottesdienst (o. Anm. 4), 115.

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höchstens indirekt missionarisch tätig waren (1 Kor 14,23–25), andererseits, besteht nach Migaku Sato ein „fundamentaler Unterschied“.16 Auch diesen Unterschied möchte ich nicht überbetonen: Dies nur schon darum nicht, weil es Zwischenmöglichkeiten gibt:17 Irgendwo zwischen diesen beiden extremen Möglichkeiten steht der apokalyptische Prophet Johannes, der in Kleinasien eine überregionale Bedeutung hatte, aber vermutlich kein Wanderradikaler war, und seine „Brüder, die Propheten“ (Apk 22,9), die möglicherweise, aber nicht sicher Gemeindepropheten waren. Der Prophet Agabus, an den sich der Verfasser der Apostelgeschichte erinnert, war zwar nicht sesshaft, aber eher für spezifische Zwecke unterwegs als einfach ein Wanderprophet. Eine andere Zwischenmöglichkeit stellen die Wanderpropheten von Did 13,1 dar, welche sich in den Gemeinden niederlassen können und von ihnen verpflegt werden. Sie waren vermutlich ein recht normaler Fall: Es gab wohl auch in der Frühzeit kaum Wanderpropheten, die nicht von Gemeinden ausgesandt wurden, ihre „Arbeiter“ waren (Mt 10,10) und wieder in sie zurückkehrten. Dazu kommen tieferliegende Gemeinsamkeiten. Beide, Gemeindepropheten und Wanderpropheten, sprechen im Namen des erhöhten Jesus. Gegenüber der These von Migaku Sato, dass die Q-Propheten direkt Worte des Erhöhten formuliert hätten, wobei ihr „Ich“ mit demjenigen des Erhöhten verschmolz,18 bin ich zunehmend skeptisch geworden. Das ist m. E. höchstens bei Q 6,22 f; 10,16; 11,49–51 und 13,34 f zu erwägen und auch in diesen Fällen aus unterschiedlichen Gründen sehr unsicher.19 Eher galt die direkte Identifikation mit Jesus als Kennzeichen falscher Prophetie: So sehen es jedenfalls Mk 13,6.21 Parr. und Q 17,23. Dieser Befund entspricht der in der Apk häufigen Einführung eines prophetischen Wortes mit τάδε λέγει ὁ κύριος (2,1.8.12.18; 3,1.7.14; 14,13; 22,6a)20 und der paulinischen Formel λόγος κυρίου (1 Thess 4,15). Das passt auch zum relativ unekstatischen Verständnis der Prophetie bei Paulus in 1 Kor 14: Die paulinischen Gemeindepropheten erleben gerade keinen Ich-Verlust, wie etwa die inspirierten Propheten im Verständnis Philos (vgl. Rer Div Her 264 f). Frühchristliche Prophetie gibt es also in verschiedenen Ausdrucksformen und Funktionen. Die korinthische Gemeindeprophetie – vom Geist gewirktes, göttliche Geheimnisse offenbarendes, verständliches, die Gemeinde ermahnendes, tröstendes, aufbauendes Wort des erhöhten Herrn  – war gewiss nicht einfach identisch mit denjenigen Formen der Prophetie, welche wir in anderen Bereichen des frühesten Christentums beobachten können. Dennoch aber sollte  Migaku Sato, Q und Prophetie, WUNT II 29, Tübingen 1988, 397.  Meine Sicht ist ähnlich wie diejenige von David E. Aune, Prophecy in Early Christianity and the Ancient Mediterranean World, Grand Rapids 1983, 211–217. 18  Sato a. a. O. 226–302; ähnlich M.Eugene Boring, Sayings of the Risen Lord, MSSNTS 48, Cambridge 1982; ders., The Continuing Voice of Jesus. Christian Prophecy and the Gospel Tradition, Louisville 1991. 19  Vgl. Luz, Stages (Anm. 1), 51 = 166. 20  Anders nur Apk 16,15. 16 17

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man die verschiedenen Phänomene, welche die frühen Christen als „Prophetie“ verstanden, nicht auseinanderreissen. Im Ganzen sehe ich drei fundamentale Gemeinsamkeiten. die m. E. für so gut wie alle urchristlichen Propheten zutreffen: 1. Sie sprechen im Namen des erhöhten Herrn Jesus und in dieser Weise im Namen Gottes. Die urchristliche Prophetie muss m. E. als ein sehr frühes Zeugnis für eine funktionale Annäherung des auferstandenen Jesus und Gottes im Urchristentum angesehen werden. In diesem Sinn ist sie ein frühes indirektes Zeugnis für die christologische Gestalt des frühchristlichen Monotheismus. 2. Auch wenn eigentliche Botenformeln sehr selten sind, so unterscheiden Propheten m. E. grundsätzlich ihr eigenes Ich, das des Sprechers, vom Ich des Erhöhten, in dessen Namen sie sprechen. Darum sprechen sie verständlich, und darum ist Ekstase kein entscheidendes Merkmal frühchristlicher Prophetie. Es ist aber zuzugeben, dass diese Unterscheidung weniger deutlich ist als im Fall der biblischen Propheten, weil die Unterscheidungslinie durch das πνεῦμα, mit dem der auferstandene Herr identifiziert wird, durchlässig wird. 3. Die frühchristlichen Charismatiker, die in dieser Weise im Namen des erhöhten Herrn sprachen, haben sich alle als „Propheten“ interpretiert. „Prophetie“ ist also nicht primär eine Kategorie religiöser Phänomene oder Erfahrungen, sondern eine Kategorie der Interpretation oder Selbstinterpretation solcher Phänomene. Wer im frühen Christentum sich selbst oder andere Gemeindeglieder als Propheten interpretierte, stellte sich bzw. sie bewusst in eine Kontinuität zur Bibel und zum biblischen Erbe. Man hätte solche Charismatiker z. B. auch als ὑποφήτης, als μάντις oder als χρησμολόγος interpretieren können, aber man tat es nicht. Der primäre gemeinsame Nenner urchristlicher Prophetie ist also eine Interpretation bzw. Selbstinterpretation im Lichte der biblischen Prophetie und nur mittelbar bestimmte charismatische, ekstatische oder rhetorische Phänomene.

III Welches sind die Hintergründe und welches die Folgen der sehr unterschiedlichen Bewertung von Zungenrede und Prophetie bei Paulus? Als erstes möchte ich auf die Vielfältigkeit der Formen nicht nur der Prophetie, sondern auch der Zungenrede hinweisen. Die Zungenrede gibt es genau so wenig wie die Prophetie. Paulus spricht in 1 Kor 12,10 von γένη γλωσσῶν – es gibt offenbar mehrere Formen.21 Dafür spricht zunächst die Mehrdeutigkeit des terms γλώσσα. Im Unterschied zum biblisch geprägten προφητεία knüpft diese 21  Grundlegende Darstellung bei Antony C. Thiselton, The First Epistle to the Corinthians, NIGTC, Grand Rapids / ​Cambridge / ​Carlisle 2000, 970–988.

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Bezeichnung an keine bestimmte Tradition an. Wie ist der Ausdruck γλώσσα als terminus technicus für „Zungenrede“ zu erklären? Ist von „Zunge“ oder von „Sprache, Dialekt“ als Grundbedeutung auszugehen? Möglicher Anknüpfungspunkt ist auch die gelegentlich vorkommende Bedeutung „dunkler, fremder, archaischer, erklärungsbedürftiger Ausdruck“.22 Die Pluralformulierung λαλεῖν γλώσσαις rät eher dazu, von der Bedeutung „Sprache“ oder „(dunkler) Ausdruck“ auszugehen als von der Bedeutung „Zunge“ – man hat ja nur eine Zunge, mit der man spricht. Von hier aus gesehen steht Lukas nicht völlig neben den Schuhen, wenn er die Glossolalie als Sprachenwunder bzw. Hörwunder uminterpretiert. Aber auch unartikuliertes Stammeln war ein mögliches γένος von Glossolalie  – dafür spricht der Vergleich mit der ἄδηλος φωνή eines Musikinstruments (1 Kor 14,7 f) und wahrscheinlich auch die στεναγμοί ἀλάλητοι (Röm 8,26). Aber ob man eher von „Sprache, fremde Sprache, Dialekt“ oder von „unverständlicher, dunkler Ausdruck“ ausgehen soll, bleibt schwierig. Für das erste spricht vielleicht das häufige Vorkommen des Singulars in der Wendung λαλεῖν γλώσσῃ (1 Kor 14,2.4.13.27; vgl. 9.14.19.26); für das zweite könnte das noch häufigere Vorkommen des Plurals in λαλεῖν γλώσσαις sprechen (1 Kor 12,30; 13,1; 14,5 (2x).6.18.23.39; Apg 10,46; 19,6; vgl. 1 Kor 13,8; 14,26; Apg 2,4; Mk 16,17). Sehr auffällig ist, dass dieser technische Gebrauch von γλώσσα für „Zungenrede“ im Neuen Testament keineswegs überall vorkommt, sondern nur in der Apostelgeschichte und im 1 Korintherbrief, nicht aber in allen anderen paulinischen Briefen. Wurde er in Korinth geprägt? Drückt er  – positiv  – das Selbstverständnis der Glossolalen aus?23 Oder drückt er  – negativ  – eine Fremdwahmehmung aus?24 Rätsel über Rätsel! Ein spezifisch korinthisches Phänomen ist die Glossolalie kaum  – dagegen sprechen Röm 8,26 f und die Tatsache, dass auch Paulus Glossolale ist (1 Kor 14,18). Aber die sprachliche Bezeichnung könnte durchaus aus Korinth stammen. Wie wurden „glossolalische Phänomene“ ausserhalb Korinths benannt? Auch das können wir nicht sicher sagen. Schwierig ist die genaue Bestimmung der Bedeutung von γλώσσα aber auch deshalb, weil keines der als Parallele zur urchristlichen Glossolalie herangezogenen paganen oder jüdischen ekstatischen Phänomene so bezeichnet wird.25 Die Parallelen zeigen m. E., dass es ausserhalb von Korinth völlig 22  Belege bei Johannes Behm, Art. γλώσσα, ἑτερόγλωσσος, ThWNT I, Stuttgart 1933, 719 f. 23  Z. B. im Sinn von „in himmlischer Sprache reden“; vgl. 1 Kor 13,1. 24  Z. B. im Sinn von „in unverständlichen Ausdrücken reden“. Die These einer Fremdbezeichnung scheint mir allerdings unwahrscheinlicher, denn es wäre nur schwer erklärbar, warum der Ausdruck gerade im 1. Korintherbrief so überaus häufig vorkommt. 25 Vgl. Thiselton, 1Cor (o. Anm. 21), 972. Sachlich am nächsten kommen der korinthischen Glossolalie in antiker Religiosität gewisse Beschreibungen der Pythia vor allem bei Lucan und Vergil und die Schreie der Bakchantinnen, von denen Euripides und andere berichten. In jü-

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identische Phänomene nicht gegeben zu haben scheint und dass es demzufolge verständlicherweise auch keine vorgegebene sprachliche Bezeichnung gab, mit der man sie bezeichnen konnte. Vielfältig sind schliesslich auch die Interpretationsansätze, die Paulus für die Zungenrede bietet: Zungenrede ist Gebet (1 Kor 14,14–18; vgl. Röm 8,26 f) – also Rede zu Gott und nicht von Gott. Sie ist vielleicht Engelssprache (1 Kor 13,1; vgl. 2 Kor 12,4). Sie ist Eintauchen in göttliche Geheimnisse  – sofern Paulus μυστήρια in 1 Kor 14,2 nicht ironisch meint. Von diesen Deutungsansätzen könnten der zweite und der dritte auf Selbstdeutungen der korinthischen Glossolalen zurückgehen, während der erste der paulinischen Unterscheidung von Prophetie und Glossolalie entspricht, also wohl paulinisch ist. Kurz: Viel spricht dafür, dass Glossolalie von Anfang an ein vielgestaltiges und vieldeutiges Phänomen war, und dies bereits in den christlichen Gemeinden vor und neben Paulus. Als zweites möchte ich etwas gegen den Strom schwimmen. Paulus unterscheidet zwar Prophetie von Zungenrede, und vor allem: er bewertet beides sehr verschieden. Trotzdem denke ich, dass Prophetie und Zungenrede bei Paulus nicht toto coelo verschiedene Dinge sind.26 In den Aufzählungen der Charismen stehen beide manchmal beisammen – und dies trotz der deutlichen Tendenz des Paulus im 1. Korintherbrief, die Zungenrede zuletzt zu nennen. So ist es in 1 Kor 12,8–11, wo die Zungenrede und ihre Übersetzung zuletzt steht, die Prophetie und die Unterscheidung der Geister an zweitletzter Stelle. In 1 Kor 14,26 stehen ἀποκάλυψις und γλώσσα nebeneinander. In 1 Kor 13,lf steht die Zungenrede an der Spitze, dann folgt die Prophetie. Zungenrede und Prophetie haben beide mit Ekstase zu tun: Zwar betont Paulus, dass die Propheten die über sie kommenden πνεύματα kontrollieren (1 Kor 14,32), aber er sagt dennoch – rational nicht begründbar und gerade umgekehrt als in Qumran27 – , dass die zuletzt geschehene Offenbarung des Geistes den Vorrang vor den vorangehenden hat (1 Kor 14,30). Prophetie ist offensichtlich für ihn ein spontan geschehendes und insofern nicht völlig kontrollierbares Walten des Geistes. Umgekehrt kontrollieren auch die Zungenredner den über sie kommenden Geist ein Stück weit, sonst könnte Paulus sie ja nicht zum Schweigen auffordern (vgl. 1 Kor 14,27). – Inhaltlich ist Zungenrede und Prophetie gemeinsam, dass beide es mit göttlichen μυστήρια zu tun haben (1 Kor 14,2; vgl. 13,2). dischen Texten sind vor allem die geisterfüllten, in engelhafter Sprache formulierten Lobpreisgesänge der Töchter Hiobs (Test Hi 48–51) wichtig. Sie stellen m. E. die nächste Analogie zur korinthischen Zungenrede dar. Einen kleinen Unterschied, der auch hier besteht, hat Balode, Gottesdienst (o. Anm. 4), 135 genannt: Die Ekstase der korinthischen Zungenredner ist kontrollierbar – sie können auch schweigen. 26  Ähnlich auch Gerhard Dautzenberg, Prophetie bei Paulus, JBTh 14 (1999) 55–70. 27  1QS 6,10–13; vgl. Jos Bell 2,132 (έν τάξει).

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Kurz: die Tatsache, dass Paulus im 1. Korintherbrief aus gegebenem Anlass die Prophetie und die Zungenrede deutlich voneinander unterscheidet und sehr unterschiedlich bewertet, sollte nicht dazu verleiten, ihre grundsätzliche Verwandtschaft, welche auch für Paulus bestand, zu übersehen. Dass für Lukas, der mindestens indirekt in den Einflussbereich des Paulus gehört, die Zungenrede die herausragendste Form der Prophetie war, die einzige, an der nach ihm in der Frühzeit alle Gemeindeglieder partizipierten, sei nochmals erinnert (Apg 2,17; vgl. 19,6). Blicken wir zurück auf die mannigfachen Auseinandersetzungen um die Prophetie in der biblisch jüdischen Tradition, so ist deutlich, dass die korinthischen Zungenredner den ekstatischen ‫ נביאים‬der Frühzeit, die gruppenweise auftreten (Num 11,25/30; 1 Sam 10,5 f; 19,20–24) oder den Propheten „mit stammelnder Lippe und in fremder Zunge“,28 die Jes 28,11 f als Trunkenbolde bekämpft, näher stehen als den grossen biblischen Schriftpropheten. Auch die vom göttlichen Geist ergriffenen Propheten Philos hätten vielleicht in den korinthischen Zungenredner verwandte Seelen erkannt: Nach Rer Div Her 264–266 zieht ihr menschlicher νοῦς bei der Ankunft des göttlichen πνεῦμα aus, und sie verstummen als Menschen. Der göttliche Geist aber bemächtigt sich, wenn die Ekstase auf sie fällt,29 ihrer Sprachorgane, Mund und Zunge, und lässt sie in wunderbarer und harmonischer Musik aufklingen.30 Kurz, ich will damit andeuten, dass die vielfarbigen Phänomene von Prophetie und Zungenrede sich an manchen Stellen berühren, wenn nicht sogar überlappen, und dass es eine Frage allein ihrer Interpretation ist, wie man das Verhältnis beider bestimmt. Paulus hat sich in seinem Urteil an den biblischen Schriftpropheten orientiert. Wichtig ist ihm wie den Schriftpropheten 1. Verständlichkeit, 2. die Verkündigung von Gottes Willen und Trost und 3. der öffentliche Auftrag gegenüber dem Volk bzw. der Gemeinde (1 Kor 14,3 u. a.). In dieser Wertung ruht Paulus eindeutig auf den Schultern des biblischen Prophetieverständnisses und gehört hinein in seine Wirkungsgeschichte. Wichtig ist ebenso, dass Paulus ein funktionales Urteil fällt. Er betont in 1 Kor 14,3 f die unterschiedliche Wirkung, oder biblisch gesprochen: den unterschiedlichen Auftrag, der Propheten von 28  LXX: Διά γλώσσης έτέρας … λαλήσουσιν. Pls. zitiert diesen Vers in 1 Kor 14,21 in einer dem hebr Text nahestehenden Textform. Sein Skopus ist bei Pls nicht – wie bei Jesaja – eine Gerichtsaussage, sondern die Unverständlichkeit der Zungenrede. 29  264: … κατὰ τὸ εἰκὸς ἔκστασις καὶ ἡ ἔνθεος ἐπιπίπτει κατοκωχή τε καὶ μανία. 30  266: der Prophet, der zu reden scheint, schweigt in Wirklichkeit, καταχρῆται δὲ ἕτερος αὐτοῦ τοῖς φωνητηρίοις ὀργάνοις, στόματι καὶ γλώττῃ, πρὸς μήνυσιν ὧν ἂν θέλῃ. Die menschliche Zunge wird also bei Philo zum direkten Instrument, dessen sich der göttliche Geist bedient. Lässt sich evt. von diesem Hintergrund aus verstehen, warum die Korinther glossolalische Phänomene γλῶσσαι nannten? Die im folgenden genannte ἀόρατος καὶ πάμμουσος τέχνη, die Wohllaut, Allharmonie und eine symphonische Fülle (εὔηχα καὶ παναρμόνια καὶ γέμοντα συμφωνίας) hervorbringt, würde nicht schlecht zu einer Deutung der Zungenrede als Engelssprache passen.

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Glossolalen unterscheidet. Was Paulus in 1 Kor 14 tut, ist durchaus ein spätes Analogon zu den Auseinandersetzungen, welche biblische Schriftpropheten mit anderen ‫ נביאים‬und anderen Formen der Prophetie führten. Die paulinische Neubewertung von Glossolalie und Prophetie ist Teil der Wirkungsgeschichte des biblischen Prophetieverständnisses.

IV Nur ein sehr kurzer Blick sei mir zum Schluss darauf gestattet, wie sich die paulinische Neubewertung auf die christlichen Kirchen ausgewirkt hat. Sie hat zu einer Verdrängung der meisten Arten der Glossolalie geführt, von der sich in der Kirche seit dem zweiten Jahrhundert nur noch wenige Spuren erhalten haben.31 Vielleicht ist bereits die lukanische Uminterpretation ein Hinweis auf diese Verdrängungsgeschichte. In der Auslegungsgeschichte werden die paulinischen Äusserungen über die Glossolalie fast ausnahmslos im Sinn von Apg 2 als Xenolalie gedeutet: Es geht um die Fähigkeit, in der Missionsverkündigung in den verschiedenen Sprachen der Welt – natürlich verständlich – das Evangelium zu verkünden.32 Die richtige Deutung der paulinischen Aussagen von 1 Kor 12–14 wurde erst im 19. Jh. durch die historisch-kritische Forschung wieder entdeckt33 und dank ihr in den Pfingstkirchen wirksam.34 Die Prophetie dagegen wird vor allem seit dem Kampf gegen den Montanismus in der Auslegungsgeschichte als nicht-ekstatische Verkündigung verstanden. Sie wird hoch geschätzt und entweder mit der Auslegung der Schrift oder mit der Predigt identifiziert. Ich zitiere Martin Luther: „Weissagung ist, das man die schrifft recht deuten und auslegen kan und daraus gewaltiglich die lere des Glaubens erweisen“.35 Paulus hat also wesentlich zur Verdrängung der ekstatischen Glossolalie und zur Domestikation der Prophetie in den grossen LehrKirchen beigetragen. Von der Neuinterpretation der Prophetie bei den biblischen Schrifipropheten über Paulus bis zu den grossen christlichen Predigtkirchen führt m. E. eine klar erkennbare Linie. 31  In den Charismenlisten der Kirchenväter fehlt sie: Justin dial 39,1; apol 1,29,3; Irenäus haer 2,32,4. Origenes weist die Schilderung des Celsus (7,9), wonach christliche Propheten „unverständliche, verrückte und ganz unklare Worte gesprochen haben“ sollen, zurück: Solche Propheten gibt es nach ihm nicht (7,11). Handelte es sich hier um Zungenredner? Euseb (Comm in Jes 6,2) betrachtet die Zungenrede als Phänomen der Vergangenheit. Tertullian Marc 5,8 hält Marcion für gossolal begabt und wertet dies ab: „ecstatis id est amentia“. 32  Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 11,17–14,40), EKK VII / ​ 3, Neukirchen / D ​ üsseldorf 1999, 197 f. 33  Schrage a. a. O. 198 Anm. 512 weist auf Neander und David Schulz, Die Geistesgaben der ersten Christen, Breslau 1836. 34 Dass die Pfingstkirchen ihr ureigenes Proprium, die Zungenrede, der historisch-kritischen Forschung verdanken, ist eine reizvolle Ironie der Kirchengeschichte! 35  Luther, WA 22, 182 nach Schrage a. a. O. 193 Anm. 475.

13. Ortsgemeinde und Gemeinschaft im Neuen Testament I. Eine pointierte Einleitung Der Hintergrund dieses Aufsatzes ist sehr konkret: Es sind anstehende Strukturreformen unserer Kirchen, die durch schwindende Mitgliederzahlen und schwindende Finanzen erzwungen werden. Wie alle Strukturreformen, die durch finanzielle Engpässe notwendig werden, kommen sie von oben und nicht von unten. Kirche und andere Institutionen wie z. B. Universitäten und Schulen werden bei solchen Strukturreformen weitgehend ökonomischen Gesichtspunkten unterworfen, d. h. als „Betriebe“ behandelt und evaluiert. Sie wehren sich auf grundsätzlicher Ebene bemerkenswert wenig gegen solche Zumutungen, die sie einem ihnen wesensmässig fremden Beurteilungsmastab unterwerfen. Diese mit Absicht nicht unparteilich geschriebene kurze Situationsangabe soll deutlich machen, dass es mir im Folgenden nicht nur um eine neutrale Darstellung eines neutestamentlichen Befundes geht. Natürlich versuche ich den neutestamentlichen Befund so neutral wie möglich zu skizzieren. Aber in meiner Themastellung bin ich parteilich: Mit „Gemeinde und Gemeinschaft“ behandle ich ein neutestamentliches Thema, das in der gegenwärtigen Reformdiskussion oft ausgeblendet wird. Ich möchte mit dem Neuen Testament gegen einen weithin herrschenden Trend ein kritisches Ausrufezeichen setzen. Vordergründig wende ich mich gegen die verbreiteten Tendenzen, zu „regionalisieren“, um so kirchliche Dienstleistungen effektiver und professioneller leisten zu können. Sie sind nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz verbreitet. In der Neuenburger Kirche, der Eglise réformée évangélique du canton de Neuchâtel, einer der drei vom Staat getrennten und finanziell in besonders bedrängter Lage lebenden Kantonalkirchen der Schweiz, gibt es nur noch neun „Gemeinden“ (paroisses). Sie haben regionalen Charakter (z. B. „Entre-2-lacs“, „Val-de-Ruz“). Ähnliche, wenn auch nicht so weitgehende Modelle erprobt man im Waadtland oder in dünn besiedelten Gebirgskantonen. Die Neuenburger Lösung entspricht dem Zeitgeist. Überall werden möglichst grosse Produktionseinheiten oder administrative Einheiten geschaffen.1 In reicheren Kan1 Nur ein Hinweis sei mir erlaubt: Über die Schweiz rollt z.Z. eine Welle von Fusionen politischer Gemeinden. So wurden z. B. kürzlich die ehemals 25 politischen Gemeinden das Kantons Glarus auf drei reduziert. Verwaltungsfachleute mag es freuen; aber ein grosser Teil

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tonalkirchen, deren Pfarrgehälter dies erlauben, erprobt man andere Modelle: Der Beschäftigungsgrad von Pfarrerinnen und Pfarrern wird, je nach Seelenzahl einer Gemeinde, auf eine beliebige Prozentzahl unter 100 Prozent herabgesetzt, z. B. auf 30 %, 60 % oder 75 %. Die Kirchgemeinden können dann selbst entscheiden, ob und wann sie mit andern fusionieren.

Was soll ein Neutestamentler dazu sagen? Es ist zu einfach, darauf hinzuweisen, dass für das junge Christentum der neutestamentlichen Zeit lokale Kleingemeinden eine überragende Rolle spielten. Das ist für die Anfangszeit einer Religion fast selbstverständlich. Eine sichtbare Gesamtkirche gab es in der Frühzeit zwar auch, aber sie zeigte sich weniger auf der Ebene von religionssoziologisch erfassbaren Institutionen2 als auf der Ebene eines unablässigen und das junge Christentum von allen anderen Religionen der Spätantike unterscheidenden Ringens um eine ökumenische Kirchengemeinschaft.3 Regionale Zusammenschlüsse4 oder Zusammenschlüsse aufgrund eines bestimmten theologischen Profils5 gab es in neutestamentlicher Zeit kaum. Die Ortsgemeinden waren also die grundlegenden Repräsentanten der sichtbaren Kirche. Theologisch bedeutsam wird dieser historische Befund erst dadurch, dass hinter ihm ein Verständnis der Kirche sichtbar wird, das für fast alle neutestamentlichen Zeugen grundlegend ist: Ein Wesensmerkmal – ich denke: das wichtigste Wesensmerkmal  – der Kirche ist, dass sie „Gemeinschaft“ ist. Sprachlich der bisher möglichen direkten Mitbestimmung und Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger in Gemeindeversammlungen ist so nicht mehr möglich. 2  Die wichtigste gesamtkirchliche Institution ist natürlich der Apostolat. Ausserdem ist nach wie vor offen, wie weit sich die Jerusalemer Gemeinde als eine Art „Vorort“ der gesamten Kirche verstanden hat, wie es die alte These von Karl Holl, Der Kirchenbegriff des Paulus in seinem Verhältnis zu dem der Urgemeinde, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte II. Der Osten, Nachdruck Darmstadt 1984, 44–67 postuliert. 3 Dazu: Ulrich Luz, Unterwegs zur Einheit. Gemeinschaft der Kirche im Neuen Testament, in: Lukas Vischer / ​Ulrich Luz / ​Christian Link, Ökumene im Neuen Testament und heute, Göttingen 2009, 53–222. 4  Eine gewisse Bedeutung hatten für Paulus die Gemeinden in den Provinzhauptstädten, allerdings nicht in kirchenrechtlicher, sondern in missionsstrategischer Hinsicht. Die Sendschreiben der Johannesapokalypse, der Epheserbrief und der 1. Petrusbrief zeigen, dass zwischen den Gemeinden einer Provinz ein enges Beziehungsnetz bestanden haben muss, sodass „regionale“ Apostelbriefe möglich wurden – mehr aber nicht. Ignatius bezeichnet sich einmal als „Bischof von Syrien“ (Ignatius, Röm 3,2). Allerdings ist es offensichtlich, dass nicht einmal in der Stadt Antiochia ihn alle als „ihren“ Bischof anerkennen. 5  Die Pastoralbriefe richten sich zwar an die Amtsträger der ganzen „paulinischen Kirche“, ohne aber irgendwelche Schlüsse zu erlauben, dass diese innerhalb der Gesamtkirche besonders organisiert gewesen wäre. Christliche „Schulen“, die sich in Ansätzen im Neuen Testament aufzeigen lassen, zielen nie auf so etwas wie Bildung von „Richtungskirchen“ sondern wissen sich der Gesamtkirche verpflichtet. Dies zeigt die sog. „johanneische Schule“ und das für die Kirche und nicht für eine elitäre Minderheit geschriebene Johannesevangelium. In Rom strebte das Schulhaupt Valentin das Bischofsamt an. Die Markioniten waren die erste christliche „Richtungskirche“.

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wird das verschieden ausgedrückt. Bei Paulus wird das Wort κοινωνία (= Gemeinschaft, Partnerschaft, Beziehung, Anteilhabe, Partizipation) zu einem theologisch wichtigen Begriff und bezeichnet „vertikal“ Anteilhabe an Christus und „horizontal“ die Gemeinschaft der Glieder der Gemeinde untereinander.6 In anderen neutestamentlichen Schriften hat das Wort „Liebe“ eine ähnliche zweifache Dimension. Es umschliesst „vertikal“ die Liebe zu Gott bzw. die Liebe Gottes zu den Menschen und „horizontal“ die Liebe der Gemeindeglieder untereinander. In den johanneischen Schriften wird das vertieft reflektiert. „Liebe“ und „Gemeinschaft“ der Gemeindeglieder untereinander gibt es in dem vollen und konkreten Sinn, den diese Worte im Neuen Testament haben, nur mit konkreten Menschen „vor Ort“. Meine Anfragen zielen also – weit über das Vordergründige hinaus  – auf den Gemeinschaftsverlust in unseren protestantischen Volkskirchen und auf die nach wie vor viel zu geringe Bedeutung, welche die Gemeinschaft in der Ekklesiologie hat, trotz des Einflusses von Bonhoeffers Sanctorum Communio7 und trotz der grossen Bedeutung, welche das Denkmodell der „konziliaren Gemeinschaft“ der Kirchen auf der Ebene der ökumenischen Bewegung gewonnen hat.8 Meine These lautet: Um der das Wesen der Kirche ausmachenden „Gemeinschaft“ in ihrer doppelten Dimension willen war im Neuen Testament die lokale Gemeinde die grundlegendste Erscheinungsform der Kirche; darum ist sie auch heute unaufgebbar. Im Apostolischen Glaubensbekenntnis steht unmittelbar hinter dem Bekenntnis zur „heiligen, universalen Kirche“ die konkrete Bestimmung: „Gemeinschaft der Heiligen“ (communio). Ich will jetzt nicht auf die Bedeutung dieser Bestimmung für die Alte Kirche eingehen,9 sondern darauf, dass im ekklesiologischen Fundamentalartikel in der „Confessio Augustana“ an der Stelle von „communio“ die (auch schon mittelalterliche) Übersetzung „congregatio sanctorum“ gewählt wurde. Diese Formulierung ist ambivalent. Einerseits drückt sie eine deutliche Ablehnung der mittelalterlichen sakramentalen Deutung aus.10 Andererseits entspricht sie aber nur zu gut dem, was in den reformatorischen  Die doppelte Dimension von κοινωνία kennt auch der 1 Joh (1,3.6 f).  Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Dogmatische Untersuchung zur So­zio­ logie der Kirche, 1930; Nachdruck ThB 3, München 31960. Vgl. bes. seine „Leitsätze über die Anschauung des Neuen Testaments von der Kirche“ 91–93.   8 Hanfried Krüger / W ​ alter Müller-Römheld, Bericht aus Nairobi 1975, Frankfurt 2 1976, bes. 23–70; Lukas Vischer, Schwierigkeiten bei der Befragung des Neuen Testaments, in: Vischer / ​Luz / ​Link, Ökumene (o. Anm. 3), 45–48.  9  John N. D.  Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse, Göttingen 1972, 381–390 hält die Bedeutung „Gemeinschaft mit den Heiligen“ (d. h. mit dem Märtyrern, Patriarchen, Engeln) für die grundlegendste; die neutrisch-sakramentale Deutung („Partizipation an den heiligen Dingen“ sei erst im Laufe des Mittelalters im Westen wichtig geworden. Die ältere Forschung, z. B. Werner Elert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche hauptsächlich des Ostens, Berlin 1954, 9–16, vertrat oft die Gegenposition. 10  Vgl. Martin Luther, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis, WA 26, 493; ders., Grosser Katechismus, BSLK 41959, 657.  6  7

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Volkskirchen aus der „Gemeinschaft der Heiligen“ geworden ist: eine öffentliche Versammlung derer, die das Wort hören und die Sakramente empfangen. Die äussere Gestalt der Kirche ist bekanntlich im Einflussbereich der Reformation in vielem beliebig geworden und darum auch sehr „anpassungsfähig“ an jeweils herrschende Modelle weltlicher Sozialgestalten. Aus den grundlegenden paulinischen Bestimmung der Kirche als „vertikal / h​ orizontaler“ Anteilhabe / G ​ emeinschaft verschwunden ist die Dimension der Gemeinschaft, die für Paulus sichtbar, körperlich und eben darum auch lokal ist. Vielleicht ist es nicht zufällig, dass die Bedeutung von κοινωνία als grundlegende ekklesiologische Kategorie des Neuen Testamentes vor allem von katholischen Neutestamentlern wieder entdeckt wurde.11 Um die Gemeinschaft geht es mir und darum möchte ich in diesem Aufsatz auf die unaufgebbare Bedeutung der Ortsgemeinden im Neuen Testament hinweisen. Ich möchte zunächst in einem kurzen Abschnitt an Jesus erinnern (II), dann den Blick relativ ausführlich auf Paulus richten, weil wir bei ihm auch etwas über seine Sicht der Ortsgemeinde erfahren (III). Nach einem tour d’horizon durch einige andere neutestamentliche Entwürfe (IV) folgen einige abschliessende Thesen (V).

II. Jesus Jesus hat keine Kirche gegründet und vermutlich weder von „meiner Kirche“ (Mt 16,18) noch von einer örtlichen Gemeindeversammlung als „Kirche“ (Mt 18,17) gesprochen. Darin ist sich die kritische Forschung weithin einig. Er wusste sich zu Israel gesandt und hat Israel im Unterschied zu Pharisäern, Sadduzäern oder Essenern nicht durch Abgrenzungen, sondern durch Gottes an ganz Israel gerichteten Ruf definiert. Das hatte Folgen: Im Innern Israels wurden religiöse und soziale Schranken beseitigt (vgl. z. B. Mk 2,16 f), Schritte der Versöhnung gemacht (Mt 5,23 f), Vorurteile abgebaut (vgl. Mt 7,1 f) und Sünden vergeben (Mt 18,21 f). Jesus hat Frauen und Männer, Menschen aus allen Kreisen Israels, Arme und sogar Reiche in seine Jüngerschaft gerufen. In seinem Abschiedsmahl verdichtet sich dies: Es kann nicht bedeutungslos sein, dass bei dieser Mahlzeit 11  Vgl. Pier C. Bori, Koinonia: L’idea della communione nell’ ecclesiologia recente nel Nuovo Testamento, TRSR 7, Brescia 1972; Rudolf Schnackenburg, Die Einheit der Kirche unter dem Koinonia-Gedanken, in: Ferdinand Hahn / ​Karl Kertelge / ​Rudolf Schnackenburg, Einheit der Kirche. Grundlegung im Neuen Testament, QD 84, Freiburg 1979, 52–93; George Panikulam, Koinonia in the New Testament: A dynamic Expression of Christian Life, AnBib 85, Roma 1979; Robert Banks, Paul’s Idea of Community, Minneapolis 1980; Karl Kertelge, Kerygma und Koinonia. Zur theologischen Bestimmung der Kirche des Urchristentums, in: Paul-Gerhard Müller / ​Werner Stenger (Hg.), Kontinuität und Einheit (FS F. Mussner), Freiburg 1981, 327–339; Josef Hainz, KOINONIA. „Kirche“ als Gemeinschaft bei Paulus, BU 16, Regensburg 1982.

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ein Brot für alle gebrochen wurde und – als Mahlzeitritus sehr ungewöhnlich – ein Becher unter allen Teilnehmenden kreiste. Daran knüpfen die Deuteworte an, die m. E. eine jesuanische Wurzel haben. Sie zeigen, dass Jesus über seinen eigenen Tod hinaus mit dem Fortbestand einer auf ihn bezogenen Gemeinschaft rechnete. Die Zahl 12 deutet dabei an, dass diese Gemeinschaft für ganz Israel da war und vielleicht das durch das Kommen des Gottesreiches transformierte neue Gottesvolk Israels symbolisierte.

III. Paulus Für Paulus besassen die Ortsgemeinden eine ausserordentliche Wichtigkeit. Das zeigt sich zunächst an seinem Sprachgebrauch. III.1 Der Sprachgebrauch: Die Zuspitzung ekklesiologischer Grundworte auf die lokale Ebene. Es gibt im frühesten Christentum eine Reihe von ekklesiologischen Grundworten, die zum Teil vorpaulinisch sind und ursprünglich wohl durchweg die Gesamtkirche bezeichneten. Dazu gehört die Übertragung der Metapher des Tempels bzw. des Baus auf die Kirche.12 Sie muss sehr alt sein – das bezeugt wahrscheinlich das Selbstverständnis der drei Jerusalemer Stammapostel als „Säulen“ (Gal 2,9). Inhaltlich zielt sie auf die Gegenwart Gottes in der Kirche und seinen ausschliesslichen Besitzanspruch auf sie – das bezeugt der nicht-paulinische Text 2 Kor 6,14–18. Sie ist auf die ganze Kirche bezogen – das bezeugen auch die ganz selbstverständliche und nicht weiter erklärungsbedürftige paulinische Redeweise von Christus als „Fundament“ (1 Kor 3,10 f) und die Aussage, dass der Apostel Paulus selbst nicht „auf einem fremden Fundament“ weiterbauen wolle (Röm 15,20). Ein späteres Zeugnis für die gesamtkirchliche Bedeutung dieser Metapher ist der deuteropaulinische Epheserbrief (2,19–21). Die eigene theologische Leistung des Paulus besteht darin, dass er diesen vorgegebenen Sprachgebrauch „dynamisiert“.13 Er entfaltet nicht weiter, was der „Bau“ der Kirche ist, sondern er spricht paränetisch von ihrer „Auferbauung“ (οἰκοδομή). Das geschieht, wie 1 Kor 14 exemplarisch zeigt, in der Ortsgemeinde. Auch in 1 Kor 3,16 f wird die Metapher „Tempel“ in Bezug auf die Ortsgemeinde gebraucht, die durch die Spaltungen in konkurrierende Fraktionen „zerstört“ wird. Paulus kann das Bild vom Tempel sogar auf den einzelnen Menschen übertragen (1 Kor 6,19 f). Ähnlich ist es beim Wort ἐκκλησία („Versammlung“). Es ist ziemlich klar, dass Paulus einen alten, judenchristlichen Sprachgebrauch kannte, der von der 12 13

 Jürgen Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, GNT, Göttingen 1993, 110–117.  So Roloff a. a. O. 116.

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von der Gesamtkirche in biblisch-jüdischer Tradition als „Versammlung Gottes“ sprach. Anders wären Formulierungen wie Gal 1,13 oder 1 Kor 15,9 nicht verstehbar. Paulus selber aber braucht das Wort ἐκκλησία fast nur für die Ortsgemeinde. Wichtig ist für seinen eigenen Sprachgebrauch die Erinnerung an die Volksversammlung einer hellenistischen Stadt. Er meint aber natürlich nicht, dass die Kirche nicht mehr als eine lokale Versammlung sei. Vielmehr meint er, dass die ἐκκλησία Gottes sich sich an einem konkreten Ort versammelt. Darum spricht er z. B. von der „Versammlung, die in Kenchreae (ist)“ (Röm 16,1) oder von der „Versammlung Gottes, die in Korinth ist“ (1 Kor 1,2; 2 Kor 1,1), oder er fragt die Korinther, die beim Herrenmahl nicht auf die Armen warten, ob sie die „ἐκκλησία Gottes“ verachteten (1 Kor 11,22). Eine blosse Hauskirche bezeichnet Paulus nur zweimal als ἐκκλησία (Röm 16,5, Phm 2). In Rom gab es offensichtlich keinen Ort, an dem sich alle Hausgemeinden versammeln konnten;14 darum kann er seinen Brief nicht an die „Versammlung Gottes, die in Rom ist“, richten. Umso erstaunlicher ist es, dass er ihn offensichtlich an alle Hausgemeinden in Rom richtete und durch die überaus lange Grussliste von Röm 16 auch sicherstellte, dass er von allen gelesen wurde.15 Es ist also Paulus ausserordentlich wichtig, dass die Kirche Christi sich vor Ort versammelt. Als Normalfall dürfte er voraussetzen, dass es an einem Ort nur eine „Versammlung“ gibt. Etwas Ähnliches beobachten wir bei einem dritten für Paulus grundlegenden Ausdruck für Kirche, nämlich bei „Leib Christi“. Bekanntlich wird dieser Ausdruck im Kolosser‑ und im deuteropaulinischen Epheserbrief ausschliesslich auf die Gesamtkirche bezogen, in den unbestritten echten Paulusbriefen dagegen vor allem auf die Einzelgemeinde (bes. Röm 12,3–8; 1 Kor 12,12–27). Es spricht m. E. manches dafür, dass auch Paulus eine Vorstellung vom Leib Christi voraussetzt, die gesamtkirchlich gemeint ist: Das zeigt einmal die Metapher selbst: Es wäre ja nicht sinnvoll, von mehreren Leibern Christi an verschiedenen Orten zu sprechen. Dafür sprechen auch Texte wie 1 Kor 12,13 – die Taufe in einen Leib, zu dem alle, Juden und Griechen, Sklaven und Freie gehören – oder die allgemeine Aussage 1 Kor 6,15  – „eure Leiber sind Glieder Christi“  – oder die von der Eucharistie ausgehende Aussage 1 Kor 10,17: „die vielen sind ein Leib“. Ist das richtig, so hat Paulus ein besonderes Interesse daran, paränetisch zu entfalten, was die Metapher vom Leib Christi für das Zusammenleben in der Ortsgemeinde bedeutet. Das tut er in Röm 12 und 1 Kor 12 mithilfe des Organismusgedankens.

14  Cf. Peter Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, WUNT II 18, Tübingen 1989, 300–345 über die Fraktionierung der römischen Gemeinde, die vermutlich erst gegen Ende des 2. Jhs. einen monarchischen Episkopat kannte. 15  Auch die Aufgabe, ihn zu empfangen und für seine Mission in Spanien auszurüsten, sieht Pls als eine gemeinsame Aufgabe aller römischen Christinnen und Christen.

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III.2 Κοινωνία bei Paulus. In 1 Kor 1,9 spricht Paulus von der Berufung der Gemeinde „in die κοινωνία Jesu Christi, unseres Herrn“. Seit Josef Hainz wird der Sinn des Wortes κοινωνία in der Forschung überwiegend als „Gemeinschaft durch Teilhabe“ bestimmt.16 Κοινωνία schliesst klar die Dimension der „Anteilhabe“ ein, nämlich am erhöhten Christus, der Geist ist. Das ergibt sich auch aus der Segensformel 2 Kor 13,13 und aus Phil 2,1. Diese „Anteilhabe“ aber schliesst auch das Moment der „Gemeinschaft“ der Gläubigen ein: Nur dann ist die Fortsetzung des Verses in 1 Kor 1,10 sinnvoll: Paulus knüpft an V 9 an und ermahnt die Geschwister „durch den Namen unseres Herrn Jesus Christus“, mit einer Stimme zu sprechen und Spaltungen zu vermeiden. Spaltungen bedeuten, dass „Christus geteilt“ ist (1,13). Wir sprechen gewöhnlich von einer „vertikalen“ und einer „horizontalen“ Dimension von „Gemeinschaft / P ​ artizipation“: Das ist als sprachliche Formulierung zwar nicht falsch, reisst aber die Einheit und Ganzheit paulinischer κοινωνία zu sehr auseinander: Christus ist für Paulus nicht einfach „oben“, sondern als Geist und in der Gemeinschaft mit Christi Leiden (Phil 3,10) ebenso „unten“ präsent und konkret erfahrbar. Die durch ihn geschenkte Gemeinschaft in der Gemeinde ist nicht einfach nur etwas Soziales, das allenfalls durch Religion motiviert ist, sondern sie ist konkrete „Religion“. Der zweite grundlegende Text für das paulinische Verständnis von κοινωνία ist der Herrenmahlstext 1 Kor 10,16 f. Κοινωνία meint hier wieder, wie in 1 Kor 1,9, die Partizipation am Tod Christi, die erfahren wird durch den Abendmahlsritus, nämlich durch den Becher, den „wir segnen“, und das Brot, das „wir brechen“.17 V 17 führt unmittelbar zur ekklesialen Dimension der sakramentalen Partizipation: Weil es ein Brot ist, das die Teilhabe am Todesleib Christi erfahrbar werden lässt, sind wir ein Leib, nämlich die Kirche. V 17 macht (ebenso wie 1 Kor 12,13) deutlich, dass die Leserinnen und Leser wissen, dass die Kirche der Leib Christi ist – ein bloss metaphorisches Verständnis des Leibes bleibt hier m. E. äusserst unwahrscheinlich.18 Das im Begründungssatz auffällige πάντες erlaubt fast sicher den Schluss, dass trotz der Spaltungen in Korinth das Herrenmahl von allen gemeinsam gefeiert wurde. Das Herrenmahl ist also nicht eine Angelegenheit einzelner Hauskreise, sondern der ganzen Lokalgemeinde. Nur dann ist die paulinische Formulierung ein pointierter Rückverweis auf die 16  Hainz, KOINONIA (o. Anm. 11), 173. Vgl. Anthony C. Thiselton, The First Epistle to the Corinthians, NIGTC, Grand Rapids / C ​ arlisle 2000, 104 spricht von „communal participation“. 17  Lässt das zweimalige „wir“ die Folgerung zu, dass alle an diesem Ritus beteiligt sind und nicht nur die Leiter der Mahlfeier? 18 Diese Frage ist aber nach wie vor umstritten. Im neuesten Kommentar zum 1. Korintherbrief, demjenigen von Dieter Zeller, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 338 Anm. 368 heisst es: „Man könnte vor ‚ein Leib‘ ein ‚gleichsam‘ ergänzen“. Nur: Paulus hätte das ja auch tun können!

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Situation der „Spaltungen“ von 1 Kor 1,10–17. Khiok Khng Yeo weist mit Recht darauf hin, dass Paulus im Unterschied zu den korinthischen Pneumatikern keine individuelle Spiritualität kennt, sondern das ganze Gewicht auf die kommunale Solidarität legt.19 Partizipation an Christus kann ausschliesslich gemeinsame Partizipation an ihm sein.20 Dass diese gemeinsame Partizipation sehr konkret in den Alltag hineinreicht, macht der Abschnitt über die Probleme bei der korinthischen Herrenmahlsfeier (11,17–34) deutlich. Damit stehen vor der Frage, wie die „kommunale Partizipation“ an Christus im Leben der Kirche konkret wird. Das geschieht auf ökumenischer wie auf lokaler Ebene. Ich gebe zuerst ein ganz unscheinbares Beispiel, nämlich die paulinischen Briefschlüsse. Hier zeigt sich die Zusammengehörigkeit der „vertikalen“ und der „horizontalen“, sowie der lokalen und der ökumenischen Dimension. Die paulinischen Briefe wurden in den „Zusammenkünften“21 der Gemeinden vorgelesen. Dann illustrieren die Briefschlüsse eindrücklich, wie die Gemeinschaft der Gläubigen auf ökumenischer und ortskirchlicher Ebene und die Verbindung mit Gott, Christus und dem Geist konstitutiv zusammengehören. Viele paulinische Briefschlüsse bestehen: 1. aus der Aufforderung zum „heiligen Kuss“ unter den anwesenden Gemeindegliedern (2 Kor 13,12a; 1 Thess 5,26; Röm 16,16); 2. aus den die Ökumene betonenden Grüssen (2 Kor 13,12b [„alle Heiligen“]; 1 Kor 16,19a.20 [„die Kirchen der Asia“…“alle Brüder“]; Phil 4,22 [„alle Heiligen“]; Phm 23 f und 3. aus dem Schlusssegen Christi (2 Kor 13,13 [triadisch formuliert, mit κοινωνία]; 1 Kor 16,23 f; Phil 4,23; 1 Thess 5,28; Phm 25). Nur der eigenhändige Schluss des Galaterbriefs ist völlig anders konzipiert: Er enthält keine ökumenischen Grüsse – dafür figurieren „alle Brüder mit mir“ (Gal 1,2) als Mitabsender, um das Gewicht der Mahnung an die abtrünnigen Galater zu verstärken.22 Beispiele für die theologische Bedeutung der Gemeinschaft der lokalen Gemeinde für Paulus gibt es viele: Die „Spaltungen“ in der korinthischen Gemeinde waren für Paulus so gravierend, dass er seinen ersten Korintherbrief mit diesem Thema eröffnete, bevor er auf irgend eine der Fragen einging, welche die Korinther ihm gestellt hatten. Er konnte sich nicht damit begnügen, dazu ein apostolisches Votum abzugeben, sondern holte zu einer ausführlichen fundamentaltheologischen Grundsatzüberlegung aus. Die Spaltungen in Korinth waren für ihn so wichtig, dass sie ihn zu der viel mehr als rhetorischen Frage veranlassten: „Ist etwa Christus geteilt?“ Die Möglichkeit, dass in ein und 19  Khiok-Khng Yeo, Rhetorical Interaction in 1 Corinthians 8 and 10, Biblical Interpretation 9, Leiden 1995, 173. 20  Sehr schön wird das auch durch den Übergang vom „Ich“ in Röm 7 zum „Wir“ in Röm 8 illustriert. Röm 8,9–11 ist sachlich von der Partizipation am Geist-Christus die Rede. 21 Συνέρχεσθαι (εἰς τὸ αὐτό) (1 Kor 11,17–20.33 f; 14,23.26) ist derjenige paulinische Ausdruck, der sachlich unserem „Gottesdienst“ entspricht. Paulus verzichtet für die Gottesdienste der korinthischen Gemeinde dezidiert auf kultisches Vokabular. 22  Corinna Diestelkamp in Vischer / ​Luz / ​Link, Ökumene (o. Anm. 3), 122.

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derselben Stadt Korinth verschiedene Richtungsgemeinden leben könnten, wie selbstverständlich eine grosse Zahl verschiedener von philosophischen Schulen und Religionsvereine in dieser Stadt nebeneinander lebten, war für Paulus eine absolute Unmöglichkeit. Ähnlich war dies übrigens, wenn auch in einer ganz anderen kirchengeschichtlichen Situation, 60 Jahre später für Ignatius von Antiochien.23 Die in Korinth beim Herrenmahl auftauchenden Probleme habe ich schon erwähnt; auch hier genügt ein knapper Hinweis. Dass die Probleme im Bereich des sozialen Verhaltens der Bessergestellten unter den korinthischen Gemeindegliedern auftauchten und vermutlich mit den verschiedenen theologischen „Richtungen“ in der korinthischen Gemeinde nichts direkt zu tun hatten, ergibt sich wohl daraus, dass Paulus in 1 Kor 1–4 nicht vom Herrenmahl spricht.24 Eine Zerstörung der „Versammlung Gottes“ durch gemeinschaftswidriges Sozialverhalten ist aber für Paulus ebenso katastrophal wie theologische Richtungsstreitigkeiten.25 1 Kor 11,17–34 zeigen deutlich, wie sehr die von der „Gemeinschaft / P ​ artizipation“ an Christus und seinem Tod bestimmte Herrenmahlsfeier die Gemeinde auch in ihrem Sozialverhalten bestimmen musste. Ich nenne noch ein drittes Beispiel, das die theologische Bedeutung der Gemeinschaft für Paulus sehr schön zeigt, obwohl es für die Frage nach der Bedeutung der Ortsgemeinde nicht direkt bedeutsam ist. Es ist der Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Rom (Röm 14,1–15,13). Der Textabschnitt ist inhaltlich bedeutsam, weil er zeigt, dass hier für Paulus die Liebe wichtiger ist als alle noch so berechtigten inhaltlichen Überzeugungen der „Starken“. „Wenn nämlich dein Bruder um einer Speise willen traurig wird, so wandelst du nicht mehr nach der Liebe. Richte nicht denjenigen zugrunde, für den Christus gestorben ist.“ (Röm 14,15) Der Textabschnitt ist besonders instruktiv, wenn es sich bei den „Schwachen“ um Judenchristen handelt. Die Informationen über die asketischen Schwachen, die Paulus hat und andeutungsweise gibt (14,2.5 f.15.21) sind zwar nicht spezifisch. Paulus formuliert wohl bewusst verallgemeinernd.26 Dafür, dass die „Schwachen“ Judenchristen gewesen sein könnten, spricht ein extratextuelles Argument: Nach der Vertreibung vieler, aber wohl nicht aller Juden aus Rom durch Claudius hatten die römischen Hausgemeinden sich neu zu konstituieren. Die tonangebende Mehrheit der römischen Christen waren z.Z. des Römerbriefes Heidenchristen. Auch aufgrund des zusammenfassenden Schlussabschnittes Röm 15,7–13 können wir vermuten, dass Paulus selbst bei den „Schwachen“  Vgl. u. 203.  Auch das ist ein Hinweis darauf, dass die ganze korinthische Gemeinde es gemeinsam feierte. 25 Die theologischen Positionen der Petriner, Apolliner, Pauliner und der Christusleute sind Paulus in 1 Kor 1–4 übrigens egal. Auch das ist bemerkenswert. 26  Am schlechtesten zu Judenchristen passt Röm 14,21, obwohl auch hier die judenchristliche Hypothese nicht unmöglich ist. 23 24

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in erster Linie an Judenchristen gedacht hat. Wäre dem nicht so, so läge zwischen 15,7 und 15,8–13 eine sehr schwer erklärbare Themaverschiebung.

Hat Paulus bei den „Schwachen“ in erster Linie Judenchristen im Blick, welche die rituellen Teile der Torah einhalten, so ist Röm 14,1–15,13 darum ein theologisch spannender Text, weil Paulus sich hier anders entscheidet als in dem von der Sache her gleichen Konflikt in Antiochia in Gal 2,11–14. Dort hatte er die Kirchengemeinschaft abgebrochen. In Rom rät er den „Starken“, die, wie er, der Meinung sind, dass nichts an sich rein oder unrein ist (Röm 14,14), dazu, ihre „Stärke“ nicht auszuleben. In Rom stellt er also die Liebe zum schwachen Bruder, für den Christus gestorben ist, über das, was für ihn im antiochenischen Konflikt „Wahrheit des Evangeliums“ war. Warum? Peter Lampe vermutet mit guten Gründen, dass die Frage, wer in der jeweiligen Situation Zwang auf den anderen ausübte, für Paulus entscheidend gewesen sein könnte.27 Auf jeden Fall zeigt Röm 14 f, dass die Liebe für Paulus ein ganz entscheidendes Merkmal der Kirche war. Ein Beispiel für die ökumenische Dimension der κοινωνία ist die Kollekte des Paulus für Jerusalem. In den Kollektenkapiteln kommt das Wort κοινωνία vor (2 Kor 8,3; 9,13); in Röm 15,26 wird es geradezu zur technischen Bezeichnung der Kollekte. Die geistliche, „vertikale“ Dimension der Kollekte wird im folgenden Vers 27 betont: Die Jerusalemer haben den Heidenchristen an den geistlichen Gütern Anteil geschenkt (ἐκοινώνησαν); die Kollekte wird so zum Dank für die geistliche Gemeinschaft.

IV. Ein Blick über Paulus hinaus Wir wenden uns jetzt einigen anderen neutestamentlichen Entwürfen zu: a) Im Matthäusevangelium wird die Kirche als Jüngergemeinschaft gesehen. Sie ist einerseits bestimmt durch ihre Beziehung zu Jesus, der ihr seine eigene Vollmacht und seinen eigenen Auftrag gibt. Ihm sind die Jünger gehorsam und folgen seinem Lebensmodell. Sein Schicksal werden sie erleiden, bis zum Kreuz (Mt 10). Im Kern dieser Rede (Mt 10,24 f) geht es um die Christusförmigkeit der Jünger. Andererseits ist sie bestimmt durch die Gemeinschaft der Jünger untereinander, eine egalitäre Gemeinschaft, welche die Kleinen in die Mitte stellt, die Sünder sucht und Vergebung empfängt und praktiziert (Mt 18). Auch bei Matthäus ist Gemeinschaft, wie bei Paulus, durch das Ineinander einer „horizontalen, geschwisterlichen“ und einer „vertikalen, christologischen“ Dimension charakterisiert. Brennpunkt der Erfahrung dieses Ineinanders ist in Mt 18 nicht wie in 1 Kor 10,16 f das Herrenmahl, sondern das gemeinsame Gebet: In der Mitte des Kapitels verspricht der auferstandene Herr seine Gegen27

 Peter Lampe, in: Vischer / ​Luz / ​Link, Ökumene (o. Anm. 3), 102 f.

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wart dann, wenn Zwei oder Drei in seinem Namen versammelt sind (18,20). Sie zeigt sich in der Erhörung der Gebete (vgl. V 19). Im ganzen Matthäusevangelium werden die beiden Grunddimensionen der paulinischen κοινωνία sehr konkret entfaltet. Die Konkretheit hängt damit zusammen, dass an der Stelle des erhöhten und im Geist präsenten Herrn Jesus Christus der irdische Jesus steht, mit seinem konkreten Lebensmodell, seinen Geboten und seinem Weg in Tod und Auferstehung. b) Im Johannesevangelium ist von Kirche nur indirekt die Rede, vor allem in der Abschiedsrede.28 Jesus spricht zu den Jüngern, die in ihrer Hilflosigkeit, Verlassenheit und Angst die von Jesus allein gelassene Kirche repräsentieren. Der Introitus der Abschiedsrede thematisiert zwei grosse Themen der ganzen Rede: Jesu Verherrlichung (13,31 f) und die geschwisterliche Liebe (13,34 f). Die Rede selbst nimmt diese Themen immer wieder auf. Ihr Schlusstext, das Gebet von Joh 17, verdichtet und bündelt sie (vor allem 17,1–5 und 17,24–26). Die wichtigste Wiederaufnahme des Liebes-Themas in der Rede ist 15,9–17. Die geschwisterliche Liebe der Gemeindeglieder, die das neue Gebot Jesu erfüllt, ist nichts anderes als ihr Bleiben in seiner Liebe, die in der Liebe des Vaters ihren Grund hat (15,9 f). Der ganze Abschnitt 15,9–17 ist eine Konkretion der Rede von Christus als wahrem Weinstock, dessen Schosse in ihm bleiben und Frucht bringen (15,1–8). Christuswirklichkeit und Wirklichkeit der Liebe, Christusmystik und Halten des neuen Gebots sind also identisch. Kirche ist durch die Wirklichkeit der Liebe bestimmt, nur durch sie, weil sie durch die Wirklichkeit Christi bestimmt ist, nur durch ihn. 17,26 wird das zusammenfassen: „ … damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und ich in ihnen“. Hier ist deutlich, dass es nicht verschiedene Lieben gibt, eine göttliche und eine menschliche, sondern nur eine, von Gott ausgehende. 1 Joh 4,7–21 wird den theologischen Akzent, der bereits in Joh 17 deutlich ist, verstärken: Gott ist Liebe (1 Joh 4,8.16) – wie könnte da die Kirche etwas anderes sein als der von der Liebe Gottes durchflutete Raum der Liebe? c) In der Apostelgeschichte ist das Leben der Jerusalemer Gemeinde durch „die Lehre der Apostel“, „die Gemeinschaft“, „das Brechen des Brotes“ und „die Gebete“ bestimmt (2,42), „Gemeinschaft“ ist im folgenden als Zusammensein an einem Ort (ἐπὶ τὸ αὐτό) und dann konkret als Besitzgemeinschaft bestimmt (2,44–46). Die oben genannten vier Bestimmungen der Kirche gehen ineinander über – das zeigt sich z. B. daran, dass im Zusammenhang mit dem Gebet das Adverb „einmütig“ (ὁμοθυμαδόν) auftaucht (Apg 1,14; 4,24) oder daran, dass 28  Ich spreche von „der“ Abschiedsrede, um anzudeuten, dass ich ihre verschiedenen Teile für ein sinnvoll komponiertes Ganzes halte, das in Kap 17 ein klares Ziel und einen Höhepunkt erreicht; vgl. Ulrich Luz, Relecture? Reprise!, in: Andreas Dettwiler / ​Uta Poplutz (Hg.), Studien zu Matthäus und Johannes (FS J. Zumstein), AThANT 97, Zürich 2009, 233– 250. Zum Thema Liebe bes. 244–248. Der Aufsatz ist abgedruckt in: Ulrich Luz, Exegetische Aufsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 435–453.

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Lukas die Einmütigkeit der Apostel und die Einheit ihrer Lehre betont (z. B. Kap. 15). Zum Thema „Ortsgemeinde“ gibt Lukas insofern einen Beitrag, als es für ihn ausgeschlossen ist, dass es an einem Ort zwei Gemeinden gibt: So gibt es für ihn in Jerusalem nur eine Gemeinde, nicht, wie die meisten Exegeten aufgrund seines Textes historisch erschlossen, zwei, nämlich eine aramäisch-sprachige und eine griechisch-sprechende. Dem entspricht die Einigkeit der Gemeinden: Lukas lässt den antiochenischen Zwist ebenso weg wie die Schwierigkeiten, die Paulus mit vielen judenchristlichen Gegnern hatte. Da es undenkbar ist, dass ein Historiker, der vielleicht dreissig Jahre nach dem Tod des Paulus eine Geschichte der paulinischen Mission schreibt, die Paulusbriefe nicht kennt, muss man sagen: Lukas schweigt absichtlich davon, wider besseres Wissen. d) Die Paränese des Epheserbriefs setzt in 4,1–16 ein mit einer Mahnung zur Einheit in der Kirche. Sie steht voran, ist also offenbar das Allerwichtigste für den Verfasser. Deutlich ist, dass diese Mahnung einen vorgegebenen Grund hat, auf den sie aufbaut: V 4–6 erinnern an die Sprache der gottesdienstlichen Akklamation: Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater. Darum kann die Einheit des Geistes in der Kirche bewahrt werden (V 3); sie muss also nicht erst hergestellt werden, denn sie ist von Gott her bereits geschenkt. Worin besteht die Mahnung? In V 2 und 3 spricht der Verfasser vom „Einander Annehmen in Liebe“ und vom „Band des Friedens“. Die Anklänge an die paulinische Paränese in Röm 12 und 1 Kor 12, die der Text enthält, zeigen, dass der Briefverfasser primär die Einzelgemeinde im Sinn hat, ohne diese gegenüber der Gesamtkirche abzugrenzen. In V 7 ff und vor allem in V 13 f wird deutlich, dass auch die Einheit des Glaubens ein Problem ist; die Gemeinden sollen nicht „umhergetrieben“ werden „von jedem Wind der Lehre“ (4,14). Einheit des Glaubens und Einheit der Liebe fliessen in eins. Darum sollen die Gemeindeglieder „wahr reden in Liebe“ (4,15).29 So vollzieht sich das „Wachstum“ der Kirche, d. h. so wird ihr Haupt, Christus zur Energie, welche die Kirche durchströmt und an welcher jedes Gemeindeglied nach seinem Mass partizipiert (4,16).30 e) Auch die Johannesapokalypse ist für unser Thema wichtig. Historisch wichtig ist sie, weil sie vermutlich zeigt, dass aus Palästina geflüchtete judenchristliche Propheten in den von Paulus geprägten heidenchristlichen Gemeinden der Provinz Asia eine neue Heimat gefunden haben. Sie haben also in den dortigen Städten keine eigenen judenchristlichen Sondergemeinden gegründet. Vermutlich hat es in den Städten der Asia jeweils nur eine Ortsgemeinde gegeben. Dafür spricht auch, dass in der Mehrzahl der Fälle, in denen der Ver29  Ἀληθεύω = „die Wahrheit reden“ kann u.U. auch weiter gefasst werden: „restant dans le vrai, dans l’amour“ (Ceslas Spicq, Notes de lexicographie néo-testamentaire. Supplément, OBO 22/3, Fribourg / ​Göttingen 1982, 32). 30  Auch hier zeigt sich, dass Partizipation an Christus nicht einfach mit „vertikaler Dimension“ gleichzusetzen ist.

13. Ortsgemeinde und Gemeinschaft im Neuen Testament

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fasser vor Irrlehrern warnt, diese innerhalb der Gemeinden zu sein scheinen.31 Die Ortsgemeinden der Apokalypse sind selbständig; jede hat ihren eigenen „Engel“. Sie sind aber miteinander verbunden – alle erhalten vom Seher dasselbe Buch; jede weiss also auch darüber Bescheid, was er den andern zu sagen hat. f) Zwanzig Jahre später hat sich die Situation in der selben Provinz etwas verschoben: Ignatius mahnt oft zur Einung (ἕνωσις), worunter er das Sich-Einfügen in die von Gott gestiftete und vom Bischof repräsentierte „Einheit“ versteht, damit die Gemeinde mit ihm „in Einmütigkeit und zusammenklingender Liebe“ (Ign Eph 4,1) zum Chor wird, der Christus besingt. Diese Mahnung hat eine doppelte Stossrichtung: Manche werden ermahnt, zur Versammlung des Bischofs, zur einen Eucharistie zu kommen und die Spaltungen zu fliehen (z. B. Eph 5,1; vgl. Philad 4; Smyrn 7,1 f). Aber viele andere stehen offenbar definitiv draussen und „tragen den Namen in böswilliger Arglist“ (Eph 7,1; vgl. Trall 6,2 f; Philad 6,1; Smyrn 7,2). Grundlegend ist für Ignatius die sichtbare Einheit der Ortsgemeinde. Man kann nicht genug betonen, dass die Mahnungen des Ignatius zur „Einung“ sich auf die Ortsgemeinde beziehen und dass der monarchische Episkopat für die Ortsgemeinde gilt.32 Ignatius ist „episkopalistischer Kongregationalist“.

V. Schlussfolgerungen In unseren Kirchen stehen Strukturreformen an. Was für einen Beitrag kann dieser Aufsatz zu ihnen leisten? Ich versuche, ihn thesenartig zu formulieren. 1. Strukturreformen setzen ein ekklesiologisches Leitbild voraus. Die hierarchisch strukturierte katholische Kirche hat ein solches, die auf den beiden Pfeilern der Eucharistie und des Episkopats ruhenden orthodoxen Kirchen auch. Die protestantischen Volkskirchen mit ihrer Neigung, sich auf „Wort“ und „Sakrament“ zu konzentrieren und die sichtbare Gestalt der Kirche für ein Adiaphoron zu halten und nach den jeweiligen Bedürfnissen der Zeit auszurichten, haben oft keines. Ein Ekklesiologiedefizit scheint eine chronische Krankheit des Protestantismus zu sein.

31  Dies gilt für die „Bileamiten“ und „Nikolaiten“ in Pergamon (2,14 f), die Anhänger der „Isebel“ in Thyatira (2,20) und die Mehrheit der Gemeinde von Sardes (vgl. 3,4). Anders ist es mit den „Aposteln“ in Ephesus (2,2) und vielleicht auch mit den „Nikolaiten“ daselbst (vgl. 2,6). 32 Insofern ist Ignatius nicht ein Vorläufer des Frühkatholizismus, sondern eines konservativen Typus von protestantischem Kongregationalismus mit hierarchischer Struktur: ein Pfarrer, mit und unter ihm das Presbyterium und darunter die übrigen Mitarbeiter / i​nnen der Gemeinde.

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2. Im Neuen Testament, das in einer „Kirche des Wortes“ ja auch für die sichtbare Gestalt von Kirche bedeutungsvoll sein sollte, ist die „Gemeinschaft“ bzw. die „Liebe“ die markanteste und verbreitetste nota ecclesiae. In ihr bündeln sich die „vertikale“ und die „horizontale“ Dimension der Kirche: ihr Leben von der Wirklichkeit und vom Auftrag Gottes bzw. Christi her, und ihre soziale Gestalt. 3. „Gemeinschaft“ und „Liebe“ sind konkret. Sie umfassen alle Aspekte des menschlichen Lebens. Sie finden immer „unten“ statt, zwischen konkreten Menschen. Von Paulus her lässt sich wohl sagen: Eine Kirche, die nicht „unten“, d. h. dort, wo ihre Glieder leben, ganz Kirche ist, ist nicht Kirche. 4. Exemplarische Brennpunkte, an denen Kirche – „vertikal“ und „horizontal“ – als von Christus konstituierte Gemeinschaft erfahren werden kann, sind die Eucharistie (Paulus) und das gemeinsame Gebet (Matthäus). 5. Von der Gemeinschaft bzw. der Liebe als notae ecclesiae her wird es verständlich, warum im Neuen Testament die sich konkret versammelnde Ortsgemeinde der hervorragende Ort33 ist, an dem Kirche sichtbar und erfahrbar wird. Sie ist auch heute ein hervorragender Ort. Gegenüber anderen Sozialgestalten von „Kirche an der Basis“ (die auch eine relative Berechtigung haben) wie z. B. Generationengemeinden, Schicksalsgemeinden, Frauen‑ oder Männerkirchen, Richtungsgemeinden, Migrationsgemeinden auf ethnischer Basis haben sie die Chance, nicht auf Abgrenzungsmerkmalen basieren zu müssen, die aus neutestamentlicher Sicht in Christus überwunden sind (vgl. Gal 3,28; Kol 3,11). Dagegen sind „Gemeinden“, welche auf der Vermittlung von Medien basieren und eine konkrete Gemeinschaft zwischen Menschen höchstens vorbereiten können, wie z. B. Fernseh“gemeinden“ oder Internet“gemeinden“ im neutestamentlichen Sinn (noch) nicht „Kirche“. 6. Wer von anderen Leitbildern von Kirche ausgeht, z. B. von demjenigen der Kirche als einer von Gott eingesetzter rechtlich strukturierter Hierarchie oder vom demjenigen von Kirche als einem die Gesellschaft mit Sinnangeboten und rituellen Angeboten versehenden Dienstleistungsbetrieb, muss wissen, dass er sich am Zentrum des Neuen Testamentes vorbei orientiert.

33  Nicht: der einzige Ort! Die Kirchengemeinschaft auf ökumenischer Ebene ist im Neuen Testament als Ausdruck der Universalität des christlichen Glaubens fundamental wichtig.

14. Das Schriftprinzip und kirchliche Identität heute Eine Thesenreihe Unsere Reformationskirchen wollen allein auf die Schrift gegründet sein. Allein das Wort der Verheissung ist ihre Grundlage. Das Wort steht, so sagt Luther in De Captivitate Babylonica eindrücklich, „in unvergleichlicher Weise über der Kirche“.1 Die Schrift muss freilich von Christus her interpretiert werden; nur dann kann sie „als Richter ein Urteil fällen … , wenn die Aussprüche der Väter einander widersprechen“. Nur dann ist sie „durch sich selbst ganz gewiss, leicht zugänglich, leicht verständlich und ihr eigener Ausleger“. So formulierte es Luther in der Assertio Omnium Articulorum.2 Sich heute noch auf die „Schrift allein“ als Glaubensgrundlage zu beziehen, ist sehr viel schwieriger geworden als zur Zeit unserer reformatorischen Väter. Viele sagen, das protestantische Schriftprinzip sei in eine Krise geraten. Ich denke eher: Es hat sich auf seinem Weg durch die Jahrhunderte verändert, und wir haben das nicht zureichend reflektiert. Dazu möchten meine Überlegungen einen Beitrag leisten. Im Folgenden möchte ich in einem ersten Hauptabschnitt in sieben Thesen andeuten, worin sich das Schriftprinzip geändert hat. In einem zweiten Hauptabschnitt möchte ich  – wieder in sieben Thesen  – skizzieren, wie für mich das Schriftprinzip heute aussehen könnte. Es wird am Schluss allerdings nicht mehr ein protestantisches, sondern ein ökumenisches Schriftprinzip sein. Schliessen möchte ich mit ein paar kurzen und sehr vorläufigen Reflexionen über die Kirche.

I. Warum das klassische protestantische Schriftprinzip nicht mehr funktionieren kann These I. 1.  Die historisch-kritische Methode hat das protestantische Schriftprinzip grundlegend verändert. Noch zu meinen Studienzeiten war die historisch-kritische Methode unan­ge­ foch­ten. Sie ist seither von ihrem alleinseligmachenden Thron gestossen worden.  Martin Luther, De Captivitate Babylonica, WA 6, 560 f.  Martin Luther, Assertio omnium Articulorum …, WA 7, 97.

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Durch andere Methoden wurde sie ergänzt und erweitert. Sie hat sich auch verändert, aber sie wurde nicht verabschiedet. Sie ist zusammen mit der Aufklärung, die sie hervorgebracht hat, zu einem Denkschicksal geworden, das wir nicht rückgängig machen können. Sie hat uns geprägt und ist in gewisser Weise ein Teil unserer selbst geworden. In dreifacher Weise hat sie das klassische protestantische Schriftprinzip grundlegend verändert. 1. Die historisch-kritische Methode hat 1. zur Entdeckung der Kontextualität aller biblischen Texte geführt. Jede neutestamentliche Schrift, ja, jeder einzelne Text ist in einen historischen, sozialen, kulturellen und psychologischen Kontext eingebettet und in diesem Sinn zeitbedingt. Mittelbar hat historisch-kritische Methode auch zur Entdeckung unserer eigenen Kontextualität geführt und uns Bibelinterpreten ermutigt, unsere eigene Kontextualität ernst zu nehmen und zu reflektieren. Das ist mir sehr wichtig, denn die meisten von uns Exegetinnen und Exegeten tun das viel zu wenig. 2. Die historisch-kritische Methode hat den hypothetischen Charakter aller ihrer Thesen, Interpretationen, Urteile und Resultate klar gemacht. Alle historischen Urteile sind Wahrscheinlichkeitsurteile. Wir mussten die traditionellen Aussagen über die direkt oder indirekt von Gott inspirierten Verfasser der Heiligen Schriften fahren lassen. An ihre Stelle traten hypothetische Wahrscheinlichkeitsurteile über ihre menschlichen Verfasser, über Echtheit und Unechtheit von Schriften, und über Quellen und Traditionen. An die Stelle Jesu Christi traten unsere eigenen, umstrittenen und sehr hypothetischen Jesusbilder. Und mit diesen Bildern traten zugleich wir selber auf den Plan. Wir selbst sind es ja, die diese Bilder aus den Quellen und aus der Tradition nach bestem Wissen und Gewissen konstruieren. Aber wie – und das ist auch eine offene Frage an mich selbst – wie kann man an ein selbst konstruiertes Jesusbild glauben? 3. Die historisch-kritische Methode hat sich auch mit dem Kanon beschäftigt und die Kontextualität und den Wandel auch des biblischen Kanons aufgezeigt, welcher dem protestantischen Schriftprinzip zugrunde liegt. Ich denke hier nicht primär an seinen Umfang, sondern an die Art seiner Autorität. Zwischen der Leitlinie der Wahrheit, welche der Kanon in der Alten Kirche war, über die Hochblüte des Kanons in der altprotestantischen Orthodoxie, als der Kanon bis zum letzten Jota und Häkchen inspiriert war, bis zu den Dekanonisierungsprozessen, die wir heute erleben, hat sich die Autorität des Kanons verändert. Zugespitzt kann man sagen: Nie war der Kanon das, was er früher war. Auch das protestantische Schriftprinzip hat sich mit dem sich wandelnden Kanon gewandelt. Wir wären blind, wenn wir das nicht zugäben und dumm, wenn wir das nicht reflektierten.

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These I. 2:  Die Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte stösst die Bibel vom Thron ihrer Heiligkeit in die Niederungen der Ambivalenz. Ich will nicht nur auf bekannte Dinge hinweisen: Etwa auf die Wirkungsgeschichte derWeherede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten, Mt 23. Sie hat in der Neuzeit nicht nur unser negatives Bild der Pharisäer, sondern oft auch das negative Bild des indirekt pharisäisch geprägten Judentums insgesamt geprägt. Oder ich erinnere an die Wirkungsgeschichte von Endgerichtstexten, etwa von Mt 24 oder der Schlusskapitel der Johannesapokalypse. Diese Kapitel haben – verstärkt durch die Autorität der Kirchen  – unzählige fromme Menschen in tiefste Qualen und Nöte gestürzt. Die meisten dieser Menschen sind nicht durch die Verkündigung des Evangeliums, also durch die Kirche, von diesen Qualen befreit worden. Sie haben sich selbst von der Last dieser Texte befreit und haben sich zugleich auch von der Kirche und ihrer Bibel abgewandt. Lieber weise ich auf etwas weniger Bekanntes hin, nämlich auf die Wirkungsgeschichte des Paulus in unseren protestantischen Kirchen. Wir haben Paulus sehr selektiv rezipiert. Rezipiert haben wir den Paulus der Rechtfertigungslehre, aber nicht etwa den mystischen Paulus. Wir haben seine Ekklesiologie rezipiert, aber wir haben in unseren Pastorenkirchen über die Gemeindepraxis, wie sie z. B. in der korinthischen Gemeinde geübt wurde, gerne hinweggesehen. Hier sind die Pfingstler und charismatische Gruppen Paulus viel näher als die Kirchen des protestantischen mainstreams. Die Strukturen unserer Pastorenkirchen haben ihre nächsten neutestamentlichen Verwandten in den Pastoralbriefen oder sogar bei Ignatius von Antiochien. Und wie wäre es, wenn die Rechtfertigung des Einzelnen gar nicht das Zentrum der paulinischen Theologie wäre, wie heute immer öfter betont wird? Kurz: Unsere protestantische Paulusrezeption ist wahrscheinlich auf mehr als einem Auge blind. Vielleicht steht sie primär im Dienst der Selbstbestätigung unserer eigenen kirchlichen Tradition. These I. 3:  Schrift und Tradition können einander nicht mehr antithetisch gegenübergestellt werden, denn die Schrift ist eingebettet in die Tradition, ja, sie ist ein Produkt der Tradition. Entscheidende Anstösse gaben hier Erkenntnisse der bibelwissenschaftlichen Forschung einerseits und des 2. Vaticanums andererseits (Dei Verbum 8 und 9). Beide haben die seit dem Tridentinum festgezimmerten konfessionellen Fronten aufgelockert. Wir wissen, dass mündliche Traditionen der Schrift vorausgingen. Sie wurden in schriftlicher Gestalt notiert und schliesslich in Gestalt der Evangelien aufgeschrieben. Zugleich aber ging die mündliche Tradition weiter: Schriftliche Texte wurden wieder vermündlicht. Neue mündliche Traditionen wurden den ersten schriftlichen Texten hinzugefügt. Dieser Prozess lief auch im 2. Jahrhundert weiter. Die Schrift selbst ist also ein Produkt der Tradition.

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Das Verhältnis zwischen Schrift und Tradition muss neu durchdacht werden; frühere konfessionelle Positionen können dabei keine Rolle mehr spielen. Auch die EKiD hat dies erkannt: In ihrem Grundlagentext zum kommenden Reformationsjubiläum heisst es: „Anders als die Reformatoren ist man sich heute dessen bewusst, dass das Entstehen der einzelnen biblischen Texte und des biblischen Kanons selber ein Traditionsvorgang ist.“3 These I. 4:  Bibelleserinnen und Bibelleser sind heute individuelle und mündige Leserinnen, welche dem Bibeltext als gleichberechtigte Partnerinnen in einem offenen Dialog gegenübertreten wollen. Die Literaturwissenschaft des 20. Jh.s hat sich intensiv mit der Rolle des Lesers und der Leserin und mit dem Akt des Lesens beschäftigt. Einig sind sich die Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler darin, dass der Leser eine gegenüber dem Text eigenständige Instanz ist und den Lesevorgang mitbestimmt. Uneinig sind sie sich darüber, wie stark dies geschieht. Ist der Leser oder die Leserin alleinbestimmend? Dann wäre der Text fast irrelevant. Es gibt ein Bonmot, das dem amerikanischen Literaturwissenschaftler und Philosophen Stanley Fish zugeschrieben wird: Ein Text ist, „what you make out of it“. Textlektüre, auch Bibellektüre, hätte dann keinen Sinn mehr, weil jeder Leser und jede Leserin in einem Text nur das fände, was sie oder er selbst ohnehin denkt oder was ihre Interpretationsgemeinschaften von ihnen erwarten. Dem gegenüber postulierten gemässigte Lese-Theoretiker, allen voran Umberto Eco und Wolfgang Iser, eine Art Gleichgewicht zwischen dem Text und dem Leser: Beide können und sollen aufeinander einwirken. Allerdings ist das eine ideale Theorie. Eine Fülle von Missbräuchen bestimmt gerade die Lektüre der kanonischen biblischen Texte: Es gab und gibt Lektüren zum Zwecke der Selbstlegitimierung. Es gab und gibt Lektüren mit dem Ziel der Legitimierung der eigenen Macht oder des status quo. Heute, in der sog. Postmoderne, gibt es auch eine grosse Fülle spielerischer und völlig beliebiger Lektüren. Kurz, es gibt hier nichts, was es nicht gibt! Das kann einem Exegeten das Schaudern beibringen! In der Realität ist es oft wirklich so, dass ein Text ist, „what you make out of it“: Dann seufzt man: O wäre es doch nur so, wie es die gemässigten Lese-Theoretiker postulieren! Aber eben: ihre Lesetheorie ist leider eine ideale Theorie, die sagt, wie ein Lesevorgang ablaufen sollte. Das alles sind moderne Probleme, welche die Reformatoren nicht kannten. Aber sie stellen das protestantische Schriftprinzip ernsthaft in Frage: Auf die Schrift allein k a n n man offensichtlich keine Kirche gründen. Höchstens eine Fülle sehr verschiedener Individuen können ihre persönliche Identität auf ihre Lektüre der Schrift gründen. Ohne den individuellen Leser oder die individuelle 3  Rechtfertigung und Freiheit: 500 Jahre Reformation 2017: ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014, 83.

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Leserin, welche den Sinn der Texte aktiv mitgestalten, geht heute nichts mehr. – Aus der Sicht des Neuen Testaments hat das allerdings auch eine positive Seite: Freiheit von allen möglichen Gesetzen, z. B. auch von kirchlichen Gesetzen – gehört zu den Kernanliegen der paulinischen Botschaft. Das Neue Testament schreibt keine Lesebrille vor, die für seine Lektüre die richtige ist, sondern ermutigt seine Leserinnen, zur eigenen Lesebrille zu greifen. Die nächste These kehrt zum Neuen Testament zurück und beschäftigt sich mit der Vielzahl der unterschiedlichen Stimmen, die in ihm zu Wort kommen. These I. 5:  Das Neue Testament ist ein vielfarbiges Buch, welches uns sehr viele verschiedene Standpunkte, Glaubensweisen, Gemeindekontexte und Formen der Abgrenzung überliefert, darunter auch gegensätzliche. Ich denke hier nicht nur an unterschiedliche Texte wie die Paulusbriefe und den Jakobusbrief, die Apokalypse, oder die vier verschiedenen Evangelien, welche die Kirche gerade nicht einem Diatessaron harmonisiert hat. Dazu kommen noch andere Dinge: Wir dürfen gerade als Protestanten, die wir jahrhundertelang als Häretiker galten, die Stimmen derjenigen nicht vergessen, die in den neutestamentlichen Texten ihre eigene Stimme verloren haben oder deren Stimmen zum Verstummen gebracht wurden. Zu ihnen gehören z. B. der Herrenbruder Jakobus oder die sog. galatischen Häretiker. Sie haben auf ihre Art und Weise die Einheit der Kirche ebenso angestrebt wie Paulus selbst. Aber ihnen ging es um eine Kirche in Israel und nicht um eine Kirche neben Israel. Zu den weitgehend verstummten Stimmen gehört fast das ganze jüdische Christentum. Zu den umstrittenen und oft abgelehnten Grossen im Neuen Testament gehört nicht zuletzt Paulus selbst. Viele Christusgläubige haben nach neutestamentlichen und späteren Zeugnissen Paulus abgelehnt. Lukas hat im zweiten Band seines Doppelwerks grosse Mühe darauf verwendet, um Paulus im Konsens der ganzen apostolischen Kirche fest zu verankern. Deswegen hat er wohl alle Konflikte um Paulus in den paulinischen Gemeinden verschwiegen, sogar seine Briefe. Darum hat er gerade Jakobus und Petrus auf dem Apostelkonzil zu Fürsprechern der paulinischen Sache gemacht. Die Alte Kirche, welche im Kanon die Apostelgeschichte schliesslich zwischen die Evangelien und die paulinischen Briefe platzierte, ist Lukas auf dieser Spur gefolgt: Paulus ist für sie ein Apostel der ganzen Kirche, aber nur einer unter mehreren. Auf ihre Weise sind auch die Pastoralbriefe ein Versuch, Paulus als Apostel und Lehrer für die Gesamtkirche zu erhalten. Kurz, das Neue Testament ist noch vielfarbiger und spannungsreicher als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Von „ein Herz und eine Seele“ kann im Neuen Testament keine Rede sein! Als ein Grunddokument, mit dessen Hilfe man in strittigen Fragen Urteile fällen kann, wie es Luther in der „Assertio“ meinte, ist es völlig ungeeignet. Die Geschichte der Reformationskirchen hat uns denn auch

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zur Genüge gezeigt, dass Urteile, welche man vermeintlich aufgrund der Schrift allein fällte, immer wieder zu neuen Kirchenspaltungen führten. – Aber es gibt auch hier eine positive Kehrseite der Medaille, nämlich: In der Schrift können sich – Gott sei Dank – sehr viel mehr und viel verschiedenartigere Kirchen und Bewegungen wiederfinden, als dies die Reformatoren je träumen konnten. Diese Einsicht wird für den zweiten Teil meiner Thesenreihe wichtig sein. These I. 6:  Jesus war Jude und wusste sich zu Israel gesandt. Auch diese Erkenntnis muss ein von Christus als Zentrum her verstandenes Sola-ScripturaPrinzip verändern. Gott ist nicht einfach Mensch geworden, sondern er ist Jude geworden. Jesus war ein Jude aus dem galiläischen ‘am ha‘aräz. Mit den Pharisäern, mit denen er nach dem Lukasevangelium viele gute Kontakte, aber auch viele Auseinandersetzungen hatte, verband ihn, dass es auch ihm um Ganz-Israel ging, nicht um eine Elite oder um einen Heiligen Rest. Von ihnen trennte ihn sein Verständnis der Torah. Rituelle Gebote gehörten für ihn zu den kleinsten, unwichtigsten Geboten der Torah; für die Pharisäer waren sie ebenso wichtig wie alle anderen Gebote der Torah auch. Jesus wusste sich nur zu Israel gesandt, obwohl er in Einzelfällen für Heiden offen war. Der Gedanke, zur Gründer‑ und Erlösergestalt einer vom Judentum verschiedenen Weltreligion zu werden, hätte ihn vermutlich mit Entsetzen erfüllt. Aus seiner Sicht wären wir Heidinnen und Heiden vielleicht vorzeitig angenommene Adoptivkinder des Bundesgottes Israels. Ich meine also, dass das Sola-Scriptura-Prinzip sich verändern muss, wenn man ernst nimmt, dass Jesus Jude war und sich nur zu Israel gesandt wusste, zu einem Israel, das er allerdings sehr weit und offen verstand. Ich welche Richtung müsste diese Veränderung gehen? Ich denke, dass die christlichen Kirchen durch den Juden Jesus dauernd auf Israel bezogen bleiben müssen. Mit Israel meine ich nicht den Staat Israel in seiner heutigen Gestalt, sondern das Gottesvolk Israel. Ich denke, dass es ohne jüdisch-christlichen Dialog keine Kirche geben kann. Darum denke ich auch, dass das Alte Testament in den christlichen Kanon gehört, weil es die Bibel Jesu war. Das schliesst natürlich nicht aus, dass es im Alten Testament viele Texte gibt, die wir heute als zeitgebunden oder als inhaltlich inakzeptabel ablehnen werden. Für das Neue Testament gilt das aber genau so. These I. 7:  Die Tatsache, dass die Bibel – nicht zuletzt durch die christlichen Kirchen  – zum Weltkulturerbe geworden ist, kann nicht ohne Folgen für das Sola-Scriptura-Prinzip bleiben. Heute lesen nicht nur Christinnen und Christen die Bibel, sondern viele andere Menschen lesen sie auch: Kulturwissenschaftlerinnen, Atheisten, Hindus,

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säkulare Menschen, Buddhistinnen, Muslime. Sie lesen sie aus den unterschiedlichen Gründen und mit den unterschiedlichen Interessen. Schon 1970, als ich zum ersten Mal in Japan unterrichtete, hatte ich den Eindruck, dass die Mehrzahl meiner nicht-christlichen Studierenden und viele Japaner überhaupt die Bibel viel intensiver läsen als die Mehrzahl der protestantischen Christen in Europa. Sie lasen sie aus Interesse für das Fremde, für das, was nicht ihr eigen war. Sie lasen sie aus Interesse für die westliche Welt, weil sie den Eindruck hatten, mit Hilfe der Bibel liesse sie sich besser verstehen. Sie lasen sie, weil sie in Japan vielen unterschiedlichen Gestalten des Christentums begegneten, welche sich alle auf ganz unterschiedliche Weise auf die Schrift beriefen. Sie lasen sie aber auch aus persönlichem Interesse, weil sie von ihr Hilfen für die Deutung ihres eigenen Lebens erwarteten. Was heisst das alles für unser eigenes Lesen der Bibel? Zum Bibellesen gehört immer ein Dialog. Dieser Dialog muss lokal stattfinden als Gespräch mit Menschen in unserer Umgebung aus allen Konfessionen, aber auch mit Kirchenfremden und Atheisten. Er muss auch global stattfinden, und zwar nicht nur als ökumenischer, sondern auch als ein interreligiöser Dialog, der eingebettet ist in einen interkulturellen Dialog. Ein solcher Dialog ist immer ein Geben und ein Empfangen. Wir verfügen in einem offenen Dialog nicht über das, was wir von Dialogpartnern empfangen oder über das, was wir ihnen geben. Ein Dialog hat immer die Gestalt des Fragens und nie diejenige des Recht-Habens. Wer die Wahrheit zu besitzen meint, hat sie gerade dadurch wahrscheinlich schon verloren – das gilt auch für Kirchen, die aufgrund ihres Bibelverständnisses allein Recht zu haben meinen. Das sind einige der Transformationen, welche das Sola-Scriptura-Prinzip bis heute erfahren hat. Sie kamen zum Teil von innen und waren durch die Bibel selbst angestossen. Zum Teil kamen sie von aussen, durch geistesgeschichtliche und gesellschaftliche Umbrüche, durch die Individualisierung, Privatisierung, Säkularisierung und Globalisierung unserer Welt.

II. Momente eines ökumenischen und dialogischen Schriftprinzips für heute Es mir gerade nicht darum, das Sola-Scriptura-Prinzip für gescheitert zu erklären. Ich will es nicht auflösen, sondern in neuer Weise aufrichten, so, dass es für unsere Zeit – oder ich muss bescheidener sagen: mindestens für mich – „stimmt“. Dazu formuliere ich wiederum sieben Thesen.

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These II. 1:  Das Schrift-Prinzip ist ein ökumenisches Prinzip. Für a l l e Kirchen ist die Bibel ihr grundlegendster Bezugstext. Auf die Bibel als alleinige Grundlage der Kirche berufen kann man sich heute nur im ökumenischen Dialog. Die Bibel gehört keiner Kirche allein. Sie ist auch der Grundtext der katholischen Kirchen und der Grundtext der orthodoxen Kirchen. Sie ist der Grundtext aller protestantischen Konfessionskirchen, der grossen Volkskirchen, der sog. Freikirchen, der Gemeinschaften und Bewegungen. Blenden wir das aus, so stehen wir in grosser Gefahr, nicht die Bibel, sondern eine bestimmte Weise ihrer Interpretation zur Grundlage der Kirche zu erklären. Wir tun das oft ganz unreflektiert. Ein Beispiel: Wir Protestanten neigen dazu, das Neue Testament von vorne her zu lesen. Wir geben darum dem authentischen Paulus den Vorrang vor den Pastoralbriefen. Katholiken und Orthodoxe lesen die Bibel eher von hinten her; sie lesen Paulus von seiner kirchlichen Rezeption her, z. B. von den Pastoralbriefen her. Warum aber sollte die protestantische Leseweise „schriftgemässer“ sein als die katholische? Wir haben es ja den späteren Schriften des Neuen Testaments, Lukas und den Pastoralbriefen, zu verdanken, dass die ganze Kirche Paulus als kirchlichen Apostel rezipiert hat. Ich denke also, die Kirchen sollten die das Neue Testament weder einfach von vorne, noch einfach von hinten lesen, sondern beides.4 Das Sola-Scriptura-Prinzip erlaubte den Reformatoren, auf der Grundlage der Bibel für die Kirche gültige Entscheidungen zu fällen. Dem gegenüber formuliere ich meine zweite These, die These von der Vorläufigkeit: These II. 2.  Kein Interpretationsprinzip, keine Interpretation und keine Anwendung der Bibel kann definitiv oder gar normativ sein. Alle Entscheidungen aufgrund der Bibel sind vorläufig und provisorisch und müssen in einem offenen, ökumenischen Dialog zur Diskussion gestellt werden. Ich nehme als Beispiel den Versuch, ein Eherecht zu formulieren, das biblischen Grundlagen entspricht. Von alters her liegt hier ein Streitpunkt zwischen den Konfessionen. Die katholische und die orthodoxen Kirchen lassen im Prinzip keine Ehescheidung zu. Sie tun das aus der Überzeugung heraus, dass die Ehe zwischen Mann und Frau eine grundlegende Schöpfungsordnung ist, welche vom Juden Jesus gegen alle Aufweichungen durch die Schriftgelehrten seiner eigenen Zeit wieder hergestellt wurde. Sie haben darin Recht. Aber wir kennen auch all die negativen Folgen des Festhaltens an Jesu Scheidungsverbot im Alltag von Paaren und die Purzelbäume der katholischen kirchenrechtlichen Kasuistik, die sie machte, um diese Probleme zu lösen. Die Protestanten lassen Scheidungen zu. Durch die reformatorische These, dass die Ehe kein Sakrament,  Vgl. unten These II. 4.

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sondern ein „weltlich Ding“ sei, wurde das erleichtert. Aber was heisst das für uns heute, wo in vielen westlichen Staaten nicht nur Ehen zwischen Mann und Frau, sondern auch auf Dauer angelegte Partnerschaften zwischen Lesben und Schwulen und oft auch transsexuelle Partnerschaften juristisch als Ehe anerkannt werden? Unsere schweizerischen reformierten Kirchen haben eine Tendenz, unter Berufung auf das reformatorische Prinzip, dass die Ehe ein weltlich Ding sei, überallhin mitzulaufen, wohin der Staat läuft. Viele möchten alle Eheschliessungen, welche der Staat gestattet, kirchlich nachvollziehen, sofern das überhaupt noch gewünscht wird. Die Grundlage solcher Tendenzen ist nicht die Schrift, sondern die Tradition, in diesem Fall die reformatorische. Was heisst nun in dieser schwierigen Frage „Schriftgemässheit“? Ich beantworte diese Frage hier nicht, sondern weise auf meine These: Keine Berufung auf die Bibel kann absolut sein, alle sind provisorisch. Alle sind tastende Versuche, mit Hilfe der Bibel einen Weg zu finden. Alle Kirchen haben den Dialog mit andern Kirchen der weltweiten Kirchenfamilie nötig, um sich an der Schrift zu orientieren und sich von ihnen gegebenenfalls zu ihrer eigenen Sache, nämlich dem Evangelium rufen zu lassen. These II. 3.  Wer die Schrift von Christus als ihrer Mitte her interpretieren will, muss ernst nehmen, dass der erinnerte und bezeugte Jesus Christus im Neuen Testament viele Gestalten und Gesichter hat. Das erfordert einen intensiven Dialog mit allen Christuszeugnissen des Neuen Testaments und mit allen Kirchen in der Gegenwart. Die Reformatoren interpretierten „Christus“ im Wesentlichen von Paulus her als den zur Sühne für unsere Sünden gekreuzigten Gottessohn. Heute sehen wir, dass das nur ein Aspekt der paulinischen Christologie ist, nicht der einzige. Paulus bekannte Christus auch als den Herrn, der lebendigmachender Geist ist; das ist eine wichtige Grundlage seiner eigenen Frömmigkeit, die man vielleicht „mystisch“ nennen könnte.5 Und wie sieht „Christus als Mitte der Schrift aus“, wenn man mit den meisten östlichen Kirchen vom österlichen Erhöhungskerygma aus denkt, wie es das Johannesevangelium tut? Das Johannesevangelium interpretiert den Sohn schon im Prolog als Mensch, in dem Gottes Herrlichkeit sichtbar wird, also als auf Erden leibhaftig sichtbar gewordenes Antlitz Gottes. Westliche Interpreten haben mit dieser Johannesinterpretation immer wieder Mühe gehabt und haben versucht, die Inkarnation ins Zentrum der johanneischen Theologie zu rücken.

5 Vgl. dazu meine Aufsätze: Ulrich Luz, Paulus als Mystiker, in: ders., Exegetische Azûfsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 481–492; und: Paulus als Charismatiker und Mystiker, ebd. 493–510.

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Oder wie sieht „Christus als Mitte der Schrift aus“, wenn man versucht, ihn von den synoptischen Evangelien her zu interpretieren? Dann rücken ganz andere Aspekte in den Vordergrund, z. B. Jesus als einziger Lehrer oder Jesus als Lebensmodell im Matthäusevangelium. Kurz: Wenn wir von der ganzen Schrift ausgehen und nicht nur von Paulus, dann wird das, was „Christus als Mitte der Schrift“ heissen könnte, farbenreich. Darum formuliere ich in der nächsten These: These II. 4.  Das Sola-Scriptura-Prinzip heisst, die g a n z e Schrift ernst zu nehmen und nicht nur Ausschnitte aus der Schrift, die den eigenen Interpretationsvorlieben oder der eigenen kirchlichen Tradition entsprechen. Ich möchte an einen wichtigen Aufsatz von Hans Küng erinnern, den er vor über 40 Jahren in einem Sammelband über das Neue Testament als Kanon veröffentlicht hat. In ihm griff er den verbreiteten protestantischen Versuch, aufgrund des Prinzips „solus–Christus“ einen Kanon im Kanon zu formulieren, an und meinte bissig: „Nur einen Teil gelten zu lassen ist Wahl, d. h. Häresie“. Er selber interpretierte das „Sola-Scriptura“ durch ein ergänzendes „tota Scriptura“ – die ganze Schrift. Seine eigene Schriftauslegung verstand er als Versuch, „das ganze Neue Testament als Evangelium zu verstehen“. Auch ihm gelang das nicht bei allen Schriften. Manchmal müsse man, so sagt er dann, es dabei bewenden zu lassen, alle neutestamentlichen Texte in dem, was sie sagen wollen, wenigstens ausreden zu lassen und anzuhören. Ein Kanon im Kanon könne nur ein „Korrektiv“ gegenüber der „ganzen Schrift“ sein, aber kein „Konstitutiv“ der Auslegung.6 Küng hat m. E. Recht. Ich möchte noch präzisieren: Ein Individuum, eine einzelne Bibelleserin, muss ihre oder seine eigene, persönliche Mitte der Schrift festlegen. Diese persönliche Mitte muss sie im Gespräch mit der ganzen Bibel immer wieder neu überprüfen. Für eine Kirche aber muss die ganze Schrift Grundlage bleiben, sonst isoliert sie sich im ökumenischen Dialog und wird in dem Sinn, wie es Hans Küng beschreibt, „häretisch“. These II. 5:  Mündige Bibelleserinnen und Bibelleser lesen die biblischen Texte, weil sie auf sie hören wollen und sie ernst nehmen. Aber sie können das nur auf ihre persönliche Weise tun. Sie sollen ihre eigenen Lebens‑ und Glaubenserfahrungen und ihre Überzeugungen in die Bibellektüre einbringen. Eigentlich ist das ja selbstverständlich. Aber ich sage es trotzdem, weil es für uns Theologen oft schwierig ist, aus der eigenen, doppelt dominanten Rolle als theologisch Gebildete und als kirchliche Amtspersonen herauszuschlüpfen. 6 Hans Küng, Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als kontroverstheologisches Problem, in: Ernst Käsemann (Hg.), Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970, dort 175–204.

14. Das Schriftprinzip und kirchliche Identität heute

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Wir können nur versuchen, uns immer wieder bewusst zurückzunehmen und sollten  – so denke ich  – in Gesprächen mit sogenannten Laien lieber einmal zuviel schweigen, als einmal zuviel reden. Zu einem heutigen Schriftprinzip gehört ein offener und gleichberechtigter Dialog mit sogenannten Laien. Ihre Erfahrungen sind zum Verstehen der Schrift wichtig. In der Hermeneutik gibt es dafür ein paar Ansätze in Gestalt von „ordinary-people-hermeneutics“ oder von Hermeneutik des „reading with“, d. h. der gemeinschaftlichen Bibellektüre mit einfachen Leuten. Sie kommen ausnahmslos aus Afrika und aus Südamerika, nicht aus Europa.7 These II. 6:  Die Reformatoren und ihre theologischen Nachfahren haben zu wenig darüber nachgedacht, warum die Evangelien in allen Kirchen die wichtigsten und wirkungsmächtigsten neutestamentlichen Schriften geworden sind – gerade für nicht-theologische Bibelleserinnen. Die Evangelien erfordern ein beteiligtes Lesen „von innen“, welches eigene Erfahrungen mit einschliesst. Ein in theologischen Sätzen formuliertes Schriftprinzip ist von ihnen her m. E. ausgeschlossen. Die Beziehung zwischen Erzählung und Leser‑ oder Hörerinnen funktioniert bei den verschiedenen Evangelien je etwas anders. Ich deute Einiges zum Matthäusevangelium an. Das Matthäusevangelium ist eine inklusive Geschichte, d. h. sie „schliesst“ die Erfahrungen der Leserinnen mit „ein“. Ich nehme als Beispiel die dort besonders zahlreichen Blindenheilungen. Eine Blindenheilung erzählt nicht nur eine damals geschehene Heilung eines Blinden, sondern sie spricht auch von der gegenwärtigen Befreiung von spiritueller Blindheit, welche die Gemeindeglieder durch den Glauben an Jesus erfahren haben. Sie hören eine solche Geschichte als Beteiligte, von innen und nicht nur von aussen. Sie bringen darum auch ihre Emotionen in die Lektüre ein, in diesem Fall ihre Freude und ihre Dankbarkeit. Die evangelischen Geschichten sprechen die Herzen der Menschen an. Sie Evangelien wurden Volksbücher, im Unterschied zu den neutestamentlichen Briefen. Darin entsprechen sie Jesus, der auch ein Mann des Volkes war und zu den Herzen der einfachen Menschen sprach. Mit dieser These möchte ich eine Frage an unsere reformatorischen Kirchen verbinden. Wir sind sehr einseitig theologie orientiert und damit auch theologen zentriert. Vielleicht ist die gegenwärtige Finanzkrise unserer Kirchen auch eine Chance für unsere Kirchen. Ich denke, dass wir unsere Kirchen nicht von oben herab noch besser organisieren sollten, sondern wir sollten sie vermehrt von unten her als Kirche verantwortlicher Laien gestalten. 7 Vgl. dazu z. B. Justin Ukpong, Hermeneutik der Inkulturation, in: Walter Dietrich u. a. (Hg.), Die Bibel im Weltkontext, Zürich 2002, 33–51; Gerald O. West, Biblical Herme­ neutics of Liberation, Pietermaritzburg 1991, 178.

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II. Studien zur Ekklesiologie

These II. 7.  In den meisten dieser Thesen kam das Wort „Dialog“ vor. Es bildet gleichsam die verbindende Klammer zwischen den bisherigen Thesen. Unter „Dialog“ verstehe ich einen offenen Dialog, in dem 1. der Text und die Leser / ​innen, 2. alle am ökumenischen Dialog beteiligten christlichen Kirchen und Be­ wegungen und 3. die mündigen Bibelleserinnen und ihre Kirchenleitungen gleichberechtigte Partner sind. Ein Dialog kommt erst dort zu einem vorläufigen Ende, wo ihn jemand verweigert. Natürlich gibt es manche Christen, welche einen offenen Dialog unter Gleichberechtigten verweigern. Dazu gehören viele Fundamentalisten. Dazu gehören Kirchen, welche andere Teilkirchen nur als kirchenähnliche Gebilde, aber nicht als Kirche im vollen Sinn des Wortes betrachten. Ich denke: Wir alle sind nicht im vollen Sinn des Wortes Kirchen. Wir alle sind Kirche auf Bewährung, Kirche unterwegs. Wir alle brauchen Schwestern und Brüder aus anderen Kirchen, um uns an ausgeblendete oder verdrängte Aspekte des Schrift-Prinzips erinnern zu lassen. Nur so kann das Schriftprinzip heute in ökumenischem Geist funktionieren. In einem solchen ökumenischen Geist sollten wir auch das Reformationsjahr feiern und zusammen mit unsern katholischen Schwestern und Brüdern unser gemeinsames Schriftprinzip in seinen Mittelpunkt stellen.

III. Schlussüberlegung: Die Bibel als nota ecclesiae Die Kirche ist nach reformatorischem Verständnis eine „creatura verbi“. Wie könnte eine Kirche aussehen, welche auf ein in dieser Weise ökumenisch-dialogisch verstandenes Schriftprinzip gegründet ist? Für mich ist Kirche eine Gesprächsgemeinschaft über die Bibel. Ich verstehe unter Kirche „eine grenzenlose Dialoggemeinschaft von Konfessionen und von Menschen, die auf die Bibel hören und sie auslegen, die unterwegs sind auf einem Weg zu wechselseitigem Verständnis, zu Konsens und zur Liebe“.8 Das ist keine erschöpfende Definition von Kirche, sondern eine vorläufige. Sie passt für jede Kirche, die sich selbst als vorläufige Kirche versteht. Sie stimmt für jede Kirche oder Gemeinschaft, die auf ihre Bibel zu hören versucht und die mit der Bibel unterwegs ist zum Eschaton. Dann wird Gott entscheiden, wer sich als wahre Kirche bewährt hat (Mt 13!). Es geht hier also nicht darum, eine erschöpfende Definition von Kirche zu geben, sondern eher eine Art Wegweiser. Diese Definition will den Kirchen einen Weg weisen. welcher ihnen hilft, wahrere Kirche zu werden. Diese Wegweiser-Definition entspricht insofern reformatorischem Kirchenver Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen 2014, 556.

8

14. Das Schriftprinzip und kirchliche Identität heute

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ständnis, als auch die Reformatoren Kirche als hörende Gemeinschaft verstanden. In einer hörenden Gemeinschaft kommt das Hören und der Dialog vor dem Definieren, dem Bekennen und dem Handeln. Eine solche Hör‑ und Dialoggemeinschaft weiss, dass es in einer Kirche keine Bekenntnisse geben kann, die abschliessend sind, und keine Entscheidungen, die unrevidierbar sind, weil dies ein andauerndes Hören einschränken oder im Extremfall überflüssig machen würde. Kirche, als hörende und lesende Dialoggemeinschaft über die Bibel verstanden, will verhindern, dass irgend eine Kirche, nicht nur die katholische, sondern auch protestantische, sich selbst verabsolutieren und in ihrer Selbstverabsolutierung erstarren. Vielleicht ist es ein grosses Geschenk für uns Protestanten, dass wir in unzählige Landeskirchen, Konfessionskirchen, Freikirchen, Gemeinschaften, landeskirchliche Bewegungen usw. zersplittert sind. So kommen wir nie in Versuchung, unsere eigenen Teilkirchen für die wahre oder für die beste zu halten. Wir Protestanten wissen vielleicht am besten, dass wir nur kirchliche Provisorien bewohnen und zusammen mit allen anderen Kirchen unterwegs sind zu unserem gemeinsamen Herrn.

III. Studien zur Hermeneutik

15. Einleitung Die folgenden sieben Studien sind Vorarbeiten zu meiner „Theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments“.1 Sie sind in chronologischer Reihenfolge abgedruckt. Der erste Beitrag „Erwägungen zur sachgemässen Interpretation neutestamentlicher Texte“ (= Nr. 16) enthält meine Berner Antrittsvorlesung von 1981. Sie entstand, nachdem nach 1968 die Exegese ein Jahrzehnt lang ein Aschenbrödeldasein gefristet hatte und von vielen Studierenden für gänzlich überflüssig angesehen worden war. Insbesondere die historisch-kritische Methode wurde in Frage gestellt; die Studierenden der Göttinger Studieneingangsphase erklärten mir 1972, die historisch-kritische Methode könne man an einem Vormittag „abhaken“. Aus dieser Situation wird vieles in in diesem Aufsatz verständlich: Er ist nicht nur grundsätzlich, sondern zugleich sehr situationsbezogen. Das deuten die „Problemanzeigen“ im Abschnitt I an. Meine eigene Berner Antrittsvorlesung war eine von drei fast gleichzeitigen Berner Antrittsvorlesungen, die sich mit der Wahrheit von biblischen Aussagen heute beschäftigten – eine schöne Koinzidenz!2 Gemeinsam ist allen, dass es in ihnen um die Wahrheit biblischer Aussagen heute ging – eine Grundfrage, die auch meinen Matthäuskommentar bestimmt und ihn von den meisten Kommentaren zum Neuen Testament unterscheidet. Die Vorlesung war in ihrer Dichte eine Zumutung für die Hörerinnen und Hörer. Ich hatte ihnen darum eine Thesenreihe zur Verfügung gestellt, die am Schluss des Aufsatzes abgedruckt ist und den „roten Faden“ aufzeigt. Vieles von dem, was mich in meiner Theologischen Hermeneutik von 2014 beschäftigte, ist hier bereits angelegt. Die Grundfrage ist die nach der Wahrheit der neutestamentlichen Texte heute (vgl. Abschnitt III). Abschnitt II formuliert hermeneutische Zielvorstellungen: Ich suche ein ganzheitliches Verstehensmodell, das die Geschichte Jesu Christi zum Verstehen bringt und zugleich der Freiheit zu neuen Interpretationen, welche neutestamentliche Texte ihren Leserinnen und Lesern schenken, Raum gibt. Aus einem allgemeinen, philosophischen oder sprachwissenschaftlichen Verstehens Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen 2014. anderen beiden sind diejenigen von Alfred Schindler, Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte für das Verständnis der Bibel heute, Reformatio 30 (1981), 261–277, und von Christian Link, In welchem Sinn sind theologische Aussagen wahr?, EvTh 41 (1982), 518–540. 1

2 Die

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III. Studien zur Hermeneutik

modell ist das Verstehen biblischer Texte nicht ableitbar. Einen prominenten Platz nimmt die Frage nach Aufgabe, Tragweite und Sinn der historischkritischen Methode ein (Abschnitte II. 1. 1; II. 2. 1; II. 3. 1; III. 2. 3). Wichtig ist auch die Rezeptions‑ und Wirkungsgeschichte (vgl. Abschnitt II. 2). Im Schlussabschnitt III geht es um die Frage nach der Wahrheit von Auslegungen und Anwendungen biblischer Texte heute. Im Anschluss an Gadamer und Habermas (Abschnitt III. 1) können Kriterien dafür in der Vergangenheit liegen: Sie müssen der Geschichte Jesu Christi in ihren Grundlinien entsprechen (III. 2). Sie können aber auch in der Gegenwart liegen. Dann wird man – in Übereinstimmung mit vielen biblischen Texten  – am ehesten in der Liebe ein Wahrheitskriterium sehen. Man muss also nach den Wirkungen biblischer Texte und Interpretationen fragen (Abschnitt III. 3). Ein drittes Kriterium ist im Anschluss an Habermas die Suche nach Konsens, die jede Selbstverabsolutierung der Bibelauslegung eines Einzelnen verunmöglicht. Der zweite Aufsatz mit dem Titel „Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein“ und dem ebenso wichtigen Untertitel „Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft“ (= Nr. 17) ist ein Abdruck meiner „presidential address“ am Kongress der SNTS in Birmingham 1997. In fünf Abschnitten und am Leitfaden von 20 Thesen versucht der Text, zu dieser grundsätzlichen Standortbestimmung Impulse zu geben. Ein erster Abschnitt (I) gibt eine fragmentarische Standortbestimmung und formuliert zugleich meinen eigenen hermeneutischen Ort als protestantischer Theologe in der individualistischen und zunehmend postchristlichen Gesellschaft Westeuropas. Eine Grundthese des Aufsatzes lautet, dass die neuzeitliche Exegese – weit entfernt davon, einen klaren und eindeutigen Sinn der biblischen Texte zu liefern – sich als eine wichtige Wegbereiterin des modernen Pluralismus erwiesen hat. Im zweiten Abschnitt (II; Thesen 1–6) geht es um die neuzeitliche Wendung von der biblischen Geschichte zur „Historie“: Die historische Kritik verwandelt die Unmittelbarkeit der biblischen Geschichte, welche die Hörer / ​innen und Leser / ​ innen einschliesst, in vergangene Historie und ihre Wahrheit in historische Wahrscheinlichkeit. Sie beschränkt sich in ihren Textrekonstruktionen konsequent auf die Vergangenheit und überlässt es dadurch den Leser und Leserinnen, die für sie heute gültige Bedeutung der Texte selbst zu bestimmen. Im dritten Abschnitt (III; Thesen 7–9) geht es um den „linguistic turn“. Durch die seit Beginn des 20. Jahrhunderts die angelsächsische, französische und deutschsprachige Exegese in verschiedener Weise prägende „Wendung zur Sprache“ haben wir gelernt, Texte als sprachliche Konstruktionen von Wirklichkeit zu sehen, deren Sinn von den jeweiligen Leserinnen und Lesern in hohem Masse mitbestimmt wird. Die Exegese hat durch ihre Entdeckung, dass es nur interpretierte Geschichte gibt, diese Entwicklung gefördert. Im vierten Abschnitt (IV; Thesen 10–12) geht es um die Bedeutung der Wirkungsgeschichte und der Hermeneutik Gadamers für die Exegese. Wirkungsgeschichte macht heutigen

15. Einleitung

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Lesern und Leserinnen deutlich, wie ihre partikularen Interpretationen durch ihre Geschichte geprägt sind. Sie zeigt, dass jede neue Interpretation eines Textes jeweils eine andere war und auch heute wieder sein muss. Der Schlussabschnitt (V; Thesen 13–20) skizziert die Aufgabe der Exegese im pluralistisch gewordenen Europa. Im Lichte der Wirkungsgeschichte muss Exegese den von ihr selbst mitgeprägten Pluralismus bejahen. Ihre Aufgabe ist die Teilnahme am offenen Dialog, der auf der „Agora“, dem freien Markt der Religionen und Weltanschauungen, stattfindet. Sie muss die Sache ihrer Texte auf dem „Marktplatz“ der Weltanschauungen, Meinungen und Deutungen im öffentlichen, rationalen und offenen Diskurs vertreten und so dazu beitragen, dass Religion nicht rationalitätslos und Rationalität nicht religionslos wird. Sie muss so auf die Fremdheit der Geschichte Jesu und den von den biblischen Texten bezeugten Gott hinweisen. Der nächste Aufsatz „Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel. Eine westlich-protestantische Sicht“ (= Nr. 18) wurde 1998 auf dem ersten orthodox-westlichen Symposion, welches die damalige Osteuropakommission der SNTS in Neamț (Rumänien) durchführte, vorgetragen.3 Mein orthodoxer Gesprächspartner war dort Vasile Mihoc (Sibiu).4 In der westlichen  – protestantischen und heute auch katholischen Exegese – ist die Bedeutung der Auslegungen der Kirchenväter sehr klein geworden. Das ist eine Folge – so fasst es der erste Abschnitt (I) zusammen – des reformatorischen Schriftverständnisses, des Humanismus und der historisch-kritischen Exegese vor allem seit der Aufklärung. Gegen diese Entwicklung versucht der Aufsatz Gegensteuer zu geben, denn die exegetische Bedeutung der Kirchenväter, die geographisch und zeitlich dem Neuen Testament nahe standen, ist in manchen Fällen gross (Abschnitt II). Noch viel grösser ist aber ihre hermeneutische Bedeutung (Abschnitt III): Die Auslegung der Kirchenväter kennt jene Ganzheit von Erklären und Verstehen, die seit der Aufklärung zerbrochen ist. Ihr gelingt es, die Bibel als Einheit und nicht als atomisierte Sammlung einzelner Texte zu verstehen. Ihre allegorischen Auslegungen kennen die Offenheit der biblischen Texte für verschiedene Lektüren, welche erst heutige Leserforschung wieder entdeckt hat. Hinter ihren Lektüren steht die Kirche als lebendige Interpretationsgemeinschaft. Am wichtigsten ist aber, dass sie Christus als Mitte und „Energie“ der Schrift und die Schrift als sprachliches Kleid des gott-menschlichen Logos versteht, der bei ihrer Lektüre den Menschen erfüllt. Die gott-menschliche Schrift und der gott-menschliche Logos entsprechen sich (so vor allem Abschnitt III. 5). Der Schlussabschnitt IV formuliert drei protestantische Vorbehalte: 1. Zu den „Kirchenvätern“ gehören nicht nur die griechischen Väter, sondern auch lateinische Väter und die Refor3 Vgl.

dazu unten im Aufsatz „Ost-Gänge“ (Nr. 30), in diesem Band 494. Mihoc, The Actuality of the Church Father’s biblical Exegesis, in: James D. G.  Dunn u. a. (Hg.), Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive, WUNT 130, Tübingen 2000, 3–27. 4 Vasile

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III. Studien zur Hermeneutik

matoren, ja auch Häretiker, zu denen nicht nur Origenes gehörte. 2. Als inhaltlicher Kanon für das, was „richtige“ Auslegung der Schrift heute sein könnte, eignen sich die Kirchenväter in der ganzen Vielfalt und Vielstimmigkeit ihrer Auslegungen nicht. 3. Unsere heutige Aufgabe besteht darum nicht darin, die Auslegungen der Kirchenväter zu wiederholen, sondern mit unseren heutigen Denkvoraussetzungen und Methoden für unsere eigene Zeit das zu leisten, was sie für ihre Zeit geleistet haben. Der folgende Aufsatz „Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift“ geht auf einen 2003 an einem Berner Symposion gehaltenen Vortrag zurück (= Nr. 19). Die hermeneutische Hinführung (Abschnitt I) zeigt die mannigfachen Beziehungen zwischen der Wirkungsgeschichte biblischer Texte und den Kirchen: Die eigene Kirche erscheint als Heimat, die uns geprägt hat, als zur Vergangenheit offener Raum, als „Hebamme“ und vielleicht sogar als „Mutter“ der Lektüre und als Bereich der Gesellschaft, der von ihr geprägt ist. Andere Kirchen erscheinen als Dialogpartnerinnen, welche die Bibel anders auslegen und uns auf unterdrückte oder vergessene Möglichkeiten der Auslegung aufmerksam machen. Wirkungsgeschichte lädt ein zum Dialog mit anderen Menschen und Kirchen, welche von der Bibel anders geprägt sind. Protestanten (um sie geht es in Abschnitt II) macht wirkungsgeschichtliche Hermeneutik auf die Bedeutung des Tradition, auf die Bedeutung nicht-sprachlicher Rezeptionen der Bibel und auf die Komplexität der Wahrheitsfrage aufmerksam, insbesondere auf die Probleme, die entstehen, wenn man Christus als Mitte der Schrift versteht. Abschnitte III und IV beschäftigen sich mit der Bedeutung wirkungsgeschichtlicher Hermeneutik für eine katholische bzw. für eine orthodoxe Lektüre der Bibel  – natürlich aus protestantischer Sicht. Sie macht beispielsweise auf die Kontextualität aller Auslegungen biblischer Texte aufmerksam und stellt Fragen an das Verhältnis von Bibelauslegung, regula fidei und Lehramt: Kirchliche Auslegung der Bibel spiegelte immer den Reichtum, die Vielfalt, die Lebendigkeit und die Nicht-Normierbarkeit des Lebens der Kirche. Sie weist darauf hin, dass christlicher Glaube reicher und mehr ist, als das, was sich durch ein Lehramt normieren lässt. Für Orthodoxe mag wichtig sein, dass wirkungsgeschichtliche Hermeneutik darauf aufmerksam macht, dass jede Auslegung eines biblischen Textes in neuer Situation neu und anders ist. Nach einem kurzen Abschnitt V, der darauf hinweist, dass die Wirkung der Bibel an den Grenzen der Kirche nicht Halt macht, versucht der Schlussabschnitt VI zu zeigen, was aus wirkungsgeschichtlicher Perspektive kirchliche Auslegung der Schrift sein könnte: eine ökumenisch offene, kirchlich engagierte, aber zugleich kritische und subversive Lektüre der Schrift in einer Gesprächsgemeinschaft von Menschen und Kirchen, denen die Bibel vorgegeben ist und in welcher der Heilige Geist als Kraft der Texte in den Herzen und Köpfen der Leser wirkt. Dem entspricht ein Verständnis der Kirche als Gesprächsgemeinschaft über der

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Bibel, die nicht am Ziel, sondern unterwegs ist. Eine typisch protestantische Perspektive! Der Aufsatz „Textauslegung und Ikonographie“ (= Nr. 20) erarbeitet mögliche Grundlagen einer Hermeneutik von Bibelbildern. Die Reformation war eine ikonoklastische Bewegung, die im reformierten Protestantismus besonders radikal war (Abschnitt II). Obschon sich die Reformatoren nur gegen die Bilderverehrung richteten, schossen sie mancherorts über das Ziel hinaus. Der Bildersturm zerstörte oft auch Bilder, die man gar nicht verehren konnte und die primär eine didaktische Funktion als „Bibel der Analphabeten“ hatten. Abschnitt III ist eine kurze Zwischenbemerkung zum Verständnis des Bildes. Abschnitt IV skizziert sieben grundlegende Merkmale der „Bildlichkeit“: die „Simultaneität“, die durch das Nebeneinander von Ereignissen im Bildraum entsteht; die Konkretheit der „Bildsprache“; die ganzheitliche Rezeption, welche Bilder erfordern; die Offenheit von Bildern; die „ikonische Dichte“, welche gegensätzliche Aspekte in einem einzigen Bild verdichten kann; die Gleichzeitigkeit der Bildzeit mit der Zeit des Betrachters und die Verfremdung, welche die „Idee“ eines Künstlers im Betrachter hervorrufen kann. Der Schlussabschnitt V ist ein Plädoyer für das Verstehen der Bibel im Medium des Bildes. Bibelbilder können einen neuen „Blick“ auf scheinbar fremd gewordene biblische Texte vermitteln und – vielleicht – sogar so etwas wie Transzendenzerfahrungen vermitteln. Illustriert werden diese Thesen durch bildliche Darstellungen der Passionsgeschichte. Der Aufsatz „Postmoderne Bibelinterpretation“ (= Nr. 21) geht auf einen 2009 in Fribourg gehaltenen Vortrag zurück. Er ist eine Vorarbeit zu Kapitel 3 meiner Hermeneutik, das mit „Von der Klarheit der Schrift zur Vielfalt der Bedeutungen“ überschrieben ist.5 Auf eine Skizze heutiger Konzepte der „Postmoderne“ und der Versuche „postmoderner“ Bibelexegese (Abschnitt I) folgen vier Längsschnitte, welche die Auflösung des Autors, des Lesers, des Textes und des „letzten Referenten“, nämlich Gottes, in der Neuzeit skizzieren (Abschnitte II–V). Der Schlussabschnitt VI führt den Ausdruck „kleine Metaerzählungen“ ein: Biblische Texte erzählen in vielfältiger und sehr unterschiedlicher Weise (darum: kleine Metaerzählungen) von Gott, welcher Gott aller Menschen und der ganzen Welt sein will (darum kleine Metaerzählungen). Zu einer „grossen“ und „vereinheitlichten“ biblischen oder kirchlichen Metaerzählung, wie sie in der Vergangenheit in den christlichen Kirchen üblich waren, lassen sie sich nicht zusammensetzen. Dieser Vorschlag entspricht dem Verständnis der Bibel als einer vielfältigen und vielfarbigen theologischen Bibliothek. Natürlich ist das der Vorschlag eines Protestanten, der einer Kirche angehört, der andere Kirchen den Anspruch, „Kirche“ zu sein, absprechen und die selbst nicht beansprucht, die „wahre“ Kirche zu sein. 5  Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen 2014, 99– 147.

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III. Studien zur Hermeneutik

Die weitergeführte Fassung dieser Überlegungen in der „Theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments“ unterscheidet sich von diesem Aufsatz vor allem in dreifacher Hinsicht: Einmal dadurch, dass sie um eine Skizze unserer „Herkunft“, nämlich der reformatorischen und der protestantisch-orthodoxen Hermeneutik ergänzt worden ist, sodann dadurch, dass sie um zwei weitere Längsschnitte erweitert wurde, welche von der Auflösung des Kanons und der Auflösung der Geschichte sprechen. Der letzte Aufsatz, „Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments als Hilfe zum Reden von Gott“ (= Nr. 22) wurde 2013 in Jena vorgetragen. Damals war das Konzept meiner „Theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments“ beinahe abgeschlossen. Der Aufsatz stellt einige ihrer Grundgedanken dar: In Abschnitt I geht es um das Verschwinden Gottes aus unserer Lebenswelt und um die Frage, was eine theologische Hermeneutik von anderen, nicht-theologischen Hermeneutiken unterscheidet.6 In Abschnitt II geht es um die Frage nach einem den biblischen Texten entsprechenden Textmodell. Es ist dies am ehesten das Verständnis der Texte als „Mitteilungen“, die einen Autor, einen Adressaten und einen Weltbezug haben. Der Schlussabschnitt III reflektiert im Lichte dieses Sprachverständnisses darüber, wie neutestamentliche Texte in einer säkular gewordenen Welt dazu helfen können, von Gott zu reden.

6  Vgl. dazu ausführlicher: Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen 2014, 1–28.

16. Erwägungen zur sachgemäßen Interpretation neutestamentlicher Texte Die Exegese blickt heute zurück auf ein Jahrzehnt, in dem ihre Notwendigkeit immer wieder grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Von manchen Studenten wurde sie als für die Praxis völlig unerheblich geradezu boykottiert; aber auch theoretisch wurde ihre Bedeutung in Frage gestellt. Vor mir liegt z. B. ein neuer Aufsatz, wo Exegese als „informative Wissenschaft“ gerade noch gut genug ist, „am Abbau autoritativer christlicher Normen, die als nicht hinterfragbar von biblischen Traditionen abgeleitet werden“,1 mitwirken zu dürfen. Auf der anderen Seite gibt es seit ein paar Jahren geradezu wieder eine Konjunktur der Exegese, die aber nicht ganz unproblematisch ist, zumal sie immer wieder von Kirchenleitungen mit leicht appellativen Untertönen beschworen wird. Das Auf und Ab der Konjunktur der Exegese partizipiert auch am Schicksal der Geschichtswissenschaft: Wurde noch vor zehn Jahren vor allem in deutschen Kultusministerien ernsthaft über die Abschaffung des Faches „Geschichte“ in gymnasialen Lehrplänen diskutiert – leider nicht ohne Folgen –, so konnte bereits 1977 Hermann Lübbe kurz und bündig als Ergebnis dieser kritischen Diskussionen „eine Rehabilitierung des geschichtswissenschaftlichen Historismus“2 diagnostizieren. So schnell geht das! Dabei ist nur zu fragen, ob es sich bei der neuerlichen Konjunktur des Historismus um einen bloß kompensatorischen Effekt handelt, welcher der Konjunktur auf den Antiquitätenmärkten parallel ginge, oder um einen wirklichen Erkenntnisfortschritt. Das alles ist Grund genug für einen Exegeten, sich auf die eigentlichen Aufgaben seiner Disziplin und seine Möglichkeiten, sie zu lösen, zu besinnen. Trotz der neuen Konjunktur historischer Arbeit bin ich überzeugt, daß die Probleme, vor denen die Exegese heute steht, so fundamental sind, daß sie ohne Mitwirkung anderer theologischer Disziplinen nicht zu lösen sind.

 Gerd Petzke, Exegese und Praxis, ThPr 10 (1975), 19.  Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, Basel 1977, 9.

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III. Studien zur Hermeneutik

I. Problemanzeigen Das Grundproblem scheint mir in der Erfahrung vieler Theologen zu bestehen, daß die intensive Beschäftigung mit dem Ursprungssinn eines Textes, zu dem die historisch-kritische Interpretation hinführen will, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Textes in der Gegenwart erschwert oder gar unmöglich macht. Auf der einen Seite hat sich heute in der wissenschaftlichen Arbeit eine sich selbst als offenes und sich in der Geschichte veränderndes Instrumentarium verstehende historisch-kritische Methode bewährt und durchgesetzt. Die sich abzeichnende Absorption und Integration der sich von Hause aus ungeschichtlich verstehenden strukturalistischen Interpretationsansätze in ein historisches Verstehens‑ und Interpretationsmodell, die sich heute auf breiter Front beobachten läßt, ist dafür ein letztes Beispiel.3 Auf der andern Seite machen immer wieder zahlreiche Menschen, z. B. unsere Studenten und viele Pfarrer, die Erfahrung, daß die historisch-kritische Interpretation sie hilflos bei der Vergangenheit zurückläßt, von der es keinen methodisch gangbaren Weg in die Gegenwart mehr zu geben scheint. Von da her kommt das weit verbreitete und m. E. sehr ernst zu nehmende Grundgefühl, daß historisch-kritische Exegese für die Praxis der Kirche, des Pfarramts und der Gesellschaft nichts austrage.4 Die Frage nach der Wahrheit eines Textes für die Gegenwart und die Frage nach seinem Ursprungssinn in der Vergangenheit scheinen zwei ganz verschiedene Fragen zu sein. I. 1  Dieses Grundproblem läßt sich an verschiedenen Punkten konkretisieren. Ich wähle als ein Beispiel den heute besonders auffallenden Gegensatz zwischen wissenschaftlicher Exegese mit ihrer hohen, im Grunde genommen schon vielen Theologiestudenten nicht mehr zumutbaren Spezialisierung, und davon völlig unberührter Laienexegese, die gerade deshalb auch auf Theologiestudenten eine unwahrscheinliche Faszination ausübt. Man kann sich das etwa an der Wirkung des „Evangeliums von Solentiname“5 unter europäischen Theologiestudenten klar machen: Auf viele unserer Studenten, die inmitten der fortgeschrittenen exegetischen Spezialisierung keine wirkliche exegetische Kompetenz mehr haben können, und zugleich in historischer Kritik sich selbst kaum mehr wieder3  Besonders deutlich wurde das Problem des Verhältnisses des von Hause aus ungeschichtlichen Strukturalismus zu den von einer einmaligen Geschichte sprechenden biblischen Texten von Paul Ricœur erkannt, vgl. z. B. Struktur und Hermeneutik, in: ders., Hermeneutik und Strukturalismus, München 1973, bes. 59 ff. 4  Prägnant formuliert Jürgen Moltmann die Korrespondenz des Prozesses der „Objektivierung“ der historischen „Tatsachen“ und ihrer zunehmend ins Belieben des Subjekts gestellten Verwertung. „In dem Maße, wie es (sc. das historische Bewußtsein) feststellt, was Paulus als Sohn seiner Zeit zu seinen Zeitgenossen geredet hat, wird die Gegenwart von seinen Einreden frei“ (Verkündigung als Problem der Exegese, in: ders., Perspektiven der Theologie, München 1968, 115). 5  Ernesto Cardenal, Das Evangelium der Bauern von Solentiname, Wuppertal I 1976; II 1978.

16. Erwägungen zur sachgemäßen Interpretation neutestamentlicher Texte

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finden können, übt diese schlichte und von wissenschaftlicher Exegese kaum berührte6 Bibelarbeit eine unwahrscheinliche Faszination aus. Sachlich am auffälligsten ist in solcher Laienexegese dabei wohl die Freiheit gegenüber dem Text der Bibel, die es erlaubt, eigene Erfahrungen unmittelbar mit dem biblischen Text zu konfrontieren und diesen in Richtung auf eigene Erfahrungen hin symbolisch auszulegen.7 Ich denke hier also nicht primär an fundamentalistisch fixierte Laienexegese, die in dieser Weise m. E. keine echte Laienexegese ist, sondern eher eine Form ihrer theologischen Vergewaltigung. Das Faszinierende und Aufregende dieser Laienexegese ist vielmehr für mich ihre Freiheit gegenüber dem minutiösen Festkleben am ursprünglichen Textsinn in der wissenschaftlichen Exegese. I. 2  Ein anderer Punkt, wo das Grundproblem deutlich wird, ist der heute bestehende Gegensatz zwischen exegetischer und homiletischer Bibelinterpretation.8 Man kann sich unsere Situation am Vergleich mit der Exegese und der Predigt der Alten Kirche bis hin in die Zeit der Reformation und Orthodoxie klar machen: Vor der Aufklärung lagen exegetische und homiletische Bibelinterpretation eng beisammen. Etwa am Einfluß der Homilien des Johannes Chrysostomus auf die wissenschaftlichen Bibelkommentare des Mittelalters oder am Verhältnis zwischen Vorlesungen und Predigten bei Luther kann man sich das verdeutlichen. Seit der Aufklärung treten wissenschaftliche und homiletische Interpretation der Bibel immer stärker auseinander, bis hin zur weitreichenden Preisgabe des Textbezugs in der Predigt, die wir heute manchmal in homiletischer Theorie9 und sehr oft in der Predigtpraxis beobachten. Wissenschaftliche Exegese ist damit beschäftigt, zu fragen, was Menschen damals, Autoren oder Gemeinden, zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments, für wahr und lebensnotwendig gehalten haben. Dazu, ob diese Wahrheit vergangener Zeit auch heute einen Anspruch auf Wahrheit haben kann, hat die historisch-kritische Exegese kraft ihrer eigenen Kompetenz nichts zu sagen. I. 3  Ein weiteres Symptom für die große Distanz zwischen der Frage nach der Vergangenheit und der Frage nach der Wahrheit ist m. E. auch der Abstand 6  Es ist bezeichnend, daß der Theologe Cardenal in den Bibelarbeiten von Solentiname nicht versucht, den ursprünglichen Sinn der Texte kritisch gegenüber den „symbolischen“ situations‑ und lebensbezogenen Deutungen der Bauern ins Spiel zu bringen. 7 Sehr schön wird solche nicht-fundamentalistische Laienexegese beschrieben von Carlos Mesters, Das Verhältnis der Schrift in einigen brasilianischen Basisgemeinden, Conc. 16 (1980), 563 f. 8  Moltmann, Verkündigung (o. Anm. 4), 113, spricht von „diametral gegenläufigen Tendenzen“. 9  Als Beispiel seien die (nicht einfach naiven und unreflektierten!) Überlegungen von Gert Otto, Thesen zur Problematik der Predigt in der Gegenwart, Hamburg 1970, 39 f angeführt: „Das Gesetz, Predigt sei die direkte Ableitung einer Rede aus der Exegese eines biblischen Textabschnittes, ist in seiner theologiegeschichtlichen Bedingtheit zu durchschauen und nicht länger unreflektiert zu repristinieren. Verantwortung der Predigt vor dem biblischen Text verengt den Horizont.“

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III. Studien zur Hermeneutik

zwischen Geschichtsforschung resp. historisch-kritischer Textexegese einerseits, philosophischem Geschichtsbegriff und hermeneutischer Theorie andererseits.10 Hermeneutische Konzeptionen unserer Gegenwart – ich erinnere hier nur paradigmatisch an Gadamer – tendieren immer deutlicher auf ein ganzheitliches, die eigene Gegenwart und den eigenen Horizont mit einbeziehendes Verstehen der Vergangenheit. Historisch-kritische Exegese wird dagegen immer minutiöser und fragt gerade in unserer Disziplin oft in so überzogener Weise nach dem Ursprungssinn von Jotas und Häkchen, daß jeder Bezug zum Ganzen des Verstehens zu verschwinden droht. Historisch-kritische Arbeit ist von hermeneutischer Theorie im ganzen unbeeinflußt, während umgekehrt hermeneutische Entwürfe zu einer Methodik historisch-kritischer Arbeit kaum mehr hinführen.11 Der Gegensatz zeitgenössischer Hermeneutiken zu klassischen Entwürfen – man denke etwa an Mathias Flaccius Illyricus oder Schleiermacher – ist hier deutlich. Ebenso auffällig ist die Spannung zwischen dem unsere historische Arbeit faktisch leitenden Geschichtsbegriff und dem viel reflektierteren Geschichtsbegriff der heutigen philosophischen Diskussion. Hans Weder hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß der Geschichtsbegriff des Historismus, der gegenwärtig weder von der Mehrzahl der Historiker, noch von der Mehrzahl der Exegeten uneingeschränkt geteilt wird, de facto doch die historischkritische Arbeit leitet.12 Das äußert sich primär darin, daß historische Arbeit tendenziell Fakten in der Vergangenheit objektiviert und historisch-kritisches Verstehen eines Textes den Ursprungssinn eines Textes gegenüber dem heutigen Interpreten, aber auch gegenüber früheren Interpreten isoliert, indem sie dazu anleitet, die eigene Situation und alles geschichtlich Nachzeitige aus dem Interpretationsvorgang so weit wie möglich auszuklammern.13 Dann kann aber der 10  Die Geschichtswissenschaft ist mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Alfred Heuss, Verlust der Geschichte, Göttingen 1959 unterscheidet zwischen „Geschichte als Erinnerung“ und der „Geschichte als Wissenschaft“, die jene ständig zerstört. 11  Ausnahmen sind z. B. die Arbeiten von Frederik Torm, Hermeneutik des Neuen Testaments, Göttingen 1930, und das sich entschlossen um eine Verbindung zwischen der Frage nach der Wahrheit und der Frage nach der Methode bemühende Werk Paul Ricœurs. Eine Ausnahme bildet auch Peter Stuhlmachers Versuch (Vom Verstehen des Neuen Testaments, NTD Erg. 6, Göttingen 1979), seine Hermeneutik des Einverständnisses auf historisch-kritischem Feld als methodisches „Prinzip des Vernehmens“ zu konkretisieren (220). 12 Hans Weder, Zum Problem einer christlichen Exegese, NTS 27 (1980), 66 f. 13  An diesem Punkt bedeuten die Erkenntnisse der analytischen Geschichtsphilosophie Arthur Dantos einen Fortschritt: Erst die Zukunft der vergangenen Ereignisse erlaubt ihre historische Würdigung. Aber auch an Erkenntnisse Rudolf Bultmanns ist zu erinnern: Der Historismus mißversteht nach ihm Gegenwart und Vergangenheit, weil er ihre Beziehung zueinander rein kausal deterministisch versteht. Was Vergangenheit ist, entscheidet sich vielmehr in der Gegenwart, in der der Mensch mit ihr umgeht. „Unsere Vergangenheit hat keineswegs einen eindeutigen Sinn … . Der Historismus mißversteht … auch die Zukunft als eine … kausal determinierte … . Der traditionelle Historismus verkennt die Gefährlichkeit, den Wagnischarakter des menschlichen Seins“ (Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1985, 169). Entscheidend scheint mir, daß der die Vergangenheit „für sich“, „objektiv“ Betrachtende zugleich

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historisch-kritisch rekonstruierte Text eo ipso nicht zur Gegenwart sprechen, denn der gegenwärtige Interpret ist per definitionem nicht sein Adressat. Gadamer formuliert m. E. mit Recht: „Der Text, der historisch verstanden wird, wird aus dem Anspruch, Wahres zu sagen, förmlich herausgedrängt. Indem man die Überlieferung vom historischen Standpunkt aus sieht, d. h. sich in die historische Situation versetzt und den historischen Horizont zu rekonstruieren sucht, meint man zu verstehen. In Wahrheit hat man den Anspruch grundsätzlich aufgegeben, in der Überlieferung für einen selber gültige und verständliche Wahrheit zu finden.“14 Für historisch-kritische Exegese neutestamentlicher Texte ist streng genommen z. B. bereits die Fundamentalfrage nach der Einheit des neutestamentlichen Zeugnisses unbeantwortbar, weil der neutestamentliche Kanon eine gegenüber seinen einzelnen Schriften spätere Größe ist, die es bei der Exegese auszuklammern gilt. I. 4  Es scheint mir, daß die Trennung von Wahrheit und Geschichte im neuzeitlichen Denken ein tiefgreifendes Denkschicksal ist, das seine Wurzeln in der Emanzipation der Vernunft von der Geschichte seit der Aufklärung hat, einer Vernunft; die durch die Hülle der Geschichte hindurch zur ewigen Wahrheit vorstößt. Ich kann hier nur einige Erinnerungen, zunächst an den Rationalismus, wachrufen. Das göttliche Gesetz, so sagt Spinoza, ergibt sich „aus der Betrachtung der Menschennatur … von selbst“. Es besteht in der Idee Gottes als des summum bonum. „Der Glaube an Geschichten, welcher Art sie auch immer sein mögen, (gehört nicht) zu dem göttlichen Gesetz“, sondern hat vielmehr nur pädagogischen Wert, „die in ihm enthaltene Lehre zu stützen“.15 Für die Exegese ein m. E. nach wie vor unbewältigtes Problem ist die Lessingsche These, wonach zufällige Geschichtswahrheiten nie der Beweis für notwendige Vernunftwahrheiten werden können: „Wenn keine historische Wahrheit demonstriert werden kann, so kann auch nichts durch historische Wahrheit demonstriert werden“.16 Kant ordnet die Bibel und damit auch die Exegese als geradezu entscheidenden Pfeiler dem statuarischen Kirchenglauben zu; heilige Bücher haben den Charakter einer Autorität für geistig Unmündige, und es ist schon ein besonderer Glücksfall, wenn im heiligen Buch einer Religion „zugleich die reinste moralische Religionslehre“ erscheint.17 Die rationalistische Abwertung der Geschichte wirkt aber über den Rationalismus hinaus weiter. Ich sich selbst aus dem Wirkungs‑ und Dialogzusammenhang mit der Vergangenheit herausgelöst hat: Der scheinbaren Objektivität der Vergangenheit entspricht die scheinbare Autonomie des Menschen ihr gegenüber. 14  Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 287. 15  Baruch Spinoza, Der Theologisch-politische Traktat, Leipzig o. J., 103. 129 (Kapitel 4 und 5). 16 Gotthold E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft. An den Herrn Director Schumann zu Hannover, in: Werke Bd. 8, München 1979, 11 f. 17  Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg 81978, 117.

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erinnere an Schleiermacher: „Der echte historische Sinn erhebt sich über die Geschichte. Alle (ihre) Erscheinungen sind nur wie die heiligen Wunder da, um die Betrachtung zu lenken auf den Geist, der sie spielend hervorbrachte“.18 Und schließlich an den Existenzphilosophen Karl Jaspers: Er möchte „hindurchdringen auf einen Punkt vor und über aller Geschichte, auf einen Seinsgrund, vor dem die ganze Geschichte zur Erscheinung wird“, und sucht den Weg dazu u. a. in der Transzendenz der Geschichtlichkeit der Existenz.19 Ebenso gilt aber dieselbe Problemstruktur für eine Existenzphilosophie, die Geschichte ontisch als „die ‚Wiederkehr‘ des Möglichen“ versteht und damit die geschichtliche Existenz nicht nur für Möglichkeiten öffnet, sondern m. E. zugleich auch Unmöglichkeiten ausschließt.20

II. Hermeneutische Zielvorstellungen Ich möchte in diesem Abschnitt einige Überlegungen darüber anstellen, welche Grundmomente zu einem Verstehen der Sache21 biblischer Texte gehören. Dabei möchte ich die biblischen Texte selbst befragen, was sie unter Verstehen verstehen und welche Art des Verstehens sie von ihrer Botschaft her fordern. Meine Grundvoraussetzung ist dabei, daß ein theologischer Beitrag zum hermeneutischen Gespräch von den biblischen Grundtexten auszugehen und sie ins Gespräch einzubringen hat. Ich möchte aber bitten, diesen Ansatz in aller Vorläufigkeit zu verstehen. Er enthält keine versteckte Zielvorstellung einer besonderen hermeneutica sacra. Vielmehr möchte ich zunächst erstens linguistisch die Erkenntnis anwenden, daß verschiedene Textsorten, also „Gattungen“ in sehr verschiedener Weise mit dem Rezipienten kommunizieren, d. h. verstanden werden wollen. Die Bedingungen des Verstehens sind bei verschiedenartigen literarischen Dokumenten, und sowieso bei nichtliterarischen Dokumenten, sehr verschieden. Dazu kommt zweitens, daß wir in der Geschichte der neueren Exegese oft erfahren haben, daß kein von außen an die biblischen Texte herangetragener allgemeiner Verstehensentwurf ihnen wirklich ganz gerecht wurde.  Wilhelm Dilthey, Das Leben Schleiermachers, 1870, Anhang, 117. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Hamburg 1955, 259 (III 5). 20  M. E. kann Heidegger vor der „Kehre“ so interpretiert werden, wenn er nicht von vornherein von seiner späteren Philosophie her verstanden wird. Gerade auch Bultmanns Heideggerrezeption weist m. E. in diese Richtung. Das Zitat stammt aus Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 81957, 391. 21  Grundlegend für die folgenden Ausführungen ist die Unterscheidung, die Karl Barth, Der Römerbrief, im Vorwort zur zweiten Auflage 1922, X-XV eingeführt hat: die Unterscheidung zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten, zwischen dem Text und der „Sache“. Verstehen muß durchstoßen vom „Rätsel der Urkunde“ zum „Rätsel der Sache“, bis zu dem Punkt, „wo ich … nahezu vergesse, daß ich nicht der Autor bin, … (so daß) ich ihn in meinem Namen reden lassen und selber in seinem Namen reden kann“ (XII). 18

19 Karl

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Das kann man z. B. an der Kritik an der „anthropozentrischen“ existentialen Interpretation Bultmanns ablesen: Die theologischen Fragen, die an den Bultmannschen Entwurf in immer wieder neuen Variationen gestellt worden sind, beschäftigen sich mit der Frage, ob es ihm gelingt, die Transzendenz des theologischen Gegenstands, d. h. das den Menschen übersteigende Handeln Gottes in der Geschichte, wirklich auszusagen. Ein anderes Beispiel, das die Begrenztheit allgemeiner Verstehensentwürfe bei biblischen Texten zeigt, ist das Gespräch über die Reichweite strukturaler Interpretationsanätze bei neutestamentlichen Texten. Man fragt sich heute immer mehr, wie die strukturale Analyse, die einen Text als semantische Struktur versteht und innerhalb dieser Struktur mit Differenzierungen arbeitet, den jenseits des Textes liegenden Verweisungsbezug des Textes ernst nehmen kann. Bei biblischen Texten ist der Referenzbezug primär: sie wollen auf etwas, bzw. auf jemanden verweisen; sie wollen etwas verkünden. Sie sind keine autonomen Größen, sondern verweisen den Menschen auf eine jenseits ihrer liegende Geschichte, in der Gott handelt.22 Biblische Texte sprechen von etwas ganz Besonderem, ja von etwas ganz Einmaligem, nämlich von Gottes Handeln im Leben und Sterben Jesu von Nazareth, und eben dies macht sie auch in ihrer Form und in ihrer Struktur zu besondern Texten, die in besonderer, ihnen entsprechender Weise verstanden werden wollen. Dazu kommt schließlich drittens hermeneutisch die Erinnerung daran, daß es keinen Verstehensbegriff geben kann, der völlig allgemein ist und sich nicht bestimmten geschichtlichen Erfahrungen verdankt, eine Erinnerung, die für die Theologie besonders wichtig ist, weil sie sich immer wieder auf ihre Tradition programmatisch beruft. So wird die Theologie gerade ihre besondere Form der Tradition, die biblischen Texte, ernst nehmen und hören müssen, wenn sie über das Verstehen nachdenkt.23 Der Einsatz der Frage nach dem Verstehen biblischer Texte bei den Texten selbst ist also wohl doch nicht nur das Produkt momentaner geistesgeschichtlicher Verlegenheit. Die Frage, wie weit sich unsere Überlegungen über das Verstehen biblischer Texte hinaus verallgemeinern lassen, möchte ich hier bewußt offen lassen.

 Ricœur, Struktur und Hermeneutik (o. Anm. 3), 59–62. diesem Ansatz weiß ich mich in der Intention verbunden mit Ernst Fuchs, der in das von Bultmann allgemein entworfene Konzept der existentialen Interpretation Jesus als „unsere Hilfe“ zum Verstehen des Textes einführt. „Soll sich nicht alles im Kreise drehen, so werden uns die Texte selbst sagen müssen, wer uns da helfen kann“ (Was ist existentiale Interpretation B, in: ders., Zum hermeneutischen Problem in der Theologie, Tübingen 1959, 97). Ich weiß mich auch verbunden mit Peter Stuhlmacher, der „die Bibel als Lern‑ und Lebensbuch der Kirche“ in seiner Hermeneutik des Einverständnisses ernst nehmen möchte (Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik, NTD Erg. 6, Göttingen 1979, 206). Ich meine allerdings, daß nicht erst die Auslegung einzelner Texte, sondern bereits schon der Entwurf eines Verstehenshorizontes im Einverständnis mit den biblischen Texten zu erfolgen habe. Das möchte ich hier versuchen. 22

23 In

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II. 1  Das erste, mir wichtige Grundmoment im Verstehen biblischer Texte, die von Gott reden, ist die Ganzheitlichkeit des Verstehensvorgangs. Biblische Texte sind „gleichsam kristallisiertes geistliches“ (und nicht nur geistliches!) „Leben“.24 Ihre Botschaft zielt auf ein Verstehen, das den ganzen Menschen ergreift und sich unmittelbar in einer Lebenspraxis säußert.25 Das Verstehen ist ein den ganzen Menschen erfassendes Ereignis.26 Darum kann man etwa Jesusgleichnisse nicht verstehen, wenn man nur ihre Lehre versteht. Dies mag für die meisten rabbinischen Gleichnisse zutreffen, nicht jedoch für Jesusgleichnisse. Jesusgleichnisse sind Geschichten, die das Leben des Hörers ergreifen und verändern wollen. Die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg etwa (Mt 20,1–16) habe ich nicht verstanden, wenn ich nur weiß, daß Gott nicht nach Verdiensten entlöhnt, sondern erst, wenn ich mich darüber freue (20,15). Bei der Geschichte vom großen Gastmahl macht Lukas durch seine Komposition eindringlich darauf aufmerksam, daß ich sie noch nicht verstanden habe, wenn ich ihre Pointe korrekt formulieren kann, sondern erst, wenn ich mich entsprechend verhalte, was sich zeigt, wenn ich z. B. selber zu einem Gastmahl eingeladen bin und die Wahl zwischen verschiedenen Plätzen habe (Lk 14,7–14). Ein besonders eindrückliches Beispiel für das, was im Neuen Testament Verstehen meint, gibt das Markusevangelium. Petrus, der Jesus schilt (Mk 8,32), hat sehr wohl begriffen, was Jesus mit dem Wort vom Menschensohn meinte, der viel leiden muß, verworfen wird von den jüdischen Führern und getötet werden muß. Dennoch protestiert er, und Markus führt im Anschluß an diese Szene sein Theologumenon des Jüngerunverständnisses zu äußerst präziser theologischer Verdichtung. Markus meint: „Verstehen“ kann man Jesus erst, wenn man selbst bereit ist, Jesus auf dem Wege zum Kreuz nachzufolgen. Jesus versteht man also nicht so wie Petrus, sondern so wie Simon von Kyrene.27 Oder noch ein Beispiel: „Gebt euer Leben als heiliges, lebendiges Opfer, das Gott gefällt; das ist vernünftiger Gottesdienst. Macht euch nicht dieser Welt konform, sondern 24  Alfred Schindler, Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte für das Verständnis der Bibel heute, Reformatio 30 (1981), 264. 25  Insofern ist es durchaus richtig, wenn auch m. E. zu eng, von einer Hermeneutik biblischer Texte zu sagen: „Hermeneutik ist im Raume der Theologie diejenige theologische Funktion, die die Texte … zur Predigt werden läßt“ (Eberhard Jüngel, Was hat der Text mit der Predigt zu tun, in: ders., Predigten, München 1968, 140). Zu eng ist dieser Satz deshalb, weil man statt „Predigt“ m. E. auch „Gebet“, „Lebenspraxis“, „Dank“ etc. sagen könnte. 26  Es kann hier nicht deutlich genug an die vor allem von Ernst Fuchs herausgearbeitete Interpretation des Verstehens als „Ereignis“ erinnert werden, z. B. in folgender prägnanter Formulierung: „Text und Leser finden sich im Verstehen so zusammen, daß das Verstehen selbst zum Ereignis wird und damit eine Geschichte mitmacht, an der sowohl der Text, als auch der Leser beteiligt sind“ (Was ist existentiale Interpretation B [o. Anm. 23], 93). 27 Die Assoziationen zwischen Mk 15,21 und Mk 8,34 sind vom Evangelisten sicher gewollt, zumal die Söhne des Simon der markinischen Gemeinde als Christen bekannt gewesen sein dürften, vgl. Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 8,27–16,20), EKK II / ​2, Neukirchen / Z ​ ürich 1979, 315.

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ändert euch in der Erneuerung der Vernunft, um zu prüfen, was der Wille Gottes ist, das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene“ (Röm 12,1 f): Präziser könnte man die Verschränkung von Erkenntnis und Leben nicht formulieren. Verstehen der Sache des Neuen Testaments ist also ins Leben eingebunden; das Verstehen, auf das die neutestamentlichen Texte zielen, ist letztlich vom Glauben nicht zu trennen. Es gibt also letztlich keinen vom Leben ablösbaren, für sich seienden, feststellbaren „Sinn“ biblischer Texte.28 Dem entspricht, daß H. G. Gadamer die Applikation als „integrierendes Moment alles Verstehens“, nicht etwa als etwas, was zum Verstehen nachträglich hinzukommt, erkennt, und zwar in bewußtem Anschluß an theologische Hermeneutik, nämlich an den Pietisten J. J.  Rambach.29 Terminologisch könnte man also verschiedene Ebenen der Textinterpretation unterscheiden, nämlich 1. die historisch-kritische Exegese der ursprünglichen Bedeutung der Texte, 2. die gegenwartsbezogene Sachinterpretation in meinem Denken, in meiner Sprache und im Gegenüber zu meiner Situation und 3. die Verwirklichung der Sache der Texte durch Leiden oder Handeln. Alle diese Ebenen der Interpretation gehören zusammen; deutlich ist aber, daß das Verstehen biblischer Texte erst auf der dritten Ebene zur Ganzheit und zum Ziel kommt.30 Historisch-kritische Exegese ist also, wenn sie zum Verstehen der Sache biblischer Texte beitragen will, notwendig auf die andern 28 Ich schlage vor, auf der Textebene von der „Bedeutung“ eines Textes zu sprechen, den Begriff „Sinn“ jedoch für die „Sache“ zu verwenden, die in den Texten zu Worte kommt. 29 Gadamer, Wahrheit und Methode (o. Anm. 14), 292 ff. Jose Miguez-Bonino, Theologie im Kontext der Befreiung, Göttingen 1977, 80 f glossiert die in westlicher Exegese praktisch dominierende Vorordnung der (übergeschichtlichen) „Wahrheit“ biblischer Texte und ihrer (nachgeordneten, geschichtlichen, unvollkommenen) Anwendung: „Wahrheit existiert also vor ihrer geschichtlichen Wirksamkeit und ist unabhängig von ihr. Ihre Legitimität muß an der Beziehung zu diesem abstrakten ,Himmel der Wahrheit’ geprüft werden“. Die Analogie zwischen der Frage nach einem (ungeschichtlich verstandenen) Sinn an sich eines Textes und seiner nachgeordneten Applikation in der Geschichte zu der oben in I. 4 angedeuteten Trennung von Wahrheit und Geschichte ist interessant. 30  Die klassische Unterscheidung Diltheys zwischen Erklären und Verstehen ist m. E. nach wie vor bedenkenswert. Wichtig ist die Fassung, die Ernst Fuchs ihr gegeben hat: „Erklären ist … etwas anderes als Verstehen, obwohl man beides nicht einfach voneinander trennen kann … . Erklären sucht sich den Gegenstand oder den Vorgang, der erklärt werden soll, aus …. Das Verstehen dagegen lebt eher im Umgang mit den Sachen selbst … . Erklären isoliert, analysiert, objektiviert. Das kann für das Lebendige fatale Folgen haben … . Das Verstehen bezieht sich vorweg auf die Situation, in welcher etwas als das erscheint, was es ist“. Das Verstehen geht also im Unterschied zum Erklären von der Beziehung aus, die die Sache eines Textes zum Hörer immer schon hat. Diese Beziehung nennt Fuchs „Vorverständnis“ (was also mehr ist, als bloßes, vielleicht irriges oder halbbatziges ‚Vorwissen‘ einer Sache) und formuliert: „Das volle Verstehen greift auf das Vorverständnis zurück, reinigt es und bringt so uns in Bewegung, vielleicht sogar zur Ruhe“. Verstehen und Erklären stehen allerdings in enger Beziehung zueinander und schließen einander gerade nicht aus: „Eine Erklärung setzt, weil sie Verständnis wecken will, mögliches Verstehen voraus“. Das Verstehen kann die Sachen „leichter ‚erklären‘“, weil es von ihnen betroffen ist. Nicht nur das Erklärbare kann verstanden werden, sondern „alles Erklärbare (ist) von Haus aus im Verstehen angesiedelt“ (Zitate aus: Marburger Hermeneutik, Tübingen 1968, 18 f).

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Ebenen der Interpretation angewiesen und muß in einen umfassenden Verstehenshorizont als sein Teilmoment eingebettet bleiben. II. 1. 1  Das hat eine Konsequenz für die historisch-kritische Frage nach dem Ursprungssinn der Texte: Historisch-kritische Interpretation biblischer Texte darf m. E. nicht nur auf der Textebene nach dem Sinn der Texte fragen, sondern sie muß hinter die Texte zurück nach der Geschichte und dem Leben fragen, deren Kristallisation sie sind. Historisch-kritische Exegese muß durch die Struktur der Texte hindurchstoßen zum geschichtlichen Leben. Nur dann stößt sie in Richtung auf die Sache vor, um die es den Texten ging. Historischkritische Exegese eines biblischen Textes bedeutet also, nach den Erfahrungen fragen, die hinter ihm standen. Sie bedeutet: Erzählen, wie es zu einem Text gekommen ist, was durch ihn geschehen sollte und geschah.31 Ich kann hier auf eine glückliche Formulierung von H. Weder hinweisen. Nach ihm ist die Erzählung bei den meisten biblischen Texten die sachgemäße Form der Auslegung. Weder sagt: „Die Exegese hätte dann den Werdegang“ (und m. E. auch die Wirkungen) „eines Textes unter Berücksichtigung seines Referenzbezuges erzählend zu erklären“. Und er führt fort: „Vielleicht kann man sagen, daß in einer solchen Erklärung die Wahrheit des Textes erscheint“.32 II. 2  Das zweite Grundmoment, das zum Verstehen biblischer Texte gehört und das mit dem ersten eng zusammenhängt, ist der unmittelbare und sachnotwendige Bezug der Texte auf die Geschichte, von der sie zeugen und von der sie herkommen. Christian Link formuliert: „Biblische Sätze sind nicht von der Art, daß sie einer ,Erklärung‘ bedürften. Um sie zu verstehen, muß man sich gewissermaßen in ihr Vorfeld begeben und die ,Bearbeitung‘ der Wirklichkeit studieren, die zu ihrer Aussage geführt hat“.33 Es sind Ereignisse und Erfahrungen, die biblische Autoren zum Sprechen und Schreiben nötigen; und auf diese Erfahrungen hin wollen die Texte befragt und gehört werden. Versucht man diese Erfahrungen etwas näher einzugrenzen, so kann man im Blick auf das Neue Testament formulieren: Es geht um die Erfahrungen von Menschen mit der Geschichte Jesu Christi, die nicht tote Geschichte ist, sondern Geschichte, die in Erfahrungen lebendig ist und wirkt. Wir stoßen also in neutestamentlichen Texten auf „Geschichte“ in einer doppelten Weise: Einerseits stoßen wir auf die grundlegende Geschichte Jesu Christi, die als einmalige und vergangene Geschichte „wirkt“ und immer wieder neue Menschen in ihren Bann zieht. Andererseits stoßen wir auf die Wirkung der Geschichte Jesu Christi, die 31  In diesem Zusammenhang hat m. E. Wilhelm Diltheys Gedanke des Verstehens als „Nachbilden, Nacherleben“ (Gesammelte Schriften VII, Nachdruck Göttingen 1958, 213 ff) produktive Kraft, auch wenn man ihn nicht auf das Nacherleben des Vorgangs der Werkgenese im Autor beschränken darf. 32 Hans Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus, FRLANT 125, Göttingen 1981, 250. 33  Christian Link, In welchem Sinn sind theologische Aussagen wahr?, EvTh 42 (1982), 526.

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ihrerseits Geschichte ist, also etwa die Wirkung Jesu in den Erfahrungen, im Denken und in der Mission des Paulus. Die neutestamentlichen Texte sind dann gleichsam ein Ausschnitt oder eine individuelle Spiegelung aus der anfänglichen Wirkungsgeschichte der Geschichte Jesu Christi. Sie verstehen heißt, auf die Erfahrungen aufmerksam werden, von denen sie herkommen, die Lebenswirklichkeit erfassen, die sie spiegeln, und auf die Grundgeschichte hören, auf die sie verweisen. So oder so bedeutet Verstehen biblischer Texte ein sich Einlassen auf die Geschichte: Im Gegenzug zu der verbreiteten neuzeitlichen Denkform, daß das Geschichtliche letztlich relativ und insofern von zweitrangiger Bedeutung sei, wird man sagen müssen: Von den biblischen Texten her ist die Geschichte, auf die sie verweisen und die sie spiegeln, das Wichtigste.34 II. 2. 1  Das hat für die historisch-kritische Exegese wieder eine Konsequenz, auf die ich andeutungsweise hinweisen möchte: Die inzwischen fast zur Selbstverständlichkeit gewordene These, daß in der Exegese die synchrone Textanalyse den Vorrang vor der diachronen haben müsse, muß m. E. kritisch überprüft werden. Insofern wir es mit Texten zu tun haben, die uns Geschichte überliefern, ist dieses Postulat ebenso richtig wie banal. Die Texte sind ja zunächst einmal als Texte, wie sie dastehen, zu analysieren. Sie verdanken sich aber einer geschichtlichen Wirklichkeit und wollen in der Geschichte etwas bewirken. Insofern muß man sagen, daß die synchrone Analyse selbst auf die Dimension der Diachronie hinweist. Nur dann kann man ernst nehmen, daß die Texte selbst sich als Zeugnisse verstehen, die sich einem Ereignis verdanken und vermittels derer dieses Ereignis wieder Ereignis werden will. Man muß also in bezug auf die biblischen Texte m. E. von einem methodischen Vorrang der Synchronie, aber von einem sachlichen Vorrang der Diachronie sprechen. II. 3  Das dritte Grundmoment des Verstehens biblischer Texte ist die Freiheit zur Veränderung und zur Erneuerung. Auch hier kann ich auf die Bibel selbst verweisen: Alt‑ und neutestamentliche Texte sind darauf hin angelegt, in neuen Situationen für neue Menschen neuen Sinn zu erschließen. Interpretation alter 34  Biblische Texte haben einen Referenzbezug, in dem „die geschichtliche Zusammengehörigkeit den Vorrang hat vor der gedanklich-theologischen“ (Gerhard v. Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 41962, 129). Deshalb muß eine Theologie des Alten oder Neuen Testaments den Charakter der Nacherzählung haben und darf nicht nach außerhalb ihrer Texte liegenden systematischen Gesichtspunkten strukturiert werden. Weil die Geschichte für die Interpretation konstitutiv ist, kann eine Interpretation eines biblischen Textes, die diesen als in sich stehendes Verweisungsganzes befragt und nicht primär auf seinen Referenzbezug achtet, ihn gar nicht in seinem Zentrum erreichen. Paul Ricœur spricht von einem „Sinnüberschuß“ (interpretierter) Geschichte, „der immer wieder Anlaß zu neuen Interpretationen gibt“. Gemeint ist damit nicht eine irgendwo verborgene, vom Exegeten tendenziell zu erhebende Totalität des Sinns eines Textes in der Geschichte, sondern dies, daß die erzählte Geschichte biblischer Texte ständig neue Geschichte, und damit neue Texte, macht. Der Interpret „wiederholt jene Entfaltung, welche die Entwicklung der Traditionen vom ursprünglichen biblischen Sinnkern her gefördert und gelenkt hat“ (Zitate aus Ricœur, Hermeneuetik und Strukturalismus [o. Anm. 3], 62).

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Geschichten bedeutet, daß die alten Geschichten nicht nur ausgelegt, sondern ganz neu gesagt werden. Die ständig neuen Entwürfe der Grundgeschichte Israels im Alten und die in späteren Evangelien immer wieder neuen Entwürfe der Geschichte Jesu im Neuen Testament bezeugen dies. Im Alten und Neuen Testament wird also primär die erzählte Geschichte, nicht (noch nicht!) der sie erzählende Text interpretiert. Mutatis mutandis gilt für nicht erzählende Texte etwas Ähnliches: Jüdische Überlieferung bis hin zum Jubiläenbuch und zur Tempelrolle exegesiert die Torah weniger, als daß sie sie neu formuliert. Jesu Umgang mit der alttestamentlichen Tradition oder der Umgang der frühen Christen mit den ethischen Jesusüberlieferungen spiegelt ein ähnliches, wenn auch noch größeres Maß an Freiheit. Erst später ist im Judentum wie im Urchristentum die Textinterpretation an die Stelle der Aktualisierung der Geschichte und der Neuentwürfe der Torah getreten, und zwar in beiden Bereichen etwa gleichzeitig, eine folgenschwere Umschichtung.35 Die Freiheit in der Interpretation hat vor allem damit zu tun, daß die biblische Botschaft darauf aus ist, in immer wieder neuer Situation von neuen Menschen ergriffen und durch ihr Leben je neu interpretiert zu werden. M. E. setzt die Verkündigung und das Wirken Jesu selbst die Freiheit, die wir in ihren späteren Aktualisierungen am Werk sehen.36 Das heißt also: Für das Verstehen biblischer Texte gilt zunächst dasselbe, was für manche andern Texte auch gilt: Sie haben keine festen definierbaren Sinn, den man ein für alle Mal erheben könnte. Ihre Bedeutung ist nicht einfach mit ihrem ursprünglichen Sinn identisch.37 Weit eher könnte man 35 Sie ist nur bedingt mit dem Kanonisierungsprozeß des AT und des NT identisch. Josephus und Pseudo-Philo haben ihre „neue“ Urgeschichte Israels, die Verfasser der Tempelrolle und des Jubiläenbuchs ihr „neues Gesetz“ geschrieben, als die entsprechenden Partien des Alten Testaments schon längstens quasikanonische Geltung hatten. 36  Hans Weder, Kreuz Jesu (o. Anm. 32), 56 f.59 f; ders., Zum Problem (s. o. Anm. 12) 75 f zieht eine Parallele zwischen dem Geschichtsbegriff Arthur Dantos (der Historiker vermag erst dann sachgemäß von vergangenen Ereignissen zu reden, wenn er ihre Zukunft mit einbezieht, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt 1980, bes. 232 ff) und den Evangelien, die erst von der Zukunft Jesu her, d. h. von Kreuz und Auferstehung her, von Jesus sachgemäß reden können. Der Vergleich ist hilfreich, aber man sollte nicht übersehen, wie tief die Unterschiede zwischen dem Historiker im Sinne Dantos und den Evangelisten bleiben: Die Evangelisten nehmen nicht einfach Zukunft zum Verständnis Jesu in Anspruch, sondern eine ganz besondere, ausgezeichnete Zukunft (die Auferstehung des Gekreuzigten); sie nehmen auch die Freiheit in Anspruch, die Jesus selbst stiftete; sie wollen bewußt beanspruchend (verkündigend!) von Jesus reden, während es Danto gerade um die echte „Objektivität“ des Historikers geht. 37  Entscheidend sind hier Thesen von Gadamer: Verstehen ist „kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten“. Verstehen bedeutet zwar nicht, einen Text besser zu verstehen als sein Autor, wohl aber muß man „anders versteh(en), wenn man überhaupt verstehen will“. „Die Ausschöpfung des … Sinns … , der in einem Text … gelegen ist, … ist … ein unendlicher Prozeß“ (Gadamer, Wahrheit und Methode (o. Anm. 14), 280. 282). Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 1970, 186 spricht deshalb von einem „Sinnpotential“ eines literarischen Werks. Der Ausdruck scheint mir hilfreich, wenn damit nicht der Gedanke eines einem Werk inhärenten Sinntotals sich einschleicht, sondern

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sagen: Sie haben einen festen Kern38 und eine Art Richtungssinn,39 die immer wieder neuen Sinn erschließen. Biblische Texte haben also keinen festen Sinn, der irgendwo, und sei es auf der ideellen Ebene, hinter ihnen stünde und so auch für die Exegese sagbar werden könnte,40 sondern sie erschließen immer neuen Sinn in der Begegnung mit ihnen. Die biblischen Texte stehen damit in einer gewissen Nähe zu poetischen Texten, von denen Emil Staiger sagt, daß sie, wie „jedes echte, lebendige Kunstwerk in seinen festen Grenzen unendlich“ sind.41 Sie gehören zu jenen Texten, deren Verstehen nach Gadamer „geschichtlich“ ist, so daß „ein Text nur verstanden wird, wenn er jeweils anders verstanden wird“.42 Allerdings meine ich, daß das Verstehen neutestamentlicher Texte diesen Charakter nicht nur deshalb hat, weil sie zu einer bestimmten Sorte geschichtlicher Fundamentaltexte gehören, sondern darüber hinaus entspricht diese Art des Verstehens dem Anspruch der Texte selbst: Sie nötigen zu neuen Grundeinstellungen des Lebens und zu einer bestimmten Praxis und schenken zugleich Freiheit dazu. II. 3. 1 Auch aus dieser Feststellung ergibt sich wieder eine Konsequenz für die historisch-kritische Exegese neutestamentlicher Texte: Wenn der Sinn eines Textes in neuer geschichtlicher Situation und bei neuen Hörern bzw. Lesern sich jeweils neu verwirklicht, so muß die Frage nach den Rezipienten eines Textes als gewichtig neben die Frage nach seinem Autor treten, wo immer dies möglich ist.43 Das gilt primär für die ursprünglichen Rezipienten, aber wenn damit gesagt ist, daß es das Werk selbst in seiner Potentialität ist, das in seiner Wirkungsgeschichte seine Aktualisierungen anstößt. 38  Den Begriff verdanke ich Ricœur (vgl. Anm. 34). 39  Mit dem Begriff „Richtung“ möchte ich aufnehmen, was Paul Hoffmann / ​Volker Eid, Jesus von Nazareth und eine christliche Moral, QuD 66, Freiburg 21975, 109 ff in m. E. glücklicher Weise als „Perspektive“ bezeichnen. Vgl. Miguez-Bonino, Theologie (o. Anm. 29), 93: „allgemeine Richtung der biblischen Texte“. 40 Klaus Berger, Exegese des Neuen Testaments, Heidelberg 1977, der sich vielfach auf ähnlichen Bahnen bewegt, wie der hier vorgelegte Versuch, befürchtet (253), der Ricœur’sche Begriff des „Sinnüberschusses“ beinhalte unnötigerweise eine „metaphysische Wesenheit“ eines Sinns, der hinter den verschiedenen geschichtlichen Rezeptionen eines Textes liege. Das meint Ricœur wohl nicht. Berger verweist statt dessen im Anschluß an Wolfgang Iser auf die Leer‑ und Unbestimmtheitsstellen in Texten als Wirkungsbedingungen für den Auslegungsspielraum (vgl. 92 f.l01 f). Solche Leerstellen haben aber ihre Wirkungsmöglichkeit nur an ganz bestimmten Stellen innerhalb semantisch bestimmter Texte und vermögen m. E. nicht, das Phänomen des offenen bzw. „halboffenen“ Sinns von Texten erschöpfend zu erklären. 41  Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation, München 1971, 28. 42  Gadamer, Wahrheit und Methode (o. Anm. 14), 292. 43  Am deutlichsten hat in der Exegese Klaus Berger auf die Wichtigkeit rezeptionskritischer Fragestellungen hingewiesen (a. a. O. 92 ff). Er macht mit Recht darauf aufmerksam, daß die Frage nach den Rezipienten, ihrer Situation und ihren Verständnismöglichkeiten für gattungsgeschichtliche, traditionsgeschichtliche (Frage nach möglichen Verständnishorizonten der Rezipienten) und soziologische Fragestellungen neue Horizonte öffnet. Literaturwissenschaftlich wichtig sind Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 1976; Harald Weinrich, Für eine Literaturgeschichte des Lesers, Merkur 21 (1967), 1027 ff; Gunter

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auch für die späteren Rezipienten eines Textes im Verlaufe seiner Wirkungs-, Aktualisierungs‑ und Interpretationsgeschichte. Schindler formulierte m. E. mit Recht: „Zur Bibel gehört als Element ihrer selbst das vielstimmige … Echo von Jahrhunderten“.44 Der Exeget muß versuchen, neutestamentliche Texte nicht nur unter textwissenschaftlichen, sondern auch unter kommunikationswissenschaftlichen Gesichtspunkten zu untersuchen. Das in neutestamentlichen Texten verschriftlichte Wort ist ja ein Geschehen, das etwas bewirken wollte, oder, wie Paulus formuliert, eine δύναμις (Röm 1,18 f; 1 Kor 1,18). Es gilt bei neutestamentlichen Texten nicht nur, daß das Gesagte bzw. Geschriebene das Gemeinte enthält, sondern auch, daß durch das Geschriebene, und mehr noch durch das Gesagte, das Gemeinte entsteht.45 Neutestamentliche Forschung, die damit Ernst macht, daß neutestamentliche Texte in der Regel kaum oder nur vordergründig Informationen über irgendwelche Sachverhalte sind, sondern Zeugnis und Vehikel eines Geschehens, das von der Geschichte Jesu Christi herkommt und sich in der Geschichte verwirklichen will, wird rezeptionsästhetische und rezeptionsgeschichtliche Gesichtspunkte bei der Exegese berücksichtigen. Unter Rezeptionsästhetik verstehe ich dabei im Anschluß an die Literaturwissenschaft die Frage nach der beabsichtigten Wirkung und unter Rezeptionsgeschichte diejenige nach der erzielten Wirkung eines Textes.46 Die Interpretation eines Textes muß sich dann in wesentlichem Maß im Spannungsfeld zwischen seiner beabsichtigten und seiner erzielten Wirkung bewegen.47 Hier liegt m. E. einer der Ansatzpunkte zu wirkungsgeschichtlichen Fragestellungen in der Exegese.48 E. Grimm, Einführung in die Rezeptionsforschung, in: ders. (Hg.), Literatur und Leser, Stuttgart 1975, 11 ff; Jauß, Literaturgeschichte als Provokation (o. Anm. 37); Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München 1976. 44  Schindler, Nutzen und Nachteil (o. Anm. 24), 265. 45  Iser, Akt des Lesens (o. Anm. 43), 94. 46 Zur Begriffsbestimmung vgl. Link, Rezeptionsforschung (o. Anm. 43), 43 ff. 47  Damit sind aber noch keine Kriterien für ein Urteil über den Anspruch eines Textes gegeben, sondern es ist nur eine sehr komplexe, im folgenden Abschnitt weiter zu bedenkende Frage angeschnitten. Einerseits muß es natürlich zu denken geben, wenn Texte in ihrer Wirkungsgeschichte immer wieder zu Wirkungen führen, die sie nicht beabsichtigen, oder wenn ihre erfolgreiche Rezeption auf Momenten beruht, die ihnen selbst fremd sind. Andererseits ist es selbstverständlich, daß ein Rezeptionserfolg eines Textes überhaupt keine Basis für ein Urteil über seine Qualität oder gar seine Wahrheit sein kann (wie etwa im Bereich der Literaturwissenschaft die Trivialliteratur zeigen kann). Die Frage nach Kriterien zur Beurteilung der Wirkung eines Textes ist bei biblischen Texten eine theologische Frage, die im Gespräch mit den biblischen Texten selbst zu verhandeln ist. 48  Man muß m. E. zwischen wirkungsgeschichtlichen Fragestellungen, die sich vom Rezipienten her ergeben (insofern dieser immer schon im Wirkungsbereich seiner Texte steht und von ihnen vorgeprägt ist) und solchen, die sich von den Texten her ergeben (insofern die Texte eine Wirkungsabsicht haben und gewirkt haben) unterscheiden. Für die neutestamentlichen Texte läßt sich von Wirkungsgeschichte in verschiedener Weise sprechen: 1. Die neutestamentlichen Texte selbst sind Extrakt oder Relikt aus der anfänglichen Wirkungsgeschichte des (immer schon sprachlich interpretierten) Evangeliums; 2. die neutestamentlichen

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III. Die Frage nach der Wahrheit in der Interpretation neutestamentlicher Texte III. 1  Die Frage nach Wahrheitskriterien. Wenn sich der Sinn eines neutestamentlichen Textes nicht in seinem Ursprungssinn erschöpft und wenn zum Verstehen eines Textes auch seine Veränderung in neuer Situation gehört, stellt sich ein fundamentales Problem: Was macht denn nun die Wahrheit einer Interpretation aus? Wenn sich „Auslegung“ der Schrift auch im Leben der Kirche und der Christen vollzieht, „im Handeln und Leiden …, in Kultus und Gebet, in theologischer Arbeit und persönlichen Entscheidungen, in kirchlicher Organisation und Kirchenpolitik, … in Kriegen … und in Werken barmherziger Liebe“,49 dann spitzt sich die Frage nach der Wahrheit in der Auslegung der Schrift zu, weil die Wahrheit der Auslegung mit der Wahrheit des Glaubens und des Lebens zusammenfällt. Wenn aber der Sinn eines Textes nicht feststeht, wenn „die Wahrheit des Textes … seine Geschichte“ ist, wie die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Link im Anschluß an Gadamer formuliert,50 dann scheint die Frage nach der Wahrheit und nach möglichen Normen in der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Auslegung unbeantwortbar zu werden. Aber gerade wenn Wahrheit biblischer Texte keine Sache igendwelcher Prädikationen, sondern eine Frage des adäquaten Eingehens auf den Text im Leben ist, wird die Wahrheitsfrage besonders dringlich. Dies gilt besonders für eine Kirche, die gewohnt ist, „sola scriptura“ zu sagen und nun durch hermeneutische Überlegungen von der Schrift her auf die Offenheit des Marktes der Möglichkeiten aufmerksam gemacht wird. Oder nochmals anders: Eine Hermeneutik biblischer Texte, die im Umkreis Gadamers denkt und seine Öffnung der existentialen Interpretation auf die Dimension der Geschichte hin bejaht, ist derselben Frage ausgesetzt, die man m. E. auch an Gadamer stellen muß: Ich meine die Frage, wie der Mensch, der in die Offenheit der Überlieferungsgeschichte einrückt, gegenüber der Übermacht der Geschichte seine Kritikfähigkeit bewahrt, bzw. wie es ihm möglich ist, den Anspruch von Traditionen auch abzuweisen.51 Texte haben eine Wirkungsgeschichte, deren Anfang von ihren Autoren wohl präzise intendiert (wenn auch nicht immer erreicht) worden ist, die aber weit über ihren Anfang hinausreicht. 49  Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in ders., Wort Gottes und Tradition, Göttingen 1964, 24. 50  Link, Rezeptionsforschung (o. Anm. 43), 125. 51  Jauß, Literaturgeschichte (o. Anm. 37), 188 formuliert seinem Ansatz entsprechend formal: Ist Verstehen ein Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, so kommt das von Gadamer selbst beschriebene „produktive Moment, das im Verstehen liegt“ (vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode (o. Anm. 14), 280) zu kurz. Jürgen Habermas, Zu Gadamers ‚Wahrheit und Methode‘, in: ders. (Hg.), Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt 1971, 48 f vermutet bei Gadamer eine „Rehabilitierung des Vorurteils“ und weist auf die vielfach gestörten Kommunikationsvorgänge in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die zur geschichtlichen Erfahrung sich verdichten, daß „Autorität und Erkenntnis (nicht) konvergieren“ (50). Nach ihm – und diese Frage kann ich nur unterstreichen – „bestreitet“ Gadamers Entwurf „die

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Wir setzen ein mit einer Überlegung von Habermas: „Das Recht der Reflexion erfordert die Selbsteinschränkung des hermeneutischen Ansatzes. Es verlangt ein Bezugssystem, das den Zusammenhang von Tradition als solcher überschreitet; nur dann kann Überlieferung auch kritisiert werden“. Habermas sieht aber sogleich die Gefahr, daß der Mensch mit Hilfe eines solchen Bezugssystems die Offenheit der Geschichte zerstört und daß sich einmal mehr das Subjekt der Geschichte bemächtigt. Darum schränkt er ein: „Wie aber soll ein solches Bezugssystem anders als aus der Aneignung von Tradition wiederum legitimiert werden?“52 Der Umgang des Subjektes mit der Tradition konstituiert also einen Zirkel, in dem beide Teile sich gegenseitig bestimmen: der urteilende und reflektierende Mensch beurteilt die Tradition, und die Tradition stellt den beurteilenden Menschen in Frage. Habermas hat diesen Zirkel als Verschränkung von Erkenntnis und Interesse beschrieben. Menschliches Urteilen über Traditionen ist nötig, weil erst aufgrund solcher Urteile der Mensch zu eigenem Handeln kommt; und dennoch gewinnt der Mensch seine Urteilsfähigkeit nur im Gespräch mit der Tradition. Habermas hat damit die formale Struktur des Problems Wahrheit und Tradition m. E. glänzend beschrieben. Die Frage ist nun aber, in welcher Weise ein Bezugssystem, das den Zusammenhang der Tradition überschreitet, zu gewinnen ist. Habermas postuliert gegenüber Gadamer den „Übergang von den transzendentalen Bedingungen der Geschichtlichkeit zu der Universalgeschichte“, die den verstehenden Menschen konstituiert.53 Ein Vorgriff auf eine Geschichtsphilosophie ist nach ihm für die Extrapolation eines normierenden Bezugssystems des Handelns nötig. Im Unterschied zu Hegel und seinen Nachfahren ist Habermas sich dabei der Gefahr der Absolutsetzung des Subjekts54 wohl bewußt: Darum ist dieser Vorgriff „hypothetisch“55 und es ist gleichsam nur ein Kraft der Reflexion, die sich … darin bewährt, daß sie den Anspruch von Traditionen auch abweisen kann“ (49). Mir bleibt auch der Eindruck, daß Gadamer in einer großen Nähe auch zu fragwürdigen Aspekten des Historismus bleibt. Das Problem hat bereits Bultmann in seiner Auseinandersetzung mit dem Historismus bündig formuliert (wenn auch m. E. in seinem theologischen Entwurf nicht gelöst): „Unsere Vergangenheit hat keineswegs einen eindeutigen Sinn“ (Geschichte und Eschatologie, [o. Anm. 13], 169). 52  Habermas, a. a. O. 50. 53  A. a. O. 55. Ein ähnlicher gedanklicher Ansatz findet sich übrigens bereits bei Jaspers Ursprung (o. Anm. 19), 13: Wir erfassen den Sinn der Geschichte nur unter der Idee ihrer Einheit. 54  Gadamer spricht in seiner Replik, in: Habermas, Hermeneutik und Ideologiekritik (o. Anm. 51), 307 von der Gefahr des Alleinbesitzes der richtigen Überzeugung. Sie trifft wohl den orthodoxen Marxismus, aber kaum Habermas. Umgekehrt zeigt dieselbe Replik, daß mit dem Vorwurf der Kritikunfähigkeit an Gadamer sehr vorsichtig umgegangen werden muß, weil es ihm in seinem Kampf gegen eine letztlich es besser als die Tradition wissende „Tiefenhermeneutik“ gerade um die Kritikfähigkeit des Subjekts nicht so sehr gegenüber der Tradition, als gegenüber sich selbst, geht. 55 Habermas, Hermeneutik und Ideologiekritik (o. Anm. 51), 55: ein „hypothetische(r) Vorgriff auf eine Geschichtsphilosophie in praktischer Ansicht“. Zur Dominanz der Praxis bei Habermas, die m. E. einen wesentlichen Grund seiner (akzentuellen) Unterschiede zu Gadamer

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Postulat der praktischen Vernunft, die dazu nötigt. In dieser Weise sind Begriffe wie Freiheit und Emanzipation als Leitlinien des Handelns zu verstehen. Die Theologie wird Habermas in seinem Versuch, Wahrheitskriterien durch den Vorgriff auf einen universalgeschichtlichen Entwurf zu gewinnen, m. E. nicht folgen können. Ihr Weg auf der Suche nach Wahrheitskriterien kann nicht hypothetisch über die Geschichte hinaus-, sondern nur in sie hineinführen. Der Weg der Theologie muß darin bestehen, daß sie ihre besondere Tradition, nämlich die biblischen Texte, daraufhin befragt, welche Kriterien sie zur kritischen Beurteilung ihrer Überlieferung und der Interpretationen ihrer Überlieferung zur Verfügung stellt. Damit ist der Zirkel, den Habermas angedeutet hat, von vornherein in ganz spezifischer Weise gegeben: Die Tradition, die es kritisch zu interpretieren gilt, stellt die Kriterien ihrer Kritik zur Verfügung. In ihrer Kritik auch an der biblischen Tradition verdankt in der Theologie ihre eigene Kritikfähigkeit der biblischen Tradition.56 Dieser Zirkel in der Theologie hat eine besondere Voraussetzung: Wer sich wie die Theologie auf eine spezielle Tradition beruft, muß in einer fundamentalen Weise bereits im Einverständnis mit der Tradition sein, die er kritisch beurteilt.57 Wir verstanden Interpretationen neutestamentlicher Texte als Verwirklichungen der damaligen Geschichte Jesu Christi. Entsprechend können die Kriterien für sachgemäße oder unsachgemäße Interpretation auf zwei zeitlichen Ebenen gesucht werden, nämlich auf der Ebene der vergangenen Geschichte Jesu Christi und auf der Ebene der späteren oder heutigen Verwirklichung der Geschichte Jesu Christi. III. 2  Die Geschichte Jesu Christi als Wahrheitskriterium. Suchen wir in der Vergangenheit der Geschichte Jesu Christi nach Kriterien, so bietet die neuere Theologie etwa folgende Formulierungen an: Die Geschichte Jesu Christi ist Wahrheitskriterium für die Interpretation biblischer Texte.58 Oder: Das sachkritische Zentrum für die Exegese kann kein anderes ausmacht, vgl. die differenzierten Überlegungen bei Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973, 199 ff. 56  Klaus Berger, Exegese (o. Anm. 40), 255 formuliert ausgezeichnet: „Die Normen (sc. des Handelns, damit aber auch der Wahrheit biblischer Texte) sind … nicht per se übergeschichtlich, weil die Erlösung selbst geschichtlich war und nur immer wieder in der Geschichte durch Nacherzählen und Erinnerung geschichtlich erfahren wird“. 57 Ich möchte diese Formulierung explizit als Einverständnis auch mit Peter Stuhlmacher interpretieren, der sein Buch „Vom Verstehen des Neuen Testaments“ vermutlich eben deshalb, weil das Verstehen selbst ebenso wie die Frage nach der Wahrheit einer Auslegung von den biblischen Texten selbst her bestimmt werden muß, mit einem (zunächst eher wie ein Anhang wirkenden) inhaltlichen Kapitel „Entwurf biblischer Versöhnungstheologie“ abschließt. Allerdings empfinde ich es dann als eine Schwäche, daß er seine (m. E. etwas formal wirkende) Hermeneutik des Einverständnisses im vorangehenden Kapitel gleichsam unabhängig davon entwirft. 58 Die Formulierung stammt von Eberhard Jüngel. Christian Link, In welchem Sinn sind theologische Aussagen wahr? (o. Anm. 33), 538 spricht in diesem Zusammenhang nicht von „Kriterium“, sondern von einer „Spur“, die Wahrheit sich schafft. Er drückt so aus, daß jede

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sein als „der Verweisungsbezug der Sprache des Glaubens“, nämlich der auferweckte Gekreuzigte.59 Schon Johannes hat das ähnlich, aber noch prägnanter formuliert: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Solche Formulierungen sind gleichsam geschichtliche Varianten dessen, was protestantische Theologie immer und immer wieder als Kanon im Kanon zu formulieren versuchte. Nicht geschichtliche, sondern sachlich-begriffliche Formulierungen dieses Kanons lauteten etwa: was Christum treibet, Rechtfertigung sola fide, oder: das Reich Gottes, die Liebe Gottes. Die Probleme, die solche Versuche stellen, sind deutlich: III. 2. 1  Schwierigkeiten eines solchen Kriteriums. Versucht man, das, was sich in der Geschichte Jesu Christi ereignet hat, begrifflich zu fassen, so hat das den Vorzug, daß solche Formulierungen eine gewisse inhaltliche Fixierung dessen bedeuten, was sich in der Geschichte Jesu Christi ereignet hat. Auf der andern Seite können sie zu Mißverständnissen Anlaß geben, weil sie verleiten könnten, primär oder ausschließlich nach einem Lehrgehalt in Interpretationen neutestamentlicher Texte zu fragen, also z. B. danach, ob eine bestimmte Interpretation eines einzelnen Textes mit der Grundlehre der Rechtfertigung sola fide übereinstimme. Insofern ließen sich Interpretationen tatsächlich „messen“ und „beurteilen“. Dem widerspricht aber, daß es nach dem Neuen Testament ausgesprochen schwierig ist, einen eindeutigen und überall akzeptierten begrifflichen Ausdruck für den „Kanon im Kanon“ zu finden. Es muß sehr zu denken geben, daß z. B. Paulus den Grundsatz des Glaubens neu, nämlich als iustificatio sola fide, formulierte, obwohl er Jesu Grundaussage von der Ankunft des Gottesreichs durchaus kannte. Überspitzt könnte man formulieren: Im Neuen Testament ist die Geschichte Jesu Christi konstante Basis, während ihre theologisch-begriffliche Explikation variabel ist. Das führt dazu, ein Kriterium eher in der Richtung von „geschichtlichen“, und das heißt zugleich auch: christologischen Formulierungen zu suchen. Hier werden aber die Schwierigkeiten vollends groß. Was heißt: Die Geschichte Jesu Christi ist Wahrheitskriterium für die Interpretation neu­testa­ment­ licher Texte? a) In einem unmittelbaren, nur auf die Faktizität einzelner Episoden oder Berichte zielenden Sinn kann das nicht gemeint sein; sonst wären wir gezwungen, den neutestamentlichen Kanon von Glaubenslegenden wie etwa der Seewandelgeschichte, die vermutlich keinen Anhalt am Leben des irdischen theologische Frage nach Wahrheit nur im Wirkungsbereich der Geschichte Jesu möglich ist. Wenn ich dennoch bei dem – sachlich ebenso unzureichenden – Begriff „Kriterium“ bleiben möchte, dann deswegen, weil die Vielzahl und Vielfalt der vestigia Christi in der Geschichte um des Handelns in der Gegenwart willen zu Entscheidungen nötigt. In dieser Situation bekommt m. E. die vorgegebene, unveränderbare und damit tendenziell objektivierbare Geschichte Jesu Kriteriumscharakter. 59  Weder, Kreuz Jesu (o. Anm. 32), 248.

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Jesus haben, zu reinigen, oder eben umgekehrt die Historizität solcher Legenden aus dogmatischen Gründen zu postulieren. Es muß die Möglichkeit geben, daß ein Text in einem „symbolischen“ Sinn der Geschichte Jesu Christi entspricht, weil in ihm das, was sich in Jesus mit dem Menschen und der Welt ereignet hat, sachgemäß zur Sprache kommt. Und es muß Grenzen für eine rein äußere Anwendung dieses Kriteriums geben: Der Geschichte Jesu entspricht nicht unbedingt, wer sich an echte Jesusworte oder ‑geschichten wörtlich hält. Es kann sein, daß eine wörtliche, richtige Interpretation eines Gebotes Jesu, z. B. des Scheidungsverbotes, in einer veränderten Situation dem, was Jesus wollte, also der Geschichte Jesu, stracks widerspricht. b) Die Geschichte Jesu Christi ist selbst interpretationsbedürftig, und zwar durch uns. Nur schon, wenn man daran denkt, wie wenig Konsens hinsichtlich der Rekonstruktion der wirklichen Geschichte Jesu und seiner „echten“ Verkündigung besteht, könnte einen das Grauen ankommen. Wir müssen außerdem immer nach dem Zentrum, also der Hauptsache der Geschichte Jesu fragen. Das Kriterium hängt also von unserer Interpretation ab. c) Wenn wir uns außerdem nicht einfach an die historisch rekonstruierte Geschichte des irdischen Jesus halten, sondern die Interpretationen des nachösterlichen Glaubens dazunehmen, wie es sowohl Jüngel als auch Weder meinen, so wird uns dieses „Wahrheitskriterium“ vollends aus der Hand geschlagen. Wenn erst die – vom nachösterlichen Glauben her – interpretierte Geschichte Jesu Christi die wirkliche Geschichte Jesu Christi ist – und das meint das Neue Testament – dann gerät dieses „Kriterium“ völlig außer Kontrolle: Wessen Interpretation ist denn nun die maßgebende? Und: Wie kann ich, wenn ich einmal schon so weit bin, verhindern oder bestreiten, daß meine Interpretation der Geschichte Jesu Christi zum Kriterium wird? Damit aber wird höchst fraglich, was dieses Kriterium unterscheiden kann. III. 2. 2  Wahrheit als Weg. Dennoch scheint mir ein solches Kriterium nicht einfach eine Leerformel zu sein. Aber es wäre mißverstanden, wenn man in ihm nur einen Maßstab suchte, der eine „richtige“ Interpretation verfügbar machte. Der eigentliche Sinn des Hinweises auf die Geschichte Jesu Christi als Wahrheitskriterium scheint mir eher darin zu bestehen, daß es eine Bewegung einleitet. Die Geschichte Jesu Christi, auf die jede Interpretation bezogen bleiben muß, ist in einem fundamentaleren Sinn Wahrheitskriterium, als in dem Sinne, daß sie Wahrheit begrenzt, definiert und von Unwahrheit scheidet. Sie ist Wahrheitskriterium in dem Sinn, daß durch sie Wahrheit zu allererst entsteht. In diesem Sinn interpretiert Johannes die Wahrheit, die Jesus ist, durch die Worte „Weg“ und „Leben“: Jesus ist also nur ganz eingeschränkt in dem Sinn Wahrheit, daß er begrenzt und einengt, sondern primär Wahrheit im Sinne eines Wegs, den er eröffnet und den wir gehen. Versteht man Wahrheit nicht als handhabbares Kriterium, sondern als Weg, den wir zu gehen haben, so bestimmt Jesus gleichsam die Richtung eines Weges, der in immer neue Landschaften führt. Jesus

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ermöglicht also nicht abschließend definierbare Wahrheitsbestimmung, sondern seine Geschichte ist der ständige Bezugspunkt, zu dem die Suche nach Wahrheit immer wieder zurückkehren muß.60 In diesem Sinne will dieses „Kriterium“ zum „Vernehmen“ führen, jener Grundhaltung also, die für mich weit mehr ist als ein Grundprinzip historisch-kritischer Exegese unter andern.61 sondern vielmehr die Grundhaltung christlicher Wahrheitsverwirklichung überhaupt. III. 2. 3  Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für den Glauben. Von hier aus läßt sich auch die grundsätzliche Bedeutung der historisch-kritischen Exegese für den christlichen Glauben andeuten. Die von ihr gestellte Frage nach dem Ursprungssinn von Texten und nach der Anfangsgeschichte des Glaubens ist nicht „Interpretation“ in jenem ganzheitlichen Sinn, wie sie die Texte fordern. Historisch-kritische Exegese eines Textes vermag nicht in einem direkten, unvermittelten Sinn seine Interpretation in der Gegenwart zu regulieren. Dennoch hat sie für den Glauben eine bleibende und grundsätzliche Bedeutung. Sie erinnert daran, daß der Glaube von einer bestimmten Geschichte unumkehrbar herkommt. In ihrem Streben nach größtmöglicher Objektivität der Rekonstruktion erinnert sie daran, daß diese Geschichte dem Glauben vorgegeben bleibt und von ihm nicht willkürlich verändert oder neu geschaffen werden kann.62 Indem sie biblische Texte, biblische Zeugen und biblische Geschichte in ihrer Fremdheit vor uns stellt, hilft sie, die Erkenntnis einzuüben, daß der Glaube sich nicht sich selbst, sondern etwas Fremdem verdankt, das er u.U. noch gar nicht verstanden hat, obwohl er sich längst davon bestimmt meint.63 Indem sie in besonderer 60 Fuchs, Marburger Hermeneutik (o. Anm. 30), 38: „Wir fragen nach der Wahrheit, indem wir fragen, wo sie erscheint. Wir lassen uns nicht im Voraus logisch gefangen nehmen, sondern fragen nach der Situation der Wahrheit. Das ist das Besondere der ‚neuen‘ Hermeneutik“. 61  Das „Vernehmen“, verstanden als ein historisch-kritisches Arbeitsprinzip neben andern, z. B. als viertes Prinzip neben die drei Prinzipien der Analogie, der Korrelation und der Wahrscheinlichkeit gestellt, wie es Stuhlmacher, Vom Verstehen (o. Anm. 11), 220 postuliert, bleibt m. E. unklar und methodisch nicht konkretisierbar. Was meint es anders als die Forderung nach solider, nicht voreiliger, nicht auf Pseudooriginalität und subjektivistische Eigenfündlein bedachter historisch-kritischer Exegese? Solche Ernsthaftigkeit hat ja gerade Ernst Troeltsch mit dem Hinweis auf die Wahrscheinlichkeitsurteile historisch-kritischer Methode bedacht. Hilfreicher schiene mir, das „Vernehmen“ als ein Grundaxiom zu fassen, das den methodischen Prinzipien historischer Kritik vorgeordnet ist und jedes Verstehen, auch jedes Urteil über biblische Texte, ständig ins Hören zurückverweist. 62 In diesem Kontext ist das Streben nach relativer Objektivität ein unverzichtbares Moment jeder Geschichtswissenschaft. Historisch-kritische Textexegese wird aus demselben Grund einen Text zunächst als Aussage, nicht schon als Mitteilung ernst nehmen. 63  Auch Gadamer, Wahrheit und Methode (o. Anm. 14), 288–290 spricht eindringlich vom „Entwurf eines historischen Horizontes, der sich von dem Gegenwartshorizont unterscheidet“ (290). Dieser Entwurf sei ein „Phasenmoment“, der vom „eigenen Verstehenshorizont der Gegenwart eingeholt“ wird (ebd.). Es ist nicht von ungefähr, daß dem Historiker Karl-Georg Faber diese Formulierung noch nicht genügt und er ein vorschnelles Überspringen des Abstandes bei Gadamer befürchtet: „Für den Historiker (behält) die mit der historischen Methode ermittelte Sachwahrheit auch dann die Priorität vor der Verständlichkeit …, wenn sie dem Verstehen widersteht“ (Theorie der Geschichtswissenschaft, München 41978, 120).

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Weise nach der Anfangsgeschichte des Glaubens und nach seinen anfänglichen Zeugnissen fragt, stellt sie die Grundrichtung christlichen Wegs heraus, der von der Geschichte Jesu Christi ausgehen muß. Von da her glaube ich nicht, daß die historisch-kritische Methode durch sog. „alternative“ Methoden, die das Ziel eines ganzheitlichen Verstehens haben, ersetzbar ist, etwa durch eine strukturale Analyse, eine symbolische Exegese oder eine psychoanalytische Interpretation. III. 3  Die Liebe als Wahrheitskriterium. Wir können aber auch in der Gegenwart der jeweiligen konkreten Verwirklichung der Geschichte Jesu Christi nach einem Wahrheitskriterium suchen.64 Hier möchte ich als These formulieren: Neutestamentliche Texte wollen den Menschen in die Liebe einweisen, die Gott durch Jesus Christus gestiftet hat. Von hier aus gilt dann: Neutestamentliche Texte und ihre Interpretationen sind wahr, sofern sie Liebe stiften. Eine solche Formulierung nimmt ernst, daß Verstehen neutestamentlicher Texte den ganzen Menschen, auch seine Lebenspraxis, umfaßt und daß auch verbale Interpretationen neutestamentlicher Texte nicht aus ihrer Situation, in der sie geschehen, gelöst werden können, sondern daraufhin befragt werden müssen, ob ihre Folgen den Texten selbst entsprechen. Ich möchte hier vor allem an Matthäus erinnern, der am konsequentesten im Neuen Testament die Liebe zum Kriterium von Wahrheit und Unwahrheit des Glaubens gemacht hat: Er entfaltet dies z. B. am Schluß seiner Bergpredigt, wo Christus im Gericht vielen, die ihn kannten, in seinem Namen prophezeiten und Wunder taten und ihn korrekt als ihren Herrn bekannten, sagen wird: „Ich habe euch nie gekannt! Weicht von mir, die ihr Gesetzlosigkeit vollbringt“ (Mt 7,21– 23). Wir stoßen hier aber auf einen Grundzug, der sich durch das ganze Neue Testament durchhält. Das zeigt etwa Joh 15,7 ff, wo das Bleiben in Christus, das Bleiben in seiner Liebe, das Bleiben seiner Worte in uns und das Halten seiner Gebote ganz eng zusammengehören. Ein in diese Richtung zielender Text ist auch 1 Kor 13: Hier wird die Liebe der Erkenntnis gegenübergestellt; das Kapitel schließt: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe; die Liebe aber ist die größte unter ihnen“ (1 Kor 13,13). Die Liebe ist kein Kriterium, das ein eschatologisches Sinntotal der Geschichte bereits antizipierend vorwegnimmt. Angesichts der korinthischen Pneumatiker und Himmelsredner ist der Satz, daß die Liebe im Eschaton bleibt, vielmehr ein paradoxer Satz. Er entspricht dem Satz, daß das Kreuz die gegenwärtige Gestalt des ewigen Lebens ist. Gegenüber allen Erkenntnissen, auch den in Auslegungen biblischer Texte liegenden Erkenntnissen, könnte man im Sinne von 1 Kor 13 formulieren: Sofern in ihnen 64  Der Leitbegriff der Liebe, an dem ich hier die „Verifikation“ der Wahrheit zu denken versuche, ist wesentlich durch Augustin, De doctr Christ 1,36, 40–44 angeregt. Er steht nicht in Gegensatz zu dem von Christian Link, In welchem Sinn (o. Anm. 33), 539 f gewählten Leitbegriff der Freiheit. Er scheint mir aber deswegen hilfreich, weil z. B. bei Jesus oder Paulus auf der Ebene menschlichen Handelns die Liebe die Potentialitäten der Freiheit bestimmt und sie so zu wahrer Freiheit macht.

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Liebe ist, „bleiben“ sie. Die Frage nach der Wahrheit der Interpretation des Evangeliums in einem biblischen Text oder in einer späteren Interpretation eines biblischen Textes lautet also, ob in ihnen Liebe geschieht. Sie konkretisiert die Frage, ob eine Interpretation „Christum treibet“. Sie enthält zugleich ein Moment der Freiheit und der Bindung an die Tradition: Mit dem Stichwort „Liebe“ ist die Richtung der Geschichte Jesu Christi aufgenommen. Zugleich steckt in ihr ein Moment der Freiheit: Liebe läßt sich nicht im Voraus oder im Allgemeinen definieren.65 III. 3. 1  Die Liebe als Wahrheitskriterium ist nicht ein theoretisches und abstraktes, sondern ein geschichtliches und praktisches Kriterium. Weil Liebe nicht nur ein Gedanke ist, kann man die Frage nach ihr nicht nur rezeptionsästhetisch stellen. Man kann also nicht nur fragen: Wollte oder will eine Interpretation Liebe bewirken? Sondern man muß auch rezeptionsgeschichtlich fragen, ob eine Interpretation Liebe bewirkt hat, denn es gehört zur Liebe, daß sie ihre Folgen mit bedenkt. Die Liebe als Kriterium nimmt ernst, daß Verstehen neutestamentlicher Texte ein ganzheitliches Verstehen ist, bei dem die Applikation integrierender Bestandteil des Verstehens ist. III. 3. 2  Das Wahrheitskriterium der Liebe hat seine Grenzen. Ich sehe sie vor allem an zwei Punkten. Einmal: Was Liebe ist bzw. gewesen ist, ist sowohl in Bezug auf die Gegenwart wie in Bezug auf die Vergangenheit oft schwer eindeutig festzustellen. An diesem Punkt hat die Theologie ein erhebliches Maß an sozialwissenschaftlicher Reflexion nötig. III. 3. 3  Liebe als Geschenk Gottes. Noch wichtiger ist theologisch etwas Anderes. Das menschliche Bewirken von Liebe ist deshalb kein erschöpfendes Wahrheitskriterium für neutestamentliche Texte, weil es in ihnen primär nicht um menschliches Wirken von Liebe, sondern um das menschliches Wirken zuallererst bewirkende göttliche Geschenk von Liebe geht. Das Verfehlen von menschlicher Liebe, das wir nur allzuoft feststellen müssen, ist noch keine Widerlegung Gottes, von dem nach den Texten alle Liebe ausgeht. Insofern ist „Liebe“ kein erschöpfendes Wahrheitskriterium. Hier wäre der Ort, wo man die Frage nach der Bedeutung des Heiligen Geistes für die Schriftauslegung ernst nehmen müßte: Neben und über menschlich-theologischen Wahrheitskriterien gibt es die Macht des Geistes, die der Ohnmacht menschlicher Gestalt des Wortes Gottes aufhelfen will. Der Heilige Geist aber macht die Frage nach Wahrheitskriterien für die menschlich-geschichtlichen Gestalten des Wortes Gottes nicht überflüssig, sondern fordert sie. III. 3. 4  Trotz aller Grenzen der Liebe als Wahrheitskriterium für Interpretationen des Evangeliums hat es aber eine beträchtliche Reichweite: Es ver65 Auch bei diesem Kriterium ist der Begriff der „Richtung“, die durch die Liebe gegeben ist und die in neuen Interpretationen Bindung und Freiheit einschließt, hilfreich. Berger, Exegese (o. Anm. 40), 256 spricht gut von einer „Tendenz des Handelns“, die „Wirkung geschehener Erlösung“ ist.

16. Erwägungen zur sachgemäßen Interpretation neutestamentlicher Texte

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mag Versuche sogenannt „richtiger“ Interpretationen biblischer Aussagen jenseits geschichtlich-konkreter Situationen ebenso wirksam zu hinterfragen wie die Trennung von wissenschaftlich-historischer oder auch dogmatischer Auslegung vom praktischen Lebensvollzug. In einer Situation, wo Kirchen immer die Neigung haben, das Proprium des Evangeliums jenseits ihres eigenen Verhaltens anzusiedeln, wo z. B. eine Verständigung über das Evangelium abseits von der Politik erstrebt wird, oder wo z. B. kirchliche Finanzhaushalte kaum als Anfrage an die Wahrheit der kirchlichen Verkündigung verstanden werden, ist es ziemlich einschneidend. III. 4  Wahrheit als Konsens. Das erste dieser beiden Wahrheitskriterien, die Orientierung an der Geschichte Jesu Christi, hat eine gewisse Affinität zu philosophischen Versuchen, Wahrheit als Korrespondenz einer Aussage mit ihrem Gegenstand zu verstehen. Das zweite dieser Wahrheitskriterien, die Liebe, das nach Wahrheit in der Interpretation selbst, hat eine gewisse Affinität zu pragmatisch orientierten philosophischen Entwürfen. Beide Kriterien sind nur in Verbindung miteinander richtig und auch so weder erschöpfend, noch einfach handhabbar. Eben deshalb ist es unerläßlich, daß im gemeinsamen Gespräch der Christen um diese Wahrheit gerungen wird. Der Weg der Wahrheit des Glaubens ist zwar grundsätzlich unabgeschlossen und durch den Menschen nicht abschließend definierbar. Um der Verständigung über das Handeln willen zielt aber jedes Verstehen auf universale Verständigung.66 Zur Interpretation biblischer Texte gehört das Streben nach Konsens, ganz besonders aus einem doppelten Grund: Durch die eine Geschichte Jesu Christi ist die Aufgabe der gemeinsamen Wahrheit in ihren Interpretationen gestellt. Und: Weil die Liebe Wahrheitskriterium ist (vgl. 3.2), weil „die Wahrheit des Glaubens ein Weg … der Liebe“ ist, ist sie „die Möglichkeit einer gemeinsamen Wegstrecke“.67 Darum gehört zum Weg der Wahrheit das Ringen um Einverständnis und Konsens. Exegese und Interpretation der biblischen Texte für die Gegenwart durch Lehre und Leben sind somit nicht Aufgaben für Einzelne, sondern Aufgaben der ganzen Kirche. Es braucht unter Protestanten sicher nicht betont zu werden, daß auch das Kriterium des Konsenses kein letztliches, absolutes und abschließendes Kriterium sein kann. Aber daß Interpretation des Neuen Testaments um der Sache des Neuen Testaments und um der Wahrheit seines Anspruchs willen eine kirchliche und nicht nur eine private Aufgabe ist, das ist vielleicht eine für uns Protestanten doch nicht ganz überflüssige Schlußbemerkung. 66  Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt 1968, 158 und Karl-Otto Apel, Szientismus oder transzendentale Hermeneutik? in: Rüdiger Bubner u. a. (Hg.), Hermeneutik und Dialektik (FS H-G. Gadamer), Tübingen 1970, 105 betonen besonders deutlich die Bedeutung des Konsenses als Voraussetzung zum Handeln, das zum Verstehen gehört. 67 Paul Ricœur, Exegese, Hermeneutik, Dogmatik: Skizze einer abschließenden Zusammenfassung, in: Xavier Léon-Dufour (Hg.), Exegese im Methodenkonflikt, München 1973, 198.

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III. Studien zur Hermeneutik

Thesen 1.

1.1

1.2 1.3

1.4

Problemanzeigen Die historisch-kritische Beschäftigung mit der Ursprungsbedeutung eines biblischen Textes scheint heute eine Antwort auf die Frage nach seinem Sinn und seiner Wahrheit in der Gegenwart nicht zu erleichtern, sondern zu erschweren. Historisch-kritische Exegese eines biblischen Textes macht diesen für die Gegenwart weithin stumm. Symptome: Wissenschaftliche Exegese, die in ihrer zunehmenden Spezialisierung heute auch viele Theologen überfordert, und Laienexegese mit ihrer großen Freiheit gegenüber den Texten sind weit voneinander entfernt. Symptome: Exegetische Bibelinterpretation und homiletische Aktualisierung eines Textes, der die Exegese eigentlich dienen sollte, haben kaum noch etwas miteinander zu tun. Symptome: Viele auf Ganzheitlichkeit des Verstehens zielende Entwürfe heutiger Hermeneutik stehen wenig verbunden neben der historischkritischen Methode, welche Ereignisse als vergangene „Fakten“ und Texte in ihrer „objektiven“ Ursprungsbedeutung rekonstruiert und isoliert. Hintergrund des Problems: Neuzeitliches Denken ist durch die Denkstruktur des Rationalismus, der in der Geschichte immer nur unvollkommene Verwirklichungen ewiger Vemunftwahrheiten sehen kann, geprägt. So besteht zwischen der Frage nach der Vergangenheit und der Frage nach der Wahrheit eo ipso ein qualitativer Sprung.

Hermeneutische Zielvorstellungen Die Theologie kann nur im Hören auf die biblischen Texte und nicht von einem allgemeinen philosophischen Verstehensentwurf her skizzieren, was den biblischen Texten entsprechendes rechtes Verstehen ist, denn – (linguistisch) verschiedenen Textsorten entsprechen verschiedene Verstehensmodelle; – (exegesegeschichtlich) die Übernahme allgemeiner, nicht-theologischer Verstehensmodelle hat immer wieder dazu geführt, daß wichtige Anliegen biblischer Texte ausgeblendet wurden; – (hermeneutisch) es gibt keinen Verstehensbegriff, der ungeschichtlich wäre und sich nicht bestimmten Traditionszusammenhängen verdankte. Das ist für die Theologie besonders wichtig, weil sie sich überhaupt erst einer bestimmten Geschichte verdankt. 2.1 Ganzheitlichkeit als Grundprinzip des Verstehens biblischer Texte: Biblische Texte zielen als Texte, die von Gott reden, auf ein den ganzen Menschen ergreifendes und seine Lebenspraxis mit einschließendes Ver2.

16. Erwägungen zur sachgemäßen Interpretation neutestamentlicher Texte

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stehen. Verstehen biblischer Texte von Gott ist in Glauben, Gehorsam, Gebet und Handeln eingebunden. 2.1.1 Konsequenz für die historisch-kritische Frage nach dem Ursprungssinn: Historisch-kritische Interpretation biblischer Texte darf nicht nur auf der Textebene nach der Bedeutung eines Textes fragen, sondern muß hinter die Texte zurück nach dem geschichtlichen Leben fragen, aus dem die Texte stammen und zu dem sie hinführen wollen. 2.2 Geschichtsbezug als Grundzug des Verstehens biblischer Texte: Biblische Texte verstehen heißt, aufmerksam werden auf die Geschichte Jesu Christi, auf die sie verweisen, und zugleich aufmerksam werden auf die Wirkungen der Geschichte Jesu Christi, deren Niederschlag sie sind. Verstehen biblischer Texte bedeutet ein sich Einlassen auf diese Geschichte. 2.2.1 Konsequenz für die historisch-kritische Frage nach dem Ursprungssinn: Bei der Exegese der meisten biblischen Texte hat die synchrone Betrachtungsweise nur methodisch den Vortritt und textimmanente strukturale Analysen haben nur propädeutischen Stellenwert. Um des Referenzbezugs der Texte willen ist die Geschichte, auf die sie verweisen und die sie spiegeln, d. h. die diachrone Dimension, die sachlich entscheidende. 2.3 Produktivität und Freiheit als Grundzug des Verstehens biblischer Texte: Biblische Texte haben keinen festen, definierbaren Sinn, der sich abschließend beschreiben ließe, sondern eher einen festen Kern und einen Richtungssinn, der sich in immer neuen Situationen in neuen Interpretationen verwirklicht. 2.3.1 Konsequenz für die historisch-kritische Frage nach dem Ursprungssinn: Wenn der Sinn biblischer Texte im Laufe der Geschichte sich immer wieder neu verwirklicht, so muß die Frage nach dem ursprünglichen Sinn eines Textes nicht nur text-, sondern auch kommunikationswissenschaftlich, nicht nur als Frage nach dem Autor, sondern auch als Frage nach den Rezipienten eines Textes gestellt werden. 3. Wahrheit in der Freiheit der Interpretation 3.1 Die Kriterien, die zwischen Wahrheit und Unwahrheit in der Interpretation biblischer Texte unterscheiden helfen, stammen aus der biblischen Tradition selbst. Die theologische Kritik der biblischen Tradition verdankt ihre eigene Kritikfähigkeit der biblischen Tradition. 3.2 Ein Wahrheitskriterium im Blick auf die Vergangenheit der Geschichte Jesu Christi („Korrespondenzkriterium“): Weil neutestamentliche Texte und ihre Interpretationen Zeugnisse geschichtlicher Verwirklichungen der Geschichte Jesu Christi sind, haben sie ihre Wahrheit darin, daß sie der vergangenen Geschichte Jesu Christi entsprechen.

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3.2.1 Grenzen dieses Kriteriums: Die Geschichte Jesu Christi ist in ihrer geschichtlichen Bedingtheit und in ihrer Interpretationsbedürftigkeit als Wahrheitskriterium nur bedingt brauchbar. 3.2.2 Nicht-definierender Charakter dieses Kriteriums: Die Geschichte Jesu Christi ist nicht in dem Sinn Wahrheitskriterium, als sie die Wahrheit ihrer Interpretationen definiert und begrenzt, sondern in dem Sinn, daß sie einen Weg zu neuen Ufern ermöglicht und dessen Richtung bestimmt. 3.2.3 Historisch-kritische Exegese hat für die Interpretation biblischer Texte eine bleibende Wichtigkeit, weil sie den Glauben daran erinnert, daß er sich einem Ursprung verdankt, den er nicht willkürlich verändern kann. 3.3 Ein Wahrheitskriterium im Blick auf die Gegenwart der jeweiligen Verwirklichung der Geschichte Jesu Christi („pragmatisches“ Kriterium): Neutestamentliche Texte und ihre Interpretationen haben als Zeugnisse geschichtlicher Verwirklichungen der Geschichte Jesu Christi ihre Wahrheit darin, daß sie die Liebe, die Gott durch Jesus Christus gestiftet hat, verwirklichen wollen. Sie sind wahr, sofern sie Liebe stiften. 3.3.1 Weil Liebe sich nicht nur auf der gedanklichen Ebene bewegt, genügt es nicht zu fragen: Wollte ein Text Liebe bewirken? Sondern man muß auch fragen: Hat er Liebe bewirkt? 3.3.2 Grenzen dieses Kriteriums: Was Liebe ist bzw. gewesen ist, ist oft schwer eindeutig festzustellen. 3.3.3 Grenzen dieses Kriteriums: Das Verfehlen menschlicher Liebe, das wir im Zusammenhang mit Interpretationen des Evangeliums oft feststellen müssen, ist noch keine Widerlegung Gottes, von dem nach den Texten alle Liebe ausgeht. 3.3.4 Reichweite dieses Kriteriums: Ist die Liebe Wahrheitskriterium für die Interpretation biblischer Texte, so ist alles den ganzheitlichen Charakter des Verstehens leugnende Ausweichen in bloße Worte, in bloße Theologie, in bloße Dogmatik oder in bloße Exegese unevangelisch. 3.4 („Konsenskriterium“) Der Bezug der Interpretationen des Evangeliums auf die eine Geschichte Jesu Christi (3.1) und die Tatsache, daß der Weg der Wahrheit ein Weg der Liebe und somit ein gemeinsamer Weg ist (3.2), erlaubt es, Kommunikation, Gespräch und Suche nach Konsens als wesentliches Moment in der Interpretation biblischer Texte zu erkennen. Interpretation des Neuen Testaments ist um der Sache des Neuen Testaments willen keine private, sondern eine kirchliche Aufgabe.

17. Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft I. Vorbemerkungen Eine „presidential address“1 bietet die Gelegenheit zu einer Standortbestimmung und zu einer grundsätzlichen Reflexion darüber, wo die Exegese heute steht. Meine Standortbestimmung ist allerdings  – wie könnte es im Zeitalter postmodernen Denkens anders sein – eine fragmentarische. Zunächst ergibt sich aus der Titelformulierung klar, dass ich als protestantischer Theologe formuliere. Für katholische Theologen ist die Bibel nie in der Weise des klassischen Protestantismus die Grundlage der Kirche gewesen; katholische Bibelwissenschaftler waren nie in der selben Weise, wie protestantische seit dem Wirken des Bibelwissenschaftlers Martin Luther, die Schlüsselgestalten der Theologie überhaupt. Für Katholikinnen und Katholiken kann ich also nicht sprechen, und noch weniger für diejenigen, die sich mit der urchristlichen Literatur als Religionswissenschaftler oder als klassische Philologen beschäftigen oder die sich für sie von einem jüdischen oder von einem atheistisch-humanistischen Standort aus interessieren. Eine andere Einschränkung gilt für meinen Untertitel: „Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft.“ Ich spreche hier als Schweizer, und da wir Schweizer, wie wir noch zu lernen haben werden, zugleich Europäer sind, vielleicht auch als Nordeuropäer von unserer religiöspluralistischen Gesellschaft. Ich verstehe darunter mit Eilert Herms eine Gesellschaft, in der sich für die einzelnen Menschen „die religiös-weltanschauliche Kommunikation … nicht mehr als ein einheitlicher Kommunikations‑ und Traditionszusammenhang über einen einheitlichen Symbolbestand mit tendenziell einheitlichem Ergebnis“ vollzieht, „sondern in einer Vielzahl verschiedener Kommunikations‑ und Traditionszusammenhänge über verschiedene Symbolbestände …; und zwar in einer miteinander konkurrierenden Vielzahl solcher 1  Eröffnungsvortrag, gehalten am 5. August 1997 am Jahreskongress der SNTS in Birmingham.

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Traditionszusammenhänge“.2 Diese Definition trifft auf die schweizerische, die deutsche, die holländische, die skandinavischen, die englische und vielleicht die französische Gesellschaft zu. Vermutlich trifft sie ganz besonders auf das multikulturelle Birmingham zu, die Stadt von John Hick und der Selly Oak Colleges, eine Stadt, in der mehr Leute in Hindutempel und Moscheen als in christliche Kirchen gehen, aber mehr als „80 % der Bevölkerung an institutionalisierter Religion nicht teilnehmen“.3 Bei uns in der Schweiz ist, wie eine im Jahre 1993 veröffentlichte Untersuchung belegt, religiös „jeder ein Sonderfall“. Religion ist in eminentem Sinn des Wortes Privatsache. Ihr wichtigster Träger ist das Individuum, das sich aus einer grossen Zahl von  – nur unter anderem durch Kirchen repräsentierten – religiösen Sinnangeboten das ihm Passende auswählt. Religion ist ein individuelles „bricolage“,4 für das die Kirchen nur noch in relativ geringem Umfang zuständig sind.5 In Süd‑ oder in Osteuropa ist die Situation anders. Der wichtigste Unterschied zu Nordamerika scheint mir der zu sein, dass dort die Bindungskraft und Identifikationskraft der vorhandenen christlichen Kirchen sehr viel grösser ist als in Europa. Auch gibt es bei uns in Nordeuropa keine der nordamerikanischen vergleichbare ausgeprägte „civil religion“, die den Pluralismus begrenzt. Den religiösen Pluralismus begrenzt bei uns wahrscheinlich fast nur der Grundkonsens, dass in einer demokratischen Gesellschaft „Wahrheitsansprüche nicht mit Gewalt durchgesetzt werden können“,6 denn Religion ist eine Privatsache und nicht eine Angelegenheit der öffentlichen Vernunft.7 Nordeuropa ist wahrscheinlich insofern stärker als Nordamerika „post-protestantisch“, als eine starke uns verbindende Grunderfahrung die der grundsätzlichen Verborgenheit Gottes ist, der nur noch unter der Gestalt menschlicher Texte, menschlicher Theologie, menschlicher Geschichte und unter der Gestalt völlig pluraler und mehrdeutiger menschlicher religiöser Erfahrungen vorkommt, in menschlichen Fragmenten also, die sich nicht mehr zu einem Gesamtbild vereinigen lassen. Mit dem berühmten Bild Umberto Ecos aus dem 2  Eilert Herms, Pluralismus als Prinzip, in: ders., Kirche für die Welt, Tübingen 1995, 467–485, dort 471. Peter Berger, Der Zwang zur Häresie (engl. The Heretical Imperative), Freiburg u. a. 1992, 39 spricht von einer „Pluralisierung der Plausibilitätsstrukturen“, die zur Folge hat, dass „Aussuchen und Auswählen zum Imperativ wird“ (ebd. 41). 3  Werner Ustorf, Von der Unheiligkeit heiliger Plätze. Theologische Arbeit in der multireligiösen Industriestadt Birmingham, in: Joachim Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität, VWGTh 8, Gütersloh 1995, 601. 4  Alfred Dubach / ​Roland J.  Campiche, Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz, Zürich / ​Basel 1993, Buchtitel und 304. 5  Der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann stellt fest: „Für das ‚persönliche Heil‘ wird dagegen selbst unter Katholiken die Kirche nur von einer Minderheit als zuständig erachtet“ (Religion und Modernität, Tübingen 1989, 200). 6 Wolfgang Huber in Wolfgang Huber  /  ​F riedrich Wilhelm Graf, Konfessorische Freiheit oder relativistische Offenheit. Ein theologisches Streitgespräch, EK 51 (1991), 669. 7  Ingolf Dalferth, „Was Gott ist, bestimme ich!“ Theologie im Zeitalter der „CafeteriaReligion“, ThLZ 121 (1996) 415–430, dort 415 f.

17. Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein?

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Schluss von „Il nome della rosa“: Viele von uns Nordeuropäern gleichen in Bezug auf Gott dem Nordeuropäer Adson, der in den Ruinen der verbrannten Abtei nur „disiecta membra“ der ehemaligen Bibliothek findet. Von dieser ist nur noch „una sorta di galleria“ zu sehen, „che dava in ogni punto sul vuoto“.8 Viele von uns nominalistisch gewordenen modernen Adsons sehen auch in dem Versuch des Birminghamer Theologen und Religionswissenschaftlers John Hick, hinter den vielfältigen religiösen Erfahrungen ein einziges „Letztes“ und „Wirkliches“ zu sehen,9 das in ihnen zu Wort kommt, eine unmögliche „realistische“ Anmassung, die letztlich nichts anderes ist als „eine Schutzargumentation gegen die Selbstradikalisierung des pluralistischen Paradigmas“.10 Von einem solchen nordeuropäischen und postprotestantischen Erfahrungshorizont des religiösen Pluralismus komme ich her. Kollegen aus Osteuropa werden dazu sagen: „Ja, das ist genau das, wovor wir uns fürchten!“ Ich kann Ihnen versichern, dass wir diese Situation weder wünschten noch wählten und deshalb auch nicht beklagen, sondern uns als Theologinnen und Theologen fragen wollen, was in ihr unser Auftrag ist. Kollegen aus Südamerika, aus Afrika und aus Südasien werden den Kopf schütteln und denken: „Ja, solche Probleme, wie Ihr habt, möchten wir auch haben!“ Ich kann eine solche Reaktion gut verstehen, aber eben: dies sind Probleme, die wir haben, und wir haben unsere Theologie an ihnen zu kontextualisieren. In dieser Situation einer immer weitergehenden Individualisierung der Religion und eines immer deutlicher werdenden Bedeutungsverlusts der grossen Kirchen für die Religion der einzelnen Menschen arbeiten wir Exegetinnen und Exegeten. Was ist unsere Bedeutung in einer Gesellschaft, in der 47 % der Protestantinnen und Protestanten und 54 % der Katholikinnen und Katholiken die Bibel nie lesen und etwa 30 % nur „ein paar Mal im Jahr“?11 Was ist in einer solchen Gesellschaft die Bedeutung der Exegese, der ein ihr nicht sehr wohlgesinnter systematisch-theologischer Kollege attestiert, ein „Betrieb der Folgenlosigkeit“12 zu sein? Was ist die Bedeutung der Exegese, wenn eine der gängigsten Fragen, die mir gestellt werden, die ist, welche Evangelien es  Umberto Eco, II nome della rosa, Milano 1980, 502.  John Hick, Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod München 1996, 269–273 (Original: An Interpretation of Religion, 1989, IV,14 Schluss). 10 Jürgen Werbick, Der Pluralismus der pluralistischen Religionstheologie. Eine Anfrage, in: Raymund Schwager, Christus allein? Der Streit um die pluralistische Religionstheologie, QD 160, Freiburg / ​Basel / ​Wien, 1996, 140–157, dort 152. 11  Dubach / ​Campiche, Jeder ein Sonderfall? (o. Anm. 4), 85, 339. Die Prozentzahlen für junge Leute sind noch viel schlechter, vgl. Heiner Barz, Religion ohne Institution“? Jugend und Religion I, Opladen 1992, 63. 12  Falk Wagner, Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 85. Seine Charakteristik der „schiedlich-friedlichen Arbeitsteilung“ unter den deutschen Exegeten: „Die Spezialisten für Detailfragen von Halb‑ und Viertelversen, die ausserhalb des Faches sowieso niemand mehr zur Kenntnis nehmen kann, stören nicht diejenigen, die an einer neu aufgelegten biblischen Theologie basteln“ (ebd.). Solche und andere Versuche tragen „dazu bei, das einst 8  9

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III. Studien zur Hermeneutik

denn, abgesehen von den vier kirchlichen, sonst noch gäbe? Soviel zu unserer pluralistischen Gesellschaft. Luther lehnte auf dem Reichstag zu Worms 1521 gegenüber dem Kaiser einen Widerruf seiner Schriften ab, „wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund überwunden werde, denn allein dem Papst und den Konzilien glaube ich nicht … . Solange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen“.13 Luthers reformatorische Antwort steht in einer Tradition, nämlich der augustinischen von der Irrtumslosigkeit der kanonischen Bücher, die seit 1508 auch Teil der Satzung der Wittenberger Theologischen Fakultät ist,14 und vermutlich auch in der Tradition Wilhelm von Occhams und anderer, welche die Bibel gegen den Papst in Anspruch nahmen. In allen Entscheidungen soll die Schrift den ersten Platz haben, „ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans“.15 Auf diesem Schriftverständnis gründete die reformatorische und nachreformatorische Grundthese: Die Schrift ist in sich klar, zugänglich, eindeutig, und vollständig,16 und als solche der alleinige Grund, auf dem die Kirche zu bauen ist. Ihre Exegeten haben demzufolge die Aufgabe, durch ihre Auslegung der Schrift die Grundlagen der Kirche zu klären. Die Geschichte des Protestantismus in der Neuzeit hat gezeigt, dass sie diese zentrale Aufgabe nicht erfüllen konnten. Das augustinisch-reformatorische „sola scriptura“ hat sich nicht als Grundlage der Kirche, sondern eher als ein Leitmotiv ihrer Spaltung erwiesen. Die Bibel erwies sich weniger als Grundlage der einen Kirche als als Basis der Vielfalt der Konfessionen.17 Die Exegese, weit entfernt, den konfessionellen und theologischen Pluralismus zu begrenzen, hat ihn eher gefördert. Paradoxerweise scheint das reformatorische Schriftverständnis seine eigene Dekonstruktion mit ausgelöst zu haben. Im Folgenden möchte ich anhand von drei Leitlinien fragen, was die Exegese zum kirchlichen und theologischen Pluralismus beigetragen hat. Es ist nicht wenig. Die moderne Exegese, die auszog, um einen stabilen und konstatierbaren Sinn ihrer Texte zu erheben, hat zugleich Grundmomente zu seiner Destabilisierung und Veränderung bereitgestellt. Versteht man mit J. F. Lyotard „l’incrédulité à l’égard des métarécits’18 als Kennzeichen der Postmoderne, so ist die Exegese als Wegbereiterin des Pluralismus einer ihrer Motoren. Ich mag mals kritisch-aufgeklärte Profil der protestantischen Exegese im Gemenge einer neuen Unübersichtlichkeit untergehen zu lassen“ (ebd. 86). 13  WA 7, 838,2 ff. 14  Augustin Ep 82,3 (= CSEL 34, 354). Vgl. Martin Tetz, Mischmasch von Irrtum und Gewalt, ZThK 88 (1991), 358 f. 15  Assertio omnium articulorum … per bullam Leonis X, WA 7, 97. 16 Vgl. Heinrich Heppe  /  ​E rnst Bizer, Reformierte Dogmatik, Neukirchen 1935, 10 f, 20 f. 17 So das Fazit von Ernst Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 221. 18  Jean François Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979, 7.

17. Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein?

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selber den Begriff „Postmoderne“ nicht, sondern halte den Pluralismus, den die Exegese mit bewirkt hat, lieber für eine der guten Seiten der Moderne.19 Meine drei Leitlinien, denen ich in den folgenden Abschnitten nachdenken möchte, sind: Historie, Sprache und Wirkungsgeschichte. Bei der ersten Leitlinie, der Verwandlung der Geschichte in Historie und der historisch-kritischen Methode, werde ich an bekannte Sachverhalte erinnern. Bei der zweiten und dritten Leitlinie, die im wesentlichen erst Leitlinien unseres Jahrhunderts sind, muss ich mehr von meiner eigenen persönlichen Sicht andeuten. Die These dieser drei Abschnitte wird lauten, dass unser postprotestantischer religiöser Pluralismus u. a. ein Ergebnis der Wirkungsgeschichte der Exegese ist.20 Schliesslich werde ich in einem letzten Abschnitt andeuten, was nun unsere Aufgabe in der Situation des religiösen Pluralismus sein könnte.

II. Die biblische Geschichte als Historie und die historische Kritik Mit dem Übergang vom reformatorischen Verständnis zum historisch-kritischen Verständnis der biblischen Geschichte war ein Umbruch im Wahrheits‑ und Wirklichkeitsverständnis verbunden. Während für das Verständnis der Reformatoren die biblische Geschichte zugleich eine externe vergangene Wirklichkeit und eine das Leben des Hörers heute bestimmende gegenwärtige Wirklichkeit ist, zerbrach durch die historische Forschung die „Unmittelbarkeit“ der biblischen Geschichte für den Hörer.21 An die Stelle der Unmittelbarkeit trat der geschichtliche Abstand. An die Stelle der Wahrheit der biblischen Geschichte, welche die Hörer und Hörerinnen in ihrem Leben bestimmt, trat die Wahrscheinlichkeit der Übereinstimmung des Textsinns mit der Intention des Autors oder die historische Wahrscheinlichkeit einer Erzählung. Mit dem Leben des Hörers hatte beides nichts mehr zu tun. Die Wahrheit, welche die Existenz der Hörer verpflichtet, wird dann erst hinter den Texten sichtbar. Sie konnte sehr verschieden gefasst werden: Bei Spinoza ist es die allen Völkern zugängliche Kenntnis des vernünftigen göttlichen Gesetzes und der Liebe Gottes. Sie wird durch die biblischen Erzählungen „dem gewöhnlichen Volk, dessen Geist nicht 19  Problematisch ist er vor allem als eine Epochenbezeichnung. Versteht man ihn „listig“, und nicht „epochal“, „in seiner schwächeren Version“ … „als Theorem, das die Moderne nicht tout court verabschieden, sondern befragen und ihren besseren Seiten nach auch starkmachen wollte“ (Wolfgang Welsch, Wege aus der Moderne, Berlin 21994, 2) so muss man fragen, weswegen es dazu des emphatischen Begriffs „Postmoderne“ bedarf. 20  Natürlich verdanken diese auf die Exegese bezogenen Überlegungen viel der Gesamtsicht des Protestantismus als Prägekraft der Moderne von Max Weber und Peter Berger. 21 An ihre Stelle trat nach den Worten von Hans W. Frei „the reality of the author on one side and of the single, external reference of the words on the other“ (The Eclipse of Biblical Narrative, New Haven / ​London 1974, 79).

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III. Studien zur Hermeneutik

fähig ist, die Dinge klar und bestimmt zu erfassen“,22 vermittelt. Bei Lessing ist es das „neue, ewige Evangelium“ der Vernunft,23 welches der theologische Vorläufer des „nachmonotheistischen Monomythus … der Emanzipationsgeschichte der Menschheit“24 ist, nach Odo Marquard „die einzige Theologie, bei der bisher die Säkularisierung misslang“.25 Bei Schleiermacher ist es die selbst erfahrene Offenbarung, das eigene Getriebenwerden vom göttlichen Geiste. Es kann niemals das blosse Nachbeten derer sein, „die ihre Religion ganz von einem andern ableiten, oder an einer toten Schrift hängen, auf sie schwören oder aus ihr beweisen“. Darum ist für Schleiermacher „jede heilige Schrift … nur ein Mausoleum, ein Denkmal, dass ein grosser Geist da war, der nicht mehr da ist“.26 In der liberalen Theologie des 19. Jh. ist die verpflichtende Wahrheit der historische Jesus, der nirgendwo in den Evangelien existiert, sondern, wie schon Martin Kähler hellsichtig sah, immer erst „hinter den Evangelien“.27 Bei Bultmann ist es das „Kerygma“, das im Neuen Testament immer nur „in einer bestimmten Ausgelegtheit“,28 d. h. als menschliche Theologie vorkommt und von dem man deshalb nie präzis in menschlich-theologischen Worten sagen kann, was es nun eigentlich sei. Die verpflichtende Wahrheit kann auch eine archetypische Grundwahrheit sein, etwas „ewig Gültiges“, was jenseits aller zeitbedingten und äusserlichen geschichtlichen Einmaligkeiten liegt, in die hinein alles geschichtlich Besondere aufgehoben werden muss.29 Kurz: Die Pluralität dessen, was die Verwandlung der wirklichen Geschichte in das historisch-Damalige an Wahrheitsangeboten freigesetzt hat, ist beträchtlich. Ich formuliere deshalb als Thesen:

22  Baruch Spinoza, Tractatus Theologico-politicus, Opera II (hg. J. van Vloten  / ​ J. P. N.  Land, Den Haag, 31914, 153 (Caput V). 23 Gotthold E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, These 86 (= Werke VIII, München 1979, 508). In seinem Disput mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze ging es genau um die Frage nach der Bedeutung der Bibel für die christliche Religion. Für Lessing gilt, dass „die Religion … nicht wahr (ist), weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist“ (Axiomata. Wider den Herrn Pastor Goeze in Hamburg, IX (= Werke VIII, a. a. O. 148); darum ist für Lessing die (katholische!) These so wichtig, dass die ältesten Kirchenväter ihre Lehre nicht biblisch begründeten und dass die Bibel selbst jünger ist als das Christentum. 24  Odo Marquard, Lob des Polytheismus, in ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 101 f. 25  Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, ebd. 133. 26  Friedrich D. E.  Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 2. Rede, hg. von Rudolf Otto, Göttingen 31913, 62. 27 Martin Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus, hg. von Ernst Wolf, TB 2 München 21956, 41. 29. 28  Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, 588. 29  Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese II, Olten 1985, 240.

17. Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein?

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1. Die historische Kritik ist insofern eine Wegbereiterin des modernen religiösen Pluralismus, als alle ihre Hypothesen auf den Anspruch, existentiell verpflichtende Wahrheit für die Gegenwart zu sein, verzichten.30 An einem wesentlichen Punkt hat also moderne historische Kritik dem Pluralismus gerade dadurch in die Hände gearbeitet, dass sie selbst gegenüber der Wahrheitsfrage abgedankt hat. 2. Dadurch versetzt sie die die Bibel lesenden Menschen in die Lage, das, was für sie selbst verpflichtende Wahrheit sein könnte, jenseits der Texte selbst zu konstruieren. Die neuzeitliche Theologiegeschichte kann als eine Geschichte der Konkurrenz und der sukzessiven Dekonstruktion solcher Wahrheitssetzungen verstanden werden, welche als menschliche Wahrheitskonstruktionen notwendigerweise pluralistisch sind. Solche Wahrheitssetzungen erwiesen sich als Grundlagen von Theologien, aber nicht von Kirchen. Der reformatorische Grundanspruch, dass die Bibel in ihrer Klarheit und Suffizienz Grundlage der Kirche sei, scheiterte nicht nur daran, dass sehr bald verschiedene konkurrierende Konfessionen sich in einem hermeneutischen „Bürgerkrieg um den absoluten Text“31 bekämpften, sondern schon daran, dass zunehmend nicht die Bibel, sondern bestimmte Bibelverständnisse sich als Grundlage nicht nur von Kirchen, sondern auch von Theologien erwiesen, welche dann oft quer durch alle Konfessionen hindurch einflussreich wurden. Die historische Bibelkritik wurde so zur Wegbereiterin eines pluralistischen theologischen Postkonfessionalismus. Ich füge dem noch zwei weitere Thesen hinzu, die keiner weiteren Erklärung bedürfen: 3. Die historische Kritik ist insofern eine Wegbereiterin des modernen religiösen Pluralismus, als sie an die Stelle der existenziell verpflichtenden Wahrheit biblischer Texte Hypothesen über historische Wahrscheinlichkeiten und Hypothesen über Textsinne setzte. Durch die in Verbindung mit der historischen Kritik entstandene Methodenvielfalt hat sich die Pluralität der Hypothesen noch vergrössert.

30  Schon Johann Philipp Gabler hat in seinem grundlegenden Aufsatz „Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beider Ziele“ von 1789 die grundlegende Unterscheidung von historischer und dogmatischer Theologie getroffen. Der Text ist abgedruckt bei Georg Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF 367, Darmstadt 1975, 32–44. 31  Marquard, Lob des Polytheismus (o. Anm. 24), 129.

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4. Historische Kritik hat die Bibel atomisiert. An die Stelle der Einheit der Bibel als vom Logos durchwirktes Wort Gottes trat eine Vielzahl von Texten sehr verschiedener Verfasser aus sehr verschiedenen Situationen. An die Stelle des lebendigen Wortes des inkarnierten Christus trat eine Vielzahl von menschlichen Zeugnissen, die z. T. sehr Verschiedenes bezeugten. Fortan gibt es also für jede und jeden die Möglichkeit, sich von innerhalb – oder auch von ausserhalb – der Bibel die eigene Traditionsgrundlage auszuwählen, also ein selektives „bricolage“ aus verschiedenen biblischen Traditionsbausteinen zu betreiben. Die Exegeten und die Hermeneutiker machten in bezug auf die Bibel vor, was heute für viele Menschen in bezug auf religiöse Traditionen überhaupt charakteristisch geworden ist. Eine indirekte Folge des historischen Verständnisses der biblischen Texte war schliesslich die Trennung der Applikation von der Exegese. August Hermann Francke unterschied in der Schrift zwischen Christus, der als Kern die Seele sättigt, und der „Schaale der äusseren Historie, des Buchstabens und der Worte, die eusserlicher Wissenschaft“ zugänglich ist.32 Für ihn gipfelt die Bibellektüre in der lectio practica, deren Anfang und Schluss das Gebet und deren Grundhaltung die Demut ist. Sein Nachfolger Johann Jakob Rambach verstand Hermeneutik als „habitus practicus“; die Applikation der Texte auf das eigene Leben wird bei ihm zum integralen Teil des Verstehensprozesses.33 Bereits in der Hermeneutik des Hallenser Pietismus deutet sich also an, was später mehr und mehr die kirchliche Wirklichkeit überhaupt bestimmen sollte: Exegese und Applikation treten auseinander. Die nächste These formuliert die Folgen dieser Abkoppelung der Applikation von der Exegese: 5. Einer Exegese, die tendenziell objektiv die wahre Intention des Autors, den wahren richtigen Textsinn oder die wirkliche geschichtliche Situation eines Textes zu rekonstruieren versucht, treten eine Fülle von Applikationen gegenüber, die kaum mehr etwas Anderes voraussetzen als die unmittelbare Erfahrung eines Textes durch Menschen in der Gegenwart. Alle wissenschaftlichen Methoden sind, wie Gerd Theißen sagt, „applikationsfern“.34 Je objektiver jene zu sein scheinen, desto subjektiver werden diese. Indirekt setzt eine Exegese, die in der Vergangenheit stecken bleibt und den garstigen breiten Graben zwischen dieser und der Gegenwart nicht mehr überschreiten kann, eine schier unbe32  August H. Francke, Christus der Kern Heiliger Schrift (1702), in: Erhard Peschke (Hg.), Werke in Auswahl, Berlin 1969, 232–248, dort 234. 232. 33 Claus von Bormann, Art. Hermeneutik I, TRE 15 (1986), 116. 34  Gerd Theißen, Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt. Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel, in: Mehlhausen, Pluralismus (o. Anm. 3), 127–140, dort 129.

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grenzte Beliebigkeit von Applikationen frei. Gott wird so ausschliesslich zum Gegenstand des persönlich-subjektiven Glaubens. Ich komme zu einem letzten Punkt, der vielleicht der wichtigste und schwierigste ist. In der Neuzeit hat sich Gott gleichsam auf Raten aus der Geschichte zurückgezogen. Theologie entwickelte sich von einer Lehre über Gott zu einer Lehre über das Wort Gottes, dann zu einer Darstellung der menschlichen Redemöglichkeiten über Gott und schliesslich zu einer Darstellung des Christentums und damit zu einer Teilsdisziplin der Religionswissenschaft. Neutestamentliche Theologien wurden mehr und mehr zu einer Geschichte der Theologien des Urchristentums. Ich bündele das in einer nächsten These: 6. Als philologisch-historische Wissenschaft kann Exegese ihre Texte nicht mehr im Kontext der göttlichen Offenbarung, sondern nur noch im Kontext der spätantiken Religions‑ und Geistesgeschichte verstehen. In ihren Texten stösst sie nicht mehr auf Gott, sondern nur noch auf vielfältige menschliche sprachliche Äusserungen über ihn. Dort, wo einst der offenbarende Gott stand, stehen seine menschlichen Platzhalter. Historische Wissenschaft versucht, dem nachzudenken, warum sie in bestimmten Situationen so und nicht anders von Gott gesprochen haben. Der Platz Gottes bleibt leer, auch der Platz desjenigen Gottes, der nach altprotestantischer Überzeugung letztlich der eine Autor der Schrift war: Es bleibt die Vielzahl von menschlichen Autoren. In diesem Verschwinden Gottes aus der Geschichte liegt m. E. der letzte Grund für die Unausweichlichkeit eines religiösen Pluralismus. Die Geschichte kann dann nicht mehr durch eine theologische Geschichtsschau monopolisiert werden,35 sondern hat die Chance, ein offenes Feld zu werden, das verschiedenen, jeweils unabgeschlossenen Interpretationen zugänglich ist.

III. Die biblischen Texte als sprachliche Diskurse David Tracy hat einem Hauptkapitel seines für mich sehr wichtigen Buches „Plurality and Ambiguity“ die Überschrift gegeben „Radical Plurality: The Question of Language“.36 Er beschreibt darin unter der Bezeichnung „linguistic turn“ die Wendung zum neuen Nominalismus, welche europäisches und nordamerikanisches Denken unter dem Einfluss der Linguistik de Saussures und unter dem Einfluss Wittgensteins genommen hat: Es gibt keinen direkten Weg 35 Nach Marquard, Abschied (o. Anm. 24), 100 f riss „der christliche Allgott … die Geschichte exklusiv an sich“. 36  David Tracy, Plurality and Ambiguity, San Francisco 1987, 47.

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von den bezeichnenden Zeichen und vom Zeichensystem eines Textes zu einer bezeichneten aussersprachlichen Wirklichkeit. Mit den Worten Tracys: „Reality is what we name our best interpretation.“37 Ich bin nicht sicher, wie weit unsere deutschsprachige Exegese die Tragweite dieser Wende wirklich voll in sich aufgenommen hat.38 Immerhin ist fast die gesamte theologische Exegese bis zur Reformation indirekt platonisch bestimmt gewesen: Sprache gab Anteil an der Idee,39 die Worte und Geschichten der biblischen Texte Anteil am geistlichen Wirken des göttlichen Logos. Biblische Texte waren darum Ausdruck der göttlichen Kraft, der ἐνέργεια des Logos.40 Die Folge des linguistic turn ist eine radikale Pluralisierung aller theologischen und exegetischen Aussagen. Sie sind sprachliche Konstruktionen von Wirklichkeit, die sich nicht aus einer Korrespondenz mit aussersprachlicher Wirklichkeit ergeben, sondern so oder anders gemacht werden können. Sie sind geprägt durch die Struktur unserer Sprache, bzw. durch unsere Konstruktionen dieser Struktur. Sie sind geprägt durch unsere eigene Wahrnehmung, durch unsere Erfahrungen und durch unsere epistemologischen Grundaxiome. Sie sind auch durch ihre Wirkungsmöglichkeiten geprägt, z. B. durch die Art und Weise, wie sie neue Wirklichkeitserfahrungen bewältigen helfen können oder schlicht durch die Frage, wie gut sie sich verkaufen lassen.41 Diese Aufzählung macht schon deutlich, dass es sehr verschiedene Möglichkeiten gibt, die sprachlichen Konstruktionen von Wirklichkeit zu entwerfen und zu ordnen. In allen Fällen aber handelt es sich um Konstruktionen, um vom Menschen geschaffene Erschliessungen, um Interpretationen, nicht um Wirklichkeit selbst. Dies gilt für naturwissenschaftliche Gesetze ebenso wie für theologische Sätze. Gegenstand theologischer Sätze sind also eo ipso immer andere theologische Sätze

37 Ebd.

47. 48.  In der philosophischen Tradition Heideggers ist es ja immerhin denkbar, das Sein als Ereignis von Wahrheit zu denken, die sich im λόγος entbirgt. 39  In Platons Kratylos vertritt Sokrates diese These allerdings nicht auf der Ebene der Semantik, sondern – mindestens in einem gewissen Ausmass – auf der Ebene der Phonetik, d. h. der Klang der Wörter entspricht (manchmal!) der Idee, die sie abbilden. 40  Joannes Panagopulos, Sache und Energie. Zur theologischen Grundlegung der biblischen Hermeneutik bei den griechischen Kirchenvätern, in: Hans Lichtenberger (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion III (FS M. Hengel), Tübingen 1997, dort 574–581. 41  Dies ist die These des englischen Alttestamentlers David J. Clines, dargestellt unter dem harmlosen Titel „Possibilities and Priorities of Biblical Interpretation in an International Perspective“, Biblical Interpretation 1 (1993), 67–87. Clines geht aus vom Gedanken, dass die „interpretive communities“ allein den Sinn eines Textes machen. Stanley Fish lässt grüssen! Seine Maxime ist: „I will be giving my energies to producing attractive interpretations that represent good value for money“ (ebd. 80). Ich will nicht mit Clines darüber streiten, ob so etwas „unethical“ (ebd.) sei oder nicht – da mag in einer pluralistischen Gesellschaft Clines seine Meinung haben und ich meine. Gewundert hat mich nur, dass eine gute Zeitschrift wie „Biblical Interpretation“ so etwas für „attractive“ hielt. 38

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oder allenfalls versprachlichte Erfahrungen, aber nie die aussersprachliche Geschichte und selbstverständlich nie Gott selbst.42 Ich kann noch nicht sagen, wie weit diese „linguistische Wende“, die unser Denken in unserem Jahrhundert genommen hat, von ebenso fundamentaler Bedeutung und ebenso unaufhebbar ist wie die historische Distanzierung der Geschichte seit der Aufklärung. Ich denke aber, Theologie sollte bescheiden sein und damit zu leben versuchen: Wenn schon die dinghafte, vorfindliche Wirklichkeit z. B. der Atome nur als sprachlich konstruierte und interpretierte Welt zugänglich ist, um wie viel mehr dann transzendente und kontrafaktische, wie z. B. Gott, sein Reich oder die Auferstehung Jesu? Die Exegese hatte dies sogar noch vor der linguistischen Wendung zur Sprache entdeckt. Von der Historie her kommend hatte sie erkannt, dass es im Neuen Testament nur interpretierte Wirklichkeit gibt. Das hält These 7 fest: 7. Mit der Entdeckung der interpretierten Geschichte wurde die Exegese zur Vorbereiterin des religiösen Pluralismus: Es gibt nicht Jesus, sondern nur den von Markus, Matthäus, Paulus, Johannes, Origenes usw. ausgelegten und interpretierten Jesus. Der „wirkliche“ Christus des Neuen Testaments ist kein anderer als der interpretierte und Sprache gewordene Christus z. B. des Paulus, des Markus oder anderer. Im Ganzen hat die neutestamentliche Exegese die linguistische Wendung zur Sprache nur zögerlich und selektiv mitgemacht, und dies, wie ich denke, mit guten Gründen. Vielleicht kann man sagen, dass die Mehrzahl der Neutestamentlerinnen und Neutestamentler vor zweierlei zurückschreckte: Erstens haben die meisten von uns sich nicht auf die Zumutung eingelassen, biblische Texte ausschliesslich als Strukturen zu betrachten, ohne zu berücksichtigen, dass in ihnen fast immer jemand zu jemandem etwas sagt oder zu etwas auffordert. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Sprechakttheorie hat unsere Disziplin im Ganzen daran festgehalten, dass Texte nicht als Strukturen, sondern als „discours“ im Sinn von Benvéniste anzusehen sind.43 Sie sind nie als Systeme in der Art einer 42  Peter Lampe hat in seinem Aufsatz: Wissenssoziologische Annäherung an das Neue Testament“, NTS 43 (1997), 347–366 vom Konstruktivismus und von der Wissenssoziologie her daran erinnert. Vgl. ebd. 360: „Historiker können sich glücklich preisen, wenn sie im allerbesten Fall wenigstens näherungsweise an diese von den Urchristen konstruierte Welt herankommen. Über die ontische Realität dagegen, die dieser konstruierten Wirklichkeit der urchristlichen Ostergläubigen parallel lief, haben wir aus konstruktivistischer Sicht als Wissenschaftlerinnen und Historiker eo ipso keinen Zugang.“ Offen bleibt mir die Frage, wie die verschiedene Konstrukteure von Wirklichkeit dann, wenn sie miteinander ins Gespräch kommen, Tragfähigkeit und Falsifizierbarkeit ihrer Konstruktionen testen. 43 Emile Benvéniste, Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, 242 definiert den (mündlichen!) „discours“ als „toute énonciation supposant un locateur et un auditeur“, der die Absicht hat, „d’influencer l’autre en quelque manière“. M. E. hat auch schriftliche Sprache

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langue zu behandeln, sondern immer als parole; und dazu gehört: Texte sind Ereignis in der Zeit; sie werden gelesen; sie brauchen Zeit; sie bewirkten etwas. – Die zweite Grenze besteht darin, dass Exegese nicht nur mit einer gewissen Stabilität von Textstrukturen, sondern auch der damit verbundenen Textsinne rechnete. Sie hat sich gegenüber Lesetheoretikern wie z. B. Stanley Fish, die einem Text nichts und den Interpretationsstrategien der sie interpretierenden Leser bzw. ihren „interpretive communities“ alles zumuten, zurückhaltend verhalten44 und sich eher an die gemässigten Lesertheoretiker wie etwa Umberto Eco oder Wolfgang Iser gehalten. Sie ging von der Prämisse aus, dass wer ein Sprachspiel erfindet, in der Regel etwas sagen möchte, und dass es Aufgabe der Exegese ist, so sorgfältig wie möglich auf den Sinn des fremden Textes zu hören.45 Sie interessierte sich zwar für Intertexte – gerade bei neutestamentlichen Texten, die von der Sprache der Bibel geprägt sind, sind sie wichtig – aber auf kontrollierbare Art und Weise. Sie weiss um Veränderung und um Neukonstitution von Bedeutungen in der Geschichte.46 Aber wenn es nur Veränderung und Dekonstruktion gäbe, wäre dies „the ruin of all reference, the cemetery of communication“.47 Ich formuliere eine Folgerung, welche vom grundsätzlichen Recht eines gemässigten readers response ausgeht und leserbezogene Exegese als Vorbereiterin des religiösen Pluralismus darstellt: 8. Eine Exegese, die Texte als Diskurse versteht, fragt nach den Signalen im Text, welche die Anschlusstellen für die Leser anzeigen, also nach den im Text angelegten Rollenangeboten, der „strukturierten Hohlform“ des impliziten Lesers,48 in die wirkliche Leser sich hineinbegeben können. Sie fragt aber ebenso nach den im Text angelegten Lenkungsstrategien, die man meines Erachtens missverständlich den „impliziten Autor“ nennt. Texte enthalten Lenkungs‑ und Freiheitsangebote, die eine offene Kommunikation zwischen Text und Lesein den meisten Texten eine Kommunikationsabsicht und ist damit (An)Rede, wie mündliche „Diskurse“. 44  Sehe ich recht, so ist z. B. die Extremposition von Stanley Fish, der die Bedeutungen völlig von den Interpretationsstrategien der „interpretive communities“ abhängig macht, theologisch kaum rezipiert worden, auch nicht von Katholiken mit integrationistischen Tendenzen, denen sie eigentlich ausgezeichnet passen könnte. 45 Theißen, Methodenkonkurrenz (o. Anm. 34), 138 f. hat unter dem Stichwort der „hermeneutischen Überlegenheit der Liebe“ sehr schön die ethische Grundhaltung der Exegese formuliert: „Jede menschliche Äusserung verdient es, um ihrer selbst willen verstanden zu werden. Denn jeder Mensch ist nie ausschliesslich Mittel, sondern immer auch Selbstzweck“ (ebd. 139). 46  Darauf hat besonders Paul Ricœur in seiner Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus hingewiesen (Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, 61–64). Er weist hin auf den Überschuss des Sinnpotentials über seinen Gebrauch hinaus, der Neuinterpretationen ermöglicht (ebd. 64). 47  Terry Eagleton, Literary Theory. An Introduction, Oxford 1983, 146. 48  Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, UTB 636, München 1976, 61.

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rinnen ermöglichen. Indem die Exegese ihr Interesse vom Autor auf den Leser verlagert, wird sie zur Sachwalterin eines theologischen Pluralismus. Die biblischen Texte verhindern diesen Pluralismus gerade nicht, sondern ermöglichten ihn dadurch, dass sie sich immer wieder neu und damit auch immer wieder anders lesen liessen. Sie lassen sich aber nicht beliebig anders lesen. „Nicht alle, nur einige Auslegungen sind möglich.“49 Ich füge dem Gesagten noch einen weiteren Punkt hinzu. Für mich ist die Brücke zwischen der Lesertheorie und der Geschichte wichtig. Sie besteht darin, dass Texte mit ihren Rollenangeboten wirklich gelesen werden. Lesevorgänge sind Vorgänge in der Geschichte, die Zeit brauchen und Wirkungen haben. Die „Hohlform“ des impliziten Lesers macht nur Sinn, wenn wirkliche Leser und Leserinnen sie füllen. Wenn wirkliche Leserinnen und Leser die Hohlform eines Textes füllen, so bringen sie sich selbst mit, ihre Person, ihre Biographie, ihre Religion, ihre Erfahrungen, ihre Gesellschaftsanalyse. Wer so beladen eine Hohlform eines Textes ausfüllt, wird sie unter Umständen auch strapazieren und verbiegen. Severino Croatto bezeichnet darum die Exegese als „Eisegese“, und das „bedeutet, mit einer Sinnladung in den biblischen Text einzutreten, die den primären Sinn neu schafft“.50 Biblische Texte erheben immer wieder den Anspruch, grundsätzliche Lebensorientierung zu geben. Sie wollen, dass Leserinnen und Leser mit ihrem ganzen Leben und beladen mit ihrer eigenen Situation in sie eintreten und ihre Rollenangebote ergreifen. Sie wollen neu erlebt und gelebt werden. Ihre Dekonstruktion und Neuinterpretation findet in der Geschichte statt; sie ist Identitätsfindung, Leben, Praxis, Leiden von Menschen. Sie ist nicht intellektuelles Patchwork, sondern Ernstfall des Lebens.51 Dies ist der Grund, warum ich mich nicht nur für Lesemöglichkeiten, sondern noch viel mehr für wirkliche geschehene Lektüren, nicht nur für Rezeptionsästhetik, sondern vor allem für Rezeptionsgeschichte interessiere. Die Rezeptionsgeschichte ist mehr als die Dokumentation von neuen Interpretationen und von „Dekonstruktionen“ von Texten, sondern sie lehrt auch, ernsthaft gelebte, erlittene oder praktizierte Interpretationen von intellektuellen Spielereien zu unterscheiden. Die folgende These reflektiert über die hermeneutische Bedeutung der Rezeptionsgeschichte:  Theißen, Methodenkonkurrenz (o. Anm. 34), 131.  Severino Croatto, Die Bibel gehört den Armen. Perspektiven einer befreiungstheologischen Hermeneutik, ÖEH 5, München 1989, 88. 51  Ich finde darum vieles von dem, was z. B. in Semeia 54 (1991) unter dem Titel „Poststructuralism as Exegesis“ geboten wird, recht belanglos, weil es nur die Fähigkeiten verschiedener Verfasser zu immer neuen, ästhetisch vielleicht reizvollen „Auflegungen“ (vgl. Robert Detweiler, „Overliving“, ebd. 253) dartut, aber nichts mehr davon sichtbar werden lässt, was geschieht, wenn Menschen ihr Leben, Leiden und Sterben den biblischen Texten „auflegen“ und so sich selbst neu interpretieren! 49 50

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9. Die Rezeptionsgeschichte der biblischen Texte macht deutlich, dass der Glaube, es gebe in Texten einen „objektiven, ein für allemal geprägten Sinn“, der „dem Interpreten jederzeit unmittelbar zugänglich“ sei, „ein platonisierendes Dogma der philologischen Metaphysik“ ist.52 Sie macht auf die Kontextualität, und damit auch auf die Vielfalt der immer wieder anderen Interpretationen biblischer Texte aufmerksam. Mir liegt also daran, dass die Wendung zur Sprache keine Abwendung von der Geschichte ist. Wer sich mit Textwelten oder strukturierten Sprachsystemen der Geschichte entzieht, mag diese konstruieren oder dekonstruieren, wie er will: er erreicht die geschichtliche Welt, in der seine Leserinnen und Leser leben, nicht mehr. Er gehört zur Kategorie der „Code-Knacker“, als die Odo Marquard die Semiotiker und Kommunikationstheoretiker karikiert. Sie sagen: „Die armen Hermeneutiker … kommen niemals aus der Geschichte heraus.“ Marquard fragt dagegen: „Aber muss man denn aus der Geschichte herauskommen?  – Wer nicht aus der Geschichte herauskommt, erreicht keine absolute Position. – Aber muss man denn eine absolute Position erreichen?“53 Eine Exegese, welche den „linguistic turn“ der Literaturwissenschaft mit der Kontextualität interpretierter Geschichte verbindet, muss dies jedenfalls nicht.

IV. Die Wirkungsgeschichte Gadamers Konzept der Wirkungsgeschichte ist für mich erkenntnistheoretisch darum wichtig, weil es den Menschen der Geschichte zurückgibt. Es verwandelt den Blickpunkt auf die Geschichte: Aus dem Untersuchungsobjekt „Geschichte“ wird eine Lebensgrundlage, die den Menschen trägt. Wirkungsgeschichte ist – um mit den englischen Übersetzungsmöglichkeiten zu spielen – mehr als „history of effects“ oder „history of influence“ vergangener historischer Ereignisse oder Texte, sondern sie ist „effective history“ und damit prägende Kraft. Wer Texte liest – und für biblische Texte gilt das besonders – ist nie autonomes Subjekt, sondern verdankt sich selbst den Texten, die er liest. Gadamer will auf das „Lebensverhältnis zur Überlieferung“ aufmerksam machen, aus dem sich der historisch-kritisch arbeitende Wissenschaftler „herausreflektiert“ hat.54 Das Studium der Wirkungsgeschichte biblischer Texte macht mir 1. deutlich, woher ich komme und wer ich durch die Geschichte geworden bin. Es erweitert sodann

52 Hans

R. Jauss, Literaturgeschichte als Provokation., Frankfurt 4 1974, 183.  Marquard, Frage nach der Frage (o. Anm. 25), 138. 54  Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 343. 53

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2. meinen Horizont, indem es mich darauf aufmerksam macht, woher andere kommen und wer sie geworden sind. In unseren verschiedenen Lektüren biblischer Texte versammelt sich also nicht nur unsere gegenwärtige Situation, sondern auch unsere Geschichte. Was hat das mit der Pluralität von Verstehensweisen zu tun? Ich komme zur nächsten These: 10. Das Studium der Wirkungsgeschichte macht den Leserinnen und Lesern biblischer Texte die Besonderheit und die Partikularität ihrer eigenen Lesungen deutlich. Wir verdanken uns einer besonderen, partikularen Geschichte, ebenso wie andere Menschen in anderen Kulturkreisen, in anderen Kirchen und in anderen Situationen auch. Jede Interpretation ist in diesem Sinn eine besondere Interpretation. Ihre Partikularität ist ebenso wenig frei wählbar wie der eigene Standort in der Geschichte. Das Studium der Wirkungsgeschichte nötigt uns also, zu unserer eigenen Partikularität zu stehen und biblische Texte nicht als unsichtbares „Neutrum“ interpretieren, sondern als die, die wir sind, z. B. als Protestant oder als Katholikin, als Südamerikanerin oder als Europäer. Eine zweite Überlegung steht eher quer zu Gadamers Ansatz. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik bedeutet nach ihm „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln“.55 Immer wieder – und m. E. nicht zu Unrecht – ist befürchtet worden, Gadamer entmündige den verstehenden Menschen im Angesicht einer übermächtigen Tradition. Wer sich mit der Wirkungsgeschichte biblischer Texte beschäftigt, weiss aber, wie ambivalent sie ist. Wirkungsgeschichte des Matthäusevangeliums zum Beispiel bedeutet Christentum der Tat, aber auch Verachtung der Juden im Gefolge von Mt 23 oder ihre Verfolgung im Gefolge der matthäischen Passionsgeschichte. Alle Geschichte ist zweideutig; „there is no innocent interpretation, no innocent interpreter, no innocent text“.56 Ich formuliere eine elfte These: 11. Die Wirkungsgeschichte ist eine Wegbereiterin des Pluralismus, weil sie die Ambivalenz der Texte und ihrer Wirkungen, ja die Ambivalenz aller Geschichte deutlich machen kann. Einrücken in den Horizont der Überlieferungsgeschichte darf nicht nur heissen: Tradition dankbar annehmen, sondern heisst immer auch: Sich angesichts der vielfältigen Traditionen entscheiden, Urteile fällen, also Ja und Nein sagen. Einrücken in den Horizont der Überlieferungsgeschichte macht Entscheidungen des Subjekts erst recht nötig. Solche Entscheidungen sind immer nur persönlich verantwortbar und darum notgedrungen verschieden. 55 56

 Ebd. 275.  Tracy, Plurality (o. Anm. 36), 79.

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Eine dritte Überlegung: Gadamer hat darauf aufmerksam gemacht, dass es kein Verstehen von Texten gibt, das nicht ein anderes Verstehen ist.57 Wer von befreiungstheologischer oder feministischer, aber auch von psychodynamischer Hermeneutik her kommt, weiss, wovon Gadamer spricht. Nichts anderes zeigt die historische Erklärung der biblischen Texte: Sie waren immer „Texte in Benutzung, gelesen und angewendet von Menschen, die die Aussagen der Texte in ihrem konkreten Leben benutzen“.58 Insofern kann es gar keine andere Gestalt der Lebendigkeit biblischer Texte und Traditionen geben als die der vielfältigen Benutzung durch viele Menschen in vielen Situationen. Sie bleiben nur so bei sich selbst, dass sie verändert werden. Die Wirkungsgeschichte biblischer Texte ist also ebenso wie die innerbiblische Überlieferungsgeschichte biblischer Traditionen eine Dokumentation der Lebendigkeit der Traditionen und Texte und damit auch der Pluralität. Wirkungsgeschichte dokumentiert, was leserbezogene Textinterpretation postuliert. Wirkungsgeschichte hat es aber auch mit Perioden der Stabilität von Sinn zu tun. Sie zeigt, wie eng Stabilität von Textsinnen, von Weltsichten und Stabilität von Institutionen zusammenhängen. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik befragt dann solche Perioden mit einer „Hermeneutik des Verdachts“, ob nicht Stabilität von Textsinnen immer wieder damit zu tun hatte, dass Institutionen, vor allem Kirchen, zur Monopolisierung der Auslegung der biblischen Texte tendierten und versuchten, sogenannt „gültige“ Auslegung für ihre eigene Selbstlegitimation zu verwenden. Wirkungsgeschichte macht auf die Machtausübung und den Machtmissbrauch aufmerksam, der hinter solcher Textbenutzung steht. Insofern hat sie eine ideologiekritische Potenz. Ich fasse diese Überlegungen mit der zwölften These zusammen: 12. Wirkungsgeschichte ist eine Wegbereiterin des Pluralismus, weil sie zeigt, wie Verstehen vorgegebener biblischer Texte jeweils ein neues, anderes Verstehen war. Sie macht so auf die Verbindung von lebendiger Tradition, Freiheit und Pluralität aufmerksam. Diese Verbindung entspricht der Lebendigkeit der Überlieferung in den biblischen Texten selbst.

V. Die Aufgabe der Exegese in der Situation des religiösen Pluralismus Unsere heutige pluralistische religiöse Situation ist, so sahen wir, u. a. ein Ergebnis der Wirkungsgeschichte der Exegese. Die nach-reformatorische Exegese, die mit dem Auftrag ausgezogen war, das Fundament, auf dem die 57 Gadamer,

Wahrheit und Methode (o. Anm. 54), 280.  Kirsten Nielsen, Verantwortlicher Umgang mit Traditionen im religiösen Pluralismus, in: Joachim Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität, Gütersloh 1995, 37–53, dort 39. 58

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Kirche gebaut ist, zu klären, ist zur Wegbereiterin des Pluralismus geworden, jenes Pluralismus, der mindestens im protestantischen Nordeuropa die Kirchen im herkömmlichen Sinn weitgehend auflöst und ihrer Identifizierungskraft beraubt. Zerstört also die Exegese die Kirche? Dies ist die These des Fundamentalismus. Wenn man Kirche im fundamentalistischen Sinn als den Ort versteht, wo die eine Heilswahrheit gelehrt wird, so ist sie nicht unrichtig. Was ist nun die Aufgabe der Exegese an diesem gesellschaftlichen Ort, den sie mitgeprägt hat? Peter Berger vergleicht in einem eindrücklichen Vortrag die heutige Situation der Kirche mit ihrer Situation in der spätrömischen Gesellschaft: Sie befand sich damals nicht mehr im Ghetto, aber sie war noch nicht diejenige gesellschaftliche Macht, die den Herrschern der Welt die notwendigen metaphysischen Mythen lieferte, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Sie befand sich vielmehr auf der Agora, auf dem Marktplatz, „auf dem freien Markt der Religionen und Weltanschauungen“.59 Ich denke, Bergers Bild treffe auch für die Umschreibung der Aufgabe der Exegese heute zu. Grundsätzlich hat sie drei Möglichkeiten. Sie könnte erstens – mindestens noch in einigen Kulturen – die Möglichkeit, wie früher christlichen, sich tendenziell absolut setzenden Subkulturen  – Sekten und ehrwürdigen Kirchen – die Legitimation für eine exklusivistische Existenz liefern.60 Sie könnte zweitens, dazu beizutragen, dass der religiöse Pluralismus zur „Beliebigkeit“61 wird: Sie braucht dann nur munter „aufzulegen“ statt „auszulegen“,62 postmoderne Geschichten zu erfinden oder jeweils das zu verkaufen, was gerade attraktiv ist.63 Sie hat aber auch eine dritte Möglichkeit, nämlich die, sich mit dem, was sie ist und zu sagen hat, am öffentlichen Gespräch auf der Agora zu beteiligen. Sie hat dort ihre Erkenntnisse über die sprachliche Struktur ihrer 59  Peter Berger, Wenn die Welt wankt. Pluralismus ist eine Chance für Christen, LM 32 (1993), 14. 60 Karl Dienst, In Zukunft ganz pluralistisch?, in: Richard Ziegert (Hg.), Die Zukunft des Schriftprinzips, Bibel im Gespräch 2, Stuttgart 1994, 207 beschreibt diesen Weg anhand einer vor ihm liegenden Karikatur: „Da werden Kanonen geladen; die Richtungen der Geschütze sind durch Fahnen angegeben: gegen Liberale, gegen Charismatiker, gegen Fundamentalisten, gegen Feministen (sic!), gegen Kritiker usw. Darunter steht: ,Aber eins verbindet uns: Wir verwenden alle dieselbe Munition!‘ Gemeint ist die Bibel!“ (aus: Idea Spectrum 22 [1992] 19). 61 Eilert Herms, Pluralismus (o. Anm. 2), 467 versteht „Pluralismus aus Prinzip“ als Gegensatz zu „Pluralismus der Beliebigkeit“. Die hauptsächliche Gefährdung eines Pluralismus aus Prinzip sieht er dort, wo ein „einheitlicher zivilreligiöser Horizont“ die Konkurrenz unterschiedlicher weltanschaulich ethischer Überzeugung zu einer relativen Konkurrenz macht: Das Verbindende, das Gemeinsame ist wichtiger als das Trennende. Ich dagegen sehe die eigentliche Gefährdung dieses grundsätzlichen Pluralismus eher dort, wo die „Beliebigkeit aus Prinzip“ jede Konkurrenz verschiedener Überzeugungen ad absurdum führt und sie bloss noch als Rückkehr zu einem „vormodernen“ Kampf totalisierender Weltanschauungen verstehen und ablehnen kann. 62  Vgl. o. Anm. 51. 63  Vgl. o. Anm. 41.

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Texte, ihre Erkenntnisse über das, was sie den ursprünglichen Lesern sagen wollten, über das, was sie den ursprünglichen und späteren Lesern gesagt haben und über das, was sie heutigen sagen könnten, in das Gespräch auf der Agora der Wissenschaft einzubringen. Wie sieht dieses Gespräch aus? Ich notiere im Folgenden in Thesenform acht Punkte: 13. Die Öffentlichkeit des Dialogs. Wenn Religion blosse Privatangelegenheit geworden ist, hat sie mit öffentlicher Vernunft nichts mehr zu tun. Wissenschaftliche Exegese hat die Chance, dem entgegen zu wirken. Sie kann Impulse der Bibel in das öffentliche Gespräch über die Ziele und die Richtung der Gesellschaft einbringen. Ihr Ort ist wie der der Propheten die Öffentlichkeit. Ihr Vorbild ist der lukanische Paulus: Διελέγετο … ἐν τῇ ἀγορᾷ κατὰ πᾶσαν ἡμέραν πρὸς τοὺς παρατυγχάνοντας (Apg 16,17). Um diese Tätigkeit auszuüben, ist die Universität ein guter Ort. 14. Die Rationalität des Gesprächs. Im Zeitalter des religiösen bricolage, wo jede(r) sich seine eigene religiöse Traditionsgrundlage ad libitum zusammensucht und sie kaum mehr begründen muss, ist es grundlegend wichtig, dass die Exegese die biblische Traditionsgrundlage des Christentums wissenschaftlich reflektiert und in einen rationalen Diskurs einbringt. Sie kann so die eigene Traditionsgrundlage und ihre Benützung kritisch hinterfragen. Es geht ihr dabei nicht darum, im Sinne einer Meta-Geschichte christliche Diskurse mit Legitimität zu versorgen, sondern darum, im Dialog mit anderen Legitimierungsdiskursen ihre Geschichten zu erzählen und im Gespräch Tiefe, Chance und Grenze der eigenen und anderer Geschichten zu entdecken. Sie soll dazu beitragen, dass das Leben nicht in eine rationale öffentlich-politische und eine irrationale privat-religiöse Sphäre auseinanderbricht. Sie soll dazu beitragen, dass Rationalität nicht vollständig religionslos und Religion nicht vollständig vernunftlos wird. 15. Das Gespräch zielt auf Konsens. Verständigung ist um der κοινωνία und diese wiederum um des gemeinsamen Handelns willen nötig. Die biblische Perspektive ist eine universale, die Herrschaft Gottes eine umfassende. Sie übergreift jede partikulare Religion und alle partikulare Gruppen. Darum werden wir Exegeten uns nicht im Sinn der „Paralogik“ Lyotards damit zufrieden geben, „que le consensus n’est qu’un état des discussions et non leur fin“,64 sondern nach umfassender Verständigung im Sinne des Schalom trachten. Allerdings wissen wir mit Lyotard, dass kein Konsens einen definitiven und endgültigen

64

 Lyotard, Condition (o. Anm. 18), 106.

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Charakter hat, weil kein Gespräch eine „ideale Sprechsituation“65 völlig verwirklichen kann. Zu diesem Punkt ist eine kurze Zwischenbemerkung nötig: Habermas’ Beschreibung der kommunikativen Kompetenz und der idealen Gesprächssituation hat etwas Utopisches; sein Verständnis des Konsenses erinnert Exegeten an das Reich Gottes. Eben deshalb möchte ich von der Bibel her die Hoffnung auf eine mindestens partielle und vorübergehende Gegenwart dieses Utopischen nicht aufgeben – das Gottesreich kann ja bereits „mitten unter euch“ sein (Lk 17,21). Gerade die Kirchen, die sich von der Bibel bestimmen lassen wollen und die sich sogar als „Kontrastgesellschaften“ verstehen, sollten darauf ansprechbar sein, die Sprechsituation ihrer Mitte zu verbessern. Wir Exegeten sollten sie von unseren Texten her immer wieder darauf ansprechen! Von der Bibel her darf Pluralität weder ein Herrschaftsdiskurs sein, der noch einige unwichtige Zwischenräume offen lässt, noch eine Ausdrucksform von Relativität und eine Koexistenzform von Beliebigkeiten. Die folgenden zwei fragmentarischen Thesen beschäftigen sich mit der Bedeutung der Exegese für die Kirche. 16. Die ökumenische Weite des Dialogs. Die moderne Exegese sprengte die Fesseln der konfessionellen Bibeldeutung. Konfessionelle Exegesen erwiesen sich in der modernen pluralistischen Gesellschaft immer wieder als Herrschaftsdiskurse in Teilkönigreichen. Aber Texte, welche immer kontextualisierte und benutzte Texte sind, und Wahrheitsaussagen, die immer sprachlich gefasste Wahrheitskonstruktionen sind, eignen sich schlecht für Metageschichten und Herrschaftswissen. An die Stelle der Konfessionalität der Bibeldeutung ist durch die Exegese die Pluralität getreten. Aufgabe der Exegese ist es nicht, sie aufzuheben, z. B. durch eine konfessionell-neutrale historische Exegese. Ich denke vielmehr, dass die Aufgabe der Exegese im ökumenischen Dialog darin besteht, dass Menschen sich wechselseitig ihre von der Bibel geprägten besonderen konfessionellen und individuellen Teil-Interpretationen erzählen, sie zugleich kritisch hinterfragen, und dass sie so im Lichte der Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte wechselseitig erkennen, wer sie sind, woher sie kommen, wo ihre Grenzen und Einseitigkeiten liegen, und wer sie werden könnten. Wiederum möchte ich eine Zwischenbemerkung machen: Kann in einem solchen ökumenischen Diskurs die Bibel Fundament der Kirche sein? Ich denke, es 65 Vgl. Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: ders. / ​Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie: Was leistet die Systemforschung, Frankfurt 1971, 122. 136–140.

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III. Studien zur Hermeneutik

hänge davon ab, was man unter Kirche versteht. Die so benützte Bibel kann nicht das Fundament einer Kirche sein, welche über ein durch biblische Argumente unterlegtes exklusives Heilswissen verfügt, sondern nur einer Kirche, welche eine quer durch alle Konfessionen und in allen Konfessionen existierende und über sie hinausgehende Gesprächsgemeinschaft über die Bibel ist. Ich denke, dass hier unsere Konfessionskirchen noch einiges aufarbeiten müssen, wenn ihre Zeit nicht schnell ablaufen soll. 17. Die Fremdheit der Geschichte Jesu. Exegese hat die Aufgabe, immer und immer wieder auf die Fremdheit und die Besonderheit der Geschichte Jesu hinzuweisen, von der ihre Texte sprechen. Es ist eine Geschichte, die fremd bleibt, und die sich menschlichen und kirchlichen Erwartungshorizonten gegenüber immer wieder als sperrig erweist. Es ist eine Geschichte, die sich für Legitimierungsversuche schlecht eignet. Vielleicht der deutlichste Ausdruck des kirchlichen Dilemmas dieser Geschichte Jesu gegenüber ist, dass sich alle christlichen Kirchen auf einen Juden berufen, der in keiner Weise daran gedacht hat, eine christliche Kirche zu gründen. Dieser Jesus eignet sich schlecht als Zentralgestalt für eine Metageschichte, weder für eine solche christlicher Kirchen, noch für eine solche christlicher Kulturen oder Staaten. 18. Die transkirchliche Weite des Dialogs. Exegese arbeitet mit Methoden, die keine anderen Methoden sind als die der Philologie, der Geschichts‑ und Religionswissenschaft und der Sprachwissenschaft. Gott begegnet in den biblischen Texten als menschlich-kontextuelles Wort und als menschlich-sprachliche Deutung von Wirklichkeit. Gott begegnet also nur mittelbar. Gerade diese Mittelbarkeit aber macht Gott für Nicht-Glaubende zugänglich. Als Teil menschlicher Sprache und menschlicher Geschichte ist Gott nicht Exklusivdomäne von Glaubenden. Exegese ermöglicht also ein Gespräch mit nicht-religiösen Menschen über die biblischen Texte. Auch für den interreligiösen Dialog wird Bibelwissenschaft in Zukunft wohl immer wichtiger.66 Mit Missionierung ist das alles gerade nicht zu verwechseln. 19. Die Bibel als Grundlage unserer Kultur. Die Wirkungsgeschichte biblischer Texte zeigt, in wie hohem Masse die Bibel die Grundlage der europäischen Kultur überhaupt ist, nicht nur die der im Rückgang begriffenen christlichen Kirchen. Als wirksame, tragende Geschichte gehört sie zu den Lebensgrundlagen, von der auch diejenigen Menschen leben, die nicht mehr Christinnen oder Christen sein wollen. Zu den Aufgaben der Exegese in unserer religiös 66 Das zeigen exemplarisch die von Heikki Räisänen in Birmingham gehaltenen Edward Cadbury Lectures: Heikki Räisänen, Marcion, Muhammad and the Mahatma. Exegetical Perspectives on the Encounter of Cultures and Faiths, London, 1997.

17. Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein?

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pluralistischen Gesellschaft gehört die Erinnerung an die Bibel als gemeinsame Lebensgrundlage aller Europäerinnen und Europäer und als prägende Kraft unserer gemeinsamen Geschichte. Wir haben in Europa keine der US-amerikanischen vergleichbare „civil religion“. Aber wir haben eine gemeinsame Geschichte. Sie ist ambivalent und vielgestaltig. Die Bibel ist ein wichtiger und auch sehr ambivalenter Faktor in ihr. Wir können nicht leben, ohne aus unserer Geschichte zu leben, und auch nicht, ohne sie kritisch aufzuarbeiten. Vielleicht ist es eine Chance, keine „civil religion“ zu haben, weil wir dann wenigstens diesen „Mythos“ nicht entmythologisieren müssen. 20. Der Hinweis auf Gott. Die wichtigste Aufgabe der Exegese ist m. E., immer und immer wieder auf den hinzuweisen, der in ihren Texten nur mittelbar als Teil der Geschichte und nur sprachlich als Vokabel in Texten vorkommt, nämlich auf Gott. Die Exegese kann Gott nicht demonstrieren: Kein Exeget kann nachweisen, dass es wahr ist, was z. B. Paulus von Gott sagt, und dass sich seine sprachlichen Diskurse über Gott auf eine aussersprachliche Wirklichkeit beziehen. In den aus der Vergangenheit stammenden biblischen Texten bleibt Gott in doppelter Weise mittelbar: Er ist – wie überall, wo das Wort „Gott“ in Texten vorkommt – Teil einer menschlichen Wirklichkeitskonstruktion. In Texten aus der Vergangenheit ist er aber darüber hinaus nicht Teil der eigenen Wirklichkeitskonstruktion, sondern derjenigen anderer Menschen, von denen wir nur noch durch Texte wissen. Dieser doppelt mittelbare Gott imponiert sich niemandem und bleibt „widerstehlich“,67 d. h. er lässt heutigen Menschen alle Freiheit, sich diesem Wort gegenüber zu verhalten, wie sie wollen. Gott selbst, nur in menschlicher Sprache zugänglich, wird dieser Sprache gegenüber immer nur etwas ganz Anderes, etwas Unaussprechbares und Unverfügbares sein, wenn er denn wirklich ist. Gegenüber menschlicher – auch theologischer – Weisheit, die sich in Metageschichten und prinzipiellen Mythen artikuliert, wirkt er vielleicht als eine Kraft der Dekonstruktion. Darüber hat schon Paulus Grundlegendes gesagt (1 Kor 1,18–25). Damit bin ich am Ende. Die vornehmste Aufgabe der Exegese in einer pluralistischen Gesellschaft ist es also, auf den Gott hinzuweisen, von dem ihre Texte nur sprechen und über den sie selbst in gar keiner Weise verfügen. Sie kann heute nicht mehr direkt – mit der Alten Kirche – auf die ἐνέργεια des göttlichen Logos und des göttlichen Geistes in den Texten hinweisen. Sie kann schon gar nicht mit der klassischen Dogmatik aus der Bibel die Bausteine zum grossen kirchlichen „metarécit“ zusammentragen. Sie kann vielleicht mit den 67

 Vgl. Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, 393.

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III. Studien zur Hermeneutik

Reformatoren darauf hinweisen, dass Gott dauernd Mensch geworden, dauernd inkarniert und dauernd paradox unter der Larve eines Gekreuzigten bei uns ist. Sie wird – das ist die conditio moderna – vor allem darauf hinweisen, dass sie selbst über die Grenzen der menschlichen Geschichte und der menschlichen Sprache nicht hinauskommen kann, und dass Gott vielleicht in menschlichsprachlichen Wirklichkeitskonstruktionen die grosse Störung sein könnte. Aber ob es in Wirklichkeit so ist, weiss sie nicht.

18. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel Eine westlich-protestantische Sicht Einleitung Mindestens vordergründig lässt sich die gestellte Themafrage sehr rasch beantworten: Die Kirchenväter haben heute de facto für die westliche Exegese kaum noch eine Bedeutung. Dabei ist der Unterschied zwischen katholischen und evangelischen Exegeten an diesem Punkt – wie fast überall – m. E. nicht wesentlich. Das war natürlich nicht immer so. Im Gegenteil: In der katholischen Exegese brauchen wir nur in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts zurückzugehen, als noch Bände der Kommentarreihe „Cursus Scripturae Sacrae“ erschienen. Ich erwähne zum Beispiel den mir vertrauten und wichtigen Band von Joseph Knabenbauer über das Matthäusevangelium, dem Andenken Papst Benedikts XV. gewidmet.1 Dieser Kommentar enthält eine sehr traditionelle, aber sorgfältige Exegese in ausgiebigem Gespräch mit den älteren griechi­ schen Kirchenvätern und einer langen Reihe von katholischen Exegeten von Hieronymus bis ins 19. Jh. Gerade fünfundsiebzig Jahre alt ist dieser Kommentar; wer von uns evangelischen und katholischen Exegeten kennt ihn noch? Auf protestantischer Seite muss man ins 19. Jh. zurückgehen, um Ähnliches zu finden: Ich erinnere an den Hallenser August Tholuck, den Lehrer Martin Kählers, einen der bedeutendsten Antipoden Schleiermachers. Seine „Ausführliche Auslegung der Bergpredigt“2  – im Gespräch mit den Kirchenvätern und den Reformatoren geschrieben – ist für mich bis heute einer der ganz grundlegenden, weil auf die Sache bezogenen Kommentare zur Bergpredigt. Für sie waren die Kirchenväter und die klassischen kirchlichen Exegeten die wichtigsten Gesprächspartner. Aber auch in fast allen Bänden der damaligen grossen Kommentarreihen, im Zahnschen Kommentar, in den frühen Ausgaben des Meyerschen Kommentars, in den „Etudes Bibliques“ oder in den älteren Bänden des „International Critical Commentary“ finden sich immer wieder 1 Josephus Knabenbauer, Commentarius in Evangelium secundum Matthaeum, 2 Bde, Paris 31922. 2  August Tholuck, Ausführliche Auslegung der Bergpredigt, Hamburg 31845.

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III. Studien zur Hermeneutik

Hinweise auf einzelne Auslegungen der Kirchenväter. In heutigen historischkritischen Kommentaren sind sie stark zurückgetreten. Sie tauchen höchstens noch als Einzelmaterialien auf, aber sie bestimmen das Gesicht der Auslegungen kaum mehr. Eine Ausnahme ist hier der „Evangelisch-Katholische Kommentar“, der Auslegungs‑ und Wirkungsgeschichte auf sein Programm geschrieben hat. Aber es gibt unter seinen Autoren keine Einigkeit darüber, warum die Kirchenväter wichtig sind und was sie für die Auslegung bedeuten. In noch höherem Masse ist das Verschwinden der Kirchenväter natürlich in synchron orientierten Kommentaren und Auslegungen festzustellen: In einem strukturalistisch oder leserorientierten Kommentar haben Kirchenväter grundsätzlich keinen Platz mehr. Die Auslegungsgeschichte ist eine Spezialaufgabe der Patristik geworden.3 Dort wird ein profundes auslegungsgeschichtliches Wissen gesammelt, das aber kaum Rückwirkungen auf die Exegese hat. So stellt sich die Frage, ob ich  – als westlicher, protestantischer Exeget – überhaupt ein sinnvolles Referat über dieses Thema halten kann. Wenn ich es versuche, so muss ich zwei Einschränkungen machen. 1. Der Gegenstand meines Referats ist nicht die heutige westliche Exegese, sondern eher eines ihrer grossen Defizite. Darum spreche ich in meinem Referat nicht über die Bedeutung der Kirchenväter für die westliche Exegese, sondern bloss über ihre Bedeutung für mich, als einem vielleicht an diesem Punkt nicht ganz „normalen“ protestantischen Exegeten. 2. Wenn ich diese Bedeutung für mich zu formulieren versuche, so tue ich das nicht als Fachmann. Ich bin kein Patristiker und verstehe von den Kirchenvätern vermutlich weniger, als jeder einzelne orthodoxe Theologe unter Ihnen. Viele meiner Beobachtungen sind ausserdem von der Matthäusexegese her geprägt, die mein wichtigstes Arbeitsfeld ist. Ich möchte mein Referat folgendermassen gliedern: In einem ersten Abschnitt möchte ich einige Überlegungen zu den Gründen des Verschwindens der Kirchenväter vor allem aus der protestantischen Exegese vortragen (I). In einem zweiten möchte ich mit einigen Beispielen die exegetische Bedeutung der Beschäftigung mit den Kirchenvätern illustrieren (II). In einem dritten, sehr langen Abschnitt geht es um die hermeneutische Bedeutung der Kirchenväter (III). Und schliesslich möchte ich, in einem sehr kurzen Schlussabschnitt, noch einige protestantische Vorbehalte anbringen (IV).

3  Vgl. z. B. die Reihe „Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese“, 32 Bände, Tübingen 1959–1998.

18. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel

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I. Das Zurücktreten der Kirchenväter in der westlichen, besonders der protestantischen Exegese Ich habe zunächst von einem relativen Zurücktreten der Kirchenväter als Folge des reformatorischen Schriftprinzips zu sprechen. Nicht, dass die Reformatoren und ihre Schüler die Kirchenväter nicht hochgeschätzt und sehr gut gekannt hätten! Aber ihr Grundsatz, dass die Kirche auf die Schrift allein, nicht auf Schrift und Tradition, zu gründen sei, brachte eine relative Abwertung der Auslegungen der Kirchenväter mit sich: Es war nicht mehr möglich, Fragen der Schriftauslegung einfach von der Tradition her, also durch das autoritative Zeugnis der Kirchenväter entscheiden zu lassen. Vielmehr fielen die Entscheidungen über die rechte Schriftauslegung auf zwei anderen Ebenen: Man kann sie mit Hilfe von Luthers Unterscheidung einer doppelten Klarheit der Schrift in „De servo arbitrio“ formulieren:4 Die eine Ebene ist die der „äusseren Klarheit“ (claritas externa): Äussere Unklarheiten der Schrift werden durch sorgfältige Exegese geklärt, also durch Grammatik, Sprachkenntnisse und Philologie. Mit diesem Prinzip der äusseren Klarheit der Schrift zusammen hängt die Zuwendung der Reformatoren zur wörtlichen Bibelauslegung, dem „natürlichen Sinn“ und ihre Abwendung von der Allegorie.5 Die andere Ebene ist die der „inneren Klarheit“ der Schrift, die ihren Ort im menschlichen Herzen hat. Luther spricht in „De servo arbitrio“ vom Geist, Calvin vom testimonium internum Spiritus Sancti. Inhaltlich wäre hier vom Evangelium im Unterschied zum Gesetz, oder von Christus, den Luther notfalls sogar gegen die Schrift treiben will,6 zu sprechen. Mit beiden Weisen der Klarheit der Schrift haben die Auslegungen der Kirchenväter nur mittelbar etwas zu tun. Sie gehören zur Tradition, welche nach der Überzeugung der Reformatoren zwar ehrwürdig und wichtig, aber gegenüber Christus und der Schrift sekundär ist. Sie treten also für die reformatorischen Exegeten zurück. Das lässt sich sehr schön in Vorworten zu reformatorischen Bibelkommentaren zeigen, wo fast immer Erasmus, sein Bibeltext, seine Annotationen und seine Paraphrasen, aber relativ selten die Kirchenväter erwähnt werden. Kommentare in Form von Glossen oder Katenen gibt es jetzt keine mehr. Letzteres gilt zwar m.W. auch für die katholische Kirche. Inhaltlich aber ist es dort zum Teil anders. Die massgeblichen Kommentare wie z. B. diejenigen des humanistisch und rhetorisch hochgebildeten Spaniers Maldonat aus dem 16. Jahrhundert und vor allem diejenigen des Flamen Cornelius a Lapide aus dem 17. Jh. leben geradezu von den Auslegungen der Kirchenväter. Bisher hatte ich von einem relativen Zurücktreten der Bedeutung der Exegese der Kirchenväter als Folge des reformatorischen Schriftverständnisses ge4 Martin

Luther, De servo arbitrio, WA 18, 609. Luther, Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bock Emsers zu Leipzig Antwort, WA 7, 650–652. 6  Martin Luther, Thesen de fide (1535) 49 = WA 39/1, 47. 5 Martin

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III. Studien zur Hermeneutik

sprochen. Mein zweiter Gesichtspunkt hat eher mit dem Humanismus als mit der Reformation zu tun. Die Humanisten beschäftigten sich im Zusammenhang mit ihrer neuen Entdeckung der Antike auch intensiv mit den Kirchenvätern. Es gab seit dem Humanismus einen neuen Typus von Kommentar zu biblischen Büchern, den man „Adnotationes“ nannte. Ihr Vater ist vermutlich Laurentius Valla, sein berühmtester Nachfolger ist Erasmus von Rotterdam; auch der Genfer Reformator Theodor von Beza hat einen solchen Kommentar geschrieben. „Adnotationes“ enthalten philologische und historische Notizen zu den biblischen Texten. In den Adnotationes etwa von Erasmus oder Theodor von Beza7 kommen zwar immer wieder Hinweise auf Kirchenväter vor; aber sie werden hier als Quelle für historische Informationen oder als Vertreter bestimmter philologischer Einzelauslegungen angeführt, kaum jedoch als traditionale Autorität. Die Kirchenväter werden also im Gefolge des Humanismus und der mit ihr sich verbindenden Reformation zu historischen Quellen oder zu exegetischen Gesprächspartnern. Typisch für diese neue Funktion der Kirchenväter als historische Quellen ist das Vorwort Calvins zu seinem Evangelienkommentar.8 Kurz: die Kirchenväter werden mehr und mehr danach bewertet, ob ihre historischen Urteile zuverlässig sind und ob ihre Auslegungen dem philologisch exakten natürlichen Sinn der Schrift entsprechen. Damit sind die beiden Wurzeln genannt, die dazu geführt haben, dass die Kirchenväter in den reformatorischen Kirchen ganz besonders seit der Aufklärung mehr und mehr an Terrain verloren haben. Ihre Auslegungen erwiesen sich – historisch gesehen – oft als problematisch, ihre historischen Urteile oft als unrichtig. Für ihre hermeneutische Leistung – m. E. das Wichtigste, was sie uns zu sagen haben – hatte man wenig Verständnis und Interesse. Im Gegenteil: In der protestantisch-liberalen Exegese ging es ja darum, durch alle kirchlichen Auslegungen hindurch zum wahren Sinn der ursprünglichen Texte und hinter alle Dogmen zurück zu Jesus selbst zu kommen. Die Beschäftigung mit den Kirchenvätern stand im Protestantismus im Schatten der Beschäftigung mit der Bibel, auf die sich alle exegetischen, hermeneutischen und historischen Anstrengungen konzentrierten. Ich zeichne die Entwicklung im einzelnen nicht nach, sondern begnüge mich mit dem Hinweis auf einen sehr wirkungsmächtigen protestantischen Exegeten, der sich, im Unterschied zu anderen, mit Kirchenväterexegese wenigstens 7  Erasmus v. Rotterdam, Novum Testamentum, cui … subjectae sunt … Adnotationes, in: ders., Opera Omnia VI, Abdruck Hildesheim 1962; Theodor v. Beza, Jesu Christi Novum Testamentum, Genève 1582. 8  Calvin führt hier die Kirchenväter Hieronymus und Euseb als Vertreter historischer Thesen über die Evangelien an, die er ablehnt: Nach ihm ist Mk nicht – wie für Hieronymus – eine blosse Epitome aus Mt, und nach ihm ist Pls. nicht, wie für Euseb, der wahre Verfasser des Lukasevangeliums (Johannes Calvin, Auslegung der Evangelien-Harmonie I, Neukirchen 1966, 9).

18. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel

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gründlich beschäftigt hat, nämlich auf Adolf Jülichers Gleichnisbuch.9 Ich wähle ihn als Beispiel dafür, wie die historisch-kritische Frage nach dem Ursprungssinn in Verbindung mit der protestantischen Opposition zwischen Schrift und Tradition die Beschäftigung mit den Kirchenvätern eo ipso abwertet: Bei der Auslegung jedes einzelnen Gleichnisses werden die Leser durch die „Absurditäten“ der Auslegung, welche die jahrhundertelange Auslegungsgeschichte angesammelt hat, hindurchgeführt zum ursprünglichen, vernünftigen, evidenten, wenn auch etwas platten Sinn des ursprünglichen Gleichnisses. Die Kirchenväter landen dabei, mindestens so weit sie die Gleichnisse allegorisch auslegten, auf dem Abfallhaufen der Auslegungsgeschichte. Entsprechend hart sind Jülichers Urteile: Die Gleichnistheorie des Origenes zum Beispiel ist für ihn – in einer Formulierung Overbecks  – nur eine „Systematisierung des Verkehrten“; bei Hilarius muss Jülicher die paar Fälle, wo er das Richtige traf, schon einzeln aufzählen; Cyrill von Alexandrien sei zwar ein guter Exeget, aber er habe zuviel alexandrinische Luft geatmet.10 Nur Johannes Chrysostomus kommt erheblich besser weg. Kurz: Der ursprüngliche Sinn eines Textes ist hier der Massstab für seine richtige Auslegung. Gemessen an diesem Grundsatz können die Auslegungen der Kirchenväter nur von sekundärer Bedeutung und relativ uninteressant sein. Dazu kommt Jülichers exegetische Grundthese, dass die Gleichnisse Jesu mit Allegorien nichts zu tun haben. Dass ihre Auslegungen gerade darum wichtig und interessant sein könnten, weil sie die Gleichnisse Jesu neu und anders auslegen, war ein Gedanke, der ihm zu seiner Zeit gar nicht kommen konnte. Ich fasse in zwei Thesen zusammen: 1. Das Zurücktreten der Kirchenväter in der protestantischen Bibelexegese ist eine Folge des reformatorischen Schriftprinzips, welches die Bibel in ihrem wörtlichen Sinn ins Zentrum stellte und „Christus“, nicht aber die Tradition und die Lehre der Kirche, zu ihrem Auslegungskanon machte. 2. Das Zurücktreten der Kirchenväter in der modernen westlichen Bibelexegese überhaupt ist eine Folge des wissenschaftlichen Fragens nach dem ursprünglichen Sinn der biblischen Texte, das dazu führte, kritisch hinter die Kirchenväter zurück zu fragen. Es ist also eine Folge des wissenschaftlichen Denkens, das seine Wurzeln in Humanismus und Reformation hatte und dem die Aufklärung zum Durchbruch verhalf. Die heutige katholische Exegese unterscheidet sich hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Auslegung der Kirchenväter von der protestantischen kaum. Auch hier sind die Kirchenväter als Ausleger der Bibel zu weitgehend marginalisierten Gesprächspartnern geworden. Angesichts des in sessio IV des Tridentinums 1546  9 10

 Adolf Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, 2 Bände, Tübingen 21910 (1899).  Jülicher a. a. O. I, 224. 226. 238.

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III. Studien zur Hermeneutik

formulierten Grundsatzes, wonach Schrift und Tradition „pari pietatis affectu ac reverentia“ anzunehmen und zu verehren seien,11 scheint es verwunderlich, dass sich die katholische Exegese an diesem Punkt so sehr hat protestantisieren und modernisieren lassen. Versteht man „Tradition“ nicht als eine besondere Offenbarungsquelle neben der Bibel, sondern im Sinne des 2. Vaticanums als die lebendige und vom Geist begleitete Weitergabe der einen, in der Bibel bezeugten Offenbarung,12 so scheint dieses Traditionsverständnis dem orthodoxen recht nahe zu sein, viel näher als dem protestantischen, das den Vorrang der Bibel als Gegenüber und Richtschnur aller Traditionsprozesse betont.13 Wie dem auch sei, jedenfalls ist heute der weitgehende Verlust des Gespräches mit den Kirchenvätern ein gemeinsames Defizit katholischer und evangelischer Exegese. Dass hier ein Defizit vorliegt, ist denn auch eine gemeinsame Erkenntnis katholischer und evangelischer Exegeten, welche etwa die Geburt des „Evangelisch-Katholischen Kommentars“ begleitet hat. Weniger klar als die Tatsache, dass wir etwas verloren haben, ist allerdings die Frage, worin denn die Bedeutung des Verlorenen besteht. Dieser Frage sollen die folgenden Überlegungen nachgehen.

II. Zur exegetischen Bedeutung der Kirchenväter Nur ganz kurz möchte ich über die exegetische Bedeutung der Kirchenväter sprechen. Immer wieder haben die Kirchenväter deswegen, weil sie sprachlich, geographisch und zeitlich dem Neuen Testament relativ nahe stehen, wichtige exegetische und historische Beobachtungen überliefert. Sie haben sich vor allem über Erasmus, Grotius, Wettstein14 und die älteren Kommentarwerke bis in die modernen Kommentare hinein gehalten. In ihrer exegetischen Bedeutung sind sie unbestritten. 11  Henricus Denzinger / ​Alfonsus Schönmetzer (Hg.), Enchiridion Symbolorum, Freiburg u. a. 361976, Nr. 1501 (= 783). 12  De Rev 2,9: „Sacra Traditio … et Sacra Scriptura arcte inter se connectuntur atque communicant. Nam ambae, ex eadem divina scaturigine promanantes, in unum quodammodo coalescunt et in eundem finem tendunt“. Die Tradition ist hier mit dem Heiligen Geist, den Aposteln und ihren Nachfolgern und der Kirche, aber nicht speziell dem Magisterium verbunden. Die Kirchenväter werden nicht besonders herausgehoben. 13  Vgl. aber den Vortrag von Savas Agourides, The Orthodox Church and Contemporary Biblical Resesrch, in: James D. G. Dunn, u. a. (Hg.), Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive, WUNT 130, Tübingen 2000, 134 ff, der genau dieses protestantische Anliegen als grosses Manko in der Orthodoxie betont. 14  Zu Erasmus vgl. o. Anm. 7. Hugo Grotius, Annotationes in Novum Testamentum, Nachdruck Groningen I 1826, II 1827; Jacobus J. Wettstein, Novum Testamentum Graecum, 2 Bde Amsterdam 1751/52 (Nachdruck Graz 1962). Die von Georg Strecker u. a. besorgte verdienstvolle Neuausgabe, deren zweiter Band 1996 erschienen ist, konzentriert sich auf die antiken nichtchristlichen Parallelen und enthält die Kirchenväterbelege kaum mehr.

18. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel

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Ich bleibe deshalb hier kurz und erwähne nur drei Beispiele aus dem Matthäusevangelium. Allgemein bekannt ist, dass Johannes Chrysostomus in Homilie 16,7 zu Matthäus 5,22 erwähnt, dass in Syrien die Leute zu ihren Dienstboten ῥάκα sagen und dass dies noch nicht einmal ein eigentliches Schimpfwort sei, sondern den Sinn einer sehr herablassenden Anrede in der 2. Person Singular habe.15 Zwischen ῥάκα und dem ebenfalls sehr schwachen Schimpfwort μωρός könnte also durchaus eine Steigerung vorliegen. Man kann aber bei den Kirchenvätern auch auf exegetische Entdeckungen stossen, die keineswegs allgemein bekannt sind. Ich fand z. B. bei Augustin16 die Notiz, dass die rustici im nordafrikanischen Hippo sich „Chanani“ nennen. Vermutlich handelt es sich bei diesem Ausdruck um die einheimische Selbstbezeichnung der dortigen phönizischen Bevölkerung. Da Φοῖνιξ ein griechisches Wort ist, also eine Fremdbezeichnung, und da das markinische Συροφοινίκισσα überdies eine Bezeichnung ist, die einen westlichen geographischen Standort verrät  – im Stammland Phönizien war es nicht nötig, die einheimische Bevölkerung als „Syro“phönzier zu bezeichnen  – denke ich, dass der Syrer Matthäus, der vielleicht zweisprachig war, die für ihn unpassende markinische Bezeichnung „Syrophönikierin“ durch die einheimische Selbstbezeichnung der Phönizier ersetzte und dass wir hier nicht – oder nicht in erster Linie – einen Biblizismus vor uns haben.17 Ich gebe noch ein drittes Beispiel: Bekanntlich ist die Deutung der doppelten Zeitbestimmung ὀψὲ … σαββάτων τῇ ἐπιφωσκούσῃ εἰς μίαν σαββάτων in Mt 28,1 eine crux interpretum. Die erste Angabe weist auf den frühen Abend des Sabbats  – ὀψὲ … σαββάτων wird dann meist als Genetivus partitivus verstanden.18 Die zweite Zeitangabe aber weist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den frühen Morgen nach dem Sabbat. Für Matthäus müssen aber beide Zeitangaben dasselbe gemeint haben. Die Versuche, den Widerspruch aufzuheben, sei es, indem man ὀψέ zu einer Präposition mit der Bedeutung „nach“ macht (obschon es dafür nur ganz vereinzelte Belege gibt!), sei es, indem man das griechische Verb ἐπιφώσκω etwas halsbrecherisch vom Semitischen her deutet, sind bekannt.19 Nun weist uns Severus aus Antiochien – vielleicht der Heimat des Evangelisten Matthäus!  – daraufhin, dass es auch zu seiner Zeit gebräuchlich gewesen sei, zu sagen: ὀψὲ τοῦ καιροῦ παραγέγονεν oder ὀψὲ

 In Mt 16,7 = PG 57,248, vgl. Basilius, Reg brev 51 = PG 31,1117.  Exp in Rom 13 = CSEL 84,162. 17  Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK Ι / 2​ , Neukirchen / ​Düsseldorf 1990, 432 f. 18 Vgl. Edwin Mayser, Grammatik der griechischen Papyri aus der Ptolemäerzeit. II / 2 ​ Satzlehre, Berlin 1934 (Nachdruck Berlin 1970), 127 d 2; 533 Nr. 13. 19  Vgl. dazu Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus IV, EKK I / 4 ​ , Neukirchen / ​ Düsseldorf 2002, z.St. 15 16

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III. Studien zur Hermeneutik

τῆς ὥρας. Damit sei gemeint: τὸ βράδιον (= später) καὶ κατόπιν τῆς ὥρας.20 Vermutlich wurde hier ὀψέ komparativisch im Sinne von „später“ und der Genetivus als comparativus verstanden. Es ist sehr wohl möglich, dass dies des Rätsels Lösung darstellt. Drei Beispiele für eine durch einen Kirchenvater ermöglichte exegetisch-historisch-philologische Erkenntnis! Ich füge zwei Beispiele an, die zeigen können, wie nahe die Exegese der Kirchenväter in vielen Fällen beim vermutbaren ursprünglichen Sinn der Texte geblieben ist. Das erste Beispiel betrifft die Auslegungsgeschichte von Mt 5,3. Es ist auffällig, dass die grosse Mehrzahl der Väter πτωχοὶ τῷ πνεύματι im Sinn von „Demut“ deutet, was sich von der Semantik des Griechischen her gerade nicht nahelegt.21 Der Gedanke legt sich nahe, dass sie hier eine feste mündliche Auslegungstradition bewahrt haben. Das andere Beispiel betrifft die Gleichnisauslegung der Kirchenväter. Hier hatte Jülicher mit besonderer Radikalität den ursprünglichen Sinn der Jesusgleichnisse von ihren kirchlichen allegorischen Deutungen abgehoben. Ich denke, dass er dies nur mit sehr relativem Recht getan hat. Bereits in der matthäischen  – teilweise allegorischen  – Deutung der Jesusgleichnisse kann man die beiden Tendenzen feststellen, welche später als tropologische und als mystische Deutung bezeichnet worden sind: Allegorisierung im Dienste der Paränese und Allegorisierung im Dienste einer heilsgeschichtlichen Sicht. Und dass Allegorien – wohl zu unterscheiden von einer durchgehenden allegorischen Deutung – auch den ursprünglichen Jesusgleichnissen nicht fremd sind, ist heute wieder deutlich geworden: Fast alle Jesusgleichnisse enthalten in ihrer Bedeutung feststehende Metaphern, z. B. Vater, Ernte, Abrechnung etc, welche von Anfang an für ihre Deutung unerlässlich waren und natürlich auch die altkirchliche Deutung bestimmten. Zwischen Jesu Gleichnissen und den Gleichnisauslegungen der Kirchenväter gibt es also nicht nur Diskontinuität, wie Jülicher meinte. Der Evangelist Matthäus steht der altkirchlichen Gleichnisauslegung schon relativ nahe und bildet eine Brücke zwischen Jesus und der alten Kirche.22 Diese Beispiele mögen genügen. Ich denke, dass es sich lohnen würde, wieder vermehrt auf die Kontinuität zwischen den biblischen Texten und ihren altkirchlichen Auslegungen zu achten. Ich möchte diese knappen Hinweise auf die exegetische Bedeutung der Beschäftigung mit den Kirchenvätern nicht abschliessen ohne einen Hinweis auf die Bedeutung der alexandrinischen und byzantinischen Lexikographen: Einer von ihnen, Photius von Konstantinopel, ist selbst ein Kirchenvater, in andern Lexika, z. B. der Suda, werden Kirchenschriftsteller ausführlich benutzt. Für viele von uns Neutestamentlern sind das Bauersche Wörterbuch und Liddell20 Bei Johann A. Cramer (Hg.), Catenae Graecorum Patrum in Novum Testamentum I. Catenae in Εν. S. Matthaei et S. Marci, Nachdruck Hildesheim 1967, 244. 21  Vgl. Jacques Dupont, Les Béatitudes III. Les Evangélistes, EtB, Paris 1973, 399– 411. 22  Vgl. Luz, Matthäus II (o. Anm. 17), 371–374.

18. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel

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Scott nicht nur das Alpha, sondern auch das Omega der Lexikographie, sehr zum Schaden der Exegese.

III. Die hermeneutische Bedeutung der Kirchenväter Viel wichtiger als alle exegetischen Einzelentdeckungen ist die Bedeutung, welche die Hermeneutik für uns hat, die den Auslegungen der Kirchenväter zugrundeliegt. Ich denke, dass die Auslegungsweisen der Kirchenväter einige überraschende Querverbindungen zu neueren Auslegungsweisen der Bibel erlauben, welche heute die historisch-kritische Auslegung ergänzen. Damit komme ich zu meiner Grundthese: Die Auslegung der Kirchenväter nimmt m. E. jene Ganzheit von Erklären und Verstehen von der Analogie des Glaubens her vorweg, die uns heute zerbrochen ist. Ihr gelingt es, die Bibel als Einheit und nicht als atomisierte Sammlung einzelner Texte zu verstehen. Ich möchte auf fünf Punkte hinweisen: III. 1  Die allegorische Auslegung und die Bedeutung der Texte für uns Immer deutlicher hat es sich heute herausgestellt, dass die wissenschaftliche Erklärung von Texten und das Erheben ihrer Gegenwartsbedeutung nicht identisch sind. Verstehen von Texten geschieht in zwei Schritten. Man kann sie  – in indirektem Anschluss an Wilhelm Dilthey und in direktem z. B. an Ernst Fuchs23  – als „Erklären“ und „Verstehen“ bezeichnen: Die „Erklärung“ eines Textes betrifft zunächst die Textwelt, d. h. seine Struktur und seine Potentiale für die Lektüre (z. B. den impliziten Leser). Sie besteht sodann in seiner philologischen und grammatischen Erklärung. Sie beschäftigt sich als historische Erklärung drittens mit dem wirklichen Autor und den wirklichen Erstlesern des Textes, mit ihrer „Enzyklopädie“, mit ihrer geistesgeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Situation, mit ihrer sozialen und historischen Umwelt und mit der Kommunikationssituation, der der Text sich verdankt. Das „Verstehen“ ist demgegenüber die eigene Auseinandersetzung mit der „Sache“, um die es dem Text geht. Dem entspricht die im Französischen und Englischen geläufige Unterscheidung zwischen „sens“ und „significance“, bzw. zwischen „meaning“ und „significance“. Die entsprechenden deutschen Termini „Sinn“ und „Bedeutung“ sind etwas weniger scharf. „Erklärung“ eines Textes befasst sich also mit seinem Sinn, das „Verstehen“ kreist um seine Bedeutung. Man kann hier auch an die hermeneutische Debatte über die „Applikation“ eines Textes er23 Ernst Fuchs, Marburger Hermeneutik, Tübingen 1968, 18 f. Dort der eindrückliche Passus: „Erklären isoliert, analysiert, objektiviert. Das kann für das Lebendige fatale Folgen haben. Boshafte Bauern unterstellen ihrem Tierarzt den Spruch: ,Man muss das Tier schlachten, damit man weiss, was ihm gefehlt hat‘“.

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III. Studien zur Hermeneutik

innern, welche seit dem Pietismus ein Grundthema westlicher Hermeneutik ist und von H-G. Gadamer so geklärt worden ist, dass die Applikation ein integrales Moment des Verstehens ist.24 Unsere Studentinnen und Studenten erfahren das, was sie in exegetischen Vorlesungen und Seminaren lernen, oft als blosse „Erklärungen“ von Texten, und die vielen möglichen Erklärungen der unendlichen Vielzahl von biblischen Texten durch eine schier unendliche Vielzahl von Exegetinnen und Exegeten mit all ihren verschiedenen Hypothesen lassen sie oft in ziemlicher Verwirrung zurück. Sie suchen dann bei den praktischen Theologen ihre Zuflucht, die das, was früher „Applikation“ hiess, verselbständigt haben. Von dem, was die Exegeten vorher „erklärt“ haben, bleibt dann oft nicht mehr allzuviel übrig. Traditionsbewusste Katholiken suchen ihre Zuflucht beim kirchlichen Lehramt, das sich um die vielen Hypothesen, welche die Exegeten auf ihren historischen, strukturalen und linguistischen Spielwiesen25 aufstellen, wenig kümmert und die verbindliche Wahrheit des Glaubens weithin ohne konstitutiven Bezug auf die biblischen Texte festhält.26 Kurz: „Sinn“ und „Bedeutung“ von Texten, tendenziell objektive „Erklärung“ und tendenziell subjektives „Verstehen“ drohen auseinanderzufallen. Der linguistisch erhobene Textsinn ist oft eine textimmanente Welt für sich, welche den wirklichen Leser gar nicht mehr betrifft. Die historische Erklärung der Texte bleibt in der Vergangenheit stehen und hat wohl mit den hypothetisch rekonstruierten damaligen Römern und Korinthern, aber nichts mehr mit uns zu tun. Der „garstige breite Graben“, nicht wie einst bei Lessing zwischen historischer Wahrheit und ewiger Vernunftwahrheit,27 sondern zwischen damaliger Wahrheit und heutiger Wahrheit, ist kaum zu überspringen. Nochmals anders gesagt: Wissenschaftliches Erklären der Texte distanziert sie von unserer eigenen Wirklichkeit und macht sie zu Untersuchungsobjekten, zu toten Texten. Es bedarf dann eines neuen, eines zweiten Schrittes, um die Texte in unsere eigene Wirklichkeit zurückzuholen. Wissenschaftliche Erklärung distanziert die biblischen Texte auch von der Kirche, indem sie sie in ihre eigene vergangene Welt zurück versetzt, eine Welt, in der es die „Kirchen“, so wie sie heute sind, in wesentlichen Elementen noch gar nicht gab. Protestantische Exegeten machen denn auch immer wieder die Erfahrung, dass heute das, was faktisch gegeben ist, nämlich die kirchlichen Strukturen und Institutionen, die Kirchen unendlich  Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 290–295.  Man denke daran, dass alle von den Exeget / i​nnen vorausgesetzten historischen Welten und alle ihre Sprach‑ und Lesertheorien nichts anderes als ihre eigenen Konstruktionen sind! 26  Vgl. den Vortrag von Giuseppe Segalla, Church Authority and Bible Interpretation, in: Dunn u. a. (Hg.), Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive (o. Anm. 13), 55 ff. Natürlich soll meine Formulierung ahnen lassen, dass ich die Situation etwas anders bewerte als er. 27 Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft. An den Herrn Director Schumann zu Hannover, in: Lessings Werke in sechs Bänden, Bd. VI, Leipzig o. J., 223. 24 25

18. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel

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viel stärker prägen als die Bibel, und katholische Exegeten haben oft den Eindruck, dass sie in dem, was sie sagen, zwar ziemlich frei sind und auf dem Feld der Historie und der Sprachwissenschaft tun und lassen können, was sie wollen. Es betrifft das kirchliche Lehramt erst dann, wenn einige der ganz wenigen neuralgischen Punkte berührt werden, an denen das kirchliche Dogma durch Fragen der Exegese direkt tangiert ist.28 Meine These ist nun, dass die Verbindung von wörtlicher und allegorischer Schriftauslegung auf der Ebene des damaligen griechischen Denkens eben jene Verbindung von „Erklären“ und „Verstehen“ darstellt, welche uns als Folge der wissenschaftlichen Bibelerklärung zu zerbrechen droht. Allegorische Auslegungen formulieren m. E. die Gegenwartsbedeutung eines Textes. Es geht hier um die Bedeutung eines Textes, nicht um seinen Sinn; sie sind im weitesten Sinn des Wortes Applikationen.29 Vor allem im Falle moralischer Allegorien ist das unmittelbar einleuchtend: Wenn etwa Auslegungen von Mt 5,29 f., des Wortes vom Abschneiden der Glieder, die einen Menschen verführen, das Auge oder die Hand auf böse Gedanken, auf sexuelle Verführungen, auf falsche Freunde, oder auch auf Geld deuten,30 so werden durch die Allegorien Anwendungsmöglichkeiten des Textes erschlossen: Hier in von Jülicher geprägtem Purismus festzustellen, dass die biblischen Hyperbeln natürlich nicht so „gemeint“ seien, ist naiv. In ganz anderer Weise wurde mir etwas Ähnliches an der Nähe mancher geistlicher Auslegungen des Origenes zu dem deutlich, was uns heute Eugen Drewermann als tiefenpsychologische Bibelauslegung vorführt.31 Für Origenes bedeutet geistliches Verstehen der Bibel letztlich, dass der göttliche Logos die „Augen der Seele“ berührt und dass auch „unsere Augen geöffnet werden“, sodass „er als δύναμις und λόγος und σοφία und als all das, was über ihn geschrieben ist“ unsere Augen sehend macht, die vorher nicht sehen konnten.32 Geistliches Verstehen bedeutet Erleuchtung des Einzelnen durch den göttlichen Logos und damit in einem tiefen, spirituellen Sinn Heilung des Menschen. Die Nähe zu den psychologischen Interpretationen von Eugen Drewermann, welche ich auch als Applikationen des biblischen Textes verstehe, ist gross, denn auch Drewermann geht es ja gerade nicht um Reduktion der biblischen Botschaft auf innerpsychische, nur menschliche Erfahrungen. 28 Z. B. die historische Frage, ob Jesus leibliche Brüder und Schwestern gehabt hat. Historisch ist das eine überwiegend wahrscheinliche Hypothese! 29  Mit Franz Overbeck, Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie, aus dem Nachlass herausgegeben von Carl Albrecht Bernoulli, Basel 1919, 75.89–91 und Ulrich J. Körtner, Der inspirierte Leser, Göttingen 1994, 80 f. 30  Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I / 1​ , Neukirchen / ​Einsiedeln 1985, 267. 31 Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, 2 Bde, Olten 1984/85. Vgl. auch die Diskussion bei Körtner, Leser (o. Anm. 29), 76 f. und bei Henri de Lubac, Geist aus der Geschichte. Das Schriftverständnis des Origines, Einsiedeln 1968, 442–459. 32  In Mt 16,11 = GCS Orig X 508 zu Mt 20,29–34.

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Eine solche Verbindung von wörtlicher Erklärung und geistlichem Verstehen geschieht natürlich erst dann, wenn die wörtliche Erklärung nicht – wie noch oft bei Origenes  – eine eigentlich zu überwindende Vorstufe, sondern ein integraler Bestandteil des Verstehens ist. Ich skizziere als Beispiel das Verhältnis der wörtlichen und der geistlichen Deutung anhand von Thomas von Aquins quaestio „utrum sacra Scriptura sub una littera habeat plures sensus“.33 Thomas, der hier in augustinischer Tradition steht, unterscheidet im Falle von Gottes Wort zwei Sinnebenen. In der ersten ist „Bedeutung“ („significatio“) das, wodurch „voces significant res“, also der Bezug des Signifikanten auf das Signifikat. Das entspricht dem „sensus historicus vel litteralis“. Auf der zweiten Ebene werden die Signifikate wiederum zu Signifikanten, d. h. die durch die voces der Bibel bezeichnete Geschichte, die Ereignisse oder die Personen werden wiederum zu Bedeutungsträgern auf einer anderen Ebene („res significatae per voces iterum res alias significant“). Das entspricht dem geistlichen Schriftsinn. Der historische Sinn wird also nach Thomas durch den geistlichen Schriftsinn nicht etwa aufgehoben oder unwichtig, sondern er selbst ist Träger des geistlichen Schriftsinns. Der geistliche Schriftsinn aber zielt in allen seinen Dimensionen auf uns, d. h. die Glaubenden. Er hebt, als sensus mysticus, Gestalten der Vergangenheit in die Gegenwart des christlichen Glaubens; er spricht, als sensus anagogicus, von unserer Hoffnung, und er spricht, als sensus moralis, von dem, was wir heute zu tun haben. Der geistliche Schriftsinn ist bei Thomas von Aquino Lektüre des Glaubens, Applikation des Textes in umfassenden Sinn, der seine blosse Anwendung in christlicher Praxis bei weitem übersteigt. Bei Thomas von Aquino ist es jedenfalls nicht mehr so, wie noch bei Origenes, dass die wörtliche Schriftauslegung die Sehweise der einfachen Christinnen und Christen, die allegorische Sehweise diejenigen der Fortgeschrittenen und Vollkommenen ist. Dadurch entgeht Thomas auch der Gefahr, die wörtliche Auslegung irgendwann hinter sich lassen zu wollen und allein in geistliche Höhen zu entschweben. Es sind ja nicht nur die voces der Bibel, sondern es ist der wörtlich verstandene Bibeltext, die versprachlichte und gedeutete Geschichte, die Gegenstand der geistlichen Auslegung wird. Die Geschichte selbst wird zum Symbol, sie wird transparent für die Wahrheiten des Glaubens. III. 2  Die Vielzahl der Schriftsinne Die Auslegung der Kirchenväter entspricht der durch heutige Leserforschung neu entdeckten Offenheit der Texte für vielfältige Lektüren. Historisch-kritische Auslegung versteht dagegen die biblischen Texte tendenziell als geschlossene Texte. Sie versucht, den Ursprungssinn zu rekonstruieren. Ich verstehe die in der theologischen Exegese unter dem Einfluss Schleiermachers besonders lange 33  Thomas v. Aquino, STh I, art. 1 qu 10 corpus, vgl. auch ders., Super Epist in Gal Lectura Nr. 254 (zu Gal 4,21 ff.) (Torino 1953).

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festgehaltene ausschliessliche Orientierung an der Intention des Autors als Versuch, für den Textsinn eine eindeutige Instanz festzuhalten. Die Dominanz des Autors und die Sehnsucht nach dem eindeutigen Textsinn in moderner westlicher Exegese hat traditionelle theologische Wurzeln: Die biblischen Schriften sind apostolische Schriften; sie sind nach der Überzeugung der Alten Kirche darum, weil sie Apostel als Verfasser hatten, zu kanonischen Schriften geworden. Die Verfasser der biblischen Schriften galten als inspiriert: Länger als die Überzeugung, dass die biblischen Texte inspiriert seien, hat sich die Überzeugung gehalten, dass ihre Verfasser, also z. B. die Apostel oder der prophetische Verfasser der Johannesapokalypse, vom heiligen Geist inspiriert gewesen seien. Die altprotestantische Orthodoxie war überzeugt, dass die biblischen Texte in ihrem Wortsinn klar und eindeutig seien;34 nur dann konnten sie alleinige und ausreichende Grundlage des – vor allem als Lehre verstandenen – Glaubens sein. Demgegenüber hat moderne Leserforschung gezeigt, in wie hohem Mass der Sinn eines Textes durch den jeweiligen Lektürevorgang, also durch den Leser im Gespräch mit seinen Texten, konstituiert wird.35 Für eine Theologie, die vom absoluten Vorrang des Wortes vor seinen Hörerinnen und Hörern geprägt war und welche die Erinnerung daran verdrängt hatte, dass ja nicht nur die Texte oder ihre Verfasser, sondern auch ihre Leser inspiriert sein könnten, waren solche Feststellungen befremdlich. Ulrich Körtner hat in seinem schönen Büchlein „Der inspirierte Leser“ mit Recht an sie erinnert und von hier aus eine Neubewertung der altkirchlichen allegorischen Schriftauslegung gefordert.36 Nun fällt bereits in den Auslegungen des Origenes auf, dass mehrere geistliche Deutungen eines Textes nebeneinander stehen können. Dasselbe gilt auch für andere altkirchliche Kommentare, etwa des Hieronymus oder des Ambrosius, noch längst bevor die geistliche Deutung des Textes als allegorischer, tropologischer und anagogischer Sinn durch Johannes Cassian systematisiert worden war. Häufig ist insbesondere in mittelalterlichen Kommentaren zu lesen: „eine andere Auslegung“, wobei die andere Auslegung dann gar nicht unbedingt ein anderer Schriftsinn sein muss, sondern auch eine zusätzliche moralische oder mystische Auslegung sein kann. Es ist leider üblich geworden, dieses Phänomen als „Kompilation“ oder als blosse Weitergabe von Traditionen zu verstehen und abzuwerten. Ich denke, dass dies nur ein geringer Teil der Wahrheit ist: Kom34  Vgl. die traditionellen proprietates der Schrift in der altprotestantischen Orthodoxie: auctoritas, certitudo, sufficientia, perfectio, necessitas, perspicuitas (Heinrich Heppe / ​Ernst Bizer, Reformierte Dogmatik, Neuausgabe Neukirchen 1935, 10). 35  Einen guten Überblick gibt Moisés Mayordomo-Marín, Den Anfang hören, FRLANT 180, Göttingen 1998, 27–131. Ich selber fühle mich dem gemässigten Modell einer leserbezogenen Exegese, vertreten etwa durch Umberto Eco, besonders verpflichtet. 36 Körtner, Leser (o. Anm. 29), 62 ff. Vgl. bes. ebd. 86: Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn erinnert daran, dass die biblischen Texte eine poetische Qualität haben. „Sie sind … polyphon wie eine vielstimmige Musik, mehrdeutig, offen für Übertragungen und Assoziationen. Sie bringen ihre Leser und Hörer wie Resonanzböden zum Schwingen und Klingen“.

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III. Studien zur Hermeneutik

mentare, welche verschiedene Auslegungen nebeneinanderstellen, bis hin zu den mittelalterlichen Katenen, verstehen sich als Ausdruck des unendlichen Reichtums der Schrift, der sich in den verschiedensten Auslegungen entfaltet, die alle nebeneinander stehen können. Keine dieser Auslegungen schliesst eine andere aus, keine ist „die“ richtige. Vielmehr sind sie alle mögliche und produktive „Lektüren“. Origenes hat die Beziehung zwischen den verschiedenen Schriftsinnen und verschiedenen Lektüren verschoben, wenn er den auf der Hand liegenden wörtlichen Schriftsinn der σάρξ der Schrift den ἁπλούστεροι, die moralische Deutung der ψυχή der Schrift den ἀναβεβηκότες und das Verständnis des πνευματικὸς νόμος der Schrift den τέλειοι zuweist.37 III. 3  Auslegung der Kirchenväter und wirkungsgeschichtliche Hermeneutik Eine dritte Entsprechung ist die der in der Auslegung der Kirchenväter gesammelten Traditionen zur Rezeptions‑ oder Wirkungsgeschichte. Aus der Sicht der von H-G. Gadamer bestimmten wirkungsgeschichtlich orientierten Exegese gehört zur Bibel „als Element ihrer selbst das vielstimmige kirchliche Echo von Jahrhunderten“, wie Alfred Schindler schön formuliert hat.38 Die Bibel gleicht einem Musikstück, das sich nicht einfach in seiner Partitur erschöpft, sondern das immer und immer wieder neu gespielt werden muss und dessen Fülle höchstens in einer ganzen Sammlung von Schallplatten dokumentiert werden kann. Sie gleicht einer Sammlung von Geschichten und Themen, die immer und immer wieder neu gemalt und dargestellt werden müssen. Sie gleicht einem kräftigen Strom, dessen Wasser immer wieder neue Ufer erreicht.39 So wurden die biblischen Überlieferungen in ihrer Frühzeit immer wieder neu geschrieben, und in der späteren Zeit wurden die biblischen Texte immer wieder neu kommentiert und aktualisiert. Ihre Sinnfülle erschliesst sich im Lauf der Geschichte. Dokumentationen ihrer Sinnfülle sind z. B. ein Katenenkommentar, der die im Lauf von Jahrhunderten entstandenen Deutungen von biblischen Texten sammelt, oder eine Kirche, an deren Wänden oder auf deren Ikonostase die Bilder gewordenen Interpretationen biblischer Szenen und Themen dargestellt sind. Sie bewahren etwas von dem im Lauf der Jahrhunderte entstandenen Sinnreichtum biblischer Texte auf. Für wirkungsgeschichtliche Hermeneutik, welche von Gadamer herkommt, ist nun entscheidend, dass Vergangenheit nicht einfach etwas ist, was unserer eigenen Zeit historisch zuvorliegt, sondern der Horizont unserer eigenen Situation, eine uns geschenkte Vorgabe, die wir empfangen und die uns prägt.40 Sie kann  Origenes, De Princ 4,2,4. Schindler, Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte für das Verständnis der Bibel heute, Reformatio 30 (1981), 265. 39  Vgl. Ulrich Luz, Matthew in History, Minneapolis 1994, 19–21. 40  Gadamer, Wahrheit und Methode (o. Anm. 24), 284–290. 37

38 Alfred

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gerade nicht als Spezialgegenstand der Historie abgedrängt werden.41 Das Bild der bemalten Kirche kann das, was Gadamer meint, besonders schön verdeutlichen: Eine Kirche ist ja nicht einfach ein grossformatiges kunstgeschichtliches Lehrbuch, sondern sie ist ein Raum, in den wir eintreten, der uns empfängt und der uns einstimmt und beheimatet. Ähnlich scheint es mir mit der uns vorgegebenen Auslegungstradition der Kirchenväter, der Reformatoren oder auch unserer unmittelbaren Vorgänger im 19. und 20. Jahrhundert zu sein: Was sie gedacht und gelebt haben, ist nicht einfach Vergangenheit, sondern als unsere Vergangenheit ein Lebensraum, der uns bestimmt und prägt. Sie gehören zu dem, was uns geschenkt ist und wovon wir leben. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik vermag uns neu die Augen zu öffnen für den Raum der Geschichte, dem wir uns verdanken. Sie vermag uns die Augen dafür zu öffnen, dass wir als Bibelausleger nicht einfach autonome Subjekte in einem geschichtslosen Raum sind, sondern uns unserer Geschichte verdanken und durch sie das geworden sind, was wir sind. Dazu gehören die Bibel, unsere Kirche und auch die Kirchenväter in hervorragender Weise. Wirkungsgeschichte kann uns die Augen öffnen für das, wer wir sind, indem sie uns erzählt, wer wir geworden sind. Darum sind in den östlichen Kirchen die Kirchenväter mit Recht so wichtig. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik hat allerdings noch einen anderen Aspekt, der vielleicht für uns westliche Protestanten besonders wichtig sein könnte. Sie öffnet uns nicht nur die Augen für die eigene Geschichte, sondern auch die Augen für die Geschichte anderer. Sie zeigt uns, wer andere durch ihre Geschichte, nicht zuletzt durch die Wirkungen unserer gemeinsamen Bibel in ihrer Geschichte, geworden sind. So öffnet wirkungsgeschichtliche Betrachtungsweise uns Protestanten nicht nur die Augen für das, was wir geworden sind und sind, sondern auch für das, was andere, Katholiken, Orthodoxe, oder z. B. Menschen in der dritten Welt durch die Wirkungen der Bibel geworden sind. Sich öffnen für die Geschichte anderer bedeutet Horizonterweiterung und Gesprächsmöglichkeiten, Chance zur Selbstkorrektur und Neuorientierung. Die Auslegungen der Kirchenväter sind unser aller gemeinsames geschichtliches Erbe. Und trotzdem sind sie für uns Protestanten so fremd geworden, dass wir vielleicht die Augen der Orthodoxen und ihren Blick auf die Wirkungsgeschichte der Bibel in den Vätern brauchen, um sie so für uns – auf neue und gewiss auf andere Weise – wieder neu zu entdecken. So bedeutet wirkungsgeschichtliche Hermeneutik eine Erweiterung des eigenen Horizontes für Fremdes. In diesem Sinn führt sie in den ökumenischen Dialog. Das Ziel ist also nicht, dass wir Protestanten uns die orthodoxe Sichtweise der Kirchenväter zu eigen machen, 41 Der Anspruch, den die Auslegungen der Kirchenväter an uns stellt, wird also verpasst, wenn er lediglich in auslegungsgeschichtlichen Monographien, gleichsam historischen Materialdepots, abgelegt wird. Er wird erst dann zureichend erfasst, wenn sie unsere eigene Auslegung in irgend einer Weise bestimmen.

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sondern dass wir durch ihre Sichtweise zu einer neuen eigenen Sichtweise kommen. III 4. Die Auslegung der Bibel ist ein kommunikativer Prozess in einer Interpretationsgemeinschaft Historisch-kritische Bibelexegese hat uns gelehrt, die Bibel als eine Vielzahl von Einzeldokumenten zu verstehen, die zu verschiedensten Zeiten und in verschiedensten Situationen entstanden sind und jeweils aus ihrer Ursprungssituation heraus zu deuten sind. Sie hat die Zahl der biblischen Dokumente und Autoren über die im Kanon zusammengestellten hinaus noch erhöht, indem sie uns auf unendlich viele Vorstufen des Textes (wie z. B. die Logienquelle), Zusätze, Einschübe, Redaktionen etc. aufmerksam gemacht hat. Durch sie ist die Bibel – positiv gesagt – zu einem vielstimmigen Buch geworden. Negativ gesagt hat die historische Kritik die Bibel atomisiert, indem sie sie in Einzeltexte zerlegte und alle Versuche, die Norm dieser Einzeltexte zu definieren, wie sie z. B. der „Kanon“ als „Massstab“ oder die regula fidei waren, und ebenso alle Versuche, eine „Mitte“ der Bibel zu formulieren, wie z. B. in der Reformation, als nachbiblisch erwies. Zu diesen vielen Einzeltexten haben historisch-kritische Bibelexegese und andere wissenschaftliche Methoden eine Vielzahl von Hypothesen aufgestellt, die nun alle – verwirrend – nebeneinander stehen. Kurz: die Einheit der Bibel scheint zerbrochen, und die Versuche, sie wieder zu finden, erweisen sich historisch als sekundär. In dieser Situation erinnern uns die Auslegungen der Kirchenväter daran, dass hinter der Vielstimmigkeit der Bibel selbst und hinter den vielen Auslegungen der Bibel eine Interpretationsgemeinschaft steht, nämlich die Kirche, und dass auch wir selbst dieser Interpretationsgemeinschaft angehören. Für mich ist das Gewicht, das die Auslegung der Kirchenväter in den Ostkirchen hat, ein hermeneutisch wichtiger Hinweis auf die fundamentale Bedeutung der Interpretationsgemeinschaft Kirche für die Lektüre der Bibel. Ich möchte dies gerade als Protestant betonen: Im Protestantismus ist das Gewicht der Interpretationsgemeinschaft Kirche klein: Viele unserer Pfarrerinnen und Pfarrer neigen dazu, ihr eigenes Gotteswort zu verkünden; viele unserer Theologen möchten gerne ihre eigene Theologie für das Evangelium halten. Viele unserer Exegeten, die glücklich sind, kein kirchliches Magisterium über sich zu haben, genügen sich selbst als Autorität. Dem gegenüber möchte ich betonen, dass Auslegen und Verstehen der Bibel ein gemeinschaftlicher Prozess ist und dass letztlich die Kirche, nicht das Individuum das Subjekt der Auslegung der Bibel ist. Ich möchte dadurch die Auslegung der Bibel weder begrenzen noch normieren. Als Protestant, der sich bis in unser Jahrhundert in den Augen der Mehrzahl der christlichen Kirchen ausserhalb der „wahren“ Kirche befunden hat, möchte ich nicht festlegen, wo die Grenzen dessen sind, was in den Augen Gottes sich als Kirche

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erweist. Ich weiss auch, wie wichtig es ist, dass auch Menschen, die nicht im entferntesten daran denken, zu einer Kirche zu gehören, die Bibel lesen und sie auch als ihr Erbe betrachten. Jeder theologische „Kanon im Kanon“, der engführt und normiert wird und sich nicht mehr vom Reichtum der Bibel hinterfragen lässt, und jedes kirchliche Lehramt, das vorschreibt, was richtige Auslegung der Bibel ist, ohne sich dabei selbst von der Bibel her relativieren und korrigieren zu lassen, ist für mich unevangelisch. Als protestantischer Exeget möchte ich den biblischen Texten die Chance geben, alles zu sagen, was sie zu sagen haben, auch wenn sie es gegen uns selbst und gegen unsere Kirchen sagen. Aber als Protestant weiss ich auch, dass sich ohne eine Interpretationsgemeinschaft, ohne Austausch von Auslegungen und von Erfahrungen mit der Bibel und ohne eine gemeinsame von der Bibel inspirierte Frömmigkeit und Praxis der Reichtum der biblischen Texte nicht entfalten kann. Nicht Einzelne, sondern die ganze universale Kirche ist Trägerin der Auslegung der Bibel. Nur so lässt sich verhindern, dass sich die einzelnen Hypothesen, Exegeten, Theologen und Konfessionskirchen verabsolutieren. Nur dann geschieht das Gespräch über die Bibel in einer κοινωνία, welche nicht wir selbst durch unsere Gespräche erst herstellen, sondern welche uns vorgegeben ist. Zu dieser uns vorgegebenen κοινωνία gehören die Kirchenväter in hervorragendem Masse. Ihre Aufgabe ist es, uns an die Kirche als Trägerin der Auslegung zu erinnern und zu verhindern, dass wir selbst unsere eigenen Väter werden. So sind sie für mich ein Hinweis auf die kommunikative Dimension des Verstehens der Bibel und auf den Interpretationsraum Kirche. Es versteht sich von selbst, dass ich dabei ihr Studium als Bereicherung und nicht als Begrenzung der Lektüre der Bibel verstehe. III. 5  Die christologische Mitte der Hermeneutik der Kirchenväter Johannes Panagopoulos hat in mehreren Veröffentlichungen42 versucht, das Nebeneinander von wörtlichem und geistlichem Schriftsinn bei den griechischen Kirchenvätern christologisch zu interpretieren. Für ihn ist nicht der später entfaltete vierfache Schriftsinn wichtig, auch nicht das dreifache Nebeneinander von sarkischer, psychischer und pneumatischer Sicht der Schrift bei Origenes, sondern das blosse Gegenüber von wörtlicher und geistlicher Schriftauslegung. Es entspricht seiner Meinung nach der Zweinaturenlehre: „Die heilige Schrift entspricht vollkommen der Person und der Geschichte Jesu Christi“;43 sie ist eine Analogie zur Inkarnation. Panagopulos’ Ausgangspunkt ist die Inspirationslehre des Origenes. Origenes fasst diese bekanntlich christologisch: Die biblischen 42  Joannis Panagopoulos, Η Ηρμηνεια της Αγιας Γραφης στην Εκκλησια των Πατερων I, Αθηναι 1991; ders., Christologie und Schriftauslegung bei den griechischen Kirchenvätern, ZThK 89 (1992) 41–58; ders., Sache und Energie. Zur theologischen Grundlegung der biblischen Hermeneutik bei den griechischen Kirchenvätern, in: Hubert Cancik u. a. (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel) III, Tübingen 1996, 567–584. 43  Panagopoulos, ZThK 89 (1992) (o. Anm. 42), 53.

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Texte sind göttlich inspiriert, und diese Inspiration ist von der Inkarnation Jesu her zu verstehen: „Erst als Jesus kam, (konnte) das Göttliche in den prophetischen Worten und das Pneumatische im Gesetz des Mose aufleuchten“ (De Princ 4,1,6). Zwischen Christus und der Bibel besteht eine Analogie: Ähnlich wie Christus ist die Schrift voller Anstösse und Ärgernisse und nicht einfach voller Schönheit und Anmut; die Hülle des Geistlichen ist auch in ihr das Leibliche.44 Noch mehr: Der inkarnierte Jesus schafft durch seine in den Evangelien berichteten körperlichen Taten, z. B. durch seine Austreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel, σύμβολα … τῶν ἰδίων πνευματικῶν πράξεων.45 Verstehen der Schrift bedeutet also letztlich für Origenes nichts anderes als dies, dass der ewige göttliche Logos durch die in der Bibel berichteten irdischen Geschichten in den Verstehenden zum geistlichen Ereignis wird, indem er die Hüllen des Leiblichen benutzt und sie zugleich durchbricht. Das Geschichtliche, das die Bibel berichtet, wird zum Vehikel des Geistlichen, das im Verstehen des Wortes sich ereignet. Die vielen allegorischen Deutungen etwa von Gleichnistexten auf das Wirken Christi46 deuten also direkt an, wie Christus durch das geistliche Verstehen im Gläubigen Wirklichkeit werden will. Ich möchte das an der Auslegung des Origenes zu Mt 26,17–19/Mk 14,12–15 verdeutlichen. Hier geht es Origenes darum, „aus dem Buchstaben des Gesetzes“ hinauszugehen, aber unter seiner geistlichen Kraft zu bleiben. So stellt der Einzug Christi ins Obergemach, in dem er mit seinen Jüngern Abendmahl feiern will, den Einzug des lebendigen Herrn in das Haus unseres eigenen Lebens dar. Der Hausherr ist dann der Verstand, der sich auf den Einzug des Sohnes Gottes vorbereiten kann und den Raum reinigen und schmücken. Das Haus steht „in der Stadt Gottes, d. h. in der Kirche“. Der Wasserträger „ist Mose, der Gesetzgeber, der geistliche Lehre in körperlichen Erzählungen trägt“. Nachdem die Jünger den Hausherrn, d. h. den Verstand, im Glauben unterwiesen haben, wird „die Gottheit des Eingeborenen kommen und zusammen mit seinen Jüngern in dem … Haus speisen“.47 Der von den Jüngern angekündigte und vom Wasserträger vorbereitete Einzug Christi in das Obergemach wird also transparent für den Einzug des göttlichen Logos Christus in das menschliche Herz. Nun macht allerdings diese Auslegung deutlich, dass Origenes alles andere als ein Inkarnationstheologe ist. Die irdische Gestalt Jesu ist nicht so sehr der Ort und die Gestalt von Gottes Wirklichkeit, als die Hülle, die es zu durchbrechen gilt. Konkret: Dass Jesus mit seinen Jüngern nicht einfach das geistliche Abend Vgl. De Princ 4,2,8 f.  In Mt 16,20 = GCS X 545,11 ff. 46  Vgl. etwa die Auslegung des Origenes von Lk 10,30–37 = Hom in Luc 34 = GCS Orig IX 188–195 und ihre Interpretation bei Joseph Pietron, Geistliche Schriftauslegung und biblische Predigt, Düsseldorf 1979, 48–52. 47 ORIGENES, In Mt ser 79 = GCS Orig 189–191; deutsche Übersetzung nach Hermann J. Vogt, Origenes: Der Kommentar zum Evangelium nach Mattäus III, Bibliothek der griechischen Literatur 38, Stuttgart 1993, 244–246. 44 45

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mahl, sondern zunächst als Jude sein letztes Passah feiern will, hat für Origenes keine Bedeutung mehr. Hier, d. h. im Bereich der wörtlichen Auslegung, ist Origenes m. E. korrektur‑ und vertiefungsbedürftig. Die Geschichte, auch die Geschichte Jesu, ist für ihn nur der Acker, in dem der Heilige Geist den Schatz des Gottesreichs verborgen hat.48 Im Bild seiner Auslegung von Mt 17,2 ff.: Die Jünger sollen gerade nicht beim irdischen Jesus stehen bleiben, der nicht Gestalt noch Schönheit hatte, sondern mit Jesus auf den hohen Berg steigen und sich dort durch die verwandelte Herrlichkeitsgestalt Christi ergreifen lassen (C Cels 6,77). Wörtliche und geistliche Auslegung stehen bei Origenes nicht nebeneinander oder gar ineinander, wie bei Thomas von Aquino, sondern die wörtliche Auslegung ist nur die manchmal wichtige Vorstufe der geistlichen. Für Panagopulos sind es Athanasius, die Kappadozier und dann vor allem Cyrill von Alexandrien und Didymos der Blinde,49 welche die origenistische Hermeneutik zu einer vollen, der Paradoxie der Zweinaturenlehre entsprechenden Hermeneutik der Inkarnation entwickelten. Ich beschreibe dies mit seinen Worten: „Die Analogie des göttlichen Logos in seinen zwei Naturen zum zweidimensionalen Schriftwort überträgt das Geheimnis der Person Jesu Christi auf die Heilige Schrift und führt zu einer entsprechenden biblischen Hermeneutik … . Bei der Bibelexegese geht es zugleich um den Skopus der Inkarnation und der unvermischten und untrennbaren Vereinigung der zwei Naturen in der Person Jesu Christi. Wie Jesus Christus ein und derselbe ist, so ist es auch mit dem Schriftwort. Dieses beinhaltet zugleich seine Menschheit: den literarischen und geschichtlichen Sinn, und seine Gottheit: den verborgenen, geistigen Sinn … . Die Heilige Schrift entspricht vollkommen der Person und der Geschichte Jesu Christi“.50 Ich kann mir kein Urteil darüber erlauben, wie weit dies wirklich die Meinung des Cyrill von Alexandrien war, bzw. wie weit dies Konsequenzen sind, welche Panagopulos aus ihm zog. Wichtig scheint mir aber das dahinter stehende Grundprinzip: Der origenistische Inspirationsgedanke drückt aus, dass durch das Verstehen der Schrift in den Vollkommenen der göttliche Logos selbst, Gottes Geist, Ereignis wird. Der Geist bleibt also nicht am Text kleben, wie in einer protestantisch-fundamentalistischen Inspirationstheorie, sondern er geht als göttliche Energie auf die Gläubigen über, in denen Christus im Verstehen Ereignis wird. Christus, der wahre Mensch, d. h. eine Gestalt vergangener Geschichte, ist zugleich Gott, und das heisst auch: göttlicher Geist und gegenwärtige Wirklichkeit. Seine vergangene Geschichte kann nur verstanden werden, wenn sie als Ereignis Gottes heute geistliche Wirklichkeit wird. In dieser Einheit  De Princ 4,3,11 zu Mt 13,44. dazu den Aufsatz von Vasile Mihoc, The Actuality of the Church Fathers’ Biblical Exegesis, in: The Orthodox Church and Contemporary Biblical Research, in: Dunn (Hg.), Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive (o. Anm. 13) bes. S. 16 ff. 50  Panagopoulos, ZThK 89 (1992) (o. Anm. 42), 53. 48

49 Vgl.

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III. Studien zur Hermeneutik

von vergangener Geschichte und gegenwärtiger Offenbarung, die durch das Ineinander von wörtlicher und geistlicher Schriftauslegung entsteht und die der menschlichen und göttlichen Natur Christi entspricht, hat eine christologische Hermeneutik ihr Zentrum. Die Folgen eines solchen Ansatzes könnten in doppelter Richtung wirksam werden: 1. Ist Christus in dieser Weise wirksame Mitte der Schrift und wird die Schrift in dieser Weise zum Gefäss des lebendigen Logos, so braucht sie auch für unser heutiges Verstehen nicht in eine Vielzahl von Einzeltexten und Einzelhypothesen auseinanderzubrechen, sondern hat ihre sie einende Mitte und Energie: den lebendigen Christus, den Geist. Sie hat sie allerdings nicht auf der Ebene historischer Erklärungen, der irdenen Gefässe des Logos, sondern auf der Ebene heutigen Verstehens der Glaubenden. 2. Ist Christus in dieser Weise Mitte und Energie der Schrift, so können Erklärung des Vergangenen und Verstehen des Gegenwärtigen nicht auseinanderbrechen, sondern bleiben aufeinander bezogen wie im Verständnis der Kirchenväter die beiden Naturen Christi. So wird im Verstehen der Bibel der Vergangene – Jesus – in der Gegenwart – als auferstandener Herr – lebendig. Ich habe wie Panagopulos von der Zweinaturenlehre als einem hermeneutischen Schlüssel für eine christologische Hermeneutik der Kirchenväter gesprochen. Für mich ist aber keine menschliche Sprache in einem direkten Sinn Abbild der Wirklichkeit, schon gar nicht dann, wenn es nicht um menschliche, sondern um göttliche Wirklichkeit geht. Für mich ist also auch die Zweinaturenlehre ein menschlich-sprachliches Konstrukt, nicht eine direkte Abbildung der Wirklichkeit Gottes oder Christi. Ich denke aber, dass sie und eine sich an ihr orientierende christologische Hermeneutik ein theologisches Konstrukt von ganz grosser heuristischer Kraft ist. Ich werfe darum einen Blick hinüber auf die Hermeneutik der Reformation: Ich sehe eine tiefe Konvergenz zwischen dem christologischen Verstehensansatz der Alten Kirche und demjenigen Luthers. Zwischen der christologischen Hermeneutik der von Origenes geprägten Väter und Luthers Grundprinzip des materialen Kanons „was Christum treibet“51 gibt es eine Affinität. Auch die Hermeneutik Luthers ist eine christologische, präziser: eine inkamatorische Hermeneutik. Gerhard Ebeling bündelt seine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik mit dem Satz: „Die Logik der Hermeneutik ist keine andere als

51  Martin Luther, Vorrede zum Jakobusbrief, Münchener Ausgabe VI, 1958, 110: „Auch ist das der rechte Prüfestein, alle Bücher zu tadeln, wenn man siehet, ob sie Christum treiben oder nicht … . Was Christum nicht lehret, das ist nicht apostolisch, wenns gleich Petrus oder Paulus lehret; wiederum, was Christum predigt, das ist apostolisch, wenns gleich Judas, Hannas, Pilatus und Herodes tät“.

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die Logik der Christologie“.52 Dabei hat der existenzielle Bezug der Geschichte Jesu „als sacramentum für den Einzelnen“53 die im Zeitalter des Humanismus nicht mehr zeitgemässe allegorische Auslegung abgelöst. Die Bedeutung der biblischen Geschichte konzentriert sich auf die Bedeutung der Geschichte des inkarnierten und gekreuzigten Herrn Jesus „für uns“. Eine Ablösung der damaligen Geschichte Jesu von ihrer Bedeutung für uns ist für Luther wie für die anderen Reformatoren unmöglich: dann würde sie zur toten Vergangenheit.54 Auch Luther geht also christologisch von der Untrennbarkeit und Einheit der beiden Naturen Christi aus und zieht daraus seine hermeneutischen Konsequenzen: Ebenso wie der göttliche Christus unüberholbar der inkarnierte und der gekreuzigte ist, ebenso ist der wörtliche Schriftsinn für ihn bleibend das Gefäss des geistlichen. Die Situation heutiger protestantischer Bibelauslegung lässt sich im Gegenüber zu Luther und der Alten Kirche so beschreiben: Die Menschheit Christi hat sich gegenüber seiner Gottheit ebenso verselbständigt wie die wörtliche, d. h. historisch-kritische Bibelauslegung gegenüber der geistlichen. Dadurch ist der historische Textsinn der Bibeltexte und ihre Bedeutung für uns auseinandergetreten: Der historische Sinn droht bedeutungslos werden, d. h. nicht mehr „für uns“ zu sprechen, und die Gegenwartsbedeutung der Texte droht geschichtslos zu werden. Von der christologischen Hermeneutik der Kirchenväter her lässt sich die Aufgabe, beides zusammenzubinden, und die Richtung formulieren, in die unsere neutestamentliche Hermeneutik heute zu gehen hat. Es ist dabei denkbar, dass theologiegeschichtlich die reformatorische Konzentration auf die Menschheit Christi und auf den wörtlichen Sinn der Texte zur Verselbständigung des Historischen und zur Ablösung des historischen Sinns von der geistlichen Bedeutung mit beigetragen hat, unter der wir heute leiden. Ich wage hier keine These, möchte aber daran erinnern, dass sich im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur die Konservativen, sondern auch die Aufklärer und Liberalen auf die Reformatoren berufen haben. Umgekehrt wäre darüber nachzudenken, inwieweit die Schwierigkeiten vieler heutiger Orthodoxer, die historisch-kritische Methode zu integrieren und als Grundlage für eine heutige geistliche Auslegung fruchtbar zu machen, mit ihrer origenistischen Tradition zusammenhängen könnte: Die wörtliche Deutung war hier ja das Unwichtigere, 52  Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, Nachdruck Darmstadt 1962, 452. 53  Ebd. 424. 54  Ebeling ebd. 422 belegt das mit eindrucksvollen Zitaten, die bereits den „Tod“ der lebendigen Geschichte ahnen lassen, der später durch ihre wissenschaftliche Erklärung zu geschehen drohte (vgl. o. Anm. 23!): Ein Beispiel zur Auferstehung Jesu: „ … maior pars audit resurrectionem Christi ut aliam historiam de Turca et sinunt eam esse ut pictam historiam in pariete. Es mus etwas bessers sein, ut canimus in cantico ,Des soln‘, ut inspiciatur, quod nostra sit, das sie mich an ghe et te, ut non solum videamus, quomodo resurrectio, sed ut agnoscas tibi fieri“ (Predigt über Joh 20,1–15 von 1529, WA 29, 262,1–5).

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III. Studien zur Hermeneutik

nicht die Basis der geistlichen Deutung, sondern eher der Ausgangspunkt für einen Aufstieg, für eine Verwandlung und eine geistliche Schau, die über sie hinausführt. Nicht auf die Menschwerdung, sondern auf die Verwandlung und die Vergottung kam es oft an. Viele Fragen bleiben offen. Es wäre etwa zu fragen, wie sich sich die antiochenische Hermeneutik, in deren Theorie eher die geschichtsbezogene Typologie als die Allegorie im Zentrum steht, zu diesem Denkmodell verhält. Und es wäre auch zu fragen, wie sich die verschiedenen Gestalten katholischer Hermeneutik zu ihm verhalten.

IV. Zum Schluss: Drei protestantische Vorbehalte Ich denke also, die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel heute sei gross und sie seien in unserer modernen westlich-protestantischen Auslegung zu Unrecht vernachlässigt worden. Dabei sind mir die hermeneutischen Impulse, die sie uns geben können, viel wichtiger als die exegetischen, so wichtig auch diese sein mögen. Um aber nicht einfach ein vorschnelles Einverständnis zu suggerieren, möchte ich zum Schluss betonen, dass ich das alles als Protestant formuliere. Die Beschäftigung mit den Kirchenvätern und ihrer Hermeneutik bedeutet für mich eine Erweiterung meiner eigenen Optik, die bleibend protestantisch ist, und wahrscheinlich ihre Befreiung aus spezifisch protestantischen Engführungen. Zu meiner grundlegenden protestantischen Optik gehört die Überzeugung, dass die Bibel einen Vorrang gegenüber allen ihren Auslegungen und allen sie auslegenden Kirchen besitzt. Um der Auslegung der Bibel willen sind mir die Kirchenväter wichtig geworden. Sie sind mir wichtig geworden, weil sie mir helfen, die Gegenwartsbedeutung (Abschnitt III. 1), den Reichtum (Abschnitt III. 2), die ökumenische Weite (Abschnitt III. 3), den in ihr sprechenden lebendigen Christus (Abschnitt III. 5)55 und die Kirche als die von Erfahrungen mit ihm bestimmte Interpretationsgemeinschaft (Abschnitt III. 4) neu zu entdecken. Es ging mir darum, die Bibel als vom lebendigen Christus durchwirktes Buch des Lebens neu zu entdecken, und sie nicht etwa z. B. als individuelles Erbauungsbuch, als historische und religionsgeschichtliche Quelle oder als Grundbuch christlicher Lehren zu missverstehen. Es ging mir darum, mithilfe der Kirchenväter die Bibel besser und sachgemässer zu verstehen, aber nicht darum, das Zeugnis der Bibel mit demjenigen der Kirchenväter zu verschmelzen oder gar, es von ihnen her normiert sein zu lassen. Ich habe also die Kirchenväter als Protestant neu entdeckt. Um dies deutlich zu machen, möchte ich am Schluss 55

 Was nicht dasselbe ist wie ein ihre Auslegung normierendes christologisches Dogma!

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noch drei spezifisch protestantische Vorbehalte formulieren, die mir wichtig sind: 1. „Kirchenväter“ möchte ich so weit wie möglich fassen, und darin nicht nur die griechischen und lateinischen Väter und natürlich auch die Reformatoren, sondern auch diejenigen einschliessen, die irgendwann von einer Kirche unter die Ketzer und nicht unter die Väter eingereiht worden sind. Wir Protestanten sind zu oft selbst als Ketzer behandelt worden, als dass wir nicht sensibel wären für Wahrheiten und wichtige Anliegen, die uns vielleicht gerade die Ketzer unter unseren Vätern aufbewahrt haben könnten. Auch in diesem Sinn habe ich in meinem Referat ganz bewusst so oft von Origenes gesprochen. 2. Damit hängt zusammen, dass ich die Auslegung der Kirchenväter in gar keiner Weise als inhaltlichen Kanon für das, was „richtige“ Auslegung der Bibel sein könnte, verstanden wissen möchte. Dafür eignen sich die Väter mit der ganzen Fülle ihres gedanklichen Reichtums ohnehin nicht.56 Wenn schon so etwas wie ein Kanon für die richtige Auslegung der Bibel nötig sein sollte, dann wäre die von Tertullian zu diesem Zwecke empfohlene regula fidei viel praktikabler. Aber gerade einen solchen Kanon brauche ich nicht, denn „die Eindeutigkeit der Schrift ist … nicht die Eindeutigkeit von Sätzen, sondern des lebendigen, sich selbst bezeugenden Herrn in seiner Kirche“.57 3. Auch die Hermeneutik der Kirchenväter, welche mir so wichtig ist, ist für mich keine normative Hermeneutik, sondern ein Versuch, damaliges zeitgenössisches Denken, wozu die damalige allegorische Auslegungsmethode und die damaligen platonischen und aristotelischen Sprachtheorien gehören, mit der damaligen Christologie zu verbinden. So lehrte sie damals zu verstehen, wie der lebendige Logos Christus durch die biblischen Texte spricht. Wir können nicht repetieren, was sie taten, wohl aber können wir versuchen, unsere heutigen Auslegungsmethoden und unsere heutigen Sprachtheorien mit einer heutigen Christologie zu verbinden und so von den Kirchenvätern zu lernen, dass wir etwas Analoges zu tun versuchen, wie sie.

56 So auch Joannis Karavidopoulos, Offenbarung und Inspiration der Schrift ‑Interpretation des Neuen Testaments in der Orthodoxen Kirche, in: Dunn u. a. (Hg.), Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive (o. Anm. 13), 158 f. 57  Schindler, Vom Nutzen und Nachteil (o. Anm. 39), 264.

19. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift I. Hermeneutische Hinführung Meine Versuche einer wirkungsgeschichtlich orientierten Textauslegung sind im Rahmen des Evangelisch-Katholischen Kommentars entstanden. Ich bündle deshalb zunächst die beiden hauptsächlichen hermeneutischen Stossrichtungen im Rahmen meiner Kommentararbeit. Sie zeigen beide einen – je verschiedenen – Bezug zur Kirche: 1. „Die Auslegungs‑ und Wirkungsgeschichte zeigt, was wir von den Texten her geworden sind“.1 Die biblischen Texte haben uns, ihre christlichen Auslegerinnenen und Ausleger, in einem wesentlichen Umfang geprägt und unsere persönliche, theologische, kirchliche und kulturelle Identität mitbestimmt. Bewusstmachen der Wirkungsgeschichte biblischer Texte bedeutet die Entdeckung der eigenen Verflechtung in den Wirkungszusammenhang der biblischen Texte und damit Erhellung der eigenen hermeneutischen Situation gegenüber den Texten. Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte biblischer Texte bedeutet, zu entdecken, was wir ihnen verdanken. Sie bedeutet, Vergangenheit zu entdecken, aber nicht als fremde, sondern als eigene Vergangenheit, die unser Denken, unser Fragen, unsere Kategorien und unsere Werturteile bestimmt. Im Arbeitskreis des Evangelisch-Katholischen Kommentars wurde die Arbeit an der Wirkungsgeschichte als Dimension des Verstehens begriffen, welche verhinderte, dass die Beschäftigung mit den biblischen Texten zu einer Beschäftigung mit bloßen Forschungsgegenständen wurde. Vielmehr half sie erschließen, dass es bei ihrer Interpretation auch um das geht, was wir selbst sind. Es ist klar, dass in dieser hermeneutischen Stossrichtung „Kirche“ von vornherein in eminentem Masse präsent ist. Sie ist präsent als Gemeinschaft, welche die biblischen Texte prägte und gestaltete und die Bibel zu ihrem Buch par excellence machte, indem sie den Kanon schuf und übermittelte. Sie ist präsent als Heimat, welche unseren Vorfahren ihre Auslegungen, Aktualisierungen, Neugestaltungen, Nach-Erfahrungen biblischer Texte ermöglichte und sie leitete. Sie ist präsent als Bereich der Gesellschaft, welcher durch die biblischen Texte als 1  Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I / 1​ ; Neukirchen / ​Düsseldorf 52002, 110.

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III. Studien zur Hermeneutik

Ort ihrer Wirksamkeit gestaltet wurde. Sie ist bei der Bibellektüre dabei als zur Vergangenheit offenen Raum, als Ort, in dem die vergangenen biblischen Texte verkündet, gelesen, ausgelegt oder gefeiert werden, als „Mutter“ der Lektüre, welche sie leitet oder von welcher man sich vielleicht im Protest ablöst, als „Hebamme“ zum Verstehen oder schlicht als Bezugspunkt, ohne den die biblischen Texte gar nicht in den Blick kommen können. Etwas vom Dank für das, was wir durch biblische Texte geworden sind, oder vielleicht auch etwas vom Protest gegen das, was wir durch biblische Texte geworden sind, wird also auch auf die Kirche übergehen. 2. Die zweite hermeneutische Stossrichtung basiert auf der Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte biblischer Texte in anderen Kirchen und Kulturen als der eigenen. Ihr geht es darum, zu zeigen, was andere durch die biblischen Texte geworden sind. Sie zeigt uns, was Katholiken oder Orthodoxe, was Pfingstlerinnen oder säkulare Menschen, was Afrikanerinnen, Mönche oder täuferische Bauern den biblischen Texten verdanken und wie sie ebenfalls durch sie zu dem geworden sind, was sie sind. Hier geht es also nicht um Erschließung des eigenen Horizontes, sondern um Horizonterweiterung durch Erschließung der Horizonte anderer. Wirkungsgeschichte erschließt so auch die Fremdheit von Sinnpotentialen neutestamentlicher Texte. Hier geht es nicht primär um SichSelbst-Verstehen, sondern um das Verstehen anderer im Spektrum der biblischen Texte, welche nicht nur unsere, sondern auch ihre Texte sind. Nur indirekt geht es auch um ein Sich-Selbst-Verstehen, nämlich um ein Verstehen dessen, was wir selbst nicht sind, aber vielleicht werden könnten. „Die Auslegungs‑ und Wirkungsgeschichte“ der biblischen Texte“ liefert also Korrektive. Sie „zeigt exemplarisch, was wir durch die Texte werden könnten“,2 indem sie zeigt, was andere durch die biblischen Texte geworden sind.3 Auch bei dieser hermeneutischen Stossrichtung ist „Kirche“ in eminentem Masse präsent, allerdings nicht als „Mutter“ oder „Hebamme“ oder als das eigene Leben ermöglichender zur Vergangenheit offener Raum. Sie ist vielmehr als geschichtlich und kulturell gewachsene Vielfalt präsent, als Kirche der anderen, als Dialoggemeinschaft oder vielleicht als Streitgemeinschaft. Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte biblischer Texte eröffnet einen ökumenischen Dialog, in dem nicht nur Lebende, sondern auch längst Verstorbene erzählen, wie durch die biblischen Texte ihre Identität geprägt wurde. Der Arbeitskreis des Evangelisch-Katholischen Kommentars hat sich immer in diesem Sinn als kirchliche Dialoggemeinschaft verstanden. In all dem ist klar, dass wir „Wirkungsgeschichte“ nicht einfach nur Sinne Gadamers als Grundlage eines „wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins“ ver2 Luz,

Mt 1–7 (o. Anm. 1), 111.  Sie erweitert also den eigenen Horizont durch Erschließung der Horizonte anderer. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 286. 3

19. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift

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stehen, welches im Interpretierenden sein „Lebensverhältnis zur Überlieferung“ bewusst werden lässt. Es geht uns auch um die „Erforschung der Wirkungsgeschichte, die ein Werk hat“,4 denn wir sind ja Exegeten und unsere exegetische Arbeit steht im Dienste ganz bestimmter Texte, nämlich der Bibel. Es geht in wirkungsgeschichtlicher Hermeneutik um Nähe und Distanz zu den Texten, um Horizontverschmelzung und um Horizonterweiterung. Gadamers Abneigung gegenüber einer als „selbständige Hilfsdisziplin der Geisteswissenschaften“5 verstandenen Wirkungsgeschichte darf im Fall des EKK nicht aufkommen, und dies nicht nur, weil es bei der Wirkungsgeschichte der Bibel um eine wirkungsmächtige Spur eines ganz besonderen Werkes geht, sondern vor allem auch darum, weil in unserer geschichtsvergessenen Zeit eine solche Hilfsdisziplin vielleicht das beste Mittel ist, um auf die wirkungsgeschichtliche Verflechtung des historischen Bewusstseins und auf die geschichtlich längst vorgegebene Beziehung zwischen den biblischen Texten und ihren Interpretinnen hinzuweisen. Ich verstehe „Wirkungsgeschichte“ der biblischen Texte als Synonym von „Rezeptionsgeschichte“. „Rezeptionsgeschichte“ verstehe ich in dem weiten Sinn, den mein Lehrer Gerhard Ebeling dem Wort „Auslegungsgeschichte“ gegeben hat, wenn er „Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“ verstanden hat und zur „Auslegung“ ausdrücklich „Handeln und Leiden …, Kultus und Gebet, theologische Arbeit und persönliche Entscheidung …, Kriege im Namen Gottes und Werke barmherziger Liebe“ und vieles andere hinzurechnete.6 Statt von „Rezeptionsgeschichte“ spreche ich aber lieber von „Wirkungsgeschichte“ der Bibel, und zwar einerseits weil diese Bezeichnung von den biblischen Texten her und nicht von ihrer Rezeption durch Menschen her formuliert ist und an ihre Wirkmächtigkeit erinnert,7 und andererseits, weil mir dadurch die Anknüpfung an Gadamer möglich ist. Gegenüber Gadamer verschiebe ich aber den Blickpunkt, weil es ihm um den Ort des interpretierenden Subjekts in der es prägenden Geschichte und mir primär um die prägende Kraft bestimmter Texte, nämlich der biblischen, geht. Den Begriff „Auslegungsgeschichte“ möchte ich auf diejenigen Bereiche der Wirkungsgeschichte beschränken, in denen die Rezeption der Texte im Medium der 4 Gadamer,

ebd. 343.324.  Gadamer, ebd. 285. 6  Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in: ders., Gottes Wort und Tradition, Göttingen 1964, 9–27, dort bes. 22.24. 7  Im Sinne der Übersetzungsvokabel, welche der englische Übersetzer von Gadamers Wahrheit und Methode gewählt hat: „Effective history“. Dahinter steht für mich nicht nur das „theologische Axiom einer dem biblischen Text innewohnenden ,Kraftʻ“ (Moisés MayordomoMarin, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1–2, FRLANT 180, Göttingen 1998, 350), sondern auch das literaturwissenschaftliche Axiom, dass Texte einen festen Sinnkern haben, welcher durch Lektüren nicht beliebig verändert oder dekonstruiert wird. 5

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III. Studien zur Hermeneutik

Sprache erfolgt und die Gestalt einer direkten Interpretation hat. „Auslegungsgeschichte“ ist also für mich gegenüber „Wirkungsgeschichte“ der engere Bereich,8 beide verhalten sich zueinander wie zwei konzentrische Kreise.9 Ich möchte nun in drei Gedankengängen den Beziehungen zwischen wirkungsgeschichtlicher Hermeneutik und kirchlicher Exegese nachdenken, nämlich in Bezug auf die protestantischen Kirchen (II), in Bezug auf die katholische Kirche (III) und in Bezug auf die orthodoxen Kirchen (IV). Dabei möchte ich von vornherein klarstellen, dass nicht nur jede Textauslegung, sondern auch jede Hermeneutik kontextuell ist, also auch meine. Ich formuliere also im Folgenden nicht „objektiv“, sondern als Protestant in Bezug auf die protestantischen Kirchen, die „meine“ Kirchen sind und zu denen ich zugleich ein liebevoll engagiertes und selbstkritisches Verhältnis habe. Ich formuliere als Protestant auch in Bezug auf die katholische Kirche und die orthodoxen Kirchen, welche nicht „meine“ Kirchen sind und zu denen ich ebenfalls ein zugleich liebevolles und kritisches Verhältnis habe – aber in ganz anderer Weise. Ich formuliere also bewusst von meinem eigenen Standort aus. Meine Grundthese wird sein, dass wirkungsgeschichtlich orientierte Hermeneutik gegenüber tradionsgegebenen hermeneutischen Axiomen aller Konfessionskirchen ein „subversives“ und zugleich ökumenisches Potential hat.

II. Wirkungsgeschichte und protestantische kirchliche Auslegung Für protestantische Theologie ist die Bibel das grundlegende Gegenüber der Kirche. Sie ist der Kirche vorgeordnet. Für die Theologie ist sie die grundlegende Bezugs‑ und Legitimationsinstanz, sodass nach Calvin „die Kirche keine neue Lehre“ (erzeugt), sondern die kirchliche Lehre nur „gleichsam die Grammatik zum göttlichen Wort“ ist.10 Das reformatorische Prinzip „sola Scriptura“ hatte seine Spitze gegenüber der kirchlichen Tradition, vor allem des Mittelalters, die als Abfall von der ursprünglichen Wahrheit verstanden wurde. Wirkungs 8  Ich verstehe also „Wirkungsgeschichte der Bibel“ in einem doppelten Sinne: Einerseits umfasst sie das Ganze der Rezeptionsgeschichte, also alle Wirkungen von biblischen Texten, andererseits aber in einem engeren Sinn den über die „Auslegungsgeschichte“ hinausgehenden Bereich ihrer Wirkungen.  9  Heikki Räisänen, The ,Effective Historyʻ of the Bible, in: ders., Challenges to Biblical Interpretation, Biblical Interpretation Series 59, Leiden 2001, 270 f möchte zwischen „Wirkungen“ der biblischen Texte und ihrem bloßen „Gebrauch“, bzw. eher Missbrauch unterscheiden. Da diese Unterscheidung aber im Einzelfall immer strittig ist, möchte ich sie nicht zur Basis von Begriffsbildungen machen. 10  Jean Calvin, Enarr. Symb. Nic. 25/IV bei Emanuel Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Berlin 31958, 104. Von manchen Aussagen des 2. Vaticanums ist das nicht weit entfernt. Vgl. z. B. Dei Verbum VI,21 (= LThK2 XIII, 572): „Omnis ergo praedicatio ecclesiastica sicut ipsa religio Christiana Sacra Scriptura nutriatur et regatur oportet“. Ebd. VI,24 (= ebd. 578): „Sacrae Paginae studium sit veluti anima Sacrae Theologiae“.

19. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift

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geschichtlich hat auch die neuzeitliche protestantische Exegese manches mit diesem reformatorischen Prinzip zu tun: Dass sie so intensiv nach dem Ursprungssinn der biblischen Texte fragte und darum so entschieden historischkritisch wurde (im Unterschied beispielsweise zur stärker katholisch geprägten französischen Exegese) und dass die liberale protestantische historisch-kritische Exegese sogar innerhalb des Neuen Testaments den ursprünglichsten Sinn gegenüber allen späteren Traditionen und Auslegungen tendenziell privilegierte, z. B. Jesus gegenüber den nachösterlichen Christologien oder Paulus gegenüber seiner sog. „frühkatholischen“ Rezeption etwa in den Pastoralbriefen, alles das ist nicht nur ein Erbe des historischen Denkens der Aufklärung, sondern m. E. auch eine Weiterführung eines urprotestantischen Denkansatzes. Es gibt eine tiefsitzende protestantische Neigung, in späteren Neuinterpretationen der Bibel und des Glaubens stets einen Abfall zu wittern und in dem zwischen der Bibel und der Gegenwart liegenden zeitlichen Abstand so etwas wie einen das Verstehen behindernden Graben zu sehen, der übersprungen werden muss. Historisch-kritische Exegese der Bibel ist m. E. eine vorläufige Schlussetappe einer langen und spezifisch westlichen Wirkungsgeschichte der Bibel, die durch den Protestantismus wesentlich mitbestimmt wurde.11 Die Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte der Bibel führt zu selbstkritischen Fragen an den im Vorangehenden sehr abgekürzt angedeuteten protestantischen Weg des Verstehens. Ich nenne vier: 1. Die Neuentdeckung der Tradition. Die Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte führte dazu, dass sich der historische Abstand, der garstige breite Graben zwischen Damals und Heute, in eine reich gegliederte Landschaft mit Höhen und Tiefen, überraschenden Ausblicken und einer Fülle von wundervollen und manchmal auch eigenartigen Blumen verwandelte. Der heutige Ausleger befindet sich in dieser Landschaft an einem ganz spezifischen Ort, z. B. in einem Tal, das er durchwandert. Ich möchte in diesem Bild den Ausgangspunkt der Wanderung, auf den der Wanderer immer wieder zurückblickt, mit einem Gebirge vergleichen: Sein Standort im Tal erlaubt dem Wanderer Ausblicke auf dieses Gebirge in einer ganz bestimmten Perspektive, andere verwehrt es ihm; von manchen Orten aus kommt das Gebirge fast gar nicht mehr in den Blick. Ein direktes Gegenüber zum Ausgangspunkt ohne die durchwanderte Landschaft und die durch die Wanderung gegebenen spezifischen Standorte und Blickmöglichkeiten gibt es nicht. Dieses Gebirge am Ausgangspunkt ist die in der Bibel bezeugte Geschichte Jesu Christi. Es gibt nur die durch den eigenen geschichtlichen Standort und durch die bis zu ihm durchwanderte Landschaft der Geschichte bestimmten Blickweisen auf die Bibel. Das ist aber nicht als 11 Für orthodoxe Theologen, die sich fragen, ob sie sich überhaupt auf die historisch-kritische Exegese als für die Theologie grundlegende wissenschaftliche Methode einlassen sollten, ist es nicht unwichtig, zu bedenken, dass jede wissenschaftliche Methode ihre besondere, wirkungsgeschichtlich bestimmte Kontextualität hat, die nicht notwendigerweise die eigene ist.

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III. Studien zur Hermeneutik

Begrenzung zu verstehen, als ob das Gebirge durch die vor ihm liegende Landschaft bloß verdeckt würde! Vielmehr ermöglicht die durchwanderte Landschaft gerade ein Bild des Gebirges, das nicht isoliert ist, sondern eben in einer bestimmten Landschaft steht. Mit anderen Worten: Die Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte führt protestantische kirchliche Exegese zu einer neuen Einsicht in das, was die katholische Kirche seit jeher mit „Tradition“ bezeichnete. Sie führt sie damit auch zu einer neuen Wertschätzung der eigenen Tradition. Dazu gehören natürlich die Bekenntnisschriften, die in manchen Gestalten des Protestantismus als eine Art „regula fidei“ verstanden wurden.12 Dazu gehören aber auch die Aufklärung und die „neuprotestantischen“ Wege des 19. Jahrhunderts. Unabhängig davon, was von den einzelnen Etappen des zurückgelegten Weges zu lernen ist oder was sich als Abweg oder Irrweg erwiesen hat, gilt, dass diese Wege nicht rückgängig zu machen sind, sondern den Blick auf das Gebirge bestimmen. Dazu gehört für mich gerade auch das Mittelalter. Darum dürfen wir die Tradition nicht wegdenken oder vergessen, sondern die zurückgelegten Wege dankbar wahrnehmen und aus ihnen lernen. Eine direkte, unmittelbare Bibeltreue oder Gleichzeitigkeit mit den Texten gibt es nicht, sondern nur traditionsgeleitete Applikationen und Neuinterpretationen. 2. Die Öffnung für nicht-sprachliche Interpretationen. Ein Blick auf die Wirkungsgeschichte – und diesmal denke ich vor allem an jene Bereiche, welche die Auslegungsgeschichte im engeren Sinn überschreiten – öffnet uns Exegeten auf heilsame Weise die Augen dafür, dass wir nicht die einzigen sind, welche die Bibel interpretieren. Frömmigkeitsgeschichtlich bedeutete die Reformation eine radikale Konzentration und zugleich Reduktion der Frömmigkeit auf das Hören des Wortes. Sie brachte eine Unterordnung vieler Bereiche menschlicher Rezeption der Bibel unter das Hören, das Lesen, das Lernen – oder ihre Unterdrückung. Sie bedeutete von da her auch eine ungeheure Aufwertung der Theologie. Das berühmte Kreuzigungsbild von Lucas Cranach in der Stadtkirche in Wittenberg mag als Beispiel dafür dienen, wie die Reformatoren das Bild dem Wort zuordneten – bis hin zur weitgehenden Verdrängung von Bildern.13 Ähnliches geschah mit Spielen, mit Begehungen, Riten und Gesten und anderen Frömmigkeitsformen, welche Bibeltexte interpretierten, darstellten oder erinnerten, teil12  Walter v. Loewenich, Luther und der Neuprotestantismus, Witten 1963, 321.429 hat das abschätzig als „kleinkatholisch“ bezeichnet. Das verstellt m. E. die Sicht auf die Dinge: Auch für Luther galt nicht einfach ein formales „Sola Scriptura“. Vielmehr war dieses immer verbunden mit einem inhaltlichen Zentrum bzw. einer Leitlinie der Interpretation, Christus, welches er der Schrift sogar überordnen konnte, vgl. die Thesen de fide von 1539, bes. Nr. 40 f.49–53 = WA 39/1 47 f. Dass die Bekenntnisschriften in der altprotestantischen Orthodoxie von einer Leitlinie zu einer traditionellen Norm wurden, entspricht der Entwicklung, die wir in der Alten Kirche bei Irenäus und Tertullian beobachten können. 13  Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990) 510–523; Bildkopie: 521.

19. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift

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weise sogar mit der Musik. Beschäftigung mit der Wirkungsgeschichte der Bibel bringt uns alles das zurück. Sie macht protestantische kirchliche Exegeten darauf aufmerksam, dass Worte nicht das einzige Medium der Interpretation biblischer Texte sind. Bilder, Spiele, Tänze, Prozessionen, Oratorien etc, welche auf biblische Texte antworteten, sie interpretierten und verwandelten, haben die Reformation meist überlebt. Das Unterdrückte und Verdrängte wurde teilweise säkularisiert,14 teilweise wurde es in protestantischen Gebieten Bestandteil von religiösen Subkulturen, teilweise kehrte es – früher15 oder später – in den Protestantismus in alten und neuen Formen zurück. Wirkungsgeschichte stellt die Exegeten und Theologen in die Gemeinschaft der Dichter, Malerinnen, Tänzer, Musikerinnen. Sie macht sie darauf aufmerksam, dass es Bereiche nonverbaler Textinterpretation gibt, welche wesentlich zur Ganzheit des Menschen gehören und sich durch verbale Interpretationen nicht oder nur bis zu einem gewissen Grade lenken lassen. Sie hilft, die Bibelinterpretation der Ganzheit der menschlichen Frömmigkeit zurückzugeben, die in fast allen christlichen Konfessionen ernster genommen wird als bei uns. 3. Die Komplexität der Wahrheitsfrage. Luther hat bekanntlich in „De servo arbitrio“ von der inneren und der äußeren Klarheit der Schrift gesprochen und die innere dem Zeugnis des Geistes in den menschlichen Herzen, die äußere aber dem „verbi ministerium“ zugeordnet, dessen Aufgabe es ist, alles scheinbar Dunkle und Zweideutige zu erhellen, so dass die ganze Schrift klar und deutlich verkündet werden kann.16 Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik lässt die Frage nach der Wahrheit einer Interpretation zur komplexen Frage werden. Sie macht auf die Kontextualität jeder Interpretation der Bibel aufmerksam. Jedes Verstehen eines Textes muss nach Gadamer „anders“ sein, weil jedes Verstehen ein produktiver Akt ist, ein neuer Akt der Horizontverschmelzung.17 Wie ist dieses „Andere“ in seiner Wahrheit zu beurteilen? Will man die externe Klarheit der Schrift heute auf die Klarheit ihres historischen Ursprungssinns beziehen, der sich nur bis zu einem gewissen Grad erhellen lässt, so wird rasch klar, dass dadurch eine Klarheit heutiger Verkündigung nicht gesichert werden kann. Die Wirkungsgeschichte lässt darüber hinaus die Wahrheitsfrage dadurch zusätzlich komplex werden, dass sie Interpretationen in nicht-sprachlichen Medien 14 Durch den Einzug von Bildern, insbesondere Andachtsbildem, in die Bürgerhäuser in der Renaissance, durch die zunehmend „weltliche“ Darstellung religiöser Themen und vor allem durch die Entdeckung „weltlicher“ Themen entstand seit dem 16. Jh. das, was wir heute als „Kunst“ bezeichnen. Die Entwicklung von der religiösen Ikonographie zur Kunst als eigenständigem, säkularem Bereich wurde durch die Reformation sehr befördert. 15  Bei der Passionsmusik geschah das nach anfänglicher Zurückhaltung der Reformatoren sehr rasch, vgl. Kurt v. Fischer, Die Passion. Musik zwischen Kunst und Kirche, Kassel 1997, 56 f. 16 Luther, De servo arbitrio, WA 18 (1908), 609. 17  Gadamer, Wahrheit (o. Anm. 3), 280. Dies ist allerdings gerade nicht im Sinne einer radikalen Beliebigkeit zu verstehen.

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III. Studien zur Hermeneutik

mit einbezieht. Kann man überhaupt von der „Wahrheit“ eines Bildes, eines Musikstückes, eines Rituals oder eines Tanzes sprechen? Von den verschiedenen Dimensionen der Wahrheit, welche heutige Philosophie kennt, ist in Bezug auf künstlerische Bibelinterpretationen am ehesten die „Wahrheit in Bezug auf den Sprecher“, d. h. die Authentizität18 eine adäquate Kategorie. Eine solche „Wahrheit in Bezug auf den Sprecher“ kann aber nicht durch eine kirchliche Lehrtradition geleitet werden. Ich möchte das am Beispiel der westlichen Ikonenmalerei, bzw. des biblischen Bildes verdeutlichen. Hier unterscheidet sich ja der Westen vom Osten dadurch, dass bei uns die Tradition religiöser Malerei vielfach umgebrochen wurde und biblische Bilder darum heute in heutigen künstlerischen Formen gemalt werden. Die „Authentizität“ und in diesem Sinn die „Wahrheit“ westlicher religiöser Kunst wird für heutige westliche Rezipienten gerade dadurch wesentlich erhöht, dass sie viel weniger traditionsgeleitet ist als die östliche Ikonenmalerei. Und dennoch gilt auch für westliche „Bibelbilder“ mutatis mutandis die Feststellung des Konzils, dass „sie diejenigen, die sie betrachten, aufrichten zum Eingedenken an die Urbilder, zur Sehnsucht nach ihnen“.19 Auch wenn diese Urbilder in westlicher religiöser Kunst teilweise realistisch, teilweise surrealistisch, jedenfalls vielfältig und sehr individuell dargestellt werden, bleiben sie wirkungsmächtige Interpretationen biblischer Urbilder und haben in diesem Sinn den Charakter von Ikonen.

Was bedeutet das alles für den protestantischen Grundsatz der „claritas Scripturae“? „Klar“ scheint fast nur zu sein, dass der Reichtum an Sinnpotenzen, Abbildern, Interpretationen und Gestaltungsmöglichkeiten, welche die Schrift freisetzte, ungeheuer groß ist. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik leitet dazu an, dies zunächst einmal dankbar anzunehmen. 4. „Christus als Mitte der Schrift“. Reformatorische Hermeneutik hat den Charakter einer Ellipse mit zwei Brennpunkten: Dem Grundsatz „sola Scriptura“ stand der Grundsatz „solus Christus“ bzw. „Christus als Mitte“ gegenüber.20 „Christus als Mitte“ war der reformatorisch interpretierte Christus, der pro nobis gestorbene, der durch das Zeugnis des Geistes als Evangelium in uns wirkende, der „Deus revelatus“, der Christus der Gnade. Dem so verstandenen Christus kann Luther die „Gebote und Schriften der Apostel“ unterordnen.21 Die Beschäftigung mit der hermeneutischen Tradition des Altertums und des Mittelalters macht nun deutlich, dass der Grundsatz „Christus als Mitte“ in unter18  Jürgen Habermas, „Was heißt: Universalpragmatik?“, in: Karl Otto Apel (Hg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt 1976, 176. 19  Conc. Oecumenicum VII, DS3 6 , 1976, Nr. 601 20  Vgl. Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, Nachdruck: Darmstadt 1962, bes. 402–412. Für Ebeling ist „Luthers theologischer Ansatz … in der Lehre von der Schrift nicht die Lehre von der Inspiration, sondern von der Inkarnation“ (402). 21 Christus steht zwar über allen Gesetzen: „Dennoch, weil wir einstweilen ungleich an Geist sind und das Fleisch dem Geiste feind ist, ist es nötig, auch um der Schwarmgeister willen, den gewissen Geboten und Schriften der Apostel anzuhangen, auf dass die Kirche nicht zerrissen werde“ (Disputatio de fide, These 58, WA 39/1, 1926, 47).

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schiedlich interpretierter Weise immer der hermeneutische Grundsatz kirchlicher Schriftauslegung war. Einige griechische Kirchenväter verstanden die wörtlich und geistlich zu deutende Schrift in Analogie zu den zwei Naturen Christi: Die geistliche Interpretation des Buchstabens der Schrift offenbart die Wirksamkeit des göttlichen Logos, ähnlich wie die menschliche Natur Christi dauernd mit der göttlichen verbunden ist.22 In der westlichen Kirche beriefen sich Irenäus und noch entschiedener Tertullian auf die in der apostolischen Tradition der Kirche überlieferte regula fidei als Maßstab für die Interpretation der Schrift. Der antignostische Kampf, zu dem die Erfahrung der Vieldeutigkeit der Schrift gehörte, machte es für sie nötig, der Vieldeutigkeit der Schrift einen eindeutigen Interpretationsmaßstab gegenüber zu stellen.23

Eine wirkungsgeschichtliche Betrachtung zeigt uns also zunächst, dass die reformatorische Hermeneutik durchaus im Hauptstrom kirchlicher Hermeneutik verankert ist. Aber zugleich stellt sie den reformatorischen Deutungsansatz auch in Frage: „Christus“ ist nie eine neutrale Instanz, sondern es ist immer der durch die jeweilige Kirche in ihrer frömmigkeitsgeschichtlichen Situation interpretierte Christus, der zur Leitlinie für die Interpretation der Schrift wird. Darauf macht das Studium der hermeneutischen Ansätze der kirchlichen Schriftauslegung aufmerksam, die zu den zentralsten und theologisch wichtigsten Aufgaben wirkungsgeschichtlich reflektierter Bibelauslegung gehört. Christus – gemeinsam für alle die Leitlinie zur Interpretation der Schrift – ist nicht nur ein verbindendes, sondern auch ein unterscheidendes Merkmal der verschiedenen Auslegungstraditionen. Hier einfach die eigene hermeneutische und christologische Tradition für die maßgebliche zu erklären, hilft anderen nichts, die ihre eigene Tradition haben. Insofern macht auch an diesem Punkt wirkungsgeschichtlich reflektierte Hermeneutik traditioneller protestantischer kirchlicher Auslegung das Leben und das Denken schwer, aber gewiss nicht nur ihr!

III. Wirkungsgeschichte und katholische kirchliche Auslegung Joachim Gnilka hat einmal den Eindruck formuliert, dass die stärkere „Orientierung auf die Kirche hin eine Unterschiedenheit zwischen protestantischem und katholischem Theologen“ ausmache. „Was ich als Exeget erarbeite oder mitteile, muss sich vor dem Forum der Kirche bewähren, in 22  Henri de Lubac, Geist aus der Geschichte, Einsiedeln 1968, 393–404; Johannes Panagopoulos, Christologie und Schriftauslegung bei den griechischen Kirchenvätern, ZThK 89 (1992) 41–58; ders., Η Ερμηνεία τής Αγίας Γραφής στήν εκκλησία τών Πατέρων, Athen 1991, 260–281.329–333.398–406; ders., Εἰσαγωγή στήν Καινή Διαθήκη, Athen 1994, 430–458. 23  Zu Irenäus vgl. Norbert Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, ZAC 2 (1998), 26–48.

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III. Studien zur Hermeneutik

ihren Glauben eingehen und in ihrem Leben Gestalt gewinnen“. Ebenso wie neutestamentliche Schriften durch ihre Rezeption in der Kirche sukzessive den Rang kanonischer Schriften erhalten haben, gelte auch für katholische Exegese das „Kriterium der Akzeptation durch die Kirche“.24 Der von Gnilka in großer Vornehmheit nur indirekt formulierte Eindruck, dass protestantische Exegese sich im Ganzen um ihre Akzeptation durch die Kirche recht wenig kümmert, ist wohl richtig. Die Frage ist aber, wie diese Akzeptation geschieht. Im Bereich des Protestantismus ist die Frage der Rezeption der Exegese in einem hohen Masse eine Frage ihrer Rezeption durch die Gemeinden. Wenn sie durch uns Exegeten überhaupt ernst genommen wird, dann – leider! – eher als pädagogisches denn als theologisches Problem. In der katholischen Kirche spielt dagegen für die Rezeptionsprozesse das kirchliche Magisterium eine hervorragende Rolle. Die Konstitution „Dei Verbum“ des Zweiten Vatikanischen Konzils hat Magisterium, Schrift und Tradition unauflösbar miteinander verbunden: „Munus … authentice interpretandi verbum Dei scriptum vel traditum soli25 vivo Ecclesiae Magisterio concreditum est … Quod quidem Magisterium non supra verbum Dei est, sed eidem ministrat, docens nonnisi quid traditum est. … Patet igitur Sacram Traditionem, Sacram Scripturam et Ecclesiae Magisterium iuxta sapientissimum Dei consilium ita inter se connecti et consociari, ut unum sine aliis non consistat“26.

Versteht man die regula fidei gleichsam als Inbegriff der Tradition, so bedeutet Rezeption der Bibel ein Zusammenwirken von Bibel, Glaubenstradition und Magisterium der Kirche unter Führung des Heiligen Geistes. Wir erleben heute eine Zeit der Pluralisierung der Bibelauslegungen: Eine Vielzahl von Exegetinnen und Exegeten, in einer Vielzahl unterschiedlicher Kontexte lebend, durch eine Vielzahl kirchlicher und anderer Traditionen geprägt und die unterschiedlichsten und sich ständig entwickelnden Methoden anwendend, produziert eine schier unübersehbare Vielzahl von Textsinnen der Bibel. Die einen von uns empfinden das als Ausdruck des unendlichen Reichtums der Bibel; andere interpretieren es als Ausdruck der schieren Unmöglichkeit von Texten jedweder Art, sich gegen ihre Leser durchzusetzen27 24  Joachim Gnilka, Die Bedeutung der Wirkungsgeschichte für das Verständnis und die Vermittlung biblischer Texte, in: Katholisches Bibelwerk (Hg.), Dynamik im Wort. Lehre von der Bibel – Leben aus der Bibel. FS 50 Jahre Katholisches Bibelwerk Deutschland, Stuttgart 1983, 339. 25  Zur Einbettung des „nur“ in den Gesamtzusammenhang des Dekrets vgl. Heinrich Fries, Kirche und Kanon. Perspektiven katholischer Theologie, in: Wolfhart Pannenberg / ​Theodor Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I. Kanon – Schrift – Tradition, DiKi 7, Freiburg / ​ Göttingen 1992, 291–293. 26 Dei Verbum II, 10 (LThK2 XIII, 528). 27 Die These von Stanley Fish, dass letztlich Interpretationsgemeinschaften den Sinn der Texte bestimmen (Is there a Text in this Class? The Authority of Interpretive Comunities, Cambridge / ​Mass. 1980; ders., Doing what Comes Naturally: Change, Rhetoric and the Practice

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oder als Ausdruck der Unmöglichkeit, dass Texte Träger eines über die Zeiten hindurch stabilen Logos sein können. Im Protestantismus ist diese Pluralisierung tragisch, denn protestantische Kirchen wollen ja auf das Fundament der Schrift gebaut sein. Auf das Fundament einer so vielfältig auslegbaren Schrift lassen sich aber keine Kirchen, sondern höchstens Richtungsgemeinschaften, Gruppen oder religiöse Individuen bauen, es sei denn, man erkläre gerade die Vielfalt zum protestantischen Grundprinzip.28 Die theologischen Reaktionen darauf sind verschieden: Die einen von uns stellen das hier sich abzeichnende Scheitern eines formal verstandenen „Sola-Scriptura“ Prinzips mit Unruhe fest.29 Andere sehen hier eine wenig überraschende Selbstauflösung des Protestantismus in neuprotestantische Subjektivität. Marius Reiser hat in diesem Dilemma eindringlich auf die Notwendigkeit einer katholischen Grundposition aufmerksam gemacht: In dieser Situation komme der „regula fidei“ und dem kirchlichen Lehramt eine unaufhebbare Bedeutung zu, wenn sich die Theologie nicht in Religionswissenschaft, die Exegese nicht in Literaturwissenschaft und die Kirche nicht in eine lockere Assoziation frommer Subjekte auflösen wolle.30 Nur die „lebendige Tradition der Regula fidei“ könne „als angemessenes Vorverständnis in den Verstehensprozess“ biblischer Texte sachgemäß hineinführen und nur die Kirche könne der Erfahrungsraum sein, in dem „das Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache“31 seinen sachgemäßen Ort finde. Wirkungsgeschichtlich reflektierte Hermeneutik behebt dieses Dilemma nicht, sondern stellt Fragen an seine kirchliche Lösung. 1. Lässt sich die Wahrheit von Auslegungen biblischer Texte durch eine Wahrheitsregel definieren? Interpretationen biblischer Texte sind immer auch Interpretationen des Lebens in konkreter Situation und durch konkrete, ganze Menschen, in sprachlichen oder nicht sprachlichen Interpretationsmedien. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik stellt an katholische kirchliche Exegese dieselbe Frage, wie an die protestantische Bibelauslegung, nur mit anderer Stossrichtung. Nicht nur mit an der „regulativen Norm“ des kirchlichen Glaubenszeugnisses32 messbaren Interpretationen biblischer Texte beschäftigt of Theory in Literary and Legal Studies, Oxford 1989; vgl. das Referat von MayordomoMarin, Anfang [o. Anm. 7], 107–113) bezieht sich nicht auf die römisch-katholische Kirche, könnte aber dort reich belegt werden. Der Protestantismus dokumentiert demgegenüber eher die Schwäche und den andauernden Zerfall von Interpretationsgemeinschaften. 28  James D. G.  Dunn hat in seinem wichtigen Buch: Unity and Diversity in the New Testament, London 1977, 376, vom neutestamentlichen Kanon im Anschluss an E. Käsemann formuliert: „It canonizes the diversity of Christianity“, allerdings nicht, ohne den Bezug dieser Vielfalt auf ein „unifying centre“ hervorzuheben. 29  Ulrich Luz, „Was heißt ,Sola Scripturaʻ heute? Ein Hilferuf für das protestantische Schriftprinzip“, EvTh 57 (1997), 28–36. 30 Marius Reiser, Bibel und Kirche, TThZ 108 (1999), bes. 64–71.80 f. 31 Rudolf Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: ders., Glauben und Verstehen II, Tübingen 1961, 217; zitiert bei Reiser, Bibel und Kirche (o. Anm. 30), 70. 32  Reiser, Bibel und Kirche (o. Anm. 30), 68.

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sie sich, sondern auch mit solchen, die sich daran nur sehr eingeschränkt oder gar nicht messen lassen, z. B. mit Gebeten, Liedern, Bildern oder politischen Entscheidungen. Die Frage nach der Wahrheit solcher Interpretationen lässt sich nicht durch eine Orientierung an einer Wahrheitsregel im Sinn der regula fidei entscheiden. 2. Wirkungsgeschichte macht auf das Problem der Kontextualität jeder Interpretation aufmerksam. Alle Interpretationen und Aktualisierungen biblischer Texte sind kontextuell und gewinnen ihre Wahrheit und ihre Kraft in ihren jeweiligen Kontexten. Oft beobachten wir zum Beispiel, dass überlieferte Auslegungen biblischer Texte, welche in einem exegetischen oder theologischen Sinn durchaus „wahr“ sein mögen, d. h. dem Ursprungssinn oder der traditionellen Glaubensregel entsprechen, dennoch in einem anderen Sinne nicht „wahr“ sind: Sie sind stumpfe Schwerter geworden, d. h. sie bewegen nichts mehr, sie unterscheiden nichts mehr oder sie bewirken nicht, was biblische Texte ursprünglich bewegen und bewirken konnten. Insbesondere die Beschäftigung mit der Auslegungsgeschichte im engeren Sinn zeigt, dass Exegeten während Jahrhunderten immerzu repetiert haben, was ihre Vorgänger sagten, und darin im Sinne kirchlicher Traditionsnormen gewiss „wahr“, darüber hinaus aber vor allem langweilig sind.33 Wirkungsvolle Auslegungen der Bibel dagegen waren sehr oft innovative Auslegungen und eben deswegen im Sinne der Traditionsnorm oft häresieverdächtig. Eine Traditionsnorm neigt dazu, das Problem der Kontextualität zu vernachlässigen und in diesem „abstrakt“, d. h. kontextlos zu sein. Ich bestreite damit von der Wirkungsgeschichte her nicht die Erkennbarkeit von Wahrheit,34 sondern die Reduktion von Wahrheit auf Satzwahrheiten, welche anhand eines Korrespondenzkriteriums festgestellt und durch eine Traditionsnorm reguliert werden können. Mehrfach kam es aber im Kampf gegen Häresien zu exegetischen Innovationen, deren Gültigkeit gerade nicht durch die Auslegungstradition der Kirche gewährleistet war. Ein gutes Beispiel dafür ist die plötzliche Dominanz der zwar alten, aber im Mittelalter ziemlich bedeutungslosen Deutung des Felsens von Mt 16,18 auf das Papsttum in der katholischen Auslegung seit dem 16. Jh. Sie ist eine antihäretische Innovation und richtete sich gegen die Protestanten, die an den traditionellen kirchlichen Deutungen des Felsens auf Christus oder auf den Glauben festhielten.35

33  Dieses Urteil gilt nicht nur für viele traditionsorientierte Schriftausleger, welche nur noch die Meinungen der Väter sammelten, sondern mutatis mutandis auch für sehr viele neuzeitliche Kommentare vor allem des 20. Jahrhunderts. 34  Das vermutet Reiser, Bibel und Kirche (o. Anm. 30), 76. 35 Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), EKK 1/2; Neukirchen / D ​ üsseldorf 31999, 478 f; ein anderes Beispiel gibt Frances Young, Biblical Exegesis and the Formation of Christian Culture, Cambridge 1993, 37–40 (die antihäretische Auslegung von Spr 8,22 durch Athanasius).

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3. Auslegungs‑ und Wirkungsgeschickte zeigt m.E dass das vom zweiten vatikanischen Konzil postulierte harmonische Zusammenwirken von Bibel, Tradition und Lehramt de facto nur eingeschränkt funktioniert hat. Dies gilt jedenfalls, wenn man „Lehramt“ in einem formellen Sinn versteht und Tradition im Sinn der „regula fidei“ eng fasst. G. Segalla hat eindrücklich – mit apologetischem Ziel – aufgezeigt, dass das kirchliche Lehramt im Ganzen nur selten und ausnahmsweise in Auslegungsprozesse der Bibel sich eingeschaltet hat.36 In der Geschichte hat die „regula fidei“ relativ selten direkt als Norm für Schriftauslegungen funktioniert – eigentlich fast nur dann, wenn Schriftauslegungen einen antihäretischen Skopus hatten und direkt der Legitimation der Lehrtradition dienen mussten.37 Für die kirchlichen Auslegungen der Bibel wirkte die Glaubensregel und das Lehramt nur im Sinne einer „assistentia negativa“,38 um an neuralgischen Punkten häretische Deutungen auszuschließen. Es überließ im Übrigen die Auslegung der Bibel ihrer eigenen Dynamik. Auch in der katholischen Kirche legt sich die Bibel weitestgehend selbst aus („scriptura sui ipsius interpres“), oder anders gesagt: Die wirksamste und verbreitetste „Regulierung“ der kirchlichen Auslegung der Bibel geschah durch die kirchliche Auslegung der Bibel selbst. Die kirchlichen Auslegungen der Bibel lebten von den kirchlichen Auslegungstraditionen der Bibel her und führten sie weiter. Negativ geurteilt mag man dies Traditionalismus nennen; positiv zeigt sich hier die tragende Kraft einer kirchlichen Interpretationsgemeinschaft, welche die Auslegungen der Bibel weniger einengte, als trug, bereicherte und inspirierte. Weil sich die alten Ausleger der Bibel immer als kirchliche Ausleger verstanden, verehrten sie Schrift und Tradition „pari pietatis affectu ac reverentia“.39 „Tradition“ war dabei für die Schriftausleger in erster Linie die tragende Auslegungstradition der Bibel selbst, m. E. durchaus im Sinne des Zweiten Vaticanums. Versucht man also, von der Auslegungs‑ und Wirkungsgeschichte her das Verhältnis von Bibelauslegung, regula fidei und Lehramt zu bestimmen, so ergibt sich für mich nicht das Bild von konzentrischen Kreisen, sondern wiederum dasjenige einer Ellipse mit zwei Schwerpunkten und einer relativen Unabhängigkeit beider Schwerpunkte: Die kirchliche Auslegung spiegelt den Reichtum, die Vielfalt, die Pluralität, die Lebendigkeit, die Offenheit, die Katholizität und die Nichtnormierbarkeit des Lebens der Kirche durch den Reichtum der Schrift. Ihr Eingebettetsein in die kirchliche Auslegungstradition spiegelt gerade die Treue der Kirche zu diesem Reichtum und dieser Vielfalt. Kirchliche Schriftauslegung weist darauf hin, dass christlicher Glaube reicher und mehr ist, als das, was 36  Giuseppe Segalla, Church Authority and Bible Interpretation. A Roman Catholic View, in: James D. G. Dunn u. a. (Hg.), Auslegung der Bibel, WUNT 130 Tübingen 2000, 55–72. 37 So klassisch bei Tertullian, De praescriptione haereticorum 14,3–5; vgl. 36 f. 38 Reiser, Bibel und Kirche (o. Anm. 30), 66. 39  Cone. Trid. Sessio IV = Decretum de libris Sacris et de traditionibus recipiendis, DS36 (1976) Nr. 1501; vgl. Conc. Vat. II, Dei Verbum II, 9 (= LThK2 XIII, 524).

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sich durch ein Lehramt erfassen lässt. Die regula fidei und das sie schützende kirchliche Magisterium repräsentiert demgegenüber die Fokussierung dieser Vielfalt auf – gut protestantisch gesagt – eine Mitte, auf die sie bezogen bleibt, ohne in ihr aufzugehen. Regula fidei und Lehramt einerseits und der durch den Reichtum der Bibel angestoßene Reichtum kirchlicher Bibelauslegung andererseits stehen im Raum der Kirche nebeneinander, manchmal verknüpft, manchmal nicht, manchmal – selten! – so, dass das eine das andere normiert, manchmal auch im Konflikt. Es ist, um den Text des Zweiten Vaticanums zu modifizieren, durchaus nicht immer so, dass „keines ohne das andere besteht“, sondern eher so, dass „jedes auf seine Art“, als zwei eigene Brennpunkte einer Ellipse eben, „durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dient“.40 Ich empfinde den Reichtum katholischer kirchlicher Bibelauslegung als wichtiges und produktives Gegengewicht zu den Engführungen der regula fidei und des Lehramtes, weiß aber, dass das eine durchaus standortbedingte Interpretation ist,41 welche manche Katholiken aufgrund ihres eigenen Standort innerhalb ihrer Kirche anders formulieren würden. 4. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik hinterfragt Entscheidungen des Lehramts, indem sie sich auch mit „häretischen“, z. B. protestantischen oder sogenannt „ungläubigen“ Bibelinterpretationen beschäftigt. Sie ist prinzipiell offen. Ihre Prämisse ist, dass jeder, wirklich jeder, etwas von dem verstanden haben könnte, worum es in einem Text geht. Ihre Prämisse ist ferner, dass nicht nur jede Interpretation eines Textes, sondern auch jede Entscheidung des Lehramts in Bezug auf Textinterpretationen kontextuell und in diesem Sinn historisch ist. Sie versucht beide in ihrem Kontext zu verstehen, Textinterpretationen und Lehramt. Sie kennt prinzipiell keine Scheuklappen und öffnet gerade dadurch scheinbar erledigte Fragen neu. Im Ganzen kann man aus auslegungsgeschichtlicher und wirkungsgeschichtlicher Sicht sagen, dass katholische Bibelauslegung de facto derjenigen, welche in den protestantischen und orthodoxen Kirchen geschieht, in manchem nahe steht. Sie ist protestantischer Bibelauslegung sehr nahe, indem auch sie in der Spannung zwischen dem Reichtum und der Vielfalt des Glaubens, welche der Kanon begründet, und seiner Konzentration auf eine Mitte, welche in ihrem Fall das Lehramt zu erreichen versucht, lebt. Sie steht auch orthodoxer Bibelauslegung sehr nahe, welche ebenfalls die „Treue und Verehrung“ besonders 40  Vgl. Dei Verbum II, 10 (= LThK2 XIII, 529), in leichter Umakzentuierung der deutschen Fassung. 41  Eine mir an sich sehr sympathische Interpretation findet sich bei Karl H. Schelkle, Die Petrusbriefe. Der Judasbrief, HThK XIII / 2​ , Freiburg u. a. 1961, 245: „Müsste man nicht viel mehr, als das NT von einer solchen Norm her zu messen, die kritische Norm am Reichtum des NT messen und ihr darnach allenfalls ein relatives Recht zuerkennen“?. Schelkle formuliert seinen Satz allerdings gegen Luthers Prinzip des Kanons im Kanon. Er ist m. E. aber auf die Engführungen des Reichtums der Bibel durch die regula fidei und durch das Magisterium in gleicher Weise anwendbar.

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gegenüber der patristischen Auslegungstradition als ihr Grundmerkmal empfindet und sich von ihrem Reichtum leiten lassen will, aber ohne diesen durch die Bindung an ein kirchliches Lehramt über sie selbst hinaus zu normieren.

IV. Wirkungsgeschichte und orthodoxe kirchliche Auslegung Kann man protestantisches Bibelverständnis durch das Kürzel „die Bibel als Gegenüber der Kirche“ bzw. „die Bibel vor der Kirche“ kennzeichnen, so orthodoxes Bibelverständnis durch das Kürzel „die Bibel in der Kirche“. Die Bibel ist ein gottesdienstlicher Text, ja, das Wort Gottes wirkt sakramental. John Breck formuliert es eindrücklich: „In authentic Orthodox experience, the Word comes to its fullest expression within a sacramental context. Wether proclaimed through Scripture reading and preaching, or sung in the form of antiphons … and dogmatic hymns …, the Word of God is primarily communicated – expressed and received – by the ecclesial act of celebration, and in particular, celebration of the eucharistie mystery“.42

Das Bibelwort muss, wie es der verstorbene Athener Hermeneutiker Johannes Panagopoulos im Anschluss an Origenes ausdrückte, im Sinn der „Realpräsenz Christi im Wort“43 verstanden werden. Nach Januarij Ivliev ist „die Heilige Schrift, der Bibeltext, … ein in Worten ausgedrücktes Bild der Neuen Realität, die den Menschen im fleischgewordenen Wort Gottes offenbart wurde“.44 Darum ist die Göttliche Liturgie der vornehmste Ort, an dem und durch den die „Energie des Evangeliums“45 zu ihrer Wirkung kommt. Sowohl die Entfremdung der historisch-kritischen Methode von der Sache des Evangeliums als auch ihre Maßregelung durch ein einschränkendes, begrenzendes kirchliches Lehramt haben nach Ivliev ihren Grund „im Verlorengehen der eucharistischen Erfahrung, in der Reduktion des kirchlichen Lebens auf rituelle Normen“.46 Wie verhält sich wirkungsgeschichtlich orientierte Hermeneutik zu dieser Einbettung der Bibel in das eucharistische und sakramentale Leben der Kirche? Man vermutet zunächst  – mit Recht  – eine tiefe Affinität, denn Wirkungsgeschichte hat es ja par excellence mit der Bibel in der Kirche und nicht mit der Bibel gegenüber der Kirche oder gar vor der Kirche zu tun. Steht also wirkungsgeschichtlich orientierte Auslegung der Bibel in geradezu prästabilierter Harmonie zur Orientierung ostkirchlicher Hermeneutik und Auslegung an den Kirchenvätern? Beiden geht es um die Einbettung der Auslegung in die Tradition  John Breck, The Power of the Word in the Worshipping Church, Crestwood 1986, 17 f.  Panagopoulos, Christologie (o. Anm. 22), 47. 44 Jannuarij Ivliev, Die Macht der Kirche und die Auslegung der Bibel. Eine orthodoxe Perspektive, in: Dunn, Auslegung (o. Anm. 36), 73. 45  So der Titel eines Aufsatzes von Hans Weder, ZThK Beiheft 9 (1995), 94–119. 46  Ivliev, Macht (o. Anm. 44), 77. 42 43

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III. Studien zur Hermeneutik

und das Leben der Kirche; beiden gemeinsam ist eine Grundhaltung der Dankbarkeit gegenüber dem leben‑ und identitätstiftenden Erbe der Tradition. Aber dennoch ist das nicht alles, was hier zu sagen ist. Wirkungsgeschichte bedeutet: Geschichte. Wirkungsgeschichte weiß zwar darum, dass die Wegstrecken, die wir zurückgelegt haben, unseren eigenen Standort zwar bestimmen, aber zugleich weiß sie darum, dass sie uneinholbar vergangen sind. Wirkungsgeschichte weiß darum, dass manche Wege nicht nur Wege, sondern auch Abwege oder Umwege gewesen sind. Sie macht auf die Kontextualität und die Ambivalenz des geschichtlichen Erbes aufmerksam, das uns prägt. Sie lädt nicht nur dazu ein, aus der Geschichte zu lernen, sondern sie lädt auch dazu ein, aus der Geschichte, dem neuen eigenen Kontext entsprechend, Neues und Anderes zu lernen. Sie bedeutet gegenüber jedem kirchlichen Traditionalismus eine Erinnerung, dass die Interpretation biblischer Texte in jedem neuen situationellen Kontext eine neue sein muss. Ich stimme Savas Agourides zu: „The Fathers absorbed the material for their own time … They could not do this chewing for us, as they could not know our exact situation. … There is the spiritual principle created by them that everybody must do his or her own chewing“.

Wirkungsgeschichte weist uns in unseren unentrinnbar eigenen Standort und fordert uns zu einer Neuinterpretation der biblischen Texte an diesem Standort auf; sie ist kein „ready made banquet for us“.47 Insofern bedeutet sie eine Herausforderung an eine einseitig traditionsorientierte orthodoxe Exegese.

V. Wirkungsgeschichte und die Grenzen der Kirche Wirkungsgeschichtlich orientierte Auslegung sprengt in doppelter Hinsicht die Grenzen kirchlicher Auslegung und macht damit auch auf die Grenzen der Kirchen aufmerksam. 1. Die Bibel ist nicht nur das Grundbuch der Kirche, sondern auch das Grundbuch aller derjenigen christlichen Gemeinschaften, die von anderen Kirchen nicht als solche angesehen werden. Die Bibel ist das Buch all derer, die sie lesen und aus ihr leben. Damit ist das Untersuchungsfeld wirkungsgeschichtlicher Untersuchungen abgesteckt. Es richtet sich nicht nach dem, was irgendeine Kirche als „kirchliche Auslegung“ definiert. Ich gestehe, dass ich immer wieder von den Auslegungen und Aktualisierungen derer viel gelernt habe, die auf dem Schrotthaufen der Häresie gelandet sind. Ich denke hier im Falle des Matthäusevangeliums z. B. an das unter dem Schutz der Zuschreibung an Johannes Chrysostomus aufbewahrte arianische Opus Imperfectum48 oder an die mich als 47 Savas Agourides, The Orthodox Church and Contemporary Biblical Research, in: Dunn, Auslegung (o. Anm. 36), 147. 48  Jozef v. Banning (Hg.), Opus Imperfectum in Matthaeum, CChr.SL, Turnholti 1988.

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Berner besonders betreffenden Zeugnisse emmentalischer Täufer, welche zusammen mit ihren täuferischen Zeitgenossen die matthäische Bergpredigt tiefer und besser verstanden als die protestantischen Prädikanten zu Bern. Auch hier macht das Studium der Wirkungsgeschichte auf die Grenzen kirchlicher Auslegung aufmerksam. Sie zeigen sich schon daran, dass eine Verständigung über das, was „kirchliche Auslegung“ ist, unter den verschiedenen Konfessionen, welche anderen in unterschiedlicher Weise das Prädikat Kirche zu oder absprechen, nur auf religionssoziologischer Ebene möglich ist! 2. Eine wirkungsgeschichtliche Untersuchung überschreitet den Bereich kirchlicher Interpretationen: Für sie gilt als wissenschaftliche Fragestellung, dass sie Bibelinterpretationen von Menschen außerhalb der Kirche mit grundsätzlich gleichem Interesse und mit der gleichen Offenheit zu interpretieren hat wie die kirchlichen. Hermeneutisch gilt auch ihnen gegenüber das Grundprinzip der Sympathie und der Wahrheitsvermutung – es könnte ja sein, dass gerade in ihnen etwas von der Wahrheit biblischer Texte aufscheint! Wissenschaftsethisch gilt das Grundprinzip des Respekts vor allem Menschlichem – ein Prinzip, das bekanntlich mit der Wirkungsgeschichte der Bibel sehr viel zu tun hat. Wenn ich hier aus dem zwanzigsten Jahrhundert an Bibelinterpreten wie Gandhi, Brecht,49 Chagall,50 Katzantsakis,51 an jüdische Exegeten wie Montefiore52 oder an Marxisten wie Machovec53 erinnere, dürfte klar sein, was ich meine. Sie alle stellen vor die Frage nach den Grenzen der Kirche. Jeder Hinweis auf eine „latente Kirche“ oder Ähnliches54 kollidiert in diesem Zusammenhang mit dem Grundprinzip des Respekts vor dem Menschlichen, denn alle Genannten hätten sich für die Zumutung, zu irgend einer „latenten Kirche“ zu gehören, in höflicher Kühle bedankt. Wirkungsgeschichtlich orientierte Bibelauslegung wird also die kirchliche Bibelauslegung darauf aufmerksam machen, dass die Wirkung der Bibel weit über die Kirche hinausgeht.

 Vgl. Hans Pabst, Brecht und die Religion, Wien 1977.  Berthold Roland (Hg.), Marc Chagall  – Die Bibel: Gouachen, Aquarelle, Pastelle und Zeichnungen aus dem Nachlass des Künstlers. Katalog zur Ausstellung im Bundeskanzleramt Bonn vom 15. November 1989 bis 12. Januar 1990 und im Landesmuseum Mainz vom 2. Februar bis 22. April 1990, Mainz 1990; Pierre Provoyeur, Marc Chagall. Die Bilder zur Bibel, Darmstadt 1996. 51  Vgl. bes. seinen ersten Passionsroman: Nikos Katzanzakis, Ο Χριστός ξανασταυρώνεται, Athen 101974, aber auch: Ο τελευταίος πειρασμός, Athen 1961. 52  Claude G. Montefiore, The Synoptic Gospels, 2 Bde, London 1927); ders., Rabbinic Literature and the Gospel Teachings, Nachdruck New York 1970 (= 1930). 53 Milan Machovec, Jesus für Atheisten, Stuttgart 1972. 54 Karl Rahner, Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen, in: ders.. Gesammelte Schriften zur Theologie V, Einsiedeln 21964, dort 154–158; Paul Tillich, Systematische Theologie III, Stuttgart 1966, 179–182. 49 50

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III. Studien zur Hermeneutik

VI. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik als kirchliche Auslegung? Ich stehe am Ende meines Durchgangs. Ist das, was ich unter wirkungsgeschichtlicher Hermeneutik verstehe, eine kirchliche Auslegung der Schrift? Ich denke, sie sei eine ökumenisch offene, kirchlich interessierte, zugleich aber gegenüber wesentlichen Traditionen kirchlicher Schriftinterpretation kritische und subversive Zugangsweise zur Bibel. Verdient sie das Prädikat „kirchliche Auslegung“? Die Antwort hängt davon ab, was man unter Kirche versteht. Für mich ist sie eine kirchliche Auslegung: Ich verstehe „Kirche“ als eine Gesprächsgemeinschaft von Konfessionen und Menschen, denen die Bibel vorgegeben ist und in der die Bibel wirkt. Wie Origenes und Johannes Panagopoulos denke ich, dass durch die Lektüre und das Hören der Bibel so etwas wie eine „Realpräsenz Christi im Wort“ geschieht und dass in dieser Lektüre der Heilige Geist am Werke ist, nicht auf der Ebene eines inspirierten und dadurch in sich absolut wahren Textes, sondern als Kraft der Texte in den Herzen und Köpfen der Leser.55 Diese Lektüre der einen Bibel geschieht offenkundig nicht so, dass durch dadurch die Spaltung der Kirchen aufgehoben wird, aber auch nicht so, wie dies Ernst Käsemann zu befürchten schien, dass durch sie die Vielzahl der Konfessionen festgeschrieben würde,56 sondern so, dass durch die Lektüre der biblischen Texte unter Angehörigen verschiedener Konfessionskirchen κοινωνία erfahrbar wird. Sie wird nicht so erfahrbar, dass die Pluralität der verschiedenen kontextuellen Textinterpretationen durch eine einheitliche Interpretation ersetzt wird, sondern so, dass Menschen aus verschiedenen Kirchen, welche wirkungsgeschichtlich verschiedene Wege gegangen sind und durch die biblischen Texte an verschiedene Standorte geführt wurden, sich wechselseitig ihre kontextuellen konfessionellen und individuellen Interpretationen erzählen. Durch ihre Erzählungen hinterfragen sie sich zugleich und erweitern ihren Horizont, sodass sie im Lichte der Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte erkennen, wer sie sind, woher sie kommen, und wo ihre Grenzen und Einseitigkeiten liegen, und wer sie werden könnten und sollten. So entsteht keine einheitliche Interpretation, wohl aber entsteht Verständnis für andere Interpretationen, also eine Verschiedenheit, die durch das Band der Liebe eingefasst ist. Natürlich suchen wir in einem wirkungsgeschichtlich reflektierten Gespräch über die Bibel auch Verständigung: Wenn ich das Bild des Weges und des Gebirges, das ich vorher brauchte, einmal umkehre und das Gebirge nicht als Ausgangspunkt, sondern als Ziel der Wan55  Vgl. Ulrich Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994. Körtner findet ebd. 67–87 von der Rezeptionsästhetik her einen überraschenden neuen Zugang zur altkirchlichen allegorischen Bibelinterpretation. 56 Ernst Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 214–223, bes. 221: Der Kanon „begründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit …, die Vielzahl der Konfessionen“.

19. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift

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derung durch die Täler verstehe, so kann man sagen: Man kann aufgrund der verschiedenen Perspektiven, in welchen das Gebirge von verschiedenen Tälern aus gesehen erscheint, versuchen, eine Landkarte zu konstruieren, welche das Gebirge so darzustellen versucht, wie es wirklich ist. Aber solche Konstruktionen bleiben Konstruktionen, gleichsam hypothetisch konstruierte Vorgriffe auf die Wahrheit. Und vor allem können solche Konstruktionen die wirklichen Anblicke des Gebirges von verschiedenen Wegen, Hügeln und Tälern aus nicht ersetzen, sondern höchstens verständlicher machen und vielleicht Hinweise auf die einzuschlagende Marschrichtung geben. Damit habe ich das umrissen, was Theologie, gut protestantisch verstanden als Auslegung der Heiligen Schrift, bestenfalls leisten kann. Ist das „kirchliche Auslegung der Schrift“? Ja, wenn man in diesem Sinn Kirche als Gesprächsgemeinschaft über der Bibel versteht, die unterwegs ist zu dem, was Gott mit „Kirche“ gemeint haben könnte. Ist dieses Verständnis der Kirche mit einem Lehramt der Kirche zusammenzudenken? Ja, wenn man sein Funktionieren noch viel radikaler als Karl Lehmann als dialogisch, ja als ausschließlich dialogisch versteht, in einer Weise, dass der Dialog nicht die Vorstufe zur „Verhandlung“ und zur „Prüfung“ bildet, sondern deren Überwindung.57 Natürlich ist das ebenso wie die Habermas’sche ideale „Gesprächssituation“ eine Utopie, aber es ist die Frage, ob man eine solche Utopie als „erschreckende Irrealität“58 abtut oder ob man sie als Ziel‑ und Richtungsangabe versteht. Aber nun werden meine katholischen und orthodoxen Freunde sagen: „Eine interkonfessionelle … Gesprächsgemeinschaft über die Bibel ist eine gute Sache, die wir ja längst haben; aber diese Gesprächsgemeinschaft ist nicht die Kirche und wird nie dazu werden“.59 In der Tat, ein Gespräch über die Bibel zwischen Gliedern von Kirchen und „kirchlichen Gemeinschaften“ …, „die nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“ sind, ja, ein Gespräch über die Bibel, das auch solche einschließen möchte, „die nicht durch die Taufe Christus eingegliedert“ sind, wohl aber die Bibel lesen möchten, kann keine kirchliche Auslegung sein.60 Marius Reiser fragt weiter: „Wer soll in einer Gesprächsgemeinschaft Sakramente spenden?“61 Für mich ist nicht dies die wichtigste Frage, sondern die, wer gespendete Sakramente empfangen darf. Stelle ich diese Frage, so wird deutlich, dass etwa das orthodoxe Verständnis von Verstehen und Empfangen der Bibel, das sein Zentrum in der Feier der Eucharistie hat, allein schon darum nicht die 57  Karl Lehmann, Notwendigkeit und Grenzen des Dialogs zwischen Theologen und Lehramt, in: Wolfhart Pannenberg / ​Theodor Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis II. Schriftausolegung – Lehramt – Rezeption, DiKi 9, Freiburg / G ​ öttingen 1995, 157–174. 58  Hans-Georg Gadamer, Replik, in: Karl O. Apel u. a., Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt 1971, 314. 59 Reiser, Bibel und Kirche (o. Anm. 30), 78. 60 Zitate aus: Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung „Dominus Jesus“, Bonn 2000, Nr. 17. 61  Reiser, Bibel (o. Anm. 30), 78.

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III. Studien zur Hermeneutik

für mich wirkliche Form von kirchlicher Auslegung sein kann, weil ich durch eine Entscheidung der orthodoxen Kirche von diesem Zentrum ausgeschlossen bin. Das tut mir weh, und ich muss mich wohl damit abfinden, dass das, was ich vorzustellen versucht habe, für die meisten meiner Freunde keine kirchliche Auslegung sein kann. Aber nicht nur Auslegungen der Bibel, sondern auch Ekklesiologien sind kontextuell und wirkungsgeschichtlich bestimmt. Sie sind Blickweisen auf die Kirche von bestimmten Etappenorten eines Weges aus. Insofern sind sie weder frei wählbar noch verabsolutierbar. Auch meine eigene Ekklesiologie ist nicht einfach richtig oder falsch, sondern kontextuell. Sie steht wirkungsgeschichtlich unter dem Erfahrungsvorzeichen eines erfahrenen Anathema. Von da her kann ich gar nicht behaupten wollen, dass die wahre Kirche in irgendeiner der protestantischen Kirchen, die aus den Nachfahren Luthers, Calvins oder Zwinglis besteht, „in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, verwirklicht ist“.62 Ich kann von der wahren Kirche gar nicht anders reden als in der Gestalt eines Hoffnungsgutes, das uns verheißen ist und zu dem auch meine Kirche unterwegs ist. Ich kann keine bessere Ekklesiologie haben als diese, weil ich als Angehöriger einer Gemeinschaft, die noch nicht im eigentlichen Sinn Kirche ist, zusammen mit Angehörigen anderer Gemeinschaften, die alle auch noch nicht im eigentlichen Sinne Kirche sind, unterwegs bin zur verheißenen Kirche. Ökumene ist für mich das Experimentierfeld der Hoffnung auf Kirche. Und darum ist für mich als Protestant der skizzierte ökumenisch ausgerichtete und subversiv-selbstkritische Entwurf einer wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik zugleich ein Versuch kirchlicher Auslegung, ein typisch protestantischer Versuch, nicht defizitär, wohl aber kontextuell.

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 Vgl. Lumen Gentium 8 = LThK2 XII, 173.

20. Textauslegung und Ikonographie Reflexionen anhand der matthäischen Passionsgeschichte I. Einführung Es geht mir in diesem Aufsatz um einen Beitrag zur Frage, was es heisst, einen biblischen Text durch das Medium des Bildes zu verstehen. Dabei konzentriere ich mich auf narrative biblische Texte, die sich konkret malen lassen und wähle als exegetische Beispiele Texte aus der Passionsgeschichte. Welchen Gewinn bringt es, einen biblischen Text in einem anderen Medium, nämlich dem des Bildes, zu interpretieren? Was sind die Besonderheiten und was sind die Chancen des Mediums Bild für die Interpretation dieser Texte? Mein Interesse ist also zugleich ein interdisziplinäres und hermeneutisches. Ich bewege mich im Grenzgebiet zwischen Bibelwissenschaft und kunstgeschichtlicher Hermeneutik, ohne dass ich für mich besondere kunstwissenschaftliche Kenntnisse in Anspruch nehmen könnte. Mein hermeneutisches Interesse ist ein doppeltes. Das eine könnte man als „Horizonterweiterung“ bezeichnen. Auslegung der Bibel geschieht nicht nur, oder besser: nur am Rand, in den Studierstuben exegetischer Fachleute, in Bibliotheken von Universitäten oder in akademischen und kirchlichen Diskursen, sondern sie geschieht im Leben. Gerhard Ebeling hat vor vielen Jahren in einem wegweisenden Aufsatz von der „Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“ gesprochen und dabei an die Auslegung der Bibel „im Handeln und Leiden …, in Kultus und Gebet, in theologischer Arbeit und persönlichen Entscheidungen …, in Kriegen im Namen Gottes und in Werken barmherziger Liebe, in christlicher Kulturgestaltung und klösterlicher Weltflucht“1 gedacht. Er hätte auch von der Bibelauslegung sprechen können, die in den Bildern von Künstlern geschieht und die jahrhundertelang für viele Menschen, die nicht lesen und schreiben konnten, die wichtigste Weise der Begegnung mit der Bibel war. Wir Exegeten haben es nötig, unseren Horizont zu erweitern. Alle von Ebeling genannten Bibelauslegungen sind kontextuelle Auslegungen. Sie haben ihren Sitz im Leben in konkreten Lebenskontexten 1  Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in: ders., Gottes Wort und Tradition, Göttingen 1964, 9–27, dort 24.

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III. Studien zur Hermeneutik

und sind durch sie bestimmt. Sie sind meist ein Ausdruck von Frömmigkeit und nur am Rand von Gelehrsamkeit. Zu ihnen gehört deshalb immer auch die Person des Auslegers oder der Auslegerin selbst, ihre Kreativität, ihre Phantasie, ihre Prägung, ihre Fragen und ihre Grenzen. Wenn wir Rezeptions‑ oder Wirkungsgeschichte2 weit fassen und unseren Blick über die Auslegungsgeschichte im engeren Sinn hinaus ausweiten, bringt sie uns ins Gespräch mit anderen Menschen, welche in anderen Situationen, zu anderen Zeiten, in anderen Kirchen, konfrontiert mit anderen Problemen und Aufgaben, von einem anderen Blickpunkt aus, und oft in einem anderen Medium die biblischen Texte durch Leben, Bilder, Bücher, Gebete, Gedichte etc. auslegten. Dieses Gespräch und die damit verbundene Horizonterweiterung hilft uns für das Gespräch mit heutigen Menschen über die Bibel. Mein zweites hermeneutisches Interesse ist sehr viel spezieller. Für protestantische, insbesondere für reformierte Christinnen und Christen bedeutet die Beschäftigung mit der ikonographischen Wirkungsgeschichte zugleich die Aufarbeitung einer eigenen Verlustgeschichte. In der Reformation wurden, insbesondere bei den Reformierten, Bilder in den Kirchen beseitigt oder übertüncht. Nur innerhalb der Buchdeckel der Bibel, also sichtbar dem Wort unterordnet, durften sie  – auf Kleinformat reduziert und der Farben beraubt  – als Bibelillustrationen weiter existieren und so dem Wort dienen. Dadurch wurde das Bild eines grossen Teils seiner Ausdrucksmöglichkeiten beraubt und verlor einen Teil seiner Selbständigkeit und Kraft als Interpretationsmedium biblischer Erzählungen. In anderen Kirchen, insbesondere in den orthodoxen, ist dies bekanntlich ganz anders. So bedeutet die Beschäftigung mit der ikonographischen Rezeptionsgeschichte der biblischen Texte für uns Reformierte die Beschäftigung mit etwas, was in anderen Kirchen wichtig blieb und für uns möglicherweise wieder wichtig werden könnte.3 Ich setze deshalb mit einigen Bemerkungen zur protestantischen „Verlustgeschichte“ des Bildes ein.

II. Zur „Verlustgeschichte“ des religiösen Bildes Die Reformation war eine der grossen ikonoklastischen Bewegungen der Kirchengeschichte. Für die Reformatoren war das Wort Gottes das einzige Zentrum und die Grundlage aller Frömmigkeit. Das bekannte, wunderbar eindrück2  Ich verstehe den literaturwissenschaftlichen Term „Rezeptionsgeschichte“ als Synonym zu dem von Gadamer geprägten Ausdruck „Wirkungsgeschichte“. „Rezeptionsgeschichte“ betont mehr die rezipierenden Leser / i​nnen, „Wirkungsgeschichte“ mehr die wirkende Kraft der Texte. „Auslegungsgeschichte“ ist dagegen für mich nur ein Ausschnitt aus der „Wirkungsgeschichte“ und auf Metatexte in Textform (z. B. Kommentare, Predigten) beschränkt. 3 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I / 1 ​ , Neukirchen / ​ Düsseldorf 52002, 111: „Die Auslegungs‑ und Wirkungsgeschichte liefert … Korrektive. Sie zeigt exemplarisch, was wir durch die Texte“ hätten werden können und „werden könnten“.

20. Textauslegung und Ikonographie

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liche Kreuzigungsgemälde von Lukas Granach in der Stadtkirche von Wittenberg zeigt besser als alle anderen Dokumente, was durch die Reformation mit dem Bild passiert ist. Es stellt Luther dar, der den gekreuzigten Christus für seine Gemeinde predigt. Der gekreuzigte und verkündete Christus steht in der Bildmitte. Für Luther und die anderen Reformatoren gibt keinen anderen Christus als den gekreuzigten und verkündeten, der „für uns“ gestorben ist. Das Wort rückt ins Zentrum, das Bild an den Rand. Die Reformatoren verwarfen jede Form sowohl von Anbetung (λατρεία) als auch von Verehrung (προσκύνησις) sichtbarer Bilder. Sie verwarfen die neuplatonisch inspirierte Grundkonzeption der Bildertheologen des zweiten nikänischen Konzils, wonach die irdischen Bilder die himmlischen „Urbilder“ (πρωτότυπα) repräsentieren.4 Sehe ich recht, so war für Johannes von Damaskus die Inkarnation der eigentliche Grund der Bilderverehrung: Er geht davon aus, dass es töricht sei, den unsichtbaren, unkörperlichen und gestaltlosen Gott bildlich darzustellen  – daher das alttestamentliche Bilderverbot. Dann fährt er weiter: „Gott ist aber ‚wegen des mitleidvollen Erbarmens‘ wahrhaftig Mensch geworden um unserer Rettung willen … und wurde von den Menschen gesehen“.5 Christus ist Abbild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). Darum gilt das jüdische Bilderverbot für die christliche Kirche nicht mehr. „Wenn der Unsichtbare durch das Fleisch sichtbar wurde, dann mache ein Bild, das dem, der gesehen worden ist, gleicht … dann ritze auf einer Tafel ein und stelle ihn zur Betrachtung auf, den der es angenommen hat, gesehen zu werden“.6 Die Verehrung aber, die man den Bildern erweist, geht auf die göttlichen Urbilder über.7 Eben zu dieser Verehrung sagten die Reformatoren zusammen mit der ganzen ikonoklastischen Tradition des Christentums ‚Nein‘. Von ihrem Protest nicht betroffen aber war die zweite ikonologische Grundkonzeption der Kirche, welche vor allem für die westliche Kirche wichtig war. Nach einem bekannten Brief Gregors des Grossen an Serenus von Marseille wird das Bild … in der Kirche deswegen verwendet, „damit die des Lesens Unkundigen wenigstens auf den Wänden durch Anschauung lesen können, was sie in den Büchern nicht zu lesen vermögen“.8 Die Bilder sind also für Gregor Veranschaulichungs‑ und Unterrichtsmittel. Sie sind nicht Gegenstand der Verehrung, sondern lehren, um es pointiert zu sagen, wen man verehren muss. Natürlich haben sich beide Gründe für die Bilder im Gebrauch der Bilder in der  Vgl. Concilium Oecumenicum VII, Actio VII = DS36 Nr. 601.  Johannes Damascenus, De fide Orthodoxa 4,16 = PG 94, 1172. 6  Ders., De imaginibus oratio II 8 = PG 94, 1328 f. 7  Ders., De fide Orthodoxa 4,16 = PG 94, 1169 im Anschluss an Basilius, De spiritu sancto 18 (45) = PG 32, 149C. Zu Johannes v. Damaskus vgl. den Aufsatz von Martin George, Bild und Ikone. Was macht in den Ostkirchen ein religiöses Bild zur Ikone?, EvTh 67 (2007, 120–136. 8  Gregor d. Gr., Ep IX 209 = CChr. SL CXL.A 768. (… ut hi qui litteras nesciunt saltem in paretibus videndo legant quae legere in codicibus non valent). 4 5

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III. Studien zur Hermeneutik

Praxis vor allem der westlichen Kirche miteinander verbunden, aber sie sind dennoch voneinander zu unterscheiden. Das Nein der Reformatoren gegen die Bilder richtete sich also ausschliesslich gegen die Bilderverehrung. Die theologische Begründung der Ablehnung der Bilder war bei Luther und bei den Reformierten nicht dieselbe. Zwinglis – und später Calvins – Christologie war grundsätzlich antiochenisch: Beide neigten zu einer Trennung zwischen der menschlichen und der göttlichen Natur Christi. Dadurch wurden bildliche Darstellungen Christi überflüssig, weil die menschliche Natur Christi nicht verehrt werden darf und seine göttliche Natur nicht durch äusserliche Gestalten repräsentiert werden kann.9 Ausserdem war für beide, für Zwingli und für Calvin, das Bilderverbot im Dekalog (Ex 20,4) ein fundamentales Gebot.10 Anders war es bei Luther: Auch er befürwortete – mindestens bis 1525 – das geordnete Entfernen von Bildern aus den Kirchen. Obwohl Bilder für ihn an sich neutral waren, hielt er die Gefahr ihres Missbrauchs, z. B. zur Selbstdarstellung von Stiftern oder für andere fromme Werke, für sehr gross.11 Nach Luther hat aber das zweite Dekaloggebot kein Gewicht, denn es hat den Charakter eines zeremoniellen Gebotes. Es ist deshalb nur für Juden wichtig, ähnlich wie das Sabbatgebot.12 Hinzu kommt, dass Luther immer stärker überzeugt ist vom pädagogischen Wert der Bilder, denn kein Mensch kann auf Anschauung und Bilder, die er sich in seinem Herzen macht, verzichten.13 Nach Hans von Campenhausen wurde diese volks-pädagogische Einsicht unterstützt durch den inkarnatorischen Grundzug von Luthers Christologie: „Gott hat sich zu unserer Natur herabgelassen und begegnet uns im Raum des Sinnlichen und Konkreten, ‚auf dass wir ja nicht klagen möchten, wir könnten ihn nicht finden‘“.14 „Wir arme menschen“, sagt Luther im Sermon von dem Neuen Testament über die Sakramente, „weyl wir in den funff synnen leben“, brauchen äusserliche Zeichen,15 denn „das ist unsers herr Gots Weise alzeit gewest, dass ohren nicht allein horeten, sed etiam oculis viderent“.16 Die theologischen Unterschiede zwischen den Reformatoren sind nicht zu unterschätzen. Sie führten in den lutherischen Kirchen zu einer grundsätzlichen Bejahung der im weitesten Sinn didaktischen Funktion der Bilder. In seinem  9  Hans v. Campenhausen, Die Bilderfrage in der Reformation, in: ders., Tradition und Leben. Kräfte der Kirchengeschichte, Tübingen 1960, 361–407, dort 373. 10 Calvin wendet gegen die lutherische Zählung der Dekaloggebote ein, dass das zweite Gebot dadurch, dass es als blosser Anhang zum ersten Gebot gelte, unsichtbar gemacht werde (Inst II 8,12). 11  Campenhausen, Bilderfrage (o. Anm. 9), 384 f. 12  Martin Luther, Wider die himmlischen Propheten …, WA 18,81 f.; vgl. Campenhausen, Bilderfrage (o. Anm. 9), 386 f. 13  Luther, ebd., WA 18,83. Vgl. ders., Predigt von 1533 über die Höllenfahrt, WA 37,63: Wir können „nichts on bilde dencken und verstehen.“ 14 Campenhausen, Bilderfrage (o. Anm. 9), 397; Lutherzitat aus WA 47, 138. 15  Martin Luther, Sermon von dem Neuen Testament, WA 6,358 f. 16  Martin Luther, Gründonnerstagpredigt über das Abendmahl von 1540, WA 49, 74 f.

20. Textauslegung und Ikonographie

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inkarnationstheologischen Ansatz ist Luther wahrscheinlich letztlich gar nicht so weit von Johannes von Damaskus entfernt. Nur die Konsequenzen, die er in seiner Situation daraus zog bzw. nicht zog, waren andere. Anders war es bei den Reformierten. Hier wurde die Bildlosigkeit zu einem wichtigen theologischen Grundprinzip. Seine Folgen waren m. E. verhängnisvoll. Sie hat wirkungsgeschichtlich dazu beigetragen, dass die reformierten und presbyterianischen Kirchen mehr als andere Konfessionskirchen zu Theologenkirchen wurden und sich nicht nur von den Künstlerinnen und Künstlern, sondern auch von vielen „einfachen“ Menschen entfremdeten. Reformierte und presbyterianische Kirchen wurden oft zu sprach-, lehr‑ und moralorientierten MittelklasseKirchen. In Afrika und teilweise auch in Nordamerika ist das deutlicher sichtbar als bei uns in Europa. Sie wurden zu Kirchen, in denen viel gelehrt, aber wenig erfahren wird. Die Reformation hat sich mit einer zweiten grossen geistesgeschichtlichen Entwicklung verbunden, die man als „Dekontextualisierung der religiösen Bilder“ bezeichnen kann. Tafelbilder mit biblischen Szenen waren ursprünglich z. B. Teil einer Ikonostase und dort Repräsentationen des Göttlichen. Oder sie waren Teil von Kirchenwänden und belehrten dort die des Lesens Unkundigen. Einzelbilder, z. B. des Gekreuzigten, wurden im Mittelalter im Westen zu Andachtsbildern. Sie wurden z. B. in Mönchszellen gebraucht als Gegenüber für Meditation oder Gebet, später auch in Privathäusern von Bürgern. Hans Belting hat in einer eindrücklichen Monographie17 gezeigt, wie der Kontext der Bilder sich im Lauf der Jahrhunderte wandelte: Ihr Kontext war ursprünglich der Gottesdienst und der Unterricht der Kirche, später die private Frömmigkeit von Einzelnen. Die Renaissance war die Zeit, in der die religiöse Wertschätzung der Bilder mehr und mehr durch die ästhetische abgelöst wurde: Eine Madonna von Raffael beispielsweise war weniger ein Gegenstand der Verehrung, als der Bewunderung, denn sie war so grossartig gemalt. So wurden die religiösen Bilder zu dem, was wir heute „Kunst“ nennen: Sie dekorierten die Wände der Paläste reicher Bürger und wurden Teil der Sammlungen von Königen. Heute sind sie Bestandteil von Museen. Wenn wir unter „Kunst“ im Sinne neuzeitlichen westlichen Denkens etwas Ästhetisches verstehen, dessen einziger Sinn es ist, schön zu sein,18 dann gibt es „Kunst“ erst seit dem 16. Jahrhundert. „Kunst“ in diesem Sinn „abstrahiert“ von der gesellschaftlichen Praxis und hat nichts zu tun mit vernünftiger Erkenntnis. Die Reformation hat diese Entwicklung des religiösen Bildes zur „Kunst“ beschleunigt, indem sie die Kirchen 17  Hans Belting, Bild und Kult, München 1990; cf. ders., Das Werk im Kontext, in: H. Belting u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1986, 186–202. 18 Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft ist ein Schlüsseltext für dieses „abstrakte“ Verständnis von Kunst. Vgl. Wolfgang Kemp, Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhethik, in: ders. (Hg.), Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin 2 1992, 12–17.

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III. Studien zur Hermeneutik

von Bildern reinigte. Welche Bedeutung blieb in der aufgeklärten Neuzeit den religiösen Bildern noch als die, „Kunst“ zu sein und von Kennern des Schönen und ihren Geschmacksurteilen beurteilt zu werden? Natürlich ist mit dem Stichwort „Dekontextualisierung des religiösen Bilder“ nur eine Hauptlinie der Entwicklung angedeutet; zahlreiche wichtige Sonderbereiche werden dabei ausgeklammert. Ausgeklammert wird z. B. die grosse Bedeutung, welche die Bibelillustrationen nicht nur für das Luthertum, sondern auch für die Reformierten hatte. Ausgeklammert wird hier auch die grosse Bedeutung, welche biblische Themen und Texte im Werk vieler grosser Maler des 17. und 18. Jahrhunderts gewannen – der im calvinistischen Holland lebende Rembrandt ist dafür wohl das eindrücklichste Beispiel. Seine Bilder waren natürlich keine Kultbilder, sondern religiöse Kunstwerke, aber als solche Ausdruck einer sehr persönlichen, von der Bibel geprägten Frömmigkeit.19

In grossen Zügen ist die Geschichte des religiösen Tafelbildes in Westeuropa die Geschichte einer Dekontextualisierung. Das Entstehen von Bildersammlungen und das ästhetische Bewusstsein, das seit der frühen Neuzeit gleichsam die Norm zu ihrer Betrachtung liefert, gehören zusammen. Hans-Georg Gadamer formuliert pointiert: „Wir machen damit ein jedes Kunstwerk gleichsam zum Bilde; indem wir es aus allen seinen Lebensbezügen und dem Besonderen seiner Zugangsbedingungen ablösen, wird es wie ein Bild in einen Rahmen geschlagen und gleichsam aufgehängt“.20 „Kunst“ wurde zu einem autonomen Lebensbereich, der von Religion in ähnlicher Weise abgelöst ist wie Wissenschaft oder Ökonomie. Für die meisten Menschen im säkularen Westeuropa ist heute das Museum der wichtigste und fast der einzige Ort, wo sie religiösen Bildern begegnen. Das gilt auch für die Bilder in den Kirchen, die zu Museen geworden sind und von Massen von Touristen betrachtet werden. Es ist ausserordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich, Bilder, die in dieser Weise aus ihrem Kontext herausgerissen sind, im Sinne der östlichen Theologie als sichtbare Repräsentationen des unsichtbaren Göttlichen zu erfahren. Die Dekontextualisierung religiöser Bilder ist Teil der Aufspaltung der Lebenswelt des modernen Menschen in autonome Bereiche, welche es so schwierig macht, das Leben mit Gott und Transzendenz zu verbinden. Zu dieser Entwicklung hat die Reformation auch ihr Teil beigetragen.

19 Zum Verständnis von „religiöser Kunst“ vgl. den Aufsatz von Gerd Theissen, Moderne religiöse Kunst. Theologische Ästhetik zwischen theologia gloriae und theologia crucis, EvTh 67 (2007), 84–101. 20  Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 128.

20. Textauslegung und Ikonographie

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III. Zwischenbemerkungen zum Verständnis des Bildes Bevor ich im folgenden Abschnitt der „Bildlichkeit“ nachdenken werde, möchte ich andeuten, wie ich ein „Bild“ verstehe. Wie für Texte, so gibt es auch für Bilder verschiedene Grundkonzeptionen, denen oft auch verschiedene methodische Zugangswege entsprechen.21 Ich möchte mich in dieser Diskussion wenigstens andeutungsweise positionieren: Mir steht eine negativ verstandene platonische Abbildtheorie fern, nach der Bilder nur Nachahmungen der Realität sind und entsprechend „weit entfernt von der Wahrheit“ (Platon, Polit X, 603A). Bilder sind für mich aber auch mehr als Photographien – sie bilden Wirklichkeit nicht nur ab, sondern schaffen sie auch. In gleicher Weise, nur umgekehrt, steht mir eine Konzeption fern, welche in Kunstwerken direkte „richtige Widerspiegelungen des Gesamtprozesses der objektiven Wirklichkeit“ sieht und sie demzufolge nahe bei der Wahrheit ansiedelt, der sie zu dienen haben. So formulierte es der orthodoxe Marxist Georg Lukacs22 in merkwürdiger Nähe zu gewissen Formen eines klassischen christlich-theologischen Bilderverständnisses. Fern steht mir auch das klassische bürgerliche Konzept einer autonomen Ästhetik des Genusses, zu dessen einflussreichen Vätern Immanuel Kant mit seiner Kritik der Urteilskraft gehört. Es spricht Kunstwerken alle „äussern Zwecke“ ab und trennt ästhetische „Geschmacksurteile“ von „Begriffsurteilen“.23 Dieses Konzept der „reinen“ Kunst ist eine Folgeerscheinung der Dekontextualisierung der Kunst in der Neuzeit und löst Kunst sowohl von Wahrheit als auch von ihrem gesellschaftlichen Kontext und ihrer gesellschaftlichen Wirkung völlig ab. Deshalb wurde es im 20. Jh. von vielen, z. B. aus unterschiedlicher Warte von Hans-Georg Gadamer24 und Theodor W. Adorno25 scharf kritisiert. Relativ fern steht mir schliesslich das Konzept der Ikonologie von Erwin Panofsky, weil ich es letztlich nur als historisierendes Konzept verstehen kann: Die auf die Bildbeschreibung und die ikonographische Analyse folgende ikonologische Analyse erfasst den „Gehalt“ bzw. die „eigentliche Bedeutung“ eines Bildes, indem es dieses als Dokument der „Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung“ deutet – und nur als das.26 21 Vgl. den schönen Sammelband von Dieter Henrich / ​Wolfgang Iser (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt 1982. Verschiedene methodische Zugangswege erläutert der Sammelband von Hans Belting u. a. (Hg.), Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin 1986, 147–283. 22  Georg Lukacs, Kunst und objektive Wahrheit, in: Henrich / ​Iser a. a. O. 260–312, dort 280 f., vgl. 282. 23  Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Immanuel Kants Werke V, hg. v. Ernst Cassirer, Berlin 1922, 280 f. 285. 291 f. 297–306. 24 Gadamer, Wahrheit (o. Anm. 20), 1–96. 25 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften VII, Frankfurt 1970, bes. 26 f. 26  Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, 40.

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III. Studien zur Hermeneutik

Positiv suche ich ein Bildkonzept, das Bilder weder von der Gesellschaft, in der sie geschaffen wurden und in der sie wirken, noch von der Frage nach der Wahrheit des in ihnen Dargestellten abschottet. Darüber hinaus suche ich ein Bildkonzept, welches die Frage nach der Besonderheit der „Bildsprache“ stellt. Fruchtbar sind für mich darum rezeptionsästhetische Ansätze, welche die Beziehung zwischen Bild und (realem) Betrachter untersuchen, wie sie etwa von Wolfgang Kemp27 vertreten werden. – Fruchtbar sind für mich auch semiotische Ansätze, sofern sie die semantische und die pragmatische Dimension der Bilder, d. h. die Relation von Darstellung und Dargestelltem und ihre Wirkungsabsicht, ernst nehmen. – Interessant ist für mich der nüchterne Ansatz von Oskar Bätschmann, dessen Interesse den „Bildprozessen“ gilt, d. h. „der spezifischen Produktivität der Bilder“, die für ihn vor der Frage nach ihrer „Bedeutung“ rangiert.28 – Im Blick auf die besondere „Sprache“ der Bilder ist für mich wichtig, was Gottfried Boehm das „ikonische Plus“ eines Bildes nennt, d. h. das, was nur im Bild ausgedrückt werden kann.29 Wichtig ist für mich auch Max Imdahls Konzept der „Ikonik“, das vor allem durch Kompositionsanalyse dasselbe Anliegen verfolgt.30

IV. Sieben Merkmale der „Bildlichkeit“ Was sind nun die besonderen Merkmale der „Sprache“ der Bilder, im Unterschied zur „Sprache“ der Texte? Gottfried Boehm hat dafür den Ausdruck „Bildlichkeit“ geschaffen,31 eine Wortschöpfung, die mindestens dies deutlich macht, dass es sich bei dem, wonach wir fragen, gerade nicht um „Sprache“ handelt. Was sind also die besonderen Merkmale der „Bildlichkeit“? Es geht mir dabei um die besonderen Chancen und Stärken des Interpretationsmediums „Bild“ im Unterschied zum Interpretationsmedium „Sprache“. 1. Mein erster Punkt betrifft den Raum als Grunddimension der „Bildlichkeit“. Narrative Texte erzählen eine Folge von Ereignissen nacheinander; ein Maler dagegen füllt mit seinen bildlichen Ausdrucksmitteln einen gegebenen Raum. In diesem Raum ist „Simultaneität“ von zeitlichen Abfolgen möglich  – ein 27 Kemp, Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhethik, in: ders. (Hg.), Der Betrachter ist im Bild (o. Anm. 18), 7–29; ders., Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz, in: Belting, Kunstgeschichte (o. Anm. 21), 203–221. 28  Oskar Bätschmann, Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Die Auslegung von Bildern, Darmstadt 52001, bes. 131–155, Zitat 155. 29  Gottfried Boehm, Zu einer Hermeneutik des Bildes, in: Hans-Georg Gadamer u. a. (Hg.), Seminar. Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt 1978, 444–471, dort 462. 30 Max Imdahl, Giotto. Arenafresken, Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 60, München 1988, 97. 31  Boehm, Zu einer Hermeneutik des Bildes, in: Gadamer u. a. (Hg.), Seminar. Die Hermeneutik und die Wissenschaften, 465.

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Abbildung 1: Kreuzigung. Rabbulacodex fol. 13r; Ostyrien um 586

wichtiges und in der christlichen Ikonographie häufig und in verschiedenster Weise benutztes Ausdrucksmittel der Bildlichkeit. Man kann dabei zwischen „Simultaneität in Bildern“ und „Simultaneität von Bildern“ unterscheiden. „Simultaneität“ von Bildern realisieren wir oft erst, wenn wir sie in ihrem ursprünglichen räumlichen Kontext betrachten, also nicht im Museum, wo sie oft völlig dekontextualisiert ausgestellt werden. Auf einem Altar beispielsweise sind oft Kreuzigungs‑ und Auferstehungsbilder Jesu nebeneinander und simultan sichtbar – ein theologisch ausserordentlich wichtiger Sachverhalt. Oft sind auch Geburt oder andere Szenen aus dem Leben Jesu in diese Simultaneität eingeschlossen. Duccio’s Maestà, deren auseinandergerissene Fragmente wir heute im Museo dell’ Opera del Duomo in Siena bewundern, ist dafür ein gutes Beispiel. Noch weiter reicht die Simultaneität, wenn ihr der ganze Kirchenraum dienstbar gemacht wird, z. B. dann, wenn an gegenüberstehenden Kirchenwänden alt‑ und neutestamentliche Typen einander entsprechen. Ein schönes Beispiel für Simultaneität in einem Bild ist die Kreuzigungsdarstellung des berühmten syrischen Rabulacodexes aus dem 6. Jahrhundert (Abb. 1).32 In diesem Bild ist alles simultan: Maria und der Lieblingsjünger; die Soldaten, welche um Jesu Kleider würfeln; die drei Frauen, welche von ferne 32

 Bild: Hans-Ruedi Weber, Und kreuzigten ihn, Göttingen / F ​ reiburg 21982, 7.

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III. Studien zur Hermeneutik

zusehen; der Spötter, der Jesus den Essigschwamm darreicht; der hier zum ersten Mal Longinus genannte Soldat, der mit seiner Lanze in Jesu Seite sticht. Alles ist gleichzeitig. Noch mehr: Ereignisse, die vor dem Tod Jesu geschahen und solche, die nach seinem Tod geschahen,33 sind simultan. Ist der gekreuzigte Jesus, der hier dargestellt ist, tot oder lebendig? Man kann und muss diese Alternative nicht entscheiden, denn der Gekreuzigte, in aufrechter Haltung, mit offenen Augen und im Purpurkleid des Herrschers, ist der Auferstandene. Dies vermag nur die Simultaneität der Bildsprache auszudrücken; sprachlich wäre das gar nicht möglich. 2. Mein zweiter Punkt betrifft die Konkretheit der Bildsprache. Die Konkretheit eines Bildes ist sehr wirkungsstark; sie bringt den dargestellten Gegenstand und die dargestellten Personen in eine überraschende Nähe zu den Betrachter / i​nnen. Gesprochene oder geschriebene Sprache konzeptualisiert. Man bezeichnet etwas als „Baum“ oder als „Gesicht“ und umreisst damit die Idee oder den Begriff eines Baumes oder eines Gesichtes. Ein Maler kann nicht Ideen oder Begriffe malen. Er muss konkret entweder eine Eiche, eine Fichte oder einen Olivenbaum malen. Oder er muss sich zwischen einem sympathischen oder einem hässlichen Gesicht mit einer grossen oder kleinen Nase entscheiden. Ein für mich sehr eindrückliches Beispiel solcher Konkretheit ist das in Abb. 2 dargestellte aus dunklem Holz geschnitzte Gesicht des Dornengekrönten eines unbekannten afrikanischen Künstlers aus dem 20. Jahrhundert.34 Man kann es zu beschreiben versuchen: „Schönheit“, „Trauer“, „Liebe“, „Mitleid“ oder „Würde“ sind Worte, die einem hier einfallen. Aber wie unendlich farblos sind sie im Vergleich mit diesem konkreten Gesicht! Dieser Christus kann berührt werden, er blickt uns in die Augen, wir spüren sein Leid. Dieser Christus ist den Betrachter / i​nnen und Betrachtern nahe, viel näher als alle Worte. Er spricht zu unseren Herzen. Sein Gesicht ist einmalig und einzigartig, im Unterschied zu einer Beschreibung eines Gesichtes, die niemals einmalig ist. Für uns Europäer, die wir als Weisse diesen Christus betrachten, kommt noch ein Moment der Verfremdung hinzu: Dieser Christus ist ein Schwarzer. Allein schon durch die Wahl eines dunkeln Holzes hat der Künstler dies ausgedrückt. Von Verfremdung haben wir später zu sprechen. 3. Ganzheitliche Rezeption, mein dritter Punkt, ist damit verwandt. Bilder erfordern eine ganzheitliche Rezeption, nicht nur durch den Intellekt, sondern auch durch das Gefühl. Bildrezeption bewegt sich sehr oft auf der Ebene „primärer Identifikation“ (der Ausdruck stammt vom Literaturtheoretiker Hans Robert 33  Der Lanzenstich! Ich gehe davon aus, dass die Basis der Darstellung die johanneische Passionsgeschichte ist, wo dieser nach dem Tod Jesu stattfindet (Joh 19,32–35), und nicht die matthäische, wo wichtige Handschriften eine Kurzfassung dieser joh Episode vor dem Tod Jesu (hinter 27,49) einfügen. 34  Bild: F.  Buechner / ​L.  Boltin, The Faces of Jesus, New York 1989, 172.

20. Textauslegung und Ikonographie

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Abbildung 2: Unbekannter afrikanischer Künstler: Christus mit der Dornenkrone, 20. Jh.

Jauss). „Bewunderung, Erschütterung, Mitweinen, Mitlachen“ gehören nach Jauss zur Bildrezeption.35 Alles das hat mit der Konkretheit der dargestellten menschlichen Körper zu tun: Ein Künstler kann sie nie konzeptualisieren, sondern muss sie immer als schöne, leidende, abstossende usw. Körper darstellen. Bilder stimulieren Affekte. Die Holzskulptur des dorngekrönten Christus des unbekannten afrikanischen Künstlers machte das exemplarisch deutlich. Ein zweites Beispiel ist der gekreuzigte Christus des brasilianischen Künstlers Guido Rocha von 1975 (Abb. 3).36 Der Gekreuzigte ist wiederum ein Farbiger, einer der Ärmsten der Armen, hungrig, fast nur Haut und Knochen. Sein Schrei drückt Leiden und Protest aus. Die Betrachter / i​nnen werden schockiert und bewegt sein. Sie müssen reagieren: Dieser Christus schreit nach Engagement und Handeln! Rochas Christus macht beispielhaft deutlich, dass zur „primären Identifikation“ auch die Handlungsebene gehört. Wir sind hier weit entfernt 35 Hans Robert Jauss, Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanzer Universitätsreden 59, Konstanz 1972, 38. 36  Bild: Weber, Und kreuzigten (o. Anm. 32), 41. Die Statue befindet sich im „All Africa Conference of Churches Training Center“ in Nairobi.

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III. Studien zur Hermeneutik

Abbildung 3: Guido Rocha, Der gemarterte Christus, 1975

von einem Kunstwerk, das sich einer rein ästhetischen Betrachtungsweise erschliesst. In der westeuropäischen Ikonographie bietet das Spätmittelalter besonders zahlreiche und eindrückliche Beispiele für primäre Identifikationen. Ich denke hier an die vielen Passionsdarstellungen, die dem Umkreis der compassioFrömmigkeit entstammen. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist der bekannte Crucifixus am Westlettner des Doms von Naumburg, eines der eindrücklichsten Werke der frühen Gotik. Ich möchte diese Skulptur nicht interpretieren, sondern nur darauf hinweisen, wie sie „rezipiert“ werden will: Ihr Platz ist der Eingang zum West-Chor. Alle, die den West-Chor betreten, müssen unter den ausgebreiteten Armen des gekreuzigten Christus hindurchgehen und seinen Segen empfangen. Skulptur und Kirchenraum bilden eine Einheit. Der Gekreuzigte kann in sehr konkreter, ja körperlicher Weise erfahren werden, nämlich

20. Textauslegung und Ikonographie

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Abbildung 4: Edvard Munch, Golgotha, 1900

mit den Füssen. – Kein Text kann eine so ganzheitliche Rezeption ermöglichen, welche Intellekt, Gefühle und Körper einschliesst, wie solche Gemälde und Skulpturen. 4. Als Viertes möchte ich auf die Offenheit der Bildsprache hinweisen. Die Rezeptionsästhetik hat die Offenheit von Texten neu entdeckt. Es ist kein Zufall, dass sie von vielen Kunstwissenschaftlern übernommen wurde.37 „Leerstellen“ sind bei Bildern und Texten verschieden verteilt. Bilder sind zwar konkret und müssen deshalb vieles festlegen, was Texte offen lassen, z. B. das konkrete Aussehen eines Gesichtes, die Farbe eines Kleides oder die räumliche Position einer Person. In anderer Hinsicht aber sind Bilder sehr offen. Etwa Farben widersetzen sich meist einer sprachlichen Interpretation. Oft macht ein Bild seinen Betrachtern Rollenangebote, die ich im Anschluss an den „impliziten Leser“ den „impliziten Betrachter“ nenne. Ein schönes Beispiel dafür gibt das Kreuzigungsbild von Eduard Munch, entstanden um 1900 (Abb. 4)38: Nicht der Gekreuzigte, sondern die vielen Menschen unter dem Kreuz dominieren dieses Bild. Sie repräsentieren Möglichkeiten des „impliziten Betrachters“, und zwar sehr verschiedene. Diese bilden Identifikations- bzw. Nicht-Identifikationsmöglichkeiten für den aussenstehenden Betrachter. Welche dieser ergreifen soll, Vgl. den Sammelband von Kemp, Betrachter (o. Anm. 27). Bild: Jaroslav J. Pelikan, The Illustrated Jesus through the Centuries, New Haven, 1997, 104. 37 38

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III. Studien zur Hermeneutik

Abbildung 5: Giotto, Judaskuss, Arenakapelle Padova, um 1303–1305

deutet der Künstler nur ganz indirekt an. Das Bild öffnet durch seine Bildwelt dem Betrachter einen „Spielraum menschlicher Freiheit“.39 5. Das fünfte mir wichtige Merkmal der Bildlichkeit ist die ikonische Dichte. Ich illustriere sie am bekannten Fresko Giottos vom Judaskuss in der Arenakapelle in Padua (Abb. 5)40 und folge dabei der Interpretation von Max Imdahl.41 Jesus und Judas stehen in der Mitte. Die Hand des Priesters zur Rechten, die Waffe in der Hand des Dieners zur Linken und alle Fackeln weisen auf ihre Köpfe. Jesus  Jauss, Apologie (o. Anm. 35), 39. Luciano Bellosi, Giotto. Das malerische Gesamtwerk, Firenze 1981, 47. 41 Max Imdahl, Giotto. Arenafresken, Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, Theorie und Geschichte der Literatur und schönen Künste 60, München 1980, 93–95; ders., Ikonik. Bilder und ihre Anschauung, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 310–313. 39

40 Bild:

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ist die dominierende Figur; er überragt alle anderen an Grösse. Aber er ist fast unsichtbar, weil Judas ihn mit seinem Mantel zudeckt. Es ist, als ob Judas ihn mit seinem Mantel verschlingen wollte. Trotzdem bleibt Jesus die dominierende Figur: Er blickt Judas an. Judas muss innehalten, kurz bevor er die Lippen Jesu erreicht. Jesus ist also absolut machtlos, umschlungen von Judas. Zugleich ist er absolut mächtig, sodass er Meister über Judas bleibt und als koordinierende Referenzgestalt des ganzen Bildes fungiert. Imdahl folgert: Diese Bedeutungsdichte ist nur in einem Bild möglich. Die ikonische Dichte kann ausdrücken, was begriffliche Sprache höchstens in Paradoxen ausdrücken kann. Ich stimme Imdahl zu und füge hinzu: Auch narrative Sprache kann m. E. eine ähnliche Dichte erreichen. Das zeigt etwa die johanneische Passionsgeschichte: Die akademische Debatte, ob die johanneische Passionsgeschichte primär ein Ausdruck johanneischer Inkarnationstheologie ist oder ob sie primär die durch sein Leiden hindurch aufleuchtende göttliche Herrlichkeit Jesu zeigt, bringt auf eine begriffliche Alternative, was sich nicht auseinanderreissen lässt. Bei Erzählungen ist es ähnlich wie bei Bildern: Es gibt dominierende Farben, aber sie schliessen ihre Kontraste ein, nicht aus. 6. Das sechste Merkmal von Bildlichkeit ist Gleichzeitigkeit. Ich meine damit nicht die Simultaneität innerhalb eines Bildes oder die Simultaneität von Bildern,42 sondern die Gleichzeitigkeit der Bildzeit mit der des Betrachters. In der byzantinischen Malerei, in der in platonischer Tradition die ewigen himmlischen Urbilder durch sichtbare Abbilder repräsentiert werden, ist Gleichzeitigkeit kein Problem. In der westlichen Ikonographie dagegen, wo Bilder sehr oft biblische Geschichten darstellen, musste sie explizit gemacht werden. Dies geschah auf verschiedene Weise, z. B. bei Kreuzigungsdarstellungen dadurch, dass die Kreuzigung vor dem Hintergrund einer mittelalterlichen Stadt und ihrer Bewohner / ​innen gemalt wurde.43 In modernen Passionsbildern ist Gleichzeitigkeit fast selbstverständlich. Ich wähle als Beispiel den Prozess vor dem Synedrium im Passionszyklus des Schweizer Malers Willy Fries; er wurde während des zweiten Weltkriegs gemalt und befindet sich heute in Köln (Abb. 6).44 Der Prozess Jesu findet nicht in Jerusalem im Jahre 30 statt, sondern – sagen wir – im Jahre 1940 auf dem Dorfplatz eines Appenzeller Dorfes. Dominiert wird er durch die Kirche. Die Messe ist soeben zu Ende; der Priester – oder gar Bischof? – verlässt die palastartige klassizistische Kirche, die den schönen Dorfplatz mit den traditionellen Häusern beherrscht. Da begegnet ihm Jesus, der von zwei behelmten, aber nur halbwegs uniformierten „Soldaten“ geführt wird, der eine mit roter Hose, der andere mit 42 Vgl.

o. Nr. 2. Elisabeth Roth, Der volkreiche Kalvarienberg in Literatur und Bildkunst des Spätmittelalters, Philologische Studien und Quellen 2, Berlin, 21967. 44  Bild: Willy Fries, Passion, Zürich 1976, 43. 43 Vgl.

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III. Studien zur Hermeneutik

Abbildung 6: Willy Fries, das Verhör vor dem Synhedrium, zwischen 1939 und 1945

brauner Jacke – vermutlich selbsternannte Angehörige einer Bürgerwehr, einer roten oder braunen. Die Szene ist von einer erschreckenden Beiläufigkeit. Wen interessiert sie? Sicher nicht den Gut-Gekleideten, der sich in der rechten unteren Bildecke eine Pfeife anzündet. Auch nicht die Mehrzahl der Kirchgänger / i​nnen, höchstens ein paar Gaffer. Jesus wird verurteilt, vom Vertreter des Priestertums von heute, einem Vertreter der Kirche. Gleichzeitigkeit ist auch ein Grundmoment biblischer Erzählungen. Viele biblische Geschichten, darunter die Evangelien nach Matthäus, Markus und Johannes, sind „inklusive“ Geschichten. Sie haben ihre Wirklichkeit auf zwei Ebenen, in der Vergangenheitsebene der erzählten Zeit und in der Gegenwartsebene des Lebens der Hörerinnen und Hörer.45 Die zwei Ebenen liegen in45

 Vgl. Luz, Matthäus 1–7 (o. Anm. 3), 44–47.

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einander, sodass jede biblische Erzählung, z. B. eine Wundergeschichte oder ein ganzes Evangelium, zugleich eine Erzählung über das Leben der Hörerinnen und Hörer ist. Dasselbe gilt für viele ikonographische Darstellungen biblischer Geschichten vom Mittelalter bis heute. Begriffliche Sprache kann diese Gleichzeitigkeit nur beschreiben. Die Transformation biblischer Erzählungen in Bilder jedoch ermöglicht denselben Effekt. Beide „Medien“, erzählende Sprache und Bild, sind verschieden, aber sie funktionieren in ähnlicher Weise. Deshalb stellt die Transformation biblischer Erzählungen in Bilder eine grossartige Möglichkeit dar, ihre Wirksamkeit zu erfahren. 7. Verfremdung. Neuzeitliche Bilder seit der Renaissance leben von der „inventio“, der „Erfindung“ des Künstlers, bzw. dem „disegno interno“, seiner „Idee“. Der Künstler prägt seine neue Sicht den traditionellen Stoffen auf, zu welchen auch die biblischen Texte gehören.46 Das zunehmende Gewicht der „inventio“ geht parallel mit der zunehmenden Emanzipation der Künstler von ihren traditionellen Stoffen und der zunehmenden Autonomie der Kunst. Der Künstler sieht den traditionellen Stoff neu. Für die Betrachter / i​nnen bringt das einen Verfremdungseffekt mit sich. Indem sie die ihnen bekannten biblischen Geschichten in Bildern betrachten, die sich der „Erfindung“ eines Künstlers verdanken, gewinnen sie einen neuen Blick auf die alte Geschichte. Bilder, welche eine fremde Sicht auf eine vertraute Geschichte in dichter Weise vermitteln, haben eine unerhört starke Kraft. Ein schönes Beispiel für solche Verfremdung ist der Kopf des Judas in einer Entwurfskizze zum Abendmahl von Leonardo da Vinci (Abb 7).47 Sein Gesicht ist sympathisch, individuell, nachdenklich und zugleich voller Wille und Entscheidungskraft. Kein einziges der typischen damaligen Merkmale des Judas ist hier zu sehen: keine riesige Nase, keine wulstigen Lippen, kein hässlicher Bart, kein Judenhut. Für Leonardos Zeitgenossen, welche ihre traditionellen Vorurteile gegen Juden hatten, muss dieses individuelle, ja schöne Gesicht eine totale Überraschung bedeutet haben. Es ist die Konkretheit der Bildsprache, welche diese Überraschung ermöglicht. „Bildsprache“ kann sehr stark, innovativ oder verfremdend sein und so mehr bewirken als gesprochene Sprache. In ganz anderer Weise geschieht Verfremdung in dem Abb. 8 wiedergegebenen Bild aus dem Zyklus „scandalum crucis“ des katholischen Künstlers Herbert Falken von 1969:48 Ein rätselhaftes, beunruhigendes Doppelkreuz. Sogar Jesus ist hier unerkennbar geworden und hat seine Identität verloren. Sein 46  Bätschmann, Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik (o. Anm. 28), 92–96; vgl. auch Werner Busch, Die Autonomie der Kunst, in: ders. (Hg.), Funkkolleg Kunst I, München 1987, bes. 241–244. 47 Bild: Bernhard Dieckmann, Judas als Sündenbock, München 1991, 135. 48  Bild: Herbert Falken, Christusbilder, hg. von Philipp Boonen, Aachener Beiträge zu Pastoral‑ und Bildungsfragen 14, Aachen 1986, 51.

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III. Studien zur Hermeneutik

Abbildung 7: Leonardo da Vinci, Kopf des Judas, Entwurfskizze zum Abendmahl, um 1495

schockierendes, irritierendes Lachen ist ein Ausdruck der Verrücktheit nicht nur der Kreuzigung, sondern der ganzen Welt. Dem entspricht, dass religiöse Bilder aus dem 20. Jahrhundert oft nur noch die zum Irrsinn gewordene Autonomie und Einsamkeit des modernen Menschen darstellen können, aber kaum mehr den tragenden, hilfreichen Grund des Göttlichen. Die Ablösung der Kunst von jedem Transzendenzbezug im zwanzigsten Jahrhundert hat das Kreuz zum Ausdruck der totalen Abwesenheit und Unerkennbarkeit Gottes werden lassen. Einen grösseren Gegensatz zu den sanften, ja süssen Bildern des gekreuzigten Heilands, welche das 19. Jh. bestimmten, als dieses Bild kann man sich kaum denken.49 Der Erkenntnisgewinn durch die Verfremdung besteht hier im Schock 49  In der Terminologie von Gerd Theissen, Moderne religiöse Kunst (o. Anm. 19) könnte man sagen: Während etwa bei Caspar David Friedrich die Dimension eine „Ästhetik der

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Abbildung 8: Herbert Falken, Lachendes Doppelkreuz. Nr. 3 aus dem Zyklus „ scandalum crucis“, 1969

darüber, dass jeder Sinn, gerade auch der Sinn traditioneller christlicher Weltdeutung, am Irrsinn des Kreuzes zerbricht. Verfremdung ist insbesondere in moderner Kunst ein wichtiges Merkmal der Bildlichkeit. Für ein heutiges Verstehen biblischer Erzählungen ist das sehr wichtig: Sie, die durch Gewöhnung und christliche Sozialisationsreste zum Längst-Vertrauten und Immer-schon-Bekannten geworden sind, werden durch Bilder wirksam verfremdet. Insofern haben Bilder gegenüber altvertrauten biblischen Texten eine wichtige Erkenntnisfunktion. theologia crucis“ hinter der Schönheit der Bilder gleichsam untergründig versteckt ist, fragt man sich bei Herbert Falken, ob hier überhaupt noch von einer „Ästhetik einer Theologie des Kreuzes“ gesprochen werden kann, oder ob man nicht besser  – wie bei vielen Bildern des 20. Jahrhunderts, nur noch von einer „Ästhetik des Kreuzes“ sprechen sollte.

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III. Studien zur Hermeneutik

V. Ein Plädoyer für das Verstehen der Bibel im Medium des Bildes Ich kehre zurück zum Verlust des Bildes in unseren Kirchen des Wortes. Was ich zur besonderen Kraft und den besonderen Möglichkeiten der „Bildlichkeit“ gesagt habe, möchte ich als Plädoyer dafür verstanden wissen, dass Bilder eine ganz ausgezeichnete Möglichkeit darstellen, das, was insbesondere biblische Erzählungen bewegt, in zugleich neuer und mindestens zum Teil ausgesprochen textnaher Weise zu interpretieren. Um des Reichtums der Bibel willen war es fatal, Bilder aus der Kirche zu verbannen. Ich erinnere an die beiden hauptsächlichen theologischen Gründe für Bildern: Der eine war das Argument Gregors: Die Bilder sind die Bibel derjenigen, die nicht lesen können. Diesen Grund möchte ich erweitern: Bilder können die Bibel gerade für diejenigen, die lesen können, vertiefen, ergänzen und bereichern. Bilder können die Engführungen intellektueller Bibelauslegungen aufsprengen und zu einer ganzheitlichen Bibelrezeption führen. Bilder können biblische Kernaussagen verdichten und gleichsam „aufs Bild bringen“. Bilder können stumm gewordene biblische Texte verfremden und einen neuen Blick auf sie schenken. Bilder erweitern die Arbeit des Lesers an den biblischen Texten, indem sie die Augen in diese Arbeit einbeziehen. Kurz, das Argument Gregors gilt heute vielleicht für die Gebildeten, ja Verkopften mehr als für die Ungebildeten! Mehr Schwierigkeiten bereitet der zweite theologische Grund für die Bilder, der vor allem für die Ostkirche tragend war und ist: Bilder sind Repräsentationen des Göttlichen im Sichtbaren, ausgezeichnete Darstellungsmittel der Inkarnation. Lässt sich das für uns heute noch nachvollziehen? Für die meisten westlichen, in der Tradition der Reformation stehenden Christinnen und Christen ist ein Zugang zum Bild als Kultbild wohl unmöglich: Jede Form der Verehrung von Bildern ist uns fremd geworden. Aber wie steht es mit der Möglichkeit, Bilder als Darstellungen – oder vielleicht auch im Sinne einer „Ästhetik der Kreuzestheologie“ als Verhüllungen – einer transzendenten Wirklichkeit wahrzunehmen? Auch das scheint sehr schwierig zu sein: Viel ist in unserer westeuropäischen Geschichte passiert, was kaum rückgängig zu machen ist. Die Bilder haben sich wohl definitiv aus ihrem religiösen Kontext gelöst. „Kunst“ ist irreversibel zu einem autonomen Bereich menschlichen Schaffens geworden. Ihre Gegenstände haben sich vermenschlicht: Nicht mehr das Göttliche, sondern das Menschliche und die Natur steht in ihrer Ganzheit oder in ihrer Zerbrochenheit im Vordergrund, und – in nichtgegenständlicher Kunst ausschliesslich – die „inventio“ des Künstlers. Dennoch denke ich, dass auch die Dimension der Transzendenz uns nicht völlig verschlossen ist. Mehr als subjektive Aussagen lassen sich darüber aber wohl kaum machen. Vielleicht ist es nicht ganz zufällig, dass die beiden eindrücklichsten Beispiele dafür, die ich kenne, nicht dem westlich-christlichen Kulturkreis entstammen. Das erste ist die weisse Kreuzigung von Marc Chagall

20. Textauslegung und Ikonographie

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Abbildung 9: Marc Chagall, Weisse Kreuzigung, 1938

(Abb. 9).50 Sie stellt den Gekreuzigten hinein in ein weissrussisches Dorf vor dem zweiten Weltkrieg. Soldaten brechen ein; die Bewohner versuchen sich in einem Schiff über den Fluss zu retten. Die Synagoge brennt; ein Jude rettet eine Torahrolle. In der Mitte steht der Gekreuzigte in einem von oben kommenden Lichtstrahl. Es ist – hebräisch steht es geschrieben – „Jesus der Nazoräer, der König der Juden“. Er trägt einen jüdischen Gebetsschal als Lendenschurz und blickt auf den siebenarmigen Leuchter zu seinen Füssen. Für mich wird dieses

50

 Bild: Hans-Martin Rotermund, Marc Chagall und die Bibel, Lahr 1970, 123.

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Abbildung 10: Engelbert Mveng, Kreuzigung, 2. Hälfte 20. Jh.

Bild zu einer Inkarnation von Gottes Licht im Juden Jesus in der tiefsten Finsternis der Vernichtung Israels in der Nazizeit. Das zweite, völlig andere Beispiel stammt von einem afrikanischen Künstler, den ich noch kennen lernen durfte, der nicht nur Maler, sondern auch ein bedeutender Patristiker war, von Engelbert Mveng. Es befindet sich in der Kapelle des Libermann-College in Duala, Kamerun (Abb. 10).51 Es stellt den 51

 Bild: Weber, Und kreuzigten (o. Anm. 32), 63.

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gekreuzigten Auferstandenen dar, mit offenen Augen wie in der frühmittelalterlichen Ikonographie, den gekreuzigten Kosmokrator mit zum Himmel ausgereckten Armen, um die Welt zu segnen. Er segnet die Märtyrer von Uganda, die neben dem Kreuz stehen und es mit ihren Händen berühren. Die Farben sind symbolisch: Rot ist die Farbe des Lebens, weiss die Farbe des Todes und schwarz die Farbe des Leidens. Dieses Bild ist nicht dekontextualisiert: Es ist Teil eines Altars, von dem her in der Eucharistie der Segen des Auferstandenen empfangen wird. Ein Eucharistiegottesdienst in dieser Kapelle kann so etwas wie ein „Gesamtkunstwerk“ werden, eine Feier des Segens, der vom inkarnierten Gekreuzigten ausgeht. In beiden Fällen wird deutlich, dass wir fremde Augen und eine verfremdende Imagination der Kreuzigung brauchen, um etwas von dem wieder sehen zu lernen, was wir Christen in Europa zu sehen weithin verlernt haben.

21. Postmoderne Bibelinterpretation? Interpretation der Bibel in der Postmoderne1 I. Einleitung „Unglücklicherweise ist ‚postmodern‘ heute ein Passepartoutbegriff, mit dem man fast alles machen kann“. So hat es Umberto Eco einmal bissig formuliert.2 Und ein anderer Analytiker, der englische Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton, stellt fest, die Etikette „postmodern“ decke alles ab „from punk rock to the death of metanarratives“.3 Ich muss also definieren, was ich unter „postmodern“ verstehe, um nicht der Beliebigkeit des „anything goes“ zu verfallen. Den Begriff „postmodern“ gebrauche ich in zwei verschiedenen, allerdings verwandten Weisen: Die erste ist die Weise, wie Jean-François Lyotard in seinem frühen programmatischen Essay „La condition postmoderne“4 den Begriff gebraucht hat: Für ihn war „postmodern“ die Bezeichnung einer Epoche der europäischen Kulturgeschichte. Sie begann gegen das Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, etwa gleichzeitig mit dem Ende des Wiederaufbaus Europas nach dem zweiten Weltkrieg.5 Die „Postmoderne“ ist charakterisiert durch das Ende der allgemein akzeptierten grossen, kollektive Entscheidungen legitimierenden „Meta-Erzählungen“, welche Europa bis dahin sukzessive oder manchmal auch gleichzeitig bestimmt hatten. Nach dem Zusammenbruch der christlichen „MetaErzählung“, die auf der Kirche und der Bibel basierte, waren es die „Meta-Erzählungen“ der Aufklärung und des Marxismus, in denen es je auf ihre Weise um Emanzipation und Befreiung der Menschheit ging, dann die idealistische „Meta-Erzählung“ von der Selbstentfaltung des Geistes in der Geschichte und 1  Mit diesem Aufsatz, den ich am 23. April 2008 an der Universität Fribourg vorgetragen habe, möchte ich der katholisch-theologischen Fakultät Fribourg für die Verleihung des Dr. h.c. danken. In der Gemeinschaft des Lernens und Lehrens, des Diskutierens und Hörens und in der Gemeinschaft des Feierns in Fribourg habe ich ein Stück Einheit der Kirche erfahren dürfen. 2  Umberto Eco, Postmodernismus, Ironie und Vergnügen, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 21994, 75. 3 Terry Eagleton, The Illusions of Postmodernism, Oxford 1996, 21. 4  Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979. 5  Ebd. 11–17.

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andere. Lyotard interpretierte deren Ende in einem positiven Sinn als Befreiung von der Herrschaft tendenziell totalitärer Ideologien. „Postmodern“ im Sinn des frühen Lyotard ist also eine Epochenbezeichnung der europäischen Kulturgeschichte. Sie ist die Bezeichnung einer „condition“, einer „Situation“. Die „postmoderne Situation“ ist gekennzeichnet durch Pluralismus, Diversität, Kollaps von allgemeinverbindlichen Paradigmen und Abwesenheit eines allgemeinverbindlichen Konsenses.6 In diesem Sinn, als Epochenbezeichnung, habe ich den Begriff im Untertitel meines Vortrags, „Bibelinterpretation in der Postmoderne“, gebraucht. Meine zweite Weise, den Begriff „postmodern“ zu brauchen, ist eine systematische. Ich folge hier der Definition, die Terry Eagleton in seinem Essay „After Theory“ gibt: „By ‚postmodern‘, I mean, roughly speaking, the contemporary movement of thought which rejects totalities, universal values, grand historical narratives, solid foundations to human existence and the possibility of objective knowledge. Postmodernism is sceptical of truth, unity and progress, opposes what it sees as elitism in culture, tends towards cultural relativism, and celebrates pluralism, discontinuity and heterogeneity“.7 In dieser Weise verstanden wurde der Begriff auch mit Bibelinterpretationen verbunden, vor allem in Nordamerika; und in dieser Weise verstehe ich ihn im Haupttitel meines Vortrages „Postmoderne Bibelinterpretation“ – allerdings mit einem Fragezeichen versehen. Nordamerikanische Bibelwissenschaft hat eine Neigung, trendig zu sein und neue Zugangsweisen zur Bibel mit programmatischen „labels“ zu verbinden. Seit den späten achtziger Jahren erschienen eine Reihe von Büchern, welche „postmoderne“ Bibelinterpretationen propagierten.8 Es ist nicht leicht, zu sagen, was sie darunter verstanden. Einige ihrer Vertreter propagierten radikale Leser-Theorien,9 andere von Jacques Derrida inspirierte Wege der Dekonstruktion,10 wieder andere post-koloniale Zugänge zur Bibel11   6 In diesem Sinn spricht John J. Collins, The Bible after Babel. Historical Criticism in a Postmodern Age, Minneapolis 2005, 131 von einer „postmodern situation“.  7  Terry Eagleton, After Theory, New York 2003, 13 note 1.  8  Z. B. Andrew K. M. Adam, What is Postmodern Biblical Criticism?, Guides to Biblical Scholarship, Minneapolis 1995; ders. (Hg.), Handbook of Postmodern Biblical Interpretation, St. Louis 2000; ders. (Hg.), Postmodern Interpretations of the Bible. A Reader, St. Louis 2001; George Aichele / ​Elizabeth A. Castelli (Hg.), The Postmodern Bible, New Haven / ​ London 1995; Stephen D. Moore, Poststructuralism and the New Testament, Minneapolis 1990; John Caputo, What would Jesus Deconstruct?, Grand Rapids 2007; vgl. auch Godwin Lämmermann (Hg.), Bibeldidaktik in der Postmoderne (FS K. Wegenast), Stuttgart 1999.  9  Edgar V.  McKnight, Post-modern Use of the Bible. The Emergence of Reader-Oriented Criticism, Nashville 1988. 10  Vgl. Catherine Keller, Eyeing the Apocalypse, in: Adam, Reader (o. Anm. 8), 253– 277. Mehr von Derrida inspirierte Bibelinterpretationen in: Yvonne Sherwood / ​Kevin Hart (Hg.), Derrida and Religion. Other Testaments, New York / L ​ ondon 2005, 159–260. 11 Rasiah S. Sugirtharajah, Son(s) Behaving Badly. The Prodigal in Foreign Hands, in: Adam, Reader (o. Anm. 8), 195–206 will „postcolonial interpretation“ nicht einfach unter „postmodernen“ Lesungen der Bibel subsumiert wissen. Nur ein politischer „postmodernism

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und einige schlicht überraschende und unerwartete Verbindungen der biblischen Texte mit neuen Kontexten oder neuen Intertexten.12 Im Ganzen ist es nicht Jean-François Lyotard, sondern eher Jacques Derrida, der „postmoderne“ Bibelinterpreten inspiriert hat. Ihr Anliegen war weniger ihr Unglaube gegenüber den dominierenden, die europäische Gesellschaft legitimierenden grossen „Meta-Erzählungen“, sondern in einem viel engeren Sinn ihr Wunsch, herrschende Paradigmen der Bibelwissenschaft in Frage zu stellen, z. B. die historisch kritische Forschung.13 „Postmoderne“ Bibelinterpreten fordern die Vorherrschaft der etablierten westlichen Gelehrten in der Bibelwissenschaft heraus, und dies in einer lockeren, vielfältigen und manchmal spielerischen Weise, ohne selbst ein einheitliches und gemeinsames methodisches, hermeneutisches oder politisches Programm zu haben. Nach Andrew K. M. Adam ist postmoderne Bibelkritik „antifoundational, antitotalizing and demystifying“.14 Unter allen Umständen erlaubt und fordert solche Bibelkritik eine unbegrenzte Vielfalt von Bedeutungen eines Textes. Für mich bleibt sehr unklar, was solche postmoderne Bibelkritik eigentlich „entfundamentalisieren“, „enttotalisieren“ und „entmystifizieren“ möchte, und aus was für Gründen. Aber vielleicht bin ich immer noch „prä-postmodern“, wenn ich nach einem einheitlichen Denominator eines Begriffs frage. In den folgenden Abschnitten meines Aufsatzes möchte ich vier „Entwicklungslinien“ skizzieren, welche zu dem führten, was ich heute als „postmoderne Bibelinterpretationen“ wahrnehme. Es sind dies: 1. die Auflösung15 des Autors, 2. die Auflösung des Lesers, of revolt“, der sich gegen „classism, racism and sexism“ wende, ist für ihn akzeptabel, aber nicht andere Formen postmoderner Interpretation. Sie nennt er „postmodernism of complicity“ (195). Eine hermeneutisch interessante Begrenzung postmoderner Beliebigkeit durch normative Setzungen! 12 Z. B. John D. Crossan, The Power of the Dog, in: Adam, Reader (o. Anm. 8), 187–193; Stephen E. Fowl, Conceptions of Martyrdom in Philippians and Endo’s Silence, in: Adam, Reader (o. Anm. 8), 243–252. 13  Im Buch von Aichele / ​Castelli, Postmodern Bible, (o. Anm. 8) ist fast alles ausser historische Kritik „postmodern“, nämlich reader-response criticism, strukturalische und narratologische Analyse, poststructuralist criticism, rhetorical criticism, psychoanalytische Exegese, feministische und „womanistische“ Kritik, ideologische Kritik. Collins, Bible after Babel (Anm. 6), 53–130 schliesst in seine Analyse auch befreiungstheologische, postkoloniale und feministische Ansätze ein. 14  Adam, What is postmodern (o. Anm. 8), 5. 15  „Auflösung“ meint mehr als „Relativierung“ oder „Pluralisierung“ oder „Depotenzierung“ (in dem Sinn, dass der Autor, der Leser, der Text selbst, oder der Referent aus seiner die Auslegung eines Textes beherrschenden Stellung entthront wird). Gegen all dies würde ich mich nicht wehren. Ich fürchte vielmehr, dass die vier skizzierten Entwicklungslinien in letzter Konsequenz gerade zur Auflösung von Autor, Leser, Text und Referent führen könnten, was jede Textlektüre m. E. sinnlos machen würde. Ich rufe „Halt“, um dies zu verhindern und eine produktive „Relativierung“ von Autor, Leser, Text und Referenten zu ermöglichen und damit auch eine „Pluralisierung“ der Lektüren, welche in einen Dialog führt.

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3. die Auflösung des Texts und 4. die Auflösung des letzten Referenten, Gott Alle vier Entwicklungslinien werden sehr skizzenhaft sein. Alle vier haben zwei Punkte gemeinsam: Erstens möchte ich zeigen, dass diese vier „Auflösungen“ eine sehr lange Vorgeschichte haben, nicht nur in der Zeit der aufgeklärten Moderne, sondern bereits in den vormodernen Zeiten der Herrschaft der christlichen „Meta-Erzählungen“. Meine These ist, dass Lektüre der Bibel gegenüber den grossen „MetaErzählungen“ immer schon dekonstruktiv und subversiv wirkte, sogar wenn die Bibel zu ihrer Legitimierung gebraucht wurde. Zweitens haben alle meine vier „Auflösungen“ gemeinsam, dass ich an ihrem Ende rufen werde: „Halt! Aufhören! So kann es nicht weitergehen!“ Es gibt einen Punkt, wo die Auflösung für ihre Vertreter selbst destruktiv wird und wo sie Grundlagen zerstört, welche für das Leben unserer Gesellschaften wesentlich sind. Natürlich ist mir klar, dass meine Forderung, aufzuhören, Bestandteil meiner eigenen „kleinen Meta-Erzählung“ ist, denn ohne „Meta-Erzählungen“ hätte ich keine andere Wahl als die des „anything goes“. Und dies wird mich zurückführen zu Jean-François Lyotards Sicht des postmodernen Europa – dies im sechsten und letzten Abschnitt meines Aufsatzes. Bevor ich mit meinen Überlegungen beginne, sind einige Zwischenbe­mer­ kun­gen fällig, mit denen ich mein Anliegen interpretieren möchte. 1. „Halt! Aufhören!“ klingt sehr apodiktisch. Ich bin kein Feind der Postmoderne, sondern betrachte sie als mindestens in Europa unausweichlichen Schritt in (!) der Moderne. Zur Postmoderne gehört die Erkenntnis, dass jeder Versuch, sie zu bewerten, vom urteilenden Subjekt und seinen Erfahrungen mitgeprägt ist. Ein Mensch, welcher dem Herrschaftsbereich der marxistischen bzw. „real-sozialistischen“ Meta-Erzählung und der damit verbundenen gesetzlichen Moral entronnen ist und in einer westlichen Gesellschaft individuelle Freiheit entdeckte, wie der polnische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman,16 denkt von seinem Erfahrungshintergrund her notwendigerweise anders über die Postmoderne als ein Mensch, der, wie ich, immer in Westeuropa gelebt hat und von der Erfahrung geprägt ist, wie mit der zunehmenden Auflösung und Utilitarisierung von ethischen und religiösen Werten im Namen der individuellen Freiheit auch diese individuelle Freiheit selbst zunehmend banal und bedeutungslos wurde. Darum möchte ich mein „Halt“ nicht als apodiktische Feststellung, sondern als dringende Bitte um einen Dialog verstanden wissen. 2. „Halt! Aufhören!“ klingt pathetisch. Ich kann mein Pathos nicht verleugnen, sondern nur seinen Grund offenlegen. Es ist die Grundfrage eines protestantischen Theologen, die mich umtreibt, nämlich die Frage: Ist heute, in einer Zeit fast grenzenloser Pluralität und in einer Gesellschaft, die fast 16

 Zygmunt Bauman, Ansichten der Postmoderne, Hamburg / B ​ erlin 1995, bes. 189–220.

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grenzenlose individuelle Freiheit gewährt und postuliert, eine auf die Bibel gegründete Kirche überhaupt noch möglich? Oder kann die Kirche nichts Anderes mehr sein als ein „Haus der Beliebigkeiten“? Aber dann hätte sie sich – in einer offenen Gesellschaft wie der unseren – gänzlich überfüssig gemacht. Was ist die besondere Verkündigung der Kirche in unserer postmodernen Gesellschaft? Das ist das Problem eines protestantischen Exegeten, der betroffen beobachtet, wie sehr gerade die Lektüre der Bibel die scheinbar eindeutige Grundlage, auf der seine Kirche ruhte, aufgelöst hat.17 Die römisch-katholische Kirche ist gegenüber der Postmoderne resistenter.18 Darüber zu urteilen, ob das gut für sie ist, ist nicht meine Sache. 3. Ich werde in diesem Aufsatz öfters von „meiner … kleinen Meta-Erzählung“ sprechen. Natürlich ist diese Formulierung paradox, mehr noch: ein Oxymoron, denn eine „Meta-Erzählung“ ist ja nie „klein“, sondern per definitionem gross. Eine „Meta-Erzählung“ ist auch nie eine persönliche Erzählung eines Einzelnen, sondern immer eine kollektive, welche eine Epoche oder eine Kultur bestimmt. Ich formuliere aber bewusst so, um auf mein Anliegen aufmerksam zu machen. Zu den „kleinen Meta-Erzählungen“, von denen ich sprechen werde, gehören die biblischen Erzählungen, Gebete und theologischen Versuche, von Gott zu reden. Zu ihnen gehören ebenso meine eigenen theologischen Versuche, oder diejenigen anderer Theologen und Theologinnen. Sie sind „Meta“-Erzählungen“, denn sie reden von Gott, dem Herrn und Schöpfer der Welt und seinem Anspruch. Aber sie sind „klein“, denn es sind menschliche Erzählungen und Versuche. Sie sind nie dominant, und nicht mit menschlichen Leitungs‑ oder Herrschaftsansprüchen verbunden, sondern sie stehen immer neben und nie über anderen Erzählungen, weil sie immer nur Fragmente und nie umfassende Systeme sind. „Erzählung“, dieser von Lyotard geborgte Begriff, steht immer in Spannung zu „Meta-“: Eine „Erzählung“ will und kann nie einzige, allein wahre oder abschliessende Erzählung sein.

II. Die Auflösung des Autors Für die altprotestantische Orthodoxie war Gott der letzte, eigentliche Autor der Schrift. Diese Position vertritt die erste protestantische Hermeneutik der Bibel von Matthias Flacius Illyricus (1567).19 Die menschlichen Autoren der Bibel  Vgl. Ulrich Luz, Was heisst „Sola Scriptura“ heute?, EvTh 57 (1997), 28–35.  Vgl. das Interview zu „Dominus Jesus“ mit Joseph Kardinal Ratzinger, Es scheint mir absurd, was unsere lutherischen Freunde jetzt wollen, Frankfurter Allgemeine Zeitung 22. Sept. 2000, 51 f. 19 Matthias Flacius Illyricus, Clavis Scripturae Sacrae, Basel 1567; deutsch lateinische Teilausgabe: De ratione cognoscendi sacras litteras, hg. von Lutz Geldsetzer, Düsseldorf 1968; dort z. B. 11 Nr. 47–51: Ebd. 31 sagt Flacius: „Spiritus S(anctus) est auctor simul & explicator Scripturae“. 17 18

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galten nur als „Diener und Helfer“ (administri et amanuenses) Gottes, der, wie Johannes Cocceius von den Propheten sagte, sie „führte und lenkte“, sodass sie, „nicht aus eigenem Willen, sondern getrieben vom Heiligen Geist, so wie sie gesprochen, auch geschrieben haben“.20 In dieser Weise war „jede Schrift von Gott inspiriert“ (2 Tim 3,16). Dergestalt „vereinheitlicht“ funktionierte die Bibel als ganze als Basis der orthodoxen protestantischen „Meta-Erzählung“ im Zeitalter der Orthodoxie. Die Leser hatten sich selbst der Autorität Gottes, des letzten Autors der Schrift, zu unterwerfen. – Allein im Gebälk dieses grossartiggeschlossenen Konzeptes sass von Anfang an der Wurm. Es gab nicht nur eine „Meta-Erzählung“, sondern mehrere, nämlich unterschiedliche konfessionelle; und es gab nicht nur eine Lesung der Bibel, sondern mehrere, welche auf die verschiedenen „Meta-Erzählungen“ ausgerichtet waren. Der hermeneutische „Bürgerkrieg um den absoluten Text“, wie Odo Marquard ihn nannte,21 hatte bereits begonnen. Die Differenzen zwischen den verschiedenen konfessionellen „Meta-Erzählungen“ der Konfessionskirchen waren unüberwindbar. Die Auflösung des einen, absoluten, göttlichen Autors der Schrift durch ihre menschlichen Interpreten war im Gang. In der Zeit der Aufklärung ersetzten die menschlichen Autoren der Bibel Gott als ihren letzten Autor. Aber der menschliche Autor blieb in der europäischen Hermeneutik eine Art letzte Autorität für die Interpretation jedes Textes  – Schleiermachers Hermeneutik ist ein Beispiel dafür.22 Das Prinzip der Autorität des Autors als entscheidender Instanz für die Interpretation von Texten blieb bis ins 20. Jahrhundert wirksam  – nicht nur für die Interpretation der Bibel, sondern für europäische Literaturwissenschaft überhaupt. Michel Foucault sieht hier  – ich denke mit Recht  – ein theologisches Erbe, das die ganze europäische Literaturwissenschaft bestimmte.23 Aber schon früh begann aufgeklärte historische Bibelwissenschaft dieses Grundprinzip zu unterminieren. Die kritische Bibelwissenschaft „dekonstruierte“ die „Meta-Erzählung“ vom Autor als Garant einer richtigen Interpretation eines Textes – und dies in verschiedener Weise. Die Bibelwissenschaftler des 18. und 19. Jahrhunderts entdeckten beispielsweise, dass bei der Mehrzahl der biblischen Texte der Autor nicht einmal bekannt 20 Johannes Cocceius, Summa Theologica ex Scripturis repetita, Amsteldami 1665, IV 39 f, zitiert nach Heinrich Heppe / ​Ernst Bizer, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Neukirchen 1935, 18. 21  Odo Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Nachdruck Stuttgart 1995, 117–146, Zitat 127. 22  Vgl. Friedrich D. E. Schleiermacher, Hermeneutik, hg. von Heinz Kimmerle, Heidelberg 1959, 88, These 19: Verstehen heisst, „dass man sich auf der objectiven und der subjectiven Seite dem Urheber gleichstellt“. 23 Michel Foucault, Was ist ein Autor? in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt 1988, 20; (frz. Original: Qu’est-ce qu’un auteur? in: Dits et Ecrits I, 1954–1969, Paris 1994, 789–812, dort 801.

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ist – sie sind anonym und wurden oft erst später einem Autor zugeschrieben, der zu ihrem genre passte. Die individuellen Autoren von mindestens drei unserer vier kanonischen Evangelien sind offenbar so unwichtig, dass sie im Text gar nicht erwähnt werden müssen. Die einzige wichtige Ausnahme, wo der biblische Autor allenfalls zum Garanten des Sinns werden könnte, sind die authentischen Briefe des Apostels Paulus. Aber gerade sie wurden zum Ausgangspunkt eines Prozesses von pseudonymer Epistolographie und von Brief-Zuschreibungen. Die Bibelwissenschaft, die dies erkannte, hat durch ihre historischen Hypothesen wesentlich dazu beigetragen, die Frage nach dem Autor zu unterlaufen und zu dekonstruieren. Dies geschah noch auf andere Weise: Die Quellenkritik kam auf und ersetzte in manchen Fällen den einen menschlichen Autor eines biblischen Textes durch viele menschliche Autoren: Autoren vor dem Autor, nämlich die Autoren der Traditionen und Quellen, und Autoren nach dem Autor, nämlich die Kopisten der Texte, die in vielen Fällen Autoren neuer Versionen waren. Eine Theologiestudentin oder ein Theologiestudent, die diachrone Exegese ernst nehmen möchte, gerät so in Schwierigkeiten: Welcher Autor wird nun zur Basis für ihre Predigt: Jesus, seine mündlichen Tradenten, die Logienquelle Q, Markus, Matthäus oder gar Thomas? „Unsinn!“, werden einige sagen  – das alles sind ja nur hypothetische Konstruktionen! Damit stehen wir aber nur vor einem neuen Problem: Man entdeckte, dass alle Autoren, die wir als Garanten für den Sinn unserer Texte suchten, in Wirklichkeit nur unsere hypothetischen Konstruktionen und Autorbilder sind. Vor allem die leserorientierte Exegese des 20. Jahrhunderts („reader-response“) hat uns gelehrt, Autoren als Autorbilder und durch die Texte gespiegelte „implizite Autoren“ zu verstehen. Ein nächster Schritt in der Dekonstruktion der modernen europäischen Gestalt des Autors24 geschah durch die Einführung der Intertextualität in die literaturwissenschaftliche Diskussion. Für Roland Barthes ist jeder Text ein offener Text, „un tissu des citations, issue de mille foyers de la culture“.25 Sobald er aber mit einem Autor verbunden wird, wird er „geschlossen“, „erklärt“ und bekommt durch den Autor eine definitive Bedeutung. Dies ist für Barthes wie „Theologie“, während umgekehrt gilt: „En refusant d’assigner au texte … un sens ultime, libère une activité … contre-théologique“. Letztlich bedeutet die 24  Dass die Gestalt des Autors eine europäische, kulturgeschichtlich bedingte neuzeitliche Konstruktion ist, hat Roland Barthes schlüssig formuliert: La mort de l’auteur, in: ders., Essais critiques IV: Le bruissement de la langue, Paris 1964, 61; „L’auteur est un personnage moderne, produit … par notre societé dans la mesure où, au sortir du Moyen Age, avec l’empirisme anglais, le rationalisme français, et la foi personelle de la Réforme, elle a découvert le prestige de l’individu“. 25 Barthes, La mort 65. Ähnlich sieht das Jacques Derrida in seiner Analyse der Heideggerschen Philosophie: „Le signe et la divinité ont le même lieu et le même temps de naissance. L’époque du signe est essentiellemente théologique“ (De la grammatologie, Paris 1967, 25).

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Verweigerung eines geschlossenen Sinnes „refuser Dieu et ses hypostases, la raison, la science, la loi“.26 Lassen Sie mich rufen: „Halt!“ Ich rufe nicht einfach, weil ich Theologe bin und deshalb „vor-postmodern“ und altmodisch. Vor vierzig Jahren hat der Literaturwissenschaftler Eric D. Hirsch in seinem Buch „Validity in Interpretation“ vorgeschlagen, zwischen „meaning“ und „significance“ eines Textes zu unterscheiden. „Meaning“ besteht nach ihm in dem, „what the author meant by his use of a particular sign sequence“; „significance, on the other hand, names a relationship between that meaning and a person“, nämlich zwischen Text und Leser.27 Wenn ich diese Unterscheidung von Eric Hirsch aufnehme, ist mein Hauptziel nicht die Herstellung einer „gültigen“ Interpretation – dieses Ziel ist wahrscheinlich illusionär. Mein Ziel ist viel bescheidener: Ich bin an der Alterität eines Textes interessiert.28 Jede Interpretation eines Textes ist ein Dialog mit der Stimme eines anderen Menschen und mehr als ein Monolog.29 Wenn wir uns nicht ernsthaft um die Alterität eines Textes bemühen, werden wir in ihm nur unsere eigene Stimme hören. Und wenn wir nicht so gut wie möglich versuchen, den historischen, sozialen und kulturellen Kontext eines Textes zu rekonstruieren, zu dem er ursprünglich gehörte, so wird er unkontrolliert in unseren eigenen Kontext hineinsprechen, und das bedeutet: verzerrt und verbogen. Um der Alterität eines Textes willen und um des Dialogs mit Stimmen willen, die von unserer eigenen Stimme verschieden sind, sollten wir so ernsthaft wie möglich – auch historisch! – nach dem „impliziten Autor“ fragen, weil der „implizite Autor“, d. h. die Summe aller auktorialen Lenkungsstrategien eines Textes, der „Schutzpatron aller gemässigten Auslegungen“ ist.30 Wir haben einen solchen Schutzpatron nötig, wenn wir an einem Dialog nicht nur mit dem Text interessiert sind, sondern auch mit anderen Menschen, welche die gleichen Texte interpretieren. Das Prinzip des Dialogs ist ein Eckstein meiner eigenen „kleinen Meta-Erzählung“, und um dieses Prinzips willen rief ich „Halt!“ Dieser Eckstein ist nicht direkt ein theologischer Eckstein, aber er hat sehr viel mit Theologie zu tun.

26 Barthes,

La mort 66.  Eric D. Hirsch, Validity in Interpretation, New Haven 1967, 8. 28  Mein Anliegen ist also ein ähnliches wie das von Collins, Bible after Babel (o. Anm. 6), 152–158 im Anschluss an Emmanuel Lévinas formulierte: das Entdecken des „Gesichtes des Anderen“ im Vorgang des Lesens und Interpretierens. 29  Hier bestehen nach Collins, Bible after Babel (o. Anm. 6), 152 auch Berührungspunkte zu Jacques Derrida, dessen erste Regel „respect for the other, that is, for his right to difference, in his relation to others, but also in his relation to himself“ sei (Like the Sound of the Sea 154, zitiert nach Collins a. a. O.) Ich habe allerdings eine gewisse Mühe, diesen Respekt in Derridas Dekonstruktionen zu finden. 30  Moisés Mayordomo-Marín, Den Anfang hören, FRLANT 180, Göttingen 1998, 87. 27

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III. Die Auflösung des Lesers Der ideale Leser der Reformatoren war ein gläubiger und gehorsamer Leser: Die Leser der Bibel werden und sollen erkennen, dass die Bibel von Gott kommt. „Weil die Kraft des Geistes uns erleuchtet, nicht aber aufgrund des eigenen Urteils oder desjenigen anderer Leute“, kommen die Leser der Bibel nach Calvin zur Gewissheit, dass in der Bibel „die unbezweifelbare Gewalt göttlicher Majestät waltet und wirkt – und diese Kraft zieht und entzündet uns zum Gehorsam“.31 Alle menschlichen Überlegungen, welche die Majestät, Wahrheit und Zuverlässigkeit der Bibel stützen, sind sekundär. Es liegt hier ein klares und in sich stimmiges Verständnis des Lesers vor. Aber wiederum enthält es m. E. den Keim zu seiner Auflösung in sich. Er liegt in der Tatsache, dass nach den Reformatoren die Bibel von allen gelesen werden kann und muss. Die sich selbst imponierende Kraft der Bibel mit ihrer Klarheit und Durchsichtigkeit wurde von verschiedenen Leserinnen und Lesern verschieden gelesen. Durch die Reformation entstand nicht der Leser, sondern es entstanden viele und verschiedene Leserinnen und Leser.32 Im 18. Jahrhundert wurden die einzelnen Leser wichtiger. Ich wähle als Beispiel die Rolle des Lesers in pietistischer Hermeneutik. Der Pietismus legte Gewicht auf persönliche Frömmigkeit und auf die Befreiung von Laien von der alles kontrollierenden Herrschaft der Theologen. Er führte zu einer vertieften Reflexion der Rolle des Bibellesers bzw. der Bibelleserin. Nach August Hermann Francke ist das Lesen eines biblischen Textes ein Akt der persönlichen Frömmigkeit, der Demut und des Gebets. Er schreibt: „Du must dich vor Gott erniedrigen als ein Kind und alles dein Bibel-Lesen in demüthiger Erkäntniß deiner Untüchtigkeit mit gantz ernstlichem und inniglichem Gebeth und Seufftzen zu Gott anfangen … Möchtest du so einfältig und niedrig werden und bleiben als ein kleines unmündiges Kindlein“.33 Eine eigenartige Ambivalenz steckt in diesem Wunsch! Der Leser muss ganz demütig sich hingeben an den Text wie ein Kind, und dennoch ist seine Bibellektüre ein bewusster und reflektierter Akt eines erwachsenen Lesers. Er verschwindet gleichsam völlig gegenüber dem Text, und dennoch tritt er gerade so dem Text als aktives lesendes Subjekt gegenüber. Lektüre der Bibel setzt Bekehrung voraus und ist selbst ein Akt fortdauernder Bekehrung. Konsequenterweise wird die praktische Applikation des Textes auf das eigene Leben34 ein wichtiger Teil der Lektüre. Aber wiederum  Johannes Calvin, Institutio I 7,5.  Es ist entlarvend, dass Calvin bereits im übernächsten Kapitel seiner Institutio (I 9) zu einer grossen Polemik gegen die „Enthusiasten“ ansetzt, welche nach seiner Meinung die Bibel im Namen des Geistes verwerfen. Aber was waren diese sog. Enthusiasten, wenn nicht gläubige Leser der Bibel? 33 August Hermann Francke, Christus der Kern Heiliger Schrifft (1702), in: Erhard Peschke (Hg.), August Hermann Francke, Werke in Auswahl, Berlin 1969, 235, 34  Vgl. Johann Jacob Rambach, Institutiones Hermeneuticae Sacrae, Jena 1743. 31 32

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III. Studien zur Hermeneutik

zeigt sich dieselbe Ambivalenz: Gerade in der Applikation des Textes auf das eigene Leben gewinnt der Leser bzw. die Leserin einen offenen Raum dem Text gegenüber, den sie oder er durch sein eigenes Leben subjektiv ausfüllen kann. Durch den Pietismus entstand bzw. wuchs persönliches und individuelles Lesen der Bibel. Ich mache einen Sprung und komme zur leserbezogenen Auslegung des 20. Jahrhunderts. Durch den Akt des Lesens geschieht nicht nur eine Wiederbelebung oder eine „performance“ des Textes, sondern er wird nach gewissen Theorien sogar neu geschaffen. Der in ihnen vorausgesetzte Leser ist ein idealer Leser. Er muss z. B. „informiert“35 oder „kompetent“36 sein. Aber auch hier entsteht eine eigenartige Ambivalenz, welche die Theorie unterminiert: Sie entsteht dadurch, dass die wirklichen Leser eines Textes den von der Theorie postulierten idealen Lesern in der Regel wenig oder gar nicht entsprechen. Es ist erstaunlich, wie sehr der „reader-response-criticism“ auf die von den Texten vorgeformte ideale Leserrolle fixiert war und wie wenig er sich für die wirklichen Leser von Texten interessiert hat.37 Wer sind der wirkliche Leser oder die wirkliche Leserin? Zum Beispiel ein Produkt der jeweiligen Interpretationsgemeinschaften, denen sie angehören, und deren Prämissen, Vorurteile und „Brillen“ sie in der Regel selbstverständlich übernehmen. Oder psychologisch ein Bündel von Wünschen, Sehnsüchten, Vorurteilen und Widersprüchen. Soziologisch das Produkt ihrer Familie, ihrer Kultur, ihrer Klasse, ihrer sozialen Situation. Sie sind also ein Hohlraum, welcher ihre Bildung, ihre Biographie und ihr kulturelles Wissen widerhallen lässt. Andrew K. M. Adam schreibt: „Paradoxically, we are not even identical to ourselves. Our supposed identities are a composite of countless different identities.“38 Leser sind – nach Jacques Derrida – nicht ein logos-zentriertes stabiles Ego, sondern ein „Limited inc.“, das endlose fremde Phrasen und Fragmente wiederholt und erklingen lässt.39 Kurz: eine empirische Untersuchung der Identität des wirklichen Lesers scheint die ideale Identität des vom reader-response postulierten Lesers zu dekonstruieren. Einmal mehr möchte ich rufen: „Halt!“ Wenn es keine Identität eines Lesers gibt, gibt es auch keine Möglichkeit von Verantwortung. Wenn es keine Möglichkeit von Verantwortung gibt, gibt es auch keine Möglichkeit einer gerechten Gesellschaft. Wenn Lektüre von Texten nicht in irgendeiner Weise in den Dienst von so etwas wie einer gerechten Gesellschaft im weitesten Sinn des Wortes gestellt werden kann, ist sie nur lustfördernd oder langweilig. Nach den biblischen Texten, die wir lesen, gibt es aber eine Verantwortung, und zwar gegen Stanley Fish, Is There a Text in This Class?, Cambridge Mass. 1980, 48–50.  Jonathan Culler, Structuralist Poetics, Ithaca 1975, 124–130. 37 Dies ist eine wichtige Einsicht von Adam, What is postmodern (o. Anm. 8), 18. 38 Adam a. a. O. 30. 39  Vgl. Jacques Derrida Limited inc a b c …, in: ders., Limited inc., Paris 1990, bes. 63–76. 35 36

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über Gott. Es gibt eine menschliche Identität, aber nicht eine logos-zentrierte Identität, sondern eine geschenkte Identität, wiederum durch Gott. Biblische Texte tragen also ihre eigenen Fragmente und Anregungen zum menschlichen Identitäts-Diskurs bei.

IV. Die Auflösung des Textes Im inspirierten Text der altprotestantischen Orthodoxie waren alle Buchstaben der Bibel, bis zum letzten Jota und Häkchen, heilig und unantastbar. Der heilige Text garantierte sowohl historische, als auch normative Wahrheit. Natürlich bedeutete dies eine Einladung an die Exegeten, jedes Jota und Häkchen sehr sorgfältig zu untersuchen – was konnten sie Besseres tun, wenn diese so wichtige Träger von Gottes ewiger Wahrheit waren? Es ist dieses Konzept des heiligen Textes, welches die Theologen zu ihrem genauen Studium führte, nicht in einem Geist der Kritik, sondern in einem Geist der Verehrung und des Respekts. Es war gerade die Heiligkeit des biblischen Textes, welche eine detaillierte Exegese erforderlich machte, welche letztlich zur Dekonstruktion seiner Heiligkeit und der durch ihn legitimierten christlichen „Meta-Erzählung“ führte. Die Dekonstruktion des biblischen Textes in der Moderne geschah auf drei Ebenen. Die erste ist die historische. Textkritik zeigte, dass der „Urtext“ für immer verschwunden ist. In der frühesten Periode der handschriftlichen Überlieferung, im zweiten Jahrhundert, sah kaum ein Abschreiber eine Notwendigkeit, den Text genau in seinem originalen Wortlaut zu bewahren – der Text war frei und Varianten gab es reichlich. Textkritik zeigte, dass jeder Text ein interpretierter Text ist. Abschreiber waren auch Interpreten, welche ihre Spuren im Text hinterliessen. Die historische Kritik vermittelte uns Einsichten in den Produktionsprozess der Texte. Sowohl die Geschichte Israels als auch die Geschichte Jesu wurden immer wieder neu erzählt. Aus mündlich oder schriftlich überlieferten Geschichten entstanden neue mündliche oder schriftliche Geschichten. An die Stelle der historischen Wahrheit biblischer Erzählungen trat der Einblick in ihren Überlieferungsprozess. Im Falle der Frühgeschichte Israels ist es sozusagen unmöglich zu sagen, was am Anfang dieses Erzählprozesses stand – und sogar wenn wir es sagen könnten, wäre es bedeutungslos, denn die Bedeutung liegt jeweils in den Erzählungen selbst. Im Fall der Geschichte Jesu ist es nicht völlig unmöglich zu sagen, was am Anfang des Erzählprozesses geschehen war, aber auch hier liegt die Bedeutung in den Erzählungen. Alle diese Erzählungen sind nicht vereinheitlicht: Es ist vielmehr wichtig, dass sowohl im Fall der Geschichte Israels als auch im Fall der Geschichte Jesu nicht eine vereinheitlichte Erzählung, sondern unterschiedliche und differente Erzählungen kanonisiert wurden. „Wort Gottes“ waren während Jahrhunderten eine Vielfalt

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von unterschiedlichen menschlichen Erzählungen, welche zu neuen Erzählungen anregten, auch nach ihrer Kanonisierung.40 Die Rezeptionsgeschichte ist die dritte Ebene der Auflösung des Textes in der Moderne. Rezeptionsgeschichte dokumentiert die durch den „reader response“ ermöglichten und verständlich gemachten unterschiedlichen Lesungen biblischer Texte. Sie nimmt ernst, dass wir nicht einfach Erben der biblischen Texte sind, sondern Erben der biblischen Texte, wie sie in unseren Kirchen rezipiert worden sind. Was wir heute Rezeptionsgeschichte nennen, war grundlegend für das katholische Verständnis der Tradition und für das östlich-orthodoxe Verständnis der Bibel als eines vor allem in der Liturgie der Kirche lebendigen Buches. Hans-Georg Gadamer hat durch sein Konzept der Wirkungsgeschichte, verstanden als in der Gegenwart wirksame Geschichte,41 zu verdeutlichen versucht, was „Aus-der-Vergangenheit-Leben“ heisst. Nun bedeutet allerdings das von Gadamer gemeinte wirkungsgeschichtlich reflektierte Leben-aus-der-Vergangenheit gerade nicht ein Auseinanderfallen des Textes in einen ursprünglichen Text einerseits und unterschiedliche Textrezeptionen andererseits. Zu dieser Auflösung der Ganzheit des Textes kam es erst durch die historische Betrachtung in der Neuzeit, welche zwischen dem ursprünglichen Text und seinen verschiedenen Rezeptionen unterschied und heutige Bibelleserinnen vor die Qual der Wahl stellte. An die Stelle des biblischen Textes tritt dann z. B. der katholisch oder protestantisch ausgelegte Text, der Text wie Tertullian oder wie Maldonat ihn sah etc. Die letzte Ebene der Auflösung des Textes ist schliesslich die intertextuelle Ebene. Ich kehre nochmals zu Roland Barthes zurück, den ich bereits früher zitierte. Für ihn gilt: „Tout texte est un intertexte; autres textes sont présent en lui, à des niveaux variables, sous des formes plus ou moins reconnaissables: les textes de la culture antérieure et ceux de la culture environnante; tout text est un tissu nouveau de citations révolues … un champ général de formules anonymes, don’t l’origine est rarement repérable, de citations inconscientes ou automatiques, données sans guillemets“.42 Der Leser eines Textes ist gleichsam die Resonanzkammer für fast das Ganze der menschlichen Kultur. Die meisten der in einem Leser resonierenden intertextuellen Assoziationen sind ihm selbst 40 Collins, Bible after Babel (o. Anm. 6), 137 spricht pointiert von einem „shift from ‚history to story‘“. 41  Der Ausdruck „Wirkungsgeschichte“ enthält beide Momente, nämlich das der „Geschichte der Wirkungen“ (englisch: history of effects) und dasjenige der „wirkungsvollen Geschichte“ (englisch: effective history). Dem Anliegen Gadamers, der Wirkungsgeschichte nie als „selbständige Hilfsdisziplin der Geisteswissenschaften“ verstanden wissen wollte  – so wird Rezeptionsgeschichte weithin getrieben! – sondern viel mehr an der „wirkungsgeschichtlichen Verflechtung, in der das historische Bewusstsein … steht“, interessiert war (Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, 284 f), entspricht eher das zweite. 42  Roland Barthes, art. texte, Encyclopaedia Universalis Bd. 22, Paris 1990, 370–374, dort 372.

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unbewusst. Insofern sagt jeder Text viel mehr als seinem Autor bewusst ist; er ist weniger einheitlich und widerspruchsvoller als der Autor es haben möchte und wirkt dementsprechend oft auf sehr unerwartete und gar nicht beabsichtigte Art und Weise. Dies ist der Grund, warum viele Texte zu einer Dekonstruktion im Stile Derridas einladen. Wiederum möchte ich rufen: „Halt!“ Auch wenn wir zugeben, dass unsere biblischen Texte allen Anstrengungen der Textkritiker zum Trotz keine Originale sind, und auch wenn wir zugeben, dass es keine Texte gibt welche nicht von verschiedensten Leserinnen oder kirchlichen Traditionen rezipiert wurden, und auch wenn wir zugeben, dass die biblischen Texte keine isolierten Texte sind, sondern Echos vielfältigster Intertexte: Die christlichen Kirchen haben nun einmal entschieden, dass diese besonderen biblischen Texte ihre primären Referenztexte und Dialogpartner sind, zu denen sie immer wieder zurückkehren wollen. Es sind besondere Dialogpartner, obwohl durch sie viele Intertexte klingen. Es sind erkennbare Texte, obwohl sie oft, wie z. B. die Psalmen bei der Psalmenrezitation in manchen Liturgien, ganz unerkennbar werden. Der Dialog mit diesen Texten ist eines der Kennzeichen einer ganz besonderen christlichen Identität. Wenn wir das Gegenüber dieser Texte auflösen, kann es leicht passieren, dass wir auch unsere besondere christliche Identität auflösen. Robert Morgan hat es drastisch formuliert: „A Bible that can mean anything means nothing“.43 Eine solche Bibel kann keine Identität stiften.

V. Die Auflösung des letzten Referenten, Gottes Im thomistischen Hauptstrom der mittelalterlichen Theologie war die Frage der Existenz Gottes nicht eine Frage des Glaubens, sondern eine Frage der Vernunft.44 Unter den Gottesbeweisen des Thomas ist für mich in diesem Zusammenhang derjenige von der „ersten Ursache“ am wichtigsten, der vom Aristotelischen Konzept der Identität von „Sein“ und „Wahrheit“45 ausgeht: Ea quae sunt maxime vera, sunt et maxime entia („was im höchsten Grad wahr ist, ist auch im höchsten Grad seiend“). Aus den unterschiedlichen Graden von Wahrheit und Falschheit, die wir bei den seienden Dingen feststellen können, ist zu schliessen, dass es etwas gibt, „was direkt und im höchsten Grad wahr ist“ (quod est simpliciter et maxime verum). Das muss zugleich das im höchsten Grad Seiende sein (maxime ens), welches wir Gott nennen.46 Ich zitiere diesen Gottesbeweis, weil die realistische Position des Thomas sowohl in der Ontologie als  John Barton / ​Robert Morgan, Biblical Interpretation, Oxford 1988, 13. v. Aquino, Summa Contra Gentiles I 12 § 72–80, (= Ausgabe Taurini / R ​ omae: Marietti, Bd. II 1961, 15 f) 45  Aristoteles, Met II 1 f = 993a–994b. 46  Thomas v. Aquino a. a. O. I 13 § 114 (= 20). 43

44 Thomas

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auch in der Erkenntnistheorie das umgekehrte Extrem gegenüber der Negation jeder Möglichkeit eines letzten Seins und einer letzten Wahrheit in der Philosophie der Dekonstruktion zu sein scheint. Für die Reformatoren gründete die Gewissheit Gottes nicht mehr auf der Vernunft, sondern auf dem Wort der Bibel47 und dem Glauben,48 also nicht mehr auf Aristotelischer Philosophie,49 sondern auf der Erfahrung der göttlichen Gnade.50 Dies ging Hand in Hand mit einer gewissen Verschiebung vom Sein zur Existenz und von der Vernunft zum Glauben, welcher sich auf das Wort der Schrift gründete. Die blosse Existenz Gottes wurde zum abstrakten Theorem der philosophischen Spekulation.51 Allein das Wesen und das Handeln Gottes, und das heisst: allein seine Liebe, seine Heilstaten und seine Gnade zählten. Wir beobachten also eine Verlagerung zu einem stärker subjektorientierten Verständnis Gottes und des menschlichen Lebens. Man kann die Neuzeit im Ganzen durch die zunehmende Distanz gegenüber dem Primat der Realität und der Ontologie und die zunehmende Hinwendung zum Primat des menschlichen Selbstbewusstseins und der Erkenntnistheorie charakterisieren. Die Reformation bedeutet auf diesem Weg in die Neuzeit einen ersten Schritt. Allerdings einen ganz eigenen, denn nach reformatorischem Verständnis ist das menschliche Subjekt in keiner Weise autonom, sondern eine Schöpfung von Gottes Gnade.52 Es gibt aber m. E. eine Entwicklungslinie, die von der reformatorischen Betonung von Glaube und Erfahrung zur Emanzipation des Subjekts in der Philosophie der Aufklärung führt. Allerdings ist in der Aufklärung das menschliche Subjekt nicht mehr die von Gott geschaffene und getragene creatura verbi, sondern die res cogitans im Gegenüber zur Aussenwelt, der res extensa. Für René Descartes in seinen „Meditationes de prima philosophia“ basiert die Evidenz Gottes auf der Evidenz der Existenz des Subjekts. Das Subjekt denkt, und deshalb „ist“ es.53 Für Immanuel Kant, der die Descartsche Argumentation 47  Einer der charakteristischen Unterschiede in katholischen und protestantischen Syste­ ma­tisierungen der christlichen Lehre ist, dass in protestantischen Dogmatiken fast immer der Trinitäts‑ resp. Gotteslehre ein locus über die Heilige Schrift vorangeht. 48  Albrecht Beutel, In dem Anfang war das Wort, HUTh 27, Tübingen 1991, bes. 87–93. 49  Gerhard Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 79–99. 50 Martin Luther, WATR I; 16, Nr. 46 (1531): „Sola … experientia facit theologum“. 51  Vgl. Eberhard Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott – im Anschluss an Luther interpretiert, in: ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, BEvTh 88, München 1986, 202–251. 52  Vgl. Martin Luther, Disputatio de homine 32: „Paulus … breviter hominis definitionem colligit, dicens, hominem iustificari fide“ (WA 39 I [1926] 176). Luther stellt sich hier gegen die Aristotelische Definition des Menschen als ζῶον λόγον ἔχον. 53 René Descartes, Meditationes de prima philosophia, in: Chalres Adam  /  ​Paul Tannery (Hg.), Œuvres, vol. VII, Paris 1973, bes. 34 f. Allerdings basiert bei Descartes die Wirklichkeit der Existenz des denkenden Subjekts auf der apriorischen Gewissheit, dass Gott ihn nicht täuscht; vgl. ebd. 36.

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zurückweist, basiert die Gewissheit der Existenz Gottes ebenfalls im menschlichen Subjekt, genauer, in der Notwendigkeit eines moralischen Lebens.54 In beiden Fällen wird der Mensch zur Instanz, welche über die Notwendigkeit Gottes entscheidet, unabhängig davon, ob diese Notwendigkeit auf der Ebene des theoretischen Erkennens oder des praktischen Handelns liegt. Gott wird zur creatura hominis. In einer anderen Weise vollzog sich die Auflösung Gottes in der Aufklärung durch das Aufkommen des historischen Denkens. Durch die historische Kritik wurde die Bibel – für die Reformatoren die einzige Grundlage für die Möglichkeit, vom lebendigen Gott zu sprechen  – zu einem unter vielen anderen menschlichen Büchern, die bezeugen, wie Menschen in unterschiedlichen kulturellen, sozialen und historischen Situationen und als Reaktion auf unterschiedliche politische, existenzielle oder psychologische Nöte von Gott sprachen. Für historische Kritik ist „Gott“ nur als menschliches Wort zugänglich, als ein Wort menschlicher Selbstinterpretation oder Weltinterpretation, der Selbstlegitimation oder der Legitimation institutioneller oder theologischer Ansprüche. Das Wort „Gott“ wird zur menschlichen Interpretationskategorie. Direkt ist der mit diesem Wort bezeichnete Referent, Gott, für historisch-kritische Forschung nie zugänglich. Das bedeutete natürlich eine grundsätzliche De-Legitimation oder mindestens Veränderung des mit dem Wort „Gott“ verbundenen Anspruchs.55 Historische Kritik unterminierte die Möglichkeit der Kirchen, direkt Anspruch auf letzte Wahrheit zu erheben. Jede allgemeine Wahrheit, jedes „allgemeine“ moralische Grundprinzip muss, so formulierte der Jurist Stanley Fish einmal bissig, eingetaucht werden in den Strom der Geschichte, aus dem es stammt, und dann erweise sich, dass keines jemals anders funktionierte, als als Argument im Spiel von Machtinteressen bestimmter Interpretationsgemeinschaften.56 Ich würde nicht so weit gehen wie Fish, aber auch ich stehe vor dem Problem, dass mit dem menschlich-sprachlich-kontextuellen Wort „Gott“ das durch es Denotierte, nämlich Gott, nicht adäquant bezeichnet werden kann, sofern es mehr bezeichnen will als einen Gegenstand menschlicher Sehnsucht, eine religiöse Deutungskategorie oder eine Legitimation menschlicher Ansprüche. 54  Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Ernst Cassirer u. a. (Hg.), Immanuel Kants Werke V, Berlin 1922, 13–145. 55  Sehr scharf formuliert Stanley E. Fish, The Trouble with Principle, Cambridge 1999, 297 im Gespräch mit Richard Rorty: Wenn dieser „wants to de-divinize philosophy, I say: Go to it … but when he wants to de-divinize theology, something doesn’t ring true because theology doesn’t seem to be the kind of thing you can de-divinize and still have anything left“. 56 Fish a. a. O. 7: „For the effort to succeed, the vocabulary (of ‘fairness’, ‘merit’, ‘neutrality’, ‘impartiality’ ‘mutual respect’, and so on) must be empty, have no traction or bite of its own and thus be an unoccupied vessel waiting to be filled by whoever gets to it first or with the most persuasive force“.

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Gegen Ende des 18. Jahrhunderts standen sich zwei verschiedene Typen von Gottesvorstellungen gegenüber:57 Der „philosophische Gott“, wie er durch die Vernunft postuliert und von der als „vernünftig“ und „moralisch“ verstandenen christlichen Religion intendiert wurde, und die „historischen“ Gottesbilder der klerikal dominierten christlichen Kirchen oder auch anderer Religionen. Die Repräsentanten beider Typen bekämpften sich heftig. Es war leicht, alle diese Gottesbilder als menschliche Konstruktionen, Postulate oder Kompensate zu entlarven – die Wege dazu waren von Philosophie und Theologie vorbereitet. Dies geschah denn auch in verschiedenen Formen, durch die idealistische oder marxistische Religionskritik, durch die Religionskritik der dialektischen Theologie, durch tiefenpsychologische oder entwicklungspsychologische Religionserklärung, durch religionssoziologische oder kulturwissenschaftliche Interpretationen von Religionen und schliesslich durch die Philosophien nach dem „linguistic turn“. Sie alle haben das Geschäft der „Auflösung Gottes“ gründlich besorgt. J. F. Lyotard brauchte im säkularen Frankreich gar nicht mehr über die christliche „Meta-Erzählung“„ zu sprechen, wenn er die postmoderne Situation als das Ende aller grossen „Meta-Erzählungen“ verkündete. Die christliche „Meta-Erzählung“ hatte sich im säkular gewordenen Frankreich längstens aufgelöst. Ich sprach von den Philosophien nach dem „linguistic turn“. Für sie ist eine direkte Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat grundsätzlich nicht mehr möglich. Die Sprache erschliesst nur konstruierte „Textwelten“, verstanden als halbautonome strukturierte Systeme oder als Spiel von Signifikanten, aber sie öffnet kein Fenster zur Aussenwelt. „Reality is what we name our best interpretation“,58 sagte David Tracy. Nominalismus oder Konzeptualismus scheinen heute über jede Form eines ontologischen Realismus zu triumphieren. Die Suche nach universalen Wahrheiten ist scheinbar endgültig abgelöst durch den Wettstreit zwischen verschiedenen Konstruktionen der Realität, die mit unterschiedlicher rhetorischer Durchschlagskraft unter ihren menschlichen Kunden um Akzeptanz werben. Gott, den die Philosophien vor dem linguistic turn, die historische Kritik und die Humanwissenschaften als einzigen vom Podest der „Realität“ hinuntergestossen hatten, ist heute wieder in gute Gesellschaft geraten: Er ist zwar nur ein Sprachspiel in den Strassen und Gassen der endlosen 57  Ich folge hier Kants Unterscheidung zwischen reinem, natürlichen, philosophischen und moralischen Religionsglauben einerseits und dem „Afterdienst Gottes in einer statutarischen Religion“ bzw. dem „Religionswahn“ und „Pfaffentum“ andererseits (Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft (1794), in: ders., Schriften zur Religion, Berlin 1981, drittes und viertes Stück. Die Zitate stammen aus Abschnittsüberschriften zum vierten Stück. 58 David Tracy, Plurality and Ambiguity, San Francisco 1987, 48. Tracy fährt fort: „Reality is neither out there nor in here. Reality is constituted by the interaction between a text, whether book or world, and a questioning interpreter“.

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und amorphen Stadt, mit welcher Ludwig Wittgenstein die Sprache vergleicht,59 aber dasselbe gilt auch für die Sprachspiele all derer, die ihn in jahrhundertelangen Bemühungen entthront hatten. Zum letzten Mal möchte ich rufen: „Halt!“ Ich glaube nicht, dass wir auf das Postulat einer Beziehung unserer sprachlichen Konstruktionen zu so etwas wie einer Realität ausserhalb ihrer vollständig verzichten können. Von den Schwierigkeiten, ohne dies das Funktionieren des alltäglichen Lebens erklären zu können, will ich jetzt gar nicht sprechen. Ein grundsätzliches Problem entstünde so auch für die Sozialethik: Für jede sozialethische Entscheidung sind gemeinsam getragene Werturteile nötig. Auch wenn jeder Konsens nur fragmentarisch, zeitlich und lokal begrenzt und partiell ist – kein solcher Konsens ist möglich ohne Visionen über das, was ein universaler Konsens sein könnte,60 und zwar über das, was gerecht und gut ist.61 Jeder Konsens setzt die Möglichkeit einer gemeinsamen Interpretation von Texten und Daten voraus und die Fähigkeit, menschliche Wirklichkeitskonstruktionen zu transzendieren und zu hinterfragen. Das Proprium christlicher Theologie ist es, über einen Gott zu sprechen, der Menschen und Welt transzendiert, bzw. in theologischen Kategorien: über einen Gott „extra nos“. Ich denke, dass ein christlicher Diskurs über die Identität des Menschen im Gegenüber zu Gott notwendigerweise dazu führt, mindestens ein platonisch-realistisches Element im Verständnis der Sprache zu postulieren. Dieses kann sehr indirekt sein, z. B. so, wie die Wirklichkeit Gottes in den Gleichnissen Jesu zur Sprache kommt. Ich weiss aber wohl, dass dies heute nicht mehr sein kann als ein Postulat, und das heisst: ein Sprachspiel eines Theologen, der innerhalb der Grenzen des Nominalismus bleiben muss, auch wenn er ein „realistisches“ Verständnis von Sprache postuliert. Dies ist der Grund warum dieses mein Postulat nicht Teil einer neuen, grossen“ christlichen „Meta-Erzählung“ werden kann, sondern nur Teil meiner eigenen „kleinen“ theologischen Meta-Erzählung.

VI. Epilog: Meine „kleinen“ Meta-Erzählungen Zum Schluss möchte ich zu Lyotards Analyse der postmodernen Situation zurückkehren. Ich denke, es sei richtig, dass Europa heute mit dem Ende der „grossen“ Meta-Erzählungen konfrontiert ist. Aber dennoch – meine relecture von Lyotards Essay nach fast dreissig Jahren bewirkte in mir nicht ein Gefühl 59  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen Nr. 18, stw 203, Frankfurt 1980, 23 f. 60 Vgl. Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Welsch, Wege (Anm. 2), 177–192. 61  Hier stimme ich überein mit Peter Lampe, Die Wirklichkeit als Bild, Neukirchen 2007, 178 f.

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der Befreiung, sondern liess mich eher mit einer eigentümlichen Mischung von Nostalgie, Trauer und Wut zurück. Lyotard’s Essay war als Exploration der Perspektiven der Bildung im frankophonen Kanada geschrieben  – heute liest er sich eher wie eine weithin erfüllte Prophezeiung. Heute haben wir weithin ein Bildungssystem, wo die Grundfrage weithin nicht mehr lautet: „Estce vrai?“, sondern: „à quoi ça sert?“ oder sogar: „est-ce vendable?“62 Heute haben wir Universitäten, in denen die Professoren teilweise durch Datenbanken und Maschinen ersetzt sind und aus denen die Weisen weithin verschwunden sind. Sogar die Diskussionen über die grossen „Meta-Erzählungen“ werden oft verbannt, denn für solche Dinge gibt es keine Zeit in unserem „effektiven“ Bildungssystem. Die relecture von Lytoards Essay hat mich depressiv gestimmt, weil die Grundfrage, für was denn eigentlich alle unsere Kenntnisse gebraucht werden sollten, gar nicht gestellt wird. Sogar die Frage nach der Gerechtigkeit kommt nur als marginale Glosse gegen Ende des Essays vor.63 Mein Eindruck war, dass die frohe Botschaft vom Ende der grossen „Meta-Erzählungen“ als eine Art neue grosse „Meta-Erzählung“ zu funktionieren droht.64 Ich denke, dass wir „Meta-Erzählungen“ brauchen. Aber wir brauchen sie nicht in der Gestalt von beherrschenden und manchmal versklavenden Ideologien und Systemen. Vielmehr brauchen wir sie in der Gestalt von Visionen, von Geschichten, Träumen, Gebeten und Fragezeichen. Sie können nicht universale Gültigkeit beanspruchen, sondern sie sind zunächst individuell, darüber hinaus vielleicht regional,65 jedenfalls kontextuell und an einen bestimmten, ambivalenten und individuell gestaltbaren Lebensraum gebunden.66 Wir haben solche „Meta-Erzählungen“ nötig für unsere Identitäts-Diskurse, die wir, wie der Hirnforscher und Philosoph Wolf Singer formulierte, in einer „Erste-PersonPerspektive“ führen müssen.67 Das Christentum – ich meine damit aber nicht die grossen Konfessionskirchen der Vergangenheit (und manchmal auch der Gegenwart!) mit ihren „grossen“ christlichen Meta-Erzählungen – bietet eine Menge von dem an, was ich „kleine Meta-Erzählungen“ nenne, die von einem  Lyotard, Condition (Anm. 4), 84.  Lyotard, Condition (Anm. 4), 106. 64  Ich möchte ausdrücklich bemerken, dass dies m. E. für Jacques Derrida gerade nicht gilt. Man beachte die Fortsetzung des in Anm. 25 gegebenen Zitates: „Elle (sc. l’époque du signe) ne finira peutêtre jamais. Sa clôture historique est pourtant dessinée“ (a. a. O. 25). 65  Vgl. die Betonung „regionaler“ Theologien bei Clemens Sedmak, Theologie in nachtheologischer Zeit, Mainz 2003, 114–126. 66  Für die Postmoderne-Theorie von Bauman, Ansichten (o. Anm. 16), 226–231 ist der Begriff des „Lebensraums“ ein entscheidendes Moment. Im Unterschied etwa zum gesellschaftlichen „Unterbau“ des orthodoxen Marxismus ist er aber kein“„mechanisches System“, sondern komplex, unbestimmt, und „durch eine grosse Zahl von gesellschaftlichen Subjekten bevölkert“ (227). 67 Wolf Singer, Conditio Humana aus neurobiologischer Perspektive, in: Norbert Elsner / ​Hans-Ludwig Schreiber (Hg.), Was ist der Mensch?, Göttingen 2003, 143–167, dort 146. 62 63

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Gott erzählen, der heute vielleicht die Gestalt eines Fragezeichens am Rande unserer produktiven und performativen Gesellschaften angenommen hat. Wer sind wir? Für wen und warum tun wir, was wir tun? Für diese Art von Identitätsfragen offeriert die Bibel viele und manchmal sehr verschiedene „kleine MetaGeschichten“ über Gott. Glücklicherweise hat uns die Aufklärung gezeigt, dass die Bibel nicht ein einheitliches Buch ist, sondern eine vielfarbige Bibliothek. Darum ist es von der Bibel her nicht möglich, diese „kleinen Meta-Erzählungen“ in eine „grosse“, einheitliche „Meta-Erzählung“ umzuformen. Und glücklicherweise haben die christlichen Kirchen die Macht verloren, uns ihre einheitlichen christlichen „Meta-Erzählungen“ aufzunötigen. Umso mehr haben wir diese „kleinen Meta-Erzählungen“ über Gott nötig, wie sie nicht zuletzt die Bibel erzählt.68 Ich stehe am Ende meiner Überlegungen und blicke zurück: Ist das, was mir hier vorschwebt, nicht ein typisch protestantischer Versuch? Ich plädiere für den Abschied von den grossen „Meta-Erzählungen“, den Verzicht darauf, die ganze Wahrheit zu besitzen und anderen aufzunötigen. Ich möchte versuchen, im Lichte der Bibel „kleine Geschichten“ von Gott zu erzählen. Ich möchte darauf verzichten, die Bibel zu vereinheitlichen, aber ich möchte auch keine Exegese, welche Gott im Namen der Wissenschaft aus der Welt aussperrt, denn dies setzte wiederum ein Wahrheitssystem, also eine „grosse“ Metaerzählung“ voraus. Ich frage noch deutlicher: Ist dieser Versuch, sich in der Postmoderne zurecht zu finden und sich ihr gegenüber zu positionieren, ein typisch protestantisch-postmoderner Versuch? Mein Versuch passt natürlich für den Vertreter einer Kirche, die gut genug weiss, dass sie selbst nie im vollen Sinn des Wortes und allein Kirche sein kann. Insofern bin ich völlig einverstanden mit dem, was in „Dominus Jesus“ über die protestantischen Kirchen zu lesen war und was Papst Benedikt XVI seither wiederholt hat:69 Wir Protestanten sind „kirchliche Gemeinschaften“, vielleicht unterwegs zu dem, was wahre Kirche ist, aber nicht Kirche im vollen Sinn des Wortes. Ich denke aber, keine institutionalisierte Kirche könne anders Kirche sein als so. Dazu passt mein Verzicht auf eine „grosse“ christliche Meta-Erzählung“ und mein Bemühen, die Türen für „kleine“ Meta-Erzählungen über Gott, wie sie die Bibel erzählt, offen zu halten.70 Können sich Katholiken in diesem Versuch wiedererkennen, und wenn 68  Zu dem, was ich „kleine Metaerzählungen“ der Bibel nenne, gehören nicht nur narrative Gattungen, sondern ebenso Gebete, Lobpreise, theologische Versuche, Visionen. Gerade die Vielfalt der Sprachformen und Gattungen ist ein Wesensmerkmal der „Kleinheit“ der biblischen Metaerzählungen, denn sie verhindert, dass die biblischen Texte in ein einheitliches Wahrheitssystem gepresst werden können. 69  Dominus Jesus 16 f; Kongregation für die Glaubenslehre, Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche. 29. 6. 2​ 007 (Internet). 70 Für mich ist Kirche universale und sichtbare „Gesprächsgemeinschaft über der Bibel …, die unterwegs ist zu dem, was Gott mit ‚Kirche‘ gemeint haben könnte“ (Ulrich Luz, Wirkungsgeschichtliche Hemeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift, in: Mayordomo,

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ja, wie weit? Oder müssen sie sagen: Nein, als Katholiken können wir nicht auf eine „grosse“ Meta-Erzählung verzichten, die wir in der Bibel finden, so wie sie die Kirche in ihrer Geschichte oft verstanden hat.71

Moisés (Hg.), Die prägende Kraft der Texte, SBS 199, Stuttgart 2005, 35 = in diesem Band Nr. 19, 299–316). Mit dieser Definition grenze ich mich einerseits ab gegenüber einer protestantischen Neigung, die wahre Kirche für unsichtbar zu halten. Andererseits grenze ich mich ab gegenüber einer katholischen und orthodoxen Neigung, die eigene Kirche für die einzige und allein-wahre zu halten. Selbstverständlich ist die obige Formulierung keine erschöpfende Definition von Kirche – sie spricht beispielsweise nicht von den Sakramenten. Auch alle Versuche, zu sagen, was Kirche ist, sind Versuche „unterwegs“. 71  Von katholischen Gesprächspartnern wurde mir immer wieder die Frage nach der Einheit und dem Kriterium der „kleinen Metaerzählungen“ gestellt. Die Frage ist im Blick auf die Identität der Kirche berechtigt. Ich möchte sie aber an dieser Stelle nicht beantworten. Ich denke vielmehr, dass das Denkmodell der „kleinen Metaerzählungen“ – Metaerzählung von Gott – eneinerseits der Vielfalt der Bibel und andererseits der realen Situation der Kirchen, auch der katholischen, in unseren säkularen westlichen Gesellschaften am besten entspricht.

22. Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments als Hilfe zum Reden von Gott Die Grundfrage, die mich beim Schreiben einer „theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments“ beschäftigt, ist die Frage nach den hermeneutischen Möglichkeiten des Redens von Gott. Gott scheint aus unserer Lebenswelt zu verschwinden – in der Schweiz und in vielen anderen Teilen Westeuropas. Als ich Student war, also in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, war Atheismus entweder bekennender oder protestierender Atheismus, wie etwa der Atheismus eines Friedrich Nietzsche oder eines Karl Marx. Atheismus war eine Frage des Bekenntnisses und deshalb eine Frage des Glaubens bzw. eine Form des Protestes, denn Gott war eine selbstverständliche Realität in der damaligen Lebenswelt. Etwa für Paul Tillich war es selbstverständlich, dass „die Endlichkeit des Seienden … uns zu der Frage nach Gott treibt“.1 Dasselbe gilt für Rudolf Bultmann: Nach ihm wird „die menschliche Existenz durch die Gottesfrage“ bewegt, wenn der Mensch sich seiner Endlichkeit bewusst wird.2 Heute, fünfzig Jahre später, ist nach meinem Eindruck die Erfahrung der Endlichkeit weithin eine säkulare Erfahrung geworden, die nicht mit der Frage nach Gott verbunden zu werden braucht. Atheismus ist nicht mehr eine Frage des Bekenntnisses, sondern für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit. Eine neuliche Umfrage einer schweizerischen Boulevardzeitung3 ergab, dass 37 % der Schweizerinnen und Schweizer glauben, dass es einen Gott gibt, 42 % glauben, dass es keinen gibt, und 21 % glauben an „eine höhere Macht“. Interessanterweise aber beten nur 45 % derer, die an einen Gott glauben, wenigstens gelegentlich. Nur eine Minorität in der Minorität, nämlich 16,5 % der Schweizerinnen und Schweizer, hat also so etwas wie eine persönliche Gottesbeziehung. Gott hat hierzulande aufgehört, ein selbstverständlicher Teil des symbolischen Universums der Menschen zu sein. Er ist daraus verschwunden – sang‑ und klanglos.

Nach Ulrich Körtner verbinden nur noch Menschen, die durch ihre Sozialisation eine Erinnerungsspur an den biblischen Gott bewahrt haben, die Frage nach dem Sinn ihres Lebens mit der Frage nach Gott. Die meisten Menschen leben 1 Paul

Tillich, Systematische Theologie I, Stuttgart 21956, 196. Bultmann, Der Gottesgedanke und der moderne Mensch, in: ders., Glauben und Verstehen IV, Tübingen 1965, 113–127, dort 120 f Anm. 27. 3  http: / /​www.20min.ch / ​community / ​stories / ​story / ​Jeder-Dritte-glaubt-an-den-liebenGott-14066088. 2 Rudolf

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mit einem Grundgefühl „natürlicher“ Autonomie, die weder Sünde kennt, noch Gnade, noch Gott nötig hat. Was soll da überhaupt noch „die Frage nach der Frage, worauf die Theologie die Antwort ist“?4 Es scheint gar keine solche Frage mehr zu geben, und die Theologie scheint für viele überflüssig zu werden. Neutestamentliche Texte aber reden von Gott. Hier liegt der tiefste Grund dafür, dass sie heute in unseren aufgeklärten, säkularisierten westlichen Gesellschaften nicht mehr verständlich sind. Wenn man davon ausgeht, dass eine Hermeneutik immer dort nötig ist, wo Verstehen vergangener Texte nicht mehr selbstverständlich ist, so lautet die wichtigste Frage einer neutestamentlichen theologischen Hermeneutik, wie es denn heute, in unserer säkularisierten Gesellschaft möglich sein könnte, aufgrund der neutestamentlichen Texte verständlich – für (uns!) säkulare Menschen verständlich – von Gott zu reden. Ich werde dieser Frage in drei Abschnitten nachgehen. In einem ersten Abschnitt frage ich, was eine theologische Hermeneutik von anderen, nicht-theologischen hermeneutischen Entwürfen unterscheidet (I). Mein zweiter Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage, welches „Textmodell“ für die neutestamentlichen Texte am angemessensten ist (II). Mein dritter Abschnitt schliesslich kehrt zur Gottesfrage zurück und fragt, wie neutestamentliche Texte  – verstanden als „Mitteilungen“ – es erlauben oder dazu helfen, in einer säkular gewordenen Welt von Gott zu reden (III).

I. Was macht eine Hermeneutik des Neuen Testaments zur theologischen Hermeneutik? Ich möchte im Folgenden eine Reihe von Punkten nennen, die für mein Verständnis einer theologischen Hermeneutik wichtig sind. Unter den ersten sechs sind manche, die eine theologische Hermeneutik auch mit manchen anderen, nicht-theologischen Entwürfen einer Hermeneutik teilt; nur der letzte benennt exklusive Merkmale einer theologischen Hermeneutik. 1. Eine theologische Hermeneutik des Neuen Testaments ist eine „Spezial­her­ me­neutik“ im Sinne Schleiermachers.5 Schleiermacher meinte in seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums zum behuf einleitender Vorlesungen“ von 1810 mit dem Ausdruck „neutestamentische Spezialhermeneutik“ nicht nur, dass jeder Text, also auch 4  Das ist der Titel des Aufsatzes von Ulrich Körtner, Die Frage nach der Frage, worauf die Theologie die Antwort ist, in ders., Hermeneutische Theologie, Neukirchen 2008, 1–18. 5 Friedrich D. E.  Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum behuf einleitender Vorlesungen (1810), Darmstadt 1995, dort § 137. Vgl. zum Ganzen ebd. §§ 132–148.

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ein neutestamentlicher, als Teil seines literarischen Ko-Textes und in Verbindung mit dem „Gesamtleben“,6 dem kulturellen, sozialen und psychologischen Kontext seiner Autoren, interpretiert werden muss. Insofern erfordert die Interpretation jedes Textes eine ihm entsprechende „Spezialhermeneutik“. Vielmehr prägte er diesen Ausdruck noch aus einem anderen, zusätzlichen Grund: Das „Ganze“, von dem ein einzelner neutestamentlicher Text ein Teil ist, ist nicht nur die jeweilige neutestamentliche Schrift, sondern das Ganze des biblischen Kanons. Einzelne biblische Texte und einzelne biblische Dokumente müssen als Teile des kirchlichen Kanons interpretiert werden. Darin besteht für Schleiermacher der „spezielle“ Charakter seiner neutestamentlichen Spezialhermeneutik und darin sieht er ihren theologischen Charakter. 2. Die Hauptaufgabe einer theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments ist es, auf die Texte zu hören, ihre Fremdheit zu entdecken, und die Differenz auszuloten zwischen dem, was sie sagen, und dem, was wir selbst sind und sagen. Der Ausgangspunkt einer theologischen Hermeneutik ist die Anerkenntnis, dass die Texte unseren Lektüren und Interpretationen immer vorausgehen. Es gilt, zu hören, was sie zu sagen haben. James D. G. Dunn formuliert das klar: „The precedence accorded to the text has to include the primary task of listening to the text.“7 Dunn versteht das Hören also als eine Aufgabe. Warum? Es gibt kein Vernehmen eines Textes, das nicht schon durch die Situation des Interpretierenden, durch seine Bildung, durch seine Fragestellungen und Interessen und durch seine Vorverständnisse geprägt wäre. Bei den biblischen Texten ist das in ganz besonderer Weise so, denn es handelt sich in vielen Fällen um bekannte, schon oft gehörte Texte aus einem Buch, mit dem die Lesenden längstens ihre Erfahrungen gemacht haben, und das sie einer Institution, der Kirche zuordnen, die für sie positiv oder negativ besetzt ist. Darum ist es gerade bei den biblischen Texten so, dass faktisch die Macht der Leserinnen und Leser über sie oft gross ist, sei dies die Macht kirchlicher Interpretationsgemeinschaften und der sie leitenden Traditionen, sei dies im Gegenzug zu ihnen die Gegenmacht von sich von ihnen lösenden, sie dekonstruierenden oder neu konstruierenden individuellen Leserinnen und Lesern. Aber nicht solche Machtspiele beschreiben will eine theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, sondern im Gegenteil: Ihre Aufgabe ist, den Anspruch der biblischen Texte, gehört zu werden, zu achten und zu stützen. In ähnlicher Weise versteht Hans Weder die biblischen Texte als „fremde Gäste“, die draussen vor der Tür stehen.8 Ansprüche von Fremden werden in mannigfacher Weise vereinnahmt oder abgewehrt; die fremden Gäste, die die Texte sind, wollen aber nur eines, nämlich gehört werden. Dazu will 6 Schleiermacher,

a. a. O. § 140  James D. G. Dunn, Jesus Remembered, Grand Rapids 2003, 115. 8  Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, ZGB, Zürich 1986, 428–435. 7

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theologische Hermeneutik verhelfen. Damit steht sie aber nicht allein, sondern trifft sich mit all jenen hermeneutischen Entwürfen, denen das Vernehmen, die Alterität von Texten, das Gespräch oder die „Sache des Textes“ wichtig sind. 3. Methoden sind Instrumente, um den Texten ihre besonderen Fremdheitsprofile zurückzugeben. Grundsätzlich sind alle Methoden zu akzeptieren und zu benützen. Jedoch haben Methoden, welche direkt nach der Fremdheit eines Textes fragen, einen relativen Vorrang vor anderen. Die heutige wissenschaftliche Diskussion von Texten ist durch einen früher nicht bekannten Methodenpluralismus gekennzeichnet. Nicht nur Interpretationen, sondern auch Methoden scheinen frei wählbar zu sein. Sie stehen in der Regel nicht exklusiv nebeneinander und werden von Exegetinnen und Exegeten, die kaum mehr alle Methoden beherrschen können, je nach ihrer Ausbildung und ihren Interessen oft nur selektiv verwendet. Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern sich Exegetinnen und Exegeten als Gemeinschaft verstehen, welche ihre Texte im Dialog interpretieren und ihre Methoden gemeinsam weiterentwickeln. Dennoch aber möchte ich als Konsequenz aus dem, was ich in der zweiten These vertreten habe, dem Primat des Hörens und dem Respekt vor der Fremdheit des Textes, zwei Gewichtungen vornehmen: a) Methoden, welche die Texte befragen, sollten den Vorrang haben vor Methoden, welche die Texte hinterfragen. Zuerst gilt es zu hören, was ein Text sagt, bevor man – dann allerdings auch – fragen sollte, warum, d. h. aufgrund welcher historischen, ideologischen, sozialen, sozialanthropologischen oder psychologischen Gründe, ein Text gerade dies und nicht etwas anderes sagt. Hinterfragende Methoden – historische, sozialgeschichtliche und sozialwissenschaftliche, psychologische, anthropologische  – haben oft eine Tendenz, einen Text den eigenen Kategorien und Werturteilen zu unterwerfen und seine mögliche Bedeutung zu relativieren oder zu historisieren. Damit möchte ich für einen relativen Primat der Philologie gegenüber historischen, sozialwissenschaftlichen, psychologischen und anthropologischen Methoden plädieren. b) Hans Weders Metapher des „fremden Gasts“ erinnert an die Tatsache, dass es keinen Text gibt ohne einen – historischen, sozialen, kulturellen – Kontext. Ihr Kontext ist Teil ihrer Fremdheit. Den besonderen historischen Kontext eines Textes und seinen kulturellen Abstand zu kennen heisst zugleich, das besondere Profil seiner Fremdheit besser zu verstehen. Dazu verhelfen in erster Linie historische Methoden. Sie haben m. E. einen relativen Vorrang gegenüber den meisten synchronen, strukturalen und literarischen Methoden, denn diese haben eine Tendenz, Texte als kontextunabhängige „Textwelten“ von ihren Kontexten zu isolieren und die letzteren zu ignorieren. Ich denke nicht, dass man deswegen auf sie verzichten darf, aber um der Gefahr willen, dass die Fremdheit eines Textes sich verflüchtigen könnte wenn seine Kontextualität vernachlässigt wird,

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möchte ich die Bedeutung der historischen Methoden gegenüber synchronen und literarischen Methoden betonen. 4. Die Aufgabe der Interpretation biblischer Texte besteht nicht nur darin, nach ihrem Inhalt zu fragen. Sie muss auch fragen, wie die Texte verstanden werden wollen. Viele biblische Texte enthalten hermeneutische Anweisungen. Es wäre dumm und anmassend, wenn man sie nicht nach ihrem eigenen Verständnis des Verstehens befragen, sondern ihnen unbesehen ein eigenes Verstehensmodell aufzwingen wollte. Hier liegt eine wichtige Aufgabe einer theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments. Was ich hier sage, tönt banal. Es ist aber nicht banal. Während mehrerer Jahrhunderte wurden beispielsweise den biblischen Texten Geschichtsbegriffe und Geschichtsverständnisse aufgenötigt, die ihnen nicht entsprachen. Entsprechend scheiterten die Exegeten mit ihren Fragestellungen, z. B. nach der „wirklichen“ Geschichte Israels oder nach dem „historischen“ Jesus. Entsprechend lösten sich die Geschichte, „wie sie wirklich war“, und die Geschichte, aus welcher der glaubende Mensch lebt, voneinander. Es kam zur neuzeitlichen Diastase von historischem „Erklären“ und „Verstehen“, welche durch eine Hermeneutik überbrückt werden musste. Ich gebe noch Beispiel aus dem zwanzigsten Jahrhundert: Es ist für mich erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit man neutestamentliche Texte interpretiert hat, als ob sie literarische Texte wären, z. B. ähnlich wie Novellen oder Gedichte, deren Kern die literarische Fiktion und deren Gestalt die einer „autonomen“, gegenüber der äusseren Welt in direktem Sinn referenzlosen Textwelt ist. Wollen neutestamentliche Erzählungen wirklich so verstanden werden? Man hätte sich viele Irrläufe und viel Papier ersparen können, wenn man in dieser Hinsicht ihren eigenen hermeneutischen Anspruch ernster genommen hätte. Darum formuliere ich diese scheinbar banale These. Die neutestamentlichen Texte enthalten ein eigenes hermeneutisches Potential, nach dem eine theologische Hermeneutik des Neuen Testaments fragen muss. Aber wiederum ist dies nicht ein exklusives Kennzeichen einer theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments. Alle Texte, nicht nur neutestamentliche, haben ein Anrecht darauf, so verstanden zu werden, wie sie verstanden werden wollen. 5. Biblische Texte verstehen heisst, dass eine Leserin oder ein Leser sie heute, in ihrem eigenen Kontext versteht. Dies geschieht in einem Dialog von gleichberechtigten Partnern: dem Text und den Lesern. Biblische Texte haben, ebenso wie viele andere Texte auch, einen Bedeutungsüberschuss, der über ihren Ursprungssinn in ihrem ursprünglichen Kontext

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hinausreicht. Das ist der Grund, warum wir ihre Bedeutung für uns heute, in unserem eigenen Kontext, verstehen wollen. Gerhard Ebeling unterscheidet zwischen zwei Richtungen in der Interpretation biblischer Texte, einerseits von den Lesern zum Text und andererseits vom Text zu den Lesern. Er unterscheidet zwischen „Verstehen von Sprache“ und „Verstehen durch Sprache“.9 Im Verlauf des Verstehensprozesses ändert sich die Verstehensrichtung: War der Text am Anfang ein Objekt methodischer Untersuchungen, so ändert sich im Laufe der Beschäftigung mit ihm seine Funktion: Er wird mehr und mehr zur Lampe, welche das Leben und die Situation der Verstehenden beleuchtet. Diese zweite Verstehensrichtung, die Befragung der Leser und ihrer Situation durch den Text, entspricht dem, was in der juristischen und in Teilen der philosophischen und theologischen Hermeneutik „Applikation“ genannt wird. „Explikation“ (Erklärung) und „Applikation“ sind zwei unterschiedliche Momente im Verstehensvorgang, die unterschieden werden müssen, obwohl sie miteinander verbunden sind. Die Reihenfolge von Explikation und Applikation ist unumkehrbar. Aber die Applikation als solche ist kein exklusives Kennzeichen einer theologischen Hermeneutik. Viele andere in irgendeiner Weise normative religiöse Texte, viele philosophische Texte und alle Gesetzestexte verlangen eine Applikation. Eher, aber auch nicht ausschliesslich gilt dies für das Postulat, dass der Dialog zwischen Text und Lesern ein Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern sei. Dieses Postulat ist m. E. von den biblischen Texten her gegeben: Die meisten Bibeltexte beanspruchen, in teilweisem Unterschied etwa zu Gesetzestexten, keine formale a-priori-Autorität. 6. Eine theologische Hermeneutik des Neuen Testaments nimmt die Wahrheitsansprüche der neutestamentlichen Texte ernst und tritt in einen Dialog ein mit ihnen. Sie ist weder rein deskriptiv, noch rein normativ, sondern dialogisch. Die meisten neutestamentlichen Texte gehören zu den fundamentalen Texten, die sich mit grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Gesellschaft befassen. Sie sprechen von „Gott“, der beansprucht, Schöpfer und Herr der Welt zu sein und die Tiefe und das Ziel des menschlichen Lebens zu erschliessen. „Gott“ – letztlich die „Sache“ der neutestamentlichen Texte – stellt oder impliziert einen universalen Wahrheitsanspruch. Es ist m. E. nicht möglich, solche fundamentalen Texte zu verstehen, ohne sein eigenes Vorverständnis ihren kritischen Fragen auszusetzen und – auf der anderen Seite – ohne kritische Fragen an sie zu stellen. Ihr Verstehen ist ein dialogischer Prozess, in dem nicht nur die Texte, sondern auch die eigene Identität des Interpreten zur Diskussion steht. Verstehen neutestamentlicher Texte überschreitet darum die rein deskriptive Ebene, weil es, wie Bultmann sagte, ein „Lebensverhältnis“ zu ihnen 9  Gerhard Ebeling, Wort Gottes und Hermeneutik, in: ders., Wort und Glaube (I), Tübingen 1960, 333.

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einschliesst.10 Der Interpret muss auf den Wahrheitsanspruch des Textes eine Antwort geben, aber nicht notwendigerweise eine positive Antwort. Ist dies eine exklusive Eigentümlichkeit einer theologischen Interpretation eines Textes und einer theologischen Hermeneutik? In formalem Sinn nicht. Nicht nur biblische Texte, sondern auch viele andere religiöse und philosophische Texte erheben Wahrheitsansprüche. Kann man zum Beispiel Texte von Plato oder von Nietzsche verstehen, ohne in einen philosophischen Dialog mit ihnen einzutreten, der die eigenen Vorverständnisse über Leben und Gesellschaft in Frage stellt? Philosophische Texte lediglich als Modelltexte für abstrakte Positionen zu interpretieren oder sie als Quellentexte für bestimmte Etappen der Kulturgeschichte zu erklären, hiesse, nicht ernst zu nehmen, was sie sagen wollen. Das heisst aber: Wenn eine theologische Hermeneutik von den Interpreten einen engagierten Dialog mit den Texten fordert und wenn sie auch sich selbst den Wahrheitsansprüchen der Texte aussetzt, so ist das ein wichtiges, aber keineswegs ein exklusives Charakteristikum ihres theologischen Charakters. 7. Besonderheiten einer theologischen Hermeneutik. Bisher stiessen wir – fast – nicht auf Kennzeichen, die nur in einer theologischen Hermeneutik anzutreffen wären und diese von jeder nicht–theologischen Hermeneutik unterscheiden würden. Dennoch denke ich, dass es solche Kennzeichen gibt. Für mich sind folgende vier Kennzeichen grundlegend: a) Das erste tauchte in Schleiermachers ganz besonderer Definition einer „neutestamentischen Spezialhermeneutik“ auf: Schleiermacher wies auf die Bedeutung des biblischen Kanons als Ko-Text einzelner Texte. Eine theologische Hermeneutik interpretiert z. B. einen Paulustext nicht nur als Teil des Corpus Paulinum, sondern als Teil des Kanons. Sie wird, wenn sie nach Wahrheitskriterien für eine Textinterpretation fragt, diese Frage nicht nur auf der Ebene der direkten Entsprechung zwischen dem Einzeltext und seiner Interpretation stellen, sondern auch auf der Ebene des ganzen Kanons. b) Das zweite Kennzeichen, das eine theologische Hermeneutik auszeichnet, ist ihre Verbindung mit der Kirche. Der Kanon ist das Buch der Kirche. Eine Hauptabsicht einer theologischen Hermeneutik ist es, die Kirchen, welche die kanonischen Texte in ihrem eigenen gegenwärtigen Kontext auslegen, zu begleiten und zu beraten. Die Kirche ist der erste Rezipient der Bibel, nicht die individuelle Leserin oder der individuelle Leser. Der orthodoxe Hermeneutiker Theodore Stylianopoulos sagt darum: „Scripture belongs to one one alone.“11 10  Rudolf Bultmann, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments (1925), in: ders., Neues Testament und christliche Existenz, hg. von Andreas Lindemann, UTB, Tübingen 2002, 21. 11  Theodore G. Stylianopoulos, The New Testament. An Orthodox Perspective. I: Scripture, Tradition, Hermeneutics, Brookline 1997, 112.

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c) Das dritte Kennzeichen einer theologischen Hermeneutik ist, dass sie der hermeneutischen Tradition der Kirche besondere Aufmerksamkeit schenkt. Zu dieser Tradition gehört in erster Linie die Bibel selbst, dann die Kirchenväter, die Reformatoren, aber auch die Tradition derer, die von den herrschenden Kirchen marginalisiert oder exkommuniziert wurden, die Tradition der Dissenter und Häretiker. Auch ihre Hermeneutik könnte wichtige Erfahrungen mit der Bibel aufbewahren. d) Das vierte und wichtigste Kennzeichen schliesslich ergibt sich aus dem Inhalt der biblischen Texte. Sie sprechen von Gott. Die Frage, wie menschliche Texte, die von Gott sprechen, in einem gesellschaftlichen Kontext verstanden werden können, in dem das Wort „Gott“ seine Evidenz mehr und mehr verliert, und worin die „Wahrheit“ ihrer Interpretationen besteht, ist eine spezifisch theologische Frage. Eine theologische Hermeneutik muss sie stellen, und sie richtet sich mit dieser Frage – weit über die Kirchen hinaus – nicht nur an Glaubende, sondern an alle Menschen, die Gott verloren haben, sich aber mit diesem Verlust nicht abfinden können.

II. Der Text als „Gewebe“ und / o​ der als „Mitteilung“ In der heutigen Diskussion stehen sich zwei grundsätzlich verschiedene Modelle des Textverständnisses gegenüber. Nach dem einen Modell, das zuerst von Ferdinand de Saussure in seiner posthum herausgegebenen Linguistik-Vorlesung entwickelt wurde12 und in Vorstufen auf den lateinischen Sprachgebrauch13 und die antike Rhetorik zurückgeht,14 sind Texte als „Gewebe“ zu verstehen. Von seinem Ursprung her ist das Wort „Text“ hervorragend geeignet, die Aufmerksamkeit auf die Komposition, die Struktur und die Gestaltungsmerkmale einer sprachlichen Äusserung zu lenken. Diese Betrachtungsweise hat vor allem die vom Strukturalismus geprägte Literaturwissenschaft, den sog. readers response und die konstruktivistischen und dekonstruktivistischen Ansätze in der Philosophie bestimmt. Im Zentrum steht hier immer der schriftlich formulierte Text. – Nach dem zweiten Modell sind Texte als „Mitteilung“ zu verstehen. Das Wort „Mitteilung“ lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters in dreifacher Weise über den eigentlichen Text hinaus: Es lässt nach den Inhalten fragen, die in einem Text mitgeteilt werden, nach der Person, von der die Mitteilung ausgeht und 12  Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris / L ​ ausanne 1916; deutsch: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 21967. 13  Vgl. lat. textura = Vorgang des Webens, Struktur (des Gewebes); textum = Gewebe, Kleid: textus = Webstil, Webmuster, in der Antike sehr selten: Text. 14 Die Kraft einer Rede hängt nach Quintilian davon ab, „mit welcher Art der Zusammenstellung die gleichen Worte in der Textabfolge verbunden werden“ (verba eadem qua compositione … in textu iungantur) (Quintilian, Inst Or IX 4,13).

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nach der Person, an die sie ergeht.15 Dieses Verständnis von Text hat vor allem die deutschsprachige Hermeneutik geprägt; eine grosse Affinität hat es auch zur Sprechakttheorie, zur Rezeptionsforschung und zu allen historisch orientierten Zugangsweisen zu Texten. Im Zentrum können hier sowohl mündliche als auch schriftliche Textformen stehen. Modelle sind weder richtig noch falsch, sondern sie sind Instrumente, die sich bei der Erschliessung von Phänomenen zu bewähren haben. Wir fragen also: Welches dieser Modelle hilft eher, biblische, insbesondere neutestamentliche Texte zu erschliessen, und in welcher Weise? Dazu möchte ich zwei Vorüberlegungen machen: 1. Eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen schriftlichen und mündlichen Texten, wie wir sie heute machen, lässt sich angesichts der antiken Lesegewohnheiten nicht aufrechterhalten. Gelesen wurde in der Antike laut;16 schriftliche Texte wurden also nicht nur gesehen, sondern auch gehört. Für die meisten Menschen aber gilt angesichts der fehlenden oder nur sehr begrenzten Lesefähigkeiten der Menschen damals: Schriftliche Texte wurden nur gehört. Sie wurden vorgelesen oder deklamiert. Nach Plato unterscheiden sich schriftliche und mündliche Texte dadurch, dass schriftliche Texte für sich „stumm“ sind und einen „Vater“ brauchen, der sie schützt und ihnen zum Sprechen hilft.17 Das ist der Autor, der in der Regel nicht da ist. Vorgelesene Texte aber haben einen „Ersatzvater“, der an seine Stelle tritt  – den Vorleser. Für die frühen christlichen Gemeinden trifft das in besonderer Weise zu: Ihre Mitglieder gehörten mehrheitlich den unteren Schichten an und hatten nur eine sehr elementare Schulbildung. Sie hörten – in den Gemeindeversammlungen  – die evangelischen Überlieferungen oder die apostolischen Briefe. Beim Hören von Texten ist die Möglichkeit, ihr „Gewebe“ zu erkennen, anders und vor allem viel geringer: Erkennbar sind z. B. Themen von Texten, die durch wiederholte Stichworte, Merksprüche etc. hervorgehoben werden. In der Regel kaum erkennbar ist, was man nicht hören kann, z. B. viele Mikrostrukturen von Texten und Feinheiten im Aufbau. Es folgt daraus: Wer neutestamentliche Texte so verstehen will, wie sie selber verstanden werden 15  Vgl. den verwandten Versuch von Philip Esler, Texte als Kommunikation mit abwesenden Autoren in einer ekklesialen Gemeinschaft zu verstehen (Philip Esler, Die historische Interpretation des Neuen Testaments als Kommunikation in der Gemeinschaft der Heiligen. Entwurf einer ekklesialen Hermeneutik, EvTh 72 [2012], 260–275). 16  Trotz einigen Gegenpositionen und Ausnahmen muss es dabei bleiben; vgl. Stephan Busch, Lautes und leises Lesen in der Antike, Rheinisches Museum für Philologie, NF 145, Frankfurt 2002, 1–45; William A, Johnson, Readers and Reading Culture in the High Roman Empire. A Study of Elite Communities, New York 2010, 4–9. 17  Phaidros 275DE.

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wollen, sollte nicht von einem Textmodell ausgehen, das sich einseitig am Sehen von schriftlichen Texten orientiert. 2. Die Bedeutung der Interpretationsgemeinschaften in der Antike war generell, und im Falle der frühchristlichen Gemeinden insbesondere, viel grösser als heute. Privates, individuelles Lesen von Texten, das heute im Zeitalter des Buches, des Taschenbuches und des Internets das Normale ist und in den Denkmodellen des readers response, des Konstruktivismus und der Dekonstruktion selbstverständlich vorausgesetzt wird, war damals relativ selten. Vorlesen und TexteHören war vielmehr in der Regel ein öffentliches oder halböffentliches Ereignis und dementsprechend eine Gemeinschaftserfahrung. Ihr „Sitz im Leben“ war die Elementar‑ oder Mittelschule, der Freundeskreis, die öffentliche Lesung, die Rhetoren‑ oder Philosophenschule, das Lehrhaus, die „Versammlung“ einer jüdischen „Richtung“, der gnostische Zirkel oder die christliche Gemeindeversammlung. Aktive Partizipation der Hörenden war normal. Texte wurden diskutiert, interpretiert, bewertet. Die Autoren wurden, sofern sie ihre eigenen Texte vorlasen, beraten; Interpretationsprobleme wurden diskutiert, und nicht selten war eine gemeinsam akzeptierte Interpretation das Ergebnis solcher Gespräche. Für die christlichen Gemeinden trifft das alles in erhöhtem Masse zu: Ihre Mitglieder waren durch eine gemeinsame Enzyklopädie, die Bibel, miteinander verbunden; sie bekannten denselben Herrn, Jesus Christus. Die Texte, die sie in den Versammlungen hörten, waren ihre eigenen grundlegenden Texte; ihre Verfasser hatten sie zur „Auferbauung“ ihrer Gemeinschaft und zur Stärkung ihrer gemeinsamen Identität geschrieben. Eben dies bewirkte ihre Lektüre in der Gemeinde. Für das Urchristentum gilt: Die Interpretationsgemeinschaft der Gemeinde ist nicht nur das soziale Milieu der Textrezeption, nein, sie ist der Eckpfeiler, ja das Subjekt des Hörens und des Verstehens. Rezipieren, Interpretieren und Verstehen ist im frühen Christentum ein durch und durch ekklesialer Vorgang. Von den Lektüremodellen, welche die moderne Literaturwissenschaft voraussetzt und welche die moderne Exegese so häufig übernommen hat, ist das frühe Christentum meilenweit entfernt. Es folgt daraus: Wer neutestamentliche Texte so verstehen will, wie sie selbst verstanden sein wollen, sollte nicht von einem Textmodell ausgehen, welches Texte als blosse „Formen“ versteht, welche von individuellen Lesern im stillen Kämmerlein in privater Lektüre zuallererst mit Leben und Inhalt gefüllt werden müssen. 3. Die im Neuen Testament vorherrschenden literarischen Gattungen lassen sich ziemlich gut als „Mitteilungen“ an konkrete Adressaten verstehen. Die paulinischen Briefe sind Mitteilungen eines abwesenden Autors an ganz konkrete Adressatinnen und Adressaten, die Gemeinden. Ähnliches gilt für die

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Johannesapokalypse. Bei den pseudapostolischen Briefen ist der Sachverhalt etwas anders: Hier kommuniziert der verstorbene Apostel mit der nachfolgenden Generation  – insofern findet in ihnen zum ersten Mal statt, was Philip Esler unter über die Generationen hinweggehende „communion with the saints“ versteht.18 Bei den Evangelien ist der Sachverhalt komplexer. Ich gehe davon aus, dass die neutestamentlichen Evangelien nicht einfach „stories“ sind, sondern für christliche Gemeinden geschriebene Grundgeschichten, die ihre Identität begründen, festigen und vertiefen wollen. Insofern haben sie in eminentem Masse „Mitteilungscharakter“. Sie sind, wie die spätere Kirche mit Recht formulierte, einerseits „Erinnerungen“ (ὑπομνημονεύματα) der Apostel. Als solche haben sie einen konkretem, nicht beliebig veränderbarem Inhalt, nämlich die Worte und Taten Jesu. Andererseits sind sie εὐαγγέλιον, frohe, Leben stiftende Botschaft für die sie hörenden Gemeinden. Gerade bei den Evangelien war für die Kirche der apostolische Autor, unter dessen Namen sie direkt oder indirekt überliefert wurden, wichtig. Die neutestamentlichen Erzähltexte entsprechen also in mancherlei Hinsicht nicht denjenigen Erzähltexten, nämlich Novellen und Romanen, an denen moderne Literaturwissenschaft ihre Einsichten und Theorien gewonnen hat. Es folgt daraus: Wer neutestamentliche Texte verstehen will, wie sie selbst verstanden werden wollen, sollte nicht von einem Textmodell ausgehen, welches eine individuelle, allgemeine, offene Leserschaft voraussetzt, welche „offene“ Texte nach eigenem Belieben lesen kann, sondern von einer konkreten Zielleserschaft, welche mit dem christlichen Glauben bereits in Berührung gekommen ist und gerade von diesen Texten erwartet, dass sie ihnen etwas Entscheidendes sagen. Meine These lautet deshalb, dass die neutestamentlichen Texte einem Textmodell, das Texte als „Mitteilungen“ versteht, weit besser entsprechen als einem solchen, das schriftliche Texte als strukturierte „Gewebe“ auffasst. Wenn ich das betone, stehe ich Hermeneutikern nahe, welche von der dialektischen Theologie geprägt sind, allen voran Rudolf Bultmann19 und meinem eigenen systematischen Lehrer Gerhard Ebeling,20 aber auch angelsächsischen Hermeneutikern unterschiedlicher Prägung, wie z. B. Kevin J. Vanhoozer21 oder Philip Esler.22 Unter den Philosophen ist mir in diesem Zusammenhang vor allem Jürgen Habermas wichtig: Nach seiner Theorie des kommunikativen Handelns ist Verstehen sprachlicher Äusserungen immer auf „Verständigung“ bezogen und darum ein Kommunikationsvorgang, also das Verstehen einer „Mitteilung“.23  Philip F. Esler, New Testament Theology, Minneapolis 2005, bes. 213–228.  Ich verweise nur auf die Bedeutung des Begriffs des Kerygma in Bultmanns Hermeneutik. 20  Vgl. Gerhard Ebeling, Einführung in die theologische Sprachlehre, Tübingen 1971, bes. 201–218. 21 Kevin J. Vanhoozer, Is there a Meaning in this Text?, Grand Rapids 1998. 22  Cf. o. Anm. 18. 23  Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns I, Edition Suhrkamp 1401, 18 19

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III. Studien zur Hermeneutik

Geht man von einem solchen Textverständnis aus, so hat das Konsequenzen. Ich nenne drei. Erstens: „Mitteilungen“ sind gerade darum mehr als blosse Informationen, weil sie von ihrem Sprecher nicht ablösbar sind. Für Mitteilungen ist wichtig, wer mir etwas sagt  – im Unterschied zu blossen „Informationen“, z. B. einer Lautsprecherinformation an einem Bahnhof. Deshalb kann man m. E. bei neutestamentlichen Texten nicht sagen, dass der „Autor tot“ ist24 und der schriftliche Text sich von ihm völlig gelöst hat und allein in die Hände seiner Lesern gegeben ist. Vielmehr ist in den meisten neutestamentlichen Texten der Autor in ganz hohem Mass in die Texte eingegangen. Ihre auktorialen Strategien bzw. ihr „impliziter Autor“ ist in der Regel sehr stark. Dabei muss – z. B. bei den Evangelien – im Einzelnen sorgfältig gefragt werden, wer die auktorialen Funktionen übernimmt.25 Zweitens: „Mitteilungen“ haben konkrete Adressaten. Sie unterscheiden sich von blossen „Informationen“ dadurch, dass sie jemandem gelten und sich nicht einfach an „die Öffentlichkeit“ richten. Darum ist es bei einer Mitteilung auch wichtig, zu wissen, in welcher Situation sich die Adressaten befinden. Hier liegt der Grund, warum in den meisten neutestamentlichen Texten der „implizite Leser“ die intendierten wirklichen Leser widerspiegelt. Darum ist auch die Untersuchung von deren historischer Kontextualität für das Verstehen wichtig. „Mitteilungen“ geschehen immer in einem konkreten Kontext. Drittens: Eine „Mitteilung“ hat immer einen Weltbezug; sie ist eine Mitteilung von etwas  – oder sie ist sinnlos. Damit postuliere ich natürlich nicht, dass „Tatsachen“ mitgeteilt werden, wie dies „Informationen“ meistens zu tun beanspruchen; Inhalt einer „Mitteilung“ können z. B. auch Aufforderungen, Erinnerungen, fiktive Geschichten oder Hoffnungsbilder sein. Aber sie haben immer einen Weltbezug, mit dessen Hilfe die Adressaten sie mit ihrer eigenen Lebenswelt verbinden können. Die grundsätzlichen Diskussionen darüber, ob die in Texten entfalteten Textwelten eine Referenz in einer Welt ausserhalb ihrer haben, erübrigen sich bei „Mitteilungen“. Nur in einem Fall erübrigen sie sich nicht, nämlich dann, wenn diese „Mitteilungen“ von Gott sprechen, der durch referentielle Sprache nie direkt bezeichnet werden kann. Mit all dem möchte ich natürlich nicht sagen, dass mein Verständnis von Texten als „Mitteilungen“ universal gültig sei. Im Gegenteil – ich möchte die Frankfurt 1981, 188–196; ders., Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie, in: ders., Philosophische Texte I, Frankfurt 2009, bes. 94. 97. 24  Es ist kein Zufall, dass die beiden klassischen französischen Aufsätze, die den „Tod des Autors“ postulieren, eine „autorgeleitete“ Textinterpretation als „theologisch“ bezeichnen: Roland Barthes, Der Tod des Autors, abgedruckt in: Fotis Jannidis u. a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Reclams Universalbibliothek 18058, Stuttgart 2000, 191 f; Michael Foucault, Was ist ein Autor?, ebd. 206 f.; 214 f. Theologische Hermeneutik sollte dies nicht als Hinweis auf längst Vergangenes, sondern als Erinnerung an ihre eigene Sache verstehen! 25  Der Evangelist? Der lebendige (und durch den Text des Evangelisten sprechende) Jesus?

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universale Gültigkeit von Textmodellen bestreiten und fordern, dass Textmodelle den jeweiligen Texten und Textsorten möglichst entsprechen sollten. Universal gültige Textmodelle gibt es m. E. nicht, sondern nur unterschiedlichen Texten und Textsorten besser oder weniger gut entsprechende. Nun muss man natürlich einwenden: Für viele heutige Leserinnen und Leser ist es eben anders geworden. Viele heutige Leser lesen die Texte des Neuen Testaments weithin als einen unter unendlich vielen schriftlichen Texten, nicht als für sie gemeinte „Mitteilung“. Für viele sind sie nicht Vermächtnisse der eigenen „Vorfahren im Glauben“26 – im Gegenteil: von deren Autorität wissen sie sich gerade frei oder möchten sich befreien. Für die manche heutige Leser sind die Autoren der biblischen Texte „tot“, nicht nur in dem banalen Sinn, in dem jeder Autor eines schriftlichen Textes abwesend ist, sondern auch in dem viel einschneidenderen Sinn, dass sie sich von der Last ihrer Autorität befreit haben und sich darum frei fühlen, die neutestamentlichen Texte nach eigenem gusto neu zu lesen und für sie eigene, in erster Linie ihnen selbst entsprechende, vielleicht „postmoderne“ und „post-theologische“ Hermeneutiken zu entwickeln. Wenn ich eine Hermeneutik entwerfe, die zeigen will, wie die neutestamentlichen Texte selber verstanden werden wollen, geht es mir nicht darum, das zu bestreiten, zu beklagen oder gar verhindern zu wollen. Eine Hermeneutik kann ja nicht nur „ihren“ Texten, sondern sie muss auch ihren Leserinnen und Lesern entsprechen. Das heisst: Eine theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, soweit sie zu entfalten versucht, wie die neutestamentlichen Texte verstanden werden wollen, wird nur eine Partnerin in einem offenen hermeneutischen Dialog sein können, einem Dialog, der genau so wichtig und nötig ist wie der offene Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern, der zum Verstehen biblischer Texte führt. In diesem Dialog wird sie auf die Differenz aufmerksam machen zwischen dem Verstehen, das die Texte fordern und ermöglichen wollen, und denjenigen Verstehensmodellen, die heutige Leser aufgrund ihrer persönlichen, kulturellen und sozialen Sozialisation mitbringen.

III. Die Frage nach Gott Die neutestamentlichen Texte sprechen von Gott. Das ist heute, so sagten wir, für viele Menschen der tiefste Grund ihrer Unverständlichkeit. „Gott“ als metaphysische Realität, als höchstes Sein, ist in der Neuzeit entthrohnt worden. Der reformatorische Glaube an Gott als Quelle des Lebens und der Gnade ist verblasst. „Gott“ ist für viele zu einer blossen Interpretationskategorie geworden, mit der religiöse Menschen ihr Leben interpretieren. Er begegnet heutigen Lesern der Bibel als menschliches Wort und als Teil des kulturellen Erbes.  Esler, EvTh 72 (2012), 271.

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III. Studien zur Hermeneutik

Wissenschaftliche, insbesondere historisch-kritische Interpretation biblischer Texte ist insofern methodisch a-theistisch, als sie feststellen kann, dass z. B. Jesus oder Paulus von Gott gesprochen, zu ihm gebetet, mit ihm gerungen und ihm für sein Handeln gedankt haben, aber nicht, ob der, von dem sie sprechen, wirklich Gott ist. Sie setzt keinen Glauben des Interpreten voraus, sondern nur seinen Willen, die Texte das sagen zu lassen, was sie sagen wollen. Die wichtigste Frage einer theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments lautet deshalb für mich, ob und in welcher Weise es die neutestamentlichen Texte in unserem heutigen gesellschaftlichen Umfeld es ermöglichen, von Gott zu sprechen. Im Folgenden möchte ich – entsprechend dem Textmodell der „Mitteilung“ – den Blick zuerst auf den Sprecher / A ​ utor (3.1), dann auf die Adressaten bzw. die Leser (3.2) und schliesslich auf das Mitgeteilte (3.3) richten. 1. Der Autor Ich wähle die paulinischen Briefe als Modellfall. Sie sind nicht nur Mitteilungen des abwesenden Apostels Paulus, sondern sie vertreten ihn auch als Christuszeugen. Vor allem der 2. Korintherbrief macht deutlich, dass Paulus sein Leben als Ort Epiphanie des Todes Jesu und – paradox und indirekt – seiner Auferstehung versteht (2 Kor 4,10–12). Das Leben des Paulus zeigt, wie Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist (vgl. 2 Kor 12,9 f). Teil der Schwäche des Paulus ist auch sein Christuszeugnis (vgl. 1 Kor 2,1–4). Ihm entsprechen seine Briefe, insofern sie argumentieren, bitten und überzeugen wollen und in der Regel nicht befehlen. Paulus schreibt keine Offenbarungsreden, sondern „nur“ Briefe. Insofern sind auch sie „irdene“, zerbrechliche Gefässe, in denen die Macht Gottes sichtbar wird, aber verletzlich bleibt (vgl. 2 Kor 4,7). Die paulinischen Briefe sind „Zeugnisse“ im Sinne der biblischen Hermeneutik Paul Ricœurs: Sie verweisen auf Gegebenes, nicht Veränderbares, und darum Verpflichtendes. Aber sie haben keine Beweiskraft und sind nie gegen die Möglichkeit gefeit, Falschzeugnisse oder blosse Worte zu sein. Das Zeugnis ist für Ricœur die Sprachform des Absolut-Relativen: Verglichen mit dem Ideal der Wissenschaftlichkeit … scheint die Hermeneutik des Zeugnisses mit Relativität befleckt. Es gibt keine apodiktische Antwort auf die immer wieder neu auftauchende Frage: Wie kann man sich dessen versichern, dass … Gott nicht konstruiert ist?27

So bezeugen die paulinischen Briefe Gott. Sie verwickeln heutige Interpreten in ein Gespräch mit einem Zeugen, der über die Macht Gottes genau so wenig verfügt wie seine heutigen Interpreten.

27  Paul Ricœur, Die Hermeneutik des Zeugnisses, in: ders., An den Grenzen der Hermeneutik, Freiburg 2008, 37.

22. Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments

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Der Modellfall Paulus lässt sich verallgemeinern: In allen neutestamentlichen Texten begegnen Interpreten, die nach Gott fragen, zuerst Menschen, die in unterschiedlichen Weisen von ihm zeugen. In den deuteropaulinischen Briefen weisen die unbekannten Verfasser unüberhörbar auf den Apostel Paulus, der zum Mittler, ja manchmal sogar zum Inhalt der Botschaft für die nächste Generation wird. „Für euch, die Heiden, (war Paulus) Gefangener Christi“ (Eph 3,1). In der Johannesapokalypse bleibt der Verfasser nicht anonym, sondern ist bekannt und greifbar und wird Teil seiner Botschaft: Er bezeugt mit solcher Intensität „das Zeugnis Jesu Christi“ (Apk 1,2), dass er das Büchlein, das ihm der Engel bringt, verschlingen muss, sodass es bitter wird in seinem Bauche (Apk 10,9 f). Deutlicher, anschaulicher kann man kaum ausdrücken, wie Zeuge und Bezeugtes, Sprecher und Mitteilung untrennbar zusammengehören. Das Gotteszeugnis des Apokalyptikers Johannes bleibt, so hoch auch sein Anspruch sein mag, ein Gesprächsangebot, weil es das Zeugnis eines Menschen ist. In der Terminologie von Jürgen Habermas heisst das: Im Fall des Redens von Gott, dessen „Wahrheit“ auf der Ebene der Korrespondenz einer Proposition mit den „Fakten“ dem rationalen Diskurs entzogen bleibt, spielt im Dialog über den Wahrheitsanspruch der Texte die „Wahrhaftigkeit“ des menschlichen Zeugen eine entscheidende Rolle für die Beurteilung ihrer „Richtigkeit“.28 2. Die Adressaten Ich brauche hier nicht von den neutestamentlichen Briefen und von der durch Sendschreiben an die Gemeinden der Provinz Asia eingeleitete Apokalypse zu sprechen – es ist evident, dass die Situation ihrer Adressaten und Adressatinnen ihr Zeugnis von Gott mitbestimmt. Aber auch bei den Evangelien kann ich mich darauf beschränken, an bekannte Phänomene zu erinnern: Im Ganzen und in einzelnen Texten sind ihre Jesusgeschichten oft „inklusive Geschichten“:29 Die im Evangelium erzählte Geschichte Jesu entspricht der Geschichte seiner Gemeinde nach Ostern, z. B. im Matthäusevangelium der Geschichte der in Israel angefeindeten und verfolgten Gemeinde auf ihrem Weg zu den Völkern. Die Geschichten von Wundern Jesu, z. B. von der Heilung von Blinden, entsprechen physischen oder geistlichen Erfahrungen, welche die Gemeindeglieder in ihrem eigenen Leben mit Jesus gemacht haben. Jesuslogien, z. B. die Seligpreisungen, 28  Vgl. zu den unterschiedlichen Dimensionen von „Wahrheit“. Jürgen Habermas, Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie, in: ders., Philosophische Texte I, Frankfurt 2009, 106 f; ders., Wahrheitstheorien, in: ders., Philosophische Texte II, Frankfurt 2009, 219–232. 29  Vgl. dazu Ulrich Luz, Art. Geschichte / ​Geschichtsschreibung / ​Geschichtsphilosophie IV, TRE XII, 1984, 598. 600. Das gilt vor allem für Mt, Mk und Joh. In Bezug auf Lk spricht Jens Schröter, Nicht nur eine Erinnerung, sondern eine narrative Vergegenwärtigung. Erwägungen zur Hermeneutik der Evangelienschreibung, ZThK 108 (2011), 136 von der „narrativen Transparenz“ des Wirkens Jesu „für die nachösterliche Zeit“.

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III. Studien zur Hermeneutik

werden im Blick auf die Erfahrungen der Gemeinde umformuliert oder erweitert. Das lukanische Doppelwerk, welches den Weg Gottes mit seinem Volk von Jerusalem bis in die Welthauptstadt Rom schildert, ist so erzählt, dass die Leser am Schluss dankbar sagen werden: Das ist der Weg, den Gott mit uns gegangen ist. Anders und doch ähnlich ist es in den Geschichten von Gott, die Jesus erzählt, die wir – nach dem Vorbild des Matthäus, aber nicht immer zu Recht – als „Gottesreichgleichnisse“ bezeichnen. Die meisten von ihnen erzählen von Erfahrungen aus dem menschlichen Leben, welche – im Lichte des kommenden Reiches Gottes – neu beleuchtet, umakzentuiert oder sogar umgedreht werden. Das Zeugnis von Gott ist also zugleich ein Griff ins Leben der Hörerinnen und Hörer. Gleichnisse verstehen heisst zugleich: sich selbst neu orientieren. Es ist nicht zufällig, dass die hermeneutischen Impulse, welche die Evangelien geben, immer auf ein ganzheitliches Verstehen zielen: Verstehen und Praxis (Mt) bzw. Verstehen und Leiden (Mk) gehören zusammen. Christus zu verstehen bedeutet, in der Erfahrung des Allein-Gelassenseins sich die Fülle der Gegenwart Christi schenken lassen (Joh). Gott verstehen bedeutet, sich von Gottes Liebe erfüllen lassen und sie weitergeben (1 Joh 4,7–12). Das alles entspricht der Struktur des pro nobis im Kerygma der Briefe: Gottes Handeln durch Christi Tod und Auferstehung wird erst dadurch bedeutungsvoll, dass sie für uns geschehen sind. Verstehen und Glauben liegen ebenso wie Verstehen und Liebe im ganzen Neuen Testament eng beieinander. Gott zu verstehen bedeutet, dass nicht nur der Autor, sondern auch die Adressaten der „Mitteilung“ in sie einbezogen und durch sie verändert werden. 3. Die Mitteilung Im Zentrum der Mitteilungen der neutestamentlichen Zeugen steht eine Geschichte. Ich nenne sie abgekürzt „Geschichte Jesu Christi“. Indem ich von der Geschichte Jesu Christi spreche30 und nicht einfach von der Geschichte Jesu möchte ich andeuten, dass Geschichte erinnerte und interpretierte Geschichte ist. Die neutestamentlichen Zeugen erinnern die Geschichte Jesu immer als Geschichte des Christus, d. h. im Lichte ihrer Bibel. Sie erinnern sie als Geschichte dessen, der von Gott zeugt und von ihm beauftragt ist. Gott ist in die Geschichte Jesu eingetreten und Teil dieser Geschichte geworden. 30  Ähnlich Eckart Reinmuth, Hermeneutik des Neuen Testaments, UTB, Göttingen 2002, passim, z. B. 10. Ich werde im folgenden öfters von „Christus-Geschichte“ sprechen und möchte unter diesem bewusst unscharfen Ausdruck die unterschiedlichsten Formen von Geschichten zusammenfassen, z. B. die Jesus-Christus-Geschichte eines Evangeliums, kerygmatische Formeln und Erfahrungen mit dem Erhöhten in den Briefen, einzelne evangelische Geschichten über Jesus oder Geschichten („Gleichnisse“), die Jesus selbst erzählt hat und deren Teil er in der Überlieferung wurde.

22. Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments

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Das bedeutet zunächst, dass Gott, so wie er von Jesus bezeugt wird und sich mit ihm verbunden hat, für heutige Menschen zugänglich ist. Nicht als Inhalt einer Lehre, Philosophie oder Weltanschauung, sondern als geschichtliche Erinnerung damit als Teil unseres kulturellen Erbes begegnet Gott in der Geschichte Jesu Christi. Im kulturellen Erbe aufbewahrte Erinnerungen sind allen zugänglich. In der Geschichte Jesu Christi hat sich die metaphysische Transzendenz Gottes in eine zeitliche Anteriorität verwandelt. In dieser Weise ist er für jeden Menschen, der für das biblische kulturelle Erbe offen ist, zugänglich. Das bedeutet zweitens, dass Gott, so wie er von Jesus bezeugt ist, keine sich imponierende, rationalem Denken sich aufnötigende ewige Wahrheit ist, sondern als Teil der erinnerten Geschichte eines Menschen auch an dessen Ambivalenz, historischer Bedingtheit und Kontingenz teilhat. „Zufällige Geschichtswahrheiten“ sind keine „ewigen Vernunftwahrheiten“31 – das gilt auch für den Gott Jesu Christi, der gerade keine „ewige Vernunftwahrheit“ ist. „Zufällige Geschichtswahrheiten“, ermöglichen aber einen Dialog über sie, welcher das menschliche Subjekt, das sie verstehen will, nicht einfach unterdrückt und zum Schweigen bringt. „Erinnerungen“ an eine Geschichte lassen Freiheit, sie in eigener Verantwortung zu verarbeiten. Das bedeutet drittens, dass die Form der Mitteilungen der neutestamentlichen Zeugen über Gott immer die der Erzählung ist. Das Neue Testament enthält eine Fülle von sehr verschiedenen Christus-Erzählungen. Erzählungen regen zu neuen Erzählungen an; es gibt von ihnen keine endgültige und definitive Gestalt. Es kann sie gar nicht geben, weil jede Geschichte – als Mitteilung – von ihren Erzählern und von ihren Adressaten und ihrem jeweiligen Kontext mitgeprägt ist. Mit dem Neuen Testament hat die Kirche eine grosse Vielfalt von Christus-Geschichten kanonisiert, nicht eine Einheitserzählung (wie z. B. das Diatessaron) und schon gar nicht eine für alle Zeiten gültige Lehre. Und schliesslich bedeutet das viertens, dass die Vielfalt der neutestamentlichen Christus-Geschichten, die Gott bezeugen, Menschen verbindet und nicht exkommuniziert. Keine Version der Geschichte Jesu Christi ist die einzig richtige. Erst als christliche Theologie die neutestamentlichen Christus-Geschichten als Rohmaterial für die Konstruktion einer Lehre über den Gott Jesu Christi benutzte, wurden Exkommunikationen möglich. Eine Geschichte aber ist offen und verweigert sich einer einzigen, korrekten Interpretation. Ich verstehe diese Bemerkungen als ein Plädoyer für ein bleibend von der Inkarnation bestimmtes Reden von Gott, zu dem die neutestamentlichen ChristusGeschichten führen wollen. Im Blick auf den Autor der neutestamentlichen Christus-Geschichten verstehe ich sie als ein Plädoyer für eine Hermeneutik des Zeugnisses, in dem sich Gültiges und geschichtlich-Relatives immer wieder so 31  Vgl. Gotthold E. Lessing, Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), Werke VIII, München 1979, 12.

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III. Studien zur Hermeneutik

miteinander verbinden, wie bei Paulus das „irdene Gefäss“, das er selbst war, mit der Macht Gottes. Im Blick auf die Adressaten der neutestamentlichen ChristusGeschichten verstehe ich sie als ein Plädoyer für eine Hermeneutik der Liebe, die jedes eigene Reden von Gott unter den Vorbehalt eigener Kontingenz und Vorläufigkeit stellt. Und im Blick auf die Christus-Geschichten selbst, also im Blick auf den Inhalt der Mitteilungen, verstehe ich sie als ein Plädoyer gegen jeden Versuch, Gott zu einer zeitlosen, übergeschichtlichen Wahrheit zu machen, zu einer christlichen „Meta-Erzählung“32 oder zu einem Dogma, welches die Geschichtlichkeit und damit die Menschlichkeit Gottes aufhebt. Die neutestamentlichen Geschichten von Christus und Gott sind Mitteilungen, welche ihr eigenes hermeneutisches Potential haben. Es will sich den mündig gewordenen heutigen Leserinnen und Lesern nicht imponieren oder aufdrängen, sondern mit ihren eigenen Vorstellungen über das Verstehen von Texten in einen Dialog treten.

32 Vgl. meine Überlegungen zu den biblischen Geschichten als „kleinen Meta-Erzählungen“ in: Ulrich Luz, Postmoderne Bibelinterpretation?, Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 56 (2009), 403–422, bes. 419–422; in diesem Band Aufsatz Nr. 21, S. 343–362.

IV. Studien zur spätantiken Religionsgeschichte

23. Einleitung Die folgenden beiden Studien befassen sich mit der Rezeption des jungen Christentums im Kontext spätantiker Religiosität. Beide sind im Rahmen interdisziplinärer Projekte entstanden und verbinden religionswissenschaftliche, theologische und historische Fragestellungen. Die erste Studie „Religionen, konkurrierende Wahrheitsansprüche, Konflikte und ihre theologisch-reflexive Bearbeitung in der Spätantike“ (= Nr. 24) entstand im Rahmen eines lokalen Berner Projekts. Es ging darum, Religionen mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen zu untersuchen und dabei insbesondere die Rolle, welche die Theologie in der Bewältigung solcher interreligiösen Konflikte spielen kann. Theoretischer Bezugspunkt war dabei die Religionstheorie des Berliner Religionswissenschaftlers Andreas Feldtkeller, der selber von der Theologie her kommt. Er unterscheidet in seiner Studie zwischen „Wahrheitsanspruch“ und „Durchsetzungsanspruch“ einer Religion: Religiöse Wahrheitsansprüche bergen in sich zwar ein Konfliktpotential, welches aber keineswegs notwendig zur Gewaltanwendung führen muss.1 Der frühe Buddhismus beispielsweise stellte einen hohen Wahrheitsanspruch, war aber weit entfernt von seiner gewaltsamen Durchsetzung. Auch das frühe Christentum hatte einen hohen Wahrheitsanspruch, den es aber erst in einer bestimmten historischen Konstellation, nämlich nach der Mitte des 4. Jh.s, mit Gewalt durchsetzte. Die Skizze über die Entwicklung in der Spätantike in meinem eigenen Beitrag war mit einem Sonderproblem konfrontiert: Der neuzeitliche Begriff „Religion“ ist ein Anachronismus. Antike „Religionen“ stellten nur in seltenen Fällen Wahrheitsansprüche. „Religion“ war in der Antike auf verschiedenen Ebenen in die soziale Lebenswirklichkeit „eingebettet“: auf der Ebene des Individuums, der Familie, der lokalen Umgebung, der Stadt oder des Reichs. Mit der Wahrheitsfrage hat „embedded religion“ kaum etwas zu tun. Vielmehr ist die Spätantike die Zeitepoche, in der sich „Religion“, wie wir sie heute verstehen, erst herauszubilden beginnt. „Religionen“ verselbständigen sich in der Spätantike zunehmend und werden zu eigenständigen gesellschaftlichen Subsystemen, welche 1  Andreas Feldtkeller, Theoretische Perspektiven auf das Ausbreitungsverhalten von Religionsgemeinschaften, ihren Wahrheitsanspruch und ihre Konfliktbereitschaft, in: Walter Dietrich / ​Wolfgang Lienemann (Hg.), Religionen  – Wahrheitsansprüche  – Konflikte. Theologische Perspektiven, Beiträge zu einer Theologie der Religionen 10, Zürich 2010, 43–69, bes. 59–69.

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IV. Studien zur spätantiken Religionsgeschichte

Riten, Mythen, ein Ethos und Gemeinschaftserfahrungen ihrer Anhänger einschliessen. In diese Entwicklung ordnen sich das Judentum und das Christentum spannungsvoll ein. Der Aufsatz wählt in einem ersten Abschnitt (I) zur Profilierung der antiken Situation einen Umweg über Japan, wo die religiöse Situation in vielem derjenigen der Antike vergleichbar ist. Ein zweiter Abschnitt (II) erwähnt einige Grundlinien der „Religionstransformation“ in der Spätantike, nämlich 1. die Entwicklungen zum Monotheismus; 2. die „Globalisierung“ von „Religion“ im Rahmen des römischen Reichs; 3 damit verbunden die zunehmende Bedeutung von nicht an bestimmte Kultstätten gebundenen „Religionen“ (z. B. Orphik, Gnosis, Judentum und Christentum) und 4. die zunehmende Individualisierung der Religionen und damit verbunden ihre Organisation in Vereinen oder Schulen, denen man freiwillig beitreten kann. Ein dritter Abschnitt (III) skizziert das Verhältnis des Staates gegenüber den sich transformierenden Religionen. Es war von grossem Misstrauen geprägt. Religionsfreiheit gab es im römischen Reich ebenso wenig wie den Rechtsstatus einer „religio licita“. Ein vierter Abschnitt (IV) skizziert schliesslich das Aufkommen und die Rolle von „Theologie“ in den spätantiken Religionen: Eine Reflexion über Gott, die Götter, Mythen oder das Ethos gab es in antiken Kulten nicht. Das war eher Aufgabe der Philosophie, die in der Spätantike in verschiedenen Schulen zunehmend religiöse Züge annahm. Darum verstanden die Apologeten das Christentum nicht primär als wahre Religion, sondern vor allem als wahre Philosophie; seine Organisationsform war nicht nur die einer Kultgemeinschaft, sondern auch die einer Schule. Im Gegenüber zur christlichen Apologetik entstanden aber in der Spätantike ansatzweise Tendenzen, den Polytheismus und seine Kulte als Einheit zu begreifen und eine ihn reflektierende „Theologie“ auszubilden. So gibt es auch Ansätze zu einem – gegen das Christentum gerichteten – Wahrheitsanspruch der heidnischen Religionen. Zeugen dafür sind die Frühschrift des Porphyrius „Über die Philosophie aus den Orakeln“ und vor allem die aus der Zeit Julians stammende kleine Schrift „Über Götter und Welt“ des Philosophen Salustios. Abschnitt V formuliert Ergebnisse: Gegen das Ende der Spätantike war die Entwicklung der traditionellen Religionen zu eigenständigen gesellschaftlichen religiösen Subsystemen soweit fortgeschritten, dass eine kurze Phase von Religionsfreiheit möglich wurde. Sie währte von Konstantin bis zu Julian. Durch die Etablierung des Christentums als Reichsreligion wird diese Phase abgebrochen: Nun verband sich der Wahrheitsanspruch des Christentums mit einem christlich-imperialen Durchsetzungsanspruch, der Gewaltanwendung einschloss. Von den Theologen wurde diese Verbindung eher bejubelt als kritisch kommentiert. Die zweite Studie dieses Kapitels „Bekehrung im Neuen Testament und in der Spätantike“ (= Nr. 25) verdankt ihre Entstehung dem interdisziplinären Projekt „Crossing Religious Borders“. Sein Ziel war es, auf globaler Ebene die Praxis

23. Einleitung

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und die Interpretation von Bekehrungen, Konfessions‑ und Religionswechseln zu untersuchen.2 Im Deutschen gibt es  – im Unterschied zum Englischen  – zwei Wörter, welche dem englischen „conversion“ entsprechen, nämlich „Bekehrung“ (= ethisch und religiös verstandene „Umkehr“) und „Konversion“ (= Religions‑ oder Konfessionswechsel). Der erste Abschnitt der Studie (I) versucht, einen chronologischen Überblick über Bekehrung und Religionswechsel von der vorchristlichen Zeit bis in die Spätantike zu geben. Seine Grundthese lautet: Konversion im Sinn von Religionswechsel ist in der Spätantike erst durch das Judentum und vor allem durch das Christentum entstanden. Bekehrungen im Sinn einer Umkehr zu neuer ethischer Orientierung gab es fast nur in der Philosophie. Einzig das Judentum und das Christentum verlangten in ihrer Missionsverkündigung eine Abkehr von bisher praktizierten Kulten. Christliche Mission ist dabei nicht einfach eine Ausweitung und Weiterführung jüdischer Mission, sondern etwas völlig Neues. Martin Goodman charakterisiert sie als „shocking novelty“ in der antiken Welt.3 Der zweite Abschnitt (II) konzentriert sich auf das Neue Testament und untersucht die neutestamentlichen Bekehrungsberichte (Selbstberichte und Fremdberichte) und die Bekehrungsterminologie des Neuen Testaments, nämlich die Wortstämme μετανο‑ und ἐπιστρεφ-. Ein eigentliches Bekehrungskonzept gibt es nur in der Apostelgeschichte. Zur Absicherung und Ausweitung werden zwei weitere Textgruppen herbeigezogen, nämlich die Texte, die vom sog. Kontrastschema „Einst und Jetzt“ geprägt sind und Aussagen über Taufe und Apostasie. Als Ergebnis lässt sich formulieren, dass die Konversion zum Christentum und entsprechend auch der Abfall von ihm nie als Etappe in der Entwicklung eines Menschen beschrieben wird (wie heute!), sondern als radikaler Bruch, ja als Neuschöpfung. Entsprechend verstand man Apostasie als Rückfall in die Finsternis. Der dritte Abschnitt (III) bündelt die Ergebnisse. Aus heutiger Sicht bleibt der Eindruck, dass uns die neutestamentlichen Texte sehr fremd sind: Die „Kirchen des Wortes“, besonders die grossen Volkskirchen, sind in ihren Verständnissen von Bekehrung und Konversion vom Neuen Testament, auf das sie sich berufen, sehr weit entfernt.

2  Seine Ergebnisse wurden in dem monumentalen, fast tausend Seiten umfassenden Band Christine Lienemann-Perrin / ​Wolfgang Lienemann (Hg.), Religiöse Grenzüberschreitungen / ​Crossing Religious Borders, Studies in the History of Christianity in the NonWestern World 20, Wiesbaden 2012 veröffentlicht. 3  Martin Goodman, Mission and Conversion. Proselytizing in the Religious History of the Romane Empire, Oxford 1994, 105.

24. Religionen, konkurrierende Wahrheitsansprüche, Konflikteund ihre theologisch-reflexive Bearbeitung in der Spätantike Als „brain-stormer“ für mein Referat bekam ich von den Herausgebern dieses Bandes1 folgenden Grundgedanken: „Die spätantike religiöse Vielfalt wurde, zumindest bis zur sog. Konstantinischen Wende, nicht oder wenig durch politische Instanzen diszipliniert. Es gab eine grosse, legitime Vielfalt, die indes Konfrontationen und Konflikte einschloss. Welche Sorten von Theologien entwickelten sich unter diesen Bedingungen, reflektierten und beeinflussten sie?“ Dieser Grundgedanke gibt zwar ein weit verbreitetes Idealbild eines religiösen Pluralismus in der römischen Antike wieder. Er bedarf aber einer Korrektur.

I. Die Spätantike und Japan Zuerst möchte ich einige allgemeine Grundlinien zur religiösen Situation und zur religiösen Entwicklung in der Spätantike skizzieren. Ich taste mich über einen Umweg an das Thema heran, der die Andersheit der Spätantike veranschaulichen soll, nämlich die Religionsgeschichte Japans. Die Religionsgeschichte Japans und die Spätantike sind durch verschiedene Gemeinsamkeiten miteinander verbunden: Da ist die Familienreligion, in Rom auf den Herd konzentriert und mit der Verehrung der Laren, der Penaten, des Genius und der Ahnen locker verbunden.2 In einem traditionellen japanischen Haus gibt es tokonoma, eine ebenerdige Nische, welche einen ausserordentlichen, nicht funktionalen Gegenstand enthält, z. B. ein kake-mono (Hängebild) oder ein ikebana, in einigen Familien auch eine Buddha-Statue. Tokonoma ist ein besonderer, ausgegrenzter, sozusagen numinoser Ort im Haus, der oft mit Gedenken an Momente des Shinto, des der Familientradition entsprechenden Buddhismus oder an die Ahnen

1 Walter Dietrich  /  ​Wolfgang Lienemann (Hg.), Religionen – Wahrheitsansprüche – Konflikte. Theologische Perspektiven, Beiträge zu einer Theologie der Religionen 10, Zürich 2010. 2  Vgl. zur religio domestica die Übersicht bei Hans Josef Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums I, Stuttgart 1995, 58–64.

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IV. Studien zur spätantiken Religionsgeschichte

locker verbunden ist. In Rom wie in Japan ist der Uebergang zwischen Innenarchitektur, Familientradition und Religion fliessend. Da ist Shin-to, die traditionelle japanische Naturreligion, mit ihren Schreinen und heiligen Orten. Wie in der Antike zu den städtischen Tempeln so „gehört“ man in Japan zu einem Shinto-Schrein, weil man in einer Stadt oder einem Quartier wohnt. Mit religiösen Ueberzeugungen hat die Zugehörigkeit zu einem lokalen Schrein kaum etwas zu tun. Wie in antiken Tempeln so bilden auch in den Schreinen diejenigen Rituale, die wir als religiös bezeichnen würden, nur einen kleinen Teil dessen, was auf ihrem Areal geschieht: Dazu gehören Familienspaziergänge, Horoskope, Quartier‑ oder Stadtfeste, Mahlzeiten und Picnics verschiedenster Art, Privatgebete, Familienzeremonien, Theateraufführungen, amtliche Verlautbarungen, Geschäfte und nicht zuletzt Tourismus. Ist das Religion? Es ist nicht zufällig, dass es unter Christinnen und Christen von Korinth3 bis Japan sehr verschiedene Meinungen darüber gab und gibt, wieweit man sich hier beteiligen könne. Jörg Rüpke spricht in Bezug auf die Antike von „embedded religion“.4 Religion ist eingebettet in alltägliche Lebensvorgänge. Ähnlich ist es auf Reichs‑ bzw. nationaler Ebene: In der Hauptstadt Rom war der Tempel des Iuppiter Optimus Maximus auf dem Kapitol, und in den grossen Provinzstädten waren die Tempel der Roma in besonderer Weise mit dem Reich bzw. mit den Kaisern verbunden: Der Kaiser selbst war pontifex maximus, die Angehörigen senatorischer oder ritterlicher Familien verwalteten die wichtigsten Priesterämter. In den Provinzstädten stammten die Priester, insbesondere die für den Kaiserkult zuständigen, immer aus der lokalen Aristokratie. Durch ihre kultischen Ämter repräsentieren sie die Präsenz des Reichs und zugleich ihre eigene Privilegiertheit. Zu vergleichen ist das im heutigen Japan mit dem Yasukuni-Schrein in Tokyo, demjenigen Schrein, in dem die Geister aller derer, die für Japan gestorben sind, präsent sind und der früher für den Kaiserkult besonders wichtig war. Bis heute wird er vom Premierminister und anderen Würdenträgern entweder besucht oder nicht besucht, was in jedem Fall eine Schlagzeile in den Medien wert ist. Der Yasukuni-Schrein ist ein Relikt des die Zeit von 1868–1945 dominierenden Staats-Shintos der Meji‑ und Showa-Zeit.5 Zu vergleichen ist diese Phase des Staats-Shintos mit den verschiedenen Versuchen der römischen Kaiser des 3. und des 4. Jh.s, das auseinanderfallende römische Reich unter religiösem Vorzeichen zu einigen. Ist das Religion in unserem Sinne?  Vgl. 1 Kor 8–10.  Jörg Rüpke, Wie verändert ein Reich Religion – und wie Religion ein Reich? Bilanz und Perspektiven der Frage nach der ‚Reichsreligionʻ, in: Hubert Cancik / ​Jörg Rüpke (Hg.), Die Religion des Imperium Romanums. Koine und Konfrontationen, Tübingen 2009, 5 5  Kaiser Mutsuhito (= Meiji) regierte von 1867–1912; sein Enkel Kaiser Hirohito (= Showa) von 1926–1987. 3 4

24. Religionen, konkurrierende Wahrheitsansprüche, Konflikte

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Für alle bisher besprochenen religiösen Kulte gilt: Mit dem, was wir die Wahrheitsfrage nennen, hat alles das, weder in Rom noch in Japan, wenig bis nichts zu tun. Zu japanischen Religionen meint der japanische Theologe Yasuo Furuya: „The basic question of Japanese people encountering with a religion is not: ‚Is it true?ʻ but ‚what is it good for?‘“6 Der Buddhismus – in Japan zunächst butsu-do (Weg des Buddha) genannt – fand seit der Nara-Zeit in Gestalt von Schulen (jap. shu) Eingang. Der Begriff „Schule“ darf dabei allerdings nur cum grano salis verstanden werden: Um die Haupttempel, die gleichsam Zentren der Schulen waren, entstand jeweils ein umfangreiches Netz von Lokaltempeln und Laienorganisationen, deren lokale Träger die buddhistisch geprägten Familien waren. Über die Meditation hinaus hatten diese Schulen ihr Zentrum teilweise eher in Ritualen, teilweise eher in Texten und Lehren. Je nach dem sind sie eher den sog. Mysterienreligionen der Spätantike oder den philosophischen oder gnostischen Schulen vergleichbar. Eine Verbindung von rituellen und philosophischen Elementen, wie sie in fast allen buddhistischen Schulen üblich ist, gibt es in der Spätantike auch manchmal: ich erinnere einerseits an gewisse gnostische Richtungen, wie z. B. die Markosier, andererseits an das Christentum, das religionssoziologisch zugleich als Kultgemeinde wie als Schule verstanden werden kann. In allen buddhistischen Schulen und in ihren antiken Parallelen spielte die Bekehrungen als Beitrittsmodus eine wichtige Rolle, wobei man diese nicht im modernen Sinn als Religionswechsel, sondern eher als vertiefte und radikalisierte Zuwendung zu einer „Religion“ oder „Schule“ innerhalb des eigenen weltanschaulichen „Grossraums“ verstehen muss.7 Heute ist es so, dass die Affiliation zu einer buddhistischen Schule bzw. einem buddhistischen Tempel am ehesten eine Frage der Familienzugehörigkeit ist (anders als im Shin-to, wo der Wohnort für die Frage der Zugehörigkeit zu einem lokalen Schrein das Wichtigste ist). Insofern ist für die meisten Japaner die Zugehörigkeit zu mehreren „Religionen“ das Natürliche, genau wie in der Antike auch. Seit der Endphase der Tokugawa-Zeit, dem frühen 19. Jahrhundert, tauchen in Japan neue Religionen auf, wie Nyoraikyô, Tenrikyô, Konkôkyô8 und das  Yasuo Furuya (Tokyo) mündlich.  Vgl. Arthur D. Nock, Conversion, paperb. Oxford 1961 (= London 1933), 7: „By conversion we mean the reorientation of the soul of an individual, his deliberate turning from indifference or from an earlier form of piety to another, a turning which implies a consciousness that a great change is implied, that the old was wrong and the new is right“. Christoph Auffahrt, Religio migrans: Die orientalischen Religionen im Kontext antiker Religion. Ein theoretisches Modell, Mediterranea 4, Pisa / R ​ oma 2007, 354: „Conversio hat … nicht einen Religionswechsel zum Ziel … Konversionen gibt es in allen Religionen der Spätantike, ob in einer Philosophengemeinschaft, in paganen Kulten, unter Juden und unter Christen“. 8 Dazu vgl. Ulrich Luz, Jesus, the Origin of Christianity and Japanese ʻNew Religions’, in: James H.  Charlesworth / ​Petr Pokorny (Hg.), Jesus Research in International Perspective: The First Princeton–Prague Symposion on Jesus Research, Prague 2005, Minneapolis 2009, 230–254; deutsche Originalfassung in: Ulrich Luz, Jesus im Vergleich mit neueren 6

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IV. Studien zur spätantiken Religionsgeschichte

Christentum9, später noch viele andere. Die drei erstgenannten haben gemeinsam, dass sie in ländlichem Unterschichtsmilieu entstanden sind, auf eine Stifterpersönlichkeit zurückgehen, die Züge in sich vereinigt, die wir schamanistisch oder prophetisch nennen würden (in zwei Fällen war die Stifterin eine Frau), und, ähnlich wie das Christentum, durch eine monolatrische, persönliche Gottesbeziehung, durch einen schriftlichen Kanon, durch eine universalistische Perspektive und durch eine stark missionarische Beziehung zur Aussenwelt sich auszeichnen. Auch hier ist für die Zugehörigkeit die Erfahrung einer persönlichen Gottesbegegnung bzw. einer „Konversion“ wichtig, die dann seit der zweiten Generation zum Teil durch die Familientradition abgelöst wird. Die neuen Religionen haben gemeinsam, dass sie auf lokaler Ebene nicht als Schule, sondern als kô organisiert sind, d. h. als lokaler Verein mit Mitgliedschaft aufgrund individueller Entscheidung und mit aktiver Partizipation der Mitglieder.10 Sie und das Christentum decken zum ersten Male in der japanischen Religionsgeschichte durch ihre Riten, Mythen und Lehren das gesamte Spektrum derjenigen Lebensbedürfnisse ab, die nach unserem westlichen Verständnis eine Religion befriedigt.11 Darum genügt es für einen Anhänger dieser Religionen auch, bei „seiner“ Religion Mitglied zu sein; andere „Wege“ werden unnötig12 bzw. sind verboten. Ihre Analogien in der spätantiken römischen Gesellschaft haben diese neuen Religionen in den erstarkenden sog. „orientalischen“ Religionen eine Parallele, zu denen neben Judentum, Christentum, Manichäismus u. a. auch die Isisreligion, die Mithrasreligion und die kurzlebige, aber im Reich durch systematische Mission propagierte Verehrung des Glykon von Abunoteichos13 im 2. Jh. gehörten. japanischen Religionsstiftern, in: ders., Exegetische Aufsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 93–114.  9  Ich rechne das Christentum zu den neuen Religionen des 19. Jahrhunderts, obwohl es seit dem 16. Jh. in Japan präsent war und in der grossen Verfolgungszeit als „verborgene“ (aber in hohem Masse transformierte) Religion weiterlebte. Mit der Öffnung Japans im 19. Jh. erfolgte eine „Neueinpflanzung“ des Christentums, die in keiner direkten Kontinuität zum früheren japanischen Christentum steht und dieses auch nur mit Schwierigkeiten in sich aufsog. 10  Nach Michihito Tsushima, Nishinomiya (mündlich): „an assosication with usually no entrance requirements, however with commitment and excercise by members“ und einem in gewisser Weise „conversionist“ Charakter. Nach Susumu Shimazono, From Salvation to Spirituality. Popular Religious Movements in Modern Japan, Melbourne 2004, 4.7 ist ein kô eine lokale religiöse Vereinigung, in der Familien und Laien aktiv partizipieren. 11  Nach Migaku Sato, Tokyo (mündlich) ist das im heutigen Japanisch für Religion benutzte Wort kyô z. B. in Kirisuto-kyô (= Christentum), Tenri-kyô, Konkô-kyô, Buk-kyô (= heutiges Wort für Buddhismus) erst seit etwa 1870/80 gebräuchlich. Vorher wurde vom „Weg“ (dô) gesprochen, etwa in „Butsu-dô“ (Weg des Buddha) oder „Shin-tô“ (= Weg der Götter). 12  Zugehörigkeit zu älteren „Religionen“ ist in den meisten neuen japanischen Religionen nicht verboten, aber nicht nötig. Insofern unterscheiden sie sich vom Christentum. 13 Dazu Christoph Auffahrth, Reichsreligion und Weltreligion, in: Cancik  /  ​R üpke, Religion des Imperiums (o. Anm. 3), 42–44; Ulrich Victor, Lukian von Samosata. Alexander oder der Lügenprophet, Religions in the Graeco-Roman World 132, Leiden 1997.

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Die Hinweise auf Japan hatten die Aufgabe, durch einen Blick in die fremde Welt des fernen Ostens die Augen zu öffnen für das Fremde, was wir in unserer eigenen, europäischen Geschichte, in diesem Fall der Religionsgeschichte der Spätantike, oft übersehen. Die wichtigsten Punkte waren: a. Der neuzeitliche, christlich geprägte Begriff der „Religion“ ist auf die Antike kaum direkt anwendbar.14 Unter „Religion“ verstehe ich dabei im Sinn von Gerd Theissen ein in sich geschlossenes kulturelles Zeichensystem (eine „semiotische Kathedrale“),15 das durch Mythen, Ethos und Riten die kontingente Lebenswirklichkeit deutet und verarbeitet. Ihre Leistung beschreibt Andreas Feldtkeller folgendermassen: „Religionen deuten und gestalten Grunderfahrungen des Menschseins und stellen sie in den Zusammenhang eines umfassenden Wirklichkeitsverständnisses.“16 Konstitutiv für eine „Religion“ in diesem Sinn ist nach Feldtkeller auch die Existenz einer Gemeinschaft, die durch sie konstituiert ist und sie praktiziert.17 b. „Religion“ als „embedded religion“: „Religion“ in der Spätantike ist in die soziale Lebenswirklichkeit auf verschiedenen Ebenen „eingebettet“: auf der Ebene des Individuums, der Familie, einer die Familie überschreitenden lokalen Gemeinschaft, z. B. eines Vereins oder einer Schule, und schliesslich auf der Ebene der Stadt oder des Reichs. Dabei ist in der römischen Spätantike die Unterscheidung zwischen den – auf die letzten beiden Ebenen beschränkten – sacra publica (öffentliche „Religion“) und den sacra privata (private und familiäre „Religion“) fundamental.18 In Japan waren die Übergänge fliessender. c. Daraus ergibt sich grundsätzlich die Möglichkeit, ja die „Normalität“ einer mehrfachen Zugehörigkeit zu „Religionen“ auch in der Spätantike. d. „Embedded religion“ stiftet nicht Gemeinschaft, sondern setzt Gemeinschaft voraus. e. „Religion“ und Wahrheitsfrage haben zunächst kaum etwas miteinander zu tun. Dies ändert sich erst sukzessive mit der zunehmenden Individualisierung und der Wahlmöglichkeit von Religionen. Unsere bisherigen Beobachtungen gipfeln also darin, dass sie Tragkraft einer allgemeinen Definition von Religion in Frage stellen, indem sie auf die his14  Jörg Rüpke formuliert pointiert: Der Begriff „Religion“ ist entstanden „als Versuch, einen Allgemeinbegriff zu entwickeln, der Äquivalente des Christentums“ in anderen Kulten / ​ Bewegungen / ​Denominationen beschreibt (Wie verändert … [o. Anm. 3], 14). 15  Vgl. Gerd Theissen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2000, 19. 385. 16  Andreas Feldtkeller, Theoretische Perspektiven auf das Ausbreitungsverhalten von Religionsgemeinschaften, ihren Wahrheitsanspruch und ihre Konfliktbereitschaft, in: Dietrich / ​Lienemann (Hg.), Religionen (o. Anm. 1), 43–69, dort 44. Dabei setzt Feldtkellers Definition ausdrücklich voraus, dass Grunderfahrungen des Menschseins etwas Universales sind, die Menschen überall und zu jeder Zeit machen, „indem sie Menschen sind“. 17 Diese für meine Überlegungen wichtige Dimension der Gemeinschaft tritt bei Theissen zurück. Feldtkeller a. a. O. 47 nimmt sie auf. 18  Dazu Jörg Rüpke, Die Religion der Römer, München 22006, 27–31.

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torische und kulturelle Variabilität von „Religion“ hinweisen. Historiker – seien es Theologen oder Religionswissenschaftler – werden dies immer tun müssen, um die Fremdheit anderer Kulturen und der eigenen Geschichte wahrnehmen zu können. Auch die Kategorie des „Menschen“, die für fast alle universal gültig sein wollenden Religionsdefinitionen grundlegend ist, wurde ja erst durch eine geschichtliche Entwicklung zur grundlegenden Kategorie, im Westen nicht zuletzt durch griechische Philosophie und das universalistische Christentum. Umgekehrt sind Systematiker  – Theologen und Religionswissenschaftler  – immer auf allgemeingültige Begriffe angewiesen, um fremde Phänomene verstehen zu können. Der Gegensatz beider Ansätze ist kein grundsätzlicher, sondern Ausdruck einer hermeneutisch-produktiven Spannung.

II. Grundlinien der „Religions“transformation in der Spätantike Ich möchte nun auf einige für die Spätantike besonders wichtige, sich teilweise auch überlappenden Entwicklungsprozesse der „Religionen“ aufmerksam machen, welche in Japan nur teilweise Parallelen finden. 1. Die Entwicklung zum Monotheismus. Sie ist in der Spätantike durchweg zu beobachten und geschieht durch Addition von Gottheiten,19 durch Identifikation von Gottheiten,20 durch Konzentration von göttlichen Eigenschaften und Tätigkeiten in eine „Mono-Gottheit“21 und durch die Vergeistigung von anthropomorphen Gottesvorstellungen in der Philosophie. Die jüdische und die christliche Form des Monotheismus, welche exklusiv sind und andere Götter als „Götzen“ verwerfen, und die gnostische Form des Monotheismus, welche die Gottheiten der sichtbaren Welt negativiert und in diesem Sinn dämonisiert, ordnet sich in diese Gesamtentwicklung einerseits ein, aber unterscheidet sich andererseits wieder von ihr. 2. Die Universalisierung und „Globalisierung“ von „Religion“. Der Grossraum des römischen Reichs bildet die Voraussetzung dafür. Die Additions‑ und 19  Beispiele sind häufig in Zauberpapyri, z. B. im Grossen Pariser Zauberpapyrus bei Charles K.  Barrett / ​Claus J.  Thornton, Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, UTB, Tübingen 21991, Nr. 30, Zl 5–20. Ein anderes Beispiel ist der orphische Vers: εἷς Ζεύς, εἷς Ἁιδής, εἷς Ἥλιος, εἷς Διόνυσος, εἷς θεὸς ἐν πάντεσσι (ein Zeus, ein Hades, ein Helios, ein Dionysos, ein Gott in allem) (abgedruckt bei Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion II, HAW V 2, München 2 1971, 429). 20  Der eine Gott hat viele Namen: PsAristoteles, De mundo 7 = 401A; Celsus bei Origenes, Contra Celsum 5,41. Geläufig ist eine Identifikation von Göttern in der interpretatio Romana der Götter unterworfener Völker: Die Götter unterworfener und sog. „verbündeter“ fremder Völker werden legitimiert, indem sie mit römischen Göttern identifiziert und so gleichsam indirekt „nostrifiziert“ werden. 21  Z. B. in den Ich-bin-Formulierungen der Isis-Aretalogie von Kyme, abgedruckt bei Johannes Leipoldt / ​Walter Grundmann, Umwelt des Urchristentums II, Berlin 1967, 96 f.

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Identifikationstendenzen, die für die Entwicklung des Monotheismus wichtig sind, kennzeichnen die Begegnung unterschiedlichster Kulte in diesem Grossraum. In der Entwicklung der „Religionen“ beobachten wir weiter eine zunehmende Bedeutung „transportierbarer“ heiliger Texte bzw. Bücher gegenüber den nicht-transportierbaren Kultstätten in vielen Bewegungen – Beispiele für nicht an bestimmte Kultstätten gebundene „Religionen“ sind die Orphik, die Hermetik, die Gnosis, das Judentum und das Christentum. Dabei ist wichtig, dass nur das Judentum, das Christentum und aus ihm sich entwickelnde „Religionen“22 auch ökumenische Organisationsformen entwickeln – in den uns bekannten im ganzen Reich verbreiteten Mysterienreligionen oder in den meisten gnostischen Schulen ist dies nicht der Fall. 3. Die zunehmende Fragmentierung von Religion in Vereinen. Zusammen mit der Universalisierung gehört eine zunehmende Fragmentierung von Religion in den unterschiedlichsten Vereinen: Sie heissen collegia (Vereine), corpora (Körperschaften), θίασοι ([religiöse] Gesellschaften), ἑταιρίαι (Genossenschaften), συναγωγαί (Versammlungen) und  – dies nur im Christentum – ἐκκλησίαι (Versammlungen).23 Die Blüte der Vereine ist einerseits eine Folge der Grösse und Unübersichtlichkeit der antiken Grosstädte und andererseits der zahlreichen Migrationsbewegungen.24 Vereine sind in der Regel nicht hierarchisch aufgebaut und kennen meistens keine Priesterämter.25 Sie sind übersichtlich und immer lokal. Drei Mitglieder sind das Minimum, 1500 das uns bekannte Maximum;26 normalerweise wird die Mitgliederzahl unter hundert gelegen haben. In den meisten Vereinen verbinden sich in unterschiedlicher Weise die Pflege der Geselligkeit, vor allem bei gemeinsamen Mahlzeiten, ein Kult und der eigentliche Vereinszweck, z. B. Bestattung von Mitgliedern, Zusammenschluss von Berufsgruppen oder Migranten. Das frühe Christentum hatte die Schwelle der „häuslichen Religion“ (religio domestica) schon früh überschritten27 und ordnet sich in diese Gesamttendenz ein, unterscheidet sich aber zugleich von vielen anderen Vereinen. Zu den unterscheidenden Merkmalen gehören nicht nur alle guten Eigenschaften, die Tertullian in Apologeticum 39 eindrücklich aufzählt, sondern z. B. auch, dass die Christen, ähnlich wie andere Mysterienvereine, z. B. die Isisanhänger oder die Iobakchen, Priester haben; dass sie, ähnlich wie Philo dies von den Juden  Z. B. Marcionitismus, Montanismus, Manichäismus.  Auffahrt, Reichsreligion (o.Anm. 13), 48. Zum Vereinswesen vgl. die Übersicht bei Klauck, Umwelt I (o. Anm. 2), 49–58. 24  Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte, HAW V 4, München 21976, 339 f. 25  Rüpke, Religion (o. Anm. 18), 26 f. 206 f. 26  Rüpke, Religion (o. Anm. 18), 200. Zur Grösse der Vereine vgl. auch Nilsson, Religion II (o. Anm. 18), 664; Klauck, Umwelt I (o. Anm. 2), 50. 27 Schon der Vf. des 2Tim teilt die verbreitete Abneigung gegen die unkontrollierbare religio domestica. Seine Gegner schleichen sich in die Häuser ein und haben es dort besonders auf die Frauen abgesehen (2 Tim 3,6). 22 23

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in Alexandrien fordert,28 in paganen Vereinen nicht mitmachen; dass sie sich, im Gegensatz zu einer Forderung des römischen Vereinsrechtes, häufiger als einmal im Monat versammeln29 und schliesslich, dass sie eine überregionale Organisation besitzen. 4. Individualisierung von Religion. Die zunehmende Individualisierung von Religion ist eines der wichtigsten Kennzeichen der Entwicklung in der Spätantike. Vereine können in Konkurrenz zueinander treten. Die Mitgliedschaft in ihnen ist bis zu einem gewissen Grade frei wählbar. Ein wichtiges Indiz für die Individualisierung von Religion ist wohl die Häufigkeit von Bekehrungen. Sie setzen immer einen individuellen Schritt zu vertiefter religiöser oder philosophischer Erkenntnis, zu einem radikalen asketischen Lebensstil und zur tendenziell elitären Distanzierung gegenüber dem „Normalen“ voraus. In der Spätantike gibt es in verschiedensten Bereichen religiöse Eliten. Als „elitäre“ Bewegungen verstehen sich das Christentum insgesamt, manche einzelne Richtungen innerhalb des Christentums, die meisten philosophischen Schulen, die orphische Bewegung und die gnostischen Schulen. Zu ihnen gehört man aufgrund einer persönlichen Wahl. Walter Burkert hat die Mysterien insgesamt als „eine persönliche Option innerhalb des allgemeinen polytheistischen Systems“30 bezeichnet. Das trifft in Bezug auf die Mysterienvereine und ‑kulte in der Spätantike wohl nicht generell, aber in vielen einzelnen Fällen zu, wie die Bekehrungsgeschichte des Lucius im 11. Buch der Metamorphosen des Apuleius schön illustriert. Versteht man „Religion“ im modernen westlichen Sinn, wie ich dies oben beschrieben habe,31 so kann man wahrscheinlich sagen, dass die Spätantike eine Zeit ist, in der sich „Religionen“ diesem Sinn zu konstituieren beginnen. Sie ist eine Zeit des Wandels, in der sich Religionen als besondere und umfassende Erkenntnis‑ und Lebenssysteme gegenüber ihrer „Einbettung“ in die Gesellschaft zu verselbständigen begannen. „Religionen“ wurden in der Spätantike zunehmend zu eigenständigen gesellschaftlichen Subsystemen. Das Christentum ist nur eine von diesen Religionen, wenn auch die die erfolgreichste. An diesem Wandel hatte das im 4. Jh. siegreiche Christentum einen wesentlichen Anteil. Eine ähnliche Verselbständigung von Religionen als eigenständige Subsysteme ist in der Neuzeit seit dem 18. Jh. zu beobachten. In gewisser Weise ist also die Spätantike eine „vormoderne“ Zeit.

28  Zu Philos Urteilen über pagane Vereine vgl. Torrey Seland, Philo and the Clubs and Associations of Alexandria, in: John S.  Kloppenborg / ​Stephen G.  Wilson, Voluntary Associations in the Graeco-Roman World, London 1996, 110–127, bes. 116 f. 29 Rüpke, Religion (o. Anm. 18), 205. 30  Walter Burkert, Antike Mysterien, Funktionen und Gehalt, München 31994, 17. 31  Vgl. o. 391.

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III. Der Staat und die Religionen Die Idee der „grossen, legitimen Vielfalt“32 der Religionen in der vorkonstantinischen Spätantike entspricht der Wirklichkeit nicht. Entstammt diese positive Bewertung der Spätantike einem schlechten Gewissen moderner Theologen über die unheilvollen Folgen der konstantinischen Wende? Oder hat sie mit einer romantischen Idealisierung des „toleranten“ Polytheismus zu tun? Ich frage bloss. Ich möchte zu diesem Themenbereich fünf Bemerkungen machen: 1. Im öffentlichen Raum gab es im römischen Reich grundsätzlich keine Religionsfreiheit. Nur der Bereich des Hauses war – relativ  – frei.33 Jede Errichtung eines Tempels in öffentlichem Raum musste erlaubt werden.34 Dass Kulte auch verboten werden konnten, zeigt der Senatsbeschluss über das faktische Verbot der Bachanalia aus dem Jahre 186 v. Chr. „Niemand wünsche, dass mehr als fünf Menschen, Männer und Frauen insgesamt, ein Ritual vollzögen, und dass dabei mehr als zwei Männer und mehr als drei Frauen anwesend seien, es sei denn auf Beschluss des Stadtprätors und des Senates“.35 Die Zurückhaltung gegenüber allem Fremdreligiösen blieb gross. Die Vertreibungen von Juden und Anhängern des Isiskultes aus Rom bis ins 1. Jh. n. Chr. können dies illustrieren.36 2. Entscheidend für die Beurteilung von fremden Kulten und auch von religiösen Vereinen war ihre Übereinstimmung mit den „väterlichen“ Werten und Sitten. Ein schönes Beispiel dafür ist das von Josephus berichtete äusserst 32 Vgl.

den „brain-stormer“ o. S. 387.  Dass es auch gegenüber der Religionsausübung im Haus grosse Reserven gab, zeigt Klauck, Umwelt I (o. Anm. 2), 63: Schon Plato forderte: „Niemand darf in seinem eigenen Hause ein Privatheiligtum haben“ (Leges 10,16 = 909D). Alle Opfer sollten im öffentlichen Bereich stattfinden. Bereits 429 v. Chr. werden nach Livius, Ab urbe condita 4, 30, 9–11 in Rom alle häuslichen Opfer für nichtrömische Götter verboten. Aufschlussreich sind auch die Widerstände, welche ein in Delos wohnender ägyptischer Sarapispriester bei der Umwandlung des in seinem Haus stattfindenden privaten Kultes in einen öffentlichen Kult mit einem kleinen Tempel zu überwinden hatte (Klauck a. a. O. 64 f). Vgl. ferner u. Anm. 34. 34  Vgl. Rüpke, Religion (o. Anm. 18), 34 f. Livius, Ab urbe condita 9,46,7: „Der Senat liess ein Volksgesetz verabschieden, das verbot, jemand könne einen Tempelbezirk oder einen Altar ohne Beschluss des Senats oder der Mehrzahl der Volkstribunen weihen“. 35  Corpus Inscriptionum Latinarum I2, 581,10; Text bei Rüpke, Religion (o. Anm. 18), 39 f. 36 Vgl. Tacitus, Annales 2,85,4 (Tiberius verbannt 4000 Freigelassene, die von ägyptischen oder jüdischen Kulten „infiziert“ sind, oder verurteilt sie gar in die Bergwerke); Sueton, Tiberius 36,1–2 (Vertreibung der Juden und Magier; Verbot besonders ägyptischer und jüdischer Kulte); Seneca, Epistulae Morales 108,22. Noch dramatischer ist die Geschichte des Isiskults in Rom: Nach vielen Verfolgungen im 1. Jh. v. Chr. kam es auch im 1. Jh. n. Chr. verschiedentlich zu Rückschlägen, besonders unter Tiberius: Vgl. ausser Tacitus und Sueton (vgl. oben) auch Cassius Dio, Historia Romana 40,47,3; 42,26,2. Seit Caligula gab es einen Tempel der Isis in Rom, aber nicht in der Stadt, sondern auf dem Marsfeld. Erst etwa seit Domitian etablierte sich Isis unangefochten als römische Gottheit. Christliche Apologeten weisen zustimmend auf die altrömische Intoleranz gegenüber fremden Kulten und bedauern, dass es in der Gegenwart anders ist (Tertullian, Apologeticum 6; Minucius Felix, Octavius 22,2). 33

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harte Vorgehen des Tiberius nicht nur gegen den römischen Isistempel, sondern auch gegen Isis selbst, deren Bild er in den Tiber werfen liess, weil sich die dortigen Isispriester in einen Skandal verwickeln liessen (Josephus, Antiquitates 18,66–80). Bezeichnend ist auch der Spott Juvenals gegen die Juden, die, „gewohnt, Roms Gesetze zu verachten“, statt dessen dem geheimen Gesetz des Mose anhangen (Juvenal, Satiren 14,96–106). Religionsvereine wie z. B. der ehrwürdige Verein der Jobakchen in Athen betonen in ihren Statuten auffällig stark das wohlanständige und unauffällige Verhalten ihrer Mitglieder.37 Auch auf die Betonung des unauffälligen und anständigen Verhaltens der Christen in neutestamentlichen Schriften (z. B. 2 Thess 3,6–15; 1 Petr 4,1–6) und die ethische Diffamierung von christlichen Gegnern (z. B. 2 Petr 2) fällt von hier aus ein neues Licht. 3. Einen Rechtsstatus einer „erlaubten Religion“ (religio licita) gibt es nicht. Der Ausdruck stammt aus Tertullians Apologeticum (21,1). Wichtig ist vielmehr, ob eine Religion die „väterliche“ Religion eines mit Rom verbündeten Volkes ist. Aber auch das garantiert keine Kultusfreiheit, wie beispielhaft die Massnahmen verschiedener Kaiser gegen die Juden und die Massnahmen des Tiberius und des Claudius gegen die Druiden38 zeigen können. Für „Fremdreligionen“ entscheidend war also, dass sie sich den römischen „väterlichen Sitten“ anpassten, sich an die römischen Gesetze hielten und von den Römern durch eine „interpretatio Romana“ in ihren religiösen Kosmos integriert werden konnten. 4. Gegenüber allen Vereinen und Kollegien war der römische Staat grundsätzlich skeptisch. Nach Jörg Rüpke war die Duldung auch religiöser Vereine „immer nur eine Duldung auf Widerruf“.39 Die berühmte Korrespondenz zwischen Plinius und Trajan kann dies erläutern: Trajan befürchtet bereits bei einem collegium fabrorum, also einer Zunft von Zimmerleuten, die Plinius auch als freiwillige Feuerwehr einsetzen wollte, dass daraus eine „hetaeria“ (vermutlich: ein politischer Club) werden könnte, und lehnt den vernünftigen Vorschlag seines Statthalters ab (ep 10,34). Zu Trajans Entscheidung über die Christen (ep 10,97) stellt Tertullian mit Recht fest, dass sie widersprüchlich sei und die Christen völlig davon abhängen lasse, ob sie denunziert werden  Text bei Leipoldt / ​Grundmann, Umwelt II (o. Anm. 21), 87.  Augustus verbietet Kontakt mit Druiden für römische Bürger. Tiberius verbietet die Druiden überhaupt. Claudius erneuert das Verbot (Sueton, Claudius 25). Schwer zu sagen ist, was der Grund für diese Verbote und die z. T. heftigen Verfolgungen war. Plinius d. Ä. nennt Magie, widerwärtige Bräuche (monstra) und Menschenopfer (Naturalis historia 29,54; vgl. 30,13). Daneben gab es sicher auch politische Gründe für die Verfolgungen der Druiden, da sie für die Gallier oft auch eine politische Führungsrolle z. B. bei Aufständen spielten. Es gab aber auch positive Beurteilungen der Druiden, z. B. als Vertreter uralter Weisheit. Die Analogien zur Beurteilung der Juden in der Antike sind interessant. Klare Kriterien dafür, was gestattet war und was nicht, gab es nicht. Vielmehr gilt als verbreitete Regel, dass fremde Kulte in einem langen, meist mehrere Jahrhunderte dauernden, für sie oft sehr leidensreichen Prozess schliesslich in Rom assimiliert wurden. 39  Rüpke, Religion (o. Anm. 18), 41. 37

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oder nicht.40 Da die Christen für viele Nichtchristen als eine exklusive, von der übrigen Gesellschaft abgesonderte und darum besonders üble superstitio (Aberglauben)41 galten und da ihre collegia sich in verschiedener Hinsicht von anderen religiösen Vereinigungen unterschieden,42 waren sie gegenüber dem Staat in einer besonders unvorteilhaften Position. Aber grundsätzlich gilt, dass der römische Staat gegenüber allen Vereinen wenig tolerant war. Alles bisher Gesagte illustriert die Wichtigkeit der von Andreas Feldtkeller eingeführten Unterscheidung von „Wahrheitsanspruch“ und „Durchsetzungsanspruch“.43 Ich möchte letzteren noch differenzieren und zwischen „Geltungsanspruch“ und „Durchsetzungsanspruch“ unterscheiden: Für alles, was man zur „väterlichen“ römischen Religion rechnete, insbesondere für die sacra publica, gab es zunächst nicht einen Wahrheits-, sondern einen Geltungsanspruch. Er war  – wie der Geltungsanspruch aller traditionalen „Religionen“ in ihren Sippen und Völkern – grundsätzlich traditional abgestützt, wurde aber im Gefolge der Eroberung des Mittelmeergebietes durch die Römer im ganzen Reich imperial, d. h. durch die Staatsgewalt, „durchgesetzt“. Dem entspricht – in der Terminologie von Feldtkeller – die „generative“ Weitergabe des religiösen Erbes in Familien, Städten und im Staat einerseits und seine „imperiale“ Verbreitung im ganzen Reich durch die römischen Eroberer andererseits.44 Gegenüber dem Geltungsanspruch traditionaler „Religionen“ unterworfener Völker äusserte sich der übergeordnete Geltungsanspruch der väterlichen „Religion“ des römischen Herrschervolks also als Durchsetzungsanspruch. Normative „Wahrheitsansprüche“ wurden demgegenüber in der Spätantike in erster Linie von den – von Hause aus nicht religiösen – philosophischen Schulen gestellt, ferner – für die Antike ein Novum – vom Judentum, dem Christentum und von ihnen bestimmten religiösen Bewegungen. Auch mit ihnen war – in jeweils sehr unterschiedlicher Weise – ein Geltungsanspruch (aber kein mit Gewalt verbundener „Durchsetzungsanspruch“!) verbunden. Vereine waren Gefässe, in denen auch – aus römischer Sicht – „fremdes Erbe“ gepflegt werden konnte, aber nur in den ganz engen Grenzen, welche die Übereinstimmung mit dem „väterlichen“ Erbe der Römer und die imperiale Staatsraison jeweils zuliessen. Ein Eigenrecht des Fremden gab es nicht. Individuen 40 Tertullian, Apologeticum

2,6–11.  Es gibt in der kein einheitliches Verständnis von „Aberglauben“. Für Plutarch, De superstitione 165E–171F ist δεισιδαιμονία ein mit Angst besetzter Glaube (vgl. Hans Josef Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II, Stuttgart 1996, 128 f). Für Cicero ist Aberglaube das Gegenteil von „frommer Götterverehrung“ (Cicero, De natura deorum, 1,45). Für Plinius d. J., Epistulae 10,96 ist Aberglaube etwas Neues und Schädliches. Für Laktanz, Divinae institutiones 4,28,3 ist Aberglaube die Anbetung falscher Götter. Für alle ist „superstitio“ das Gegenteil dessen, was sie selber in religiösen Fragen für gut halten. 42 Vgl. o. S. 393 f. 43  Feldtkeller, Theoretische Perspektiven (o. Anm. 16), 57–62. 44  Feldtkeller, Theoretische Perspektiven (o. Anm. 16), 53 f. 41

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waren dem übergeordneten Ganzen – der Familie, der Stadt, dem Reich – grundsätzlich untergeordnet. Die Situation im römischen Reich war also labil. Ausbrüche von Gewalt, hervorgerufen zwischen dem Durchsetzungsanspruch der „offiziellen“ Religion und den unterschiedlichen Geltungsansprüchen anderer Religionen und Philosophien, waren jederzeit möglich. 5. Das dritte nachchristliche Jahrhundert mit seinen grossen Christenverfolgungen ist in verschiedener Hinsicht ein Sonderfall. Grundsätzlich galt im römischen Reich, dass eine aktive Teilnahme an sacra publica, wozu die grossen Tempelfeste und auch die öffentlichen Opfer für Rom und den Kaiser gehörten, keine Pflicht war. Im 3. Jahrhundert aber änderte sich dies: Das Reich war gefährdet; deshalb musste seine Kohärenz auf allen Ebenen gefördert werden. Seit 212 waren alle freien Provinzbewohner römische Bürger, was implizit eine erhöhte Verpflichtung Rom gegenüber bedeutete. Der Zerfall des Reichs schritt voran. Verschiedene Kaiser versuchten ihn durch Massnahmen im Bereich der Religion zu stoppen. Dazu gehörte, dass Kaiser Decius von allen Bürgern des Reichs verlangte, dass sie vor den Altären der Götter erscheinen und dort ein Gebet und ein Weihrauchopfer vollbringen sollten.45 Wichtig war sodann Neuordnung des Pantheons unter Aurelian mit dem syrischen Sol Invictus als monarchischer Spitze und die Verstärkung des Kaiserkultes und der traditionellen sittlichen Ordnung unter Diokletian und Galerius. Die dadurch ausgelöste Christenverfolgung richtete sich nicht nur gegen diese, sondern auch gegen die Manichäer.46 Im Ganzen kann man also keineswegs sagen, dass unter den Soldatenkaisern eine Epoche der Toleranz gegenüber den Christen durch eine solche der Verfolgung abgelöst worden sei. Tolerant war der römische Staat gegenüber den Christen nie. Trotzdem waren die reichsweiten systematischen Christenverfolgungen im 3. Jh. ein Sonderfall aufgrund einer besonderen Situation. Ich möchte das verstärkte Gewicht, das in den damaligen besonders schwierigen Zeiten auf die religiöse Dimension der Einheit des Reiches gelegt wurde, mit der Betonung des Staats-Shintos in der Zeit der Bedrohung der Unabhängigkeit Japans durch die Kolonialmächte nach der erzwungenen „Öffnung“ Japans in der Meji‑ und Showazeit vergleichen, die auch dort zu Einschränkungen und Verfolgungen neuer Religionen geführt hat. Eine ähnliche besondere Situation – mit anderem Ausgang – bestand bereits in der Anfangszeit des Tokugawa-Shogunats gegen Ende des 16. und im Anfang 17. Jh.s,, als die sich damals durchsetzende neue japanische Herrschaftselite in der Verbindung 45  Dass diese Massnahme den Zweck haben sollte, „unter solcher Tarnung … ausschliesslich die Christengemeinden zu vernichten“, ist nicht einzusehen (so Carl Andresen, Die Kirchen der alten Christenheit, Stuttgart 1971, 286). Wohl aber rückten die Christen durch ihre zahlreichen Martyrien ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, sodass die späteren Verfolgungen des 3. Jh. stärker den Charakter einer Auseinandersetzung zwischen dem Staat und den Christen bekamen. Dies gilt schon für die Verfolgungen unter Valerian (258–260). 46  Einzelheiten bei Joseph Vogt, Art. Christenverfolgung I, RAC II, Stuttgart 1954, 1191– 1195.

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der Mission der Jesuiten mit westlichem Handels-Imperialismus eine Gefahr erkannte. Zeiten der reichsweiten direkten und systematischen Verfolgung von Religionen sind im Ganzen der japanischen Religionsgeschichte Episoden geblieben, ähnlich wie die zweite Hälfte des dritten Jahrhunderts in der römischen.

IV. Theologie Unsere bisherigen Beobachtungen liefen darauf hinaus, dass das Christentum sich einerseits als einer der vielen spätantiken Kulte zu dem entwickelte, was wir heute unter „Religion“ verstehen und so an den allgemeinen Entwicklungstendenzen der damaligen Zeit partizipierte. Andererseits aber war es ein besonderer Kult mit besonderen Eigenschaften. Zu den Besonderheiten des Christentums gehörte sein mit dem christologischen Monotheismus zusammenhängender universaler Wahrheitsanspruch. Zu diesem Wahrheitsanspruch gehörte auch ein grundsätzlicher Geltungsanspruch, der nicht nur gegenüber anderen traditionalen „Religionen“ und gegenüber den Lehren philosophischer Schulen, sondern im Prinzip auch gegenüber den Ansprüchen politischer Herrscher geltend gemacht wurde, denn „es gibt keine staatliche Macht, die nicht von Gott gegeben wäre“ (Röm 13,1). Dieser Geltungsanspruch wurde durch die christliche Mission in der vorkonstantinischen Zeit durchweg und grundsätzlich mit friedlichen Mitteln geltend gemacht, also gerade nicht „durchgesetzt“. Mit dem christlichen Wahrheitsanspruch zusammen hängt auch seine seine besonders enge Verbindung mit dem, was wir heute unter „Theologie“ verstehen. Zur Theologie einige Thesen und Beobachtungen: 1. Für die Kulte der Spätantike gilt grundsätzlich, dass sie keine „Theologie“ hatten. Zu ihnen gehörten Riten, Mythen, Gemeinschaftserfahrungen und meistens die Bejahung traditioneller ethischer Normen. Zu ihnen gehörte die Einbettung in das Leben des Individuums, der Familie, der Stadt oder des Staates. Aber zu ihnen gehörte nicht eine Metareflexion über das, was in ihnen geschah. Was wir heute „Theologie“ nennen, also die Reflexion über Gott bzw. die Götter, die Mythen, das Ethos etc, war Aufgabe der Philosophie. Allerdings haben die Philosophen diese Aufgabe zunächst gerade nicht als „Theologie“ bezeichnet.47 Die Entwicklung der philosophischen Schulen und diejenige der Kulte lief zwar in mancher Hinsicht parallel: Zu den Parallelen gehört die Tendenz zum Monotheismus, die grosse Bedeutung der Gemeinschaft einer überschaubaren Gruppe und die Bedeutung der individuellen Wahl eines bestimmten Weges. Bekehrungen gibt es nicht nur zu und in den Religionen, sondern auch zur Philosophie. Generell kann man ferner sagen, dass in der Spät47  Als „Theologen“ galten in der griechisch-römischen Antike in erster Linie Mythendichter oder gewisse Kultbeamte.

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antike die Bereitschaft philosophischer Schulen, „Religionen“ zu bejahen, stieg, nicht nur im Platonismus und in der Stoa,48 sondern auch in anderen Schulen. Aber die Priester und für den Kult Verantwortlichen waren keine „Theologen“ im heutigen Sinn des Wortes; umgekehrt waren „Philosophen“ in der Regel keine Priester. Als „Theologie“ haben sie Teilbereiche der Philosophie erst im Zuge der zunehmenden Annäherung der Philosophie an die Religion bezeichnet. Demgegenüber versteht sich das junge Christentum nicht nur als „wahre Religion“,49 sondern auch als „wahre Philosophie“ und betont die Zusammengehörigkeit von Religion und Philosophie.50 Es gab zwar im frühen Christentum die freien theologischen Lehrer und die von der Kirche unabhängigen Schulen. Justin, Tatian, Valentin und andere gnostische Lehrer, Clemens oder Origenes sind Beispiele dafür. Sie verstanden sich aber als Glieder der Kirche. Neben ihnen gab es aber von Anfang den Typus des kirchenleitenden Theologen.51 Schon Ignatius von Antiochien gehört hieher, dann vor allem Irenäus, Hippolyt und Cyprian. Zwischen beiden Typen gibt es Überschneidungen und Berührungen: Der freie Lehrer Valentin strebte in Rom nach dem Bischofsamt; der freie Theologe Markion gründete eine Kirche. Die freien Theologen und ihre Schulen verschwanden nach der konstantinischen Wende immer mehr. Der Ideal‑ und fast Normalfall wurde der des Bischof-Theologen. Das war eine folgenreiche Veränderung: Das Christentum integrierte die Theologie als eine wesentliche Dimension seiner selbst und unterschied sich gerade dadurch von anderen antiken Kulten.52 Zugleich verlor die theologische Reflexion durch ihre Domestikation in der Kirche wesentliche Elemente ihrer ursprünglichen Vielfalt und Freiheit. 2. Entsprechend der doppelten Situierung der sich herausbildenden christlichen Theologie einerseits in freien Schulen nach der Art einer Philosophenschule und andererseits in den christlichen Kultgemeinden hatte die 48 Ein schönes Beispiel dafür ist die Position des Caecilius im Dialog Octavius des Minucius Felix: Der Heide Caecilius vertritt philosophisch eine skeptische Position, empfiehlt aber trotzdem – für uns recht überraschend und wenig konsequent – „antistitem veritatis maiorum excipere disciplinam, religiones traditas colere, deos … adorare“ (die Lehre der Ahnen als Richtschnur der Wahrheit anzunehmen, die überlieferten „Religionen“ zu pflegen, die Götter … anzubeten) (6,1). 49  Z. B. bei Minucius Felix, Octavius 1,5. 50 Vgl. Minucius Felix, Octavius 20,1; Laktanz, Divinae Institutiones 1,1.25. 51  Christoph Markschies bestimmt in seinem schönen Buch: Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen, Tübingen 2007, 43–213 neben der Schule die Liturgie und die Prophetie institutionelle Kontexte von Theologie in der Alten Kirche. Das ist gewiss richtig. Aber warum er nicht die Kirchenleitung als eigenen institutionellen Ort von Theologie bestimmt, verstehe ich nicht. 52  Dass zum Christentum Theologie als ein wesentliches Wesensmerkmal seiner selbst gehört, ist also das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses und war nicht von vornherein so. Dass man heute mit meist ganz unreflektierter Selbstverständlichkeit von einer „Theologie des Paulus“, einer „Theologie der johanneischen Schriften“, einer „Theologie des Neuen Testaments“ oder gar einer „Theologie Jesu“ spricht, ist ein Anachronismus.

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Theologie der christlichen „Apologeten“ eine doppelte Stossrichtung: Als „Philosophen“ betonten sie ihre Uebereinstimmung mit dem Besten, was es in nichtchristlicher Philosophie gab, vor allem mit dem Monotheismus, der für sie ein κοινόν war,53 d. h. eine allen Menschen gemeinsame Grundvoraussetzung des Seins und Denkens. Hier liegt der Hauptakzent etwa bei Justin oder bei Minucius Felix. Gehen sie aber vom Kult aus, so steht nicht der alle verbindende Monotheismus im Mittelpunkt, denn der einzige, unbewegte Gott braucht nach platonischer Tradition keine menschliche Verehrung. Im Zentrum steht dann vielmehr die Verehrung der unter Gott stehenden göttlichen Wesen, die ihm dienen, also der Götter, der Dämonen und der Heroen; diese lehnen sie schroff ab. Christliche Apologeten deuten sie häufig euhemeristisch als vergöttlichte Menschen54 und betonen ihre Lächerlichkeit und ethische Unwürdigkeit. Firmicus Maternus ist das radikalste Beispiel dieses Typs. Er geht so weit, dass er – dies erst in nachkonstantinischer Zeit um die Mitte des 4. Jahrhunderts – von seinem nunmehr christlichen Kaiser unter Hinweis auf alttestamentliche Kultgesetze55 die konsequente Zerstörung aller heidnischen Tempel und Götterbilder fordert.56 Beide Argumentationstypen haben ihre Vorformen bereits im Neuen Testament: Für den ersten kann man z. B. auf die paulinisch-lukanische Areopagrede Apg 17, für den letzteren auf Röm 1,18–32 verweisen. Die Apologeten formulieren also gegenüber der nicht-christlichen Welt den Wahrheitsanspruch, der von Anfang an zum Christentum gehörte. Sie formulieren ihn in sehr unterschiedlicher Weise, als Philosophen und als Kirchenleute auf der einen Seite kommunikativ und inklusiv, auf der anderen abgrenzend und exklusiv. Aufrufe zu gewaltsamer Durchsetzung des christlichen Wahrheitsanspruches gibt es aber erst, nachdem das Christentum sich mit imperialer Gewalt verbunden hat und auf diese Weise seinen Wahrheitsanspruch durchzusetzen versuchte. 3. Im Gegenüber zur christlichen Apologetik zeigt sich auf nichtchristlicher Seite wenigstens ansatzweise eine Tendenz, die nichtchristlichen Kulte und den Polytheismus als eine Einheit zu begreifen und auf der Basis des mittleren und späteren Platonismus eine nichtchristliche „Theologie“ auszubilden, welche auch über religiöse Praktiken nachdenkt und auch über den Kult in positivem Sinn reflektiert. Diese Entwicklung geschieht teils als Antwort auf christliche apologetische Theologie, teils unabhängig von ihr. In ihr gibt es Ansätze zu einem – gegen das Christentum gerichteten – heidnischen Wahrheitsanspruch.

53  Vgl. z. B. Theophilus, Ad Autolycum 1,3 f. Das entspricht auch der Position des Celsus bei Origenes Contra Celsum 8,21: ὁ … θεὸς ἅπασι κοινός (Gott ist allen gemeinsam). 54 Z. B. Tertullian, Apologeticum 12–15; Firmicus Maternus, De errore profanarum religionum 1–5 erklärt die meisten fremdländischen Kulte als Vergötterung der Elemente. 55  Ex 20,23; Dtn 5,7; 32,29; Ex 22,20; 32,17. 56  Firmicus Maternus, De errore profanarum religionum 28,6.

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Einen wichtigen Schritt in diese Richtung bedeutet die Streitschrift Ἀληθὴς λόγος („Wahres Wort“) des Kelsos im 2. Jh.: Kelsos ist Platoniker. Er unterscheidet zwischen Sein (οὐσία) und Werden (γένεσις). Das Sein ist für den Geist, das Werden für die Sinne erkennbar. „Mit dem Sein verbunden ist Wahrheit, mit dem Werden Irrtum“; zum Sein gehört ἐπιστήμη (Kenntnis, Wissen), zum Werden blosse δόξα (Meinung) (Origenes, Contra Celsum 7,45). Der eine, oberste Gott, der allen gemeinsam ist und der der Ebene des Seins zuzuordnen ist, ist gut, bedürfnislos und ohne Neid (8,21). Er bedarf darum keiner kultischen Verehrung.57 Unter ihm stehen die Götter, Dämonen und Heroen. Sie sind seine Geschöpfe und Diener und „haben ihr Gesetz aus dem grössten Gott“ (7,70). Sie darf, ja soll man verehren, weil sie Diener Gottes sind: Wer einer Mehrzahl von Göttern dient, erweist gerade dadurch dem grössten Gott etwas Angenehmes und kränkt ihn nicht, „weil alle ihm gehören“ (8,1). Wichtige Ansätze zu einer sich herausbildenden „polytheistischen Theologie“ enthält auch die nur in einigen Fragmenten erhaltene Frühschrift des Porphyrios (Über die Philosophie aus den Orakeln).58 Die λόγια (eigentlich: „Worte“) sind die Orakel, die schon bei Kelsos eine positive Quelle der Erkenntnis waren (8,45; vgl. 7,35) und die für Porphyrios Quelle der Theosophie sind.59 Das aus drei Büchern bestehende Werk handelt von der rechten Verehrung 1. der Götter, 2. der Dämonen und 3. der Heroen. Zu letzteren rechnet Porphyrios nicht nur Gestalten wie Herakles, Orpheus oder Pythagoras, sondern auch den „sehr frommen“60 Jesus, der nach seinem Tod zu Recht heroisiert worden sei. Als drittes Beispiel für eine „polytheistische Theologie“ nenne ich ein kleines, für philosophische Laien zur Zeit Julians geschriebenes Werklein, die Schrift Περὶ θεῶν καὶ κόσμου (Über Götter und Welt) des Philosophen Salustios.61 Dieses kleine Büchlein enthält eine Theorie des Polytheismus: Die Götter sind ungeschaffen und unkörperlich, von der prima causa niemals getrennt, ähnlich wie Gedanken von der Vernunft niemals getrennt sind (2=2). Sie werden nach ihrer kosmischen Funktion in eine kunstvolle Einheit von 4 x 3 Gottheiten gebracht und den vier Elementen zugeordnet (6=10 f). Mythen werden als erzählerische Mimesis der sichtbaren und unsichtbaren Aspekte der Götter und ihrer Energie verstanden (3=3 f). Opfer sind wichtig, nicht, weil die Götter Bedürfnisse hätten, sondern weil sie ein geeignetes Hilfsmittel sind, die Menschen gottförmiger zu machen (15=28). Bei manchen Ausführungen, etwa über die Unzerstörbarkeit der Welt (Kap. 13 und 17) oder über die Herkunft des Bösen (Kap. 12) ist die Auseinandersetzung mit christlicher Theologie deutlich spürbar. Diese Schrift ist das deutlichste Beispiel einer „Apologie“ des unter neuplatonischem Vorzeichen als Einheit verstandenen Polytheismus.  Origenes Contra Celsum 8,2; ähnlich Porphyrius, De Abstinentia 2,37,3.  Dazu: Christoph Riedweg, Porphyrius über Christus und die Christen: Die Philosophia ex oraculis haurienda und Adversus Christianos im Vergleich, in: Antonie Wlosok u. a., L’apologétique chrétienne Gréco–Latine à l’époque prénicénienne, Entretiens Fondation Hardt 51, Genève 2004, 151–203, dort bes. 163–184. 59  Fragment 303F (Andrew Smith, Porphyrii philosophi fragmenta, BT, Stuttgart / L ​ eipzig 1993, 352). 60  Fragment 345F (Smith 396 f) = Augustin, De civitate Dei 19,23; Euseb, Demonstratio Evangelica III,6,39 ff. Nach Fragment 324F haben alte Kulturvölker wie die Chaldäer, Lyder oder Hebräer Weisheit und Gottesverehrung verbunden. Die Christen sind nach ihm von Jesus abgefallen und haben ihn durch ihre Weise seiner Vergottung missvestanden. 61 Arthur D. Nock (ed.), Salustius. Concerning the Gods and the Universe, Cambridge 1926 (Nachdruck Hildesheim 1966). Die erste Zahl der Stellenangaben im Text bezieht sich auf die Kapitel der Schrift, die zweite auf die Seitenzahl der Nock’schen Ausgabe. 57 58

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V. Ergebnisse 1. Die Spätantike ist eine Epoche, in der traditionelle, in gesellschaftliche Lebensbezüge „eingebettete“ Kulte sich zunehmend zu „Religionen“ entwickeln, wobei „Religionen“ verstanden werden als relativ eigenständige, Riten, Mythen, Ethos, theologische Reflexionen und Gemeinschaftserfahrungen ihrer Anhänger umfassende gesellschaftliche Subsysteme. Die philosophischen Schulen partizipieren an dieser Entwicklung, indem sie zunehmend religiöse Elemente aufnehmen und reflektieren. Auch das Christentum partizipiert an dieser allgemeinen Entwicklung in den ersten drei Jahrhunderten und fördert sie. Gegen Ende des dritten Jahrhunderts war diese Entwicklung zu eigenständigen gesellschaftlichen religiösen Subsystemen im römischen Reich so weit vorangeschritten, dass eine kurze Phase von Religionsfreiheit möglich wurde.62 Sie währte – mit „Abstürzen“ – von Konstantin resp. Licinius bis zu Julian.63 2. Durch den Sieg des Christentums und seine Etablierung als Reichsreligion wird diese Entwicklung abgebrochen: Der Sieg des Christentums führte zur Unterdrückung nicht-christlicher Religionen und zu seiner eigenen Verwandlung aus einem unter mehreren religiösen Subsystemen in ein die gesamte Gesellschaft dominierendes „Mono-system“, welches einzelne Momente der unterdrückten Religionen in sich „einverleibt“ und den Ertrag bisherigen philosophischen Denkens selektiv in seine Theologie übernimmt. Nachdem sich das Christentum als Reichsreligion etabliert hatte, wurde es selbst weitgehend wieder zu einer traditionalen Religion, die in „ihren“ Gebieten Geltung beanspruchte und zum Teil mit Hilfe staatlicher Gewalt durchsetzte. 3. Die Frage ist, wie diese das Christentum selbst verwandelnde Entwicklung möglich war. Andreas Feldtkeller verweist auf die innere Unstabilität von Religionen, deren Kern die Befreiung des Menschen von sich selbst ist, also von die Welt negierenden Erlösungsreligionen.64 Nun ist das Christentum mit seinem Schöpfungsglauben, und seiner Grundüberzeugung von der Herrschaft Gottes und der damit verbundenen teilweisen Weltbejahung aber keineswegs eine nur bloss Geltung beanspruchende Religion. Es gibt in der christlichen Tradition durchaus auch Züge, die sich zur Legitimation eines christlichimperialen Durchsetzungsanspruchs verwenden liessen. Das sind u. a. manche alttestamentlich-monotheistische Traditionen, die durch den christologischen Monotheismus nicht nur uminterpretiert, sondern auch bestätigt und universalisiert wurden. Dazu gehört auch die biblisch begründete Abweisung jedes 62  Caesar Licinius formulierte in seinem Reskript an den Vorsteher von Bithynien 313: „libera potestas sequendi religionem quam quisque voluisset“ (freie Erlaubnis, derjenigen Religion anzugehören, die jeder möchte) (zit. nach Cancik u. Anm. 63, 370). 63 Dies ist die These von Hubert Cancik, Religionsfreiheit und Toleranz, in: Cancik  / ​ Rüpke, Religion des Imperium (o. Anm. 4), bes. 366–375. 64  Feldtkeller, Theoretische Perspektiven (o. Anm. 16), 66; vgl. 50–52.

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Wahrheitsanspruchs nicht-christlicher Kulte, eines Wahrheitsanspruchs also, den diese in dieser Weise meist gar nicht stellten. In einen Durchsetzungsanspruch ummünzen liess sich auch der programmatisch universale Geltungsanspruch des Christentums. In solchen Traditionen liegt meines Erachtens ein relatives Recht der Thesen von Jan Assmann über den mosaischen Monotheismus. 4. Von „konkurrierenden Wahrheitsansprüchen“ in der spätantiken Gesellschaft kann man weitgehend nicht sprechen, weil zwar das Christentum einen umfassenden Wahrheitsanspruch stellte, nicht aber pagane Kulte. Die „Konfrontationen“ bestanden vor allem darin, dass nicht-christliche, meist philosophische Gesprächspartner diesen Wahrheitsanspruch des Christentums ablehnten. Nur zögernd und oft als Reaktion auf das Christentum begannen Nicht-Christen die in ihrer eigenen Religion implizierten Wahrheitsansprüche philosophische und „theologisch“ zu reflektieren. Diese Reflexionen kamen aber zu spät, um sich durchsetzen zu können: Denn als Folge der Christianisierung des römischen Reiches war zum ersten Mal eine neue traditionale Religion entstanden, die nicht nur Geltung beanspruchte, sondern auch einen umfassenden Wahrheitsanspruch stellte und diesen kraft der kaiserlichen Gewalt auch durchsetzte. Die Verbindung dieser drei Ansprüche war etwas Neues und – aus heutiger theologischer Sicht – etwas Verhängnisvolles.

25. Bekehrung im Neuen Testament und in der Spätantike Fragen wir nach „Bekehrung“ im Neuen Testament, so stehen wir zunächst einem methodischen Problem gegenüber: Was verstehen wir unter „Bekehrung“? Im Deutschen sind zwei Ausdrücke gebräuchlich: „Bekehrung“ und „Konversion“. „Bekehrung“ ist primär ethisch oder religiös konnotiert: Gemeint ist die Umkehr des Menschen zu einer neuen ethischen bzw. religiösen Sicht; ein Wechsel der Religion oder Denomination ist nicht notwendig damit verbunden. Für einen solchen Wechsel braucht man in der Regel das Wort „Konversion“. In anderen Sprachen, vor allem in solchen, deren Sprachgebrauch durch das lateinische Wort converto bestimmt ist, gibt es nur ein einziges Wort, welches beides bezeichnet. Das ist zum Beispiel im Englischen der Fall. Hinzu kommt eine zweite Schwierigkeit: In der heutigen wissenschaftlichen Diskussion ist das Verständnis von „Konversion“ oder „Bekehrung“ im Fluss.1 Das primäre Anliegen dieses Aufsatzes ist historisch. Im ersten Hauptabschnitt gebe ich gleichsam in Weitwinkelperspektive einen Überblick über die Entwicklung von „Konversion“ in der Spätantike vom ersten vorchristlichen bis zum vierten nachchristlichen Jahrhundert (I). Im zweiten Hauptabschnitt beschreibe ich im Detail das werdende Christentum in der Zeit des NT und der Apostolischen Väter. Um das Phänomen der Konversion so umfassend wie möglich zu beschreiben, untersuche ich die Texte von zwei verschiedenen Blickpunkten aus. Erstens frage ich nach dem Vorkommen von „Konversion“ so, dass ich eine klassische Definition des Phänomens benutze welche nicht nur die Quellen, sondern auch ihre Wirkungsgeschichte bis in die moderne Zeit erhellen kann. Es ist die Definition von Arthur Darby Nock, die er unter dem Einfluss von William James gebildet hat. Zweitens möchte ich das Vorkommen von Konversionsvokabular in den Texten selbst untersuchen, besonders die griechischen Wortstämme μετανο‑ und ἐπιστρεφ-. Moisés Mayordomo gibt eine Übersicht in Tabellenform über deren Vorkommen im Neuen Testament.2 Beide Fragestellungen ergänzen sich. 1 Vgl. Moisés Mayordomo-Marin, „Conversion“ in Antiquity and Early Christianity: Some Critical remarks, in: Christine Lienemann-Perrin / ​Wolfgang Lienemann (Hg.), Religiöse Grenzüberschreitungen / C ​ rossing Religious Borders, Studies in the History of Christianity in the Non-Western World 20, Wiesbaden 2012, 211–226. 2  Mayordomo a. a. O. 219.

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I. Bekehrung und Religionswechsel in der antiken Welt: Eine Übersicht I. 1  Allgemeine Überlegungen. „Bekehrung“, verstanden als „the reorientation of the soul of an individual, his deliberate turning from indifference or from an earlier form of piety to another, a turning which implies a consciousness that a great change is implied, that the old was wrong and the new is right“3 kommt, wenn sie, wie hier bei Arthur Darby Nock, als religiöse Konversion verstanden wird, in der Antike relativ selten vor. Wird sie als Religionswechsel verstanden, ist sie noch seltener. Eigentlich ist sie nur im Umfeld des Judentums und des Christentums anzutreffen. Meine Grundthese lautet: Bekehrung im Sinne von Religionswechsel ist in der Spätantike erst durch das Judentum und vor allem durch das Christentum entstanden. Parallel dazu setzt sich in der Spätantike mit dem Christentum ein neuer Typ von „Religion“ durch.4 In der vorchristlichen Antike gehört zu dem, was wir heute „Religion“ nennen, ein ganzes Ensemble von Kulten, Philosophien, Festen und Riten, in die ein Mensch in der Spätantike als Familienglied, als Quartier‑ oder Stadtbewohner bzw. ‑bürger, als Vereinsmitglied, als Angehöriger einer ethnischen Gruppe, als Bürger oder Bewohner des Reichs und auch als Individuum „eingebettet“ ist. Die Gründe für die Spärlichkeit der Belege für „Konversionen“ sind verständlich: „Konversion“ setzt erstens religiöse Wahlmöglichkeit und eine hohe Individuierung voraus, die sich in der Spätantike erst entwickelte. Noch wichtiger ist zweitens, dass grundsätzlich keine antike Religion ausserhalb des jüdisch-christlichen Bereichs die Zuwendung zu ihr mit der Forderung der Abwendung von der bisherigen, alten Religion verbunden hat. Um dies zu verstehen muss man sich verdeutlichen, dass „Religion“ nur in ganz geringem Masse mit der Frage der Wahrheit zu tun hatte. Die Teilnahme an den Ritualen einer bestimmten „Religion“ ist vielmehr wesentlich durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft bestimmt, z. B. einer Familie, einer Sippe, einer Stadt, einer Ethnie, einem Verein oder einem Staat. „Religion“ ist eng mit bestimmten Lebensvollzügen verwoben („embedded religion“).5 „Religion“ ist nicht eine Frage der eigenen Entscheidung, sondern eine Frage 3 Arthur D. Nock, Conversion, paperb. Oxford 1961 (= London 1933), 7. „That the old was wrong“ trifft allerdings bei vielen antiken Bekehrungen nicht zu. Eher müsste man sagen: „that the old was not the full truth“. 4  Vgl. Jörg Rüpke, Wie verändert ein Reich Religion – und wie Religion ein Reich? Bilanz und Perspektiven der Frage nach der ‚Reichsreligion‘, in: Hubert Cancik / ​Jörg Rüpke (Hg.), Die Religion des Imperium Romanums. Koine und Konfrontationen, Tübingen 2009, 5–18; Ulrich Luz, Religionen, konkurrierende Wahrheitsansprüche, Konflikte und ihre theologischreflexive Bearbeitung in der Spätantike, in: Walter Dietrich / ​Wolfgang Lienemann (Hg.), Religionen  – Wahrheitsansprüche  – Konflikte. Theologische Perspektiven, Stuttgart 2010, 99–102 (in diesem Band Nr. 24). 5  Jörg Rüpke, a. a. O., 5.

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der Herkunft, Zugehörigkeit und Sitte, kurz der Tradition im weitesten Sinne. Darum schliessen verschiedene „Religionen“ einander nicht aus, z. B. die in der Familie geschehende Verehrung der Ahnen oder Laren, die durch einen Verein gepflegten Begräbnisriten, die meist ebenfalls durch Vereine organisierte Verehrung von zugewanderten Gottheiten wie Isis, der von der Stadt verantwortete Kult der offiziellen Stadtgottheiten, z. B. in Korinth des Apollo, oder die reichsweit organisierte Verehrung der das Reich beschützenden Gottheiten, z. B. des Jupiter Capitolinus, der Roma oder des Kaisers. Alles das schloss sich nicht aus, auch wenn es aus offizieller Sicht Rangordnungen und ziemlich enge Grenzen für die Religionsausübung gab.6 Mit „Wahrheit“ und „Ethos“ hatten antike Religionen im Ganzen also wenig zu tun, wohl aber mit bestimmten Lebensvollzügen und Zugehörigkeiten. Es versteht sich von selbst, dass hier das Phänomen der Konversion gar nicht auftauchen konnte. Die wichtigste Orientierungsgrösse in dem besonders seit der Zeit der griechischen Klassik immer deutlicher hervortretenden Prozess der Individuierung waren nicht Religionen, sondern die Philosophie.7 Und so ist es bezeichnenderweise vor allem in der Philosophie, wo wir so etwas wie „Bekehrung“ beobachten können. Schon Platon beschreibt im Lobpreis des Alkibiades auf Sokrates, wie ihm, wenn er Sokrates zuhörte, das Herz schlug und die Tränen kamen, sodass ihm sein ganzes bisheriges Leben nicht mehr lebenswert schien (Symp 215E). Nach Epiktet erreicht die philosophische Ermahnung dann ihr Ziel, wenn der Hörer zur Einsicht kommt: „Ich darf das nicht mehr tun“ (Diss 3,23,37). Manche Worte, das wir später in christlichen Bekehrungspredigten finden, spielen auch in philosophischen Texten eine Rolle, wie z. B. μετάνοια in der Tafel des Cebes8 oder ἐπιστρέφειν z. B. bei Epiktet. „Bekehrung“ zur Philosophie, die in der Spätantike nicht nur ethisch, sondern sehr oft auch religiös akzentuiert ist,9 ist für sehr viele spätantike Philosophen ein vordringliches Anliegen. Da sie sich selbst als Erzieher der Menschen verstehen, braucht eine solche „Bekehrung“ nicht eine plötzliche zu sein, sondern kann auch ein langer Weg sein. Von in engerem Sinn religiösen Bekehrungen aber hören wir seltener. Das klassische Beispiel dafür ist die Bekehrung des Lucius zu Isis im elften Buch der Metamorphosen des Apuleius.10 Auch wenn mit der Zuwendung zu bestimmten Gottheiten in manchen Fällen nicht nur rituelle, sondern auch ethische Gebote  6  Das Misstrauen des römischen Staates richtete sich vor allem gegen nicht einheimische „fremde“ Gottheiten, bei denen man argwöhnte, dass ihr Kult den römischen „väterlichen Sitten“ nicht entspreche, und soziologisch gegen Vereine, die sich nicht kontrollieren liessen.  7  Nock, Conversion (o. Anm. 3), 164–192; ders., Art. Bekehrung, RAC II, 1954, 107 f.  8  Tab Ceb 10,4; 11,1; vgl. John T.  Fitzgerald / ​L.  Michael White, The Tabula of Cebes, SBL.TT 24, 1983, 144, Anm. 40.   9 Vgl. Epiktet, Diss. 2,20,22 (Umkehr zu Gottesfurcht); Porphyrius, Marc 24 (σωτηρία bei Gott besteht in ἐπιστροφή). Weitere Belege bei Nock, RAC (o. Anm. 7), 106. 109. 10  Weitere Beispiele für religiöse Bekehrungen sind zusammengestellt bei Nock, RAC II (o. Anm. 7), 110 f.

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verbunden waren,11 die der Bekehrte nun zu halten versprach, so war damit gerade nicht eine Abwendung von anderen Kulten verbunden: Die väterlichen Götter insgesamt galten ja in der hellenistischen und römischen Welt als Wächter der sittlichen Ordnung. Bekehrungen im Sinne von Religionswechsel gibt es also im Kontext der griechisch-römischen Antike nicht. I. 2  Judentum. Es sind allein das Judentum und das Christentum, und in ihrem Gefolge auch sie voraussetzende Religionen wie der Manichäismus und später der Islam, welche ein anderes Bild bieten. Unter ihrem Einfluss veränderte sich die Konversionspraxis grundlegend. Grundsätzlich verlangen beide bei einem Übertritt eine Absage an bisher praktizierte Kulte12 und waren dadurch im Kontext der Antike etwas Neues. Dass gerade Juden und Christen bei gebildeten Menschen in der Antike immer wieder auf Ablehnung stiessen und mit dem Vorwurf der Absonderung (ἀμιξία) konfrontiert wurden, kommt nicht von ungefähr. Beide konnten auf der Ebene der Theologie bzw. des Ethos durchaus offen sein und inklusiv denken, aber auf der Ebene des Kultes waren sie das nicht. Für das Judentum gilt das seit dem Scheitern der hellenistisch inspirierten Kultreformen in der Zeit vor dem makkabäischen Aufstand. Dennoch gibt es zwischen dem Judentum und dem Christentum mindestens graduelle Unterschiede. Ich denke, dass – bei allem Pluralismus bei beiden – das Judentum im ganzen weniger exklusiv und bedeutend weniger missionarisch gewesen ist als das frühe Christentum. Ein Indiz für das erstere ist die Existenz einer grossen Zahl von „Gottesfürchtigen“ (θεοσεβεῖς, σεβόμενοι) bis ins 3. nachchristliche Jahrhundert.13 Das waren nicht zum Judentum übergetretenen Heiden, die am Synagogengottesdienst teilnahmen und neben grundlegenden jüdischen Glaubenssätzen auch Grundsätze des jüdischen Ethos und manche jüdischen Bräuche übernahmen. So weit ich sehen kann, waren sie in den jüdischen Synagogen immer willkommen, und man übte meistens keinen Druck auf sie aus, dass sie Vollproselyten würden.14 Die mit den Gottesfürchtigen am ehesten vergleichbaren christlichen Katechumenen sind etwas anderes: Sie sind 11  Ein schönes Beispiel dafür sind die Gebote der kleinasiatischen Muttergottheit Agdistis auf einer Inschrift des 2. vorchristlichen Jahrhunderts im lydischen Philadelphia = *Ditt, Syll 985; zitiert bei Nock, Conversion, (o. Anm. 3), 217. 12 Für das Frühjudentum vgl. z. B. sBar 41,3 f; 42,4 f; Philo, Vit Mos 2,44; Tacitus, Hist 5,5,1; Juvenal, Sat 14,99–103; Origenes, Cels 5,41. 13  Bezeugt werden sie für diese Zeit durch die Inschrift von Aphrodisias (vgl. dazu Martin Goodman, Mission and Conversion, Proselytizing in the Religious History of the Roman Empire, Oxford 1994, 117–119) und durch andere Zeugnisse, vor allem, aber nicht nur aus Kleinasien. Verständlich wird die Existenz von „Gottesfürchtigen“ in nachhadrianischer Zeit durch das für Nichtjuden geltende Beschneidungsverbot, welches den Übertritt zum Judentum unmöglich machte. 14 Ausnahmen gibt es. Ein Beispiel dafür ist der Galiläer Eleazar, den Josephus als streng gesetzestreu (ἀκριβής) beschreibt, der Izates zur Beschneidung rät (Ant 20,43). War er möglicherweise ein Pharisäer (so z. B. Alan F. Segal, Paul the Convert. The Apostolate and Apostasy

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keine Sympathisanten, sondern Anwärter und Anwärterinnen auf die Taufe. Man erwartete von ihnen, dass sie sich in absehbarer Zeit taufen liessen. Wie weit Juden in der Antike systematisch Mission getrieben haben, ist eine in der Forschung umstrittene Frage. Martin Goodman und Edgar McKnight auf der einen Seite urteilen sehr zurückhaltend,15 Shaye Cohen differenziert zurückhaltend.16 Louis H. Feldman dagegen urteilt sehr positiv.17 Im Ganzen neige ich eher zur ersten Position, auch wenn ich Mühe habe, Goodmans Interpretation von Mt 23,15 zu folgen.18 Aber für eine systematisch und programmatisch durchgeführte jüdische Weltmission gibt es einfach keine Belege. Goodmans Beobachtung, dass in späterer Zeit, seit dem 2. oder 3. nachchristlichen Jahrhundert, die Zahl der Belege für jüdische Missionstätigkeit etwas höher ist als früher und dass Abraham, der Vater der Proselyten, in dieser Zeit auch zum Missionar wurde,19 ist allerdings bemerkenswert, umso mehr, als die Juden in späterer Zeit die Möglichkeit zu einer aktiven Proselytenmission gar nicht mehr hatten. Goodman vermutet hier Rückwirkungen des Christentums.20 I. 3  Christentum. Meine These ist, dass die christliche Mission nicht einfach eine Weiterführung und Ausweitung der jüdischen Mission ist, sondern etwas qualitativ Neues.21 Für die paulinische Mission ist das evident: Wo finden wir ausserhalb des frühen Christentums einen Menschen, der, zum Heidenmissionar berufen, diesem Ziel alles unterordnet und sein ganzes Leben dafür hingibt? Wo finden wir einen Menschen, der seine Mission so systematisch organisiert wie Paulus, mit einem Mitarbeiterstab aus allen seinen Gemeinden und mit der klaren of Saul the Pharisee, Hew Haven 1990, 100 f)? Juvenal, Sat 14,96–106 beschreibt, wie aus dem Sohn eines Gottesfürchtigen, der nur den Sabbat hält, ein Proselyt wird. 15  Scot McKnight, A Light among the Gentiles, Jewish Missionary Activity in the Second Temple Period, Minneapolis 1991, bes. 49–77; Goodman, Mission (o. Anm. 13), 60–90. 129–153. 16 Shaye Cohen, Was Judaism in Antiquity a Missionary Religion?, in: Menachem Mor (Hg.), Jewish Assimilation, Acculturation and Accommodation. Past Traditions, Current Issues and Future Perspectives, Studies in Jewish Civilisation 2, Lanham 1992, 14–23 weist m. R. auf den Pluralismus, der im Judentum auch in dieser Hinsicht herrschte. 17  Louis H. Feldman, Jew and Gentile in the Ancient World, Princeton 1993, bes. 288–382. Diese Position vertrat bereits Adolf Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums. Leipzig 1924, 5–14 und – unter seinem Einfluss und aufgrund von Mt 23,15 – ein grosser Teil der christlichen Forschung. 18  Goodman, Mission (o. Anm. 13), 69–74 deutet προσήλυτος im zweiten Weheruf Mt 23,15 untechnisch als „Anhänger der Pharisäer“. Das finde ich angesichts des im 1. Jh. n. Chr. schon deutlich vorhandenen technischen Sprachgebrauchs des Wortes schwierig. Eher ist anzunehmen, dass es einzelne strenge Pharisäer gegeben hat, die bei Heiden auf vollen Übertritt zum Judentum und auf voller Übernahme der Torah insistierten, vgl. o. Anm. 14. Auch bei diesem Weheruf ist natürlich damit zu rechnen, dass er rhetorisch überzeichnet und ein einzelnes Negativbeispiel generalisiert. 19 Sif Dtn 32 = Bietenhard 81. 20  Goodman, Mission (o. Anm. 13), 151–154. 21  Goodman, Mission (o. Anm. 13), 105: „a shocking novelty in the ancient world“.

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Strategie, in den Provinzhauptstädten Stützpunkte für den Herrn Christus zu errichten, von welchen aus sich seine Botschaft dann weiter verbreiten konnte? Wo finden wir einen ähnlichen Plan, die Mittelmeerwelt κύκλῳ (Röm 15,19) zu missionieren, von Jerusalem über Nordsyrien, Kleinasien, Griechenland, Illyrien, Rom bis nach Spanien und dann vielleicht über Nordafrika nach Jerusalem zurück? Unter den religiösen Charismatikern der Antike stellt vielleicht Alexander von Abonuteichos eine gewisse Parallele zu Paulus dar – auch seine „Mission“ war sehr systematisch organisiert und erfolgreich.22 Aber eine „Konversion“, die zur Initiation in den Kult seines Gottes Glykon führte, schloss keine Absage an andere Kulte ein. Eine gewisse Parallele zu Paulus sind auch die ausgedehnten Reisen des Arztes und Philosophen Apollonius von Tyana bis nach Indien. Aber Apollonius scheint weder eine Kultgemeinschaft noch eine eigentliche Schule gegründet zu haben. Die paulinische Mission ist innerhalb des frühen Christentums kein isoliertes Phänomen. Längst vor Paulus kam das Christentum nach Rom; in sehr früher Zeit kam es nach Ägypten. Über die Missionstätigkeit anderer Apostel, z. B. des Petrus, oder von anderen christlichen Lehrern, wie z. B. des Apollos, sind wir nur ganz fragmentarisch oder aus späten, unzuverlässigen Quellen orientiert. In der Levante, namentlich in Syrien, bleiben die urchristlichen Wanderradikalen, die bis ins 3. Jhdt. von Gemeinde zu Gemeinde ziehen, wichtige Träger der Mission. Das Matthäusevangelium vertritt ein beachtenswertes Konzept von Mission: In 24,14 lässt es Jesus ankündigen, dass „dieses Evangelium in der ganzen Ökumene verkündigt werden wird, den Völkern zum Zeugnis, und dann wird das Ende kommen“. Die grosse, bildhafte Darstellung des Weltgerichts bei der Parusie des Menschensohns setzt dasselbe Konzept voraus: Vor dem Thron des Menschensohns werden sich alle Völker versammeln. An ihren Liebeswerken gegenüber „diesen meinen geringsten Brüdern“ wird sich ihr Schicksal im Gericht entscheiden. Die „geringsten Brüder“ Jesu sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht irgendwelche Menschen, sondern die frühchristlichen Wandermissionare, die auf Gastfreundschaft, Hilfe im Gefängnis etc angewiesen waren. Auch dieser Text setzt voraus, dass zum Zeitpunkt des Gerichts „alle Völker“ Jesu Botschaft gehört haben.23 Dabei findet nach Matthäus das Jüngste Gericht nicht irgendwann in ferner Zukunft statt, sondern nach 24,29 „sogleich“ (εὐθέως) nach der „Drangsal“ im Zusammenhang mit der Zerstörung Jerusalems. Auch bei Matthäus beobachten wir also einen ungeheuren missionarischen Impetus

22  Ulrich Victor (Hg.), Lukian von Samosata, Alexandros oder der Lügenprophet, Religions in the Graeco-Roman World 132, Leiden 1997, 5, spricht in seiner Einleitung von Alexander als „hervorragende(m) Organisator des Betriebes von Abonuteichos“. Zeugnisse dieses Kultes finden wir neben Kleinasien in Rumänien, Griechenland und Syrien. 23  Zur Exegese von Mt 25,31–46 vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I / ​3, Neukirchen / Z ​ ürich 1997, 521–542.

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und Optimismus. Die Jünger, die der Auferstandene zu „allen Völkern“ schickt (Mt 28,19 f), haben nicht viel Zeit. Über die Zeit nach dem Tode der Apostel sind wir sehr schlecht informiert. Man muss annehmen, dass die intensive christliche Missionstätigkeit weitergegangen ist, auch wenn sich die Missionsmethoden verändert haben. Hauptträger der Mission wurden mehr und mehr die Ortsgemeinden. Ohne eine intensive Missionstätigkeit wäre nicht verstehbar, dass zur Zeit des Plinius in Bithynien „dieser ansteckende Aberglaube sich nicht nur in den Städten, sondern auch in Dörfern und auf dem platten Land verbreitet hat“.24 Euseb liegt sicher nicht falsch, wenn er feststellt, dass es auch „damals (sc. in der zweiten Hälfte des 2. Jhs.) noch Wortverkündiger die Menge (gab), die das Verlangen hatten, ihren göttlichen Eifer, die Apostel nachzuahmen, zur Ausbreitung und Vermehrung des göttlichen Wortes einzusetzen“.25 Der oben aus Eusebs Kirchengeschichte zitierte Text handelt von Pantainos, dem Lehrer des Clemens von Alexandrien, der nach Euseb Indienmissionar gewesen ist, bevor er sich als freier Lehrer in Alexandrien niederliess. Das Beispiel des Pantainos und seines Schülers Clemens zeigt, dass christliche Schulen ein wichtiges Instrument wurden, um Gebildete für den Glauben zu gewinnen. Auch apologetische Literatur wirkte missionarisch. Für eine notgedrungen im Verborgenen lebende Gemeinschaft wie diejenige der Christen waren die öffentlich stattfindenden Martyrien ein wichtiges „Verbreitungsmittel für die Gemeinde“ (illecebra sectae): „Semen est sanguis Christianorum“ (das Blut der Christen ist der Samen) ruft Tertullian am Schluss seines Apologeticum aus (50,13). Ein ganz wichtiges Mittel zur Stärkung der Gemeinden und für die missionarische Tätigkeit waren natürlich auch Reisen in andere Gemeinden, die im frühen Christentum in unglaublicher Häufigkeit stattfanden.26 Am wichtigsten aber war die Mund-zu-Mund-Propaganda auf nachbarschaftlicher oder familiärer Ebene, über die wir leider wenig wissen. Die christliche Mission war aus vielen Gründen erfolgreich, vielleicht gerade, weil sie so aktiv, um nicht zu sagen: aggressiv27 betrieben wurde. Aber es gab auch viele andere Gründe für den christlichen Erfolg, von denen ich kurz einige nennen möchte, weil sie über das Wesen der Bekehrung zum Christentum, über 24 Plinius

d. J., Ep 10,96,9.  Euseb, HE 5,10,2. 26  Vgl. dazu Predrag Dragutinovic, Mission and Communication in Early Christianity. Travelling of Christians as a Instrument of Unity of the Church in the New Testament and the Apostolic Fathers, Diss. Beograd 2009; Zusammenfassung in: Sacra Scripta VII Heft 2, Cluj–Napoca 2009, 239 f. 27  Das hängt nicht zuletzt mit der Androhung der Verurteilung im letzten Gericht zusammen, welche bei Ablehnung der Botschaft Jesu vom Gottesreich droht. Niemand hat es gerne, wenn ein Missionar bei Ablehnung seiner Botschaft seinem Haus oder seiner Stadt das Schicksal von Sodom und Gomorrha ankündigt (Mt 10,14 f; 11,20–24; vgl. 23,39). Der apokalyptische Wurzelboden der Jesusverkündigung ist hier wirksam. 25

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die wir gleich zu sprechen haben werden, etwas aussagen: So war die Eintrittsschranke einerseits niedrig: Den Heiden wurden keinerlei Eintrittsbedingungen gestellt, weder finanzielle noch rituelle. Andererseits war sie hoch: Verlangt war eine klare Absage an die heidnischen Kulte und weithin an den bisherigen Lebensstil. Das erforderte einen klaren Schnitt mit der Vergangenheit. Dieser wurde aber dadurch gemildert, dass gerade das Beste und Tiefste am Heidentum in den neuen Glauben integrierbar war: Das junge Christentum verstand sich als „wahre Philosophie“, die viele Erkenntnisse der hellenistischen Philosophie aufnahm, vertiefte und mit seinem kult‑ und opferlosen Gottesdienst verband.28 Das Ethos des Christentums war hoch. Die Absage an die bisherige Leben war radikal und anspruchsvoll und erforderte eine echte Reue; aber gerade dieses hohe Ethos war wiederum wichtig für die Attraktivität des Christentums als „philosophische Religion“. Der Übertritt zum Christentum erforderte einen Bruch mit vielen religiös-gesellschaftlichen Praktiken, welche zur „embedded religion“ gehörten. Dieser Bruch wurde aber dadurch erleichtert, dass das junge Christentum ein klares und umfassendes Orientierungssystem anbot, welches sowohl Lehre, als auch Ethos und Riten umfasste, und darüber hinaus eine neue Gemeinschaft. Seine Lehre war umfassend, klar und eindeutig und wurde durch die frühkatholische Kirche immer präziser definiert. Die neue Gemeinschaft war eng: Die christlichen Gemeinden verstanden sich als „neue Familie“.29 Das bedeutete: ein enges lokales Beziehungsnetz, geschwisterliche Beziehungen in der Gemeinde unabhängig vom sozialen Status, Teilhabe am ökumenischen Beziehungsnetz der Kirche und dadurch erhöhte Mobilität, und falls nötig soziale Sicherstellung. Die christliche Gemeinschaft bedeutete aber zugleich auch eine strenge Sozialkontrolle durch andere Gemeindeglieder oder durch Amtsträger.30 In sozialer Hinsicht bot das Christentum eine Status-Erhöhung für viele Nicht-Bürger und arme Leute in einer Gesellschaft, die in mancher Hinsicht sehr geschlossen war und für die Masse der Bevölkerung wenig Aufstiegschancen bot. Warum aber war die Mission für Christen auch im Vergleich mit der jüdischen Mission so wichtig, ja ein Zentrum des christlichen Lebens? Warum ist gerade sie „a shocking novelty“ in der antiken Welt?31 Ich sehe zwei Hauptgründe. Der 28  Zur Unterscheidung von Theologie und Kult in spätantiken Religionen vgl. Luz, Religionen (o. Anm. 4), 108–113. Die Philosophie trug immer stärker religiösen Charakter. Die dominierende platonische Philosophie vertrat einen Glauben an einen obersten Gott, der keines Kultes bedurfte; die bestehenden Kulte galten untergeordneten Erscheinungsformen der obersten Gottheit oder „Dämonen“. Beispiele für solches Denken sind etwa Celsus oder Salustius. Ihnen stand das junge Christentum gegenüber, das einen opferlosen, also „aufgeklärten“ Kult mit einer philosophieartigen Theologie verband. 29  Vgl. Mk 10,29 f; 1 Tim 3,15 (οἶκος θεοῦ). 30  Ein anschauliches Beispiel dafür gibt Jak 5,19 f: „Wer einen unter euch, der von der Wahrheit abgeirrt ist (πλανηθῇ), zur Umkehr bewegt (ἐπιστρέψῃ), darf wissen: Wer einen Sünder auf seinem Irrweg zur Umkehr bewegt (ὁ ἐπιστρέψας), wird dessen Seele vom Tod erretten und eine Menge Sünden zudecken“. Hier geht es um Bekehrung von Bekehrten! 31  Cf. o. Anm. 21.

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eine liegt in der konsequenten Christologisierung und damit verbunden schon sehr früh einer konsequenten Universalisierung des jüdischen Monotheismus im Frühchristentum. Christus, das Abbild Gottes, ist der Herr der ganzen Welt. Durch die Mission seiner Kirche realisiert sich diese Herrschaft. So kommt es, dass die Mission zur vordringlichen Aufgabe seiner Jüngerinnen und Jünger wird. Sie hat zum Teil sogar in traditionelle Bekenntnisformeln oder liedartige Texte Aufnahme gefunden, z. B. in die Bekenntnisformel 1 Tim 3,16: … ἐκηρύχθη ἐν ἔθνεσιν ἐπιστεύθη ἐν κόσμῳ …

(er) wurde verkündigt unter den Völkern geglaubt in der Welt

oder in den Prosahymnus Ign Eph 19,2 f: … ὅθεν ἐλύετο πᾶσα μαγεία καὶ δεσμὸς ἠφανίζετο κακίας ἄγνοια καθῃρεῖτο παλαιὰ βασιλεία διεφθείρετο …

… von da an wurde alle Zauberei aufgelöst, und die Fessel der Bosheit verschwand, die Unwissenheit wurde zerstört, die alte Herrschaft ging zugrunde …

Der andere Grund dürfte wohl in der eschatologischen Perspektive des jungen Christentums liegen: Nicht nur ist das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi nahe, sondern Christus ist der „Stein des Anstosses“ an dem sich entscheidet, wer zu den „Geretteten“ und wer zu den „Verlorenen“ gehört. Die eschatologische Perspektive gibt der christlichen Missionspredigt ihre Dringlichkeit.

II. Bekehrung im Neuen Testament und im Frühchristentum Nach dieser allgemeinen Übersicht wenden wir uns nun dem Neuen Testament zu. Die neutestamentlichen Texte erlauben nicht nur einen Blick in die Anfänge der christlichen Bekehrungspraxis, sondern wirken zugleich auch in späteren Jahrhunderten prägend. Wichtige Fragestellungen sind: 1. Wird Bekehrung als punktuelles Ereignis oder als längerer Prozess verstanden? Lassen sich Phasen der Bekehrung erkennen? 2. Was ist die Bedeutung des kognitiven Moments in der Bekehrung und was die des ethischen? Von was und zu was bekehrt man sich? 3. Wie verhalten sich Bekehrung und Taufe? 4. Lässt sich etwas über die Motive zur Bekehrung sagen? 5. Welches ist die Bedeutung der neuen Gemeinschaft der Ortskirche oder der Gesamtkirche für die Bekehrten? 6. Welche Rolle spielt die Eschatologie (Zukunftshoffnung, Naherwartung, Gerichtsdrohung) im Bekehrungsprozess und für die Bekehrten? 7. Wird Bekehrung als Religionswechsel verstanden? Das neutestamentliche Textmaterial ist nicht sehr umfangreich. Seine Abgrenzung ist nicht einfach, denn es besteht einerseits aus Bekehrungsberichten,

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in denen aber nur teilweise Bekehrungsvokabular vorkommt, und andererseits aus Aussagen, die Bekehrungsvokabular enthalten. Die folgende Betrachtung oszilliert also ständig zwischen frühchristlichen Bekehrungsaussagen und Texten, die wir heute als Bekehrungstexte verstehen. Ich nehme dieses Oszillieren und die damit verbundene Unklarheit in Kauf, denn die geringe Zahl von Texten erlaubt ohnehin nur bedingt Antworten und allgemeine Schlüsse. Ich gebe eine Übersicht: II. 1  Bekehrung von einzelnen Personen I. Selbstberichte. Paulus selbst spricht öfters von seiner Konversion bzw. Berufung:32 Gal 1,11–16; 1 Kor 9,1; 15,8–10; Phil 3,4–9 und möglicherweise indirekt 2 Kor 4,5 f und Gal 2,19 f. Die Wendung κλητὸς ἀπόστολος (Röm 1,1; 1 Kor 1,1; vgl. Gal 1,1) setzt die Berufung des Paulus voraus. Nichts mit seiner Berufung zu tun hat seine Entrückung in den dritten Himmel, von der er in 2 Kor 12,2–4 spricht.33 Alle diese Texte sind in grösserem zeitlichen Abstand von der ursprünglichen Erfahrung des Paulus geschrieben und nur schon deshalb Interpretationen. Das Ereignis selbst bzw. seine frühesten Interpretationen durch Paulus sind uns nicht mehr zugänglich. Wichtig war für Paulus die Deutung seiner Damaskuserfahrung als Eingriff Gottes (Gal 1,1.12.15 f), als Erfahrung der Gnade (Gal 1,15; 1 Kor 15,10) und als Erkenntnis Christi (Phil, 3,8; vgl. Gal 1,16; 1 Kor 9,1; 15,8 und evt. 2 Kor 4,6). Deutlich ist also ein starkes kognitives Moment. Erkenntnis Christi ist für Paulus jedoch nicht etwas Theoretisches, sondern etwas Ganzheitliches, eine einschneidende Erfahrung.34 Am wichtigsten und häufigsten ist ihre Deutung als Berufung zum Heidenapostel (Gal 1,15 f in prophetischen Kategorien; Röm 1,1; 1 Kor 1,1; 9,1; vgl. 15,9; Gal 1,1). Mit der Berufung zum Apostel eng verbunden ist, dass Paulus dadurch zum Glied der Gemeinschaft wurde, die er später „Kirche“ nennt (1 Kor 15,5–8).35 Mit Kategorien der Rechtfertigung deutet er seine Damaskuserfahrung nur in Phil 3,6.9, nicht dagegen in Gal 1. Auch mit der Taufe – von der eigenen Taufe spricht Paulus nie – bringt er sie nie direkt in Verbindung.36 Ebenso wenig interpretiert der Jude Paulus seine 32  Soll man bei der „Wende“ des Pls. von „Bekehrung“ oder „Berufung“ sprechen? Oder trifft der Begriff der „Initiation“ die Sache am besten (so Christian Strecker, Die liminale Theologie des Paulus, FRLANT 185, Göttingen 1999, 155 f)? Eine knappe Übersicht über die Interpretationsgeschichte der „Wende“ des Pls. seit der Alten Kirche gibt Bruce Corley, Interpreting Paul’s Conversion – Then and Now, in: Richard N. Longenecker (Hg.), The Road from Damascus, Grand Rapids 1997, 1–18. 33  Dieser Text wird um seines mystischen Charakters willen wieder in den Vordergrund gerückt von Segal, Paul the Convert (o. Anm. 14), 35; vgl. allerdings ebd. 36. 34  Beverly R. Gaventa, From Darkness to Light. Aspects of Conversion in the New Testament, Philadelphia 1986, 38 spricht darum von „transformation“. 35 In Gal 1 wird die Anbindung des Paulus an die Kirche aus argumentativen Gründen allerdings heruntergespielt. 36  Nur Gal 2,19 f erlaubt dem Leser sowohl – durch den Aorist ἀπέθανον und das betonte ἐγώ – die Assoziation an die Konversion des Paulus als auch – durch “mitgekreuzigt werden” –

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Damaskuserfahrung als „Bekehrung“, sofern man darunter eine Hinwendung von der Sünde zum Guten oder die Hinwendung zu Gott versteht. Paulus verwendet die ihm bekannten Wortstämme ἐπιστρεφ‑ und μετανο‑ in seinen Briefen überhaupt selten und im Zusammenhang mit seiner Damaskuserfahrung nie.37 Seine ἀναστροφή (Wandel) in jüdischer Lebensweise (Ἰουδαϊσμός, Gal 1,13) und seine Exzellenz in der Gerechtigkeit nach dem Gesetz (Phil 3,6) interpretiert er gerade nicht als Sünde.38 Insofern sind die paradigmatischen Dimensionen seiner eigenen Konversionsberichte im Ganzen gering.39 Auch als „Religionswechsel“ darf man die Damaskuserfahrung des Paulus nicht interpretieren,40 obwohl manche Texte in diese Richtung weisende Sinnpotentiale freisetzen. Die schroffe Gegenüberstellung der überragenden Erkenntnis Christi auf der einen Seite und von allem, was für Paulus früher „Gewinn“ war, nämlich sein Leben als Jude auf der anderen (Phil 3,7 f), weist ebenso voraus auf die Zukunft von zwei verschiedenen Religionen Judentum und Christentum mit ganz unterschiedlichen Mitten und Zentren wie die Gegenüberstellung von „jüdischer Art zu leben“ (Ἰουδαϊσμός) bzw. dem Leben „aus Werken des Gesetzes“ und dem Leben in Christus im Galaterbrief. Im Galaterbrief nähert das Denken des Paulus sich dem Antinomismus. Ganz anders ist es m. E. im Römerbrief, den ich als ein Dokument interpretiere, in dem Paulus darum ringt, ein endgültiges Auseinanderbrechen der Wege von Israel und Kirche zu vermeiden.41 Eine Interpretation der „Konversion“ des Paulus als „Religionswechsel“ würde die Perspektiven, die in den paulinischen Texten enthalten sind, grob vereinseitigen. eine solche an die Taufe. Der Zusammenhang bleibt aber unklar. Dasselbe gilt von 2Kor 4,4–6, sofern in diesem Text wirklich die Damaskuserfahrung vor Augen steht. 37  Vgl. die Übersicht über den pln. Sprachgebrauch bei Gaventa, Darkness (o. Anm. 34), 40–46. 38  Dies geschieht erst in der Retrospektive der zweiten oder dritten nachpaulinischen Generation in 1 Tim 1,12–17, wo „Paulus“ seinen früheren Wandel im Judentum als Sünde interpretiert, die er allerdings „unwissend“ und „im Unglauben“ getan habe. Hier dringen Topoi der Konversion ungläubiger Heiden zum Christentum in die Schilderung ein. Die Konversion des Paulus kann folgerichtig typische Bedeutung erlangen: Paulus wird zum „Urbild“ (ὑποτύπωσις) der künftigen Gläubigen zu allen Zeiten. – Zur typischen Deutung der Damaskuserfahrung in Apg 26 vgl. u. S. 417. 39  Hier unterscheide ich mich von Streckers (Liminale Theologie [o. Anm. 32], 96–157) sehr anregenden Interpretationen. Er gewinnt sie dadurch, dass er seine Betrachtung von Phil 3 auf die Verse 10–21 und diejenige von 2 Kor 4 auf die Verse 7–12 ausdehnt und so Konversion als eine lebenslange Transformation versteht. 40  Vielleicht ist es am sinnvollsten, im Falle des Paulus weder von einer „Konversion“ im Sinne eines Religionswechsels zu sprechen – das wäre anachronistisch – noch von „Bekehrung“ im Sinne einer Vertiefungserfahrung in der eigenen Religion – das würde dem radikalen Umbruch, den er erfahren hat, nicht gerecht – , sondern im Sinne von Segal, Paul (o. Anm. 14), 6 von „Konversion“ im Sinne von „moving from one sect or denomination to another within the same religion“. 41  Vgl. zu dieser Interpretation Ulrich Luz, Paul’s Gospel of Justification in Construction and Development, in: Ders., Exgetische Aufsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 521–527.

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Von Paulus abgesehen kennen wir nur noch einen einzigen Selbstbericht von einer Konversion aus dem frühen Christentum, nämlich den Bericht Justins über seinen Werdegang zu Beginn des „Dialogs mit Trypho“ (Dial 2,1–8,2).42 Justin erzählt ihn im Stil einer Philosophenbekehrung. Nach einem „tour d’horizon“ durch die verschiedenen Philosophenschulen,43 bei dem die Platoniker am besten wegkommen, wendet sich Justin nach einem langen Dialog mit einem christlichen Greis dem christlichen Glauben zu, der einzigen Philosophie, die zugleich „sicher“ und „nutzbringend“ ist (8,1). Das kognitive und das ethische Moment in dieser neuen Philosophie sind ihm also gleichermassen wichtig. Im Vergleich zu ähnlich stilisierten Philosophenbekehrungen ausserhalb des Christentums ist bei Justin auffällig, dass er seine Erkenntnis der wahren Philosophie nicht einem philosophischen Lehrer und auch nicht einem Buch verdankt, sondern einem Laien, eben dem genannten „Greis“. Von der christlichen Gemeinde und von seiner Taufe berichtet Justin hier stilgemäss nicht. ΙΙ. 2  Bekehrung von einzelnen Personen II. Fremdberichte. Unter den neu­testa­ mentlichen Autoren ist die Bekehrungsthematik für Lukas besonders wichtig. Er erzählt in Apg 8–11 und 16 eine Reihe von Bekehrungsgeschichten von Juden, Gottesfürchtigen und Heiden: vom äthiopischen Eunuchen, von Saulus, von Cornelius, von Lydia und vom Kerkermeister. Gemeinsam ist allen diesen Berichten, dass Gottes wunderbares Eingreifen hervorgehoben wird. Es geht in ihnen nicht primär um das Handeln der Menschen, sondern um Gottes Handeln in der Geschichte. Insofern sind die einzelnen Bekehrungsgeschichten jeweils Berichte über einmalige Begebenheiten und können nicht leicht typisiert werden. Das gilt auch für die Wiederholungen der Paulusbekehrung in den Paulusreden in Apg 22 und teilweise in Apg 26: In Apg 22 arbeitet Lukas primär die heilsgeschichtliche Kontinuität heraus: Paulus ist vom „Gott unserer Väter“ (Apg 22,14) zum Zeugen für alle Menschen gerufen. Die eigentliche Berufung findet erst in einem neuen ekstatischen Erlebnis des Paulus im Jerusalemer Tempel statt (22,17–21). In Apg 26 fallen, wie bei Paulus selbst, „Bekehrung“ und Berufung zusammen: Paulus wird zum Zeugen berufen; sein Auftrag ist die Missionierung der Heiden (26,16–20). Aber Apg 26 ist auch darum interessant, weil dieses Kapitel in V 18 deutlich zeigt, dass von den Lesern der Apostelgeschichte die Damaskuserfahrung schon typisch interpretiert wurde: Paulus, der vor Damaskus blind und wieder sehend gewordene, erhält den Auftrag, den Völkern „ihre Augen zu öffnen, um sie zu bekehren von der Finsternis zum

42 Zu Justins Bekehrung vgl. Alan Kreider, Changing Patterns of Conversion in the West, in: ders., The Origins of Christendom in the West, Edinburgh 2001, 4–7. 43  Zu vergleichen sind der Bericht des Josephus über seine Erkundung der verschiedenen jüdischen „Sekten“ Vit 2,10–12 und der Werdegang Plotins bei Porphyrius, Vita Plotini 3.

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Licht“.44 In dem, was damals Paulus geschah, wird das, was mit den Völkern geschehen wird, symbolisch vorweggenommen. Allen Berichten gemeinsam ist, dass sie mit der Taufe des Bekehrten enden (Apg 8,36–39; 9,18; 10,47 f; 16,15.33).45 Die Aufnahme in die Gemeinde ist, soweit dies die besonderen Erzählungen erlauben, wenigstens angedeutet (9,19b–21;16,15.34 (οἶκος). Vor der Taufe findet meistens die Verkündigung des Evangeliums statt (Apg 8,34b; 10,36–43; 16,14.32). Darin sind diese Berichte „typisch“. Manche einzelne Formulierungen mögen die Leser der Apostelgeschichte sogar an Formulierungen der Taufliturgie oder des Katechumenenunterrichts erinnert haben.46 Am vollständigsten erscheint das Inventar christlicher Bekehrungssprache im Auftrag, den der Christuszeuge Paulus vom Herrn in Apg 26,18–21 erhält: Er soll Israel und den Völkern die „Augen öffnen“, „um sie vom Dunkel zum Licht zu bekehren (ἐπιστρέψαι) und von der Macht des Satans zu Gott“. Sie sollen „Vergebung der Sünden empfangen und ein Los unter den Geheiligten durch ihren Glauben an mich“ (26,18). Paulus führt diesen Befehl aus und predigt unter Juden und Heiden Busse (μετανοεῖν), Bekehrung zu Gott (ἐπιστρέφειν ἐπὶ τὸν θεόν) und ermahnt zu Werken, die der Busse würdig sind (26,20). Dadurch hat er unter den Juden Aggressionen ausgelöst, und sie versuchten, ihn umzubringen (26,21). Abgesehen von der Apostelgeschichte gibt es keine Fremdberichte über Bekehrungen zum Christentum im Neuen Testament. Auf die Nachfolgegeschichten in den Evangelien kann ich hier nur hinweisen. Sie sind nicht von christlicher Bekehrungssprache geprägt, obwohl auch sie paradigmatische Züge tragen und von (christlichen!) Leserinnen und Lesern immer wieder auf ihr eigenes Leben bezogen worden sind. II. 3  Beobachtungen zur Bekehrungsterminologie. Die beiden wichtigsten sprachlichen Bezeichnungen für das, was wir heute als „Bekehrung“ bezeichnen, sind im Neuen Testament der Wortstamm μετανοέω / μ ​ ετάνοια und das Verbum ἐπιστρέφω. Beide wurzeln in biblisch–jüdischer Tradition. Beide Wortstämme sind wesentlich Übersetzungen des hebräischen Wortstamms ‫ׁשּוב‬. Beide Verben, ἐπιστρέφειν und μετανοεῖν, überlappen sich teilweise in ihrer Bedeutung und kommen auch mehrmals zusammen vor (Apg 3,19; 26,18–20; vgl. 1Clem 7,5; 2Clem 16,1; Herm 49,1 f). Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass 44  Cf. Daniel Marguerat, Le discours, lieu de (re)lecture du récit. Actes 2 et 26, in: ders. (Hg.), La Bible en récits, MoBi 4, Genéve 2002, 395–409, dort 408 f. Eine andere Weise der exemplarischen Interpretation der Bekehrung des Paulus findet sich im 1Tim, o. Anm. 38. 45  Nur in der zweiten Wiederholung der Bekehrung des Pls in Apg 26 wird sie nicht mehr berichtet. 46 Vgl. z. B. die Frage des Eunuchen nach den Taufhindernissen in Apg 8,36 τί κωλύει με βαπτισθῆναι (vgl. Apg 10,47). Der nur in späten Textzeugen überlieferte V 37 fügt die Tauffrage und das Taufbekenntnis hinzu. Ein anderes Beispiel ist die formelhafte Frage des Kerkermeisters in Apg 16,30 „was muss ich tun, damit ich gerettet werde?“

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μετανοεῖν / ​μετάνοια positiv konnotiert sind und darum häufig in Predigten und Paränesen vorkommen. Ἐπιστρέφειν im übertragenen Sinn ist dagegen neutral47 und kommt vor allem in beschreibenden Texten vor. In den deutschen Übersetzungen beider Verben besteht allerdings in der christlichen Tradition ein erheblicher Unterschied: Während bei der Übersetzung von ἐπιστρέφειν – bestimmt durch das lateinische converto – eine recht grosse Einheitlichkeit herrscht (bekehren, sich bekehren), gibt es bei der Übersetzung von μετανοέω eine erhebliche Variationsbreite (Busse tun, umkehren, umdenken, sich bekehren, sich ändern etc), die je nach kirchlicher Sozialisation von verschiedenen Bibellesern sehr verschieden gefüllt werden kann. Das Verbum μετανοέω ist in der griechischsprachigen Überlieferung der Predigt Johannes des Täufers48 und in der Jesussprache49 fest verankert und bezeichnet die ganzheitliche Umkehr des Menschen zu Gott. So etwas wie ein Bekehrungskonzept gibt es nur im lukanischen Schrifttum, vor allem in der Apostelgeschichte. Es sei kurz skizziert: Einen Eintritt in die Jüngergemeinschaft bzw. die christliche Gemeinde ohne μετάνοια gibt es nicht. Viele lukanische öffentliche Missionspredigten in der Apostelgeschichte enden mit einem Bussruf (Apg 2,38; 3,19; 17,30; vgl. Lk 24,47). Die Bekehrungsterminologie, die im Zusammenhang mit dem Eintritt in die Gemeinde auftaucht, ist bei Juden und Heiden dieselbe. Dass für Heiden die Bekehrung zum christlichen Glauben einen Religionswechsel bedeutet, für Juden dagegen in der Frühzeit nicht, wird also von Lukas nivelliert: Zu seiner Zeit ist die christliche Kirche bereits eine von paganen Religionen und Judentum gleichermassen unterschiedene eigene Religionsgemeinschaft. Oft ist der Ruf zur μετάνοια mit der Verheissung der Sündenvergebung im Namen Christi verbunden (Lk 24,47; Apg 2,38; 3,19; 5,31; vgl. 26,18). Μετανοέω ist stark ethisch konnotiert und bedeutet eine Absage an das Böse (vgl. Apg 8,22) und einen neuen Lebensstil. Zur Umkehr gehören „Werke, die der Umkehr würdig sind“ (26,21). Wird diese Umkehr erzählt, so kann Lukas auch das neutrale Verbum ἐπιστρέφειν brauchen. Es erfordert in der Regel eine Zielangabe: „zum Herrn“ (Apg 9,35; 11,21), im Falle von Heiden „zum lebendigen Gott“ (14,15; vgl. 15,19). Am radikalsten formuliert 26,18 das Woher und das Wohin der „Umkehr“: von der Finsternis zum Licht, von der Macht des Satans zu Gott. Es geht also um eine radikale Wende. Die Umkehr führt nach der Apostelgeschichte fast immer zur Taufe. Wichtig ist aber: Die Transformation des Menschen geschieht nicht durch den Ritus der Taufe, sondern sie geht der Taufe voraus. Zuerst wird das Herz eines Menschen geöffnet  – erst dann wird er getauft (Apg 16,14 f; vgl. 2,41). So schildern es 47 Es

kann auch eine “Wende” zum Schlechten geben; vgl. z. B. Gal 4,9.  Mt 3,2.8.11; Mk 1,4; Lk 3,3.8. 49  Mt 11,20 Lk 10,13; 11,32; 13,3.5; 15,7.10; 16,30. 48

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alle Bekehrungslegenden der Apostelgeschichte. Es geht also bei der von Lukas gemeinten Transformation des Menschen nicht um eine Art Initiation, sondern um einen Willensakt, der durch die Taufe und die Gabe des Geistes bestätigt und besiegelt wird. Allerdings weiss Lukas, dass gerade auch hinter menschlichen Willensakten Gottes Gnade und Handeln steht. Deshalb sagt er, dass Gott μετάνοια gibt (Apg 5,31; 11,18) und deshalb ist in seinen Bekehrungslegenden Gottes wunderbare Lenkung so deutlich sichtbar, sodass der menschliche Willensakt in den lukanischen Erzählungen hinter Gottes eigenem Handeln ganz zurücktritt. In das, was bei Lukas als durchdachtes Konzept sichtbar wird, fügen sich andere Einzelaussagen des Neuen Testamentes gut ein: Ich weise nur auf zwei besonders wichtige hin: 1 Thess 1,9 f gibt einen Einblick in die paulinische Missionsverkündigung: Die Thessalonicher sind von den εἴδωλα zum lebendigen Gott umgekehrt (ἐπιστρέψατε), dem sie nun dienen. Nach 1Petr 2,25 sind die einst verirrten (πλανώμενοι) Schafe jetzt zum Hirten Christus umgekehrt. Seit dem Ende des ersten Jahrhunderts dringt zunehmend Bekehrungsterminologie in die christliche Gemeindeparänese ein. Man machte die Erfahrung, dass es mit einer einmaligen Bekehrung zu Gott bzw. zu Christus nicht getan ist. Das Problem einer zweiten Busse stellt sich, und die Umkehr (μετανοέω) zu den „Werken des Anfangs“ (Apk 2,5) muss dringend angemahnt werden. Μετανοέω kommt in den Sendschreiben der Apokalypse siebenmal vor; oft ist hier der Umkehrruf mit einer Gerichtsdrohung verbunden. 2Petr 3,9 mahnt diejenigen, die an der Wiederkunft des Herrn zweifeln: Der Herr in seiner Langmut will nicht, dass jemand verloren geht, sondern „dass alle den Weg zur Umkehr einschlagen“. Jak 5,19 ermutigt die Gemeindeglieder, ein Gemeindeglied, das von der Wahrheit abgeirrt ist (πλανηθῇ ἀπὸ τῆς ἀληθείας) zur Raison zu bringen (ἐπιστρέψῃ) und so sowohl dessen Leben aus dem ewigen Tod zu retten als auch eine Menge eigener Sünden gut zu machen. Bei den Apostolischen Vätern macht die auf die Gemeinde bezogene Bekehrungsparänese die Hauptmasse der Bekehrungstexte aus. Den Schlussteil der Predigt des 2. Clemensbriefs (2 Clem 16–19) kann man geradezu als Bekehrungspredigt an die christlichen Leser bezeichnen: „Tut Busse (μετανοῆσαι) von ganzem Herzen!“, um euch selbst Leben zu verschaffen und um der Jugend ein Ziel (σκοπός) vor Augen zu stellen (19,1: vgl. 16,1;17,1 f). Die Mahnung „wir wollen einander bekehren und ermahnen“ (ἐπιστρέψωμεν ἀλλήλους καὶ νουθετήσωμεν) in 2 Clem 17,2 zeigt ebenso wie die oben zitierte Stelle Jak 5,19 und andere Stellen, dass die Sozialkontrolle in den kleinen christlichen Gemeinden gross war: Jedes Gemeindeglied (nicht nur die Amtsträger!) ist aufgerufen, Sünder und in die Irre Gehende zurechtzuweisen. Gelingt dies nicht, so wird mit Abbruch der Beziehungen gedroht: „Und mit jedem, der sich vergeht gegen den anderen, soll niemand reden; und er soll auch nichts von euch hören bis er Busse getan hat“ (Did 15,3). Der Bussruf wird feierlich

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in der Abendmahlsliturgie proklamiert: „Wer heilig ist, trete herzu, wer es nicht ist, tue Busse (μετανοεῖτω). Maranatha! Amen“ (Did 10,6). Ignatius stellt den Bussruf in den Dienst seiner Einheitsparänese: „… wir haben noch Zeit, zu Gott umzukehren (μετανοεῖν). Schön ist es, Gott und den Bischof anzuerkennen“ (Smyrn 9,1; vgl. Philad 8,1). Häufig wird der Bussruf durch Hinweise auf das drohende nahe bevorstehende Gericht verstärkt (z. B. 2 Clem 16,3). Durch das Eindringen von Bekehrungsvokabeln in die Gemeindeparänese wird diese dramatisiert. Zugleich wird der inhaltliche Bereich, auf den sich die Bekehrungsforderung bezieht, erweitert. Schön wird das an der Botschaft sichtbar, die der Römer Hermas von der Greisin (= der präexistenten Kirche) bekommt: Er soll seine Familie, genauer: seine offenbar etwas frei erzogenen und nach ihrer Meinung auf Abwege geratenen Kinder „bekehren“ (ἐπιστρέψῃς), weil sie sich gegen Gott und ihre Eltern vergangen haben (Herm 3,1). Wenn seine Kinder von ganzem Herzen Busse tun (μετανοήσουσιν), werden sie zusammen mit den Heiligen in die Bücher des Lebens eingeschrieben werden (Herm 3,2). Vor allem in den mandata, die stark unter dem Vorzeichen der nur noch einmal möglichen zweiten Busse für die Gläubigen stehen, findet sich dann Bekehrungsparänese in grosser Ausführlichkeit. Besonders interessant ist mandatum 4,2, wo eine kleine „Psychologie der Busse“ entwickelt wird: Das Wichtigste ist die Einsicht (σύνεσις) des Sünders in die Sünde. Er stelle sich das Böse, das er getan hat, in seinem Herzen lebendig vor – dann wird er es nicht mehr tun. „Du siehst also, dass Busse tiefe Einsicht bedeutet“ (ὅτι ἡ μετάνοια σύνεσίς ἐστιν μεγάλη) (Herm 30,2 f). Da das neutestamentliche Textmaterial, das direkt über „Bekehrung“ spricht, relativ spärlich ist, möchte ich zur Absicherung meiner Schlussfolgerungen noch zwei weitere Textgruppen heranziehen. II. 4  Das Kontrastschema „Einst und Jetzt“. In neutestamentlichen Briefen ist die Gegenüberstellung von vorchristlicher alter und jetziger christlicher neuer Existenz verbreitet, die Nils A. Dahl einst als „soteriologisches Kontrastschema“ bezeichnete hatte und die er für ein Schema der Gemeindepredigt hielt.50 Manchmal taucht dieses Schema in Verbindung mit Taufaussagen oder soteriologischen Aussagen über die Gnadentat Gottes oder Christi auf. In diesen Texten ist auf dreierlei hinzuweisen: 1. Es fällt auf, wie radikal die Vergangenheit und die Gegenwart einander gegenübergestellt werden. In Bezug auf die heidnische Vergangenheit fallen Ausdrücke wie „Äon dieser Welt“, „tot“; es ist von der Macht des Teufels die Rede (Eph 2,2.5). Von „Finsternis“ (Eph 5,8, vgl. 2 Clem 1,6) oder „Nicht-Sein“ 50 Nils A.  Dahl, Formgeschichtliche Beobachtungen zur Christusverkündigung in der Gemeindepredigt, in: Werner Eltester (Hg.), Neutestamentliche Studien für Rudolf Bultmann, BZNW 21, Berlin 21957, 5 f.

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(2 Clem 1,8) ist die Rede. Der Übergang vom Tod ins Leben wird als „Auferweckung“ und Erhöhung in den Himmel (Eph 2,5 f), als Ausziehen des alten Menschen und Anziehen des neuen (Kol 3,9; Eph 4,22–24), als „Rettung“ und Berufung zum Sein (Eph 2,8; 2 Clem 1,7 f) beschrieben. Eine anthropologische Kontinuität zwischen der alten und der neuen Existenz scheint es nicht zu geben. Bekehrungsvokabular kommt in solchen Kontrasttexten nicht vor, denn der Blickpunkt ist ein anderer: die Wende wird hier nicht als eigene Tat des Menschen, sondern als Gnade Gottes verstanden. Die Betonung des radikalen Kontrasts zwischen alter und neuer Existenz hat pragmatische Gründe: Sie bestärkt die Angesprochenen in ihrer Abgrenzung gegenüber der heidnischen Welt. Sie vermittelt ihnen Dankbarkeit und auch Stolz über den Schritt, den sie gemacht haben. Sie bestärkt sie auch in ihrer neuen Lebensweise. Aber die Texte zeigen auch, wie die Christen ihre Konversion zum Christentum gesehen haben, nämlich als eine totale Wende und einen Schritt in ein völlig neues Leben. 2. Die Perspektive in der Mehrzahl der Texte ist eine ethische. Manchmal ist mit dem Rückblick auf die einstige Existenz ein Lasterkatalog verbunden (Röm 1,29–31; 1 Kor 6,9; Kol 3,5; Tit 3,3).51 Aber es gibt auch Texte, in denen die kognitive Perspektive dominiert (Gal 4,8 f; 2 Clem 1,6–8; Eph 5,8). Beide können nicht voneinander getrennt werden. In manchen Texten wird auch eine ekklesiologische Perspektive sichtbar (Eph 2,11–22; 1 Petr 2,10). Indirekt ist der ekklesiologische Aspekt überall auch dadurch gegeben, dass in den Briefen durchwegs Gemeindeglieder angeredet werden 3. Manche Texte weisen auf die Taufe, durch die der Übergang von der alten zur neuen Existenz geschah (z. B. 1 Kor 6,11; Tit 3,5). Wo vom Heilshandeln Gottes an den Gläubig-Gewordenen die Rede ist, geschieht dies in der Regel in der Zeitform des Aorists (z. B. 1 Kor 6,11; Kol 1,22; Eph 1,6; Tit 3,5; 2 Clem 1,7 f). Das alles weist darauf, dass die Konversion zunächst als einmaliges Ereignis verstanden wurde, das in der Regel mit dem Eintritt in die Gemeinde zusammenfiel. Das schliesst aber nicht aus, dass die Neuheit des christlichen Lebens im Alltag täglich praktiziert werden musste und so etwas wie eine permanente Aktualisierung der einmaligen Konversion erforderte. Das zeigt sich daran, dass viele der soteriologischen Kontrastaussagen im Dienste der Paränese stehen. Am deutlichsten wird das in Röm 6,15–23, aber auch in anderen Texten wie etwa in Eph 4,17–24 oder im 2Clem im Ganzen. II. 5 Ein Seitenblick auf Taufe und Apostasie. Viele frühchristliche Interpretationen der Taufe betonen die Radikalität der Transformation des Menschen, die durch die Taufe geschieht. Das gilt vor allem für Interpretationen aus dem Bereich des paulinischen Christentums, welche die Taufe als einen Initiationsritus 51  Abgesehen von diesen Texten dominiert auch in Kol 1,21 f; 1 Petr 1,14 f die ethische Perspektive; vgl. Röm 6,17–22.

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IV. Studien zur spätantiken Religionsgeschichte

deuten. Für paulinische Gemeinden bedeutete Taufe ein Mitbegrabenwerden und ein gegenwärtiges Mitauferwecktwerden mit Christus (so Kol 2,12–14). Der Epheserbrief sieht das Christwerden in Parallele zur Auferstehung Jesu als Auferweckung und Erhöhung (Eph 2,5 f; 5,14), also als einen Durchgang vom Tod zum Leben. Paulus deutet die Taufe als Bekleidetwerden mit einer neuen Identität: „Ihr habt Christus angezogen“. Diese Identität ist keine individuelle, sondern eine gemeinschaftliche, welche die bisherigen Identitäten von Juden und Griechen aufhebt: „Ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,27 f).52 Dem entspricht seine Formulierung vom „Tod“ seines eigenen Ich und vom Ichwechsel in Gal 2,19 f: Der Christus, der nun in ihm lebt, ist der selbe, der in allen anderen Gläubigen lebt.53 Der „neue Mensch“, von dem in der Paränese des Kolosser‑ und Epheserbriefs die Rede ist (Kol 3,9 f; Eph 4,24), ist der Getaufte, der nun sein neues Leben realisieren muss. Die Formulierung von der Taufe als „Bad der Wiedergeburt“, die später in der deuteropaulinischen Tradition anzutreffen ist (Tit 3,5), passt gut zu dieser radikalen Transformation. Die stärkste, die Taufe weit übergreifende Formulierung ist wohl diejenige von 2 Kor 5,17: „Ist jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist“ – einige Handschriften ergänzen: „alles“ – „neu geworden“. Mit stärkeren Worten könnte man die Verwandlung des Menschen, die durch die Taufe geschieht, kaum interpretieren. Vielleicht ist nicht zufällig, dass in der paulinischen Tradition für den Eintritt ins Christentum kaum KonversionsVokabular verwendet wird. Dieses reicht offenbar nicht, um die Radikalität des Umbruchs zu charakterisieren. Dass das Christ-werden nur eine Etappe in der Entwicklung eines Menschen sein könnte, der vor und nach seiner Konversion derselbe bleibt, ist eine neuzeitliche Sichtweise, die hier völlig fern liegt. Der Christ ist, was er ist, nur durch seine „Konversion“ zum Glauben, durch seine Taufe und durch sein neues Selbst, Christus. Man tut gut daran, diese Sichtweise ernst zu nehmen und sie nicht einfach als schwärmerischen religiösen Enthusiasmus zu betrachten. Nur dann wird man ihre ganze Fremdheit erfassen. Gleichsam von der Rückseite her führen die Aussagen über den Abfall vom Glauben zu einem ähnlichen Ergebnis. Abfall wird in späteren neutestamentlichen Schriften zum Problem. Der Verfasser des Hebräerbriefs setzt Abfall vom Glauben einer zweiten Kreuzigung Christi gleich (Hebr 6,6). Wer vom Glauben abfällt, „tritt den Sohn Gottes mit Füssen und entheiligt das Blut des Bundes“ (Hebr 10,29). Ihm bleibt nur noch das Gericht Gottes. Abfall wurde von seiner Gemeinde mit dem völligen Abbruch jeder Gemeinschaft beantwortet.54 Nach 52  Die Deutung des maskulinen εἷς ist schwierig: Die meisten Kommentare deuten von der Vorstellung vom Leib Christi her – aber dann müsste Paulus eher ἕν sagen. Die vielen textkritischen Varianten, die ἕν anstelle von εἷς setzen oder εἷς weglassen, sahen das Problem klarer als die meisten modernen Kommentare. 53  Das entspricht dem Übergang vom „Ich“ zum „Wir“ zwischen Röm 7 und Röm 8. 54  Vgl. Hebr 12,15b.

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dem Nachtrag zum 1. Johannesbrief gibt es für die „Sünde zum Tode“55 – vermutlich ist damit der Abfall gemeint56 – keine Möglichkeit der Fürbitte mehr (5,16–19). In der Apokalypse wird eingeschärft, auch unter dem Druck der Verfolgungen „getreu bis in den Tod“ (Apk 2,10) zu sein, denn Abfall hat Verlust des ewigen Lebens zur Folge. Bereits ein deviantes Christentum wird in 1 Tim 4,1 als „Abfall“ gedeutet und mit entsprechenden negativen Etiketten versehen. Am weitesten geht hier der zweite Petrusbrief: Für diejenigen, die den Weg der Gerechtigkeit erkannt und sich dann wieder von ihm abgewandt haben, hat der Verfasser nur die übelsten Beschimpfungen übrig (2 Petr 2,1–3.10–22). Dass Abfall von der eigenen Bezugsgruppe und ihren Grundüberzeugungen etwas ganz Schwerwiegendes ist und nur mit totalem Bruch der Gemeinschaft beantwortet werden kann, ist eine Überzeugung und ein Verhalten, welches das frühe Christentum mit Teilen des zeitgenössischen Judentums verbindet. Es ist die Grundüberzeugung auch z. B. des Jubiläenbuchs, dass ein Abfall Israels vom Bund und ein Abfall zum Heidentum eine unvergebbare Sünde ist: „Sie haben keine Vergebung und Verzeihung mehr … , dass ihnen verziehen würde von aller Sünde dieser Verirrung, die in Ewigkeit ist“ (Jub 15,34).57 Auch die Sektenregel von Qumran formuliert ähnlich hart (vgl. 1QS 7,17). Man kann das sozialpsychologisch verstehen: In Gruppen, die so eng miteinander verbunden sind wie die christlichen Gemeinden, ist das Verlassen der Gemeinschaft etwas sehr Schwerwiegendes. Man kann das aber auch theologisch verstehen: Wenn die Konversion zum Christentum der Gewinn von allem, was gut ist, bedeutet: von Leben, Rettung, Licht, Erkenntnis Gottes und eines neuen Selbst, dann kann die Apostasie nur das Gegenteil bedeuten: die Rückkehr in die äusserste Finsternis, Verlorenheit und Verlust des Lebens. Gleichsam von der Rückseite her wird hier nochmals deutlich, wie Konversion zum Christentum interpretiert wird.

III. Ergebnisse und Schlussreflexion III.1  Zusammenfassung. Ich folge den zu Beginn des zweiten Abschnittes gestellten Leitfragen. III.1.1  Bekehrung zum Christentum erscheint in den Texten in der Regel als punktuelles, einmaliges Ereignis. Die meisten neutestamentlichen Be55  Der Ausdruck ist biblisch (Dtn 21,22; 22,26; Jub 21,22; 26,34; 33,13.18: Test Iss 7,1; vgl. Lev 18,29; 19,8; 20,27; Num 18,22: Dtn 17,12) und bezieht sich in jüdischer Tradition auf die bewusste Übertretung grundlegender Gebote. 56  Gemeint ist vermutlich Abfall, vgl. Werner Vogler, Die Briefe des Johannes, ThHKNT 17, Leipzig 1993, 176; Klaus Wengst, Der erste, zweite und dritte Brief des Johannes, ÖTK 16, Gütersloh / ​Würzburg 1978, 220; etwas offener Hans Josef Klauck, Der erste Johannesbrief, EKK XXIII / ​1, Neukirchen / Z ​ ürich 1991, 329 f. 57  Vgl. Jub 30,10.

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richte blicken auf die Bekehrung zurück. Allerdings zeigt das Eindringen von Bekehrungsvokabular in die Gemeindeparänese von der zweiten christlichen Generation an, dass Busse und Bekehrung mit dem Eintritt in die Gemeinde nicht zu Ende sind. Schon bei Paulus ist deutlich, dass die Bekehrten noch nicht „Vollendete“ sind, sondern am Anfang eines Weges mit Christus stehen.58 Der Gedanke einer andauernden, lebenslangen Busse und Bekehrung bahnt sich also an, ohne dass darüber schon konzeptuell reflektiert würde. III.1.2  Ethische und kognitive Momente gehören in den meisten Texten zusammen, auch wenn sie unterschiedlich betont sind. Nur in der an die Gemeindeglieder gerichteten Buss‑ und Bekehrungsparänese spielt das kognitive Moment in der Regel keine Rolle: Die Gemeindeglieder kennen ja Christus bereits und werden immer wieder aufgerufen, daraus ethische Konsequenzen zu ziehen. In vielen Texten wird beim kognitiven Moment der Erfahrungs‑ und der Offenbarungsgedanke betont: Die Erkenntnis Christi ist nicht primär intellektuelle Einsicht, sondern von Gott geschenkte und gerade darum den Menschen verändernde Erfahrung. Am deutlichsten ist dies bei Lukas und in den paulinischen Selbstberichten. III.1.3  Taufe und Bekehrung gehören zusammen, auch wenn sie einander unterschiedlich zugeordnet werden. Bei Lukas ist die Taufe meist das, was notwendigerweise auf die Bekehrung folgt: Die Busse gipfelt im Wunsch nach der Taufe; die Taufe ihrerseits ist die göttliche Besiegelung der Busse durch das Geschenk des Geistes und zugleich die Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche. Bei Paulus ist der Ritus der Taufe als solcher wichtig;59 darum kann man bei ihm von der Taufe als Initiation sprechen.60 Allerdings wird bei Paulus nirgendwo die Taufe mit Bekehrungsvokabular interpretiert. Der seit Arnold van Gennep bei Übergangsriten beobachtete Dreischritt von Separation, liminaler Phase und Aggregation (Wiedereingliederung) ist im Frühchristentum überall gut beobachtbar.61 III.1.4  Über Motive und Voraussetzungen der Bekehrung lassen die Texte nur wenige, fast immer nur indirekte Vermutungen zu. Nur in ganz allgemeiner Weise erlauben neutestamentliche Aussagen über das, was Menschen in der neuen Christusgemeinschaft gefunden haben, Rückschlüsse auf das, was sie vorher gesucht haben. Dies gilt etwa für die Gegenüberstellungen von einstiger und jetziger Existenz, welche ja für die angesprochenen Christinnen und  Am deutlichsten ist dies in Phil 3,10–21 und in Röm 6,15–23.  Vor allem das Untertauchen (Röm 6,3 f), aber auch das Abwaschen (1 Kor 6,11) und vermutlich das Anziehen des Taufkleids (Gal 3,27). 60  So Strecker, Liminale Theologie (o. Anm. 32), 177–189. 311–313 (besonders zu Röm 6). Dabei hat die „Aggregation“, die durch und nach der Taufe stattfindet, eine horizontale und zugleich vertikale Dimension: Das Hineingetauft-werden in den Leib Christi (1 Kor 12,13) ist zugleich – horizontal – Gemeinschaft von Juden und Griechen, Sklaven und Freien und – vertikal – Partizipation an der Geistwirklichkeit des erhöhten Christus. 61  Arnold van Gennep, Les rites de passage, Nachdruck Paris 1981 (= 1909), 14.27. 58 59

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Christen eine gewisse Plausibilität haben mussten, oder für Beschreibungen der christlichen Gemeinde als einer tendenziell egalitären Gemeinschaft, welche Schranken z. B. zwischen Sklaven und Herren oder zwischen Frauen und Männern durchlässiger werden lässt, oder für das Verständnis des Christentums als wahrer Philosophie. In manchen Fällen sind solche Rückschlüsse unmöglich. Dies gilt insbesondere für Rückschlüsse auf die Befindlichkeit des vorchristlichen Paulus. III.1.5  Die Bedeutung der neuen Gemeinschaft für die Bekehrten kann gar nicht überschätzt werden. Ihre Plausibilität gewann und behielt ihre neue Christus‑ und Gotteserkenntnis nur, wenn sie durch neue religiöse Erfahrungen (z. B. des Geistes oder der „Transformation von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (2 Kor 3,18) oder der geschwisterlichen Liebe) immer wieder bestätigt wurde und wenn in der Gemeinde „Umkehr“ ständig praktiziert und von den christlichen Geschwistern beständig eingefordert wurde. Eine grosse Bedeutung hatte die neue Gemeinschaft auch für herausragende Einzelne wie Paulus62 oder Justin63, umso mehr für die übrigen Gemeindeglieder. III.1.6  Nicht einfach ist es, über die Bedeutung der Eschatologie für das frühchristliche Verständnis der Bekehrung eindeutige Aussagen zu machen. Sicher hat die Gewissheit der Wiederkunft des Retters Christi für die frühe Missionspredigt eine wichtige Rolle gespielt (vgl. 1 Thess 1,9 f). Inwieweit die anfängliche Naherwartung die Missionspredigt intensiviert hat, ist schwer zu sagen. In vielen Fällen trifft das gewiss zu, aber auf der anderen Seite gilt, dass gerade der Heidenmissionar Paulus, dessen intensive Naherwartung wir kennen, es bei seiner Heidenmission erstaunlich gelassen nimmt, besonders, aber nicht nur in den ersten vierzehn Jahren seines Wirkens.64 Auf der anderen Seite kann man noch weniger sagen, dass das Ausbleiben der Wiederkunft die frühchristliche Mission intensiviert hätte.65 Bemerkenswert ist auch, dass die Gerichtsdrohung gerade kein Topos der lukanischen Missionspredigten in der Apostelgeschichte ist. Das drohende Gericht ist bei Lukas kein Motiv für die Bekehrung zum Christentum.66 62  Peter Berger / ​Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit, Taschenbuchausgabe Frankfurt 1980 sagen in Bezug auf Saulus-Paulus sehr à point: „Paulus bleiben aber konnte er nur im Kreise der christlichen Gemeinde, die ihn als Paulus anerkannte und sein „neues Sein“, von dem er nun seine Identität herleitete, bestätigte“ (169). 63  Justin, dial 8,1 spricht von seiner „Liebe zu … jenen Männern, welche die Freunde Christi sind“. 64  Auch in Städten wie Ephesus oder Korinth verweilt Paulus eigentlich erstaunlich lange und scheint keine Notwendigkeit zu kennen, den noch offenen „Kreis“ (vgl. Röm 15,19) seiner Mittelmeermission noch vor der Parusie schliessen zu sollen. 65  Das vermutet Goodman, Mission (o. Anm. 13), 166–168 als eine mögliche Erklärung für die besondere Intensität der frühchristlichen Mission. Belegen lässt sich das allerdings nirgendwo. 66  In der Verkündigung der Jesusboten, die Träger der Überlieferung der Logienquelle waren, ist dagegen traditionsgeschichtlich eine zunehmende Intensivierung der Gerichtsbot-

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IV. Studien zur spätantiken Religionsgeschichte

Deutlich ist vor allem, dass für die Buss‑ und Bekehrungsparänese an bereits „bekehrte“ christliche Gemeindeglieder der Horizont der drohenden Verurteilung im Endgericht eine grosse Rolle spielt. Die Gemeindeglieder, welche auf die Wiederkunft Christi als Weltrichter hoffen, müssen wissen, dass dann, wenn sie selbst nicht Christus gemäss verhalten, das ihnen drohende Gericht schrecklich sein wird. Das bezeugen je auf ihre Weise die matthäische Gemeindeparänese mit ihrer Betonung der drohenden Verurteilung im Gericht,67 die Sendschreiben der Apokalypse mit ihrer Verbindung von Bussruf und Gerichtsdrohung,68 die Gerichtsdrohungen in der Busspredigt des 2. Clemensbriefes69 und die Aussagen über die „Sünde zum Tode“ und das Apostaten drohende Schicksal. III.1.7  Wird Bekehrung als Religionswechsel verstanden? Die Antwort muss differenziert ausfallen. In Bezug auf ehemalige Heiden gilt das gewiss. Das zeigt schon der Rückblick des Paulus auf seine Missionspredigt in Thessalonich (1 Thess 1,9). In Bezug auf Juden muss man für die Frühzeit differenzieren. Die Frage nach dem Wann und Wie des „Auseinandergehens der Wege“ ist heute sehr umstritten und kann gar nicht mit einer einlinigen Antwort beantwortet werden: Zu verschieden waren die lokalen Situationen und die Sichtweisen der verschiedenen an diesem Prozess mitbeteiligten Akteure. Immerhin enthalten die Bekehrungsaussagen verschiedene Hinweise, die dafür sprechen, dass dieser Prozess früh einsetzte: Dazu gehören nicht nur unsere Beobachtungen zu Paulus70 und zu den Bekehrungsaufrufen in der lukanischen Apostelgeschichte, welche für alle, Juden, Gottesfürchtige und Heiden in gleicher Weise gelten. Vor allem ist aber wichtig, dass die junge christliche Gemeinschaft anscheinend von Anfang an ein neues Eintrittsritual kannte, welches an allen, Juden und Heiden, in gleicher Weise vollzogen wurde, nämlich die Taufe. Schon sehr früh, nämlich bei Paulus, wurde sie als ein Eintrittsritual in eine neue, universale Gemeinschaft interpretiert, welche den bis anhin geltenden Unterschied zwischen dem Gottesvolk Israel und den von Gott getrennten Heiden aufhob (1 Kor 12,13; Gal 3,27 f). Dies musste sehr rasch dazu führen, dass diese neue Gemeinschaft sich als neue Religion verstand und auch von aussen als solche gesehen wurde. Damit wurde Konversion zum Christentum zum Religionswechsel. Meine These ist also, dass das entstehende, missionarische und darum rasch anwachsende und schliesslich sich siegreich durchsetzende Christentum den massgeblichen Anteil daran hatte, dass in der spätantiken Gesellschaft schaft festzustellen. Allerdings ist hier die Ankündigung des Gerichts nicht primär Inhalt der missionarischen Verkündigung, sondern eher Reaktion auf ihre Ablehnung. Dies wird z. B. in Q 10,13–15; 13,34 und an der Abfolge der Logien in der Aussendungsrede Q 10,3–15 deutlich. 67  Vgl. Luz, Mt 18–25 (o. Anm. 23), 549–551. 68 Apk 2,5.16.21–23; vgl. Apk 3,19. 69 2 Clem 16,1.3; 17,1.6. Interessant ist 2 Clem 18,2 im Vergleich mit Phil 3,12–14: Pls sagt nie, dass er „das künftige Gericht fürchte“. 70  S. o. 414–416. Dies gilt besonders für den Galaterbrief, aber auch für Phil 3 und 2 Kor 3.

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ein neues Modell von Konversion entstand, nämlich Konversion als Religionswechsel. Bisher bekannte Modelle der Bekehrung im Sinne einer Vertiefung, Um‑ und Neuakzentuierung von bisherigen „traditionellen“ Religionen, in die man „eingebettet“ war, wurden vom Christentum nur teilweise und in neuer Weise übernommen. Ansätze dafür gibt es schon in den Spätschriften des Neuen Testaments und bei den Apostolischen Vätern, nämlich in der Gemeindeparänese, die durch Aufrufe zur Busse das hergebrachte Gemeindechristentum zu vertiefen versuchte. Vor allem seit der konstantinischen Zeit wurde dann das Christentum mehr und mehr zu einer – allerdings umfassenden – traditionalen Religion, in die man als Familienglied und Bürger des römischen Reichs „eingebettet“ war und in der viele Gläubige wieder nach Wegen der Vertiefung, der Umkehr und der Busse suchten. III.2  Im Rückblick auf die Frühzeit des Christentums ist für mich die Fremdheit der Texte ein entscheidender Eindruck. Wir sind heute in Kirche und Gesellschaft sehr weit von jenen christlichen Anfängen entfernt, in denen Bekehrung eine Frage von Leben und Tod war. Eintritt in die Kirche war damals zugleich Eintritt ins Leben und Austritt aus ihr zugleich ein Absturz in den Tod. Wir sind weit davon entfernt, der Taufe, die heute meist als einer von mehreren das Leben begleitenden „rites de passage“ verstanden wird, jene das ganze Leben bestimmende Bedeutung zu geben, die sie im Urchristentum hatte. Die anthropologische Kontinuität zwischen altem und neuem Leben, die das Urchristentum weithin verneinte, ist für uns heute selbstverständlich: Jede heutige Theorie von Konversion  – sei es im Sinne von innerkirchlicher Konversion oder von Religionswechsel – versteht diese als Etappe in der Biographie eines dabei sich selbst bleibenden Menschen. Können wir mit der völlig anderen urchristlichen Sicht überhaupt noch etwas anfangen? Bedenkenswert ist, dass wir bei vielen Muslimen eine „frühchristliche“ Sicht von Konversion zum Islam – verbunden mit der Unmöglichkeit, die muslimische Gemeinschaft wieder zu verlassen – wieder finden. Der Charakter der Konversion zum Christentum veränderte sich im Lauf der Geschichte. In vorkonstantinischer Zeit, als das Christentum keine der anerkannten väterlichen Religionen des römischen Reichs war, war sie potentiell gefährlich. Nach der konstantinischen Wende wurde das Christentum bald zur Staatsreligion: Konversion zu nichtchristlichen Religion galt als Apostasie und wurde vom Staat verboten. Nur in einer kurzen Übergangsphase – in der Zeit zwischen Konstantin und Julian – gab es so etwas die Religionsfreiheit. Fragt man, warum diese kurze Übergangsphase, die in manchem die Moderne vorwegnahm, so rasch endete, so ist die Antwort klar: Es war nicht zuletzt das Christentum, das nun zur herrschenden Religion wurde, welches sie beendete. Die Rückseite seines universalen Wahrheitsanspruchs war seine Exklusivität. Das

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IV. Studien zur spätantiken Religionsgeschichte

entspricht der frühchristlichen Tradition, welche Konversion zum Christentum als Schritt vom Tod zum Leben und Abfall als Katastrophe verstand. Aus diesem Grund neigte das Christentum, das im römischen Reiche zur Herrschaft gelangt war, dazu, Ersteres mit allen Mitteln zu fördern und Letzteres mit allen Mitteln zu verhindern, eingeschlossen Mittel staatlichen Zwangs. Das neutestamentliche Verständnis von Konversion zum Glauben und Abfall von ihm ist der Wurzelgrund dieser Entwicklung. Zu ihm gehört eine Potenz zur Selbstverabsolutierung des eigenen Glaubens. Am Schluss bleibt Nachdenklichkeit. Die Frage, was christliche Kirchen heute über Konversion / ​Religionswechsel aus dem Neuen Testament lernen können, ist nicht einfach, weil die Kritik an Potentialen auch zentraler neutestamentlicher Aussagen in diesem Aufsatz im Vordergrund stand. Aber vielleicht ist gerade in „Kirchen des Wortes“ das Eingeständnis, dass wir uns von unseren biblischen Ursprüngen weit entfernt haben und um eine kritische Reflexion ihrer negativen Potentiale nicht herumkommen, auch etwas Positives.

V. Biographische und autobiographische Studien

26. Einleitung Dieses Kapitel enthält fünf biographische und autobiographische Aufsätze. Allen voran steht ein Aufsatz über meinen Lehrer Eduard Schweizer mit dem Titel „Eduard Schweizer (1913–2006)“ (= Nr. 27), den ich im Jahre 2008 in einem Sammelband über deutsche Neutestamentler nach 1945 veröffentlichen durfte. Er steht voran, weil er der wichtigste Aufsatz dieses Kapitels ist. Ich kann ihn selber nur mit grosser Bewegung lesen und hoffe, dass seine Leser und Leserinnen meine unendliche Dankbarkeit für alles, was ich diesem grossartigen Menschen und Theologen verdanke, spüren. Ihn zusammenzufassen, ist kaum möglich. Der Aufsatz lässt mich auch dankbar auf alle Erfahrungen zurückblicken, die ich in meinem eigenen, „bolognafreien“ Theologiestudium machen durfte. Mein Studium war zwar nicht ganz so frei und auch nicht ganz so kurz, wie dasjenige von Eduard Schweizer, welches ich im ersten, mit „Leben“ überschriebenen Abschnitt erzähle (I). Aber es schenkte eine grosse Freiheit und Möglichkeiten, die eigenen Interessen zu verwirklichen und die eigene theologische Identität zu entdecken, von welchen man in den verschulten Studiengängen von heute nur träumen kann. Nach dem langen Abschnitt II über das wissenschaftliche Werk von Eduard Schweizer folgt der Abschnitt III über ihn als Lehrer und Prediger. Predigten haben ja heute keine Konjunktur; aber ich hoffe trotzdem, dass irgend jemand sich in die sehr vielen unveröffentlichten Predigten Eduard Schweizers vertieft, die im Archiv des Zürcher Fraumünsters liegen. In ihrer kraftvollen, einfachen Sprache und in ihrem Reichtum an Bildern enthalten sie Schätze. Der vierte und letzte Abschnitt (IV), der mit „Schweizers Bedeutung“ überschrieben ist, ist kurz. Mehr als das kleine Dank-Gedicht, das Eduard Schweizer an seinem 90. Geburtstag vorgetragen hat, kann man eigentlich nicht sagen. Es sagt mehr und formuliert authentischer, als es irgendwelche „epideiktische“ Formulierungen eines Schülers könnten. Der zweite Aufsatz des Kapitels ist einer der beiden, die mit „Was aber hast du, das du nicht empfangen hast?“, jenem Pauluswort aus 1 Kor 4,7 überschrieben sind, das für mich wahrscheinlich das wichtigste Bibelwort geworden ist (= Nr. 28). Er trägt den Untertitel „Sieben Danksagungen und ein paar Stossseufzer über die deutschsprachige neutestamentliche Wissenschaft“ und wurde in einem Sammelband, der autobiographische Skizzen deutschsprachiger Neutestamentler enthält, 2003 veröffentlicht. Hier wird er leicht verändert und durch einige Zufügungen ergänzt abgedruckt. Der erste Teil besteht aus „Dank-

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V. Biographische und autobiographische Studien

sagungen“ für Menschen und Erfahrungen, welche für mein Leben und meine Theologie wichtig geworden sind. Der zweite enthält sechs „Feststellungen und Wünsche“. Es sind Stossseufzer über den Zustand der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft im Jahr 2003. „Stossseufzer“ dürfen gepfeffert (und vielleicht auch manchmal übertrieben oder sogar ungerecht) sein! Es geht hier u. a. um das (Miss)-Verhältnis von Primärtext und Sekundärliteratur, um die Dominanz des Kommentarwesens, um die gesamttheologische und interdisziplinäre Isolation unserer Disziplin, um ihr Unvermögen, aus „wilder Exegese“ und applikationsorientierter Bibelarbeit zu lernen, um ihre fehlende hermeneutische Ausrichtung und  – zuletzt  – um die im deutschen Sprachgebiet teilweise exorbitanten Preise von grundlegenden Quellentexten. Einige Andeutungen, die auf positive Veränderungen in den letzten 15 Jahren hinweisen, sind in [ … ] hinzugefügt. Meine Stossseufzer sind zweifellos zugespitzt, aber leider sind die meisten von ihnen m. E. nach wie vor aktuell. Der folgende Aufsatz „Orientierung nach unten und grenzenlose Vergebung nach Mt 18“ (= Nr. 29) ist nicht ein wissenschaftlicher Aufsatz, sondern ein Versuch, mit Hilfe eines biblischen Textes einen seelsorgerlichen Dialog in einer Kirche zu initiieren. Ich wurde von der tschechischen Kirche der Böhmischen Brüder (ČCE) eingeladen, an ihrer Pfarrersynode vom Januar 2009 zu sprechen. Ihre innere Situation war damals sehr schwierig: Die Gruppen derjenigen, welche versucht hatte, in der kommunistischen Zeit die kirchlichen Institutionen zu retten, auch um den Preis unvermeidlicher Kompromisse, und derjenigen, welche den Weg des totalen Widerstands gegen das Regime für den einzig richtigen hielten, auch wenn er bedeutete, in den Untergrund zu gehen, standen sich unversöhnlich gegenüber. In meinem Vortrag habe ich versucht, die Gemeinderede von Mt 18 in diese konkrete Situation hinein auszulegen und zugleich zuzuspitzen. Das konnte ich nur so tun, dass ich nicht „von aussen“ zu den Hörerinnen und Hörern sprach, sondern als Mit-Betroffener, MitVerunsicherter und Mit-Denkender. Das ist der Sinn des autobiographischen einführenden Abschnittes I. Mein Vortrag war ein Versuch, in einer Situation, in der die Konfrontation den Dialog verstummen liess, ihn von Mt 18 her wieder zu öffnen. Insofern zeigt er auch etwas von der Kraft eines biblischen Textes. Was allerdings mein Vortrag damals in der Synode bewirkt hat, blieb mir verborgen. Den Aufsatz „Ost-Gänge“ (= Nr. 30) veröffentliche ich nur mit grossen Hemmungen. Seine beiden Teile haben direkt nichts miteinander zu tun. Sein erster Teil „’Vorspiel’ in der DDR“ enthält etwas abenteuerliche Erinnerungen eines, der mitten im Kalten Krieg zum Grenzgänger wurde, an die zum Glück nicht mehr existierende DDR. Manche Details mögen heutigen Lesern, die keine Zeitzeugen mehr sind, unglaublich, ja grotesk und skuril erscheinen. Die Erinnerung an einige nicht bekannt gewordene Details der sog. „Aktion Holzwurm“ ist ein kleiner Beitrag zur Zeitgeschichte. Das Wichtigste ist mir aber die

26. Einleitung

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Erinnerung an einige Menschen, die nicht vergessen werden sollten: Darunter sind Heinz Kreissig und Traugott Holtz, vor allem aber Willi Lange und Hans Voigt. Sie beide gehören zu den Menschen, deren Leben durch die brutale Diktatur des „Arbeiter‑ und Bauernstaates“ DDR zerstört worden ist. Ihnen ist darum der ganze Aufsatz gewidmet. Im zweiten Teil des Aufsatzes mit der Überschrift „Nach der ‚Wende‘“ geht es um die Osteuropaarbeit der „Studiorum Novi Testamenti Societas“ und ihres „Liaison Committee for Eastern Europe“. Sie hat einen wichtigen Beitrag zur Förderung osteuropäischer Bibelwissenschaft und ihrer Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, zu ihrer internationalen Vernetzung und zum besseren Verständnis der Orthodoxie und zum orthodox-westlichen Gespräch geleistet. Vor allem ist durch diese Arbeit die alt-ehrwürdige „Studiorum Novi Testamenti Societas“ selbst verändert worden. In diesem zweiten Teil geht es nicht nur um einen Bericht über diese Arbeit, sondern auch um den Versuch einer selbstkritischen Zwischen-Evaluation einer Arbeit, die nach wie vor weitergeht. Der letzte kurze Beitrag, wieder unter dem Titel „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ (= Nr. 31) hat eine eigenartige Geschichte. Ich schrieb ihn für die Festschrift für Anselm Grün, dem ich in Fribourg an einem denkwürdigen Tag begegnet bin.1 Die Aufgabe an die Autoren lautete, einen persönlichen, anmerkungslosen und kurzen Beitrag zu einem Bibeltext zu schreiben, der für sie persönlich wichtig sei. Ich schrieb meinen Beitrag und mailte ihn an den Herausgeber der Festschrift. Als ich die Festschrift2 erhielt, erschrak ich: Ich fand meinen Namen zwar auf dem Buchumschlag und auf dem Klappentext, aber mein Beitrag stand nicht im Buch. Es war Weihnachtspause und niemand war erreichbar. Als ich den Herausgeber endlich erreichte, bereitete ich ihm schlaflose Nächte. Aber es war nichts mehr zu machen! Ich erhielt vom Verlag von dem nicht erschienenen Aufsatz sehr viele Sonderdrucke, die ich an Freunde, Kollegen und Bekannte schickte. Von vielen erhielt ich persönliche Reaktionen, in denen oft zu lesen war, dass sie mein Aufsätzlein wohl nie gelesen hätten, wenn es in der Festschrift abgedruckt worden wäre. Ein Freund schrieb mir, dass 1 Kor 4,7 auch für Rudolf Bultmann der wichtigste Bibeltext gewesen sei. Das freute mich ganz besonders. Fazit: Auch für dieses Versehen im Verlag bin ich dankbar. Jedes Malheur hat offensichtlich sein Gutes! Jetzt also erscheint dieser kurze persönliche Text endlich im Druck.

1  Vgl. Anselm Grün / ​Ulrich Luz, Heute das Neue Testament verstehen. Ein Gespräch, in: Thomas Philipp / ​Jörg Schwaratzki / ​François-Xavier Amherdt (Hg.), Theologie und Sprache bei Anselm Grün, Freiburg / ​Münsterschwarzach, 2014, 39–62. 2  Rudolf Walter (Hg.), Inspiration für das Leben. Im Dialog mit der Bibel (FS Anselm Grün), Freiburg / ​Basel / ​Wien 2015.

27. Eduard Schweizer (1913–2006) I. Leben Eduard Schweizer wurde am 13. April 1913 als ältestes von vier Kindern in Basel geboren. Sein Vater, dessen Namen der kleine Eduard trug, war Jurist, hatte aber grosse historische Interessen, denen er in vielen Publikationen zur Basler Lokalgeschichte nachging.1 Besonders kirchlich war die Familie Schweizer nicht. In einer kleinen, englisch abgefassten autobiographischen Skizze schreibt Eduard Schweizer: „At least as far back as the sixteenth century my forebears were farmers or ‘surgeons’ … and later on real physicians or lawyers (as was my father), and my parents certainly did not expect me to go into the ministry“.2 Entscheidend für den Wunsch, Pfarrer zu werden, und für die Wahl von Theologie als Studienfach war für den Gymnasiasten Eduard Schweizer die Mitgliedschaft in einer Jugendgruppe der Herrnhuter Brüdergemeinde. Deren Leiter beeindruckte den jungen Eduard durch die Kraft, die er in einer sehr schwierigen persönlichen Lebenssituation ausstrahlte, so sehr, dass er sich für das Theologiestudium entschied. Erst viel später hat ihm Eduard erzählt, was er für ihn bedeutete. Glaube war für ihn geschenkte persönliche Lebenskraft. Damit hing es wohl zusammen, dass für den Theologiestudenten Eduard Schweizer Rudolf Bultmann zum entscheidenden Lehrer wurde. Schon nach dem ersten theologischen Semester verliess er seine Heimat-Universität Basel und immatrikulierte sich für das Wintersemester 1932/33 in Marburg, in erster Linie, um bei Rudolf Otto zu studieren. Entscheidend wurde für ihn aber das Studium bei Rudolf Bultmann. „From him I learned … that the word of God can only be understood

1  Die vielen Titel zur Basler Lokalgeschichte, die der elektronische Katalog von Schweizer Bibliotheken von Eduard Schweizer verzeichnet, stammen alle nicht von ihm, sondern von seinem Vater. 2  Eduard Schweizer, En route with my Teachers, in: ders., Jesus Christ. The Man from Nazareth and the Exalted Lord, 1984 Sizemore Lectures in Biblical Studies, Macon 1987, 57–91, dort 57. Der deutschsprachige Aufsatz: Eduard Schweizer, Unterwegs mit meinen Lehrern, EvTh 45 (1985), 322–337 ist ein anderer Text, kürzer, theologischer, weniger persönlich, dafür stärker auf die Auseinandersetzung mit Bultmann bezogen.

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V. Biographische und autobiographische Studien

existentially“.3 Von ihm lernte er auch, dass Jesus mehr ist als ein bedeutender ethischer Lehrer oder ein moralisches Beispiel, sondern dass Glaube und Gotteserfahrung an der Person Jesu hängt, daran, dass man sich auf seinen Anspruch einlässt.4 Zweierlei war dadurch für Eduard Schweizer gegeben: Das eine war eine gewisse Distanz gegenüber aller Dogmatik und allen Versuchen, den christlichen Glauben als „Lehre“ zu definieren. Lehren und Dogmen waren für ihn – so sagte er es später oft – nur so etwas wie die Leitplanken einer Autobahn, die verhindern, dass ein fahrendes Auto über die Böschung stürzt oder auf die Gegenfahrbahn gerät. Fahren aber muss man nicht auf den Leitplanken, sondern auf der Autobahn, d. h. auf dem freien Raum, den die Leitplanken begrenzen.5 Das andere war eine gewisse Distanz gegenüber Bultmanns philosophischem Ansatz und dem Versuch, christliche Existenzerfahrung mit Hilfe von Martin Heideggers Existenzphilosophie allgemeingültig zu explizieren. Das „Existenzielle“ war für Schweizer immer wichtiger als das „Existenziale“. Eindrücklich war für ihn weniger der „philosophische“ als der „gläubige“ Bultmann. Vor allem beeindruckt hat ihn aber der vor keiner kritischen Erkenntnis die Augen verschliessende Gelehrte Bultmann: „I was taught not to fear the truth and never to be anxious about detecting something that seemed to endanger my faith since God was always on the side of truth and not illusion“.6 So erlebte der Basler Student Eduard Schweizer auch den beginnenden Kirchenkampf, der den von Hause aus eher konservativen und unpolitischen Rudolf Bultmann auf die Seite der Bekennenden Kirche, und einen anderen von Schweizers Lehrern, den von Hause aus politisch engagierten Sozialisten Georg Wünsch, auf die Seite der Nationalsozialisten führte. Bei Rudolf Otto studierte Schweizer erst bei seinem zweiten Marburger Aufenthalt 1934/35, nachdem er zuvor in Basel Sanskrit gelernt hatte. In einem kleinen Privatseminar wurden die Bhagavadgita und Rigveda gelesen. Es ist der Prägung durch Rudolf Otto zu verdanken, dass Eduard Schweizer Karl Barths grundsätzliche Unterscheidung zwischen Christentum und Religionen ebenso ablehnte wie alle Versuche, die Religionen vom Gedanken einer „natürlichen Theologie“ her religionsphilosophisch dem Christentum zuzuordnen: Für Schweizer stand Gottes Gnade unendlich über jeder menschlichen religiösen Aktivität, sowohl christlicher wie auch nichtchristlicher: „All religious activity, Christian and non-Christian, maybe gracefully accepted and blessed by God“.7 Die nächste Etappe seines Studiums führte Schweizer nach Zürich. Dort war die Begegnung mit Emil Brunner entscheidend – nicht nur mit Brunner als Ver Ebd. 58.  Ebd. 59 fasst er diesen Anspruch mit dem für Bultmann wichtigen Stichwort „implizite Christologie“ zusammen. 5 Ebd. 71. 6  Ebd. 59. 7  Ebd. 64. 3 4

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teidiger einer „natürlichen Theologie“, sondern vor allem auch mit Brunner als einem der Leiter der „Oxford Bewegung“ und einem Kämpfer für eine lebendige Kirche als „Lebenszentrum“.8 Wichtig wurde für Schweizer auch die Begegnung mit Gottlob Schrenk, einem heilsgeschichtlich orientierten Neutestamentler, bei dem er sich später habilitierte und dessen Zürcher Nachfolger er werden sollte. Schliesslich kehrte Schweizer in seinem letzten, achten Semester (WS 1934/35) nach Basel zurück, nicht nur, um dort sein Schlussexamen abzulegen, sondern vor allem auch, um Karl Barth kennen zu lernen, der nach seiner Vertreibung aus Bonn dort seine Lehrtätigkeit aufgenommen hatte. Die theologischen Auseinandersetzungen in der damals kleinen Basler Fakultät waren intensiv: Zusammen mit nur drei anderen Studenten besuchte Schweizer Barths Sozietät, die bei diesem zu Hause stattfand, und profilierte sich gegenüber dem fragenden Barth als Verteidiger Bultmanns.9 Barth wurde in zweierlei Hinsicht wichtig für Schweizer: Einmal darum, weil er ihn unentwegt auf das „Zuvor“ von Gottes Handeln hinwies, das aller menschlichen Entscheidung und allem menschlichen Glauben unumkehrbar vorausgeht. Vor und über den Zeitpunkt des individuellen Zum-Glauben-Kommens stellte Barth die Geschichte Jesu: den „Karfreitag (ca.) 30 n. Chr.“10 Sodann, weil ihm Barth ein neues Verständnis für die Bedeutung der theologischen „Väter“ eröffnete, denen wir  – weit über die unmittelbare Begegnung mit Gott und die unmittelbare Gleichzeitigkeit mit dem biblischen Wort in seiner existenziellen und existenzialen Interpretation hinaus – unendlich viel verdanken. Für den späteren Vater der ersten ökumenischen und wirkungsgeschichtlichen Kommentarreihe zum Neuen Testament sollte dies von grosser Bedeutung werden.11 Aus Bultmanns Seminar hatte Schweizer bereits die Grundidee für seine Dissertation mitgebracht: Er wollte zeigen, dass die johanneischen sogenannten „Gleichnisse“, nämlich die Ich-bin-Worte, in Wirklichkeit weder Gleichnisse,   8 Die Formulierung stammt von Werner Kramer, Eduard Schweizer (*1913). Vielfalt und Einheit neutestamentlicher Theologie, in: Stephan Leimgruber / ​Max Schoch (Hg.), Gegen die Gottvergessenheit. Schweizer Theologen im 19. und 20. Jahrhundert, Basel / F ​ reiburg / ​Wien 1990, 223–240, dort 225.  9  Schweizer, Unterwegs (o. Anm. 2), 323. 10  Schweizer, Unterwegs (o. Anm. 2), 324. 11  Der Studienweg Eduard Schweizers ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie fruchtbar ein individuell gestaltetes, interessen-, problem‑ und lehrer-orientiertes Theologiestudium sein konnte, dessen Freiheit weder durch „Bologna“, noch durch Curricula und ECTS-Punkte begrenzt war. Dazu gehört auch die hohe Mobilität, die heute durch „Bologna“ eher zerstört als gefördert wird. Kurz (8 Semester!) war dieses Studium obendrein! Ich bemerke das ausdrücklich, weil wir bald eine Student / i​nnen‑ und Pfarrer / ​innen-Generation haben werden, die nur noch „Bologna“ kennt. Natürlich war Eduard Schweizer ein exzellenter Student, und natürlich hat er nicht nur Latein, sondern auch Griechisch und Hebräisch bereits auf dem Gymnasium gelernt. Trotzdem: Der Verlust, den wir durch die heutige Verschulung des Theologiestudiums erleiden, ist so gross, dass diese Anmerkung nötig ist. Ich verstehe sie nicht als ein Lamento und eine nostalgische Erinnerung an vergangene Zeiten, sondern als eine Richtungsangabe für die nächste Studienreform!

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noch Metaphern, noch Symbole, sondern eigentliche Rede sind.12 In den „Ichbin“-Worten gehe es darum, „dass der Christus und er allein das wahrhaftig ist, was diese Begriffe aussagen“.13 Sie seien eine extreme Verdichtung der johanneischen Christologie. In dieser These spiegeln sich natürlich Erkenntnisse Bultmanns. Zugleich deutet sich in ihr aber auch etwas an, was als Grundton der Theologie Schweizers durch sein ganzes Leben hindurch klingen sollte, nämlich „dass Gott eine Wirklichkeit ist, für die alle unsere Wirklichkeiten und erst recht die Sprache, die dadurch bestimmt ist, höchstens Abbilder sein können“.14 Eingereicht wurde diese Dissertation im Frühjahr 1938 in Basel bei Karl Ludwig Schmidt. Verfasst hatte er sie in sieben konzentrierten Monaten im vorangehenden Winter. Vorher kam Eduard Schweizer nicht dazu, weil er nach seinem Vikariat in Riehen für neun Monate eine Pfarramtsstellvertretung in einem Arbeiterquartier Kleinbasels übernahm, mit damals über hundert Konfirmandinnen und Konfirmanden. Die Dissertation bei Bultmann in Marburg einzureichen, war 1938 angesichts der politischen Verhältnisse unmöglich. Im Sommer 1938 übernahm Eduard Schweizer das Pfarramt der weitläufigen Toggenburger Gemeinde Nesslau, das ihn sehr geprägt hat. 1940 verheiratete der junge Pfarrer sich mit Elisabeth Hanhart, einer temperamentvollen, klugen, spritzigen und warmherzigen Baslerin, die tief im christlichen Glauben verwurzelt war. Das Nesslauer Pfarrhaus wurde die erste Heimat für drei der vier Kinder, die der Familie geschenkt wurden. Elisabeth und Eduard Schweizer haben mehr als fünfundsechzig Jahre lang miteinander gelebt. Sie haben ihre Ehe als ganz grosses Glück empfunden. Aber davon berichte ich hier nicht weiter, denn es soll ja um den Neutestamentler Eduard Schweizer gehen! Während seines Pfarramtes hat sich Eduard Schweizer nebenbei in Zürich bei Gottlob Schrenk habilitiert, mit einer – wie damals noch üblich – kleineren, in einer Zeitschrift veröffentlichten Studie.15 Ebenfalls nebenbei entstanden in Schweizers achtjähriger Pfarramtszeit zwei Bücher, nämlich die erste Fassung seines Kommentars zum ersten Petrusbrief 16 und die erste Fassung seiner neutestamentlichen Ekklesiologie.17 1946 wurde Eduard Schweizer als Neutestamentler in das vom Krieg gezeichnete Mainz berufen. Die Familie musste in der Schweiz bleiben. Im Sommersemester 1949 lehrte er in Bonn. Auf den Herbst 1949 wurde er als 12  Eduard Schweizer, Ego Eimi. Die religionsgeschichtliche Herkunft und theologische Bedeutung der johanneischen Bildreden, FRLANT 56, Göttingen 1939 (21965), 122. 13  Ebd. 137. 14  Schweizer, Unterwegs (o. Anm. 2), 324. Schweizer sagt dort, dass er dies damals „höchstens ahnte“ und dass diese Erkenntnis erst in seinem letzten Jesusbuch „Jesus, das Gleichnis Gottes“ (vgl. u. Anm. 27) „zum Durchbruch kam“. 15 Eduard Schweizer, Diodor von Tarsus als Exeget, ZNW 40 (1941), 33–75. 16 Eduard Schweizer, Der erste Petrusbrief, Prophezei, Zürich 1942, 21949. Spätere Neubearbeitungen erschienen in den „Zürcher Bibelkommentaren“: 31972; 41998. 17  Vgl. u. Anm. 62.

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Nachfolger von Gottlob Schrenk nach Zürich berufen. In Zürich blieb er und lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Oktober 1979. „Bleiben“ ist allerdings eine sehr unzutreffende Beschreibung der Lebensweise von Eduard Schweizer. Er war immer wieder unterwegs. Japan und die Vereinigten Staaten waren seine bevorzugten Ziele. Dort lehrte er öfters und länger. Andere wichtige Stationen seines Lehrens waren Australien und Neuseeland. Aber diese Länder waren keineswegs die einzigen: Nach dem damaligen Eindruck von uns Studenten hielt er in fast allen Ländern der Erde Vorlesungen. Eines seiner bevorzugten Hobbies war das Zusammenstellen von Flugtickets, die noch irgend einen Gratis-Abstecher an eine andere Destination erlaubten, wo er fast immer auch noch eine Vorlesung hielt. Neben Einladungen zu Gastvorlesungen und für Gastprofessuren waren es kirchliche Aufgaben, die ihn in die Nähe und in die Ferne führten: Gemeindevorträge, Synodevorträge, Konferenzen von „Faith and Order“. Fast überall, wo er war, hat er auch gepredigt. Davon ist später noch zu reden. „Bleiben“ ist aber in einem anderen Sinn ernst zu nehmen. Trotz sehr vieler Rufe, vor allem in die USA und nach Kanada, ist er „seiner“ Universität Zürich treu geblieben. Es ist mir leider nicht möglich, die Rufe alle aufzuzählen  – Eduard Schweizer hat kaum je von ihnen gesprochen. Nicht, dass er sich eine Übersiedlung in die neue Welt nicht ernsthaft überlegt hätte: Amerika und der „American way of life“, wozu für ihn vor allem die Direktheit und Unkompliziertheit im Umgang mit Menschen gehörten, haben ihn sehr fasziniert. Aber trotzdem blieb er der Universität Zürich treu. Die Zürcher Fakultät hat seiner Treue einiges zu danken. Ich sage absichtlich: die Fakultät. Denn in seinen Bleibeverhandlungen zeigte Eduard Schweizer wenig Interesse, Privilegien für sich selbst auszuhandeln, abgesehen von der Möglichkeit, gelegentlich Gastprofessuren wahrzunehmen und sich dann vertreten zu lassen. Wohl aber hat er Dinge erbeten, die ihm für die ganze Fakultät wichtig zu sein schienen: Ein sozialethisches Institut war ihm beispielsweise wichtiger als eine zusätzliche Stelle für seinen eigenen Lehrstuhl. In den Jahren 1964–1966 war Eduard Schweizer Rektor der Universität Zürich. Die Zeit des Rektorats hat ihm Spass gemacht. Er hat gerne die Universität repräsentiert. Er sass gerne und regelmässig in den meisten Antrittsvorlesungen und in mancher Gastvorlesung – „zum Aufmöbeln meiner Gymnasialbildung“, wie er scherzhaft sagte. Neugierde und Lust zu lernen war eine seiner hervorstechenden Eigenschaften. Den Kontakt mit den vielen Kollegen aus anderen Fakultäten, die das Rektorat mit sich brachte, hat er sehr genossen. Neben dem Rektorat hat er selbstverständlich auch gelehrt, wenn auch mit leicht reduziertem Pensum. Während seines Rektorats hat er ausserdem seinen Markus-Kommentar geschrieben, der 1967 erschien:18 Auch in seiner Rektoratszeit hat Eduard Schweizer regelmässig gepredigt, vor allem im Zürcher Fraumünster. Seine 18

 Vgl. u. Anm. 42.

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Arbeitskraft und seine Fähigkeit, Zeit nicht nur einzuteilen, sondern zu „konzentrieren“, war ungeheuer.19 Ich, der ich in seiner Rektoratszeit Eduard Schweizers Assistent war, hatte nie den Eindruck dass Eduard Schweizer wegen seines Rektorates sich in irgend einer Weise weniger Zeit für seinen Doktoranden und Assistenten genommen hätte. Nach der Emeritierung ging die vita activa weiter. Eduard Schweizer schrieb und lehrte in vielen Ländern. Mehrere Bücher hat er als Emeritus geschrieben, so u. a. den Lukaskommentar20 und – als letztes Buch – die „Theologische Einleitung in das Neue Testament“.21 Noch als 87-jähriger hielt er einzelne Vorlesungen, z. B. an der Seniorenuniversität.22 Auch gepredigt hat er bis in sein hohes Alter. Langsam wurde er müde; seine Kräfte und sein Gedächtnis liessen nach. Bis zu seinem Tode am 27. Juni 2006 aber blieb er ein glücklicher Mensch. Das Geheimnis seines Glücks waren sein einfacher, fast kindlicher Glaube und seine Dankbarkeit. Beides gehörte eng zusammen.

II. Werk Ich habe Eduard Schweizers Studiengang und seine Lehrer relativ ausführlich dargestellt, weil ich denke, dass sein Werk als Neutestamentler in einem weiten Umfang als Gespräch mit seinen Lehrern dargestellt werden kann. Ich kann das noch zuspitzen: Eduard Schweizers Lebenswerk ist auf weite Strecken eine theologische Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Rudolf Bultmann. Richtungsweisende Anstösse für diese Auseinandersetzung hat ihm Karl Barth gegeben. Ein entscheidender Faktor in seiner Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann waren seine Erfahrungen als Gemeindepfarrer. So hat es jedenfalls Schweizer selbst in seinen autobiographischen Rückblicken gesehen, an die ich mich auch in den folgenden Ausführungen dankbar anlehne.23

19  Eine kleine Erinnerung: In jener Zeit kamen wir einmal nach einer gemeinsamen Wanderung im Südtirol nach Bozen. Wir hatten noch genau dreiviertel Stunden bis zur Abfahrt des Zuges. Ich schlug Eduard Schweizer vor, einen Espresso oder einen „Gelato“ zu geniessen. Aber Eduard Schweizer war noch nie in Bozen gewesen und wollte die Stadt besichtigen. Ich musste ihm nolens volens „nachfolgen“. Hinterher stellte ich fest, dass wir in diesen dreiviertel Stunden nicht nur alle wichtigen Sehenswürdigkeiten der Bozener Altstadt gefunden und gesehen, sondern sie auch intensiv wahrgenommen haben. 20  Vgl. u. Anm. 47. 21  Eduard Schweizer, Theologische Einleitung in das Neue Testament, GNT 2, Göttingen 1989; englisch: A Theological Introduction to the New Testament, London 1992; auch japanisch, italienisch und ungarisch. 22 Vgl. Eduard Schweizer, Was sagt die Bibel über ein Leben nach dem Tode (Videokassette der Vorlesung vor der Seniorenuniversität vom 4. 4. 2​ 000; erhältlich: HBZ Studienbibliothek Irchel. Videothek Nr. 243). 23  Vgl. o. Anm. 2.

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II. 1  Jesus und die neutestamentliche Christologie. Die neutestamentliche Christologie war für Schweizer das Zentrum seines Nachdenkens. Er hat vier – oder eigentlich sogar fünf – Bücher über Jesus und die Sichtweisen Jesu in den neutestamentlichen Christologien geschrieben. Es sind dies: „Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern“ (1955),24 „Jesus Christus im vielfältigen Zeugnis des Neuen Testaments“ (1968),25 „Jesus Christ. The Man from Nazareth and the Exalted Lord“ (1987)26 und „Jesus, das Gleichnis Gottes“ (1995).27 1987 erschien auch sein grosser TRE-Artikel „Jesus Christus“,28 der die Qualität und die Dichte eines Buches hat. In einem weiteren Sinn in diesen thematischen Zusammenhang gehören auch Eduard Schweizers Synoptikerkommentare. Die Grundfrage Schweizers in seinen Bemühungen um Jesus und die neutestamentliche Christologie war diejenige Karl Barths: Wie wird das „Zuvor“ des göttlichen Handelns in der Geschichte Jesu für die Menschen wirksam? Oder negativ: Es war die kritische Frage an Bultmann: Bedeutet die Auslegung des christlichen Glaubens auf ein Existenzverständnis hin nicht, dass Jesus, der Anstoss zu diesem Existenzverständnis gibt, letztlich überflüssig wird, und vielleicht noch als Lehrer oder „als ein gutes Vorbild, das auch durch uns näher stehende Menschen ersetzt werden könnte“,29 brauchbar ist? Es ist das Nein zur liberalen Theologie, das Schweizer umtreibt. Es ist der Wille, Gottes dem Menschen zuvorkommendes Handeln in der Geschichte ernst zu nehmen. Dass die christliche Verkündigung „vom Leben Jesu (nur) … das Dass und die Tatsache der Kreuzigung Jesu“ benötigt,30 genügte Schweizer nie. Er war darin mit den Vertretern des „New Quest“, vor allem mit Ernst Käsemann, in seiner Kritik an Bultmann an diesem Punkt einig. Im Unterschied zu den meisten seiner Vertreter beschränkte er sich aber nie nur auf die Frage nach dem historischen Jesus, sondern seine Frage war die nach dem historischen Jesus, wie er in Glauben, 24  Eduard Schweizer, Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern, AThANT 28, Zürich 1955 (Zitate aus dieser Ausgabe); zweite, stark umgearbeitete Auflage 1962; englisch: Lordship and Discipleship, London 1962 (gekürzte Fassung), auch italienisch. 25  Eduard Schweizer, Jesus Christus im vielfältigen Zeugnis des Neuen Testaments, Siebenstern TB 126, München / H ​ amburg 1968; englisch: Jesus, Richmond 1971; auch japanisch, französisch. 26 Eduard Schweizer, Jesus Christ. The Man from Nazareth and the Exalted Lord. The 1984 Sizemore Lectures in Biblical Studies (ed. by Hulitt Gloer), Macon GA 1987; auch italienisch. 27  Ursprünglich in chinesischer Übersetzung, dann englisch publiziert: Eduard Schweizer, Jesus the Parable of God: What do we really know about Jesus?, PTMS 37, Pickwick 1994 und Edinburgh 1997. Deutsche Fassung: Jesus, das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu?, KVR 1572, Göttingen 1995; auch japanisch und ungarisch. 28 Eduard Schweizer, Jesus Christus I. Neues Testament, TRE XVI, 1987, 671–726. 29 Schweizer, Jesus, das Gleichnis (o. Anm. 27), 13. 30  So Rudolf Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, SHAW.PH 1960/3, Heidelberg 21961, 9.

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V. Biographische und autobiographische Studien

Denken und vor allem im Leben der neutestamentlichen Christinnen und Christen wirksam war. Von da her wird Schweizers Interesse an Denkmodellen wie dem des „leidenden Gerechten“, der ein Lebens‑ und Hoffnungsmodell auch für seine Jünger ist, oder der „Nachfolge“ einschliesslich ihrer Neuinterpretationen z. B. im Johannesevangelium oder im Hebräerbrief 31 oder an der „Erniedrigung“ des Gottessohns, der das eigene Leben der Gläubigen entspricht, verständlich. Der erste Versuch einer von Jesus herkommenden Christologie des Neuen Testaments, welche die bleibende Bedeutung des eigenen Weges Jesu zu ihrer Grundfrage machte, ist die Studie „Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern“ von 1955. Ihre Schwäche besteht m. E. darin, dass sie zu viele verschiedene christologische Denk‑ und Lebensmodelle des Neuen Testaments unter das Leitmotiv „Erniedrigung und Erhöhung“ stellt und dem Ganzen überdies noch die „Nachfolge“ als christologisches Grundmodell voranstellt. Ihre bleibende Bedeutung hat Schweizer selbst so umschrieben: „I am tempted to think that the most relevant part of that book was to be found in the image on the first page32 and the fact that I could not deal with the problem adequately except in an image“.33 In „Jesus Christus im vielfältigen Zeugnis …“ (1968) legt Schweizer einen neuen Versuch vor: Hier zeichnet er Jesus selbst als „den Mann, der alle Schemen sprengt“.34 Entscheidend ist, dass Jesus gerade nicht in das Schema jüdischer (oder hellenistischer) Erwartungen passt und sich nicht begrifflich „definieren“ lässt. Er – der in Israel Kranke heilt – ist gerade nicht das, was man von einem Messias erwartete. Er hätte sich als „Gottessohn“ verstehen können, denn er hatte ein ausserordentlich enges Verhältnis zu Gott, den er „Abba“ nannte, aber die Texte erlauben nicht, ihm diesen Titel zuzuweisen. Er hat sich selber als „Menschensohn“ bezeichnet, aber damit gerade nicht den nach Dan 7 erwarteten künftigen Richter gemeint. Vielmehr brauchte er „Menschensohn“ untitular etwa im Sinne von „man“ und liess offen, was die Bedeutung dieses unscheinbaren „man“ ist. Schweizer sagt: „Jesus hält das Feld offen, ohne durch Titel, die notwendig immer fixieren und abschliessen, Gottes freies Handeln … zum Objekt menschlichen Denkens werden zu lassen, dass dieses darüber verfügen

31 Im Hebräerbrief fehlt das Wort „Nachfolgen“, Schweizer interpretiert das Verständnis von Jesus als ἀρχηγὸς τῆς σωτηρίας (Hebr 2,10) bzw. als ἀρχηγὸς καὶ τελειωτής des Glaubens (Hebr 12,2) im Sinne seines Nachfolgeverständnisses; vgl. Schweizer, Erniedrigung (o. Anm. 24), 29–33. 32  Schweizer vergleicht Nachfolge Jesu mit einem Vater und seinem Kind: Der Vater lässt in einem tief verschneiten Berggebiet sein Kind in seinen Fusstapfen hinter ihm hergehen. Er macht ihm also nicht bloss vor, wie man durch den tiefen Schnee stapfen muss. Er geht aber auch nicht stellvertretend für das Kind, das bei der Grossmutter bleibt, durch den Schnee (Schweizer, Erniedrigung [Anm. 24], 7). 33  Schweizer, En route (o. Anm. 2), 72. 34  Schweizer, Jesus Christus (o. Anm. 25), 18.

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könnte“.35 Nicht offen lässt er aber, dass in ihm Gott am Werk ist und dass es keine andere Möglichkeit gibt, Gott zu erfahren, als die, sich auf ihn einzulassen. So ist Jesus zum Ausgangspunkt einer grossen Vielfalt von christo“logischen“ Entwürfen oder Christuserzählungen geworden, in denen Menschen bezeugen, wem sie ihr Leben verdanken. „Einheit“ im christologischen Zeugnis gibt es jedenfalls am Anfang nicht, höchstens am Ende, im Kanon bzw. in der Lehre der Kirche.36 Obschon jeder Versuch, zu sagen, wer Jesus Christus ist, in sich unzureichend ist, sind sie alle von Ostern und Pfingsten her nötig, denn nur so wird klar, „dass weder der Lehrer noch das ansteckende Vorbild Heil schafft, sondern erst das Wort von ihm als dem Christus Gottes“.37 In meinen Worten: Nur so wird es klar, dass es in Jesus nicht um Lehren und Lebensentwürfe, sondern um Gott ging. Auch Schweizers grosser TRE-Artikel „Jesus Christus“ ist zunächst eine komprimierte neutestamentliche Christologie, welche auch die narrativen Christo“logien“ der Evangelien berücksichtigt, denn „das Neue Testament kennt einerseits kein Kerygma, das nicht in der irdischen Geschichte Jesu verankert wäre, andererseits keine Schilderung des irdischen Jesus, die nicht Gottes entscheidendes … Handeln damit aussagen wollte“.38 Die Anlage des gesamten Artikels, der im Blick auf die kirchliche Rezeptionsgeschichte „Jesus Christus“ heissen musste und nicht einfach „Jesus“ heissen durfte, kam Schweizers Anliegen sehr entgegen. Erst in den Schlussabschnitten stellt Schweizer „Jesus“ den späteren neutestamentlichen Bildern von ihm gegenüber. Am eindrücklichsten und geschlossensten scheint mir das vierte Jesusbuch Schweizers zu sein: „Jesus, das Gleichnis Gottes“, das er als Dreiundachtzigjähriger nur widerwillig publiziert hat.39 In diesem Buch wählt Schweizer die Gleichnisse als Leitfaden seiner Jesusdarstellung: Die Gleichnisse Jesu, die meist Alltagswirklichkeit verfremden oder in überraschendes neues Licht rücken, haben sehr oft keine Sachhälfte, die sie illustrieren, wie die rabbinischen Gleichnisse. Sie greifen hinein in menschliche Wirklichkeit und verwandeln sie. Sie bringen menschliche Wirklichkeit in überraschender Weise mit Gott und seiner Liebe in Verbindung. Ihr sprachliches Grundmodell ist nicht der Vergleich, sondern die Metapher. Sie verweisen indirekt auch auf den Erzähler Jesus, der in ihnen Gott und menschliches Leben auf neue Art miteinander verbindet. Sie ziehen die Hörerinnen und Hörer hinein, sodass sie auf das von Jesus Erzählte mit ihrem Leben antworten müssen und sich damit zugleich auf den Erzähler Jesus einlassen. Schweizer „überhöht“ seine prägnante Kurzinterpretation der Gleichnisse durch eine eigene christologische These, die ihrerseits wiederum  Ebd. 26. 186. 37 Schweizer, Unterwegs (o. Anm. 2), 333. 38  Schweizer, Jesus Christus (TRE) (o. Anm. 28), 696. 39  Schweizer, Jesus, das Gleichnis (o. Anm. 27), Vorwort. 35

36 Ebd.

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V. Biographische und autobiographische Studien

nur als Metapher verstanden werden kann: Jesus ist das Gleichnis Gottes.40 Schweizer meint damit, dass Jesus mehr ist als das „Dass“ seines Lebens und Sterbens, in das die Glaubensformeln in den Briefen seine Geschichte konzentrieren. Er kann auch nie in einem „Lehrsatz“ oder einem christologischen „Titel“ dingfest gemacht werden. Schweizer hat damit m. E. eine „christologische Grundmetapher“ geprägt, welche fruchtbar ist, weil sie einerseits eine Brücke zu den begrifflichen „Kurzerzählungen“ der kerygmatischen Bekenntnisse schlägt, andererseits eine zu den ausführlichen Jesuserzählungen der Evangelien. Aber nicht nur seine Jesusbücher sind hier zu erwähnen, sondern auch seine Synoptikerkommentare. Die Jesusgeschichten der Synoptiker, welche im Unterschied zu den kerygmatischen Kurzaussagen in den Briefen die Geschichte Jesu nicht „auf den Punkt bringen“ oder beinahe auf ein blosses „Dass“ reduzieren, sondern ihre Vielfalt und ihren Reichtum stehen lassen und zunächst einfach einmal erzählen, sind für ihn entscheidende Texte. Schweizer sagt: „Dass mir die Auslegung der drei Synoptiker des NTD anvertraut wurde, ist ein Stück weit Zufall, kam aber meinem Suchen entgegen“.41 Sein zuerst geschriebener Markuskommentar42 ist für mich der eindrücklichste der drei: Der erzählerische Entwurf des Markus zielt auf Jesu Leiden und Sterben, seinen Kreuzestod. Aufgrund seiner Wunder allein kann Jesus nicht verstanden werden, weder von Aussenstehenden, noch von seinen Jüngern (vgl. Mk 3,6; 6,1–6; 6,52; 8,14–21). Petrus, der in der Mitte des Evangeliums Jesus als Christus bekennt, wird von Jesus auf sein Leiden und Sterben als Menschensohn gewiesen (Mk 8,27–33). Immer wieder lehrt Jesus im Folgenden seine Jünger, dass Nachfolge und Leiden zusammengehören, auch in ihrer eigenen Leidensnachfolge (8,34–38; 9,33–37; 10,32–45). Aber die Jünger lehnen das ab – nur Randgestalten, wie der blinde Bartimäus (Mk 10,46–52) folgen Jesus nach „auf dem Wege“ ins Leiden und zu seinem Tod. Im Gegenüber zu einer stark von Wunderfrömmigkeit geprägten Sicht Jesu erzählt Markus die ganze Jesusgeschichte, die in seinem Kreuzestod gipfelt. Einen ähnlich geschlossenen narrativen Entwurf sieht Schweizer im Matthäusevangelium nicht.43 Es ist wohl dasjenige Evangelium, das am stärksten an  Schweizer, Jesus, das Gleichnis (o. Anm. 27), 39 f.  Schweizer, Unterwegs (o. Anm. 2), 331. Ähnlich empfand er es bei Bultmann: „Dass Bultmann in seinem grossartigen Kommentar das Johannesevangelium auslegte, war die Konsequenz seiner Theologie“ (331). Ich (U. L.) würde allerdings auch sagen: Dass Bultmann in seinem grossartigen Kommentar übersah, dass auch das Johannesevangelium wie die Synoptiker zunächst eine Jesusgeschichte erzählt, war auch eine Konsequenz seiner Theologie. 42  Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 1967, 81998; englisch: The Good News according to Mark, London 1970; auch italienisch und japanisch. Eine knappe Zusammenfassung seiner Markusinterpretation bietet Schweizers Aufsatz: Die theologische Leistung des Markus, in: ders., Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments, Zürich 1970, 21–42. 43  Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 2, Göttingen 1973, 41986; englisch: The Good News according to Matthew, London 1976; auch italienisch und japanisch. 40 41

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der Lehre und an den Geboten des irdischen Jesus interessiert ist und so deutlich macht, dass es „kein Evangelium gibt, das sich von dem durch den irdischen Jesus verkündeten lösen könnte“.44 Zugleich aber ist sein Jesus viel mehr als ein Lehrer: Er ist die Verkörperung der Weisheit (Mt 11,19; 23,34). Er ist nicht nur ein Ausleger der Torah, sondern „in gewisser Weise das Gesetz selbst“.45 Er ist gegenwärtig in der Mission seiner Gemeinde (28,20) und wird auch sie als Menschensohn-Weltrichter unter sein Gericht stellen. Sehr wichtig ist, dass Schweizer über das Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie im ersten Evangelium differenziert nachgedacht hat: Die Gemeinde ist „das Volk, das Früchte bringt“. Israel, dem die Mission der Jesusboten bis zum Kommen des Menschensohns weiterhin gilt (10,23), wird dereinst nicht anders vor dem Gericht des Menschensohns stehen (19,28) als die Gemeinde und die ganze Welt.46 Vielleicht am deutlichsten werden die Grundgedanken Schweizers in seinem zuletzt geschriebenen Lukaskommentar.47 Schweizer geht davon aus, dass sowohl die lukanische Christologie als auch die lukanische Soteriologie in sich unklar, ja widersprüchlich sind. Die Geschichte, in der Gott handelt, ist Lukas wichtig, aber ein eindeutiges theologisches Konzept von Heilsgeschichte hat er nicht. Wichtiger als ein einliniges Konzept von Heilsgeschichte ist ihm, dass in der von Gottes Führung gelenkten Geschichte das Geschick Jesu vor‑ und nach-erfahren werden kann. Ersteres zeigt sich etwa in den alttestamentlichen Propheten und vor allem in Geburt und Tod Johannes des Täufers. Letzteres zeigt sich in der Apostelgeschichte, z. B. beim ersten Märtyrer Stephanus (Apg 7,55 f) und dann vor allem im Prozess und im Weg des Paulus nach Rom. Die Geschichte selbst ist also wichtiger als alle theologischen Konzepte. „An die Stelle christologischer oder soteriologischer Sätze tritt die Fülle des Verkündens und Wirkens Jesu“.48 Lukas ist also in erster Linie Erzähler. „Wer Jesus ist und was er für den Glauben bedeutet, das kann jedenfalls nur im gesamten Reichtum der Tradition gesagt werden“.49 Darum erzählt Lukas von Jesus, ohne ihn zu vereinheitlichen und zu erklären. Insofern verkörpert das Lukasevangelium Der Abschnitt über die Bergpredigt erschien auch als Sonderband: Eduard Schweizer, Die Bergpredigt, KVR 1481, Göttingen 1982 (Übersetzungen in diverse Sprachen). Ein gesondertes Bändchen mit wichtigen Aufsätzen zu Mt erschien unter dem Titel: Eduard Schweizer, Matthäus und seine Gemeinde, SBS 71, Stuttgart 1974 (auch italienisch). Der erste Aufsatz dieses Buches: Christus und Gemeinde im Matthäusevangelium (ebd. 9–68) fasst Schweizers Sicht der mt Theologie am besten zusammen. Ein wichtiger zusammenfassender Aufsatz ist auch: Gesetz und Enthusiasmus bei Matthäus, in: Schweizer, Beiträge (o. Anm. 42), 49–70. 44  Schweizer, Evangelium nach Matthäus (o. Anm. 43), 115. 45  Schweizer, Jesus Christus (TRE), o. Anm. 28, 701. 46  Schweizer, Matthäus und seine Gemeinde (o. Anm. 43), 31–42, Zitat 31. 47  Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 1982, 31993; englisch; The Good News according to Luke, London 1984, auch italienisch. Vgl. auch: Eduard Schweizer, Luke. A Challenge to Present Theology, Atlanta 1982; auch japanisch. 48  Schweizer, Jesus Christus (TRE), (o. Anm. 28), 703. 49  Schweizer, Evangelium nach Lukas (o. Anm. 47), 254.

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V. Biographische und autobiographische Studien

Schweizers eigenes Anliegen, dass die neutestamentlichen Jesuskerygmen einer Korrektur durch die Geschichte von Gottes Handeln in Jesus bedürfen, die ihnen vorgegeben ist, besonders deutlich. „Der erzählte irdische Jesus, von seiner Geburt bis zu seinen Begegnungen mit Jüngerinnen und Jüngern nach Ostern, ist eine ebenso notwendige Komponente des Glaubens wie das Kerygma, das die Gegenwart Gottes und seines Reichs in Jesus von Nazareth verkündet“.50 Seine „Theologische Einleitung in das Neue Testament“, sein letztes grosses Buch, welches die Fülle der theologischen Einsichten Eduard Schweizers zum Neuen Testament in einer manchmal leider fast zur theologischen Stenographie geronnenen Knappheit zusammenfasst, hat in dieser Erkenntnis ihr Zentrum: Jesustradition und Christusbekenntnis, Erzählung und Lehre sind nicht zwei ganz verschiedene Wege und Ausdrucksmöglichkeiten des Glaubens, sondern sie sind von Anfang an und durch das ganze Neue Testament hindurch aufeinander bezogen: „Einerseits ging man … von der Auferstehung und der durch sie erwiesenen einzigartigen Würde des Erhöhten aus … (und) fragte zurück nach seiner Lehre und seinem Verhalten … Andererseits war man an Lehre und Vorbild des Irdischen als Weisungen für konkrete Probleme interessiert, freilich so, dass seine Vollmacht überall vorausgesetzt, wenn nicht direkt ausgesprochen wurde“.51 Beides gehört zusammen: die Fülle der vorgegebenen Geschichte von Gottes Handeln und ihre bekenntnishafte oder lobpreisende Zuspitzung im Kerygma. Im Blick auf den Denkweg Eduard Schweizers heisst das: Auch der ganz an der Bedeutung von Jesus Christus „pro nobis“ interessierte Rudolf Bultmann und der ganz an Gottes jeder menschlichen Rezeption vorangehenden Geschichte von Gottes Handeln interessierte Karl Barth gehören zusammen. II. 2  Jesus Christus und die zeitgenössischen Erlösermythen Die Jahrzehnte von 1950 bis 1980 waren die Zeit der Dekonstruktion des vorchristlich-gnostischen Urmensch-Erlöser-Mythos, der jahrzehntelang grosse Teile der deutschen neutestamentlichen Wissenschaft beherrscht hatte. Hans Martin Schenke, Carsten Colpe, Martin Hengel und andere sind hier zu nennen. Eduard Schweizer gehört auch zu ihnen. Für ihn stellte sich das Problem nicht in erster Linie als religionswissenschaftliches: Gab es eine vorchristliche Gnosis mit einem im Grundtyp gemeinsamen Erlösermythos? Vielmehr stellte sich ihm die Frage eher als eine theologische: Lässt sich der lebendige Jesus Christus, von dem das Neue Testament in so vielfältiger Weise zeugt, von einem vorgegebenen Erlösermythos her deuten, in den – wie im Extremfall in der Gnosis – nur noch der Name Jesus Christus eingesetzt zu werden braucht? Mit anderen Worten: „Is it theologically possible to confine the discussion to the religious experiences of man, and only later to acknowledge that they are the result of an act of God? 50 51

 Schweizer, Theologische Einleitung (o. Anm. 21), 133.  Schweizer, Theologische Einleitung (o. Anm. 21), 51.

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Or is it necessary to think and speak first of God’s acts, before thinking and speaking of the human answer to them?“52 Es geht ihm also theologisch um die Frage, wie das Verhältnis von Gottes Handeln und menschlichem Existenzverständnis bestimmt werden muss. Ordnet sich ersteres in letzteres ein oder geht es letzterem voraus und sucht sich seine eigenen Weisen, wie von menschlicher Existenz geredet werden kann? Es geht hier für Schweizer also auch um eine theologische Frage an seinen Lehrer Bultmann. Diese theologische Frage ist für Schweizer gleichsam die „Brille“ oder die „Hermeneutik des Verdachts“, mit der er auf die historische Suche nach Alternativen zum gnostischen Erlösermythos geht. Schweizers Sicht der Gnosis hat sich im Lauf der Zeit gewandelt. Im ersten seiner grossen anthropologischen Artikel im „Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament“, dem Artikel πνεῦμα, steht der Abschnitt über die Gnosis noch vor dem neutestamentlichen Teil,53 in den späteren Artikeln über σάρξ, σῶμα und ψυχή54 nach ihm. Für Schweizers Sicht des Hintergrunds neutestamentlicher Christologien charakteristisch ist, dass der Vielfalt von christologischen Interpretationsansätzen, welche er im Neuen Testament entdeckt, eine Vielzahl von Motivparallelen und geistesgeschichtlichen Hintergründen entspricht. Die Gnosis tritt dabei ganz zurück – nur vielleicht hat es schon in neutestamentlicher Zeit prae‑ oder protognostisches Denken gegeben. In den Vordergrund treten biblische, frühjüdische und auch zeitgenössische hellenistische Denkpattern. Ich gebe einige Beispiele: Schweizer untersucht die sog. „Sendungsformeln“ (Gal 4,4 f; Röm 8,3 f; 1 Joh 4,9; Joh 3,16).55 Ihren Hintergrund sieht er in hellenistisch-jüdischen weisheitlich geprägten Aussagen über den Logos. In seinem ThWNT-Artikel υἱός hat er die sehr unterschiedlichen jüdischen Wurzeln des Gottessohntitels aufgezeigt – das neutestamentliche Verständnis der Gottessohnschaft Jesu gibt es nicht.56 Eine radikale Abkehr von einer „gnostischen“ Interpretation vollzieht Schweizer in seinen Untersuchungen zum Hintergrund der Vorstellung vom „Leib Christi“.57 Während für die Leib-Christi-Aussagen der echten Paulusbriefe direkt das Brotwort des Abendmahls und indirekt jüdische Vorstel Eduard Schweizer, En route (o. Anm. 2), 73.  Eduard Schweizer, Art. πνεῦμα, πνευματικός κτλ. D. E. F., ThWNT VI, Stuttgart 1959, 387–394 (Gnosis); 394–453. Schweizer hat diesen Artikel in einem – mehrfach übersetzten – allgemeinverständlichen Buch zusammengefasst: Eduard Schweizer, Heiliger Geist, ThTh Ergänzungsband, Stuttgart 1978; engl. The Holy Spirit, Philadelphia 1979; auch japanisch, ungarisch, 54  Eduard Schweizer, Art. σάρξ κτλ., ThWNT VII , Stuttgart 1964 (1960), 98– 104.108 f.118–151; ders., Art. σῶμα κτλ., ThWNT VII, Stuttgart 1964, 1024–1091; ders., Art. ψυχή D, ThWNT IX, Stuttgart 1973, 635–657. 55  Eduard Schweizer, Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der ‚Sendungsformel‘ Gal 4,4 f; Röm 8,3 f; Joh 3,16 f; 1 Joh 4,9 f; in: ders., Beiträge (o. Anm. 42), 83–96. 56 Eduard Schweizer, Art. υἱός, υἱοθεσία C., ThWNT VIII, Stuttgart 1969, 355–357.364– 395. 57  Eduard Schweizer, Die Kirchen als Leib Christi in den paulinischen Homologoumena, 52 53

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V. Biographische und autobiographische Studien

lungen von der „corporate personality“58 wichtig sind, stehen hinter der auf die ganze Kirche bezogenen Leib-Christi-Vorstellung des Kolosser-59 und Epheserbriefs neben den paulinischen Leib-Christi-Aussagen hellenistische, z. B. von Aristoteles geprägte Vorstellungen, welche den Kosmos als Leib sehen. Als Hintergrund für den Glauben der Kolosser an die Macht der Weltelemente sieht Schweizer empedokleisch geprägte neupythagoreische Lehren von den sublunaren Element-Mächten,60 als Hintergrund für die Versöhnungsaussagen der zweiten Strophe des Kolosserhymnus Aussagen von Philo über das jüdische Neujahrsfest, an dem der Friede zwischen den „Teilen des Alls“ gestiftet wird.61 Was für die neutestamentlichen Christuszeugnisse gilt, gilt also auch für ihren Hintergrund: Er ist vielfältig und vielfarbig. Die neutestamentlichen Christuszeugen suchen sich ihre eigene, keineswegs uniforme, Sprache für das, was sie bezeugen. II. 3  Die Wirklichkeit des Herrn Christus in der Kirche Eine dritte Frage, die für Eduard Schweizer grundlegend wichtig war, ist die nach der Kirche. Er hat zwei Fassungen seiner Ekklesiologie vorgelegt, eine frühe unter dem programmatischen Titel „Das Leben des Herrn in der Gemeinde und ihren Diensten“ (1946)62 und eine spätere unter dem neutraleren Titel „Gemeinde und Gemeindeordnung im Neuen Testament“ (1959).63 Wichtig war ihm ein Dreifaches: „Dass es der Herr ist, der da lebt, dass er in der Gemeinde lebt, nicht nur im Einzelnen, und dass er nur so leben kann, dass es zu Diensten kommt, die auch über die Gemeindegrenzen hinausreichen.“64 Schweizer wollte einerseits gegenüber der individualistischen Interpretation des Kerygmas durch Bultmann die ekklesiale Dimension des Glaubens an Christus betonen. Andererseits ging es ihm darum, die soziale Dimension des Glaubens herauszuarbeiten. in: ders., Neotestamentica, Zürich 1963, 272–292; ders., Die Kirche als Leib Christi in den paulinischen Antilegomena, ebd. 293–316; ders., Art. σῶμα κτλ (o. Anm. 54), 1064–1079. 58  Vor allem Adam als Repräsentant der ganzen Menschheit und der Stammvater Jakob. 59  In seinem Kolosserkommentar vertritt Schweizer eine indirekte paulinische Verfasser­ schaft des Kol: Der Brief ist im Auftrag des gefangenen Apostels durch einen Schüler (Timotheus?) geschrieben: Eduard Schweizer, Der Brief an die Kolosser, EKK XII, Zürich / ​ Neukirchen 1976, 21989, dort 20–27; englisch: The Letter to the Colossians, Minneapolis / ​ London 1982, auch japanisch. 60  Eduard Schweizer, Die Elemente der Welt, in: ders., Beiträge (o. Anm. 42), 147–164; ders., Brief an die Kolosser (o. Anm. 59), 102–104. 61  Eduard Schweizer, Versöhnung des Alls, in: ders., Neues Testament und Christologie im Werden, Göttingen 1982, 164–179; ders., Brief an die Kolosser (o. Anm. 59), 101 f. 62  Eduard Schweizer, Das Leben des Herrn in der Gemeinde und ihren Diensten, AThANT 8, Zürich 1946. 63 Eduard Schweizer, Gemeinde und Gemeindeordnung im Neuen Testament, AThANT 35, Zürich 1959; 21969; engl.: Church and Church Order in the New Testament, London 1961, auch italienisch und japanisch. 64  Schweizer, Unterwegs (o. Anm. 2), 325.

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Schweizer tat dies anders und früher als die Befreiungstheologen nach 1968. Ihm ging es aber vor allem um die soziale Dimension der Kirche. Im Unterschied zu Karl Barths ekklesiologischen Ansätzen blieb Schweizer zurückhaltend gegenüber allen Konstruktionen einer direkten Analogie zwischen Gottes Heilsordnung und der Ordnung der christlichen Gemeinde. Er betonte die Vielfalt, die sich im Neuen Testament auch hinsichtlich der Gestaltung von Gemeinde und Kirche zeigt: Gemeinde und Gemeindeordnung können und müssen sich entwickeln und verändern, aber zugleich ihre eigene Entwicklung auch heute im Gespräch mit dem Neuen Testament korrigieren. Vom Neuen Testament her gibt es aber auch klare Grenzen der Vielfalt: Sie sind nach Schweizer dort erreicht, „wo die Gemeinde ihre Besonderheit als“ ein eigenes Proprium ansieht, sei es als „die Kraft ihres Enthusiasmus, ihrer moralischen Leistung oder ihrer garantierenden Ordnung, sei es des von ihr gelehrten orthodoxen Bekenntnisses … oder der ihr eigenen Hierarchie“,65 und nicht in erster Linie als geschichtlich jeweils variable Konkretion des Lebens ihres Herrn. Als Fehlentwicklungen sieht Schweizer insbesondere die Entwicklung der Gemeinde zu einer elitären Gruppe von Gnostikern, in der die soziale Dimension der Kirche verloren geht, und diejenige zu einer Amtskirche, die ihre eigene rechtliche Struktur nicht mehr in Frage stellen und ändern kann. „Die Gemeinde wird also zwischen Rom und Sohm … ihren Weg suchen müssen“.66 Von diesem Ansatz her werden zwei weitere wesentliche Dimensionen von Schweizers Wirken verständlich: 1. Schweizer war Prediger, nicht nur als Pfarrer, sondern vor allem als Universitätsprofessor. Regelmässig, d. h. mindestens einmal im Monat, oft aber häufiger, stand er auf der Kanzel. Das Zürcher Fraumünster und das Münster Allerheiligen in Schaffhausen waren jeweils rammelvoll, wenn er predigte. Tausende von Menschen hat er so erreicht; Tausenden hat er geholfen. Seine Predigten waren sehr schlicht, in der Form klassische, dem Text entlanggehende Homilien, die den Text mit Erfahrungen der Hörer verbanden. Seine Sprache war träf, voller Bilder. Ich gebe ein Beispiel aus dem Anfang einer Predigt über Johannes 1: „Wir kennen eine Familie, in der der Mann manchmal Tage lang kein Wort sagt, stumm sein Abendessen isst und in seinem Zimmer verschwindet. … Wenn man miteinander leben muss und vom anderen kein einziges Wort kommt, … dann wird das Leben fürchterlich. Wenn Gott schwiege, wenn kein Gebet, kein Schreien und kein Danken zu ihm dränge, wenn der Himmel verschlossen wäre und all unser Rufen nur in die leere Luft hinausginge, dann wäre das Leben fürchterlich. Dann wären wir völlig einsam in der Kälte.“67

65 Schweizer,

Gemeinde (1959) (o. Anm. 63), 206.  Schweizer, Gemeinde (1959) (o. Anm. 63), 209. 67  Anfang einer Fraumünster-Predigt über Joh 1,1–18 vom 28. Juni 1992, ungedruckt. 66

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V. Biographische und autobiographische Studien

Nach diesen knappen Pinselstrichen wird unmittelbar klar, was es bedeutet, dass Gott von Anfang an „das Wort“ ist. Es ist sehr schade, dass nur wenige Predigten von Eduard Schweizer gedruckt sind!68 2. Die andere grosse Leistung, welche sich folgerichtig aus Schweizers ekklesiologischem Ansatz ergab, ist die Gründung des „Evangelisch-Katholischen Kommentars“. Diese grosse Kommentarreihe geht auf eine Idee Schweizers zurück: Er wurde 1967 vom Neukirchener Verlag gefragt, ob er Herausgeber eines „Biblischen Kommentars zum Neuen Testament“ werden wolle. Sein Gegenvorschlag war die Gründung eines ökumenischen Kommentars, und zwar eines Kommentars, welcher die unterschiedlichen konfessionellen Standorte und ihre unterschiedliche biblische Begründung wirklich berücksichtigt und nicht einfach ausblendet. Es ging also gerade nicht um einen „neutralen“ historischkritischen Kommentar. Dass die „Wirkungsgeschichte“ in diesem Kommentar eine wichtige Rolle spielen sollte, war nur konsequent, denn sie zeigt ja auf, auf welchem Weg evangelische resp. katholische Bibelinterpreten durch die Texte zu unterschiedlichen Interpretationen geführt wurden. Schweizers katholischer Partner im EKK wurde Rudolf Schnackenburg, mit dem ihn lebenslang eine enge Freundschaft verband. Im EKK waren sie σύζυγοι, d. h. ein Kommentatorenpaar, das an zwei eng verwandten Bibeltexten arbeitete. Schweizer schrieb den Kommentar zum Kolosserbrief,69 Schnackenburg denjenigen zum Epheserbrief. Der aufmerksame Leser von Schnackenburgs Kommentar wird in ihm eine Ausführung des evangelischen Partners Schweizer finden, in der er seine andere Sichtweise von Eph 4,11 – der Sache nach: der Ämterfrage – darlegt.70

III. Der Lehrer und Prediger Eduard Schweizer Eduard Schweizer war ein ganzer Mensch. Wissenschaft und persönlicher Glaube, Theologie und Leben, Text und Predigt, Universität und Gemeinde gehörten für ihn zusammen. Auch das hatte mit seinen Erfahrungen mit seinen Lehrern zu tun, nicht zuletzt mit Bultmann und Brunner, und bestimmte seine Lehrtätigkeit. Seine Vorlesungsstunden – in der Regel morgens von 8–9 Uhr – begannen mit einem kräftigen Kirchenlied. Das tat gut! Seine Vorlesungen waren streng wissenschaftlich, aber nie ohne Ausrichtung auf die Gemeindepraxis: 68  Veröffentlichte Predigten: Eduard Schweizer, Neues Testament und heutige Verkündigung, BSt 56, Neukirchen 1969 (Predigtmeditationen); ders., God’s Inescapable Nearness, ed. James W. Cox, Word Books, Waco 1971; ders., Gott versöhnt: Sechs Reden in Nairobi, Stuttgart 1971; ders., Gott will zu Worte kommen. Predigten, München 1978; ders., (Der draussen stehende Gott. Vorträge und Predigten. [japanisch]), Tokyo 1983. 69 Vgl. o. Anm. 59. 70  Rudolf Schnackenburg, Der Brief an die Epheser, EKK X, Zürich / N ​ eukirchen 1982, 195 f.

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Die konkreten Menschen aus der Gemeinde Nesslau waren ständig in seinem Denken und auch in seiner Vorlesung präsent. Eine für ihn wichtige Lehrform waren Übungen „Vom Text zur Predigt“ – oft verbunden mit einem Wochenende in einer Gemeinde, wo wir Studierenden dann Gottesdienst und Gemeindeabend mitgestalteten. Eduard Schweizer war ein „Meister des Gleichnisses“: Viele seiner Bilder, etwa der Vergleich des Versuchs einer historischen Sicherung des Glaubens an Jesu Auferstehung mit einem Menschen, der die Treue seiner Frau mithilfe eines Privatdetektivs beweisen will und eben dadurch aus der Liebe herausfällt, gingen mir mein ganzes Leben nach. Er scheute sich auch nicht, von persönlichen Glaubenserfahrungen zu sprechen. Für mich war das manchmal fast zu viel, sodass ich als Student seine Vorlesungen eher mied. Und trotzdem muss ich im Rückblick vor allem auf meine Assistentenzeit sagen: Dass Eduard Schweizer sich nicht geschämt hat, fromm zu sein und dass es ihm nie peinlich war, von Gott zu reden, gehört zu den ganz wichtigen Dingen, die ich von ihm gelernt habe. Kaum ein Student Schweizers wird nicht von seinen „Offenen Abenden“ erzählen. Eduard und Elisabeth Schweizer luden jeden Monat alle Studentinnen und Studenten, die wollten und konnten, an einem Mittwochabend nach Hause an den Pilgerweg ein. Zuerst wurde über ein theologisches Thema diskutiert, streng und trocken. Dann gab es Tee, Kaffee und Kuchen – und was für Kuchen! Am Schluss haben wir alle gemeinsam das Geschirr abgewaschen – die Abwaschmaschine war damals noch nicht erfunden. Die theologischen Diskussionen waren beim Geschirrabtrocknen manchmal am lebendigsten. Theologie mitten im Leben! Dazu ein Hauch von ganz ungeistlicher vita communis! Oder da sind die Erinnerungen unendlich vieler Zürcher Theologiestudenten an die Bergtouren, z. B. auf den Hausstock oder den Vorab im Glarnerland im Frühsommer. Für manche Studierende aus der norddeutschen Tiefebene waren es die ersten Begegnungen mit wirklichen Dreitausendern. Mit viel Mut und manchmal mit in einem Pfarrhaus im letzten Moment ausgeborgten Bergschuhen ging es los – und mit viel Gottvertrauen (und etwas Glück!) ging es immer gut. Die Berge ermöglichten sehr existenzielle Gespräche über alles, Gott und die Welt. Sie waren für die theologische Ausbildung wesentlich.

Ein Wort möchte ich zum engeren Schülerkreis Eduard Schweizers sagen, vor allem zu seinen Doktoranden. Er hatte nicht sehr viele – an der kleinen und für ausländische Studierende recht teuren Zürcher Fakultät waren Doktoranden rar. Überblickt man ihre Liste, so fällt auf, dass Eduard Schweizer keine Schule gebildet hat. Er wollte das nicht. Er hat nicht Schüler „nachgezogen“. Von den Doktorandinnen, welche er hatte, sind manche Professoren geworden, aber längstens nicht alle wurden Neutestamentler.71 Einer übernahm später eine 71  Lieselotte Mattern (Dissertation: Das Verständnis des Gerichtes bei Paulus, AThANT 47, Zürich 1966) war Professorin für Neues Testament und Theologie an Evangelischen Fachhochschule Reutlingen; Wiard Popkes (Dissertation: Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, AThANT 49, 1967) war Neutestamentler an den baptistischen Seminaren von Hamburg-Horn und Wustermark-Elstal; Ulrich Luz (Dissertation: Das Geschichtsverständnis des Paulus, BEvTh 49, München 1968)

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V. Biographische und autobiographische Studien

religionswissenschaftliche Professur,72 ein anderer eine praktisch-theologische73, ein dritter eine klassisch-philologische.74 Von den Dissertationsthemen, über die bei Eduard Schweizer geschrieben wurde, sind die Mehrzahl Themen von uns Doktorandinnen und Doktoranden gewesen, nicht Themen des „Chefs“. Ihm war das wichtigste, dass wir unsere Wege fanden und gehen konnten. Wenn ich heute Eduard Schweizers Bücher lese, so fällt mir auf, wie oft er schreibt: „Das habe ich von dem oder dem gelernt!“ Oft waren das auch wir, seine Doktoranden und Assistenten. Eduard Schweizer – interessiert, offen, neugierig und bescheiden – wollte von allen lernen, nicht nur von seinen Lehrern, sondern auch von seinen Schülern und von seinen Gemeindegliedern. Vielleicht macht gerade diese Lernbereitschaft den grossen Lehrer aus.

IV. Schweizers Bedeutung Diesen Abschnitt kann ich ganz kurz fassen: Ich halte Eduard Schweizer für einen der ganz grossen Kirchenlehrer der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich sage bewusst „Kirchenlehrer“, obwohl ich natürlich auch „Neutestamentler“ sagen könnte. Seine grösste Stärke lag wahrscheinlich nicht in seinen eigenen theologischen Entdeckungen und Entwürfen, obwohl manche von ihnen nicht gering zu achten sind,75 sondern in seinen Synthesen. Seine grösste Stärke lag in seiner Fähigkeit, auf die Entwürfe anderer  – derjenigen der neutestamentlichen Zeugen oder derjenigen seiner Lehrer oder der Vertreter verschiedener christlicher Konfessionen – zu hören, sie zu verstehen, das Gute in ihnen zu bejahen und sie zu integrieren – nicht in ein System, wohl aber in ein vielfarbiges und komplementäres Ganzes. Und seine Stärke bestand darin, dass er in alledem genau wusste und reflektierte, was er tat. war Neutestamentler an der Internationalen Christlichen Universitä Tokyo und an den Theologischen Fakultäten Göttingen und Bern; Hans Weder (Dissertation: Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, FRLANT 120, Göttingen 1978) war Neutestamentler und Rektor der Universität Zürich; Tashio Aono (Dissertation: Die Entwicklung des paulinischen Gerichtsgedankens bei den Apostolischen Vätern, EHS 23/137, Bern 1979) war Neutestamentler an der SeinanGakuin-Universität in Fukuoka (Japan). 72 Hans-Peter Hasenfratz (Dissertation: Die Rede von der Auferstehung Jesu Christi, Forum Theologiae Linguisticae 10, Bonn 1975) war Professor für Religionswissenschaft in Bochum. 73  Werner Kramer (Dissertation: Christos, Kyrios, Gottessohn. Untersuchung zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden, AThANT 44, Zürich 1963) war Professor für praktische Theologie in Zürich. 74  Tadashi Saito (Dissertation: Die Mosevorstellungen im Neuen Testament, Bern 1977) war Professor für Altertumswissenschaft an der Universität Hiroshima. 75 Schweizer sagt von sich selbst: „As it is typical for my work in general, I had no new and brilliant ideas“ (Schweizer, En route [Anm. 2], 65). Ein für die Bescheidenheit Schweizers charakteristisches Understatement!

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Lieber aber gebe ich zum Thema „Bedeutung Schweizers“ nochmals ihm selbst das Wort. Er schrieb in einem Dank-Gedicht zu seinem 90. Geburtstag: „In die Geschichte der Theologie kommt mein Name sicher nie in besonderer Belichtung als Gründer einer neuen Richtung oder einer Schule Haupt, die irgendwie besonders glaubt. Doch wenn ich einst nach langem Leben noch Rechenschaft dafür soll geben, wenn man mich fragt: woher? wohin? und wer ich denn im Grunde bin, dann kommt vielleicht ein Engelein, nicht imponierend, eher klein, und sagt nur schüchtern leise: ‚Der hat einmal auf seine Weise uns Deine Freude, Herr, gebracht und manchmal auch mit uns gelacht‘. Und Gott meint: ‚Wer noch lachen kann, stellt unterdess nichts Dümm‘res an’.“

Literatur über Eduard Schweizer Autobiographisches Eduard Schweizer, Unterwegs mit meinen Lehrern, EvTh 45 (1985), 322–337. Eduard Schweizer, En route with my Teachers, in: ders., Jesus Christ. The Man from Nazareth and the Exalted Lord, 1984 Sizemore Lectures in Biblical Studies, Macon 1987, 57–91.

Sekundärliteratur Werner Kramer, Eduard Schweizer (*1913). Vielfalt und Einheit neutestamentlicher Theologie, in: Stephan Leimgruber / ​Max Schoch (Hg.), Gegen die Gottvergessenheit. Schweizer Theologen im 19. und 20. Jahrhundert, Basel / F ​ reiburg / ​Wien 1990, 223–240. Carlo Palacio Larrauri, Historia y kerygma. El lugar teologico de la cuestión histórica de Jesûs segûn E. Schweizer, Diss. Univ. Pontificia Gregoriana, Roma 1976. Félix A.  Pastor Piñeiro, La eclesiología Juanea según E. Schweizer, AnGr 168, Roma 1968. Odilo P. Scherer, ‚O Justo Sofredor‘. Um estudo de cristologia fundamental, a partir da teoria de E. Schweizer, sobre o ‚caminho de Jesus e do discípulo‘, Diss. Univ. Pontificia Gregoriana, Roma 1991 (Teildruck).

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V. Biographische und autobiographische Studien

Bibliographie Eduard Schweizer Bibliographie, in: Ulrich Luz / ​Hans Weder (Hg.), Die Mitte des Neuen Testaments (FS E. Schweizer), Göttingen 1983, dort 427–437. Leider hat Schweizer selbst keine Liste seiner Veröffentlichungen hinterlassen und auch seine eigenen Veröffentlichungen nur unvollständig aufbewahrt. Deshalb gibt es für die Zeit nach 1982 keine vollständige Bibliographie. Im vorliegenden Aufsatz sind insbesondere die Angaben über Übersetzungen von Schweizers Büchern in andere Sprachen unvollständig.

28. Was aber hast du, das du nicht empfangen hast? (I) Sieben Danksagungen und ein paar Stossseufzer über die deutschsprachige neutestamentliche Wissenschaft Ich möchte den kleinen autobiographischen ersten Teil meines Artikels in die Form des Dankes kleiden. „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“, fragt Paulus (1 Kor 4,7). Meine eigene Antwort muss lauten: Nichts.

I. Sieben „Danksagungen“ Mein erster Dank gilt meinem Vater. Er war Historiker und Altphilologe, Lehrer an einem Gymnasium in Zürich. Ich habe schon früh die Welt meines Vaters miterlebt: die Welt Griechenlands, die Welt Roms, den kulturellen Reichtum Italiens, Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz. Sein Studierzimmer wurde auch meine Welt, und ich schmökerte in seinen Büchern herum, wenn er nicht zuhause war. Mit dreizehn Jahren fing ich an, eine griechische Kulturgeschichte zu schreiben … . Früh übt sich! Im Gymnasium habe ich mit Begeisterung Griechisch betrieben; wir haben dort mit unseren Lehrern an freien Abenden Aristophanes, griechische Mathematiker und Anderes gelesen, was nicht zum „Pensum“ gehörte. Das alles mag heute vielleicht unglaublich tönen. Das Wichtige für mich an all dem war, dass ich schon früh begriffen habe, dass wir nichts haben, was wir nicht unseren Vätern und Müttern, unserer Geschichte, also dem kulturellen Erbe, das uns geprägt hat, verdanken. Daraus beziehen wir unseren Erfahrungsschatz, unsere Fragen, unsere positiven und negativen Modelle und unsere Denkkategorien. Dafür, dass die Antike mich so stark geprägt hat, bin ich in einer Zeit, die das Fach Alte Geschichte aus ihren Gymnasiallehrplänen weithin verbannt und die dem Griechischen und dem Lateinischen ein Aschenputteldasein zugewiesen hat, besonders dankbar. Wir verdanken der Antike viel! Dass ich Neutestamentler geworden bin, hängt mit dieser ersten Grunderfahrung zusammen. Mein zweiter Dank gilt dem Pietismus. Genauer gesagt: der kirchlichen Jugendarbeit in Männedorf am Zürichsee. Ich komme aus einem unkirchlichen, oder besser: durchschnittlich volkskirchlichen Elternhaus, und interessierte mich für

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den christlichen Glauben als eine der kulturellen Grundlagen unseres Lebens. Durch die Erfahrungen in der Jugendarbeit habe ich begriffen, dass christlicher Glaube immer mit Entscheidung, Verbindlichkeit, Engagement, Gemeinschaft und Praxis zu tun hat. Christlicher Glaube ist ein Wagnis, ein Sprung ins Wasser. Ich habe mich mit 17 Jahren sogar einmal zum Herrn Jesus Christus „bekehrt“ und begriff erst später, dass eine solche Bekehrung auch viel mit Selbstfindung, Selbstverwirklichung und eigenem Ego zu tun hat. Trotzdem bin ich dankbar dafür, dass es so gelaufen ist. Ich verdanke dem Pietismus den Entscheid zum Theologiestudium. Ich wollte Pfarrer werden. Und ich wusste auch, was ich im Pfarramt tun wollte: das Evangelium verkünden, nur das. Mein dritter Dank gilt meinen Lehrern an der Universität, insbesondere Hans Conzelmann1, Gerhard Ebeling und Eduard Schweizer. Die Luft der Theologie Bultmanns erlaubte es mir, mein pietistisch geprägtes Verständnis des christlichen Glaubens zu vertiefen und so etwas wie ein intellektuell redlicher Pietist zu werden. Sie erlaubt mir zugleich, den eigenen, persönlichen Anteil im christlichen Glauben zu reflektieren, also das Kerygma als menschliche Theologie. Vor allem Hans Conzelmann machte es mir möglich, mein „klassisches“ und mein „pietistisches“ Gepäck zusammenzuschnüren. Durch ihn wurde das Neue Testament mein Lieblingsfach, bzw., wie ich damals sagte, „das wichtigste Fach“. Mein Verständnis von Kontextualität hat sich später sehr erweitert; aber die Einsicht, dass christlicher Glaube und das Verstehen der Bibel immer kontextuell und menschlich sind, verdanke ich Hans Conzelmann und Gerhard Ebeling. Durch sie lernte ich, dass christlicher Glaube immer nur das Gegenteil von menschlicher Selbstverabsolutierung sein kann, wenn er denn wirklich Ausdruck erfahrener Gnade ist. Erst später ist dann Eduard Schweizer zu meinem Lehrer geworden. Er hat mich, seinen von Bultmann angefressenen Doktoranden und Assistenten, an unendlich langer Leine springen lassen, mich unentwegt mit kritischen Fragen begleitet und mir deutlich gemacht, dass Gott als Realität zwar von menschlicher Kontextualität und Subjektivität nicht lösbar ist, ihr aber vor‑ und übergeordnet bleibt. Mein vierter Dank gilt der 68er-Bewegung. Ich war damals Pfarrverweser2 in Zürich-Seebach, predigte, verteilte Flugblätter, bewegte und war bewegt, auf Strassen, in Redaktionen, zwischen Kirche und Volkshaus. Ich bekam Mut und ermutigte andere, stellte Fragen und begriff endgültig, dass der Kontext 1  [Zusatzanmerkung: Zum Leben und Werk von Hans Conzelmann vgl. den schönen Aufsatz von Andreas Lindemann, Schriftauslegung im Spannungsfeld zwischen Bildung und Religion. Theologie als Schriftauslegung. Zum Werk von Hans Conzelmann (1915–1989), erscheint in: Florian Wilk (Hg.), Scriptural Interpretation at the Interface between Education and Religion, Leiden etc. 2018. 2  „Verweser“ = Helvetismus für „Vertreter“.

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des Evangeliums nicht nur ein existenzieller, sondern ebenso sehr ein sozialer und politischer ist. Ich war darauf nicht unvorbereitet. Mit grosser Dankbarkeit denke ich an die vielen Gespräche mit dem marxistischen Philosophen Konrad Farner3 im Obergeschoss des Antiquariats Pinkus in der Zürcher Altstadt seit 1956. Mit grosser Dankbarkeit denke ich auch an mehrere sich manchmal an der Grenze der Legalität bewegende Reisen in die damalige DDR und die damalige CSSR. Ich habe dort nicht nur manche Scheusslichkeiten des realen Sozialismus durchschauen gelernt, sondern auch Positives, z. B. über die Freiheit. Freiheit ist ja nicht nur die Freiheit, zu sagen, was man denkt, und zu kaufen und zu verkaufen, was und wieviel man will, sondern z. B. auch die Freiheit für einen einfachen Hilfsarbeiter oder Bauern, drei Wochen in die Ferien zu fahren. Mein fünfter Dank gilt nochmals meinen Zürcher Lehrern, diesmal vor allem Eduard Schweizer. Er sagte, nachdem er meine Dissertation über das Geschichtsverständnis des Paulus gelesen hatte: „Das ist doch viel zu lang für eine Dissertation! Das schneiden wir entzwei, und der Schlussteil über die Eschatologie des Paulus soll deine Habilitationsschrift sein!“ Als ich energisch protestierte, meinte er: „So, wie ich dich kenne, wirst du auch nach der Habilitation noch etwas arbeiten!“ – und damit hatte er ja wohl Recht. Die Fakultät war damit einverstanden, und so wurde ich im November 1967 promoviert und im Februar 1968  – kurz vor meinem dreissigsten Geburtstag  – habilitiert. Ich will aus dieser biographischen Erfahrung gewiss kein Plädoyer für die Abschaffung der Habilitation machen.4 Aber sie hat mir die Möglichkeit gegeben, als junger Mensch eigene Verantwortung zu übernehmen. Ziemlich direkt ist diese Entscheidung der Fakultät auch daran schuld, dass ich Professor geworden bin und nicht Pfarrer. Ich wollte zwar immer noch Pfarrer werden. Da ich aber nun einmal habilitiert war, fand ich, ich könne ja das akademische Lehramt einmal ausprobieren, sofern mich jemand haben wolle. So bin ich – für mich gleichsam auf Probe – Professor geworden. Und vor allem gab mir diese Entscheidung der Zürcher Fakultät die Möglichkeit, nach Japan zu gehen. Mein sechster Dank gilt Japan. Meine Frau und ich lebten zwei volle Jahre in diesem Land, nämlich von Januar 1970 bis Dezember 1971. Ich lehrte dort in der Zeit der Nachwehen der Studentenunruhen Neues Testament und „Einführung ins Christentum“ für nicht-christliche Studierende an der Internationalen Christlichen Universität und an der Aoyama Gakuin Universität in 3  [Zusatzanmerkung: Farner war ein bedeutender Kunsthistoriker und Philosoph, der bei Karl Barth über den Eigentumsbegriff bei Thomas von Aquino promoviert hatte. Er gehörte dem Zentralkomittee der schweizerischen „Partei der Arbeit“ (= Kommunistische Partei) an]. 4 In Göttingen hat es, wie ich einmal hörte, etwa zur Zeit des Ersten Weltkriegs die Möglicheit eines „grossen Doktors“ gegeben: Die Fakultät konnte aufgrund von summa cum-laude-Dissertationen die venia legendi verleihen. Ein erinnerungswürdiges Modell!

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Tokyo. Im Buddhismus entdeckte ich die Möglichkeit nicht-objektivierender Sprache. Im Gespräch mit Buddhisten entdeckte ich tiefe Konvergenzen in Glaubenserfahrungen, die bestehen, auch wenn man daraus keine „Religion über den Religionen“ konstruieren kann. Mir wurde deutlich, wie künstlich ererbte konfessionelle Identitäten sein können, zumal in einem Land, in das sie nicht nur aus anderen Epochen, sondern aus einem ganz anderen Kulturkreis importiert wurden. Ich lernte, dass sich das Christentum als menschliche Religion mit allen ihren menschlichen Dimensionen und Ambivalenzen verstehen muss; anders kann es weder sich selbst voll verstehen noch andere Religionen ernst nehmen. Diese Grundeinsicht war für mich eine natürliche Ausweitung des Bultmannschen Grundsatzes der paradoxen Identität von Kerygma und (menschlicher) Theologie. Daraus ergab sich die Konsequenz, dass jede christliche Theologie auch religionswissenschaftlich reflektiert werden muss, wenn sie nicht zu einer isolierten „Insel der Seligen“ im Meer des Menschlichen degenerieren will. Mein siebter und in diesem Kontext letzter Dank gilt den ersten Herausgebern des Evangelisch-Katholischen Kommentars, Eduard Schweizer und Rudolf Schnackenburg. Sie haben mir schon sehr früh, nämlich bereits im Frühling 1970, die Kommentierung des Matthäusevangeliums anvertraut, noch bevor sie überhaupt wissen konnten, ob jemals etwas aus mir werden würde. Ich hatte damals mein Interesse am Matthäusevangelium angemeldet, weil es mir wirkungsgeschichtlich, besonders im Blick auf das interkonfessionelle Gespräch, das der EKK anstossen sollte, das interessanteste Buch der Bibel zu sein schien. Mich faszinierte die Wirkungsgeschichte. „Wirkungsgeschichte“ bedeutet: Das Neue Testament in einem interdisziplinären Kontext lesen und auslegen. „Wirkungsgeschichte“ bedeutet sodann: Transzendierung des Damaligen, des historischen Ursprungssinns, ohne aus der tragenden Wirklichkeit der Geschichte herauszuspringen, z. B. in geschichtslose und abstrakte Strukturen und Textwelten. „Wirkungsgeschichte“ bedeutete auch: Das Neue Testament dankbar im Lichte dessen zu lesen, was wir durch die Geschichte hindurch durch seine Texte geworden sind. „Wirkungsgeschichte“ heisst auch: Das Neue Testament kritisch und selbstkritisch durch die Augen derer zu lesen, die es im Lauf der Geschichte anders gelesen haben als wir und die durch das Neue Testament etwas Anderes geworden sind als wir. Wirkungsgeschichte bedeutet: Das Neue Testament heute zu lesen und sich durch den Spiegel der Geschichte bewusst zu machen, was „heute“ heissen könnte. Wirkungsgeschichte bedeutet also Weite: Zeitliche Weite, geographische Weite, konfessionelle Weite, interdisziplinäre Weite. Sie implizierte auch einen Zwang zum Dilettieren in vielen Gebieten und Disziplinen, für die ich selbst nicht Fachmann war und auch heute nicht bin. Das alles ahnte und hoffte ich damals, als ich die Anfrage der EKK-Herausgeber annahm.

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Das sind meine sieben Danksagungen für das, was mich zu Beginn meiner akademischen Arbeit vor allem prägte. Es ist der Dank für die Offenheit, die ich gewinnen durfte, ohne meinen eigenen Standort aufzugeben.

II. Sechs Stossseufzer und Wünsche Ich formuliere im Folgenden sechs teils wissenschaftstheoretische, teils wissenschaftspraktische Feststellungen und Anliegen in der zufälligen Reihenfolge, wie sie mir in den Sinn kamen. Meine erste Feststellung gilt dem Verhältnis von Primärtext und Sekundärtext in unserer Disziplin. Ich kenne keine andere textwissenschaftliche Disziplin, in der es so extrem ist wie in unserer: Mit einem dünnen Büchlein von etwa 680 Nestle-Seiten und einigen tausend Seiten von Texten, welche zur unmittelbaren Umwelt des Neuen Testaments gehören, befassen sich unzählige Scharen von neutestmentlichen Professoren,5 Dozenten und Doktoranden, die eine unübersehbare Zahl von Büchern und Aufsätzen produzieren. Das Verhältnis der produzierten Sekundärliteratur zum neutestamentlichen Primärtext ist grotesk. Ich rechnete einmal aus, dass auf eine einzige Nestle-Zeile des Matthäusevangeliums oder von Q zwischen 1950 und 1995 über fünf Monographien oder Aufsätze kamen.6 Wer soll und wer kann und wer will das alles lesen? Dabei ist die Tendenz der Literaturproduktion nach wie vor steigend. Der Wissenschafts‑ und Qualifikationsbetrieb zwingt zu „Leistungsnachweisen“. Von „Leistungsnachweisen“ hängt immer mehr die Finanzierung von Lehre und Forschung ab. Wirklich sachgemässe Kriterien für eine qualitative Evaluation von Publikationen gibt es in unserer computerisierten Welt nicht; also kommt es vor allem auf die Quantität und auf andere äussere Kriterien an. In den meisten anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt sich die Sekundärliteratur mit Texten aus vielen Jahrhunderten. Wer sich mit einem Spezialgebiet beschäftigt, braucht nicht die ganze Sekundärliteratur seines Faches zu kennen. Aber das Neue Testament umfasst einen so kleinen Bereich, dass man die darüber geschriebene Spezialliteratur als Spezialist eigentlich gelesen haben sollte. Aber das geht einfach nicht mehr. Niemand kann alles rezipieren, und niemand tut das. Unsere Disziplin bietet das Bild Papier gewordener Kommunikations-Unmöglichkeit. Gibt es zu viele Neutestamentler? Ich gestehe, dass ich angesichts der Überfülle unserer Papierproduktion solche Gedanken schon insgeheim hatte. Die 5 Ich wähle die maskulinen Formen, weil Frauen in unserer Disziplin nach wie vor zu spärlich vertreten sind. 6  Ulrich Luz, Rezension von F. Neirynck / ​J. Verheyden / ​R. Corstjens, The Gospel of Matthew and the Sayings Source Q. A Cumulative Bibliography I. II; in: ThLZ 125 (2000), 290.

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„Studiorum Novi Testamenti Societas“, wie sie vor fünfzig Jahren war, mit vielleicht dreihundert Mitgliedern, von denen sich maximal ein Drittel zu den Jahreskongressen traf, ermöglichte globale Kommunikation. Heute sind Massenveranstaltungen à la SBL und verschiedenartige kommunikative Subsysteme an ihre Stelle getreten. Gibt es also zu viele Neutestamentler? In mancher Hinsicht gewiss; aber nicht, wenn man sich an der Bedeutung des Neuen Testaments für Kirchen und Gesellschaft orientiert. Was also soll man tun? Was ich vorschlage, sind nur „kleine Hilfen“ – aber immerhin. Ich denke, dass eine Umfangbegrenzung für Dissertationen und Habilitationsschriften, wie sie in angelsächsischen Ländern längstens üblich ist, auch bei uns überall Vorschrift werden sollte. Zweihundertfünfzig Seiten sind genug! „Verschlanken“ von Büchern heisst: Nicht in jedem Buch muss die ganze Forschungsgeschichte nochmals dargestellt werden. Nicht jede und jeder, die oder der auch noch etwas zu etwas geschrieben haben, muss in den Anmerkungen erwähnt werden.7 Fünfzigseitige Literaturverzeichnisse sind kein Qualitätsmerkmal von Dissertationen! Da Doktorandinnen und Doktoranden durch hergebrachte Perfektionsstandards oft verunsichert sind und sich davon selbst gar nicht befreien können, sollten „Doktormütter“ oder „Doktorväter“ hier Erziehungsarbeit leisten. – Wünschenswert wäre ferner eine Internetdatenbank, in die alle laufenden Dissertations‑ und Forschungsprojekte notiert und in der jeder Verfasser eines Buches vor oder spätestens bei seinem Erscheinen eine Selbstanzeige seines Werkes im Umfang von 2–3 Druckseiten platzieren könnte. – Dass alle Artikel in Fachzeitschriften Summaries haben sollten und dass diese Summaries im Internet in einer umfassenden neutestamentlichen Zeitschriftendatenbank zugänglich sein sollten, ist ein anderer Wunsch. Es genügt nicht, eine einzelne Zeitschrift ins Internet zu stellen, wo sie womöglich nur für die Abonnenten zugänglich ist. Es sollten also nicht erst nachträglich Rezensionen oder „abstracts“ gemacht werden. Das verzögert die Kommunikation. Meine zweite Feststellung betrifft die Kommentarreihen. Ich schneide mir hier gleich mehrfach in eigene Fleisch, wenn ich frage: Brauchen wir im deutschen Sprachgebiet so viele Kommentarreihen? Darum sage ich zuerst: Der Kommentar ist eine notwendige und unentbehrliche Gattung. Er symbolisiert die Zuordnung zum Bibeltext und die Unterordnung der neutestamentlichen Wissenschaft unter den Text. Kommentare sind [oder waren?] für Pfarrerinnen und Pfarrer, Religionslehrerinnen, Religionslehrer und Priester unvertretbar wichtig. Kommentarreihen waren in der Zeit der Theologenschwemme auch ein Geschäft und eine Visitenkarte für Verlage. Aber wir haben jetzt zu viele 7 [Zusätzliche Anmerkung: Wenn die Zahl der Anmerkungen in Büchern und Aufsätzen anderer, zu denen es eine wissenschaftliche Arbeit bringt, ein Qualitätsmerkmal ist, welche für ihre positive oder nicht positive Evaluation wichtig ist, dann heisst das m. E. nur, dass ein mehr als merkwürdiges Publikationssystem für seine eigene Fortpflanzung sorgt!]

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Kommentarreihen, die sich zu wenig voneinander unterscheiden. In England – bei etwa gleich grossem Markt – gibt es nicht annähernd so viele. In Frankreich gibt es – bedauerlicherweise! – fast gar keine. Die Wissenschaftlerbiographie deutschsprachiger Neutestamentler verläuft sehr häufig so, dass sie oder er früher oder später für irgend einen Kommentar verpflichtet werden, an dem sie dann jahrelang sitzen, und und entsprechend für andere, innovativere Aufgaben kein Potential mehr haben. Die Herausgeber von Kommentarreihen sind ständig auf der Suche nach guten Bearbeiterinnen und Bearbeitern, und die künftigen Kommentarschreiber / s​ ind geehrt, dass sie auch dabei sein dürfen. Ich weiss, dass ich als Mitherausgeber des EKK Steine aus dem Glashaus werfe. Ich möchte darum nochmals betonen, dass für mich selber der Kommentar eine sehr gute Gattung war, weil sie mich dazu nötigte, den Bibeltext in den Vordergrund zu stellen und die eigenen Ideen gegenüber dem Text nachzuordnen. Dass der EKK mit seinem Konzept der Wirkungsgeschichte mich ganz besonders herausforderte und weiter brachte, ergibt sich auch aus der Dicke meiner Kommentarbände … . Aber muss für alle gelten, was für mich richtig war? Der Kommentar als Gattung ist wenig innovativ und neigt dazu, Forschung zu resumieren und bereits Gesagtes zu wiederholen und zusammenzufassen. Die Pflichtlektüre der vielen (vor allem deutsch‑ und englischsprachigen!) Matthäuskommentarre aus dem 20. Jahrhundert, die ich für meine eigene Kommentararbeit zu leisten hatte, war ein mühseliges Geschäft. Ich war aus inhaltlichen und hermeneutischen Gründen immer froh, wenn ich zu Origenes, zu Thomas von Aquin oder zu Luther zurückkehren konnte. Ich denke, dass der Geruch einer gewissen Langweiligkeit oder gar Scholastik, welcher der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft vor allem in den Augen der Amerikaner anhaftet, auch mit der Dominanz des Kommentars zusammenhängt. Aber was sollen wir denn tun, wenn nicht Kommentare schreiben? Ich möchte – nicht erschöpfend – zwei Dinge nennen. Das Erste sind Bücher für an der Bibel interessierte Nichttheolog/innen. Dazu gehören Einführungen, und wirklich (!) verständliche Kommentare. Informative Kommentare, die man z. B. Lehrerinnen und Lehrern in die Hand drücken könnte, gibt es kaum. Der „Stuttgarter Kleine Kommentar“ ist zu klein; das „Neue Testament Deutsch“, die „Zürcher Bibelkommentare“ (die beide ursprünglich einmal für solche Leser gedacht waren) und die „Neue Echter Bibel“ sind für Nicht-Theologen nicht mehr verständlich.  – Auch gute, lesbare, für Nicht-Theologen verständliche Informationsbücher, z. B. über Jesus, über das frühe Judentum, über die neutestamentliche Zeitgeschichte oder über die Apokryphen gibt es zu wenige.8 Das zweite, was ich für dringend halte, sind interdisziplinäre Projekte. Es gibt zu wenige Neutestamentlerinnenn und Neutestamentler, welche in inter8  Ich nenne das Reclambändchen von Jürgen Roloff, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995 als gelungenes Beispiel für das Genre, das ich meine.

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disziplinären Projekten mit nichttheologischen Fragestellungen, z. B. zur Aggressionsforschung, Ritualforschung, zur Genderforschung, zu Sprachtheorien oder zur Friedensforschung etc. mitarbeiten und mitmischen. Sogar die Vernetzung der neutestamentlichen Wissenschaft mit ausgesprochenen Nachbardisziplinen, z. B. mit den klassischen Altertumswissenschaften, der Archäologie, der Epigraphik und der Judaistik ist im Ganzen viel zu schwach. Zu wenige von uns kennen sich hier aus; zu wenige blicken für die Grenzen; zu wenige sind den andern so bekannt, dass sie um Mitarbeit gebeten werden. Auch das hat wieder mit der Gattung des Kommentars zu tun, denn der Kommentar ist eine meist binnentheologisch und binnenexegetisch orientierte Literaturgattung. In gewisser Weise ist die Gattung Kommentar wissenschaftssoziologisch auch ein Symptom für die relative Isoliertheit der Theologie im Konzert der Wissenschaften.9 Meine dritte Feststellung betrifft die gesamttheologische Orientierung der neutestamentlichen Wissenschaft. Ich höre immer wieder, dass Kollegen und Kolleginnen aus systematischen und praktisch-theologischen Disziplinen die meisten Bücher, welche wir schreiben, ziemlich uninteressant fänden. Wenn ich sie dann traurig anblicke, pflegen sie zu sagen: „Ja, Dein Matthäuskommentar ist natürlich eine Ausnahme!“ Ich weise sie dann darauf hin, dass mein Matthäuskommentar das, was sie wohl uninteressant fänden, mindestens auch enthalte. Warum dieses Desinteresse? Allzu oft kommen die Fragen, welche andere Disziplinen beschäftigen, bei uns gar nicht vor. Ich nehme als erstes Beispiel die Sinnproduktion: Praktische Theologen fragen nach den Veränderungen, die in der Auslegung mit biblischen Texten geschehen müssen, wenn sie heute rezipiert werden wollen, und nach den Bedingungskonstituenten für solche Veränderungen. Exegeten scheinen dagegen Fragen, welche über die Sinnreproduktion hinausgehen und die Produktion von neuem Sinn betreffen, im Grossen und Ganzen wenig zu interessieren. – Ich nehme als zweites Beispiel die Realismusdebatte: Systematische Theologen diskutieren über die Möglichkeiten oder die Unmöglichkeit, von einer gegenüber der Sprache externen Wirklichkeit zu reden. Das ist bei „Gott“, der mehr ist als seine menschlichen Versprachlichungen und als menschliche Konstruktionen, besonders schwierig. Ich kenne kaum exegetische Literatur, die solche Fragen direkt thematisiert und sie mit dem biblischen Befund konfrontiert. In exegetischen Büchern wird z. B. immer wieder über den „Bundesgott“ gesprochen, der für Israel oder die christliche Kirche nur in einer Relation zu ihm wahr und wirklich wird. Als ob der Bundesgott mit der Realismusdebatte nicht sehr viel zu tun hätte! Aber die alt‑ und neutestamentlichen Debatten über den Bundesgott sind fast ausschliesslich von einer binnenexegetischen Agenda bestimmt. Dasselbe gilt auch 9  [Zusatzanmerkung: Ich stelle dankbar fest, dass sich hier in den letzten 15 Jahren sehr viel zum Guten verändert hat].

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für die systematisch-theologische Realismusdebatte. So laufen exegetische, systematisch-theologische und praktisch-theologische Diskurse zu einem grossen Teil beziehungslos nebeneinander her. Ich wünsche mir eine betontere Ausrichtung unserer Disziplin suf Diskurse anderer theologischer Disziplinen, vor allem diejenigen der Systematischen Theologie und der Praktischen Theologie. Für mich bedeutet das, dass unsere Disziplin viel stärker hermeneutisch ausgerichtet sein muss. Dabei ist mir schon bewusst, dass viele Anstrengungen in dieser Richtung bereits unternommen wurden, z. B. in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie. Und es gibt auch manche weiterführende Bücher in diese Richtung, welche ich mit Dankbarkeit un Gewinn gelesen habe.10 Die vierte Feststellung: Der Weg von der Exegese zur Bibellektüre in den Gemeinden ist fast ausschliesslich eine Einbahnstrasse. Zwar bereiten sich Pfarrer und Priester auf ihre Predigten, Gemeindeseminare, Bibelarbeiten etc. mithilfe exegetischer Reminiszenzen aus dem Studium und manchmal auch mithilfe von Kommentaren vor. Aber in umgekehrter Richtung ist das Interesse ausgesprochen gering. Finden überlastete Exegeten den Weg in die Gemeinden, dann fast ausschliesslich als Referenten und Sachverständige, bei Gelegenheiten also, wo sie vor allem sich selber zu hören bekommen. Das Umgekehrte aber wäre für uns interessanter! Gemeinden sind ja hermeneutische Labors: Die „wilden Exegesen“ bzw. Applikationen von Bibeltexten, welche in Bibelarbeiten ausgesprochen, in Bibliodramen gespielt, oder in Zeichnungen und auf Bildern gemalt werden, bieten hermeneutische Beobachtungsfelder von grosser Bedeutung. Hier können die „Interaktionen“ zwischen Text und Ausleger/innen, die Umsetzung der Texte in neuen Lebenssituationen und ihre Auslegung in anderen Interpretationsmedien life beobachtet werden. In anderen Kulturen, inbesondere in Afrika und Südamerika, ist die Bedeutung des „ordinary reader“ der Bibel längst entdeckt worden.11 In deutschen Landen dagegen hat es schon der „readers respone“ schwer. Dabei bleiben die meisten Vertreter des „readers response“ im geschlossenen Raum der Textwelt stehen und beschäftigen sich mit impliziten, informierten, idealen Lesern etc., welche nichts Anderes als vom Exegeten erhobene textimmanente Strategien sind, und gerade nicht mit wirklichen Lesern aus Fleisch und Blut. Der „readers response“ bleibt so in der Textwelt stecken und die Exegeten, die sich seiner Methoden bedienen, im Elfenbeinturm der univer10  Als Beispiel nenne ich das wichtige Buch von Christof Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, WUNT 113, Tübingen 1999. 11  Ich verweise hier exemplarisch auf Gerald O. West, The Academy of the Poor. Towards a Dialogical Reading of the Bible, Interventions 2, Sheffield 1999 und die hinter diesem Buch stehende Arbeit des „Institute for the Study of the Bible“ in Pietermaritzburg. Auch wenn mir in seinem hermeneutischen Ansatz der „ordinary reader“ ein bisschen gar zu allein-bestimmend zu werden scheint – sein Buch ist ein spannender hermeneutischer Versuch.

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sitären Akademie. Ein Überstieg von textimmanenten zu zu wirklichen Leserinnen und Lesern durch uns europäische Exegeten ist selten erfolgt – und wenn schon, dann waren es meistens vergangene Leserinnen und Leser, mit denen sich Rezeptions‑ und Wirkungsgeschichtler beschäftigt haben, oder die hypothetischen historischen Erstleser.12 Etwas überpointiert gesagt: Bei manchen leserorientierten Exegesen und anderen streng an textinternen Phänomenen orientierten Lesungen biblischer Texte nach dem „linguistic turn“ werde ich den Eindruck nicht los, die einzige textexterne Realität, die übrig bleibe, seien die Exegeten, welche die in ihren Büchern gebotenen Sprachspiele zugleich inszenieren und beschreiben. Ich wünsche mir also Exegetinnen und Exegeten, welche sich für die Bibel­ lektüren des „ordinary reader“ in den und ausserhalb der Gemeinden interessieren, und dies nicht, weil sie dankbare und interessierte Rezipienten der Früchte exegetischer Arbeit sein könnten, sondern weil sie uns einiges lehren können. Eine fünfte Feststellung: Nicht nur Vertreter anderer theologischer Diszi­ plinen, sondern vor allem auch Vertreter von nichttheologischen Disziplinen nehmen unsere Arbeit im Grossen und Ganzen wenig wahr. Neutestamentliche Wissenschaft ist in einem hohen Masse in ein wissenschaftliches Ghetto geraten. Das hängt mit der Marginalisierung der Theologie im Ganzen zusammen, deren komplexe Gründe ich hier nicht erörtern kann. Was ist zu tun? Die natürliche Partnerdisziplin der Theologie im Allge­ mei­nen und der neutestamentlichen Wissenschaft im Besonderen ist die Religionswissenschaft. Unsere Methoden sind weitgehend identisch. Religionswissenschaftler und Neutestamentler benutzen textwissenschaftliche, histo­ri­ sche, archäologische, psychologische, ethnographische und komparatistische Methoden. Beide Disziplinen sind aufeinander angewiesen: Die neutestamentliche Wissenschaft braucht die Religionswissenschaft, um das Urchristentum in seiner vollen Breite und in der ganzen Fülle seiner Lebensäusserungen als Religion wahrzunehmen, bzw. um eine auf blosse Rekonstruktion ihrer Lehrgehalte enggeführte Interpretation der biblischen Texte zu vermeiden. Das war immer eine Gefahr der neutestamentlichen Theologie, die gerne als „Königin“ der neutestamentlichen Wissenschaft verstanden wurde. Zugleich hat die Religionswissenschaft gegenüber der Theologie die Funktion einer übergeordneten Integrationsdisziplin, weil sie sich mit allen Religionen und mit Religion überhaupt beschäftigt, während das Christentum nur eine von ihnen ist. – Umgekehrt kann für Religionswissenschaft das Gespräch mit der Theologie und auch 12  So in dem hilfreichen Buch von Moisés Mayordomo-Marín, Den Anfang Hören, FRLANT 180, 1997. Seine hypothetischen Erstleserinnen und Erstleser, welche er aufgrund der in den Terxten vorausgesetzten „Enzyklopädie“ rekonstruiert, bleiben naturgemäss blass: Sie sind nichts Anderes als die Summe aller damals im Umfeld der matthäischen Gemeinden denkbaren Lesemöglichkeiten.

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mit der neutestamentlichen Wissenschaft als einer ihrer Teildisziplinen wichtig sein: Eine Religionswissenschaft, die Religion nicht auf ihre verschiedenen kulturellen Funktionen reduzieren, sondern sie in all diesen Funktionen als ein relativ eigenständiges Phänomen, eben als Religion verstehen möchte, wird in der Theologie eine Gesprächspartnerin finden, welche diesen Aspekt der christlichen Religion betont und ihr gegenüber ein hermeneutisches Interesse hat. Ich sehe zwischen neutestamentlicher Wissenschaft bzw. Theologie und Religionswissenschaft die Perspektive eines fruchtbaren Miteinanders.13 Das ist aber nur möglich, wenn die neutestamentliche Wissenschaft den Anschluss an die heute wichtigen religionswissenschaftlichen Debatten und Theoreme wieder findet; ich denke z. B. an die Mythosdiskussion, an die Ritualforschung oder an religionspsychologische Fragestellungen. Ich wünsche mir also, dass sich die neutestamentliche Wissenschaft verstärkt auf die Theoriediskussionen der Religionswissenschaft einlässt, an ihnen partizipiert und sich von ihnen befruchten lässt. Nur so wird es ihr gelingen, gegenüber Vertretern nicht-theologischer Disziplinen das Urchristentum als ein besonderes religiöses Phänomen mit eigener Prägung, eigener Kraft und eigenem Deutungspotential wirklich verständlich zu machen und es so zugleich selber besser zu verstehen. Mein Wunsch ist also, dass sich die neutestamentliche Wissenschaft auf einen intensiven Dialog mit der Religionswissenschaft einlassen möge. Gerd Theissen hat einen vielversprechenden Anfang gemacht.14 Die sechste und letzte Feststellung ist ein sehr banaler Wunsch: Ich wünsche mir, dass endlich einmal alle grundlegenden Quellentexte auch in deutscher Sprache zu einem vernünftigen Preis erhältlich sein mögen! Für unsere Nachwuchsleute mit ihren meist leeren Portemonnaies ist das sehr wichtig  – und darum auch für die Zukunft unserer Disziplin! Unsere Doktorandinnen und Doktoranden und vielleicht auch am Neuen Testament interessierte Studierende möchten nämlich die wichtigsten Quellentexte selbst besitzen, um mit ihnen arbeiten zu können. Gelungen ist dies im Fall der Qumrantexte,15 der Apostolischen Väter16 und der neutestamentlichen Apokryphen.17 Dass man aber für die nun endlich erscheinende deutsche Gesamtausgabe der Nag Hammadi Texte gut 200 € 13 [Vgl. dazu in diesem Band den Aufsatz 4: Theologie und Religionswissenschaft aus theologischer Sicht. Ein Plädoyer für Zusammenarbeit, o. S. 49–58]. 14  Gerd Theissen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2001. 15  Johann Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, UTB, München / B ​ asel 1995. Ich verweise auch auf den „zweiten Lohse“: Annette Steudel (Hg.), Die Texte aus Qumran II, Darmstadt 2001. 16 Andreas Lindemann  /  ​H enning Paulsen, Die Apostolischen Väter. Griechischdeutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992. 17  Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, Tübingen I 51987; II 51989. Beide Bände sind als Studienausgabe nachgedruckt worden.

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wird zahlen müssen, ist nicht gut.18 Dass sich niemand eine Philo-Ausgabe zu einem anständigen Preis leisten kann, ist schlimm. Dass aber ein junger Nachwuchswissenschaftler oder eine Nachwuchswissenschaftlerin für die für die Erforschung des Neuen Testaments absolut grundlegende Textsammlung der „Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit“ eintausendachthundertfünfundfünfzig (!) €19 hinblättern muss, wenn sie oder er auf die naheliegende Idee kommen sollten, dass diese Texte eigentlich in ihr Büchergestell gehören, ist heller Wahnsinn und sowohl forschungs‑ wie forscher / i​nnen-verhindernd. Es lebe Jim Charlesworth, der uns in Amerika vorgemacht hat, was wir auch hätten tun sollen!20 Leider wird auch der Jerusalemer Talmud auf lange Zeit hinaus ein Geheimtip für Vermögende bleiben; von der Tosephta schweige ich lieber ganz. Ich denke, wir Neutestamentler sollten auch bei der Herstellung von Textausgaben intensiver an unseren Nachwuchs denken.

18  Hans-Martin Schenke, Hans-Gebhard Bethge und Ursula Ulrike Kaiser, Nag Hammadi Deutsch, GCS, I Berlin 2001; II Berlin 2003. [Heute gibt es Studienausgaben dieser Bände]. 19 Wohlverstanden: der Subskriptionspreis! [Studienausgaben dieser grundlegenden Textsammlung aus dem Gütersloher Verlagshaus gibt es auch heute nicht]. 20  James H. Charlesworth (Hg.), The Old Testament Pseudepigrapha, 2 Bde, Garden City 1985.

29. Orientierung nach unten und grenzenlose Vergebung nach Matthäus 18 I. Einleitung Ich bin ein alter Grenzgänger. In die damalige CSSR bin ich 1962 zum ersten Mal gekommen. Damals war der Prager Theologe Josef L. Hromádka zwar Mitglied des Exekutivausschusses des Weltrates der Kirchen, aber als er in meiner Heimatstadt Zürich 1961 in einer Kirche einen Vortrag hätte halten sollen, gab es soviel Proteste von antikommunistischen Pfarrern, dass die Veranstalter sich dem Druck beugten und aus Angst Hromádka wieder ausluden. Wir waren damals Theologiestudenten und waren empört darüber. In der Schweiz, so sagten wir, sollte jedermann reden dürfen, auch die, deren Meinung wir nicht teilten. So luden wir Theologiestudenten den ausgeladenen Hromádka in die Fakultät zu einem Vortrag über die Situation der Kirche in der CSSR ein. Am Ende eines spannenden Abends mit heftigen Diskussionen fragte uns Hromádka, ob wir nicht einmal in die CSSR kommen wollten und uns selbst ein Bild verschaffen. Gespannt fuhren wir hin. Von Linz aus fuhren wir durch den Eisernen Vorhang, auf einem ungeteerten, kurvenreichen Feldweg durch das Niemandsland, mit Ferngläsern beobachtet von den Grenzbeamten beider Seiten. In Tábor, der ersten tschechischen Stadt, wo wir Halt machten, wurde unser französisches Auto bestaunt wie ein Weltwunder; es gab einen richtigen Volksauflauf, sodass wir fast Angst kriegten. Wir kamen dann nach Prag, besuchten Gemeinden und die Fakultät und sprachen mit vielen Leuten, zu denen uns Hromádka die Türen öffnete. Die meisten dachten nicht so, wie er. Aber er sagte: Ihr müsst mit allen reden.1 Zu den vielen, mit denen wir damals sprachen, gehörte Petr Pokorný, mein ältester Freund in Ihrem Land. Wir waren tief beeindruckt von den lebendigen Gemeinden und den lebendigen Jugendgruppen in Ihrer Kirche; mitten in Armut und Bedrückung haben wir hier etwas von lebendiger Kirche erlebt. Wir waren ausserordentlich beeindruckt über die Fähigkeit der Menschen hier, sich am Leben zu freuen, obwohl sie vieles nicht hatten, was wir im Westen selbstverständlich 1 So verhielt er sich auch: Er, der das sozialistische Regime grundsätzlich willkommen hiess, setzte sich für alle ein, die in Schwierigkeiten kamen oder verfolgt wurden, nicht nur für seine Freunde und Gesinnungsgenossen.

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V. Biographische und autobiographische Studien

hatten und obwohl viele für ihre Opposition gegen das Regime einen hohen Preis bezahlen mussten.2 Wir waren beeindruckt von Ihren Anstrengungen, für die Kirche in dieser sozialistischen Gesellschaft richtige Wege zu finden. Das war nicht einfach. Was sollte man in erster Linie bedenken: Die grossartige Idee des Kommunismus oder die brutale Wirklichkeit der Diktatur? Die reiche Rhetorik oder die graue Alltagswirklichkeit? Der Sozialismus war ein Gemisch von Wahrheiten und Lügen, und dies alles bei beschränkten Informationen, kurz, ein Halbdunkel. Es war alles andere als einfach, ihn richtig zu durchschauen und zu beurteilen, sowohl für die Menschen hier, als auch für uns. Damals hat es mich mit hineingezogen. Ich fühlte mich mit-betroffen, mitsolidarisch, obwohl ich ja kein Tscheche bin und leider kein Tschechisch spreche. Ich bin etwa jedes zweite Jahr wieder nach Prag gekommen – vor 1968, nach 1968, vor 1989 und nachher – und habe mitgelitten und mich mitgefreut. Zu meinen engsten Freunden gehörte der Philosoph Milan Machovec (1925–2003), mit dem ich viele Stunden in seiner kleinen Wohnung diskutierte und zu dem ich manche meiner Studentinnen und Studenten führte.3 Er hat ja bis zuletzt den Glauben an die Kraft der marxistischen Grundideen nicht verloren, auch wenn er unter ihrer Verwirklichung im realen tschechoslowakischen Sozialismus viel mehr zu leiden hatte als andere. Sein Jesusbuch war für uns eines der wichtigsten Bücher.4 Eine meiner grössten Freuden war, dass ich ihm 1987 die theologische 2 Ein Beispiel für diese wunderbare Fähigkeit ist auch die Gestalt der Opposition gegen das Regime: Was im Ersten Weltkrieg der „brave Soldat Schweijk“ war, war in der Zeit der kommunistischen Diktatur der bei uns kaum bekannte Jára Cimrman, eine fiktive, von einigen Kabarettisten 1966 erfundene Gestalt, über den bis über die Wende hinaus viele Theaterstücke teils unter widrigsten Umständen aufgeführt wurden. Die meisten hatten die Gestalt eines (pseudo)wissenschaftlichen Seminars, in dem die Werke Cimrmans erforscht wurden: Cimrman wurde als Weiser, Universalgenie und Verfasser von Theaterstücken stilisiert. In ihnen gab er unendliche Banalitäten, tiefsinnige Blödigkeiten und Sprüche von sich, die den realen Sozialismus subtil karikierten. Im Jahre 2005 galt nach einer Umfrage Cimrman als der bedeutendste Tscheche, noch vor dem Heiligen Wenzel, Karl IV oder Jan Hus. Weitere Informationen in der Wikipedia unter „Jára Cimrman“ und „Divadlo Járy Cimrmana“. 3  Milan Machovec, ein wichtiger Theoretiker des „Prager Frühlings“, wurde 1970 von der Universität entlassen, war dann eine Zeitlang Organist in einer katholischen Kirche, bis er als Mitunterzeichner der Charta 77 mit einem vollständigen Arbeitsverbot belegt wurde. Er lebte allein in einer kleinen Wohnung in Holesovice und wurde von den Sicherheitsorganen überwacht und periodisch verhört. Häufig wurde er von ausländischen, aber auch von tschechischen Studierenden besucht, mit denen er privatim Seminare und Kolloquien abhielt. Sein Leben fristete er mit ein bisschen Geld, das ihm westliche Freunde brachten und das er zum Teil anderen weiterschenkte, denen es noch schlechter ging als ihm. Eindrücklich war mir, dass er mich immer bat, ganz offen mit ihm zu telephonieren; seine Überwacher seien dies so gewöhnt und würden erst Verdacht schöpfen, wenn sie den Eindruck bekämen, er spiele mit verdeckten Karten. 4  Milan Machovec, Jesus für Atheisten, Stuttgart 1972; das tschechische Original wurde unter dem Titel „Ježíš pro moderního človĕka“ erst 1990 veröffentlicht. Ausserdem ist für die Theologie wichtig: Milan Machovec, Marxismus und dialektische Theologie: Barth, Bonhoeffer und Hromádka in atheistisch-marxistischer Sicht, Zürich 1965; ders., Svatý Augustin, Praha 1967; ders., Vom Sinn des menschlichen Lebens, Freiburg 1971; ders.,

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Ehrendoktorwürde unserer Berner Theologischen Fakultät überbringen durfte – streng beobachtet von den Organen der Staatssicherheit, die ihn zwar hätte ausreisen lassen, aber vermutlich nicht wieder in sein geliebtes Böhmen zurückkehren.5 Von ihm, dem „Meister des Dialogs“, habe ich gelernt, dass der Dialog das Grundprinzip allen menschlichen Lebens und Denkens sein muss.6 Warum erzähle ich Ihnen das? Sie sind zu dieser Tagung zusammengekommen, um die Vergangenheit Ihrer Kirche in der Zeit des Kommunismus aufzuarbeiten. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich als Mit-Betroffener hier vor Ihnen stehe, als einer, der sich mit Ihnen immer mitgefreut und mitgelitten hat und als einer, der immer mit-geraten hat, obwohl ich selber auch immer wieder ratlos war. Ich komme also nicht als „neutraler“ Schweizer, der aus der Distanz des Nichtbetroffenen etwas Richtiges zu sagen wüsste. Das kann ich nur schon darum nicht, weil ich das Halbdunkel, das damals herrschte, miterlebt habe, und weiss, wie schwierig es war, wenn man angesichts einer Zukunft, die niemand kannte, einen Weg suchen musste. Ganz viele haben das ehrlich versucht; aber die Wege, die sie gingen, waren nicht immer dieselben. Aus Respekt vor ihnen möchte ich jetzt nicht als einer daher kommen, der jetzt, wo wenigstens in Bezug auf die Vergangenheit sich manches Halbdunkel gelichtet hat, alles besser weiss.

II. Ein Blick auf die matthäische Ekklesiologie Ich möchte von einem biblischen Text ausgehen. Mein Grundtext ist die dritte Rede des Matthäusevangeliums, die Rede über die Gemeinschaft, Mt 18. Im Unterschied zu andern Reden des Matthäusevangeliums, z. B. den Reden von Mt 11, Mt 12 und Mt 23, treiben seine fünf grossen Reden (Mt 5–7; Mt 10; Mt 13; Mt 18 und Mt 24 f) die matthäische Jesusgeschichte nicht voran, sondern unterbrechen sie. In ihnen spricht Jesus aus dem Fenster der vergangenen Geschichte hinaus und wendet sich direkt an die gegenwärtigen Leser des Evangeliums. Diese fünf grossen Reden sind darum etwas ganz anderes als die Reden der grossen Staatsmänner und Militärführer in antiken Geschichtswerken. Sie sind Die Rückkehr zur Weisheit, Stuttgart 1988; Ders., Die Frage nach Gott als Frage nach dem Menschen, Innsbruck 1999. 5  Die Ehrenpromotion fand in der Residenz des schweizerischen Botschafters statt. Das Gebäude war von Geheimpolizisten umstellt, die es aber  – in dieser letzten Phase des Sozialismus – nicht mehr wagten, die Personalien der geladenen Gäste – vor allem Familienglieder und Freunde von Machovec – aufzunehmen. Als Geschenk bat mich Machovec damals um eine rätoromanische Bibel. Ich realisierte erst dadurch, dass er auch ein bedeutender Indogermanist war. 6 Der Titel seiner Festschrift lautet: „Mistr dialogou Milan Machovec“ (Kamila Jindrová u. a. (Hg.), Mistr dialogou Milan Machovec, Praha 2005). „Dialog“ wurde zum Grundprinzip meiner eigenen „Theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments“ (2014). Das verdanke ich Milan Machovec.

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V. Biographische und autobiographische Studien

eher der Moserede im Deuteronomium zu vergleichen, wo Mose auch direkt in die Gegenwart hineinspricht und die zeitliche Distanz zwischen damals und der Gegenwart überspringt. Die fünf Reden Jesu vermitteln nach Matthäus das, was für seine Gemeinde in seiner eigenen Gegenwart gültig ist. Insofern sind sie besonders geeignet dafür, unsere eigene kirchliche Wirklichkeit zu bespiegeln. Bevor ich zu Matthäus 18 komme, möchte ich vier grundsätzliche Dinge zur matthäischen Ekklesiologie sagen: 1. „Gott ist mit uns“  – Immanuel. Dies ist gleichsam der christologische Grundton des Matthäusevangeliums. Er erklingt zu Beginn des Evangeliums: „Man wird seinen Namen ‚Immanuel‘ nennen, was übersetzt heisst: Gott ist mit uns“ – so heisst es im ersten Erfüllungszitat in Mt 1,23. „Und siehe, ich werde mit euch sein alle Tage bis ans Ende der Welt“ – so lauten die letzten Worte des Auferstandenen in 28,20. Jesus ist die Gestalt des biblischen Gottes, in der er „mit uns“ ist. Das ist eine ganz „hohe“ Christologie, derjenigen des Johannesevangeliums vergleichbar. Die grosse Verheissung für die Kirche nach dem Matthäusevangelium ist, dass in der Gestalt Jesu Gott mit ihr ist, solange die Welt besteht. 2. Jesus ist das Grundmodell des menschlichen Lebens mit Gott. Matthäus macht das zu Beginn seines Evangeliums in der Versuchungsgeschichte deutlich: Jesus ist Gottes Sohn – aber nicht so, dass er als Gottes Repräsentant gewaltige Wunder tut oder die Macht über die Welt ergreift, sondern so, dass er dem Willen Gottes gehorsam bleibt (4,1–11). Dasselbe ruft Matthäus fast am Schluss seines Evangeliums wieder in Erinnerung, indem der Sohn Gottes darauf verzichtet, vom Kreuz herabzusteigen, sondern Gott gehorsam bleibt, bis zum Tod (27,43). Darum hat die Passionsgeschichte im Matthäusevangelium eine zentrale Funktion: Sie zeigt am deutlichsten, wie Jesus das selbst tut, was er lehrt. Sie zeigt am deutlichsten, wie eine Praxis der Bergpredigt aussehen könnte. 3. Das Matthäusevangelium ist nicht nur eine Geschichte des vergangenen Jesus, sondern dieser vergangene Jesus ist zugleich der auferstandene und gegenwärtige Herr der Gemeinde. Und entsprechend sind die Jünger nicht nur die Zwölf, welche den vergangenen Jesus auf seinem Weg in Israel begleiteten, sondern sie sind zugleich transparent für die nachösterliche Gemeinde. Kirche sein heisst: Jünger Jesu sein. Die Jünger sind für die das Evangelium lesende und hörende Gemeinde die wichtigsten Identitfikationsgestalten. Μαθητής und das Verbum ἀκολουθέω sind ekklesiologische Grundworte des Matthäusevangeliums. Kirche sein heisst: sich auf Jesus einlassen, sein Leben teilen, sein Nachfolger zu sein. Kirche sein heisst: zu Jesus in die Schule zu gehen, auf ihn zu hören, sein Schüler zu sein. Kirche sein heisst: „alles halten, was Jesus geboten hat“ (vgl. 28, 20). Kirche ist also im Matthäusevangelium ganz allein durch den Bezug auf Jesus definiert. Kirche zu sein heisst: Jesus zu entsprechen in Tat und Wort, im Leben und im Leiden. Darum ist im Matthäusevangelium die Ekklesiologie der Christologie grundsätzlich nachgeordnet.

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4. Der erste ekklesiologische Grundtext des Matthäusevangeliums ist die Jüngerrede von Kapitel 10. Sie steht – verständlicherweise – erst nachdem Matthäus in der Bergpredigt das grundlegende Evanglium Jesu vom Gottesreich vorgestellt hat und nachdem er in Kap. 8–9 erzählt hat, wie der Messias Israels in seinem Volke wirkt und seine Kranken heilt. Der Kernsatz dieser Rede steht in ihrer Mitte; es ist das Jesuswort: Kein Jünger ist mehr als der Meister   und kein Knecht mehr als sein Herr! Es ist genug für einen Jünger, wie sein Lehrer zu werden,   und ein Knecht wie sein Herr (10,24 f)

Diese zwei Verse weisen auf das inhaltliche Zentrum der Rede: Es ist die Christusförmigkeit der Kirche. Die Jünger sollen so sein wie ihr Lehrer und Meister Christus, nicht mehr, aber auch nicht weniger. „Christusförmigkeit“ bedeutet dabei nicht irgend eine Form von Mystik, sondern Christusförmigkeit bedeutet: die Vollmacht, den Auftrag, die Lebensform und das Schicksal des irdischen Jesus teilen. Genau dies entfaltet die Rede: Sie spricht zu Beginn von der Vollmacht Jesu über Dämonen und Krankheiten, an der die Jünger partizipieren (10,1). Später wird sich zeigen, dass dies die Vollmacht dessen ist, dem alle Gewalt im Himmel und auf der Erde gegeben ist (28,18). Sie teilen seinen Auftrag: Auch sie sollen das Gottesreich verkünden, Kranke heilen. Tote auferwecken und Dämonen austreiben in Israel (10,5–8). Die Jünger sollen Jesu Lebensform teilen. Dazu gehört vor allem die Armut der Nachfolger und ihre Wehrlosigkeit nach dem Modell der Bergpredigt (10,9 f.16) und natürlich die Mission unterwegs. Und sie werden Jesu Schicksal teilen: Dazu gehören Verfolgungen und Auslieferung an synagogale und politische Instanzen, Spaltungen in der Familie, Hass und Martyrium (10,17–23.37–39). Nachfolge ist nach Mt 10 Kreuzesnachfolge und das heisst: Nachfolge bis zum Martyrium. Identität der Vollmacht, des Auftrags, der Lebensweise und des Schicksals mit Christus: das sind für Matthäus die „Merkmale“, an denen man Kirche erkennt. Die Jüngerrede von Mt 10 ist ein sehr grundsätzliches ekklesiologisches Manifest.7

7  Vgl. dazu Ulrich Luz, Die Jüngerrede des Matthäus als Anfrage an die Ekklesiologie, oder: Exegetische Prolegomena zu einer dynamischen Ekklesiologie, in: In: Karl Kertelge  / ​ Traugott Holtz / ​Claus-Peter März (Hg.), Christus bezeugen (FS W. Trilling), Leipzig 1989, 84–101; abgedruckt in: Ulrich Luz, Exegetische Aufsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 267–280.

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V. Biographische und autobiographische Studien

III. Orientierung nach unten Ein ekklesiologisches Manifest ist auch die zweite ekklesiologische Rede des Matthäusevangeliums, Kap. 18. Sie ist m. E. für die Frage nach der Aufarbeitung der Vergangenheit, nach Schuld und nach Vergebung besonders wichtig. Im Unterschied zu Mt 10 beschäftigt sich diese Rede nicht mit Fragen des Verhältnisses der Gemeinde zur Welt und mit der Mission, sondern mit Fragen des Verhältnisses der Gemeindeglieder untereinander. Sie bildet das Zentrum des Abschnittes Mt 16,21–20,34. Dieser Abschnitt bildet nach den grossen Konflikten mit Israels Führern, die in 12,1–16,20 geschildert werden, und vor der letzten grossen Auseinandersetzung mit den Führern Israels in Jerusalem (21,1–23,39) so etwas wie eine kleine Ruhepause im Matthäusevangelium. Der vorangehende Text 16,13–20 hatte mit dem Petrusbekenntnis und dem Felsenwort Jesu geschlossen. Jesus hatte hier zum ersten Mal von „meiner ἐκκλησία“ gesprochen, die in Israel entstehen wird. Dem entspricht, dass der ganze folgende Hauptabschnitt Kap. 16–20 sich mit Fragen des Lebens und der Lebensordnung der Jüngergemeinschaft beschäftigt. In der Mitte dieses Abschnittes steht die Rede Mt 18. Normalerweise wird sie in den Kommentaren mit „Gemeinderede“ überschrieben,8 ältere Kommentare sprechen oft von „Gemeindeordnung“ oder „Kirchenordnung“.9 Ich möchte lieber von „Gemeinschaftsrede“ sprechen. Kirche Jesu Christi ist für Matthäus eine Gemeinschaft. Was sind die grundlegenden Merkmale dieser Gemeinschaft nach Mt 18? Es sind zwei. Das erste Merkmal ist die Orientierung nach unten. Der erste Unterabschnitt der Rede ist V 1–5. Er beginnt in V 1 mit einer Frage der Jünger: „Wer ist nun der Grösste im Himmelreich?“ Jesus tut etwas Überraschendes. Er ruft ein Kind zu sich, stellt es mitten unter sie und sagt. „Amen, wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen!“ (V 3) Die Frage der Jünger hatte selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie ins Himmelreich eingehen werden. Jesu Antwort hebt diese Selbstverständlichkeit auf. Auch von den Jüngern ist eine grundsätzliche Wende verlangt, wenn sie ins Himmelreich eingehen wollen. Sie sollen werden wie dieses Kind, das Jesus in ihre Mitte gestellt hat. Was ist damit gemeint? Die Ausleger haben hier gerne ihre idealen Vorstellungen von Kindern, vor allem von braven Kindern, in den Text eingetragen: Kinder sind unschuldig, sanft, frei 8  Z. B. Alexander Sand, Das Evangelium nach Matthäus, RNT, Regensburg 1986, 363; Rudolf Schnackenburg, Matthäusevangelium II: 16,21–28,20, NEB I / 2​ , Würzburg 1987, 167. 9 Z. B. Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 1973, 233 f; Walter Grundmann, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK I, Berlin 1972, 411 (Ordnung der Gemeinde); Wolfgang Trilling gab seinem Buch über Mt 18 den Titel: Hausordnung Gottes. Eine Auslegung von Mt 18, WB 10, Düsseldorf 1960,

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von Bosheit und Ehrgeiz, gelehrig, frei von sexuellen Leidenschaften, fromm und fröhlich, nicht streitsüchtig usw.10 Um alles das geht es nicht. V 4 macht klar, wo der springende Punkt liegt: Ein Kind ist ταπεινός. Das heisst zunächst „klein“, dann „niedrig“ und „machtlos“. Παῖς und παιδίον kann bekanntlich auch den Sklaven bezeichnen, was ein Schlaglicht auf die Rechtsstellung der Kinder in der Antike wirft. Wenn Jesus in V 4 die Frage der Jünger beantwortet und sagt: „Den obersten Rang im Himmelreich wird haben, wer sich selbst niedrig macht“ (ὅστις ταπεινώσει ἑαυτόν), so sollte man diese Aussage nicht vorschnell verinnerlichen. Blosses ταπεινός heisst im neutestamentlichen Griechisch kaum je „demütig“. Es geht um viel mehr als um die Tugend der Bescheidenheit und der Demütigkeit. Vielmehr geht es um eine umfassende Orientierung der Jünger nach unten. „Instead of aiming at seats of honour and prestige … , they should orient themselves downwards“.11 Damit macht Matthäus eine Fundamentalaussage über die Kirche. Was das konkret heisst, wird er in späteren Texten verdeutlichen: Es sollen bei euch gerade nicht die Herrschaftsverhältnisse gelten, die für die Welt typisch sind, sondern wer unter euch der erste sein will, soll euer Sklave sein (20,26–28). Wer sich selbst hoch macht, wird niedrig gemacht werden  – und umgekehrt (23,8–12). 20,28 nennt dann den christologischen Grund dieser Neuorientierung nach unten, welche die kirchliche Gemeinschaft prägt. „Der Menschensohn kam nicht, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele zu geben.“ Und V 5 deutet an, wo die Verheissung dieser grundlegenden Um–Orientierung liegt: In den Kleinen, in den Kindern, in den Machtlosen begegnet Christus selbst. Mt 25,31–46, der bekannte Text von den Schafen und den Böcken, wird das vertiefen. Unsere Rede ist transparent für das, was auch heute der Auftrag der Kirche ist. Orientierung nach unten: In der kommunistischen Zeit war die Kirche ganz unten, völlig machtlos, fast rechtlos. Besonders die katholische Kirche, aber auch Ihre Kirche hat die vom kommunistischen Regime erzwungene Umkehr der Machtverhältnisse drastisch erfahren. Die Orientierung nach unten war zwar nicht freiwillig – aber sie entspricht dem, was Jesus von seinen Jüngern verlangt. Ich denke, es lag ein Segen auf der damaligen Machtlosigkeit und Armut der 10  Vgl. z. B. Hieronymus, In Mt, 156 f = CChr. SL 77 (Unschuld, Reinheit des Herzens); Leo d. Gr., Sermo 37,3 = BKV I / ​54, 183 (Unschuld, Sanftmut); Hilarius, In Evangelium Mt Commentarius, SC 258, 74 (sie folgen dem Vater, lieben die Mutter … , sind nicht frech, hassen nicht, lügen nicht, glauben, was man ihnen sagt); Euthymius Zigabenus, Commentarius in IV Evangelia, PG 129, 497 (nicht neugierig … , nicht stolz, frei von Bosheit und Rivalität, Ehrgeiz, Streit); Johannes Calvin, Evangelienharmonie II (übers. Hiltrud Stadtland–Neumann / G ​ ertrud Vogelbusch, 1974, 91 (Bescheidenheit); Matthias Claudius, Der Mond ist aufgegangen, Strophe 5 = EG 482,5 („wie Kinder fromm und fröhlich“). 11  Matthias Konradt, „Whosoever humbles himself like this Child …“. The Ethical Instruction in Matthew’s Community-Discourse (Matt 18) and its Narrative Setting, in: Jan van der Watt / ​Ruben Zimmermann (Hg.), Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings, WUNT II / 2​ 96, Tübingen 2010, 105-–138, dort 109.

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V. Biographische und autobiographische Studien

Kirche. Für mich als westlichen Besucher war die Erfahrung der Gemeinschaft, der menschlichen Nähe, der Wärme, die Erfahrung der gemeinsamen Machtlosigkeit aller in der Kirche eindrücklich. Und mitten in der Erfahrung der Ohnmacht, der Unsicherheit und der Rechtlosigkeit gab es auch die Erfahrung, von Gott behütet zu sein, oder – matthäisch gesprochen – die Erfahrung, dass „Gott mit uns“ ist und die kleine Gemeinschaft der Kirche trägt. Ich habe mich manchmal in unseren reichen, einflussreichen, von Machtspielen geprägten und oft kalten westlichen Kirchen nach solchen Erfahrungen von Kirche gesehnt, wie ich sie bei Ιhnen machen durfte. Eine Reise in die CSSR oder auch in die DDR bedeutete für uns Westler immer wieder ein Stück beglückende Erfahrung lebendiger kirchlicher Gemeinschaft. Wir konnten bei Ihnen „kirchlich auftanken“. Was heisst das, wenn wir jetzt auf diese Zeit zurückblicken? Was für einen Blick will uns Matthäus schenken? Ich denke: einen Blick der Dankbarkeit. Wenn wir auf jene dunkle Zeit zurückblicken, dürfen nicht Ressentiments im Vordergrund stehen. Sie sollten nicht in erster Linie fragen: Was haben wir damals an Zurücksetzung und Benachteiligung erfahren? Oder: Was haben wir oder andere in der Kirche falsch gemacht? Oder gar: Was hätte ich werden können, wenn ich nicht so benachteiligt worden wäre? Das Wichtigste scheint mir vielmehr die Dankbarkeit für das, was Gott der Kirche damals geschenkt hat: lebendige Gemeinschaft und die Erfahrung, dass Gott mit ihr war. Etwas spitz gesagt: Der kommunistische Staat hat die Umorientierung der Kirche nach unten erzwungen und gerade dadurch der Kirche vielleicht sogar geholfen, echte Kirche zu sein. Wir kehren zurück zum Text. Der Gedankengang von V 6–10 ist schwierig. Das entscheidende Stichwort ist „diese Kleinen“, von denen dreimal, in V 6, 10 und 14 die Rede ist. Es scheint „ein solches Kind“ von V 5 aufzunehmen. Aber wen bezeichnet Matthäus damit? Bezeichnet er alle Gläubigen als „Kleine“? Dafür könnte die Formulierung in V 6, „diese Kleinen, die an mich glauben“, sprechen. Oder sind „diese Kleinen“ eine besondere Gruppe in der Gemeinde? In der Auslegungsgeschichte gibt es zahlreiche Vorschläge: Sind es die Verachteten in der Gemeinde, die Ungebildeten, die einfachen Leute, die Nicht-Theologen oder  – wie Johannes Chrysostomus in einer Predigt an die haute volée von Antiochia sagt – „ein Schmied, ein Schuster, ein Bauer, ein Tölpel“?12 Für diese Lösung spricht V 10. Eine mittlere Lösung scheint Mt 10,40–42 anzubieten, wo der Ausdruck „diese Kleinen“ zum ersten Mal vorkam: Die „Kleinen“ sind dort am ehesten die gewöhnlichen Christinnen und Christen, die weder besonders hochgeachtete Propheten, noch spezielle Gerechte sind, die sich eine besondere Reputation verschafft haben. Sie sind einfach „Jünger“, d. h. gewöhnliche Mitglieder der Gemeinde. 12

 Johannes Chrysostomus, Hom in Mt 59,4 = BKV I / ​26, 248.

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Man kann V 6 also verschieden verstehen: Die einen Leserinnen und Leser werden den Vers als Warnung verstehen: Einem gewöhnlichen Christen einen Anstoss zu bereiten, sodass er im Glauben zu Fall kommt, ist so schlimm, dass ein solcher Mensch am besten mit einem Eselsmühlstein, der ihm wie eine riesige steinerne Halskrause um seinen Hals gelegt wird, im Meer ertränkt wird. Wenn sich die Leser aber selber mit den „Kleinen“ identifizieren, können sie den Vers auch als Trost verstehen: So sehr stehen sie, die Kleinen, unter dem Schutz Gottes, dass ihre Verführung die schlimmste Sünde ist, die es überhaupt gibt. Die Deutung hängt also davon ab, mit wem die Hörer und Leser des Textes sich identifizieren, und eben dies legt der Text nicht fest. Aber wer kann von sich selbst sagen, er gehöre zu diesen „Kleinen“? Alle Jünger wurden in V 3 aufgefordert, umzukehren und klein zu werden, wie ein Kind. Der Text will die Leser nicht festlegen. Sie sind frei, ihre eigene Rolle im Gegenüber zum Text zu bestimmen. Sie müssen selbst entscheiden, ob die Warnung von V 6 und von V 10 auch ihnen gilt. Noch schwieriger ist der Anschluss von V 7–9. Matthäus scheint hier mit dem Wort σκάνδαλον („Falle“, „Anstoss“) zu spielen und – äusserlich gesehen – einfach Jesusworte, die dieses Stichwort enthalten, wie eine Perlenkette aneinander zu reihen. Er legt auch nicht fest, welches die Anstösse sind, die von der Hand, vom Fuss oder vom Auge ausgehen könnten, sondern bleibt im Bereich der Bilder. Vielleicht gibt es dennoch einen, wenn auch sehr lockeren inneren Zusammenhang zwischen V 6 und V 8 f: Ging es in V 6 eher darum, dass andere den „Kleinen“ einen Anstoss geben, sodass sie zu Fall kommen, so ist in V 8 und 9 jeder Leser und jede Leserin direkt angesprochen: Wenn Dir Deine Hand, Dein Fuss oder Dein Auge eine Falle stellt … . Niemand ist davor gefeit, zu straucheln. Jeder soll darauf achten, was in ihm oder bei ihr selbst an σκάνδαλα vorhanden ist. Jeder soll vor seiner eigenen Türe kehren. Die Blickrichtung wendet sich also weg von den anderen hin zu sich selbst; auch die Leser stehen in Gefahr zu fallen. Der Text legt also nicht fest, wie sich seine Leserinnen und Hörerinnen mit ihm identifizieren und welche Rolle sie übernehmen. Seine Offenheit ist ein Teil seiner Strategie. Er stellt vor die Frage: Bin auch ich ein „Grosser“, der andere zu Fall bringt? Er lädt die Leser ein, die Kleinen zu entdecken und sie ernst zu nehmen. Er lädt sie nicht dazu ein, sich selbst mit „diesen Kleinen“ zu identifizieren und sich dann selbst für die wichtigsten Personen in der Gemeinde zu halten. Er stellt sie eher vor die Frage: Was ist meine eigene Hand und mein eigenes Auge, die mich zu Fall bringen könnten? Interessant ist, dass der Text keine „Grossen“ direkt benennt, weder Schriftgelehrte, noch Propheten, noch Älteste, die es vielleicht in der matthäischen Gemeinde gegeben hat. Der Text nimmt Amtsträger so wenig wichtig, dass er sie nicht einmal eigens erwähnt. Nur als Teil der Gesamtgemeinde, als Jünger, betrachtet er sie. Er wendet sich an alle.

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V. Biographische und autobiographische Studien

Der Text lädt also die Gemeindeglieder ein zu einem Selbstgespräch über die Rolle, die sie selbst in der Gemeinde spielen. Dieses Gespräch wird eher selbstkritisch als kritisch gegenüber anderen sein. Jedenfalls wird es ein Gespräch von Betroffenen sein, von solchen, die selbst auch zu Fall kommen können. Leitlinie dieses Gesprächs ist die Orientierung nach unten. Der Text lädt dazu ein, das eigenes Tun und Lassen daran zu messen, ob es den „Kleinen“ in der Gemeinde geholfen hat, die in den Augen Gottes die wichtigsten Menschen sind. Zur Orientierung nach unten gehört auch die Selbstprüfung. Stolpersteine und Fallen gibt es für jeden jede Menge. Zur Umkehr und zum Kleinwerden, das von den Jüngern gefordert ist, gehört die Frage, woran man selbst zu Fall kommen könnte. In dieser Weise sollte auch das Gespräch über die Rollen stattfinden, die Sie damals, in der Zeit zwischen 1948 und 1989, gespielt haben. Wir sollten dabei mehr über die eigene Rolle nachdenken als über diejenige anderer. V 10 ist ein Übergangsvers zum folgenden Abschnitt V 10–14. Und dieser wiederum ist ein Präludium für das zweite Merkmal, das für die Gemeinschaft der Kirche tragend ist, das grenzenlose Verzeihen, von dem dann vor allem die Verse 21–35 sprechen werden. Der paränetische Klang wird in V 10 deutlicher: Niemand soll die Kleinen verachten, deren Schutzengel das Angesicht Gottes sehen. Dieser Satz kann an damalige jüdische Vorstellungen nur bedingt anknüpfen: die Vorstellung, dass gerade die Schutzengel der „Kleinsten“, also der unwichtigsten und geringsten Menschen, Gottes Angesicht sehen, steht eher quer zu den meisten damaligen jüdischen Schutzengelvorstellungen.13 V 14 kommt nochmals auf die Kleinen zu sprechen: Keines von ihnen soll nach dem Willen des himmlischen Vaters verloren gehen. Zwischen diesen beiden rahmenden Versen steht die matthäische Version des Gleichnisses vom verlorenen Schaf. Matthäus braucht das Bild vom Hirten und dem verlorenen Schaf nicht wie Lk 15 in Bezug auf Gott, der sich über die Umkehr eines bussfertigen Sünders freut, sondern in Bezug auf Gemeindeglieder und ihr Verhalten gegenüber den „Kleinen“, also als paränetisches Argument. Die inhaltliche Perspektive verschiebt sich dabei: Matthäus spricht nicht vom „verlorenen“ Schaf, sondern dreimal und damit sehr betont von dem „in die Irre gelaufenen“ Schaf. Der Gebrauch des Verbums πλανάω (in die Irre führen, med. sich verirren) ist sehr auffällig. Es wird meistens übertragen von Menschen gebraucht: Menschen gehen in die Irre, z. B. durch falsche Meinungen oder durch falsches Handeln.14 Aus den „Kleinen“, die nichts gelten, werden in V 12 f diejenigen, die einen falschen Weg gelaufen sind. Logisch klar ist das nicht: Warum gerade diese Leute „klein“ sind, ist nicht einzusehen, denn man kann bekanntlich hoch er13  Einiges Material bei Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18–25), EKK I / ​ 3, Neukirchen / O ​ stfildern 22012, 29 f. 14 Vgl. die Belege bei Liddell-Scott s. v. Dasselbe gilt auch für den Wortgebrauch in der LXX und für das dem griechischen Wort oft entsprechende hebr. ‫תעה‬. Mt hat – im Unterschied zu Lk – ein Wort gebraucht, das sich leicht übertragen verstehen liess.

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hobenen Hauptes auf einem falschen Weg laufen. Die Argumentation unseres Textes ist eher assoziativ: Indem der Blickwinkel sich leicht verschiebt, tauchen neue Sinnhorizonte auf. Was soll man mit den Menschen machen, die einen falschen Weg gegangen sind? Man soll sie jedenfalls nicht verachten, soll sie nicht stehen lassen, wo sie eben sind, sondern man soll sie suchen und sie in die Gemeinschaft zurückzuführen. Es folgt in V 15–17 der berühmte Text vom Gespräch mit einem Sünder in drei Schritten, der durch das Wort von der Binde‑ und Lösegewalt aller Jünger (V 18) abgeschlossen wird. Oft hat man diesen Textabschnitt als einen Widerspruch zum vorangehenden Gleichnis vom Suchen des verirrten Schafs empfunden und vor allem als einen Widerspruch zum nachfolgenden V 21 f, Jesu Wort an Petrus vom grenzenlosen Verzeihen. Der Widerspruch besteht zwar – er darf aber nicht überspitzt werden.15 Matthäus nimmt hier sicher eine judenchristliche Tradition auf, die vielleicht die in seiner Gemeinde übliche Praxis beschreibt. Es gibt verwandte jüdische Regeln, z. B. in der Qumrangemeinde.16 Sie stehen alle in der Auslegungstradition des biblischen Nächstenliebegebotes Lev 19,17 f. Die Mahnung des Bruders wird in jüdischer Tradition als ein Ausdruck der Nächstenliebe und der Solidarität verstanden.17 So ist die verbreitete Überschrift „Exkommunikationsregel“, die oft diesem Abschnitt gegeben wird, eine Verzeichnung der Stossrichtung des Textes. Es geht vielmehr um eine „brüderliche Ermahnung“ mit dem Ziel, dass der Bruder nicht verloren wird, sondern in die Gemeinschaft zurückkehrt. Kommt man von V 12–14 her, so kann man mindestens V 15 f als eine geradlinige Fortsetzung dieses Textes lesen: Nun wird aufgezeigt, wie das Suchen eines verirrten Schafes erfolgen kann. Ἐὰν δὲ ἁμαρτήσῃ in V 15 nimmt inhaltlich das Verbum πλανάομαι von V 12 f auf. Die private Vermahnung unter vier Augen ist ein Versuch, den Bruder zu gewinnen. Dasselbe gilt für die Vermahnung unter sechs oder acht Augen, und schliesslich auch für die Vermahnung vor der ganzen Gemeinde. Erst ein negatives Resultat einer erfolglosen Vermahnung vor der ganzen Gemeinde ist der Abbruch der Gemeinschaft: „Er sei dir wie ein Heide und Zöllner“. Schwierigkeiten bereitet dann allerdings V 18, weil hier nicht mehr deutlich 15  Er wird etwas gemildert, wenn man, wie ich, annimmt, dass V 18 bereits vor Mt mit V 15– 17 verbunden war, vgl. Luz, Mt 18–25 (Anm. 13), 40. Grundsätzlich gilt, dass Mt in dieser Rede (und ebenso in allen anderen Reden) wenig auf logische Stringenz des Gedankengangs achtet, sondern eher assoziativ zusammenpassende Texte aneinanderfügt und dabei auch Akzente und Blickpunkte verschiebt. V 18 wird schon durch V 19 wieder relativiert. Dennoch bleibt der inhaltliche Widerspruch zwischen V 18 und V 21 unaufhebbar. 16  Vgl. bes. CDC 9,2 f und 1QS 5,24–6,1. Exakte Parr. sind aber solche Stellen nicht. In 1QS geht es um die Rangordnung innerhalb der Gemeinschaft und nicht um Ausschluss. 17 Ein besonders eindrücklicher Text ist TestG 6,3–7, ein Text in der Tradition von Lev 19,17 f, der über Mt noch weit hinausgeht, indem er es bei einem Gespräch unter vier Augen bewenden lässt und auf jedes Herbeiziehen von Dritten verzichtet, das einen Sünder blossstellen würde.

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V. Biographische und autobiographische Studien

ist, dass das Vergeben, also das Lösen, das eigentliche Ziel ist. Das Binden und Lösen der Gemeinde stehen völlig gleichrangig nebeneinander, und beides hat Konsequenzen im Himmel. Aber bereits V 19 scheint das wieder zu relativieren: „Wenn zwei unter euch auf der Erde einig sein werden über jede beliebige Sache, um die sie bitten, wird es ihnen so geschehen von meinem Vater in den Himmeln“. Diese Fortsetzung verschiebt die Perspektive wieder und öffnet eine neue Sinndimension, die des Gebetes. Nichts im Text verbietet dem Leser, den Text folgendermassen aufzufüllen: Natürlich sind alle Versuche, einen verirrten Sünder wieder zu gewinnen, vom Gebet begleitet. Dass man auch für einen Sünder, den die Gemeinde ausschliessen musste, weiterhin beten darf und soll, ist mit eingeschlossen. Es geht also Matthäus nicht darum, alle Katzen grau sein zu lassen und zu sagen: Was auch immer jemand getan haben mag, man muss ihm vergeben und die Gemeinschaft wieder herstellen. Für ihn ist vielmehr klar, dass es Verirrung und Sünde gibt, und dass sie benannt werden muss, zuerst im Gespräch unter vier Augen, dann vor Zeugen, und schliesslich vor der Gemeinde. Was Sünde ist, definiert der Text nicht. Kommt man vom Anfang der Rede her, so könnte man den Text etwa so weiterspinnen: Wenn man sich nach oben und nicht nach unten orientiert und für sich selber einen besseren Platz auf der Erde oder im Himmelreich erstrebt und dabei die Kleinen verachtet, ist das eine Lieblosigkeit den Kleinen gegenüber und eine sehr schlimme Sünde. Dem entspricht, dass in V 21 Petrus fragt: „Wie oft kann ein Bruder gegen mich sündigen“ und dass vielleicht schon in V 15 das εἰς σέ zum ursprünglichen Text gehört.18 „Sünde“ ist also eine Störung einer menschlichen Beziehung durch Lieblosigkeit. Aber so zentral das sein mag – Matthäus engt die Sünde nicht darauf ein. Er sagt in V 15–17 nur: Was auch immer der Bruder gesündigt haben mag – es muss besprochen werden, und zwar zuerst unter vier Augen. Ich komme wieder auf unsere eigene Situation zu sprechen, die Aufarbeitung unserer Rollen in der kommunistischen Vergangenheit. Matthäus sagt also nicht: Deckel darüber, Sünden vergeben, Gemeinschaft wieder herstellen, sondern er sagt: Was auch immer war – es muss besprochen werden, damit es vergeben werden kann, zuerst unter vier Augen. Versuchen wir dieser Regel zu folgen, so entdecken wir rasch eine Grenze unseres Textes. Sie liegt darin, dass unser Text klar voraussetzt, dass es der Bruder ist, der gesündigt hat, und nicht der Angesprochene. Aber in manchen Gesprächen werden wir vielleicht die Erfahrung machen, dass der Bruder sagt: „Halt mal, jetzt muss ich Dir zuerst einmal erklären, wie es damals für mich gewesen ist und was ich mit meiner Entscheidung oder meinem Verhalten wollte!“ Wir werden vielleicht manchmal die Erfahrung machen, dass das Prädikat „Sünder“ gar nicht so leicht zugeteilt werden kann, obwohl es selbstverständlich auch Fälle von eindeutigem Fehl18

 Zur Begründung vgl. Luz, Mt 8–17 (o. Anm. 13), 38 Anm. 1.

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verhalten gibt. Ist das aber nicht so klar, so wird das im Text erwähnte ἐλέγχειν zur wechselseitigen Aussprache und die einseitige Sündenvergebung wird zur gegenseitigen Versöhnung.

IV. Grenzenlose Vergebung Ich überspringe die anschliessenden Verse 19 f und komme zum nächsten Abschnitt, V 21 f: Hier beginnt klar ein neuer Abschnitt der Rede. Das zeigt sich an der neuen narrativen Einleitung, die parallel zu derjenigen in V 1 ist. Der Neueinsatz ist wichtig, nicht nur, weil er einen neuen thematischen Schwerpunkt markiert, sondern auch, weil er die vorangehenden Verse, V 19 f, als etwas Besonderes, als krönenden Abschluss des ersten Redenteils oder als Mittelpunkt der ganzen Rede, heraushebt. Der thematische Schwerpunkt, um den es in diesem Schlussteil der Rede geht, ist durch die Frage des Petrus klar: Gibt es für die Vergebung eine Grenze? Diese Frage des Petrus knüpft an den vorangehenden Abschnitt V 12–17 an, wo implizit bereits von Vergebung die Rede war. Auch Petrus ist klar, dass die Vergebung etwas ganz Wichtiges ist: Darum fragt er: Soll ich siebenmal vergeben? Siebenmal ist nicht wenig – sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Aber Jesu Antwort sprengt jede Grenze, egal, ob man die Zahl, die er nennt, als 77 oder als 7x70 liest.19 In beiden Fällen klingt Gen 4,2420 an: Das Prinzip der Vergeltung wird durch Jesus grundsätzlich und radikal aufgehoben. Grenzenlose Verzeihung, das ist das zweite ekklesiologische Merkmal dieser Rede und der Nerv der christlichen Gemeinschaft. Die Radikalität dieses Jesuswortes ist erschreckend, so erschreckend, dass sich die kirchlichen Ausleger immer wieder dagegen gewehrt haben, z. B. um die kirchliche Bussdisziplin zu retten21 oder um die strafende Gerechtigkeit staatlicher Gerichtsbarkeit nicht aufzuheben.22 Blickt man von diesem radikalen Jesuswort zurück auf die Regel der brüderlichen Ermahnung von V 15–17, so zeigte sich dort eine Grenze der menschlichen Vergebungsbereitschaft: Das erfolgreich verlaufene Gespräch, das die Einsicht des Sünders in seine Sünde voraussetzt, ist die Voraussetzung für die Vergebung. Im Gegensatz dazu spricht 19  Die Formulierung ἑβδομηκοντάκις ἑπτά entspricht Gen 4,24 LXX. Die Deutung war schon bei den griechischen Interpreten der Alten Kirche strittig. 20  „Denn wird Kain siebenmal gerächt, so Lamech siebenundsiebzig mal“. 21  Belege aus Augustin, Anselm von Laon, Calvin u. a. bei Luz, Mt 18–25 (o. Anm. 13), 62 f. In der Tat haben solche Bedenken auch Anhalt bei Mt: Nach Mt 18,15–18 scheint Einsicht in die eigene „Sünde“ und damit Reue Voraussetzung für die Vergebung zu sein. Eine gewisse Offenheit und Ambivalenz des Textes bleibt also. 22 Diese Einschränkung findet sich schon bei Luther, Predigt von 1530, WA 32, 159 f und seither oft. Dagegen wendet sich der grosse Protest von Lev Tostoj, der seinem Roman „Auferstehung“ Mt 18,21 als Motto vorangestellt hat.

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V. Biographische und autobiographische Studien

Jesus in V 22 von der grenzenlosen, nicht von einer wohldosierten und mit pädagogischen Absicherungen begleiteten Vergebung. Sie ist die hinter und über allen Umsetzungen stehende Grundregel der kirchlichen Gemeinschaft. Warum? Die Parabel vom gnadenlosen Schuldner in V 23–35 macht das deutlich. Durch den abschliessenden Vers 35, der die Gemeinde direkt anspricht und das Leitwort ἀφίημι ein letztes Mal wiederholt, ist sie eindeutig mit dem vorangehenden Kontext verbunden. Sie spricht, wie V 23 sagt, vom König. Jeder jüdische Hörer denkt hier selbstverständlich an Gott. Dieser König erlässt seinem Schuldner 10 000 Talente. Die Summe ist unvorstellbar – sie entspricht etwa dem jährlichen Steuerertrag des Herodesreichs. Der Schuldner muss ein Minister sein. Aber das kümmert Matthäus nicht – er nennt ihn „Sklave“, damit die positive und die negative Identifikation der Hörer mit ihm leichter möglich ist. Die Szene wiederholt sich dann zwischen ihm und einem Mitsklaven, der ihm hundert Denare schuldet. Das ist der sechshunderttausendste Teil der Summe, die der König seinem Sklaven erlassen hatte. Der erste Sklave ist, im Unterschied zu seinem Herrn, hartherzig und wirft seinen Mitsklaven ins Gefängnis. Darum nimmt der Herr am Schluss der Parabel seinen grosszügigen Schulderlass zurück und lässt den ersten Sklaven am eigenen Leibe erfahren, was Hartherzigkeit bedeutet, unter der Folter im Gefängnis. Ich gehe jetzt nicht auf die Details und auf die theologischen Probleme dieser Parabel ein, sondern erwähne nur einen Punkt. Mit dieser Parabel macht Jesus Petrus und allen Jüngern klar, was der Sachgrund der grenzenlosen Verzeihung ist, die von ihnen gefordert wird: die grenzenlose Verzeihung, die sie selbst von Gott erfahren haben. In der Kirche muss sich abbilden, was Gott geschenkt hat.23 So war es bereits beim ersten grundlegenden Merkmal der Gemeinschaft der Kirche, der Orientierung nach unten. Sie bildete die Sendung Christi ab, der gekommen ist, um zu dienen und sein Leben für viele zu geben (Mt 20,28). Beide Merkmale sind unverrückbare Orientierungspunkte für die Gemeinschaft der Kirche, die sie so deutlich wie irgend möglich darstellen muss. Was bedeutet das für den Umgang mit der eigenen Vergangenheit der Kirche in kommunistischer Zeit und den Umgang mit denen, die damals andere Wege gegangen sind, als wir? Es bedeutet, dass sich in unserem Verhalten ihnen gegenüber die grenzenlose Vergebung, die wir selbst erfahren haben, so weit und so radikal wie irgend möglich abbilden soll.

23  Schon im mt Unservater sind die göttliche Vergebung und das menschliche Vergeben aneinander gebunden (Mt 6,12).

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V. Eine Schlussüberlegung steht noch an. Sie soll denjenigen Versen gelten, welche das Zentrum unserer Rede bilden. Denn unsere Rede hat ein inhaltliches Zentrum, ebenso wie die Jüngerrede von Kapitel 10 in den Versen 10,24 f. Es sind die Verse 19 und 20. 19 Wenn zwei von euch auf der Erde einig sein werden      über jede beliebige Sache, um die sie bitten,    wird es ihnen geschehen von meinem Vater in den Himmeln. 20 Denn wo zwei oder drei auf meinen Namen hin versammelt sind,    da bin ich mitten unter ihnen!

V 19 führt V 18 locker weiter. Jesus stellt das Suchen der Verirrten und das Binden und das Lösen unter die Verheissung des Gebets. Die Verheissung könnte zugleich einen Vorbehalt bedeuten. Matthäus legt das nicht fest. Und dann segnet er das gemeinsame Gebet von Gläubigen in V 20 durch die unbedingte Zusage seiner eigenen Gegenwart. V 20 ist ein Grundsatz, der den unmittelbaren Kontext der Rede weit überschreitet. Zweierlei ist hier wichtig: Erstens: „Wo zwei oder drei auf meinen Namen hin versammelt sind“: Zwei oder drei  – Matthäus hat diese Zahl bewusst gewählt. Es ist die minimale Zahl von Menschen, die sich einig werden und eine Gemeinschaft bilden können. Dem, der allein für sich betet und meditiert, dem religiösen Individuum also, ist die Gegenwart Jesu nicht verheissen. Das Thomasevangelium stellt also unser Logion auf den Kopf, wenn es sagt: „Wo einer ein einzelner (μόνος) ist – ich bin mit ihm“ (Log 30 = POx 1 recto). Aber auch nach oben wird der Text nicht erweitert. Es heisst nicht: Wo zwei oder drei, aber besser noch ein paar mehr, beisamen sind … . Es wird auch nicht gesagt, dass die zwei oder drei natürlich mit der Gesamtkirche oder mit der ganzen Gemeinde übereinstimmen müssen und kein separatistisches Konventikel bilden dürfen. Es wird schon gar nicht gesagt, dass das Gebet des Bischofs und der Gesamtkirche noch viel besser sei als das Gebet von bloss zweien oder dreien.24 Da auch die eigene „Gemeinde“ des Matthäus sicher mehr Mitglieder umfasst hat als nur zwei oder drei, hätte er beispielsweise leicht sagen können: „Wo die ἐκκλησία in meinem Namen versammelt ist“, aber das sagt er nicht. „Zwei oder drei“ heisst: eine winzige Gemeinschaft im Namen Jesu. Sie empfängt eine ganz unglaubliche Verheissung. „Auf meine Namen hin“ lässt natürlich an Gottesdienst und Gebet denken – aber Matthäus formuliert nicht exklusiv. Die Verheissung gilt also nicht erst dann, wenn ein ordentlicher Gottesdienst gefeiert wird. Das heisst: Es gibt viele Orte, wo sich die Gegenwart Jesu in einer auf seinen Namen hin versammelten winzigen oder grösseren Gemeinschaft 24

 So bei Ignatius, Eph 5,2.

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V. Biographische und autobiographische Studien

ereignet. Sie müssen nicht mit einer offiziellen Versammlung der Gemeinde identisch sein. Das Zweite ist dieses „bin ich mitten unter ihnen“. Hier klingt für die Leser des Matthäusevangeliums das Immanuel-Motiv an. Jesus ist nach Mt 1,22 f der „Immanuel“, die Verkörperung der Gegenwart Gottes in der Gemeinde. Mit dieser Immanuel-Zusage beginnt Matthäus sein Evangelium und mit ihr beendet er es auch: „Siehe, ich bin mit euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ (28,20). Wir stossen hier auf den christologischen Grundton des ganzen Evangeliums. Die Gegenwart Jesu ist nichts anderes als die Gegenwart des biblischen Gottes selbst. Sie ist verheissen, wo eine winzige Gemeinschaft von Menschen, die sich nach unten orientiert und die Vergebung auf ihre Fahne geschrieben hat, auf Jesu Namen hin zusammenkommt. Tertullian aktualisiert für seine Zeit ganz richtig, was Matthäus mit den „Kleinen“ meinte: „Aber wo zwei oder drei sind, da ist eine Gemeinde, auch wenn es nur Laien sind“.25 Am schönsten fasst aber ein kurzes frühmittelalterliches Lied, das durch die Gemeinschaft von Taizé bei uns bekannt geworden ist, zusammen, was die matthäische Verheissung meint: „Ubi caritas, Deus ibi est“.26 Matthäische und johanneische Theologie reichen sich hier die Hände. Das ist die Verheissung, die über Ihrer Kirche steht. Das ist die Verheissung, die auch über der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit in der kommunistischen Zeit steht, wenn sie in einer Gemeinschaft geschieht, die Christi Dienst und Gottes grenzenlose Vergebung abbildet. Das wünsche ich Ihnen!

25 26

 Tertullian, Cast 7,3 = BKV I / 3​ 4, 145.  EKG 651.

30. Ost-Gänge Zum Andenken an Willi Lange († 2014) und Hans Voigt († 2014)

I. „Vorspiel“ in der DDR I. 1  So fing es an Meine Ost-Gänge begannen im Sommersemester 1959, als ich in Göttingen studierte. Ein Kommilitone im Reformierten Studienhaus steckte mir eine Einladung der ostdeutschen Lehrergewerkschaft zu einer gesamtdeutschen Studientagung nach Rostock zu. Sie richtete sich an Lehrerinnen und Lehrer, welche der Friedenaktivistin Renate Riemeck nahestanden. Der Kommilitone meinte dazu: „Schau, wie die Propaganda machen!“ Bei mir überwog die Neugier. Ich schrieb dem unterzeichnenden Gewerkschaftssekretär in Berlin einen Brief und teilte ihm mit, ich sei zwar weder Westdeutscher noch Lehrer, sondern Schweizer und Theologiestudent, würde aber trotzdem gerne zu dieser gesamtdeutschen Studientagung kommen. Natürlich erhielt ich keine Antwort. Damit war ich nicht zufrieden, sondern suchte, als ich in den Sommerferien in Berlin war, das „Haus der Gewerkschaft“ Unter den Linden auf und verlangte den Gewerkschaftssekretär zu sprechen. Das war ohne weiteres möglich. Nachdem er mir ein bisschen auf den Zahn gefühlt hatte, hiess es, die Teilnahme an dieser Tagung sei leider nicht möglich, aber die Gewerkschaft „Wissenschaft“ des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) würde sich freuen, mich zum Besuch der Leipziger Messe einzuladen. Ich konnte gleich noch einen Studienfreund einschmuggeln – und so reisten wir im September 1959 zur Leipziger Herbstmesse. So begann eine lange und folgenreiche Geschichte von Ost-Gängen. In Leipzig waren wir Gäste des FDGB. Als solche konnten wir alles wünschen, was wir nur wollten, u. a. ein Gespräch mit Philosophen und ein Gespräch mit Theologen. In letzterem, zu dem „fortschrittliche“ Nachwuchswissenschaftler der Theologischen Fakultät der Karl Marx-Universität Leipzig aufgeboten worden waren, sass einer, der uns durch seine Schweigsamkeit auffiel. Mit ihm machten wir beim Hinausgehen noch ein privates Rendezvous ab. Es war der damalige Assistent und spätere Greifswalder Neutestamentler Günter Haufe

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V. Biographische und autobiographische Studien

(1931–2011), mit dem ich bis zu seinem Tod eng befreundet blieb. Er führte uns auch in die Evangelische Studentengemeinde ein, die sich in der später gesprengten Paulinerkirche traf. Dort lernten wir Kommilitonen der Leipziger Theologischen Fakultät kennen. Rasch verstanden wir, was sie nötig hatten: Die Kommilitoninnen und Kommilitonen brauchten theologische Fachliteratur, die sie in der DDR nicht kaufen konnten. Bücher aus DDR-Verlagen (Evangelische Verlagsanstalt, St. Benno) gab es damals nur wenige, Lizenzausgaben von im Westen erschienenen Büchern fast keine. Hans Wilhelm Ebeling, der später Pastor an der Leipziger Thomaskirche war, erinnert sich: Kaum jemand, der es nicht erlebt hat, wird heute beurteilen können, was es heisst, nicht lesen zu können, was man möchte, oder was theologisch, politisch und geschichtlich gerade wichtig war. Von unseren Reisen, die wir bis zum Mauerbau nach Westdeutschland machen konnten, brachten wir immer wieder Literatur mit, teils geschenkt, teils von unseren wenigen Westmark gekauft.1

Das erkannten wir als unsere Aufgabe. Wieder zu Hause in Zürich angekommen, schrieben wir im Namen der Theologischen Fachschaft an christliche Industrielle in der Schweiz und baten sie um Geld. Das Echo war überwältigend. Viele wollten damals – in der Zeit des kalten Kriegs – etwas für die Stärkung des „christlichen Abendlandes“ tun. Wir schrieben an die deutschsprachigen theologischen Verlage und schlossen mit ihnen Rabattverträge ab. Auch hier war das Echo überwältigend: 50 % Rabatt war normal; viele Bücher erhielten wir geschenkt. Im Ganzen haben wir zwischen 1959 und 1961 für mehr als 300 000 DM Bücher nach Ostdeutschland geschafft. Und nun kam unser spezieller Spass: Wir versprachen denjenigen unter unseren Zürcher Kommilitonen, die sich verpflichteten, einen Koffer voller Bücher in die DDR zu schmuggeln, eine Empfehlung an die Gewerkschaft Wissenschaft des FDGB als „Interessenten für den Sozialismus“. Die Einfuhr von Büchern in die DDR war damals – vor dem Bau der Mauer – relativ leicht. Der Interzonenzug fuhr noch über Leipzig, wo man Bücherkoffer im Handgepäck deponieren konnte. In der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf lagerten andere Bücher, die man dort abholte und in Berlin über die Sektorengrenze schmuggelte. Mehrere Zürcher Kommilitonen sind auf diese Weise nach Leipzig gefahren. In Leipzig bildeten sechs Kommilitonen, mit denen wir Freundschaft geschlossen hatten, eine „Bücherhilfskommission“.2 Sie verteilten die Bücher jeweils kurz vor Weihnachten „im Namen der Kirche“. Wer zur „Kirche“ kam, musste sich in eine Reihe stellen, konnte am Tisch ein Buch auswählen und musste sich dann 1  Zitat bei Willi Lange (bearbeitet von Christoph Wunnicke), Such dir einen zweiten Mann: Von Stasihaft in Leipzig und mecklenburgischem Landpastorenleben, Schwerin 2010, 45 f . 2 Zu ihr gehörten: Hans Wilhelm Ebeling, Dr. Günter Haufe, Willi Lange, Hans Voigt, Manfred Werner und Berthold Zehme. Berthold Zehme danke ich für die Korrektur und Ergänzung dieses Manuskripts.

30. Ost-Gänge

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wieder hinten anstellen. Das Ansehen des Landeskirchenamtes sei dadurch, so berichtete einer der Leipziger Kommilitonen, sprunghaft angestiegen. Das ging etwas mehr als zwei Jahre lang gut. Aber auf die Dauer konnte es nicht gut gehen. Im August 1961 wurde die DDR durch die Berliner Mauer abgeriegelt. Die bis 1959 noch relativ freien theologischen Fakultäten der DDR wurden unter der zielbewussten Regie der „fortschrittlichen“ Leipziger Theologin Friederun Fessen, die damals Referentin für Theologie im Staatssekretariat für Hochschulfragen war, gleichgeschaltet. Die theologische Fakultät der KarlMarx-Universität Leipzig musste dabei eine Vorreiterrolle spielen. Am 24. November 1961 wurden vier Leipziger Theologiestudenten wegen „Anstiftung zu staatsgefährdender Hetze“ verhaftet. An Studenten sollte ein Exempel statuiert werden  – zur Einschüchterung auch der Professoren. Es ging um die Verweigerung eines freiwilligen Dienstes in der Nationalen Volksarmee durch die überwiegende Mehrzahl der Leipziger Theologiestudenten, als deren „Rädelsführer“ die Verhafteten herausgepickt wurden. Ihre Verhaftung ist als „Aktion Holzwurm“ in die Zeitgeschichte eingegangen.3 Die Verhaftungen standen nicht im Zusammenhang mit der Bücherhilfsaktion; diese wurde erst im Verlauf des Prozesses bekannt und war dann Gegenstand von langen Verhören.4 Unter den Verhafteten waren nämlich zwei Mitglieder der Bücherhilfskommission, Willi Lange und Hans Voigt. Ein späterer Einblick in die Stasi-Akten zeigte, dass die Übergabe von Bücherkoffern einmal beobachtet worden war. Im Prozess selbst wurde unsere Bücherhilfsaktion nicht thematisiert. Die übrigen Mitglieder der Bücherhilfskommission, Hans Wilhelm Ebeling,5 Manfred Werner, Berthold Zehme und Dr. Günter Haufe wurden zum Glück nicht verhaftet. Günter Haufe, der einzige Schweigsame in jenem vom FDGB organisierten Gespräch, wurde später  – unter dem Nachfolger Fessens  – als Neutestamentler nach Greifswald berufen. Er wurde nicht verhaftet, weil – so vermutete man – sein Chef, der damalige „fortschrittliche“ Leipziger Ordinarius für Neues Testament, Christoph Haufe, seine schützende Hand über ihn gehalten habe. Christoph Haufe, ein Schüler von Johannes Leipoldt, war später mitverantwortlich für die Leitung der zur „Sektion“ gewordenen Fakultät. Zusammen mit dem Kirchengeschichtler Kurt Meier und dem Sozialethiker Hans Moritz bildete er das sog. „Triumvirat“, die Sektionsleitung. Sie war in Leipzig fast allmächtig und weisungsberechtigt.6 Das Fakultätskollegium hatte kaum mehr ein 3 Einen ausführlichen und sehr gut dokumentierten Bericht über die sog. Aktion „Holzwurm“ gibt Friedemann Stengel, Die theologischen Fakultäten in der DDR als Problem der Kirchen‑ und Hochschulpolitik des SED-Staates bis zu ihrer Umwandlung in Sektionen 1970/71, Arbeiten zur Kirchen‑ und Theologiegeschichte 3, Leipzig 1998, 498–507. 4  Willi Lange erzählte, das Verhör, in dem erstmals die Bücherhilfsaktion zur Sprache kam (im Februar 1962), habe 15 Stunden gedauert. 5  Später war Ebeling Pastor an der Leipziger Thomaskirche, nach der Wende Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Kabinett von Lothar de Maizière, der letzten Regierung der DDR. 6  M. E. ist es erstaunlich, in wie vielem die heutigen Post-Bologna Universitäten mit ihren straffen Curricula, geringen Wahlfreiheiten für Studierende, ihren die Fakultäten dominierenden

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Mitspracherecht.7 Christoph Haufe gehörte von Anfang an zu den sog. „fortschrittlichen Theologen“. Wissenschaftlich war er wenig erfolgreich. Seine Habilitationsschrift „Die sittliche Rechtfertigungslehre des Paulus“, in der er zwischen Sittengesetz und Zeremonialgesetzen unterschied, war in der Fachwelt auf allgemeine Ablehnung gestossen.8 Das Buch blieb das einzige Werk, das er geschrieben hat. Natürlich war er Informant der Stasi – jedermann in Leipzig wusste das. Wir sind ihm 1960 begegnet, weil uns unsere Leipziger Kommilitonen eines Tages angsterfüllt meldeten: „Christoph Haufe will Euch sehen!“ Mit sehr beklommenen Gefühlen gingen wir zu ihm nach Hause zum Tee. Nach einer Weile kam er zum Zweck unseres Besuchs und fragte: „Kann ich auch Bücher bekommen?“ Natürlich konnte er das. Dergestalt mitbeteiligt und „mit-hängend“ hat er wohl die Verhaftung seines Assistenten Günter Haufe verhindert. Dadurch hat er wohl auch verhindert, dass die Bücherhilfsaktion zum Gegenstand eines eigenen Prozesses wurde.9 Eine erfolgreiche „Schmiergeldzahlung“!

Zu den Verhafteten gehörte Hans Voigt. Hans war ein stiller und eher introvertierter Student mit einer sehr hohen intellektuellen Begabung. Für ihn wurde die Verarbeitung dessen, was er erleben sollte, besonders schwierig. Am schlimmsten war die zehnmonatige Untersuchungshaft in Leipzig und Waldheim: Isolation in vollkommener Dunkelheit in Leipzig – nur die Kirchenglocken gaben den Inhaftierten einen Anhaltspunkt, welche Tages‑ oder Nachtzeit es war. Einen ersten Kontakt mit ihrem Verteidiger hatten die Verhafteten erst nach fünf Monaten. Auch die „normalen“ Gefängnisse in der DDR, in denen Hans später eingekerkert war, waren furchtbar – nicht einmal über die endgültige Dauer der Haft  – zuerst 3 Jahre und 9 Monate, die nach dem Appellationsprozess auf 2 Jahre (bzw. für Willi Lange auf 20 Monate) reduziert worden waren – wurden die Inhaftierten informiert. Hans Voigt war durch die Haftzeit sein ganzes Leben hindurch gezeichnet. Nach seiner Entlassung im November 1963 war er zunächst Pastor in Freital bei Dresden und Mitglied der sächsischen Landessynode. Er hielt aber das Leben in der DDR auf Dauer nicht aus und emigrierte mit seiner Familie in die Schweiz, wo er in der Kirchgemeinde Zürich-Wipkingen von 1986–2001 ein Pfarramt übernahm. Schliesslich wurde er alkoholsüchtig; seine letzten Lebensjahre lebte er allein in Leipzig, wo er 2014 in grosser Einsamkeit starb. Der andere Verhaftete war Willi Lange. Er hatte als Student  – auf Bitten der Kirche – das Zimmer mit dem epileptischen Theologiestudenten Manfred Fakultätsleitungen und ihren „Controling“-Systemen den damaligen DDR-Universitäten ähnlich sind. Aber das schienen unsere Universitäts-Reformer nicht zu wissen oder zu ignorieren. 7  In Erinnerung blieb mir ein Stossseufzer des damaligen Ordinarius für Altes Testament, Siegfried Wagner: „Wir haben keine Ahnung, wen Herr Moritz zu berufen gedenkt.“ 8  Christoph Haufe, Die sittliche Rechtfertigungslehre des Paulus, Halle 1957. M. E. wurde das Buch damals teilweise falsch eingeschätzt. Im Lichte der Diskussionen um den „New Perspective“ verdiente es eine Neueinschätzung. 9 Am 30. 3. ​1962 stellte die Bezirksverwaltung Leipzig, Abteilung 9 einen „Festnahmevorschlag“ für Manfred Werner, Berthold Zehme und Hans Wilhelm Ebeling aus (Stasi-Dokument 000229). Ihm wurde nicht stattgegeben. Warum nicht, wissen wir nicht.

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Potschka geteilt, der Informant der Stasi war ([IM = informeller Mitarbeiter] „Stern“). Von diesem Mit-Studenten schreibt Lange in seinem eindrücklichen kleinen Buch unter dem Titel „Such dir einen zweiten Mann“, in dem er Erinnerungen an seine Gefängniszeit niederschrieb: „Er hatte ein schweres Schicksal. Seine Eltern wurden vor seinen Augen erschossen, woraufhin er in russischen Waisenhäusern aufwuchs. Ein russischer Major in Deutschland war sein Vormund. Für ihn war die DDR Vaterland.“10 Dass die Stasi Menschen mit einem Gebrechen unter Druck setzte und zur Mitarbeit als IM zwang, war, wie sich später zeigte, eine häufige Taktik. Willi aber ahnte davon nichts und sprach sehr offen mit seinem Zimmergenossen. So wurde er verhaftet und sass bis Ende Juli 1963 im Gefängnis, zuerst auch er in völliger Isolation in der U-Haft. Am schlimmsten für ihn war die völlige Isolation; es gab niemand, mit dem er sprechen konnte. Für das Schreiben und Empfangen von Briefen galt die Regel: 20 Zeilen pro Monat. Er spricht in seinem Buch von „teuflischer Einsamkeit“.11 Er habe in dieser Hölle alles verloren, auch seinen Glauben. Nach seiner Haftentlassung konnte er sein Studium fortsetzen und wurde Pastor in Dreveskirchen bei Wismar. Über ihre Haftzeit mit anderen Menschen sprechen durften die Verhafteten nicht; sie konnten dies erst nach der Wende tun. Bei der Entlassung aus dem Zuchthaus war ihnen ein absolutes Schweigegebot auferlegt worden. Willi schrieb in seinem Buch: „Diktatur ist, wo man lernt, den Mund zu halten“.12 Er ist 2014 verstorben. Was soll man im Rückblick angesichts eines solchen Leidens sagen? Waren wir naseweis und naiv? Haben wir Leiden über Unschuldige gebracht? Vielleicht – im Nachhinein ist man immer klüger. Dankbar bin ich aber dafür, dass keines der Mitglieder der damaligen Leipziger „Bücherhilfskommission“ das so sieht und uns je auch nur den Hauch eines Vorwurfs gemacht hätte. Haben wir die Grosszügigkeit der „Gewerkschaft Wissenschaft“ des FDGB schamlos missbraucht und ausgenützt? Natürlich haben wir das – und darauf bin ich sogar stolz. Immerhin muss ich sagen, dass der FDGB sein Geld nicht ganz nutzlos ausgegeben hat. Als damals noch recht bürgerlich politisierender Theologiestudent habe ich in der DDR als „Interessent für den Sozialismus“ einiges gelernt: Ich habe gelernt, dass es verschiedene Arten von Freiheit gibt – nicht nur die Freiheit der Meinungsäusserung und die Freiheit zu kaufen und zu verkaufen, sondern z. B. auch die Freiheit eines Arbeiters, in die Ferien fahren zu können und die Möglichkeit, im Zentrum einer Grossstadt mit bezahlbaren Miet-

10  Lange, Such dir einen zweiten Mann (o. Anm. 1), 40. Mit dem „zweiten Mann“ ist wohl ein Gesprächspartner gemeint, den Willi so sehr suchte. Absolute Schweigepflicht über die Haftzeit bestand ja für die Verhafteten auch nach ihrer Freilassung. 11  Lange a. a. O. (o. Anm. 1), 37. 12  Lange a. a. O. (o. Anm. 1), 12.

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V. Biographische und autobiographische Studien

preisen wohnen zu können.13 Ich habe in der DDR Sichtweisen der Geschichte kennen gelernt, die mir, der ich auch ein Kind des „Kalten Kriegs“ war, völlig neu waren. Dafür bin ich dem FDGB dankbar. I. 2  Sondergenehmigungsnummern Nach der Verhaftung der „Holzwurm“-Studenten blieb nur noch die Möglichkeit, Bücher über sog. „Sondergenehmigungsnummern“ von Professoren-Kollegen in die DDR zu schicken. Versuchte man, Pakete ohne eine solche Nummer zu schicken, so kamen sie meistens zurück, weil die geschickten Bücher in der „Postzeitungsliste“ der DDR nicht enthalten seien. Manchmal wurden die Bücher auch einfach zurückbehalten und vermutlich an das „Zentralantiquariat der DDR“ in Leipzig gegeben, wo man sie dann mit Westgeld kaufen konnte. Einmal bekamen wir einen Dankbrief von Studierenden aus dem „Bruderland“ Kuba. Der sicherste Weg waren die Sondergenehmigungsnummern. Viele Bücher wurden so in die DDR geschafft. Vom ersten Band meines Matthäuskommentars14 liess ich – statt eines Autorenhonorars – eine ‚Grauauflage‘ für die DDR herstellen. 800 Exemplare fanden vor allem auf solche Weise den Weg in den Osten Deutschlands. Günter Haufe (Leipzig und Greifswald), Heinrich Fink (Berlin) und Traugott Holtz (Greifswald und Halle) sowie Manfred Weise (Jena), aber auch viele andere Kollegen waren mit ihren Sondergenehmigungsnummern sehr grosszügig. Heinrich Fink kenne ich seit Anfang der Siebzigerjahre. Seine Geschichte ist zu bekannt, als dass ich sie hier wiederholen müsste. Ich beschränke mich auf einige persönliche Eindrücke. Obwohl er auffallend häufig zu Gastvorlesungen z. B. in der Schweiz war, war er kein bedeutender Wissenschaftler. Geschrieben hat er fast nichts.15 Für mich war er wichtig, weil er ein unglaublich grosses Beziehungsnetz hatte. Durch ihn habe ich z. B. den Althistoriker Heinz Kreissig (1921–1984) kennen gelernt, einen grossen Gelehrten, der zwar überzeugter Marxist war, aber mit den Verhältnissen im „realen Sozialismus“ nicht einverstanden war und sich darum an die Akademie der Wissenschaften als Refugium zurückgezogen hatte. Bei uns im Westen kannte ihn damals kaum jemand, trotz seiner wichtigen Werke zur Geschichte des Hellenismus,16 zu Josephus und zum 13  Allerdings war der Preis dafür hoch: In der Spätzeit der DDR war ein grosser Teil der Altbausubstanz derart verfallen, dass er abgerissen werden musste. Es gab Häuser, die nur noch durch einen überdachten „Eingangskanal“ betreten werden konnten; die Gefahr, dass Ziegel auf den Kopf fielen, war zu gross. 14  Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I / ​1, Zürich / ​Neukirchen 1985. 15  Seine Habilitationsschrift (Heinrich Fink, Karl Barth und die Bewegung Freies Deutschland in der Schweiz, Berlin 1978) blieb ungedruckt. Von seinen wenigen gedruckten Veröffentlichungen kenne ich nur Heinrich Fink (Hg.), Stärker als die Angst. Den 6 Millionen, die keinen Retter fanden, Berlin 1968. 16 Heinz Kreissig, Die sozialökonomische Situation in Juda zur Achämenidenzeit, SGKAO 7, Berlin 1973; Ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Seleukidenreich, SGKAO 16, Berlin 1978; Ders., Geschichte des Hellenismus, Berlin 1982.

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Jüdischen Krieg 66–70.17 Beeindruckt hat mich Kreissig nicht nur, weil er ein dialogfähiger, kritischer und selbstkritischer Marxist war, sondern auch durch die Art und Weise, wie er antike Mythen einer grossen Öffentlichkeit nahebrachte.18 – Heinrich Fink führte ein offenes und gastfreundliches Haus. Er war Vater eines behinderten Kindes, für das in der DDR sehr gut gesorgt wurde. Fakultätspolitisch versuchte er, zwischen der „SED-Fraktion“, der „CDU-Fraktion“ und den „parteilosen“ Kollegen19 zu vermitteln. Mit seiner „Sondergenehmigungsnummer“ hat er sehr viel Gutes getan. Menschlich habe ich selbst nie etwas Negatives von ihm erfahren; ich war allerdings angesichts seiner guten Beziehungen zum Staat und seiner häufigen Westreisen auf der Hut. – Es gab in der DDR unter den mit der „Stasi“ kollaborierenden Theologen viele, die ich nicht einfach als „schwarze Schafe“ bezeichnen würde. Heinrich Fink gehört für mich auch zu den „gesprenkelten Schafen“.20

I. 3  Das Kooperationsabkommen Bern–Halle Seit etwa 1984 bestand ein Kooperationsabkommen zwischen der Theologischen Fakultät Bern und derjenigen der Martin-Luther Universität Halle. Sein Architekt war Traugott Holtz. Ihm war es zu verdanken, dass die Berner Fakultät ein Abkommen mit einer Universität in der DDR abschliessen konnte, das bis zur Wende, durch die es überflüssig wurde, problemlos funktionierte. Zu seiner Paraphierung und Unterzeichnung wurde ich nach einer Vorlesung an der Humboldt-Universität in den „Palast der Republik“ gebeten. Dem mich begleitenden Kollegen Günter Baumbach wurde bedeutet, er möge in der Kantine bleiben, während ich in einen fensterlosen Raum in einem der oberen Stockwerke geführt wurde. Dort sass ich dem stellvertretenden Staatssekretär für Hochschulwesen gegenüber. Dieser bekundete das grosse Interesse der DDR an wissenschaftlicher Zusammenarbeit mit dem neutralen westlichen Ausland und bedauerte zugleich, dass ein solches Abkommen für Naturwissenschaftler nicht möglich sei, weil DDR-Naturwissenschaftler im Westen überall für Spione 17  Heinz Kreissig, Die sozialen Zusammenhänge des Judäischen Krieges: Klassen und Klassenkampf im Palästina des 1. Jh., SGKA 1, Berlin 1970; Ders. (Hg.), Flavius Josephus, Geschichte des Judäischen Krieges, Reclam UB 359, Leipzig 21974. 18  Heinz Kreissig, Der steinerne Mann und andere Erzählungen aus dem alten Orient, Berlin 1972; Ders. u. a., Sagen und Epen der Welt, Berlin 1977; Ders., Die Abenteuer des Prinzen von Magada, Berlin 21986. Diese Bände, wunderbar illustrierte Bildbände, erschienen im Berliner Kinderbuchverlag. 19  Der Kern der „SED-Fraktion“ bestand aus dem Ehepaar Hanfried und Rosemarie Müller-Streisand. Wichtigster Exponent der (Ost‑)CDU-Fraktion war der langjährige Dekan Hans Hinrich Jenssen. Zu den „partei-ungebundenen“ Kollegen gehörten z. B. die beiden Neutestamentler Günter Baumbach und Hans-Martin Schenke, die sich nie mit der Stasi einliessen. Zu Schenke vgl. Hans-Gebhard Bethge, Hans Martin Schenke – Erinnerungen an den Lehrer, Forscher und Freund, Zeitschrift für Antikes Christentum 9 (2015), 53–63. 20 Friedemann Stengel, Partizipation an der Macht. Zur Motivlage Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit an den Theologischen Fakultäten der DDR, ZThK 106 (2009), 407–433 zeigt eindrücklich, wie verschieden die Hintergründe und Motivlagen der IM-s waren.

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gehalten würden. So lasse man halt die Theologie die Vorreiterin spielen, in der Hoffnung, dass solche Abkommen Schule machten. (Was er nicht sagte, war, dass die überdurchschnittliche Reisefreiheit, die akademische Theologen in der DDR genossen, im Westen auch den Eindruck erwecken sollte, die DDR sei ein gegenüber den Kirchen tolerantes Land). Das Abkommen, dessen Text wir dann paraphierten, sah ein Austauschkontingent von zwei Monaten pro Jahr für examinierte Wissenschaftler und Dozenten (also nicht für Studierende!) vor. Es war „devisen-neutral“: Die entsendende Fakultät hatte zu bestimmen, wer für wie lange an die Partnerfakultät gehen solle; sie hatte für die Reisekosten aufzukommen. Die empfangende Fakultät war für die Aufenthaltskosten verantwortlich. Primärer Zweck der Austauschbesuche waren Forschung und Gastvorlesungen. Zum Schluss gab mir der Staatssekretär seine private Telefonnummer und sagte: „Wenn einmal ‚unsere Stasi‘ denjenigen, den die Hallenser Fakultät nach Bern schicken möchte, nicht ausreisen lässt, so telephonieren Sie mir bitte sogleich; ich bringe das dann in Ordnung.“ Das Fall ist tatsächlich einmal eingetreten. Ich habe deswegen dem Staatssekretär telephoniert, und innert Wochenfrist war der Kollege, dem die Ausreise verweigert worden war,21 in Bern. Das Ganze hat mich beeindruckt. Es gab in der Spätzeit der DDR im Regierungsapparat auch Leute, die ernsthaft darum bemüht waren, „frische Luft“ in das Land zu bringen. Eine kleine Geschichte, die durch dieses Abkommen möglich wurde, scheint mir noch erzählenswert. Wir haben uns schon im nächsten Jahr bei den Hallensern darüber beklagt, dass Berner Wissenschaftler in Halle kaum arbeiten könnten, weil es dort keine Photokopiermöglichkeiten gäbe. Die Hallenser schlugen vor, wir sollten bei den DDR-Behörden die Einfuhr eines Photokopiergerätes beantragen. Tatsächlich erhielten wir nach relativ kurzer Zeit eine Einfuhrgenehmigung für ein solches Gerät. Ein Assistent reiste mit dem gekauften Gerät nach Halle; es wurde dort im Dekanat aufgestellt. Offensichtlich war es damals das einzige Photokopiergerät in der Universität Halle; Photokopiergeräte waren verboten, da mit ihrer Hilfe „unerlaubte Druckerzeugnisse“ hätten verbreitet werden können. Später hörten wir aus dem Dekanat, dass dieses Gerät das Ansehen der Theologischen Fakultät wesentlich gesteigert habe, weil es immer wieder vorgekommen sei, dass die Sekretärin des Rektors vorbeigekommen sei und gefragt habe, ob sie auch einmal eine Photokopie machen dürfte … Meinen Freund Traugott Holtz habe ich bei meiner ersten Reise nach Greifswald (mit einem Doppelstockzug der Deutschen Reichsbahn – Doppelstockzüge gab es damals nur in der DDR!) – kennen gelernt, wo er von 1965 bis zu seiner Berufung nach Halle 1971 Neues Testament lehrte. Holtz gehört zu den führenden Gelehrten der neutestamentlichen Wissenschaft der DDR. Aber auch er gehört zu denjenigen, die ich im Rückblick als „gesprenkeltes Schaf“ bezeichnen würde. Er war IM der Stasi, wie viele, von denen 21  Der Grund der Verweigerung bestand darin, dass der Bruder des Betreffenden zum (in der DDR überaus grossen!) Kreis der „Geheimnisträger“ gehörte.

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man es wusste, ahnte oder nicht wusste. Aber er ist der Einzige, der mir dies selbst gesagt hat: Meine Überraschung war gross, als Traugott Holtz mich 1991 anrief und sagte: „Uli, ich war Mitarbeiter der Stasi; und ich will, dass Du das von mir selbst erfährst, und nicht aus der Zeitung.“ Holtz hat seine Einflussmöglichkeiten wohl immer überschätzt. Nach seinen Aussagen ist er schon in Greifswald IM geworden, weil er irrigerweise dachte, einer in der Fakultät müsse es ja machen und ihm könnten sie am wenigsten anhaben, da er ohnehin zum Reisekader gehöre. Über seine Gespräche mit der Stasi habe er immer den jeweiligen Dekan informiert. In der späteren Zeit, als er Neutestamentler in Halle war, fiel dies allerdings nicht mehr ins Gewicht, weil es dort manche IM-s gab. Als IM hat er sicher auch manches Gute bewirkt, z. B. Studierende in schwierigen Situationen verteidigt22 und unser Berner Kooperationsabkommen mit Halle ermöglicht. Eine grosse Naivetät und Selbstüberschätzung war es, dass er sich nach der Wende zum Prorektor der Universität Halle wählen liess. Umso tiefer war dann sein Fall. Er wurde entlassen und fristete sein Leben als gelegentlicher Gastdozent an westlichen Universitäten. Heute wird er gerne totgeschwiegen – auch keinen Wikipedia-Artikel gibt es über ihn. Das hat dieser grosse Gelehrte nicht verdient.

In den achtziger Jahren wurde der Niedergang der DDR immer deutlicher sichtbar. Er zeigte sich zunächst ökonomisch: Die Devisenknappheit des Landes wurde immer katastrophaler: Alles wurde gegen Westgeld verscherbelt, von Pflastersteinen historischer Altstädte bis zu Bürgern, welche beim Versuch, in den Westen auszureisen, verhaftet wurden und dann von der Bundesrepublik aus den DDR-Gefängnissen freigekauft wurden. Alle Devisen waren willkommen, auch solche von westlichen Kirchen, welche auf diese Weise zahllose Kirchen in der DDR vor dem Verfall retten und restaurieren konnten, unter der einzigen Bedingung, dass der Dom von Berlin sich auch darunter befinde. Alles war gegen Westgeld käuflich, auch Autos, auf die normale DDR-Bürger etwa zwanzig Jahre lang warten mussten. Die Glaubwürdigkeit des Regimes wurde dadurch natürlich untergraben. Überzeugte Marxisten, die wirklich glaubten, was sie sagten, habe ich in jener Spätzeit kaum noch getroffen. Die meisten DDR-Bürger lebten ein Doppelleben: Während sie tagsüber ihren sozialistischen „Bürgerpflichten“ nachkamen, schauten sie abends westliches Fernsehen, die einzige für sie glaubhafte Informationsquelle. Der ökonomische Niedergang war überall sichtbar: im Verfall der Altbausubstanz, in den Bäumen, die auf den Dächern vieler historischer Gebäude und auch mancher Kirchen wuchsen und in den grossen ökologischen Schäden: in verwüsteten Braunkohlegebieten, vergifteten Flüssen, von Pestiziden vergifteten Böden und entsprechenden Früchten und in sterbenden Wäldern. Der politische Druck war nicht mehr so hart wie in den früheren Jahrzehnten. Die Menschen äusserten sich freier. So gab es viele Anzeichen dafür, dass die DDR in ihrer jetzigen Form nicht mehr lange leben würde. Zu gross war die Entfremdung zwischen Staat und 22  Ein Beispiel gibt Stengel, Partizipation (o. Anm. 20), 426, der Holtz zum Typus der „Taktiker“ rechnet.

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Bürgern; zu sehr hatten sich die Regierenden, zu denen nur Erfolgsmeldungen drangen, in ihrer Scheinwirklichkeit isoliert. Die Erziehung zum „sozialistischen Menschen“ war vollkommen gescheitert. Im getrennten Deutschland, in dem sich sogar die deutsche Sprache in verschiedene Richtungen zu entwickeln begann, gab es wenigstens ein Wort, das für alle Deutschen denselben Sinn hatte, nämlich „Deutschland“. Damit war die Bundesrepublik, also Westdeutschland gemeint – und nur sie. So kam für mich der Zusammenbruch der DDR nicht unerwartet. Eine Überraschung war nur das „Wie“ und das unerwartet schnelle „Wann“.

II. Nach der „Wende“: Die Osteuropa-Aufbauarbeit der „Studiorum Novi Testamenti Societas“ (SNTS) In der SNTS gibt es seit 1996 eine Osteuropakommission,23 die sich die Aufgabe gestellt hatte, den in der Zeit des Kommunismus in den meisten osteuropäischen Ländern aus den Universitäten verdrängten und teilweise im Untergrund arbeitenden Neutestamentlern, vor allem den Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern zu helfen, ihnen für ihre Arbeit notwendige Arbeitsmittel zu verschaffen und sie mit westlichen Universitäten zu vernetzen. Die Situation in den einzelnen Ländern war dabei sehr verschieden: In der DDR, dem „Schaufenster des Ostblocks für den Westen“, war viel möglich: Theologie wurde nach wie vor an den Universitäten gelehrt und die Theologen blieben mit dem Westen gut vernetzt. Relativ gut war die Situation auch in einigen katholischen Ländern, vor allem in Polen, wo die Kirche sehr stark war: Die Kontakte mit Rom wurden nie unterbunden; viele Bibelwissenschaftler aus jenen Ländern konnten in Rom ausgebildet werden. Relativ gut hatten es die Protestanten in der Tschechoslowakei: ihre Ausbildungsstätte war zwar nicht mehr Teil der Universität; sie konnte aber ihre Arbeit weiterführen. Sie war vor allem mit den DDR-Universitäten eng verbunden. Schwieriger war die Situation in Ungarn, wo sowohl die katholische als auch die protestantischen Kirchen vom staatlichen Sicherheitsapparat extrem stark infiltriert waren. Die Situation der orthodoxen Kirchen war im ganzen viel schwieriger: In allen Ländern, in denen es vor dem zweiten Weltkrieg theologische Fakultäten an den Universitäten gab, wurden diese zu kirchlichen Ausbildungsstätten. Kontakte zu westlichen orthodoxen Kirchen, vor allem nach Griechenland, waren nur spärlich möglich. Neuere theologische Literatur gab es fast keine. Nach der Wende wurden alle diese Ausbildungsstätten wieder Fakultäten ihrer Universitäten. Sehr früh geschah dies in Rumänien und Bulgarien, sehr spät in Serbien. Das mehrheitlich katholische Ungarn und auch Polen folgte dem in den katho23

 Heute: „Liaison Committee for Eastern Europe“.

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lischen Ländern Südeuropas üblichen System: Es wurden „katholische Universitäten“ gegründet; in Ungarn auch „protestantische Universitäten“. In Russland hat es nie theologische Fakultäten an Universitäten gegeben; die Theologenausbildung fand an den „Geistlichen Akademien“ in St. Petersburg und Sergijew Possad (in kommunistischer Zeit: Sagorsk) statt. Diese durften nach einer längeren Periode der Kirchenverfolgung nach dem zweiten Weltkrieg, dem „Grossen Vaterländischen Krieg“, im Jahre 1948 wieder eröffnet werden, waren aber völlig isoliert und hatten kaum Bücher, denn ihre Bibliotheken waren in der Revolution zum Teil zerstört worden. Neuere Bücher durften sie sich nicht schenken lassen. – Religion resp. Theologie wird heute in Russland aber auch an zahlreichen privaten Universitäten unterrichtet. Extrem schwierig war die Situation für die katholischen und orthodoxen Christen in Albanien: Albanien war nach offizieller Doktrin „atheistisch“: Es blieb ihnen nur der Untergrund. Im Untergrund lebten auch alle unierten Christen in Rumänien, Weissrussland und in der Westukraine. In den Untergrund gezwungen wurden ferner die Lutheraner in Estland und Lettland. Am Beginn der Osteuropaarbeit der SNTS stand eine kleine Vorkonferenz, die Petr Pokorný vor dem ersten Jahreskongress der SNTS in Osteuropa organisierte, nämlich 1995 in Prag. Zu dieser Vorkonferenz hatte Pokorný mit Hilfe der „United Bible Society“ einige Kollegen aus anderen osteuropäischen Ländern einladen können, darunter Ivan Dimitrov (Sofia), Anatoly Alexeev (St. Petersburg) und Vasile Mihoc (Sibiu). Vor allem in Abendgesprächen wurden die ersten Ideen für den Wiederaufbau der neutestamentlichen Wissenschaft in Osteuropa entwickelt. Im folgenden Jahr, 1996, erfolgte anlässlich des SNTSKongresses in Strasbourg der nächste Schritt: James D. G. Dunn (Durham), Hans Klein (Sibiu), Georgios Galitis (Athen) und Karl Wilhelm Niebuhr (Jena) stiessen zur Arbeitsgruppe, die sich formell als „Osteuropa-Kommission“ der SNTS konstituierte und sich fortan selbst ergänzte. Weitere Mitglieder, die ihr fast von Anfang an angehörten, waren Howard Kee, David Moessner (beide USA), Peder Borgen (Norwegen), Giuseppe Segalla (Italien), Lauri Thuren (Finnland) und Petros Vassiliades (Griechenland). Vorsitzender war Ulrich Luz. Heute wird sie von Karl Wilhelm Niebuhr und Christos Karakolis geleitet. Was waren die Ideen, die wir entwickelten? Es waren im Wesentlichen zwei: II. 1  Die europäischen Ost-West-Konferenzen. Die erste war der Plan von regelmässigen, unter der Aegide der SNTS etwa alle drei Jahre stattfindenden Konferenzen von orthodoxen und westlichen Neutestamentlern. Zu diesen Konferenzen sollten nicht zuletzt Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern aus osteuropäischen Ländern eingeladen werden, welche an den „grossen“ Neutestamentlerkongressen in westlichen Ländern aus finanziellen und anderen Gründen nicht

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teilnehmen konnten. Sie sollten dort ihre Arbeiten zur Diskussion stellen und Kontakte mit anderen Kolleginnen und Kollegen herstellen können. Neben der Vernetzung mit westlichen Kollegen und Universitäten war uns vor allem auch die ökumenische Vernetzung innerhalb der einzelnen osteuropäischen Länder wichtig. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass sich Angehörige der verschiedenen Konfessionen oder konfessionslose Neutestamentler in manchen osteuropäischen Ländern sehr oft gar nicht persönlich kannten. So sind in verschiedenen Ländern ökumenische Arbeitskreise entstanden. Gerade in solchen orthodoxen Ländern, in denen die Kirchenführung der Ökumene reserviert gegenüberstand (wie z. B. in Bulgarien), war das wichtig. Eine Grundidee war auch, dass diese Konferenzen immer in osteuropäischen Ländern stattfinden sollten. Zu ihnen gehörten immer eine von den Konferenzteilnehmern gestaltete Morgen‑ und Abendandacht und ein der Liturgie und der Begegnung mit Kirchenvertretern gewidmeter Tag. Die westlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten so einen Einblick in den liturgischen Reichtum und das geistliche Leben der orthodoxen Kirchen bekommen. Wichtig waren auch die Abende, die in der Regel nicht der Arbeit gewidmet waren, sondern Raum boten für Gespräche und Berichte aus einzelnen Ländern. Solche Konferenzen fanden in Neamţ (Rumänien) (1998), im Kloster Rila (Bulgarien) (2001), in St. Petersburg (2005), im Kloster Sâmbăta de Sus (Rumänien) (2007), in Minsk (Weissrussland) (2010), in Belgrad (2013) und in Moskau (2016) statt. Die Konferenzbände wurden – zum Teil durch weitere Referate ergänzt – in der Reihe WUNT bei Mohr-Siebeck publiziert.24 Da diese Bände für osteuropäische Geldbeutel unerschwinglich teuer sind, strebten wir immer auch eine Publikation oder Teilpublikation in osteuropäischen Sprachen an, was uns zu einem grossen Teil gelungen ist. – Ergänzt wurden diese OstWest-Konferenzen durch Vor-Konferenzen vor manchen SNTS-Kongressen. Zu ihnen konnten wir osteuropäische Nachwuchswissenschaftler einladen, welche dann als Gäste der SNTS auch den Hauptkongress besuchen konnten. Ergänzt wurden sie auch durch kleinere Regionalkonferenzen. Hier war vor allem das Biblische Zentrum der Universität von Cluj-Napoca sehr aktiv. Die Wirkung der Ost-West Konferenzen war zum Teil sehr gross. Das gilt vor allem für die erste in Neamţ. Sie fand in einem sehr abgelegenen kirchlichen Zentrum in der rumänischen Moldau – jenseits der Karpaten – statt. Das rumä24  Neamţ: James D. G.  Dunn u. a. (Hg.), Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive, WUNT 130, Tübingen 2000; Rila: Ivan Z. Dimitrov u. a. (Hg.), Das Alte Testament als christliche Bibel in orthodoxer und westlicher Sicht, WUNT 174, Tübingen 2004; St. Petersburg: Anatoly A. Alexeev u. a. (Hg.), Einheit der Kirche im Neuen Testament, WUNT 218, Tübingen 2008; Sâmbăta de Sus: Hans Klein u. a. (Hg.), Das Gebet im Neuen Testament, WUNT 249, 2009; Minsk: Christos Karakolis u. a. (Hg.), Gospel Images of Jesus Christ in Church Tradition and Biblical Scholarship, WUNT 288, Tübingen 2012; Belgrad: Predrag Dragutinovic u. a. (Hg.), The Holy Spirit and the Church according to the New Testament, WUNT 354, 2016.

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nische Fernsehen war immer dabei. Eine Zeitlang nahm auch Daniel Ciobotea, damals Erzbischof von Iași und heute rumänischer Patriarch, an dieser Konferenz teil. Das gilt auch für die Konferenz in Belgrad, welche den Aufstieg Belgrads zu einem wichtigen Forschungsplatz für orthodoxe Bibelwissenschaft verstärkte. Manchmal waren mit solchen Konferenzen auch politische Risiken verbunden. Das galt vor allem für diejenige in Minsk (2010) und diejenige in Moskau (2016). Im „Eastern European Liaison Committee“ (EELC) wurden sie im Voraus intensiv diskutiert. Im Rückblick auf die Konferenz in Minsk lässt sich sagen, dass wir sicher von den staatlichen Behörden da und dort instrumentalisiert worden sind. Aber die Möglichkeiten, Brücken zu bauen und Türen zu öffnen, die Chancen, mit Menschen, auch mit Studierenden zu sprechen. waren weit wichtiger als diese Schwierigkeit. Die Moskauer Konferenz von 2016 in dieser Hinsicht zu evaluieren, ist vielleicht noch zu früh. Aber als positive Folge dieser Konferenz wird es eine Kooperation zwischen dem EECL und der Moskauer Aspirantura / ​Doktorantura geben, welche jedes zweite Jahr eine Regionalkonferenz in Russland organisieren möchte, erstmals 2018. II. 2  Die „Biblischen Bibliotheken“ Die zweite Idee, die auf die Vorkonferenz in Prag 1995 zurückgeht, war die Gründung von „Biblischen Bibliotheken“, welche den Studierenden, den Nachwuchswissenschaftlern und den Kollegen in den vom Kommunismus verwüsteten Ländern wenigstens einige der Ressourcen zur Verfügung stellen sollten, welche sie so dringend benötigten. Inspiriert wurde dieser Gedanke durch die St. Petersburger „Bibliotheca Classica Petropolitana“, die 1993 durch den klassischen Philologen Alexander Gavrilov in den Räumen des klassischen Gymnasiums in St. Petersburg gegründet wurde und seither – unterstützt durch einen internationalen Trägerkreis – stetig gewachsen ist. Diese Bibliothek veröffentlicht auch ein Jahrbuch in internationalen Sprachen, zwei russische Zeitschriften und andere Publikationen.25 Für uns Neutestamentler hätte zwar die Möglichkeit bestanden, eine ähnliche Bibliothek in einer kirchlichen Institution zu gründen. Das wollten wir aber nicht: Vielmehr schienen uns die staatlichen Universitäten die beste und vor allem, die für alle an der Bibel Interessierten unabhängig von ihrer weltanschaulichen oder kirchlichen Herkunft offenste Möglichkeit zu sein. Dass wir St. Petersburg und Sofia als Standorte der beiden Bibliotheken wählten, war ein zufälliger Entscheid, der mit der Herkunft der Teilnehmer an jener Vorkonferenz in Prag zusammenhing. Zu ihnen kam sehr viel später die Biblische Bibliothek Belgrad hinzu. In Rumänien wurde das

25  Vgl. die englisch-sprachige Homepage www.bibliotheca-classica.org. Die internationale Zeitschrift „Hyperboraeus“ ist über den Verlag C. H. Beck in München erhältlich.

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„Centrum Biblicum“ von vier theologischen Fakultäten an der Babes Bolyai Universität in Cluj-Napoca wichtig.26 Am Anfang ging alles schnell voran. Das Committee der SNTS genehmigte an seiner Sitzung in Strasbourg 1996 diese Pläne und gab grünes Licht für Verhandlungen im Namen der SNTS. Unsere – damals in Osteuropa „revolutionäre“ – Idee war, dass die Biblischen Bibliotheken „open-shelves-libraries“ sein sollten, die den direkten Zugang zu den Büchern und das Stöbern in ihnen ermöglichten. Sie sollten für jedermann offen sein; auch für Interessierte, die nicht Angehörige der Träger-Institutionen waren. In Verträgen zwischen den Gast-Institutionen und der SNTS wurden die Einzelheiten geregelt: Die SNTS war verantwortlich für die Bücher, die gastgebende Institution für ihre bibliothekarische Verarbeitung, für Büchergestelle, Arbeitsplätze etc. In Sofia lief alles reibungslos, weil der dortige Neutestamentler, Prof. Ivan Dimitrov, damals zugleich Vizerektor der Universität war. Die Bibliothek wurde im obersten Geschoss des Fakultätsgebäudes eingerichtet. In St. Petersburg war es insofern schwieriger, als es an der staatlichen Universität keine theologische Fakultät gab. Die damalige Rektorin der Universität, Prof. Ludmila Verbitskaya, unterstützte aber unsere Idee sehr grosszügig und warmherzig. Zu Beginn war die dortige Bibliothek eine unabhängige Institution, welche dem Rektorat direkt unterstellt war. Namhafte Gelehrte, z. B. der klassische Philologe Alexander Zaitsev oder der Patristiker Georg Kretzschmar, der damals Erzbischof der Lutherischen Kirche war, gehörten ihrem wissenschaftlichen Beirat an. Erste Direktorin war die Byzantinistin und Albanistin Fatima Eloeva, der die Bibliothek sehr viel verdankt. Der Slawist und Neutestamentler Anatoly Alexeev, der später Direktor der Bibliothek wurde, war damals noch in der Akademie und in der Bibelgesellschaft tätig. Nun begann die Arbeit. Sie bestand zunächst in der Geldsuche. Unser Ziel war, in den ersten fünf Jahren für jede Bibliothek 150 000 $ zu sammeln. Dieses Ziel haben wir nicht erreicht. Unzählige kleinere, nicht zuletzt kirchliche Stiftungen haben unser Projekt unterstützt. Mit grossen Beträgen unterstützten uns die Krupp-Stiftung und das Princeton Theological Seminary. Aber die ganz grossen Stiftungen wiesen unsere Gesuche ab, vermutlich, vermutlich, weil sie sich – übrigens, wie sich zeigen sollte, mit vollem Recht – sagten, es bestünde keine Chance, dass sich diese Bibliotheken nach einer angemessenen Anlaufzeit selbst finanzieren könnten. Zu den Erfahrungen, für die wir dankbar sind, gehörte auch die Unterstützung seitens der theologischen Verlage mit Geschenken und Rabatten von bis zu 60 % – der Neukirchener Verlag und Eerdmans Publishing House seien hier besonders erwähnt. Verschiedene ältere Kollegen schenkten ihre Privatbibliotheken den Biblischen Bibliotheken. Ihr Transport war teilweise 26  Vgl. die von der Universität Genève verwaltete Homepage www.unige.ch / t​heologie / ​ bibliothecabiblica / ​

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schwierig, vor allem nach Russland; der Umgang mit den russischen Zollämtern blieb ein Dauerproblem. Gescheitert sind wir mit der Bitte, alle Mitglieder der SNTS sollten von ihren eigenen Büchern je ein Exemplar an die beiden Bibliotheken schicken. Das hat nie geklappt. Trotzdem identifizierten sich sehr viele Neutestamentlerinnen und Neutestamentler mit „unseren“ Bibliotheken: Viele Kollegen, namentlich in der Schweiz und in Deutschland, bezahlten jährlich einen kleinen Betrag für die beiden Bibliotheken. Viele machten auch Besuche in Sofia und St. Petersburg und hielten dort Gastvorlesungen. In St. Petersburg gab es im Jahre 2002 eine überraschende Wendung: Anatolj Alexeev kehrte an die Universität zurück, und es gelang ihm, dort im Rahmen der Philologischen Fakultät ein Departement für Bibelwissenschaften zu errichten. Es bot Kurse in alten Sprachen, eine vierjährige bachelor‑ und eine zweijährige master-Ausbildung an. Jährlich standen ihm sieben gebührenfreie Studienplätze zur Verfügung. Die Bibliotheca Biblica wurde nun zur Departements-Bibliothek. Ein wichtiger Teil der Arbeit der Bibliotheken war die Publikationstätigkeit. Bibelwissenschaftliche Literatur in den Landessprachen fehlte überall. Vor allem das Russische bot hier riesige Chancen nicht nur durch die Grösse des Landes, sondern auch darum, weil russische Bücher in manchen andern slavischen Ländern problemlos gelesen werden können, z. B. in Weissrussland, in Serbien, in der Ukraine oder in Bulgarien. An der Produktion von bibelwissenschaftlicher Literatur in russischer Sprache beteiligte sich die St. Petersburger Bibliothek und ein internationales Herausgebergremium mit einer eigenen Buchreihe mit dem Namen „Bibliotheca Biblica“, die im Verlag des Theologischen Instituts St. Andreas in Moskau erschien. Sein aktiver und initiativer Leiter, Dr. Alexei Bodrov, hat uns immer wieder ermutigt und geholfen und durch Schenkungen dafür gesorgt, dass diese Bücher auch in entlegenen Provinzbibliotheken des Landes, die finanziell grosse Schwierigkeiten haben, vorhanden waren. In dieser Reihe erschienen vor allem Übersetzungen von Einführungsbüchern, die für den akademischen Unterricht wichtig waren, aber auch andere Werke.27 Manche Publikationspläne scheiterten leider, sei es wegen der Höhe der vom Verleger 27  Bis 2012, als die Reihe aus finanziellen Gründen eingestellt werden musste, erschienen russische Ausgaben von Erich Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 2004; Theodore Stylianopoulos, The New Testament. An Orthodox Perspective, Brookline 1999; Eduard Lohse, Paulus, München 1996; James D. G.  Dunn, A New Perspective on Jesus, 2005; Jürgen Roloff, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995; James C. Vanderkam, An Introduction into Early Judaism, Grand Rapids 2003; Demetrios Trakatellis, Authority and Passion, Athen 1987; Petr Pokorny / ​Ulrich Heckel, Einleitung in das Neue Testament, Tübingen 2007; Ulrich Luz, Die Bergpredigt, 2014 (Originalausgabe, welche den Kommentar zu Mt 5–7 von 2002 und eine neu geschriebene Einführung in das ganze Mt-Ev enthält); die russische Ausgabe des Konferenzbandes von Neamts (vgl. o. Anm. 24) und eine um andere grundlegende Aufsätze zur Frage der Einheit der Kirche erweiterte russische Ausgabe des Konferenzbandes von St. Petersburg (o. Anm. 24). Seit 2012 gibt das Departement für Bibelwissenschaften in St. Petersburg Publikationen in St. Petersburger Verlagen heraus.

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benötigten Subsidien, sei es wegen unbezahlbaren Übersetzungsrechten, auf welche gewisse westliche Verlage nicht verzichten wollten. Ein anderes von Mitgliedern der Osteuropakommission der SNTS gefördertes Publikationsprojekt ist die die vom Biblischen Centrum in Cluj-Napoca initiierte und herausgegebene Zeitschrift „Sacra Scripta“, eine rumänische Zeitschrift, welche nur Artikel in internationalen Sprachen publiziert.28 Sie ist wichtig als „Brücke“ für Osteuropäer nach Westen: Sie gibt osteuropäischen Nachwuchswissenschaftler / i​nnen die Chance, durch Artikel in dieser peer-reviewed-Zeitschrift bekannt zu werden, und sie gibt Wissenschaftlern in anderen Ländern die Möglichkeit, Artikel in Osteuropa zu publizieren. II. 3  Zwischenbilanz Nach 20 Jahren Arbeit der SNTS in Osteuropa wage ich eine Zwischenbilanz. Sie kann grösstenteils, wird aber nicht uneingeschränkt positiv ausfallen. Die Ost-West-Konferenzen sind m. E. unverzichtbar geworden: Sie haben osteuropäische Nachwuchswissenschaftler gefördert und in Kontakt zu westlichen Universitäten und Kolle / g​ innen gebracht. Sie haben Brücken geschlagen und ökumenische Verständigung gefördert. Sie haben neue Kontaktnetze in Osteuropa selbst geschaffen: Innerhalb von Osteuropa gibt es tiefe Gräben verschiedener Art, z. B. nationale zwischen Serben und Kroaten, ethnische zwischen Ungarn und Rumänen, oder konfessionelle zwischen Pfingstlern, Orthodoxen, Unierten oder Katholiken. Unsere Arbeit hat dazu beigetragen, dass über diese Gräben viele kleine (und teilweise immer noch viel zu selten begangene) ­Brücken entstanden sind. Unsere Konferenzen haben der besonders der orthodoxen Bibelwissenschaft in Osteuropa eine eigene Stimme gegeben. Und last but not least: Durch diese Arbeit sind unzählige Freundschaften entstanden. Die Wirksamkeit dieser Arbeit zeigt sich auch daran, dass das, was dadurch angestossen wurde, eine Eigendynamik entfaltet hat. Wie steht es mit dem anderen Arbeitsschwerpunkt, den Biblischen Bibliotheken? Auch hier gibt es viel Positives. Dazu gehören die Arbeitsgemeinschaften und Dialoggruppen, die durch sie entstanden sind. Dass es an der Staatlichen Universität St. Petersburg heute ein bibelwissenschaftliches Institut gibt, an dem Bibelwissenschaften unterrichtet und die Bibel erforscht wird, empfinde ich noch heute als kleines Wunder. Aus der Universität Sofia ist die dortige biblische Bibliothek nicht mehr wegzudenken; sie strahlt auch ins benachbarte Mazedonien aus. Auch durch die Publikationstätigkeit vor allem in russischer Sprache konnten wir wichtige Impulse geben. Es gibt also auch hier viel Positives, über das wir uns freuen können. Dennoch sind wir hier an Grenzen gestossen, die ich benennen möchte: 28  Die letzte mir zugängliche Nummer ist Nr. 2017/Heft 1–2. Bestellungen sind erbeten an: Biblical Center, c / o​ [email protected].

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1. Beide Biblischen Bibliotheken haben Nachwuchsprobleme: Die Biblische Bibliothek Sofia wird z. Z. vom Alttestamentler Dozent Ivaylo Naydenow geleitet. Im Neuen Testament sind kaum Nachwuchswissenschaftler vorhanden, welche die Stelle des heute im Ruhestand lebenden „Gründervaters“ Ivan Dimitrov übernehmen könnten. Aus St. Petersburg sind mehrere hochbegabte Nachwuchswissenschaftler in den Westen gegangen und dort in untergeordneten Stellungen tätig, obwohl sie in St. Petersburg Verantwortung übernehmen und eine wichtige Rolle hätten spielen können. Die Gründe für ihre Entscheidungen sind verständlich; aber die Probleme, die sie zurückliessen, sind gross. 2. Das finanzielle Korsett für alle biblischen Bibliotheken ist sehr eng geworden. Sie können das, was wir hoffnungsvoll begonnen haben, kaum weiterführen und müssen Zeitschriften und Reihen abbestellen. An den StandortUniversitäten gibt nur völlig unzureichende Mittel für Bibliotheken, mancherorts sogar gar keine. Die Lust westlicher Geldgeber, für diese Bibliotheken endlos Geld zu spenden, ist verständlicherweise gering. In Russland, wo an sich viel Geld vorhanden wäre, gibt es keine „Sponsoring“-Kultur und keine Tradition von Stiftungen. Alle unsere Versuche, die wir unternommen haben, um in Russland selbst finanzielle Mittel aufzutreiben, sind im Sand verlaufen. 3. Die Zukunft liegt gerade für osteuropäische Bibliotheken in den elektronischen Medien. Aber diese Möglichkeiten haben wir zu spät erkannt und zu wenig genutzt. 4. Die Osteuropaarbeit der SNTS hat nur einen Teil Osteuropas erreicht. Kaum erreicht hat sie die katholischen Länder Polen, Litauen und Kroatien. Die Versuche, Kontakte mit Georgien oder Armenien aufzubauen, blieben sporadisch. Auch die Kontakte, die wir in der Ukraine aufbauen konnten, waren z. T. wenig nachhaltig. 5. Die meisten osteuropäischen Kollegen sind völlig überlastet – mit zu vielen Studierenden, zu vielen kirchlichen und universitären Verpflichtungen und zu hohen Deputaten. Assistenten oder Hilfsassistenten, denen sie z. B. die Betreuung der Bibliotheken übergeben könnten, haben sie kaum. So bleibt ihnen kaum Zeit für eigene Forschung und zur Betreuung ihrer Doktorandinnen und Doktoranden. 6. Dazu kommt, dass nach 1989 die Isolation der Länder Osteuropas überwunden und die Reisemöglichkeiten viel grösser geworden sind. Deshalb ist die Bedeutung der „Biblischen Bibliotheken“ in Osteuropa gesunken. Studienaufenthalte in westeuropäischen Universitätsstädten mit ihren Bibliotheken ersetzen zwar die Bedeutung einer guten Arbeitsbibliothek vor Ort nicht, aber relativieren sie.

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V. Biographische und autobiographische Studien

III. Die „Studiorum Novi Testamenti Societas“ verändert sich Die schönste „Frucht“ der Aufbauarbeit der Osteuropa-Kommission der SNTS besteht m. E. darin, dass sie die alt-ehrwürdige „Studiorum Novi Testamenti Societas“ selbst verändert hat. Die SNTS stand und steht im Ruf, eine zwar ehrwürdige, aber etwas altväterische, traditionelle und wenig dynamische Gesellschaft zu sein. Die Aufnahmekriterien sind nicht leicht zu erfüllen, besonders nicht für junge Wissenschaftler aus Osteuropa oder aus Afrika, Asien oder Lateinamerika, die viel dringendere Aufgaben haben als Bücher oder wissenschaftliche Artikel in englischer, deutscher oder französischer Sprache zu schreiben. Es gibt jetzt zwar in Osteuropa eine grössere Zahl jüngerer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler, deren Traumziel es ist, dereinst Mitglied der SNTS werden zu dürfen. Aber der Weg dahin ist weit und die Messlatte ist hoch. Auch gibt es heute viele andere Möglichkeiten, wo sie sich wissenschaftlich austauschen können. So ist die SNTS bis heute eine Gesellschaft überwiegend weisser, überwiegend englisch‑ oder deutschsprachiger und überwiegend älterer Wissenschaftler geblieben. Und doch hat sich diese SNTS – angestossen durch die erfolgreiche Arbeit ihrer Osteuropakommission – verändert. Die Gesellschaft hat erkannt, dass sie eine weltweite Aufgabe hat, wenn sie eine weltweite Gesellschaft sein will. Heute gibt es nicht nur ein für Osteuropa zuständiges „Liaison-Committee“, sondern auch eines für Afrika, eines für Lateinamerika und eines für den asiatisch-pazifischen Raum. Sie arbeiten mit unterschiedlichen, den Möglichkeiten und Bedürfnissen ihrer Kontinente entsprechenden Methoden. Es gibt heute nicht nur einen Generalsekretär und einen „assistant secretary“, sondern neu einen „Secretary for International Affairs“. SNTS-Kongresse fanden nicht nur in in Europa oder Nordamerika, sondern auch in Israel, Afrika und Australien statt. Solche Kongresse ermöglichten die Durchführung von regionalen Vor-Konferenzen, z. B. zum Thema „Interpreting the Gospel of John in Africa“ in Pretoria 2017. Vor dem SNTS-Kongress in Montreal (2016) fand eine ähnliche Vor-konferenz der süd‑ und mittelamerikanischen Neutestamentler statt.29 Eine lateinamerikanische Regionalkonferenz fand 2012 in Bogotá statt. Regionalkonferenzen, welche das ostasiatisch-pazifische „Liaison-comittee“ organisierte, fanden in Hongkong (2014), Manila (2015) und Kottayam (Kerala) (2016) statt. Gewiss sind das kleine und im Vergleich mit der viel dynamischeren und grösseren „Society of Biblical Literature“ zaghafte Schritte. Aber sie freuen mich.

29  Sie werden in demnächst erscheinen in: Bernardo Estrada / ​Luis G.  Sarasa (Hg.), El Evangelio de Juan. Origen y perspectivas.

31. Was aber hast du, das du nicht empfangen hast? (1 Kor 4,7) (II) Ein Dank an Anselm Grün Dieses Pauluswort ist der wichtigste Bibeltext in meinem eigenen Leben. Er bringt mein eigenes „Selbst“, meinen Glauben und mein Gottesverständnis auf den Punkt. Zunächst möchte ich mich exegetisch an ihn herantasten. Wissenschaftliche Exegese der Bibel ist mein Beruf. Seit vielen Jahren sitze ich in meinem Studierzimmer oder in einer Bibliothek, umgeben von vielen wissenschaftlichen Büchern, die fast alle direkt oder indirekt mit der Bibel, ihren Handschriften und Texten, ihrer Auslegung, ihrer Umwelt, ihrer Sprache oder ihren Wirkungen zu tun haben. Meine Aufgabe als Exeget ist es, den Bibeltext durch wissenschaftliches Erklären von mir selbst zu distanzieren, damit ich zwischen der Stimme des Textes und meiner eigenen Stimme besser unterscheiden kann. Biblische Texte sind uns vertraut. Sie sprechen immer schon zu uns. So kommt es, dass wir oft meinen, sie zu hören und zu verstehen. Aber in Wirklichkeit hören wir dann nur uns selbst und das, was wir immer schon glaubten und für wichtig hielten, verpackt im Kleid eines biblischen Wortes. Darum ist die Distanzierung der Texte von uns selbst nötig. Es könnte ja sein, dass ein biblischer Text etwas Anderes oder viel mehr sagt, als wir meinen! Es könnte auch sein, dass er uns – nach einer wissenschaftlichen Exegese – nichts mehr sagt, weil er in eine ganz andere Situation hineinsprach als in unsere. Es könnte auch sein, dass er uns etwas sagt, was wir gar nicht gerne hören. Als ich anfing, Theologie zu studieren, habe ich jeden Morgen einen Bibeltext gelesen und in der Stille darauf gehört, was er mir sagt, zum Beispiel einen Text aus den Losungen. Dann fuhr ich in die Universität. Dort analysierten wir vielleicht den selben Text mit allen wissenschaftlichen Methoden: Textkritik, philologische, historische, religionsgeschichtliche Analyse usw. Eine merkwürdige Spaltung entstand zwischen meiner Bibel-im-stillen-Kämmerlein und der Bibel-in-der-Universität. Ich spürte, dass diese Spaltung nicht gut ist und dass ich beides zusammenbringen müsse. Geholfen haben mir dabei Karl Barth und vor allem Rudolf Bultmann: Sie sprachen von der „Sache“, um die es in den Texten geht, und unterschieden sie von der „Urkunde“ bzw. von den Texten. Sie nahmen damit auch Paulus auf, der vom „Schatz“ des Evangeliums in „irdenen Gefässen“ spricht (2 Kor 4,7). Damit meinte er sich selbst, den Menschen und

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V. Biographische und autobiographische Studien

Apostel Paulus. Heute können wir den Satz von den irdenen Gefässen auch auf die Briefe anwenden, die Paulus uns hinterlassen hat. Nach ihrer „Sache“ sollen wir fragen. Mit ihr sollen wir in einen Dialog treten. Sie ist der Schatz, das Licht, das in unser Leben leuchtet. Ich möchte das paulinische Bild von den „irdenen Gefässen“ noch etwas präzisieren: Damit ist nicht so etwas wie Wegwerfgeschirr gemeint. Der „Schatz“ des Evangeliums ist nicht wie ein guter Wein, den man in einer billigen Flasche kauft oder sogar aus einem Plastikbecher trinken kann. Beides wirft man nachher weg. Mit den „irdenen Gefässen“ ist es eher so – und nun gebrauche ich einen Vergleich, der einem antiken Menschen vertraut war – wie mit einer Öllampe. In ihr leuchtet das Licht, mit dem man im Dunkeln seinen Weg findet. Aber die Öllampe ist kein Wegwerfgeschirr. Wenn man das irdene Gefäss wegwirft, fliesst das Öl aus und die Lampe erlischt. Der Schatz des Evangeliums und seine menschlichen oder sprachlichen Gefässe  – der Apostel Paulus mit all seinen Stärken und all seinen Schwächen bzw. heute das menschlich Wort der Bibel – gehören zusammen und sind untrennbar miteinander verbunden. Bultmann sagte es so: Die wunderbare Botschaft des Evangeliums gibt es nur in Gestalt von – immer vorläufiger, fragwürdiger, strittiger, ambivalenter – menschlicher Theologie. Und nun kehre ich zurück zu dem für mich so wichtigen Bibeltext: „Was aber hast du, das du nicht empfangen hättest ?“ (1 Kor 4,7). Ich spreche – als Exeget – zuerst vom „irdenen Gefäss“. Paulus setzt sich in 1 Kor 1–4 mit Parteien, oder vielleicht besser: mit rivalisierenden „Schulen“ auseinander, die es in der jungen Gemeinde in Korinth gab. In irgend einer Weise beriefen sich alle auf grosse christliche „Schulhäupter“: Petrus, Apollos, und sogar auf ihn selbst, Paulus. Er aber stellt den „Weisheiten“, die sie vertreten, die „Torheit“ des Kreuzes gegenüber. Was diese verschiedenen „Schulen“ eigentlich vertreten, scheint Paulus überhaupt nicht zu interessieren. Ihn interessiert nur, dass ihre „Weisheiten“ zur Spaltung der Gemeinde führen. Kapitel 4,6–13 ist der Abschluss dieser Argumentation. Der Abschnitt ist ein rhetorisches Glanzstück – an rhetorischer Begabung hat es Paulus gewiss nicht gefehlt, obwohl er nach seinen eigenen Aussagen ein schlechter Redner gewesen sein soll (2 Kor 10,10). In V 7 stellt er seinem fiktiven Gegner drei rhetorische Fragen: „Wer gibt dir einen Vorzug?“ Im Klartext: „Du brauchst mit deiner Weisheit oder deiner Geistbegabung nicht gegenüber anderen aufzutrumpfen! Auch dich wird Gott richten!“ – „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“ Im Klartext: „Du bist gewiss nicht der Alleinbesitzer der Weisheit Gottes!“ – Und falls der Gegner zugibt, dass auch er seine Weisheit nur empfangen hat, fragt Paulus: „Was rühmst du dich, als ob du es nicht empfangen hättest?“ Damit ist der fiktive Gegner schachmatt. Paulus gibt ihm noch eins drauf: „Schon seid ihr satt geworden; schon seid ihr reich geworden; ohne uns seid ihr Könige geworden!“ (1 Kor 4,8).

31. Was aber hast du, das du nicht empfangen hast? (1 Kor 4,7) (II)

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Und nun fängt auch Paulus an, sich selber zu rühmen. Er tut dies allerdings, indem er sich nicht seiner Stärken und seiner Weisheit, sondern seiner Schwächen rühmt und sie den angeblichen „Stärken“ seiner Gegner gegenüberstellt: „Wir sind töricht um Christi willen; ihr dagegen seid ‚klug‘ in Christus; wir sind schwach; ihr seid stark“ (V 10). Und er schliesst: „Zum Kehricht der Welt sind wir geworden, zum Abfallkübel für alle, bis zum heutigen Tag“ (V 13). Die Korinther, denen dieser Brief in der Gemeindeversammlung vorgelesen wurde, werden gedacht haben: „Mensch, denen hat er es gezeigt! Formulieren kann er, der Paulus!“ Was die Gegner des Paulus dazu gedacht haben, erfahren wir nicht. Sie kommen nicht zu Wort – auch nicht mit ihren vielleicht berechtigten Anliegen. Der Schatz des Evangeliums, den V 7 enthält, wird hier also in ein „rhetorisches Glanzstück“ verpackt. Die „Sache“ des Evangeliums wird dazu gebraucht, um andern den Mund zu stopfen. Es ist kaum ein „irdenes Gefäss“, das Paulus hier herumträgt, sondern eher eine Schale mit edlem design, eine rhetorische Meisterleistung, die man mit höchstem Genuss und nicht ohne Bewunderung zur Kenntnis nimmt. Auch der grosse Apostel Paulus war ein Mensch mit Schwächen, wie wir alle. Er war ein Meister der Selbstdarstellung, allerdings auf paradoxe und zugleich besonders raffinierte Weise. In diesem Ehrgeiz ist er mir nicht fremd. Und dennoch ist dieser kurze Satz „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“ ein wahrer Schatz, der mich mein Leben lang begleitet hat und dem ich immer wieder nachdenke. Er trifft mich mitten in mein Selbst. Wem habe ich nicht alles zu danken? Da ist zuerst meine Mutter, die mir das Leben geschenkt, mich gestillt, gefüttert und erzogen und schliesslich meine Pubertät und Adoleszenz ertragen hat. Dass ich ins Leben gekommen bin und immer noch da bin – das verdanke ich ihr. Da ist mein zu früh verstorbener Vater, der mir Freiraum gab, mich immer gewähren liess, weil er mir vertraute, und der mir die Welt der Geschichte und vor allem der Antike öffnete. Da sind meine Grossväter, der Grossvater „an der Orgel“, den ich nicht mehr kannte, dessen Bild mich aber begleitete, und dem ich wohl die Liebe zur Musik, besonders zur Orgel verdanke. Und mein Grossvater mütterlicherseits, der Biologe, den ich kannte, und mit dem ich als Gymnasiast über Gott und die Welt und über Augustin diskutieren konnte. Da sind meine Lehrer aus der Gymnasialzeit, zum Beispiel mein Deutschlehrer, mit dem wir in den Sommerferien über die Alpen nach Italien wanderten. Und dann natürlich meine Universitätslehrer: Eduard Schweizer, Hans Conzelmann, Gerhard Ebeling, Karl Barth, Rudolf Bultmann, Paul Tillich, Walther Zimmerli, die ich alle während meines Studiums erlebte. Was habe ich ihnen nicht alles zu danken! Zu ihnen gesellten sich andere Lehrer, die mir die Augen öffneten für eine ganz andere Welt und mich lehrten, über Trennwände springen. Zu ihnen gehörten Konrad Farner und später Milan Machovec, beide echte, überzeugte Marxisten und beide „gläubige Ungläubige“, jeder auf seine Weise.

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V. Biographische und autobiographische Studien

Jeden Tag danke ich für meine Frau Salome, die mich jetzt seit mehr als 45 Jahren auf allen meinen Wanderungen und Wandlungen begleitet – wie könnte ich „ich“ sein ohne sie? Ich danke für unsere drei Kinder, die mitsamt unseren Enkeln ein wichtiger Teil meines Lebens sind. Dazu kommen meine Freunde und Freundinnen, meine Schülerinnen und Schüler, die immer wieder einmal bei uns auftauchen. Ich danke für unsere Nachbarinnen und Nachbarn  – in unserem kleinen Städtchen kann ich eigentlich nie auf die Strasse gehen ohne ein freundliches oder notfalls aufmunterndes Wort zu hören. Ich danke dafür, dass ich in der Schweiz aufgewachsen bin und wieder in diesem so schönen und gesegneten Land lebe, trotz aller Probleme, die auch die Schweiz hat und anderen macht. Ich brauche nur wenige Minuten zu gehen – dann bin ich im Wald: Dort leuchten mir die Blumen; dort zwitschern mir die Vögel zu; dort berühren die vielen Nuancen des Grüns der Bäume meine Augen. Alles das habe ich „empfangen“. Ich danke dafür, dass ich in einer friedlichen Zeit leben durfte und dem Gespenst des Krieges, das immer noch umgeht, nie begegnet bin. Friede bedeutet Reisen, über die eigenen Grenzen hinaus sehen, Gastfreundschaft erfahren, gerade in Ländern, aus denen heute Flüchtlinge und Gastarbeiter zu uns kommen. Last but not least danke ich für meine Kirche, die reformierte Kirche der Schweiz. In ihr habe ich die Theologie und das Neue Testament entdeckt, die mein Leben bestimmen. Ich danke auch für alle anderen Kirchen, in denen ich liebevoll aufgenommen wurde: Auch sie haben mir viel gegeben und mich in den Reichtum ihrer Traditionen eingeführt, sodass ich in meinem Herzen mich oft eher als Katholik oder vor allem als Anglikaner fühle und doch dankbar dafür bin, dass ich nichts anderes bin als reformiert. Ich bin dankbar, dass Jesus von Nazareth mein Leben begleitet, Sohn Gottes und Sohn seiner Zeit, ein vertrauenswürdiger Repräsentant Gottes, dem ich aber trotzdem gerne ein paar kritische Fragen stellen möchte, wenn ich das könnte. Auf dem Weg mit ihm bin ich Theologe geworden, was ich nie bereut habe. So viel und noch mehr habe ich zu danken! „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ Was bin ich, was ich nicht anderen verdanke? Was ist mein Selbst, wenn nicht ein riesiges Geschenk? Und in diesem, über diesem und hinter diesem riesigen Geschenk steht Gott. Ich kenne ihn nicht, und ich weiss nicht, ob das menschliche Wort „Gott“ für ihn in irgend einer Weise adäquat ist – vielleicht sind Bilder wie „Vater“ oder „Mutter“ sachgemässer. Für mich ist er das Gegenüber, dem ich für alles, alles danken kann. Ich weiss nicht, ob meine „Theo-logie“ ihn sprachlich adäquat vermitteln kann, geschweige denn: „richtig“. Ich bezweifle es. Mögen die theologischen Richtigkeiten alle begraben werden! Mögen andere ihre eigenen Theologien haben! Alle Theologien sind menschlich, unzureichend, unvollkommen, nichts anderes als eine – ebenfalls geschenkte! – Buchstabiererei dessen, den man letztlich sprachlich nicht erfassen kann. Aber danken kann man ihm, für alles, was man selbst, und für alles, was andere von ihm empfangen haben.

Nachweis der Erstveröffentlichungen   2. Theologia Crucis als Mitte der Theologie des Neuen Testaments? Neubearbeitung. Urfassung in: EvTh 34 (1974), 116–141   3. Absolutheitsanspruch und Aggressionspotential im frühen Christentum. In: EvTh 64 (2004), 268–284   4. Ein Plädoyer für Zusammenarbeit. Theologie und Religionswissenschaft aus theologischer Sicht. Neubearbeitung. Erste Fassung in: Reformatio 54 (2005), 164–174   5. Die Bergpredigt in ökumenischer Perspektive. Unveröffentlicht. Vortrag vor Lehramtskandidaten in Paderborn 2006   7. Charisma und Institution in neutestamentlicher Sicht In: EvTh 49 (1989), 76–94; leicht gekürzte spanische Fassung unter dem Titel „Carisma e institucion a la luz del nuevo testamento“, Selecciones de teologia 29, Barcelona 1990, 17–28   8. Die Kirche und ihr Geld im Neuen Testament In: Wolfgang Lienemann (Hg.), Die Finanzen der Kirche. Studien zu Struktur, Geschichte und Legitimation kirchlicher Ökonomie, FBESG 43, München 1989, dort 525–554   9. Ekklesiologie und Gelder der Kirche In: EvTh 61 (2001), 6–18 10. Das Problem der eucharistischen Gastfreundschaft in neutestamentlicher Sicht, In: Ioannis Galanis u. a. (ed.), Διακονία  – Λειτουργία  – Χάρισμα (FS G. A. Galitis), Lebadeia 2006, 377–394. Russisch in: Единство щеркви в Новом Эаветеб, Москва 2014, 88–109 11. Stages of Early Christian Prophetism In: Sacra Scripta 7,1, Cluj-Napoca 2007, 45–62; abgedruckt in: Joseph Verheyden / ​Korinna Zamfir / ​Tobias Nicklas (Hg.), Prophets and Prophecy in Jewish and Christian Literature, WUNT II / 2​ 86, Tübingen 2010, 57–75 12. Die korinthische Gemeindeprophetie im Kontext urchristlicher Prophetie In: Κωνστανῖνος Ι. Μπελέζος (Constantine J.  Belezos) (Hg.), Απόστολος Παῦλος και Κόρινθος (St. Paul and Korinth), Αθινα 2009, Bd. II 277–293 13. Ortsgemeinde und Gemeinschaft im Neuen Testament In: EvTh 70 (2010), 404–415

506

Nachweis der Erstveröffentlichungen

14. Das Schriftprinzip und kirchliche Identität heute. Eine Thesenreihe In: Evangelische Stimmen 1 (Januar 2017), 6–15 16. Erwägungen zur sachgemässen Interpretation neutestamentlicher Texte In: EvTh 42 (1982), 493–517 17. Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft In: NTS 44 (1998), 317–339 18. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Auslegung der Bibel. Eine westlich protestantische Sicht, In: James D. G. Dunn u. a. (Hg.), Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive, WUNT 130, Tübingen 2000, 29–52; rumänisch in: Interpretarea Sfintei Scripturi din perspectiva ortodoxa si apuseana, Sibiu 2003, dort 57–88: ein ähnlicher Aufsatz griechisch: Η σημασία των Πατέρων της Εκκλησίας για την ερμηνεία της Αγιας Γραφης, Δελτιο Βιβλικων Μελετων 27 , Αθηνα 1999, 7–35; russisch in: Библия в Церкви. Толкование Нового Завета на Востоке и Западе. Москва, 2010, 38–58 19. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik und kirchliche Auslegung der Schrift In: Moisés Mayordomo-Marín (Hg.), Die prägende Kraft der Texte. Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments (Ein Symposion zu Ehren von Ulrich Luz), SBS 199, Stuttgart 15–37; russisch in: Страницы (Вогословие  – Култура  – Овразоание) IX 1, Moskva 2004, 1–26; japanisch in: Ulrich Luz, Matai no Iesu. Tokyo 2005, 70–90 20. Textauslegung und Ikonographie In: EvTh 67 (2007), 102–119; ein ähnlicher Aufsatz englisch: ‚Effective History‘ and Art: A Hermeneutical Study with Examples from the Passion Narrative, in: Christine Joynes (ed.), Perspectives on the Passion: Encountering the Bible through the Arts, London 2007, 7–29 21. Postmoderne Bibelinterpretation? Interpretation der Bibel in der Postmoderne, In: FZPhTh 56 (2009), 403–422; eine Vorstudie unter dem Titel: Interpretation of the Bible in postmodern Europe, Δελτιο Βιβλικων Μελετων 36 (2008), 41–54 22. Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments als Hilfe zum Reden von Gott, In: EvTh 72 (2012), 244–259 24. Religionen, konkurrierende Wahrheitsansprüche, Konflikte und ihre theologisch-reflexive Bearbeitung in der Spätantike In: Walter Dietrich / ​Wolfgang Lienemann (Hg.), Religionen – Wahrheitsansprüche  – Konflikte. Theologische Perspektiven, Beiträge zu einer Theologie der Religionen 10, Zürich 2010, 93–115 25. Bekehrung im Neuen Testament und in der Spätantike. Deutschsprachige Erstveröffentlichung. In englischer Sprache erschienen unter dem Titel: „Conversion in the New Testament“ in: Christine Lienemann-Perrin / ​Wolfgang Lienemann (Hg.), Crossing Religious

Nachweis der Erstveröffentlichungen

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Borders. Studies on Conversion and Religious Belonging, Studies in the History of Christianity in the Non-Western World 20, Wiesbaden 2012, 229–250 27. Eduard Schweizer (1913–2006) In: Cilliers Breytenbach / ​Rudolf Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft nach 1945. Hauptvertreter der deutschsprachigen Exegese in der Darstellung ihrer Schüler, Neukirchen 2008, 427–445 28. Was hast du, das du nicht empfangen hast?, Neubearbeitung; ursprüngliche Fassung in: Eve-Marie Becker (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie, Tübingen 2003, 295–305 29. Orientierung nach unten und grenzenlose Vergebung nach Mt 18 Unveröffentlicht. Vortrag in Prag 2009 30. Ost-Gänge Unveröffentlicht (2017) 31. Was hast Du, das du nicht empfangen hast? Ein Dank an Anselm Grün. Ungedruckter Beitrag für die Festschrift Anselm Grün, 2015

Stellenregister (Auswahl)* 1. Altes Testament Gen 4,24

479

Lev 19,17 f

477

Amos 7,14 f

162

2. Frühjüdische Schriften Jubiläen 15,34

423

Philo Rer Div Her 264–266

188

Jossephus Ant 18,66–80 396

3. Neues Testament Matthäusevangelium 96 f, 444 5–7 59–73 5,3 282 5,17–20 66 5,19 66 5,20 69 5,21–26 61 5,21 f 64 5,22 281 5,29 f 285 5,33–37 62 5,39–41 63 5,48 70

6,19–34 7,15–23 7,21–23 7,24–27 10 10,8 10,9 f 10,10 10,10b 17,2 ff 18 18,1–5 18,6–10 18,10–14

110 96 247 65 97, 471 134 130 114 134 203 200, 467, 472–481 472 474 476

* Die in englischen Aufsätzen nach angelsächsischem Brauch zitierten Stellen werden stillschweigend „eingedeutscht“.

510 18,15–17 18,18 18,19 f 18,19 18,21 f 18,23–35 23 23,8–12 24,10–12 24,14 24,29 26,17–19 28,1 28,16–20 28,19 f 28,20

Stellenregister (Auswahl)

477 477 481 478, 481 479 480 41 96 96 410 410 292 281 38 411 90

Markusevangelium 29–25, 444 1,16–18 132 8,32 234 10,17–22 110 10,25 110 10,45b 151 10,28 113 13,6.21 f 164, 172 14,12–15 292 14,24 150 14,25 151 15,34 22 Logienquelle Q 6,20 f Q 6,22 f Q 10,7 Q 10,16 Q 11,37–52 Q 11,49–51 Q 12,10 Q 13,34 f Q 17,23

132 184 133, 136 184 41 184 167 184 184

Lukasevangelium 10, 445 9,61 f 132 10,7 112, 114 14,7–14 234 17,21 271

Johannesevangelium 8 1,1–18 449 8,44 42 13,31 f 201 13,34 f 201 14,16 f 90 15,9–17 201, 447 17,1–5 201 17,24–26 201 Apostelgeschichte 448 2,1–4 178 2,3 178 2,17–21 164 2,17 178 2,42 201 2,44–46 201 6,1 ff 121 6,1–6 134 16,17 270 20,17–35 122 20,28.33 f.35 121 20,28 f 136 20,33 f 136 22 416 26 416 26,18–21 417 26,18 416 Paulus

11–19, 168 f, 195–200, 209, 414 f Paulusschule 10 Römerbrief 1,18–3,20 1,18 f 3,5.7 3,24 ff 3,26 11,25b f 12,1 f 12,3 ff 12,6 ff 12,6 13,1 14,1–15,13

40 240 14 9 14 169 235 92 91 180 399 199

511

Stellenregister (Auswahl)

14,9 15,19 15,26.27 16,1 f

9 410 200 117

1 Korintherbrief 179–189 1,9 197 1,18 ff 13 1,18–25 273 1,18 14, 240 2,1–5 19 4,7 454, 501–503 9,4–15 133 10,16 f 148 f, 197 11,33 154 12–14 171, 189 12 84 12,3b 171 12,4.12 f 91 12,6 180, 185 12,12 f 150 12,28 ff 91 12,28 f 180 12,28 92, 120, 181 12,31a 181 13 247 14,1 180 14,3 168 f 14,23–25 153 14,23 f 153 14,24 180 14,26 183 14,28 169 14,29 171, 181 14,30 169 14,37 180 15,3–5 9 15,51b f 169 16,1 ff 116 16,1 136 16,16 92 2 Korintherbrief 4,7 14, 376, 501 4,10–12 376 5,17 422 8–9 117

12,2–4 12.9

414 14

Galaterbrief Gal 1,11–16 Gal 1,15 f 3,27 f

414 414 150

Epheserbrief 2,20 4,1–16 4,1–6 4,4–6 4,11

168, 177, 180 202 93 202 92, 124, 450

Philipperbrief 1,1 120 3,6.9 414 3,7 f 415 Kolosserbrief 10, 450 1,15 321 1 Thessalonicherbrief 1,9 f 419 4,16 f 169 5,19 172 5,20 180 2 Thessalonicherbrief 2,2 172 3,10.11 f 117 3,11 f 134 Hebräerbrief 6,6 10,29

8 412 422

Pastoralbriefe 98 1 Timotheusbrief 2,6 151 3,16 413 4,1 423 5,9–16 134 5,16 122, 136 5,17 f 135 5,17 123 f, 136 6,7–19 132

512

Stellenregister (Auswahl)

Jakobusbrief 5,19

419

1 Petrusbrief

18

2 Petrusbrief 3,9

419

1 Johannesbrief 4,7–21 201

Johannesoffenbarung 8, 181–183, 202 8 f 37 8,2–9,21 33 16 37 16,1–21 33 16,15 167 19(f) 34, 35 22,6.9 170

3 Johannesbrief 94

4. Apostolische Väter 1 Clemensbrief 98 2 Clemensbrief 16–19 419 Didache 6,2 9. 10 9,5a 10,6 11–13 11,2 13,1 f 13,1 15,1

70 152 152 420 174 172 134 184 176

Ignatius von Antiochien 99, 156, 203 f Philad 4

156

Eph 19,2 f

413

Hirt des Hermas 174, 176, 420 Mand 4,24 420

5. Kirchenväter Apologeten

401

Augustin 281 De doctr Christ 1,36,40–44 247 Euseb 411 Gregor d. Gr. 321, 338 Irenäus Haer V 6,1

175 f 172

Johannes Chrysostomus 281 Justin Dial 2,1–8,2 Dial 39,2

416 177

Montanus

173

Origenes

176, 285

Pantainos

411

513

Stellenregister (Auswahl)

Tertullian Apol 21,1 Apol 39,5–7 Apol 50,13

396 137 411

Thomas v. Aquino 286, 355

6. Antike Autoren Apuleius

407

Platon

407

Celsus

402

Plinius d. J.

396

Epiktet

407

Porphyrius

402

Juvenal

396

Salustius

402

Personenregister (Auswahl) Adam, Andrew K.  345, 352 Agourides, Savas  280, 347 Alexeev, Anatolj  486 f Antes, Peter  53, 58 Aune, David E.  162–164 Bätschmann, Oskar  326 Barth, Karl  50, 232, 437, 441 Barthes, Roland  349, 354 Belting, Hans  304 f, 323 Berger, Klaus  239 Berger, Peter  84, 269 Beza, Theodor v.  278 Bodrov, Alexei  497 Boehm, Gottfried  326 Boring, Eugene  166 Breck, John  313 Brunner, Emil  437 Bultmann, Rudolf  165, 258, 363, 369, 436, 441, 444, 447 Burkert, Walter  394 Calvin, Jean  68, 278, 302, 322, 351 Campenhausen, Hans v.  322 Cardenal, Ernesto  228 f Chagall, Marc  339 Cimrman, Jára  468 Cohen, Shaye  409 Conzelmann, Hans  456 Cothenet Edouard  189 Croatto, Severino  265 Derrida, Jacques  349, 352 Descartes, René  356 Dombois, Hans  85 Drewermann, Eugen  285 Dunn, James D. G.  309, 365

Eagleton, Terry  343 f Ebeling, Gerhard  56, 241, 295, 301, 306, 319, 368, 456 Ebeling, Hans Wilhelm  485 Eco, Umberto  255, 343 Eliade, Mircea  50 Erasmus von Rotterdam, Desiderius  278 Esler, Philip F.  373 Falken, Herbert  335–337 Farner, Konrad  457 Feldtkeller, Andreas  383, 391, 397, 403 Feldmann, Louis H.  409 Fischer, Beatus  131 Fish, Stanley  264, 357 Fink, Heinrich  488 f Foucault, Michel  348 Francke, August H.  351 Fries, Willy  333 f Flaccius Illyricus, Matthias  230, 347 Friedrich, Gerhard  182 f Fuchs, Ernst  238, 283 Gadamer, Hans-Georg  238, 242, 246, 266, 284, 288, 305, 324, 354 Galitis, Georg A.  145–160 Gavrilov, Alexander  495 Gillespie, Thomas  182 Giotto di Bondone  332 Gnilka, Joachim  308 Goodman, Martin  408 f Grotius, Hugo  61 Grün, Anselm  501 Habermas, Jürgen  241 f, 306, 373, 377 Hahn, Ferdinand  164 Harnack, Adolf v.  51, 177 Haufe, Christoph  485 Haufe, Günter  482, 485 f

Personenregister (Auswahl)

Heiler, Friedrich  50 Hengel, Martin  111 Herms, Eilert  254, 269 Hick, John  255 Hill, David  183 Hirsch, Eric D.  350 Holtz, Traugott  489–491 Hromádka, Josef L.  467 Imdahl, Max  326, 332 Iser, Wolfgang  264 Jaspers, Karl  232 Jauss, Hans Robert  241, 328, 332 Johannes-Paul II, Papst  145 Jülicher, Adolf  279 Kähler, Martin  288 Käsemann, Ernst  163, 316 Kant, Immanuel  231, 323, 325, 357 f Kierkegard, Søren  130 Klinghardt, Matthias  153 Knabenbauer, Joseph  275 Körtner, Ulrich  316, 364 Kreissig, Heinz  488 f Küng, Hans  214 Lampe, Peter  263 Lange, Willi  485–487 Lapide, Cornelius a  277 Lehmann, Karl  317 Leonardo da Vinci  335 f Lessing, Gotthold E.  258, 379 Link, Hannelore  241 Link, Christian  243 Luckmann, Thomas  84–86 Luther, Martin  67, 189, 255 f, 277, 294, 305, 322 Lyotard, Jean François  256, 343, 360 Machovec, Milan  468 f Maldonat (= Maldonado, Juan)  277 Marquard, Odo  258 f, 261, 268, 348 Mayordomo-Marin, Moises  350 Merklein, Helmut  182 Moltmann, Jürgen  228 f Munch, Edvard  331 Mveng, Engelbert  340 f

515

Neusner, Jacob  62, 65 Nock, Arthur D.  389, 406 f Occham, Wilhelm von  256 Otto, Rudolf  50, 436 Panagopoulos, Johannes  291, 293 Pannenberg, Wolfhart  51 f Panofsky, Erwin  325 Pratscher, Wilhelm  119 Ratzinger, Joseph =   Papst Benedikt XVI  62, 65, 361 Reinmuth, Eckart  378 Reiser, Marius  309 f, 321 Ricøeur, Paul  237, 376 Rocha, Guido  330 f Rudolph, Kurt  51 Rüpke, Jörg  388, 391, 396 Satake, Akira  170 Sato, Migaku  162, 166, 184 Saussure, Ferdinand de  370 Schelkle, Karl Hermann  312 Schindler, Alfred  234 Schleiermacher, Friedrich D. E.  258, 364 f Schnackenburg, Rudolf  450, 458 Scholem, Gershom  59 Schrenk, Gottlob  438 Schweizer, Eduard  435–454, 456–458 Segalla, Giuseppe  311 Singer, Wolf  360 Sohm, Rudolph  88 Spinoza, Baruch  258 Staats, Reinhart  130 f Staiger, Emil  239 Stengel, Friedemann  485, 489, 491 Stolz, Fritz  52, 56 Strecker, Christian  424 Stuhlmacher, Peter  243 Theißen, Gerd  112 f, 118, 324, 391 Tillich, Paul  363 Theobald, Michael  155 Thiselton, Anthony  185 f Tholuck, August  275

516 Thomas v. Aquin  280 Thraede, Klaus  130 f Tracy, David  261, 358 Trevett, Christine  172 f Valla, Laurentius  278 Vielhauer, Philipp  183 Voigt, Hans  486

Personenregister (Auswahl)

Wagner, Falk  255 Weber, Max  63, 88 Weder, Hans  236, 365 f Wittgenstein, Ludwig  358 Wünsche, Matthias  175 Zizioulas, John D.  156 Zwingli, Huldrych  161