Textgrammatik: Beiträge zum Problem der Textualität 9783111349220, 9783484220164


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German Pages 235 [236] Year 1975

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Skizze einer textlinguistischen Zahlentheorie
Pro-Formen des Deutschen
Der Prosatz „non"
Voici und voilà
Verbvalenz und Satzthema
Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen
Präsuppositionen und Rekonstruktion
Textreproduktionen
Index
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Textgrammatik: Beiträge zum Problem der Textualität
 9783111349220, 9783484220164

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus Baumgärtner und Peter von Matt

Textgrammatik Beiträge zum Problem der Textualität

Herausgegeben von Michael Schecker und Peter Wunderli

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975

Herausgeber fiir Sprachwissenschaft Klaus Baumgärtner (Universität Stuttgart) Herausgeber für Literaturwissenschaft Peter von Matt (Universität Zürich)

ISBN 3-484-22016-3 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: Rothfuchs Dettenhausen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort H. Weinrich Skizze einer textlinguistischen Zahlentheorie

VII

1

H. Vater Pro-Formen des Deutschen

20

P. Wunderli Der Prosatz «on. Substitutionsprobleme im Rahmen der transphrastischen Syntax

43

H. Genaust Voici und voilà. Eine textsyntaktische Analyse

76

M. Schecker Verbvalenz und Satzthema

107

R. Meyer-Hermann Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen

146

R. Harweg Präsuppositionen und Rekonstruktion. Zur Erzählsituation in Thomas Manns Tristan aus textlinguistischer Sicht

166

P. Chr. Kern Textproduktionen. Zitat und Ritual als Sprachhandlungen

186

Index

215

Vorwort

Die Textlinguistik scheint eine Teildisziplin der Linguistik darzustellen, obwohl unter ihrem Namen auch Veröffentlichungen aus dem Bereich der Literaturwissenschaft erschienen sind 1 . Und in der Tat kann auch die Literaturwissenschaft den Anspruch erheben, eine Textwissenschaft zu sein, was seinen programmatischen Niederschlag u. a. in den Studienmodellen von Weinrich und Iser gefunden hat 2 : hier verpflichtet Iser die Literaturwissenschaft so ausschließlich auf den Text qua Anordnung sprachlicher Zeichen, daß man mit Recht die gesellschaftlichen und historischen Zusammenhänge vermißt 3 . Der vorliegende Band „Textgrammatik" soll deutlich unterschieden sein von Unternehmen, die durch das oben angedeutete Selbstverständnis der Literaturwissenschaft charakterisiert sind. Generell geht es um übertriebene oder doch zumindest mißverständliche Ansprüche im Namen des Gegenstands „ T e x t " ; denn welcher Textlinguist — und nicht nur er — könnte die Konsequenzen, die sich aus Isers Textbegriff und seinen Fachvorstellungen ergeben, mit gutem Gewissen akzeptieren: daß nämlich radikal geschieden werden muß zwischen einerseits den Texten und andererseits den gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen? Immerhin scheinen die obigen Überlegungen eine Unterscheidung zu beinhalten, die zur näheren Charakterisierung des Textbegriffs in der Literaturwissenschaft einerseits, der Linguistik andererseits beitragen könnte. Wir meinen, daß zu differenzieren ist zwischen dem Text als,Menge von Meinungen', u m die sich Leser/Hörer verstehend bemühen, und dem Text als Medium, als,Menge sprachlicher Mittel', die zur Widergabe solcher Meinungen eingesetzt werden 4 . 1 Cf. etwa Tamara Silman, Probleme der Textlinguistik, Heidelberg 1974. 2 Wolfgang Iser, Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen Studienmodell, Querheft 1 (1969), 5 3 - 6 2 ; Harald Weinrich, Überlegungen zu einem Studienmodell der Linguistik, Querheft 1 (1969), 6 2 - 6 9 . 3 Cf. zJB. Johannes Meyer-Ingwersen, Sprachwissenschaft in der Deutschlehrerausbildung, DU 22 (1973), 3 9 - 8 2 , bes. p. 41 ss. 4 Cf. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 2 1 9 6 5 , bes. p. 381, 382 und 373.

VIII

Vorwort

Allerdings ist der Text als Medium nicht zugänglich unter Ausschluß der Meinungen, die im Text geäußert werden; Gadamer 5 hat dies zu Recht betont, und auch Apel 6 hat darauf hingewiesen, daß hier eine spezifisch wissenschaftstheoretische Schwierigkeit der Linguistik liege. Daß man die Linguistik nicht den hermeneutischen Wissenschaften zurechnen kann und daß sie nicht mit den Literaturwissenschaften zusammengestellt werden darf 7 , soll später noch angedeutet werden. Nun gilt für den Text als Medium gerade nicht, was für den Text als ,Menge von Meinungen' Gültigkeit hat, nämlich: daß ich beim Verstehen der Meinungen eines Textes diese immer auch schon auf mich selber anwende 8 . Hier liegt ein erster und entscheidender Unterschied zwischen dem literaturwissenschaftlichen Textbegriff und demjenigen der Linguistik. Entsprechend handelt es sich bei den von der Sprachwissenschaft ermittelten Regeln (z. B. der Artikelselektion, der Pronominalisierung usw.) nicht um .praktische Regeln' (Habermas) 9 , wie sie für den Einsatz sprachlicher Mittel, z. B. im Rahmen des Rollenverhaltens einer Einkaufssituation, formuliert werden können 1 0 . Es handelt sich vielmehr um .technische Regeln' 11 , deren Kenntnis unser praktisches Wissen nicht erweitert und unser Bewußtsein nicht verändert, kurz: die keine bessere Handlungsorientierung bewirken. Wenn man sich den Konsequenzen, die sich aus dem Gesagten ergeben, nicht verschließt, so scheint der Textlinguist im Gegensatz zum Literaturwissenschaftler nicht durch ein .praktisches' oder .emanzipatorisches Erkenntnisinteresse' geleitet zu werden 1 2 , wenn er Texte als Medium zum Untersuchungsgegenstand macht; und doch hängen solche Untersuchungen in ganz anderer Weise mit praktisch-emanzipatorischen Bestrebungen zusammen, als diese z. B. in den Naturwissenschaften der Fall ist. Dies wird deutlich u. a. bei der Analyse von Gerichtsurteilen und den typischen Versatzstücken ihrer Tatschilderungen oder bei der Analyse der Kommunikationssituation bestimmter Texte (z.B. Werbung) (und 5 Gadamer, Wahrheit, p. 417. 6 Karl-Otto Apel, Noam Chomskys Sprachtheorie und die Philosophie der Gegenwart, in: ders., Transformationen der Philosophie, Bd. II, Frankfurt a. M. 1973, p. 2 6 4 - 3 1 0 . 7 Cf. auch Michael Schecker, Begriff und Gegenstand in der Linguistik, in: Dittmann/ Marten/Schecker, Gegenstand und Wahrheit, Tübingen 1975 (in Vorb.) 8 Gadamer, Wahrheit, p.375. 9 Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Tübingen 1967, p. 170 s. 10 Cf. den Kode-Begriff Wunderlichs und entsprechende Regeln in: Dieter Wunderlich, Begriffszusammenhang innerhalb der Soziolinguistik, in: Engel/Schwencke (Hg.), Gegenwartssprache und Gesellschaft, Düsseldorf 1972, p. 6 4 - 7 0 , bes. p. 66. 11 Cf. N 9. 12 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: ders., Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt a. M. 2 1969, p . 1 4 6 - 1 6 8 , bes.p.155 und p.160.

Vorwort

IX

zwar nicht nur bei Kommunikationssituationen, die vom Text selber verbal vorgestellt werden, sondern auch bei solchen, auf die der Text implizit verweist (etwa über Präsuppositionen). Allgemein kann man sagen, daß der besondere Gebrauch, den ein Sprecher vom Medium Sprache macht, zumindest potentiell auf dieses Medium selber zurückschlägt und es verändert 13 ; nur in einem solchen Spannungsraum zwischen sprachlichen Mitteln einerseits und individuellem Gebrauch 14 andererseits ist Sprachwandel denkbar und jene vieldiskutierte schöpferische Produktivität des ,native Speaker' möglich, — letzteres wohl nur teilweise gemäß Chomsky 15 . Unter der Kategorie der Arbeit würde der Text als Medium bzw. eine Sprache als Menge von Mitteln nicht nur ,Organ der Arbeit' sein, sondern zugleich auch .Produkt der Arbeit', durchaus vergleichbar dem Beispiel der menschlichen Hand bei Engels16. Nun dürfen freilich solche Überlegungen nicht dazu verführen, auch den Text qua Medium ausschließlich als ,Kulturgegenstand' im weitesten Sinne zu verstehen. Hier kann das Bild der Hand täuschen, und doch wirkt es zugleich auch belehrend. Die Hand ist ja auch .Naturgegenstand' 17 , und zwar in dem Sinne, daß sie bei aller Entwicklung rückgebunden bleibt an biologische Wachstumsgesetze usw. Andererseits macht es aber allein eine solche Doppelseitigkeit des Gegenstands möglich, bei aller Geschichtlichkeit der textkonstitutiven Mittel einerseits zurückzugehen auf die generellen Bedingungen und Faktoren einer jeweiligen Textkonstitution, und andererseits entsprechende Untersuchungen in systematischer Weise auf praktisch-emanzipatorische Bestrebungen zu beziehen. Um es nochmals zu betonen: das ist mehr noch als jene heuristische Ver-

13 Cf. Habermas, Logik, p. 138; cf. auch Gadamer, Wahrheit, p. 422. 14 Es scheint uns wichtig, hier einmal mehr an den Strukturalismus, speziell an das Verhältnis von langue und parole zu erinnern, ferner auch an strukturalistische Vorstellungen speziell zur Sprachveränderung. 15 Noam Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt a. M. 1969, bes. p. 16 s. und p. 19. Zu Chomskys Geschichtsverständnis bzw. quasi-romantischer geschichtlicher Herleitung seiner Überlegungen vgl. Bertram Kienzle, Rede und Gesinnung - G. Franklins Sprachlehre von 1778, Deutsche Sprache (1974), 141-152. - Auch nach Bernard Imhasly, Der Begriff der sprachlichen Kreativität in der neueren Linguistik, Tübingen 1974, p.9 ss., versteht Chomsky die Kreativität sowohl im Sinne eines rein technischen (operationeilen) Generierens wie auch als ein (substantielles) Erzeugen im Sinne Humboldts. 16 Friedrich Engels, Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, Berlin 1972, p . l l . 17 „Wenngleich die Dispositionen also Naturfakten sind, sind Entsprechungen zwischen den Dispositionen . .. prinzipiell keine Naturfakten. Die Linguistik hat es aber gerade mit diesen Entsprechungen . . . zu tun." (Quine, gemäß Helmut Schnelle, Sprachphilosophie und Linguistik, Reinbek bei Hamburg 1973, p. 112).

X

Vorwort

mittlung von „hermeneutischen und technologisch/instrumentalen Aspekten", wie sie z. B. Wunderlich vorschwebt 18 . Nun müssen wir mit unserer Standortbestimmung der hier anvisierten Textlinguistik in einem entscheidenden Punkt noch weitergehen. Alle bisherigen Ausführungen über den Text hatten auch Gültigkeit für die Sprache schlechthin — und dies ist keineswegs ein Kunstfehler. Es geht hier nicht um einen zusätzlichen Untersuchungsgegenstand, um den Text z. B. neben dem Satz; Textlinguistik ist vielmehr durch ihre besondere Perspektive gekennzeichnet, unter der sie auch den Satz (also nicht nur satzübergreifende Beziehungen) beschreibt 19 . Verschärft bedeutet dies für den Satz, daß die Prozesse der Satzkonstitution (gemäß Chomsky die Kompetenz) mit jenen der Textkonstitution (bei Chomsky wohl die Performanz, da auf Referenzobjekte Bezug genommen wird) zusammen gesehen werden. Das kann nur heißen, daß eine rein innersprachliche Kompetenz bestenfalls als nachträgliche Abstraktion irgendwelche Gültigkeit beanspruchen darf 20 . Die Bildung z. B. korrekter Sätze erschöpft sich auch nicht im korrekten Rückbezug auf eine als solche wieder abstrakte Situation, abstrakt deshalb, weil es im wesentlichen nur um den/einen physikalistischen Aspekt von Situation geht 21 ; vielmehr ist in der Bildung korrekter Sätze die Berücksichtigung der Situation als einer gesellschaftlichen Gegebenheit konstitutiv miteingeschlossen: es gibt keine Komplexion sprachlicher Zeichen zu Verbänden höheren Ranges außerhalb des Gebrauchs, den ich von den so entstehenden Sequenzen im weitesten Sinne zu machen gedenke, und sei es auch nur der Gebrauch Dokumentation eines grammatischen Problems' oder ,Beispiel für eine Übersetzungsschwierigkeit zwischen Ausgangs- und Zielsprache' 22 . Wendet man sich gegen einen rein innersprachlichen Kompetenzbegriff, dann muß man auch eine darauf aufbauende .kommunikative Kompetenz' 2 3 oder ,kom18 Wunderlich, Soziolinguistik, p.69. 19 Als Beleg für die hier vertretene Textlinguistik kann bei allen Unterschieden im Detail u. a. gelten Kallmeyer/Klein/Meyer-Hermann/Netzer/Siebert, Lektürekolleg zur Textlinguistik, bes. Bd. I, F r a n k f u r t a. M. 1974, p. 24 s. 20 Cf. zum folgenden Michael Schecker, T e x t k o n s t i t u t i o n - Ein hochschuldidaktischer Vorschlag, in Vorb. Vgl. auch die „Eisschranksätze" gemäss R . Marten, Existieren, Wahrsein und Verstehen, Berlin- New York 1972, p. 101. 21 Cf. Dieter Wunderlich, Pragmatik, Sprechsituation, Deixis, LiLi 1/2 (1971), 1 5 3 - 1 9 0 , der dennoch - freilich o h n e Konsequenzen zu ziehen - so etwas wie den Honorativ im Japanischen erörtert. 22 Eben das dürfte der Gebrauchstyp sein, der d e m Satz „Der König von Frankreich ist weise" bei Strawson, Bedeuten, in Rüdiger Bubner (Hg.), Sprache und Analysis, Göttingen 1968, p. 6 3 - 9 5 , zugrundeliegt. 23 Cf. Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der k o m m u n i k a tiven K o m p e t e n z , in Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, F r a n k f u r t a. M. 1971, 1 0 1 - 1 4 1 .

Vorwort

XI

munikative Verhaltenskompetenz' 2 4 ablehnen, und das v. a. dann, wenn solche Sekundärkompetenzen lediglich additiv 25 zur rein sprachlichen Kompetenz hinzugefugt werden. Näher liegt es, hier auf den alten Begriff der sprachlichen Mittel oder Möglichkeiten zurückzugreifen (dies durchaus im Sinne eines Sprachsystems, freilich mit all den Einschränkungen, die z. B. Coseriu 26 zu diesem Punkte vorträgt), zu denen in der Nachfolge Saussures u. a. auch Satzbaupläne 27 gehören (vielleicht auch Textbaupläne 2 8 ?). Der Zusammenschluß der elementaren Zeichen zu Komplexionen höheren Ranges wird dann durch die kommunikative Kompetenz geleistet (bei Saussure ein Teil der faculté du langage29). Eine solche Kompetenz liefert das Bindeglied zwischen den zugrundeliegenden sprachlichen Mitteln und dem konkreten Gebrauch, d. h. sie vermittelt zwischen Bedeutung und Meinung und bestimmt ihr Verhältnis, wie es implizit schon immer anklang in der Diskussion um Grund- und Nutzwerte eines sprachlichen Zeichens 30 .

24 Cf. Funkkolleg Sprache - Eine Einführung in die moderne Linguistik, Studienbegleitbrief 10, Weinheim-Basel 1972, p.70 ss. 25 Bereits Formulierungen wie „Eine Theorie der kommunikativen Kompetenz muß die Leistungen erklären, die Sprecher oder Hörer mit Hilfe pragmatischer Universalien vornehmen, wenn sie Sätze in Äußerungen transformieren" (Habermas, Kompetenz, p.103), legen das nahe. 26 Eugenio Coseriu, Synchronie, Diachronie und Geschichte, München 1974, u.a. p. 9ss. 27 Cf. Peter Wunderli, Zur Stellung der Syntax bei Saussure, ZRPh. 88 (1972), 483-506. 28 Unter Bauplänen werden hier elementare Zeichen verstanden, an deren Stelle beim Text laut Udo L. Figge, Syntagmatik, Distribution und Text, in: Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Beiträge zur Textlinguistik, München 1971, p. 61-182, Distributionen nicht nur von Sätzen, sondern primär von Satzpositionen treten. (M. Sch.) - Doch ließen sich auf jeden Fall auch Textbaupläne für besondere Satzfolgen wie solche mit Sprecherwechsel denken, also: Frage - Antwort, Frage - Rückfrage, Aussage - Rückfrage, Befehl - Protest usw. Für die Fixierung der Typen scheint es sinnvoll zu sein, die beiden Sprecheranteile auf einen jeweils einzigen Satz (eine einzige Position) im Textbauplan zu reduzieren und für die Expansion dieser Position eine Rekursivitätsregel einzuführen, in deren Rahmen auch Verflechtungsmechanismen wie Thema-/Rhemastrukturierung, Pronominalisierung, Anaphorisierung/Kataphorisierung usw. zu berücksichtigen sind. Ausgehend von dieser Darstellung dürfte es sich als sinnvoll erweisen, rein beschreibende, erzählende usw. Texte, die nur auf einen einzigen Sprecher zurückgehen, primär ebenfalls als Einsatztexte darzustellen und sie - wenn nötig - über entsprechende Expansionsregeln zu erweitern. (P. W.) 29 Cf. hierzu P. Wunderli, Saussure und die Kreativität, VRom.33 (1974), 1 - 3 1 . 30 Cf. etwa die Diskussion um den generalisierenden und partikularisierenden Artikelgebrauch oder auch die Behandlung der Negation in „Der Prosatz ,non"' in diesem Band oder auch den Vortrag von Renate Bartsch, Die Beziehung von Intonation und Wort-

Vorwort

XII

Beziehen wir unsere Ausführungen auf den vorliegenden Sammelband zurück, so muß betont werden, daß es sich bei den vorgelegten Beiträgen nicht um eine geschlossene Meinungsfront handelt, nicht einmal um nur einen einzigen Gegenstand, der verhandelt wird: ein .Konzept' in diesem Sinne stellt der Band also nicht dar. Dies liegt wohl v. a. daran, daß sich im gegenwärtigen Zeitpunkt die Textlinguistik in voller Entwicklung befindet. Natürlich läßt sich schon manche Schulenbildung verzeichnen 31 ; was jedoch generell noch fehlt, ist ein Entwurf — vergleichbar Chomskys generativer Syntax für die Satzlinguistik —, welcher die weitere Forschung zumindest für eine gewisse Zeit auf ein einziges oder doch nahezu einziges .Paradigma' 32 festlegt und so eine einheitliche Aufarbeitung und Interpretation der Detailfragen ermöglicht. Im einzelnen behandelt eine ganze Gruppe von Beiträgern Probleme der Artikelselektion und Pronominalisierung, und man kann gerade an diesen Arbeiten die neuartige Perspektive der Betrachtung von Phänomenen ablesen, die zwar durchaus in den Bereich des einzelnen Satzes fallen, aber eben doch gleichzeitig für die Beziehung zwischen den Sätzen bedeutungsvoll sind. Spricht man hier von Morphosyntax, was immer einen Ansatzpunkt auf der Ausdrucksseite der sprachlichen Phänomene impliziert, so erlaubt das zu fragen, was denn in diesem Fall .ausgedrückt' wird. Daß es sich dabei nicht um rein sprachinterne Inhaltsbetrachtung handeln kann, sondern daß es hier um die Extension sprachlicher Ausdrücke geht, um die Referenz also, kann nur angedeutet werden 33 . .Ausdruckssyntax' und .Inhaltssyntax' 34 laufen dann wieder zusammen, wenn die Kommunikationssituation thematisiert wird, auf die hin ein Text gearbeitet ist. Wenn dann schließlich Texte als Sequenzen von Sprechhandlungen angegangen werden, was den Versuch eines differenzierten Neueinsatzes zur Sprechakttheorie miteinschließt, so steht das in einer folgerichtigen Beziehung zur Thematisierung der Kommunikationssituation eines Textes. *

Ordnung zur semantischen Repräsentation, 9. Linguistisches Kolloquium Bielefeld, 2 7 . - 3 0 . August 1974. 31 Cf. die (ehemalige) Konstanzer Projektgruppe zur Textlinguistik u. a. mit Janos Petöfi und Hannes Rieser, oder die Bielefelder Gruppe, cf. N 19. 3 2 Cf. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1967. 33 Cf. Z. Hintikka, Semantik für Positionsaussagen, in: S. Kanngiesser - G. Lingrün (Hg.), Studien zur Semantik, Kronberg/Ts. 1974, p. 6 1 - 9 7 . 34 Die Termini sind übernommen und verwendet von Georg Stötzel, Ausdrucksseite und Inhaltsseite der Sprache, München 1970, bes. Kap. 5, Ausdrucks- und Inhaltsvalenz.

Vorwort

XIII

Zum Schluß bleibt uns noch die angenehme Pflicht, Herrn Dr. H. Genaust für seine Mithilfe an der Publikation dieses Sammelbandes zu danken. Er hat sämtliche Korrekturen mitgelesen und die Endredaktion des Index mit großer Umsicht besorgt. Ohne seinen Einsatz wäre eine erhebliche Verzögerung des Erscheinens des Bandes nicht zu vermeiden gewesen.

Freiburg im Breisgau, im Januar 1975

Michael Schecker Peter Wunderli

Harald Weinrich Skizze einer textlinguistischen Zahlentheorie

Singular, Plural und die Zahlen — wo steckt da das Problem? Singular ist „Einzahl", Plural ist „Mehrzahl", und diese Frage bereitet seit den Pythagoreern, die die Eins nicht zu den Zahlen rechneten, niemandem mehr Kopfzerbrechen1. Ich meine nun aber, daß es interessant sein könnte, hier ein linguistisches Problem zu entdecken. Das setzt eine bestimmte linguistische Theorie voraus. Ich wähle eine Theorie, die sich an den Begriffen Kommunikation, Instruktion und Text orientiert (mnemotechnisches Stichwort: C-I-T-Linguistik).. Das besagt insbesondere für die syntaktischen Sprachzeichen, daß sie daraufhin befragt werden sollen, welche Instruktion sie in einem Text für die Kommunikation geben. Wenn man diese Bedingungen stellt, wird auch das Strukturproblem von Singular und Plural sowie das textlinguistische Problem der Zahlen erkennbar.

Numerus des Verbs In den europäischen Sprachen, die keinen Dual (mehr) kennen, bilden Singular und Plural eine binäre Opposition, die Numerus-Opposition. Die NumerusMorpheme verbinden sich, bei geringen Unterschieden je nach den einzelnen Sprachen, mit den drei Lexem-Klassen Verb, Nomen und Adjektiv und tragen auf diese Weise zur textuellen Kongruenz bei. Wenn also in einem kurzen Textsegment der französischen Sprache wie /les jeux sont faits/ der Plural phonetisch zweimal und orthographisch sogar viermal bezeichnet wird, so ist diese Erscheinung ein wichtiges Merkmal der Textualität. Unter den Gesichtspunkten Kommunikation und Instruktion soll nun weiter gefragt werden, inwiefern die Numerus-Morpheme als Anweisungen aufgefaßt werden können, durch die ein Sprecher einem Hörer in einem Sprachspiel be1

Zur antiken Zahlentheorie vgl. insbesondere: B.L. van der Waerden, Die Arithmetik der Pythagoräer, in: Mathematische Annalen 120 (1947/49), 127-153 und 676 bis 700. - Léon Robin, La théorie platonicienne des idées et des nombres, Paris 1908, Nachdruck Hildesheim 1963.

2

H. Weinrich

deutet, wie er sich bei seinen Dekodierungsaufgaben im Kommunikationsprozeß zurechtfinden soll. Ich muß zu diesem Zweck auf das bekannte und inzwischen bereits triviale Kommunikationsmodell der Informationstheorie zurückkommen. Es besagt bekanntlich, daß ein Sprecher und ein Hörer, die an einem gemeinsamen Kode Anteil haben, in einem bestimmten Medium mittels Zeichen Nachrichten austauschen. Als bekannt kann weiterhin gelten, daß dieses Kommunikationsmodell in der Syntax durch das Paradigma der Personal-Pronomina oder ähnlicher Morpheme gespiegelt wird. Solche Morpheme finden sich in allen Sprachen; es handelt sich um ein übereinzelsprachliches Universale. Wir wollen daher diese Morpheme generell KommunikationsMorpheme oder kurz Kommunikanten nennen. Unter Vernachlässigung der häufig mit ihnen verbundenen Genus-Oppositionen können wir nun weiterhin zum Bestand der Universalien rechnen, daß die Kommunikanten eine Opposition mit drei Termen bilden: Sender (1. Person), Empfänger (2. Person) und Referent (3. Person). Die Positionen des Senders und des Empfängers sind nun im jeweiligen Sprachspiel sehr genau festgelegt und können pragmatisch verifiziert werden. Die Position des Referenten (3. Person) ist demgegenüber eine gewaltige, kaum konturierte Restkategorie: Referent ist alles, was in einem Sprachspiel nicht Sender und nicht Empfänger ist. Was es dann genau ist, muß durch zusätzliche Informationen des Textes ausgedrückt werden. Wenn man die Struktur der Kommunikanten graphisch darstellen will, kann man das Bild einer Ellipse wählen, mit dem Sender und dem Empfänger als Brennpunkten und der Ellipsenfläche als Veranschaulichung der Restkategorie Referent:

Das sind nun aber nur die Kommunikanten im Singular. In Verbindung mit den Morphemen des Plurals verändert sich das Modell der Kommunikanten (die „Kommunikations-Ellipse") in charakteristischer Weise. Das Modell kann ja nicht im Sinne einer trivialen Numerus-Auffassung „vermehrt" werden. Es

Textlinguistische

Zahlentheorie

3

kann nur anders organisiert werden. Das geschieht auch tatsächlich, wenn die Kommunikanten sich mit dem Plural-Morphem verbinden. Während das Singular-Morphem dem Hörer die Anweisung gibt, die Kommunikanten, die ja als Terme einer Opposition unterscheidbar sind, auch tatsächlich zu unterscheiden, wird der Hörer durch das Plural-Morphem angewiesen, die Unterscheidbarkeit der Kommunikanten nicht zu aktualisieren und diese vielmehr zusammenzufassen. Die Möglichkeit der Zusammenfassung beginnt bei zwei Elementen. Hier beginnt also auch der Plural. Der „Sender-Plural" ist in diesem Sinne an die folgenden Strukturbedingungen geknüpft: [+S], [+X]; zu lesen: verlangt wird die Zusammenfassung des Senders [S] und mindestens eines weiteren Elementes [X] (das kann der Empfänger und/oder ein Element aus der großen Restkategorie des Referenten sein). Der „Empfänger-Plural" hat die Merkmale [+ E], [+Y], [—SJ ; zu lesen: verlangt wird die Zusammenfassung des Empfängers [E] und mindestens eines weiteren Elementes [Y], das nicht Sender sein darf. Und der „Referenten-Plural" hat schließlich die Strukturformel: [+X], [+Y], [—S], [—E]; zu lesen: verlangt wird die Zusammenfassung mindestens zweier verschiedener Elemente, die beide weder der Sender noch der Empfänger sein dürfen. Schaubild der Kommunikations-Ellipse

i

1 _J

SENDER-PLURAL I

[+S], [ + E ]

S E N D E R - P L U R A L II

[ + S ] , [+X], [ - E l

: EMPFÄNGER-PLURAL REFERENTEN-PLURAL

[ + E ] , [ + Y ] , [ — S] ( + X J , [ + Y ] , [ —SJ, [— EJ

4

H. Weinrich

Aus dieser kleinen Skizze wird nun deutlich, daß die Anweisungen der Numerus-Morpheme, ebenso wie alle anderen syntaktischen Morpheme, auf die Kommunikation bezogen sind und dem Hörer kommunikations-pragmatische Hilfen für die Dekodierung anbieten. Daß nun überhaupt das Plural-Morphem in diesem Zusammenhang eine Hilfe darstellt, ergibt sich aus der drei-elementigen Struktur des Kommunikanten-Modells. Wenn man ein Paradigma mit drei Termen vor sich hat, ist es ökonomisch, mindestens zwei dieser Terme zusammenfassen zu können. Das eben leistet das Plural-Morphem. Die Numerus-Morpheme können daher als kommunikationssteuernde Signale angesehen werden und erfüllen die textlinguistisch-pragmatischen Bedingungen, die allgemein für Morpheme der Syntax gestellt sind.

Menge und Elemente Die bisher am Verbalsystem aufgezeigte Numerus-Struktur findet sich im Nominalsystem der Sprache wieder. Auch das Nomen wird nach Singular und Plural unterschieden: le jeu vs. les jeux (wenn ich weiter am Beispiel der französischen Sprache argumentieren darf). Da das Nomen, wenn es als Subjekt steht, mit dem Verb textuell kongruent sein muß, gelten die für das Verb skizzierten Strukturbedingungen grundsätzlich auch für das Nomen. Das Plural-Morphem verlangt also, daß mindestens zwei Elemente zusammengefaßt werden. Da nun gewöhnlich die situativ eindeutigen Positionen des Senders und des Empfängers nur durch Morpheme (Endungen, Personal-Pronomina usw.) bezeichnet werden, treten Nomina im Text fast immer in Verbindung mit der Position des Referenten (3. Person) auf. Das ist auch verständlich, da die Position des Referenten ja im Sinne der voraufgehenden Überlegungen eine große und wenig konturierte Restkategorie darstellt. Sie wird durch die Nomina des Textes in vielfältiger Weise ausgefüllt und präzisiert. Hier sind also auch Möglichkeit und Bedarf für pluralische Anweisungen am größten. Unter diesen Umständen verzeichnen wir grundsätzlich auch bei den Nomina, sofern wir sie uns als pluralische Nomina des Textes vorstellen, die Strukturformel [+X], [+Y], [ - S ] , [ - E ] ; also genau jene Formel, die wir im Verbalsystem beim „Referenten-Plural" festgestellt haben. Mit anderen Worten, das Plural-Morphem kann dann mit einem Nomen verbunden werden, wenn mindestens zwei verschiedene Elemente zusammengefaßt werden können. Nach oben hin wollen wir für die Zahl der Elemente einstweilen keine Grenze angeben; diese Unscharfe entspricht generell der Unschärfe des Referenten als einer Restkategorie.

Text linguistische Zahlentheorie

5

Ich habe nun mehrfach den Begriff „Element" gebraucht, von dem bekannt ist, daß auch die Mathematik sich seiner bedient. Elemente sind in der Mathematik (Mengenlehre) immer Elemente einer Menge. Diese Übereinstimmung im Begriff ist mir nicht unangenehm, ich will sie vielmehr ausdrücklich aufgreifen und thematisieren. Die Grammatik der Einzelsprachen muß im Kapitel des Numerus so beschaffen sein, daß nicht nur weitere Kapitel der Grammatik (Numeralia, Indefinita usw.) daran anschließen können, sondern möglicherweise auch einige Kapitel unserer mathematischen Lehrbücher. In diesem Sinne definiere ich nun die Numerus-Opposition Singular vs. Plural wie folgt: Singular bedeutet Menge (von Elementen). Plural bedeutet Elemente (einer Menge). Die vorgestellten Definitionen bedürfen einiger Erläuterungen, damit sie für die linguistische Argumentation nutzbar werden. Ich muß hier in aller Kürze auf das Verhältnis von Syntax und Semantik zu sprechen kommen. Gemeint ist natürlich, wie es sich im Rahmen einer Textlinguistik von selbst versteht, eine Textsyntax und Textsemantik. Die Textsemantik fragt nun nicht nach der Bedeutung eines Sprachzeichens in der Isolierung, sondern interessiert sich an erster Stelle für die Bedeutung, die ein Sprachzeichen in einem Text hat. Wir wollen diese die Text-Bedeutung oder Meinung nennen und sie scharf von der Kode-Bedeutung oder Bedeutung schlechthin uaterscheiden. Die Meinung (Text-Bedeutung) eines Sprachzeichens im Text unterscheidet sich von der Bedeutung (Kode-Bedeutung) dieses Sprachzeichens, wenn man es sich isoliert denkt, durch eine mehr oder minder starke Determination, die vom sprachlichen und/ oder situativen Kontext geleistet wird. Je nach der Länge und Beschaffenheit dieses Kontextes kann für die je besonderen Zwecke eines Textes die Meinung eines Sprachzeichens nach dem semantischen Umfang und Inhalt bestimmt („eingestellt") werden. Die Textsemantik hat es daher insgesamt mit einer gleitenden semantischen Skala zwischen dem Pol des Allgemeinen und dem Pol des je Besonderen zu tun. Unter den textuellen Determinanten, die diese Textualisierung und Präzisierung der Bedeutung zur mehr oder weniger konkreten Meinung besorgen, findet man nun an bevorzugter Stelle die Morpheme der Syntax. Ob beispielsweise in der Umgebung eines Nomens ein bestimmter oder ein unbestimmter Artikel steht, das ist für den Hörer eine wichtige Instruktion, nach der er entweder die Vorinformation (beim bestimmten Artikel) oder die Nachinformation (beim unbestimmten Artikel) zur Determination des entsprechenden Nomens heranziehen soll. Ähnliches gilt auch für die anderen Morpheme der Syntax. Es gilt insbesondere auch für die Numerus-Morpheme. Ob ein Nomen mit dem Singular-Morphem verbunden ist („im Singular steht") oder mit dem Plural-Morphem verbunden ist („im Plural steht"), das instruiert

6

H. Weinrich

den Hörer bei der Dekodierung dieses Textsegmentes und verhilft ihm insbesondere dazu, für dieses Nomen die richtige, das heißt vom Sprecher gewollte Einstellung auf der semantischen Skala zu finden. Ich unterstreiche aber, daß diese Leistung nicht von den Numerus-Morphemen allein, sondern immer in Konkomitanz mit anderen Morphemen vollbracht wird. Um aber nun in der Analyse die Instruktion des Numerus-Morphems genau zu erfassen, ist es notwendig, diese nicht mit den Instruktionen anderer syntaktischer Morpheme zu verwechseln. Es darf insbesondere dem Numerus-Morphem keine Funktion zugeschrieben werden, die der Artikel-Opposition bestimmter Artikel vs. unbestimmter Artikel zukommt. Es kommt also darauf an, genau die begrenzte Funktion zu erkennen, die jedes Morphem für sich hat und die erst im Text im Zusammenwirken mit der Funktion anderer Morpheme die gesamte textuelle Instruktion ergibt. Für das Problem von Singular und Plural besagt das insbesondere, daß mit dem Begriff der Menge nichts über den Umfang der Menge gesagt ist, ebensowenig wie im Begriff des Elementes genaue Angaben über die Zahl der Elemente enthalten sind. Der Begriff der Menge (= Singular) hat also ein sehr weites Anwendungsfeld von der jeweilig möglichen „Gesamtmenge" (= potentielle Vielheit) als oberem Grenzfall bis zur „Einermenge" (= ein-elementige Menge) als unterem Grenzfall. Ob im Einzelfall dann die Menge mehr im Sinne der Gesamtmenge oder mehr im Sinne der Einermenge oder schließlich im Sinne irgendeiner Teilmenge zwischen den beiden Extremwerten gemeint ist, muß der Hörer aus den zusätzlichen Anweisungen anderer syntaktischer Signale entnehmen. In gleicher Weise ist im Begriff der Elemente (= Plural) nicht vorentschieden, ob es sich im oberen Grenzfall vielleicht um „alle möglichen", d. h. alle vom Kode her zulässigen Elemente handelt oder im unteren Grenzfall um nur zwei Elemente. Wenn der Hörer genaueres über die Zahl der bei einem Sprachspiel beteiligten Elemente erfahren soll, muß er auf die Zusatzinformationen anderer syntaktischer Morpheme achten, insbesondere auf die Zahlen (Zahlwörter). Die Numerus-Morpheme mit der Opposition Singular vs. Plural stellen also selber keine Zahlenangaben dar, sondern sind, wie alle grammatischen Zeichen, Anweisungen zur Dekodierung des Textes, insbesondere im Hinblick auf das semantische Spiel der Bedeutungs-Determination zwischen den Polen der Kode-Bedeutung und der Text-Bedeutung (Meinung). Elementarzahlen Wir wollen im folgenden annehmen, daß ein Hörer zur Dekodierung eines Textes, insbesondere zum genauen Verständnis eines Nomens, präzisere An-

Textlinguistische

Zahlentheorie

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Weisungen erhalten will oder erhalten soll. Für diesen Zweck gibt es in> der Syntax ein Paradigma der Zahlen (Numeralia, Zahlwörter). Es ist nun für die weitere Argumentation unerläßlich, über die Zahlen nicht nach mathematischen, sondern nach linguistischen Spielregeln nachzudenken. Man sollte sich daher die Zahlen auch nicht in symbolischer — arabischer oder römischer — Notation vorstellen, sondern in ihrer Lautgestalt, und zwar in der jeweilig einzelsprachlichen Lautgestalt. Um diese Bedingung nicht aus den Augen zu lassen, argumentiere ich auch im folgenden an den Zahlwörtern der französischen Sprache als einer Fremdsprache weiter. Alle Formen des mathematischen Universalismus bleiben also einstweilen im Hintergrund. Wenn man die Zahlen einer gegebenen Einzelsprache nach diesen Spielregeln untersucht, muß als erstes die Frage aufgeworfen werden, ob diese Zahlen überhaupt ein Paradigma im Sinne der Grammatik bilden. Die Mathematik hat uns ja daran gewöhnt, uns die Zahlenreihe als unendlich vorzustellen. Ein unendliches Paradigma wäre aber ein Widerspruch im Begriff. Nun kann man aber für die französische Sprache (und analog dazu für andere Einzelsprachen) mühelos den Nachweis führen, daß diese Morpheme, wie alle anderen grammatischen Morpheme, tatsächlich ein endliches und überschaubares Paradigma bilden 1 . Diese Morpheme erfüllen darüber hinaas, wiederum in Analogie zu den anderen Morphemen der Grammatik, die Bedingungen der morphologischen Kürze und der relativ hohen Frequenz in der Sprache. In diesem Sinne kann man feststellen, daß das Paradigma der mit dem Plural-Morphem kombinierbaren Zahlen in der französischen Sprache genau 22 Zahlmorpheme umfaßt. Es sind die folgenden: deux, trois, quatre, cinq, six, sept, huit, neuf, dix, onze, douze, treize, quatorze, quinze, seize, vingt, trente, quarante, cinquante, soixante, cent, mille. In Belgien, Kanada, der französischen Schweiz und in Teilen Ostfrankreichs ist dieses Paradigma noch um drei Zahlmorpheme erweitert, nämlich septante, octante/huitante, nonante. Außerhalb dieser Regionen kennt der französische Sprachgebrauch diese drei Zahlmorpheme nicht; sie werden jedoch verstanden. Die unendliche Zahlenreihe, deren sich die Mathematik bedient, wird nicht durch Erweiterung dieses Paradigmas, sondern durch Kombinatorik seiner Morpheme zustande gebracht. Dabei gelten für die gesprochene französische Sprache die folgenden Kombinationsregeln: 1. Wenn die kleinere Zahl der größeren nachfolgt, wird sie ihr additiv zugerechnet (cent cinq = 100 + 5). 1

Vgl. hierzu (in der Theorie abweichend) Georges Gougenheim, Système grammatical de la langue française, Paris 1938, p. 68 s.

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2. Wenn die kleinere Zahl der größeren voraufgeht, wird sie ihr multiplikativ zugerechnet (cinq cents = 5 x 100). Die beiden Typen der Kombinatorik lassen sich ihrerseits noch einmal kombinieren; auf diese Weise erhält man beispielsweise den Zahlenwert 82: quatre-vingt-deux und andere Zahlenwerte bis 999.999 als Höchstwert. Jenseits dieses Höchstwertes werden die sehr großen Zahlenwerte der französischen Sprache mit Nomina gebildet, z. B. un million, deux milliards, trois billions. Alle diese Zahlmorpheme verbinden sich im Text mit dem Plural-Morphem. Da wir nun vom Plural gesagt haben, daß er die Elemente einer Menge bezeichnet, können wir die 22 Zahlmorpheme Elementarzahlen nennen. Diese Elementarzahlen sind aber, wie alle Morpheme der Grammatik, für den Gebrauch in Texten bestimmt. Ich gebe dafür ein Textbeispiel und wähle die bekannte Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung nach dem Evangelisten Lukas in französischer Version: Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent: Renvoie cette multitude, afin quils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans un lieu désert. Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous n'avons que cinq pains et deux poissons; à moins que nous n'allions acheter des vivres pour tout ce peuple. Car ils étaient environ cinq mille hommes. Alors il dit à ses disciples: Faitesles asseoir par rangs de cinquante personnes chacun. Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir. Alors Jésus prit les cinq pains et les deux poissons, et levant les yeux au ciel, il les bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant le peuple. Ils en mangèrent tous, et furent rassasiés, et on emporta douze paniers pleins de morceaux qui restèrent (Luc IX, 1 2 - 1 7 ) .

Die Verwendung der Elementarzahlen in diesem Text läßt insbesondere erkennen, daß sie in ihren distributionellen Eigenschaften mit dem Artikel übereinstimmen. Ebenso wie man nämlich einen bestmimten (anaphorischen) und einen unbestimmten (kataphorischen) Artikel unterscheidet, so gibt es auch jede Elementarzahl in zweifacher Gestalt. Neben deux gibt es les deux, neben trois gibt es les trois, und so weiter für das ganze Paradigma. Die textuellen Verwendungsregeln für die beiden Reihen entsprechen genau den Verwendungsregeln für den bestimmten und den unbestimmten Artikel. Wir wollen daher die Reihe les deux, les trois, les quatre... als die Reihe der anaphorischen („bestimmten") Elementarzahlen von der Reihe deux, trois, quatre . . .

Textlmguistische Zahlentheorie

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als der Reihe der kataphorischen („unbestimmten") Elementarzahlen unterscheiden. Auf unseren Beispieltext bezogen, bedeutet das insbesondere, daß die fünf Brote und zwei Fische, von denen vorher im biblischen Text noch nicht die Rede war, zunächst mit kataphorischen Elementarzahlen eingeführt werden. Nachdem sie dieserart in den Text eingeführt worden sind (cinq pains, deux poissons), kann der biblische Erzähler mit den anaphorischen Elementarzahlen des gleichen Zahlenwertes fortfahren (les cinq pains, les deux poissons). Das gleiche gilt, was der Textausschnitt allerdings nicht erkennen läßt, für die Verwendung der Elementarzahl douze (hier als freie, nicht als gebundene Form verwendet). Am Anfang des Textausschnittes kann nur deshalb die anaphorische Elementarzahl les douze verwendet werden, weil kurz vorher im biblischen Bericht und diesmal mit einer kataphorischen Elementarzahl (,, ... il en choisit douze d'entre eux, qu'il nomma apötres") von der Auswahl dieser zwölf Apostel schon die Rede war (Luc VI, 13).

Mengenzahlen Es war bisher nur von den Elementarzahlen die Rede, jenen (anaphorischen oder kataphorischen) Numeral-Artikeln also, die sich mit dem Plural verbinden lassen. Ihr niedrigster Wert ist deux (les deux). Die Zahl mit dem Zahlenwert 1 gehört nicht zu diesem Paradigma. Es verläuft also eine sprachliche Strukturgrenze zwischen dem Zahlenwert 1 und allen anderen Zahlenwerten der Zahlenreihe. Die linguistische Mathematik ist eine pythagoreische Mathematik. Denn man kann in einer linguistischen Analyse nicht ohne weiteres davon absehen, daß sich die Morpheme mit dem Zahlenwert 1 nicht mit dem Plural-Morphem, sondern mit dem Singular-Morphem verbinden. Es handelt sich also im prägnanten Sinne der oben gegebenen Definition des Plurals nicht um Elementarzahlen. Die Morpheme mit dem Zahlenwert 1 sind Mengenzahlen. Ich habe hier nun absichtlich gesagt: die Morpheme mit dem Zahlenwert 1. Tatsächlich gibt es in der französischen Sprache, analog zu den Elementarzahlen, auch für die Mengenzahl mit dem Zahlenwert 1 eine doppelte Form, je nach der textuellen Verwendung als anaphorisches oder kataphorisches Signal. Nur für die Verwendung als kataphorisches Signal hat die Mengenzahl die von der (sprechenden) Mathematik favorisierte Form un (une). Diese Form ist strukturell identisch mit dem unbestimmten Artikel. Für den wesentlich häufigeren Gebrauch als anaphorisches Signal hat jedoch die Mengenzahl die Form le (la) und ist in dieser Form strukturell identisch mit dem bestimmten Artikel. In der textuellen Verwendung

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verhält sich also die Form un zu der Form le ebenso, wie sich die Form deux zu der Form les deux verhält. Nach den vorausgehenden Überlegungen ist es wohl eindeutig, daß von der (singularischen) Mengenzahl im Unterschied zu den (pluralischen) Elementarzahlen überhaupt nur mit Vorbehalten und Einschränkungen gesagt werden darf, sie habe den Zahlenwert 1. Es kann ja keine Rede davon sein, daß die Morpheme un (une) und le (la), die diesen Numeral-Artikel im Singular ausdrücken, immer einen Gegenstand bezeichnen. Die Auffassung als Menge besagt ja gerade, daß der Hörer die Zahl und Verschiedenheit der Gegenstände, die möglicherweise unter einer Bedeutung zusammengefaßt sind, als irrelevant ansehen soll. Nur in diesem Sinne kann von einer „Einheit" gesprochen werden; die Aufmerksamkeit des Hörers wird auf die Gemeinsamkeit der Menge hingelenkt und von einer möglicherweise in ihr enthaltenen Vielheit verschiedener Elemente abgelenkt. Das gilt sowohl bei anaphorischer als auch bei kataphorischer Verwendung. Ich will das in den folgenden knapp gefaßten Beispielen für die Extremwerte der Gesamtmenge und der Einermenge kurz illustrieren. 1. Gesamtmenge: /Le pain est une nourriture fondamentale./ jII faut savoir préparer un poisson./ Der Hörer kann in beiden Fällen den Singular (le pain, un poisson) als Gesamtmenge interpretieren, d.h. über alle möglichen Unterschiede zahlloser Brote und Fische hinwegsehen, und zwar auf Grund der vorhandenen (und fehlenden!) Zusatzsignale im Kontext dieser kurzen Texte. 2. Einermenge: /Jesus prit un pain et le donna à ses disciples./ /Dieu avait envoyé un grand poisson pour engloutir Jonas, et Jonas demeura dans le ventre du poisson trois jours et trois nuits./ Hier kann der Hörer jeweils den Singular {un pain, du poisson) als Einermenge interpretieren, weil der Kontext, insbesondere wegen der in ihm enthaltenen Eigennamen, ausreichend präzise Determinanten enthält. Nur unter textuellen Bedingungen wie den hier skizzierten ist der Singular tatsächlich „Einzahl" in dem Sinne, daß er sich auf einen einzelnen Gegenstand bezieht. Es kommt also, wie bei allen Sprachzeichen, auf den Kontext an. Das zeigt sich auch darin, daß die Mengenzahl un (une) unter bestimmten Bedingungen mit gewissen Elementarzahlen kombinierbar ist, z. B. in den Zahlen vingt-et-un, quatre-vingt un, cent un, un million usw. In diesen Kombinationen ist un (une) Bestandteil einer Elementarzahl, und auch die textuelle Kongruenz wird mit Pluralmorphemen hergestellt (vingt-et-un députés ont

Textlinguistische

Zahlentheorie

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été élus). Im Kontext von Elementarzahlen wird die Mengenzahl notwendig als Einermenge (ein-elementige Menge) determiniert und kann daher als ein Element hinzugezählt werden. Ordinalzahlen Elementarzahlen und Mengenzahlen entsprechen zusammen den Kardinalzahlen der Mathematik. Von ihnen sind bekanntlich die Ordinalzahlen zu unterscheiden. Diese bilden ebenfalls ein doppeltes Paradigma, je nachdem ob sie anaphorische oder kataphorische Funktion im Text haben. Die anaphorische Reihe (le premier, le second oder le deuxième, le troisième . . .) ist jedoch wesentlich häufiger als die kataphorische Reihe (un premier, un second oder un deuxième, un troisième . . .). Dieser Unterschied in der Frequenz entspricht insgesamt einer Distribution, wie sie für den bestimmten und den unbestimmten Artikel charakteristisch ist. Ordinalzahlen sind nun ebenfalls auf die Begriffe Menge und Element bezogen. Sie greifen aus einer Menge entweder ein Element (= Singular) oder mehrere Elemente (= Plural) heraus und geben deren Reihenfolge in der Menge an. Die Reihenfolge der Elemente bei pluralischen Ordinalzahlen verweist dabei entweder auf die Anordnung in der Textfolge oder auf die Anordnung in der Situation. Damit kommt ein neuer Gesichtspunkt in die linguistische Zahlentheorie. Während die Kardinalzahlen nur die Alternative Menge oder (mehrere) Elemente kennen, können die Ordinalzahlen aus einer Menge auch ein Element zur Unterscheidung herausgreifen: le premier, le second, le troisième (...); dieses ist jeweils ein Element, das zu unterscheiden ist von den anderen Elementen dieser Menge, die auf diese Weise als geordnete Menge erscheint. Die Opposition zwischen Mengenzahlen und Elementarzahlen ist folglich bei den Ordinalzahlen neutralisiert. Mit einer Kombination von Kardinalzahlen (fur den Zähler) und Ordinalzahlen (für den Nenner) drückt man in der französischen Sprache Bruchzahlen aus (trois dixièmes = 3/10). Ich will auf Zusammenhänge wie diese hier nur kurz aufmerksam machen, um darauf hinzuweisen, daß auch solche mathematischen Zahlenbildungen wie Bruchzahlen usw. grundsätzlich einer textlinguistischen Betrachtungsweise zugänglich sind. Die eigentlichen mathematischen Operationen wie Addition, Multiplikation usw. müssen dabei natürlich zusätzlich auf andere Kapitel der Grammatik (Konjunktionen, Präpositionen usw.) bezogen werden. Auch hier ist jedenfalls die mathematische Operation, die ein bestimmtes mathematisches Kalkül in Gang bringt, grundsätzlich als ein Sonderfall jener sprachlichen Anweisungen aufzufassen, die von der Instruktions-Linguistik für alle Sprachzeichen angenommen werden.

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H. Weinrich

Rundzahlen Zahlen sind genaue Numeral-Artikel. Wir können nun in diese ganze Betrachtungsweise die sogenannten Indefinita der Grammatik dadurch einbeziehen, daß wir sie als Rundzahlen auffassen, die nur ungenaue Annäherungswerte geben1. Die Rundzahlen der französischen Sprache sind nun in ihrer Ungenauigkeitsstruktur insgesamt dadurch bestimmt, daß die als Menge von Elementen aufgefaßte Bedeutung in eine größere und eine kleinere Teilmenge gegliedert wird. Die größere Teilmenge enthält die Mehrzahl der Elemente, die kleinere Teilmenge enthält die Minderzahl der Elemente. Man kann diese Struktur durch ein kleines Schaubild verdeutlichen, das ich den Mengenraum nennen will:

24> S

beaucoup de .viele' bien des .ziemlich viele' plus de .mehr' trop de ,zu viele'

9 peu de .wenige' moins de .weniger' (. . .)

Im Einklang mit allen anderen Numeral-Artikeln können wir auch bei den Rundzahlen die folgenden beiden Unterscheidungen machen: 1. Singularische Rundzahlen (peu de pain) vs. pluralische Rundzahlen (quelques poissons). Singularische Rundzahlen geben dem Hörer an, wie die Menge ungefähr quantitativ beschaffen ist. Pluralische Rundzahlen lassen hingegen den Hörer wissen, wieviele Elemente ungefähr in der Menge enthalten sind. 1

Vgl. auch zu diesem Thema Ulrich Dausendschön, Textsyntax der Indefinitartikel im Französischen, Diss. Köln 1974.

Textlinguistische

Zahlentheorie

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2. Anaphorische („bestimmte") Rundzahlen (les nombreux pains) vs. kataphorische Rundzahlen (beaucoup de poissons). Kataphorische Rundzahlen haben eine wesentlich höhere Frequenz als anaphorische Rundzahlen. Man verwendet nämlich normalerweise im Text keine Rundzahlen, wenn in der Vorinformation bereits genaue Zahlen gegeben sind. Häufig findet man daher eine Distribution der Art, daß ein Nomen zunächst mit einer kataphorischen Rundzahl eingeführt wird, die dann im weiteren Verlauf des Textes bei Bedarf durch genaue Elementarzahlen präzisiert wird (plusieurs poissons - cinq poissons - les cinq poissons). Gegenüber den auch in anderen Paradigmen des Artikel-Systems vorfindbaren Oppositionen Menge (Singular) vs. Elemente (Plural) und Anaphorik vs. Kataphorik zeichnen sich die Rundzahlen im Inventar ihrer Merkmale durch eine weitere Opposition aus. Diese setzt den Begriff der Erwartung voraus. Es gehört zu den Grundannahmen der Textlinguistik, daß beim Hörer eines Textes nicht nur entsprechend dem bisher vernommenen und verstandenen Text ein bestimmter Informationsstand angenommen wird, sondern auf der Grundlage dieses Informationsstandes auch eine bestimmte Erwartung über den wahrscheinlichen weiteren Verlauf des Textes. Es wird weiterhin angenommen, daß auch der Sprecher mit dieser Erwartung des Hörers rechnet, also seinerseits bestimmte Erwartungen über die Erwartungen des Hörers hat (Erwartungs-Erwartungen). Es kann nun sein, daß die Erwartungen des Sprechers und des Hörers sich decken. Dann ist die Verständigung verhältnismäßig problemlos. Es ist aber auch möglich, daß die Erwartungen des Sprechers und des Hörers aus dem einen oder anderen Grunde nicht zur Deckung kommen, sondern mehr oder weniger weit auseinanderklaffen. Eine solche Differenz der Erwartungen kann sich insbesondere bei Quantitäten zeigen, sich also entweder auf eine Menge von Elementen oder auf die Elemente einer Menge erstrecken. Das kann naturgemäß verhältnismäßig leicht zu einer Störung der Kommunikation führen. Dagegen ist aber nun wiederum in der Syntax Vorsorge getroffen, und zwar gerade im Paradigma der Rundzahlen. Wir können nämlich, wiederum in einer binären Opposition, zwischen erwarteten und unerwarteten Rundzahlen unterscheiden. Dabei ist grundsätzlich die Erwartung des Hörers gemeint, der sich jedoch die (Erwartungs-)Erwartung des Sprechers und Erwartungen anderer Personen (Referenten) beigesellen können. Die Opposition der erwarteten und der unerwarteten Rundzahlen steht natürlich wiederum in einem kombinatorischen Zusammenhang mit den vorher erwähnten Oppositionen der Numeral-Artikel. Von diesen wollen wir aber in der folgenden Beschreibung absehen und bei den erwarteten und unerwarteten Rundzahlen nur solche berücksichtigen, die den Cha-

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rakter von kataphorischen Elementarzahlen haben. Nicht berücksichtigt werden also anaphorische Elementarzahlen, anaphorische Mengenzahlen sowie kataphorische Mengenzahlen. Mit diesen Einschränkungen, die nur um der Einfachheit der Darstellung willen vorgenommen sind, läßt sich die textuelle Funktion der Rundzahlen wiederum mit dem Vorstellungsbild des Mengenraumes darstellen. Der Mengenraum ist — ich darf daran erinnern — dadurch gegliedert, daß er aus einer größeren und einer kleineren Teilmenge besteht. Bei den erwarteten Rundzahlen ist nun vorausgesetzt, daß die Äußerungen des Sprechers und die Erwartungen des Hörers durch den gleichen Mengenraum charakterisiert sind. Die Instruktion der erwarteten Rundzahl beaucoup de kann also als Anweisung des Sprechers an den Hörer gelesen werden, daß dieser das betreffende Nomen unter quantitativen Gesichtspunkten in den Bereich der größeren Teilmenge einordnen soll, wie dieser es auch erwartet hatte. Das folgende Schaubild soll die Struktur des für den Sprecher und den Hörer erwartungsgleichen Mengenraumes veranschaulichen. Anweisung (des Sprechers) beaucoup de ,viele' bien des .ziemlich viele' pas mal de ,nicht wenige' quantité de ,eine Menge (von)' nombre de ,eine Anzahl (von)' de nombreux .zahlreiche'

=





Erwartung (des Hörers) beaucoup de .viele' bien des .ziemlich viele' pas mal de .nicht wenige' quantité de .eine Menge (von)' nombre de .eine Anzahl (von)' de nombreux .zahlreiche'

(• - •)

(. . .)

peu de ,wenige' quelques .einige' différents .verschiedene' divers .diverse'

peu de .wenige' quelques .einige' différents .verschiedene' divers .diverse'

(. . .)

(. . .)

Die Liste der hier in den Mengenraum beider Kommunikationspartner eingeschriebenen erwarteten Rundzahlen ist nicht erschöpfend. Es gibt außer diesen, den häufigsten Rundzahlen des Paradigmas natürlich noch weitere Rundzahlen (bon nombre de, énormément de . . .), die außerdem noch adverbial nuanciert sein können (très peu de, infiniment de . . .). Wenn es gestattet ist, einen biblischen Text zu linguistischen Zwecken zu variieren, so will ich in der Lukas-Parabel einmal an einigen Textstellen die genauen Zahlen durch (erwartete) Rundzahlen ersetzen:

Textlinguistische

Zahlentheorie

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•Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent: Renvoie cette multitude, afin qu'ils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans un lieu désert. Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous n'avons que peu de pains et trèus peu de poissons; à moins que nous n'allions acheter des vivres pour tout ce peuple. Car ils étaient beaucoup d'hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-les asseoir par rangs de plusieurs personnes chacun. Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir. Alors Jésus prit les quelques pains et poissons, et levant les yeux au ciel, il les bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant le peuple. Ils en mangèrent tous, et furent rassasiés, et on emporta bien des paniers pleins de morceaux qui restèrent.

Der Sinn der Parabel läßt diese Texttransposition in gewissen Grenzen zu, wenn man voraussetzt, daß für die beteiligten Personen (der biblische Erzähler, Jesus, die Jünger) die ganze Situation einschließlich des Wunders grundsätzlich zu den erwartbaren Ereignissen gehört. Am Anfang steht zwar eine Erwartungsdifferenz: Jesus scheint angesichts der vielen Menschen gar nicht die Schwierigkeit zu bedenken, wie sie alle zu beköstigen sind. Er scheint also die geringe Zahl der Brote und Fische nicht zu erwarten. Aus diesem Grunde geben ihm die Jünger mit dem Morphem ne ... que zu erkennen, daß er seine Erwartungen herabsetzen muß. Dadurch wird der Gleichstand der Erwartungen hergestellt, und es können nun immer erwartete Rundzahlen folgen, sowohl für die vielen Personen (beaucoup d'hommes, plusieurs personnes) als auch für die wenigen Nahrungsmittel (les quelques pains et poissons), bis schließlich die (grundsätzlich erwartbare) wunderbare Vermehrung der Brote und Fische (bien des paniers) den Kontrast aufhebt.

Unerwartete

Rundzahlen

In Opposition zu den erwarteten Rundzahlen ist bei den unerwarteten Rundzahlen vorausgesetzt, daß der Sprecher mit seinen Äußerungen nicht den Erwartungen des Hörers entspricht. Auch die unerwarteten Rundzahlen haben den Mengenraum nach einer größeren und einer kleineren Teilmenge gegliedert. Das Sprachspiel kann jedoch im Einzelfall so beschaffen sein, daß der Hörer nach der textuellen oder situativen Vorinformation andere quantitative Erwartungen hat, als sie vom Sprecher im weiteren Textverlauf tatsächlich er-

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füllt werden können. Das vermutet auch der Sprecher, und so stellt er sich mit seiner Erwartungs-Erwartung auf die abweichende Erwartung des Hörers ein und korrigiert sie mit seinen unerwarteten Rundzahlen. Ich stelle das im folgenden Schaubild so dar, daß der Mengenraum des Hörers und der (gleich strukturierte) Mengenraum des Sprechers u m 180° gegeneinander gedreht sind:

Äußerung (des Sprechers) plus de .mehr' tant de ,so viele' trop de ,zu viele' (• • •)

moins de .weniger' trop peu de ,zu wenige' si peu de ,so wenige' (...)

Erwartung (des Hörers) peu de .wenige' quelques .einige' différents .verschiedene' divers .diverse' (• • •) beaucoup de .viele' bien des .ziemlich viele' pas mal de .nicht wenige' quantité de .eine Menge (von)' nombre de .eine Anzahl (von)' de nombreux .zahlreiche' (• • •)

Die Opposition der erwarteten und der unerwarteten Rundzahlen kann mit der Form autant de .ebenso viele' neutralisiert werden. Ich will die Funktion der unerwarteten Rundzahlen wiederum an unserem kleinen Textstück zeigen und variiere dementsprechend noch einmal die biblische Szene an einigen Textstellen: •Comme le jour commençait à baisser, les douze s'approchèrent de lui et lui dirent: Renvoie cette multitude, afin qu'ils s'en aillent aux bourgs et aux villages qui sont aux environs, pour s'y retirer et pour trouver à manger; car nous sommes ici dans un lieu désert. Mais il leur dit: Vous mêmes donnez-leur à manger. Et ils dirent: Nous avons moins de pains et de poissons que tu ne penses; à moins que nous n'allions acheter des vivres pour tout ce peuple. Car il y avait trop d'hommes. Alors il dit à ses disciples: Faites-les asseoir par rangs de cinquante personnes chacun. Et ils firent ainsi, et les firent tous asseoir. Alors Jésus prit plus de pains et de poissons qu'ils n'avaient pensé, et levant les yeux au ciel, il les bénit, et les rompit, et les donna aux disciples, afin qu'ils les missent devant le peuple.

Textlinguistische

Zahlentheorie

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Ils en mangèrent tous, et furent rassasiés, et on emporta plus de paniers pleins de morceaux qu'ils n'avaient eu auparavant de pains et de poissons.

Es ist an dieser Version des Textes erkennbar, daß bei Jesus zunächst eine überschießende Erwartung in bezug auf die Quantität der Brote und Fische zu bestehen scheint. Während in der authentischen Version und in meiner ersten Veränderung diese Erwartungsdifferenz durch die Anweisung ne ... que ausgeglichen wird, habe ich dieses Signal nun ausgelassen. Nun wird die überhöhte Erwartung durch die Rundzahl selber ausgeglichen, und es steht eine unerwartete Rundzahl (moins de pains et de poissons). Der Erzähler stellt dann das Mißverhältnis zwischen der Zahl der Personen und der Zahl der Brote und Fische „objektiv" fest: es widerspricht der Norm jeder Erwartung (trop d'hommes). Am Ende des Textes habe ich jetzt glaubensschwächere Textadressaten angenommen, deren niedrig gestimmte Erwartung von dem Erzähler nach oben hin korrigiert wird (plus de paniers). Die unerwarteten Rundzahlen treten nur als kataphorische Rundzahlen auf. Wären sie anaphorisch, kämen sie nicht mehr unerwartet. Die kataphorische Anweisung der unbestimmten Rundzahlen richtet die Aufmerksamkeit des Hörers auf die Nachinformation, in der nach der Korrektur der falschen Erwartung nunmehr die richtige Instruktion gegeben werden kann. Häufig ist das im Text dann auch gleichzeitig eine genaue Anweisung, also keine Rundzahl, sondern eine Zahl, deren Wert sich auch in Ziffern ausdrücken läßt.

Allquantoren Der obere Grenzwert aller Zahlen wird durch ein Morphem bezeichnet, das wir mit einem Ausdruck der Logik den Allquantor nennen wollen. Der Allquantor hat in der französischen Sprache verschiedene Formen je nach seiner Funktion im Text und entspricht damit paradigmatisch den anderen Numeral-Morphemen1: 1

Vgl. Sven Andersson, Etudes sur la syntaxe et la sémantique du mot français tout, Lund 1954 (Etudes romanes de Lund 11). - Ders., Nouvelles études sur la syntaxe et la sémantique du mot français tout, Lund 1961 (Etudes romanes de Lund 14). - Ders., Quelques glanures syntaxiques sur le mot français tout, Studia Neophilologica 42 (1970), 7 2 - 8 9 . - Christian Rohrer, Zur Bedeutung von ,tout'und .chaque' im Französischen, in: Interlinguistica. Sprachvergleich und Übersetzung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Mario Wandruszka, Tübingen 1971, p. 5 0 9 - 5 1 7 .

H. Weinrich

18 Menge (Singular)

Elemente (Plural)

anaphorisch (bestimmt)

tout le (toute la)

tous les (toutes les)

kataphorisch (unbestimmt)

tout (toute)

tous (toutes)

Die Instruktion für den Hörer besteht darin, daß dieser angewiesen wird, unter den Determinationsangeboten der Vorinformation (beim anaphorischen Allquantor) oder der Nachinformation (beim - seltenen - kataphorischen Allquantor) keine Auswahl zu treffen. Der Hörer wird vielmehr zum textuellen Resümee eingeladen. Unter diesen Bedingungen steht der Allquantor auch jenseits der Unterscheidung von Zahlen und Rundzahlen sowie von erwarteten oder unerwarteten Rundzahlen. Was die Unterscheidung von Kardinalzahlen und Ordinalzahlen betrifft, so ist er den Kardinalzahlen zuzurechnen. Als Ordinalzahl gibt es in der französischen Sprache einen eigenen Allquantor. Er hat die invariable Form chaque (die freie Form, variabel nach dem Genus, heißt chacun, chacune), wobei auch die Opposition Singular vs. Plural neutralisiert ist. Das Archimorphem des Numerus wird durch den Singular vertreten (chaque pain a été béni). Der Allquantor chaque weist den Hörer an, alle in einer geordneten Reihe (le premier pain, le second pain, le troisième pain u s w j aufzählbaren Determinanten des Textes anzunehmen und fur die Dekodierung des Nomens zu verwenden. Seine Anweisung ist anaphorisch.

Linguistik und Mathematik Es ist wohl unvermeidlich, daß die hier vorgetragene Auffassung auf den ersten Blick einiges Befremden auslöst. Sie ist ja, so scheint es, nicht mit den Grundlagen der nachpythagoreischen Mathematik, oder sagen wir einfacher: des bürgerlichen Rechnens („nach Adam Riese") in Einklang zu bringen, die uns seit unseren frühesten Lebensjahren bekannt und geläufig sind, so daß sie normalerweise jeglicher Kritik und Grundlagen-Revision entzogen sind. Warum sollte man sie auch revidieren, so mag wohl jemand einwerfen, da man mit ihnen doch offenbar erfolgreich rechnen kann? Ich will das auch nicht bezweifeln. Der Gewinn bei der hier vorgeführten Analyse soll nicht darin bestehen, daß man auf diese Weise besser (aber auch nicht schlechter!) rechnen kann, sondern daß hiermit eine Möglichkeit eröffnet wird, Grammatik und Zahlentheorie

Text linguistische

Zahlentheorie

19

als ein System mit einheitlicher Grundstruktur zu begreifen. Es wird hier zwar nicht zum ersten Mal der Versuch gemacht, Linguistik und Mathematik miteinander in Verbindung zu bringen. Aber die bisherigen Versuche sind im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß linguistische Strukturen „mathematisiert" werden. Hier geht es umgekehrt um die Bemühung, mathematische Kalküle, angefangen von den einfachsten Rechenoperationen des bürgerlichen Rechnens, als Texte im Sinne der Linguistik aufzufassen, sie also im Sinne der Textlinguistik zu „linguistisieren". Die Mathematik ist, wenn diese Auffassung mit Erfolg verteidigt werden kann, ein Sonderfall der Grammatik. In der mathematischen Sondergrammatik werden die Zeichen und Verwendungsregeln, wie sie für die allgemeine Grammatik der natürlichen Sprachen gelten, in ihren Grundstrukturen nicht außer Kraft gesetzt, sondern nur für besondere Verwendungszwecke zugleich erweitert und eingeschränkt. Der Beweis für diese Auffassung ist dann in der Weise zu fuhren, daß das jeweilige mathematische Programm als Deviation eines linguistischen Programms beschrieben wird, das grundsätzlich aus der Grammatik der Einzelsprachen stammt, jedoch nach bestimmten Regeln der übereinzelsprachlichen Vereinheitlichung, insbesondere durch eine piktographische Orthographie, auch als universales Programm behandelt werden kann. Aber selbst unter diesen Bedingungen ist dann der mathematische Universalismus nur ein Grenzfall des linguistischen Universalienproblems.

Heinz Vater Pro-Formen des Deutschen

1. Definition

von

„Pro-Form"

Der Begriff der Pro-Form 1 , der in der neueren linguistischen Literatur eine große Rolle spielt, ist eine Verallgemeinerung des traditionellen Begriffs „Pronomen". So wie ein Pronomen stellvertretend fur ein Nomen (genauer: eine NP) steht, so steht eine Pro-Form stellvertretend für eine grammatische Kategorie beliebiger Art. Die Interpretation der Pronomina als besonderer Wortart erweist sich daher als unangebracht: Mit dem gleichen Recht, mit dem man Pro-Formen für Nominalphrasen als eine Klasse zusammenfaßt, müßte man das auch mit den Pro-Formen für andere Kategorien — also z.B. Pro-Adjektiven und Pro-Adverbialen — tun. Natürlich würde man damit jedoch eine wichtige Verallgemeinerung unterdrücken, nämlich daß Pro-Formen immer den gleichen kategoriellen Status haben wie die Formen, die sie vertreten. Harris definiert Pro-Formen - die er „pro-morphemes" nennt - folgendermaßen: There exist morphemes whose X-co-occurrents (for each class X in constructional relation to them), in each sentence, equal the X-co-occurrents of a morpheme (of class Y) occupying a stated position . . . relative to them, in the same sentence (or sequence of sentences), and whose X-co-occurrents in all appearances of these morphemes equal the sum of the X-co-occurrents of all the members of the class Y 1 Statt „Pro-Form" finden sich in der linguistischen Literatur noch andere Termini, so unter anderem „Pro" (Jerrold Katz - Paul Postal, An Integrated Theory of Linguistic Descriptions, Cambridge (Mass.) 1964), „designated element", „designated representative" und „abstract dummy element" (Noam Chomsky, Current Issues in Linguistic Theory, The Hague 1964), „pro-morpheme" (Zellig S. Harris, Co-Occurrence and Transformation in Linguistic Structure, Language 33 (1957), 283-340), „pro-formative" (Robert Lees, The Grammar of English Nominalizations, Bloomington Ind. 1960) und „pro-Element" (Wolfdietrich Härtung, Die zusammengesetzten Sätze des Deutschen, Berlin (Studia grammatica IV) 1964; Wolfgang Mötsch, Können attributive Adjektive durch Transformationen erklärt werden? , Folia Linguistica 1 (1967), 23-48).

Pro-Formen

des

Deutschen

21

(which occupies the stated position relative to them). Such morphemes will be called pro-morphemes of the class Y, or pro-Y. Zellig S. Harris, Co-occurrence and Transformation in Linguistic Structure, Language 33 (1957), 2 8 3 - 3 4 0 , p. 301s. Für Harris ist d e m n a c h entscheidend, daß sich die Gesamt-Co-occurrence einer Pro-Form, ihr Co-occurrence-Bereich, mit d e m Co-occurrence-Bereich der Klasse v o n E l e m e n t e n deckt, für die die Pro-Form i m einzelnen eintreten kann. C h o m s k y präzisiert, daß es sich bei den Kategorien, die durch eine ProF o r m vertreten werden k ö n n e n , u m „major categories" 2 handelt; er n e n n t Pro-Formen „designated e l e m e n t s " 3 . Each major category has associated with it a „designated element" as a member. This designated element may actually be realized (e.g., it for abstract nouns, some (one thing)), or it may be an abstract „dummy element". It is this designated representative of the category that must appear in the underlying strings for those transformations that do not preserve, in the transform, a specification of the actual terminal representative of the category in question." Noam Chomsky, Current Issues in Linguistic Theory, The Hague 1964, p. 41. A u f C h o m s k y s Darstellung aufbauend, definieren Katz u n d Postal „Pro-Form" (wofür sie „Pro" sagen) folgendermaßen: „The function of the constituent Pro is to characterize formally at the syntactic level the class of all, and only, such representatives of major categories." Jerrold Katz - Paul Postal, An Integrated Theory of Linguistic Descriptions, Cambridge (Mass.) 1964, p. 80. Allen diesen Darstellungen ist gemeinsam, daß „Pro-Form" definiert wird als ein Element, das stellvertretend für beliebige E l e m e n t e der gleichen syntaktischen Kategorie stehen kann; dabei wird v o n C h o m s k y u n d anderen Vertretern der generativen Transformationsgrammatik b e t o n t , daß Pro-Formen nur innerhalb der „major categories" auftreten — es gibt also beispielsweise keine Pro-Formen für Präpositionen, T e m p o r a oder Numeri. A u ß e r d e m ist charakteristisch für Pro-Formen, daß sie merkmalsarm sind; gerade weil sie

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3

Eine „major category" ist eine lexikalische Kategorie sowie jede andere Kategorie, die eine Kette . . . X . . . dominiert, wobei X eine lexikalische Kategorie ist (cf. Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge [Mass.] 1965). Chomskys Bemerkung, daß es dieser ^designated representative" ist, der tilgbaren Elementen zugrunde liegt, bezieht sich offenbar nur auf die unbestimmten Pro-Formen, denn bestimmte Pro-Formen sind ja a) noch nicht in der zugrundeliegenden Struktur vorhanden (sie werden durch Transformationen eingeführt), b) in vielen Sprachen (z. B. im Englischen und Deutschen) nicht weglaßbar.

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H. Vater

nur die allgemeinsten Merkmale der jeweiligen Kategorie besitzen, nicht aber die spezifischeren, können sie ihre Stellvertreter-Funktion ausüben. So hat die Pro-Form jemand nur die Merkmale [+N] und [+Menschlich]4 und kann daher sowohl für Junge als auch für Mann stehen, denn es ist nicht für [+Erwachsen] spezifiziert; ebenso kann jemand auch für Frau stehen, da es nicht für [+Männlich] spezifiziert ist. Die Pro-Form er andrerseits kann zwar auch für Junge und Mann eintreten, nicht aber für Frau; jedoch kann er auch Tisch oder Baum oder Hund repräsentieren: Er enthält neben dem Merkmal [+N] nur noch das (morphologisch-syntaktische) Merkmal [+Maskulin], das es ihm ermöglicht, für Lebewesen und Nicht-Lebewesen einzutreten. Da Bezeichnungen für weibliche Lebewesen im Deutschen aber immer feminines Genus haben5, kann er nicht für Frau eintreten. Renate Steinitz schränkt in ihrem Artikel „NominalePro-Formen" 6 den Kreis der Pro-Formen auf diejenigen ein, die bereits im Text erwähnte sprachliche Formen mit gleicher Referenz aufnehmen. Sie sieht „Pro-Fortführung" also stärker unter dem Gesichtspunkt der Referenzkennzeichnung als unter dem der Ersetzungsfunktion. Nicht das stellvertretende Vorkommen für ein Element der gleichen sprachlichen Kategorie ist für sie entscheidend, sondern das Wiedervorkommen eines Referenzträgers7 im gleichen Text, wobei das erste Vorkommen eines Referenzträgers die Markierung [—m] (nicht vorerwähnt) erhält und jedes neue Vorkommen des gleichen Referenzträgers innerhalb desselben Textes die Markierung [+m] (vorerwähnt). Steinitz' Begriff der Pro-Form ist damit einerseits enger als der oben angeführte, da Formen wie jemand und etwas — die ja nicht Wiederaufnahmen anderer sprachlicher Formen mit gleicher Referenz sind — außerhalb der Betrachtung bleiben; andrerseits ist er weiter, da alle Sprachformen, die als Wiederaufnahme eines

4

Dazu kommen redundante Merkmale wie [+Belebt], [+Konkret] und f+Zählbar], die nicht spezifiziert zu werden brauchen, da sie durch universelle Redundanzregeln eingeführt werden (cf. Jerrold Katz, Semantic Theory, New York 1972). 5 Die Beziehungen zwischen semantischen Merkmalen (wie „männlich" und „weiblich") und morphologischen Merkmalen (wie den Genus-Merkmalen im Deutschen) werden ausführlich behandelt bei Manfred Bierwisch, Syntactic Features in Morphology: General Problems of so-called Pronominal Inflection in German, in: To Honor Roman Jakobson. Essays on the Occasion of His Seventieth Birthday I, p. 2 3 9 - 2 7 0 . 6 Renate Steinitz, Nominale Pro-Formen, Unveröffentlichte Mimeographie, Berlin 1968. 7 Wie aus dem Kontext ersichtlich, meint Steinitz mit „Referenzträger" offenbar das Gleiche wie „Referent", also den Gegenstand (im weitesten Sinne), auf den eine sprachüche Form Bezug nimmt.

Pro-Formen des

Deutschen

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Referenzträgers möglich sind, eingeschlossen sind, wie z.B. der Mann in de)8. (1)

(a) (b) (c) (d) (e)

In großer Eile bog ein Polizist u m die Ecke. Der Polizist war mit einem Gummiknüppel bewaffnet. Er war mit einem Gummiknüppel bewaffnet. Der Hüter der öffentlichen Ordnung war mit einem Gummiknüppel bewaffnet. Der Mann war mit einem Gummiknüppel bewaffnet.

Das Verhältnis zwischen Pronomen und „ge-PRO-tem" N o m e n wird als ein Verhältnis zwischen Mengen gesehen: Der Referenzträger „B" repräsentiert die Obermenge eines durch die Lexikoneintragung A bezeichneten Referenzträgers „A", wenn B weniger und keine anderen (syntaktisch-)semantischen Merkmale 9 enthält als A. Diese Mengeninklusion trifft für das Paar Polizist: Mann (ebenso wie auch für Student: Mann usw.) zu. Der Mann wäre nach dieser Definition ebenso eine nominale Pro-Form wie er10. Pronomina wie er sind ein Sonderfall von Mengeninklusion: Durch ihren minimalen Bestand an semantischen Merkmalen sind sie von allen übrigen möglichen nominalen Wiederaufnahmen verschieden.

8

Das Beispiel ist Steinitz, Pro-Formen, entnommen und hat dort ebenfalls die Nummer (1).

9

Die meisten der von Chomsky, Aspects, als „syntaktische Merkmale" bezeichneten Merkmale werden von anderen Linguisten (z.B. Katz, Semantic Theory) als „semantische Merkmale" bezeichnet. Chomsky selbst diskutiert das Problem der Abgrenzung von semantischen und syntaktischen Merkmalen (Aspects, p. 75 und 153ss.). So sagt er über die Subkategorisierung mit Hilfe syntaktischer Merkmale (Aspects, p. 75): it is not obvious to what extent this information should be provided by the syntactic component at all". Bechert faßt beide Merkmalgruppen als „semantosyntaktische Merkmale" zusammen (Johannes Bechert, Ad-hoc-Merkmale in der generativen Phonologie, in: Dieter Wunderlich (Hg.), Probleme und Fortschritte der Transformationsgrammatik: Referate des 4. Linguistischen Kolloquiums Berlin 1969, München 1971, p. 2 9 - 3 7 , hier p. 29). 10 Das Problem der Abgrenzung echter Pronomina von Substantiven, die eine Obermenge bezeichnen, wird u. a. auch diskutiert von Emmon Bach, Nouns and Noun Phrases, in: E. Bach - R. Harms (Hg.), Universals of Linguistic Theory, New York 1968, p. 91-122, ferner auch von Friedrich Braun, Studien zu Konstituentenstruktur und Merkmalanalyse englischer Sätze, Hamburg 1969. Bach erwähnt auch Fälle, wo ne- • gative Oberbegriffe (wie idiot) als eine Art Pro-Form benutzt werden, z. B. in Nave you heard from Algernon lately? - The idiot called me up yesterday. Steinitz erörtert sehr interessante Fälle, wo das den Oberbegriff bezeichnende Substantiv zur Wiederaufnahme ungeeignet ist; so kann man z. B. nach Satz (1 a) nicht fortfahren: *Dieses Lebewesen war mit einem Gummiknüppel bewaffnet.

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Vater

In (lb) und (ld) handelt es sich ebenfalls um eine „Pro-Fortfiihrung"; wortidentische Wiederaufnahme (ein Polizist - der Polizist) und Wiederaufnahme durch ein Synonym (ein Polizist - der Hüter der öffentlichen Ordnung) können als Mengeninklusion beschrieben werden. Es handelt sich hier jeweils um identische Merkmalmengen: Der Referenzträger „A" stellt in diesen Fällen eine unechte Teilmenge des Referenzträgers „B" dar. Es wird nicht völlig klar, ob der Polizist und der Hüter der öffentlichen Ordnung in den obigen Beispielen auch als eine Art Pro-Formen angesehen werden, doch läßt der Terminus „Pro-Fortführung", der ausdrücklich diese Fälle miteinschließt, vermuten, daß Steinitz sie tatsächlich zu den Pro-Formen rechnet. Einer solchen Auffassung des Begriffs „Pro-Form" könnte ich mich nicht anschließen, weil ich sie für zu weit halte: Jede lexikalische Einheit könnte dann Pro-Form sein, denn Wiederaufnahme eines Referenzträgers durch die gleiche lexikalische Einheit ist ja immer möglich. Ich halte es für sinnvoller, den Kreis der Pro-Formen auf diejenigen einzuschränken, deren Referenten echte Obermengen der vorerwähnten Referenten bilden, möglichst sogar auf die merkmalärmsten unter ihnen, die wie die Pronomina er, sie, es — überhaupt nur in dieser (von R. Steinitz „Pro-Fortführung" genannten) Funktion vorkommen.11 In der zuletzt gemachten rigorosen Beschränkung wären dann auch Formen wie der Mann nicht als Pro-Form anzusehen, da sie nicht einen minimalen Merkmalbestand (wie er) aufweisen und auch nicht nur zur Pro-Fortfiihrung bénutzt werden (sondern z. B. auch generalisierend, was bei echten Pro-Formen unmöglich ist, z. B.: Der Mann hat jahrhundertelang die Rechte der Frau beschnitten). Andrerseits sollten „unbestimmte Pro-Formen" - so werden hier Formen wie jemand und etwas genannt, die nicht der Wiederaufnahme des gleichen Referenten dienen — aus zwei Gründen auch zu den Pro-Formen gerechnet werden: (A) (B)

Sie haben mit den „bestimmten" (wiederaufnehmenden) Pro-Formen die Merkmalarmut (d. h. den Minimalbestand an Merkmalen) gemein. Sie können im Text eine ähnliche Funktion wie die bestimmten ProFormen ausüben: Ihre Referenten können Oberklassen von Referenten bilden, die im gleichen Text — aber gewöhnlich ihnen folgend — durch spezifischere lexikalische Einheiten ausgedrückt sind. Das Verhalten

11 So wird in einigen klassischen Arbeiten über Pronomina verfahren, z. B. bei Roman Jakobson, Shifters, Verbal Categories, and the Russian Verb, Cambridge (Mass.) 1957 und bei Roland Harweg, Pronomina und Textkonstitution, München 1968.

Pro-Formen

des

Deutschen

25

unbestimmter Pro-Formen gegenüber spezifischeren lexikalischen Einheiten mit identischer Referenz im gleichen Text ist gewissermaßen gegenüber dem Verhalten bestimmter Pro-Formen zu vorerwähnten identischen Referenten spiegelverkehrt: PrOy^ — R gegenüber R — Pro^ (wobei Pro u b eine unbestimmte Pro-Form, Pro^ eine bestimmte ProForm und R die lexikalische Einheit mit identischer Referenz bezeichnen). Die Beispiele (2) — (8) sollen das veranschaulichen: (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)

Wer hat meinen Schlüssel genommen? - Karl. Jemand hat die Uhr angehalten. - Das war Karl. Hat jemand die Fenster zugemacht? — Ja, Karl. Man hat Karl in Chicago gesehen. — Ich weiß, wer ihn dort gesehen hat: Anna. Ich weiß, was dir fehlt: Ruhe. Was Peter besonders bekümmerte, war, daß Karl gelogen hatte. Karl tat etwas, was er später bereute: Er log.

In all diesen Fällen wird auf einen Referenten zunächst in unspezifischer Weise (durch eine unbestimmte Pro-Form), dann, im weiteren Text, in spezifischerer Weise Bezug genommen. Dabei muß die Spezifizierung nicht von der gleichen Person vorgenommen werden, wie die Beispiele (2), (3), (4) und (5) zeigen (Voraussetzung dafür ist natürlich, daß es sich bei dem Text um einen Dialog handelt). Es scheint vor allem drei Gründe zu geben, warum der Sprecher eine unbestimmte Pro-Form wählt: (a)

Der Sprecher kann keine genauere Angabe machen und bittet den Angeredeten, seine Angaben zu spezifizieren (d. h. die fehlenden Merkmale zu ergänzen). Das ist in (2) der Fall. Mit der Angabe wer präsupponiert der Sprecher nur, daß es einen Täter gibt und daß dieser menschlich12 ist. Die spezifischeren Angaben liefert dann der Angeredete in seiner Antwort.

12 Im Deutschen, wie auch in einigen anderen Sprachen (z. B. im Englischen und Französischen) besteht anscheinend eine Lücke im System der Fragepronomina: Man kann nach Personen und nach Sachen (einschließlich Pflanzen) fragen, aber es gibt keine spezifischen Fragepronomina für Tiere. Man kann im Deutschen mit gutem Gewissen weder fragen Wer hat die Milch aufgeleckt? (wenn man nicht sicher ist, was für ein Tier das getan hat) noch Was hat die Milch aufgeleckt? Trotzdem scheint wer - wie auch hier in (2) - Bezug auf Tiere nehmen zu können, nämlich dann, wenn Tiere und Menschen gleichermaßen in Frage kommen.

26

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Vater

(b)

Aus stilistischen Gründen (z. B. um die Spannung zu erhöhen oder seiner Aussage größeren Nachdruck zu verleihen) macht der Sprecher zunächst eine unspezifische Angabe, die er dann selbst spezifiziert. Das ist in (6), (7) und (8) der Fall. Alternative Ausdrucksweisen, die sich von der gleichen Tiefenstruktur ableiten lassen und nicht den gleichen (Spannungs- oder Emphase-) Effekt haben, wären (6'), (7') und (8').

(6') (7') (8')

Ich weiß, dir fehlt Ruhe. Peter bekümmerte besonders, daß Karl gelogen hatte. Karl log. Das bereute er später.

In den drei betroffenen Sätzen ist es im ersten Fall eine NP, die durch eine unbestimmte Pro-Form vorweggenommen wird, im zweiten ein eingebetteter Satz, im dritten eine VP (die hier nur aus V besteht) 1 3 . (c)

Die Wahl einer unspezifischen Pro-Form kann bedeuten, daß der Sprecher keine genaueren Angaben machen kann (ohne aber, wie in (a), um Spezifizierung zu bitten) oder will (aus Gründen der Höflichkeit, Vorsicht usw.). Wenn in diesem Fall eine spätere Spezifizierung durch einen zweiten Sprecher erfolgt, so ist das eine mögliche, aber keine notwendige Konsequenz aus der Äußerung der unspezifizierten Pro-Form, denn der erste Sprecher hat nicht zum Ausdruck gebracht, daß er eine Ergänzung seiner Angabe erwartet 1 4 . Fall (c) wird illustriert durch die Beispiele (3), (4) und (5). Die Äußerung des ersten Sprechers in (3) kann eine einfache Feststellung sein, die vom Angesprochenen (bzw. den Angesprochenen) kommentarlos hingenommen wird. Auf die Frage in (4) würde auch Ja als Antwort genügen (z. B. wenn es nur darauf ankommt, daß die Fenster überhaupt zugemacht wurden, damit es nicht reinregnet). Der erste Satz in (5) wäre eine in sich vollständige Äußerung, und die Spezifizierung durch den zweiten Sprecher könnte dem ersten Sprecher sogar unangenehm sein (sei es, daß er Annas Namen nicht in diesem Zusam-

13 Im Gegensatz zur Subjekts-NP kann VP nicht allein nachgestellt werden, sondern nur mit (pronominalisiertem) Subjekt: *Karl tat etwas, was er später bereute: log. 14 Die unbestimmten Pro-Formen in den Beispielen (3), (4) und (5) sind Beispiele dafür, daß bei gleichbleibender Semantik doch der pragmatische Gehalt recht verschieden sein kann: Der Sprecher kann Pro-Formen wie man und jemand benutzen mit der Absicht oder geheimen Hoffnung, von jemand anders eine (ihm fehlende) nähere Spezifizierung zu bekommen, er kann aber auch solche Formen benutzen, weil es ihm in diesem Teil der Aussage gar nicht auf eine nähere Spezifizierung ankommt oder sogar, weil sie ihm unerwünscht ist.

Pro-Formen

des

Deutschen

27

menhang erwähnt wissen will, sei es, daß er die Art, in der Sprecher B sein Wissen ungefragt zum besten gibt, nicht leiden kann) — aber hier, wie auch in (3) und (4) ist die spätere Spezifizierung durchaus möglich. Ich halte die in (A) und (B) genannten Gemeinsamkeiten der unbestimmten (oder unspezifizierten) Pro-Formen mit den bestimmten für entscheidend genug, um beide Gruppen gemeinsam als Pro-Formen anzusehen. Charakteristisch für Pro-Formen wäre demnach a) ihre (auf einem Minimum an Merkmalen beruhende) Möglichkeit, stellvertretend für andere sprachliche Elemente der gleichen Kategorie einzutreten, b) die Tatsache, daß sie auf eine „ausspezifizierte" sprachliche Form im gleichen Text mit identischer Referenz verweisen oder — wie das bei den unbestimmten Pro-Formen der Fall ist — zum mindesten verweisen können.

2.

Generierung von Pro-Formen

Überprüft man die verschiedenen Vorschläge zur Behandlung von Pro-Formen in der neueren linguistischen Literatur, so kann man zusammenfassend feststellen, daß unbestimmte Pro-Formen im allgemeinen bereits in der Basis eingeführt werden, bestimmte dagegen durch Transformationen. Einige der wichtigsten Ansätze sollen hier kurz erläutert werden.

2.1

Unbestimmte Pro-Formen

Die beiden Hauptansätze zur Generierung unbestimmter Pro-Formen bestehen in der Einführung einer Pro-Konstituente einerseits und der Annahme eines Pro-Merkmals andrerseits. Den ersten Ansatz verfolgen z. B. Katz und Postal: „We propose to guarantee unique recoverability by introducing a universal constituent, for which we use the term ,Pro' . . .". Katz - Postal, An Integrated Theory, p. 80.

Diese Pro-Konstituente wird als Bestandteil einer universalen Grammatik angesehen. Wichtigste Eigenschaft dieser universalen Pro-Konstituente ist, daß sie frei tilgbar („freely deletable") ist 1 5 . Eine solche Pro-Konstituente wird gelegentlich auch als nicht-universale Kategorie behandelt und durch Formá-

i s Das trifft ohne Einschränkungen jedoch nur für unbestimmte Pro-Formen zu (cf. N 3).

28

H.

Vater

tionsregeln eingeführt 16 . Die Alternative dazu bildet die Annahme eines syntaktischen Merkmals [+Pro]. So verfährt z. B. Postal, der nicht nur alle unbestimmten, sondern auch einen Teil der bestimmten nominalen Pro-Formen auf ein Merkmal [+Pro] in einem N der Tiefenstruktur zurückfuhrt 17 . Ähnlich verfahren auch Mötsch und Vater 18 . 2.2

Bestimmte Pro-Formen

Weitaus eingehender als mit den unbestimmten Pro-Formen haben sich die Linguisten in den letzten Jahrzehnten mit den bestimmten, durch Transformationen eingeführten, Pro-Formen befaßt. Für die Einsetzung bestimmter Pronomina gilt dabei im wesentlichen noch immer die von Lees und Klima 1963 entwickelte Pronominalisierungsregel 19 : (9)

X-Nom-Y-Nom'-Z

=> X - N o m - Y - N o m ' + P r o n - Z .

Voraussetzung ist dabei die Identität von Nom und Nom', wobei Nom (nach Lees und Klima) eine Konstituente des Matrixsatzes und Nom' eine Konstituente des eingebetteten Satzes ist. Was sich seit Formulierung dieser Regel 1963 geändert hat, sind im wesentlichen zwei Dinge: (a) (b)

Der Kreis der auf diese Weise eingeführten Pronomina ist erweitert worden; die Bedingungen für die Durchführung dieser Transformation wurden modifiziert.

Zu den Pronomina, die man zunächst nicht durch die Pronominalisierungsregel einführte, gehören die Personalpronomina der ersten und zweiten Person. Diese Pronomina werden z. B. bei Mötsch und Postal als Kategorien der Basis, also durch Formationsregeln, eingeführt 20 . Mit Recht kritisiert 16 So z.B. bei Manfred Bierwisch, Grammatik des deutschen Verbs, Berlin 1963 (Studia grammatica II) und bei Härtung, Die zusammengesetzten Sätze. 17 Paul Postal, On so-called ,pronouns' in English, in: Dinneen (Hg.), Report on the Seventeenth Annual Round Table Meeting on Linguistics and Language Studies, Washington 1966, p. 1 7 7 - 2 0 6 . 18 Mötsch, Attributive Adjektive; Heinz Vater, Zur Tiefenstruktur deutscher Nominalphrasen, in: Hugo Steger (Hg.), Vorschläge für eine strukturale Grammatik des Deutschen, Darmstadt 1970, p. 1 2 1 - 1 4 9 . 19 Robert Lees, E. Klima, Rules for English Pronominalization, Language 39 (1963), 17-28. 20 Wolfgang Mötsch, Untersuchungen zur Apposition im Deutschen, in: Studia grammatica V, Berlin 1965, p. 8 7 - 1 3 2 . Cf. auch N 17.

Pro-Formen des Deutschen

29

Boeder diesen Ansatz und weist nach, daß die Restriktionsbeziehungen dieser Pronomina und die Referenzbeziehungen, die eindeutig zwischen ihnen und dem Sprecher der Äußerung bzw. dem Angeredeten herrschen, eine andere Erklärung verlangen 21 . Die Lösung findet er in der Einfuhrung zweier Konstituenten, die Sprecher und Angeredeten (bzw. Vokativ) bezeichnen, und der obligatorischen Pronominalisierung aller in einem Satz auftretenden NP, die mit der Sprecher- bzw. Vokativ-Konstituente referenzidentisch sind 22 . Boeders Vorschlag ist nicht nur in Übereinstimmung mit den Beobachtungen Ross' und Wunderlichs, die sie dazu führten, eine die Tiefenstruktur jedes Satzes dominierende performative Struktur anzunehmen 23 , sondern auch mit der Behandlung der Pronomina der dritten Person, die allgemein durch eine Transformationsregel der in (9) illustrierten Art, auf Grund von Referenzidentität mit einer vorerwähnten NP, eingeführt werden. Die Bedingungen für die Pronominalisierung sind besonders von Langacker 1969 eingehend neu untersucht worden 2 4 . Langacker fand heraus, daß die von Lees und Klima postulierte Restriktion, daß NP a (die als Antezedens vorkommende NP) im Matrixsatz und NPP (die pronominalisierte NP) im eingebetteten Satz vorkommen muß, nicht entscheidend ist, denn in (10) liegen die Dinge genau umgekehrt: Pronominalisiert wurde eine NP im Matrixsatz auf Grund von Referenzidentität mit einer NP im eingebetteten Satz: (10) The woman who is to marry Ralph will visit him tomorrow. Ebenso ist die lineare Anordnung der Konstituenten nicht allein entscheidend dafür, welche NP in der Kette pronominalisiert werden kann, da Pronominalisierung vorwärts und rückwärts möglich ist, wobei allerdings Rückwärtspronominalisierung nicht möglich ist, wenn NP? NP a vorausgeht und höher im Stammbaum ist: 21 Winfried Boeder, Zur Stellung der Personalpronomina in der generativen Grammatik, ZMaF 35 ( 1 9 6 8 ) , 2 4 4 - 2 5 4 . 22 Der Vokativ kann im Text vorkommen und gilt dann im allgemeinen für mehr als einen Satz, nämlich so lange, bis er durch eine neue Anrede ersetzt wird, sonst bis zum Ende des vom gleichen Sprecher gesprochenen (bzw. geschriebenen) Texts. Der Sprecher kann dagegen nicht im Text spezifiziert werden. 23 John R. Ross, On Declarative Sentences, in: R. R. Jacobs - P. Rosenbaum (Hg.), Readings in English Transformational Grammar, Waltham (Mass.) 1970, p. 2 2 2 - 2 7 2 . Dieter Wunderlich, Pragmatik, Sprechsituation, Deixis, Stuttgart (Papier Nr. 9, Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Linguistik) 1968; LiLi 1 ( 1 9 7 1 ) , 1 5 3 - 1 9 0 . 24 Ronald Langacker, On Pronominalization and the Chain of Command, in: D. Reibel, S. Schane (Hg.), Modern Studies in English, Englewood Cliffs N. J. 1 9 6 9 , p. 1 6 0 -

186.

H. Vater

30

(11) *He is much more intelligent than Ralph looks. Als entscheidend für die Möglichkeit der Pronominalisierung erweist sich für Langacker die Relation „commands", die er folgendermaßen definiert: „We will say that a n o d e A ,commands' another node B if (1) neither A nor B dominates the other; and (2) the S-node that most immediately dominates A also dominates B . " Langacker, O n Pronominalization, p. 167.

Damit ist er in der Lage, die Pronominalisierungs-Restriktion adäquat zu formulieren (loc. cit): „NP a may pronominalize NPP unless (1) NPP precedes NP a ; and (2) NPP commands N P a . "

3.

Subklassifizierung

deutscher

Pro-Formen

Wie sich aus 1. und 2. ergibt, kann man Pro-Formen nach zwei Gesichtspunkten klassifizieren: a) nach ihrer Funktion im Text (vorerwähnt/nicht-vorerwähnt), b) nach ihrem kategoriellen Status (Pro-NP, Pro-VP, Pro-S usw.). Eine Subklassifizierung von Pro-Formen auf Grund der beiden genannten Kriterien soll im folgenden an Hand deutscher Pro-Formen exemplifiziert werden.

3.1

Subklassifizierung nach der Funktion im Text

In 1. wurde dargelegt, daß sich zwei Arten von Pro-Formen unterscheiden lassen, die „bestimmte" und „unbestimmte" Pro-Formen genannt wurden. Die bestimmten Pro-Formen zeichnen sich dadurch aus, daß sie eine sprachliche Form, die im gleichen Text vorkommt und sich auf den gleichen Referenten bezieht, wiederaufnehmen (was von R. Steinitz als „Pro-Fortführung" bezeichnet wird). Die Termini „wiederaufnehmen" und „Pro-Fortfuhrung" sind insofern nicht ganz genau, als eine bestimmte Pro-Form auch als erste Erwähnung eines Referenten im Text vorkommt; bestimmte Pro-Formen können also sowohl wiederaufnehmen als auch vorausweisen. In (12), (13) und (14) kommt die bestimmte Pro-Form jeweils als erste Erwähnung eines Referenten vor.

Pro-Formen des Deutschen

31

( 1 2 ) Es ist wahr, daß Peter gelogen hat. (13) Nachdem er abgeschlossen h a t t e , ging Peter weg. (14) So habe ich Fritz noch nie gesehen: alt, müde und griesgrämig. Es ist wahrscheinlich in allen derartigen Fällen möglich, die Position der vorausweisenden b e s t i m m t e n Pro-Formen durch Transformationen zu erklären. Man vergleiche (12), (13) u n d (14) mit ( 1 2 ' ) , ( 1 3 ' ) u n d ( 1 4 ' ) 2 5 . ( 1 2 ' ) Daß Peter gelogen hat, ist wahr. ( 1 3 ' ) Peter ging weg, nachdem er abgeschlossen hatte. ( 1 4 ' ) Fritz war alt, müde u n d griesgrämig. So habe ich ihn noch nie gesehen. Typisch für u n b e s t i m m t e Pro-Formen ist es, daß sie nicht nur in reiner F o r m v o r k o m m e n wie in (15) und (16), sondern auch in einer Art „ S y m b i o s e " mit anderen Elementen, vorzugsweise d e m Frage- u n d dem Negations-Element 2 6 ; vgl. ( 1 7 ) - ( 2 1 ) . (15) Jemand hat angerufen. (16) Etwas ist geschehen. (17) Wer hat angerufen? (18) Was ist geschehen? (19) Worauf wartest du? (20) Niemand hat angerufen. (21) Nichts ist geschehen. Jemand u n d etwas sind „ r e i n e " Pro-Formen, in diesem Fall Pro-NP mit den Merkmalen [ + N ] , [+Pro] und [+Menschl] bzw. [ - B e l e b t ] 2 7 . Dagegen sind wer, was und worauf Kombinationen aus einem N (mit den Merkmalen [+N], [+Pro] und [+Menschl] bzw. [ - B e l e b t ] ) und einem Frage25 (12) und (13) können als Resultate von Extrapositions- bzw. Permutations-Transformationen erklärt werden (cf. 12') und (13')). Die Ableitung von (14) durch Permutation und Tilgungen aus einer zugrundeliegenden Struktur des Typs (14') ist etwas ad hoc. 26 Frage- und Negations-Element als Tiefenstruktur-Konstituenten werden ausführlich in Katz, Postal, An Integrated Theory, behandelt; das Negationselement und seine Realisationen im Deutschen untersucht Gerhard Stickel, Untersuchungen zur Negation im heutigen Deutsch, Braunschweig 1970. 27 Der Kategorie nach sind alle Pronomina N. Wie echte (d. h. Nicht-Pro-) N können sie jedoch für eine gesamte NP stehen (vgl. 3. 2. 1). Die Unterscheidung zwischen N und NP fällt natürlich weg, sobald man einen Dependenz-Ansatz wählt (cf. Heinz Vater, Dänische Subjekt- und Objektsätze: Ein Beitrag zur generativen Dependenzgrammatik, Tübingen 1973), da es in einer Dependenz-Grammatik nur terminale Elemente gibt.

32

H.

Vater

Element, das im Deutschen — und auch in anderen Sprachen - niemals rein auftritt, sondern immer nominale Pro-Formen als Aufhänger braucht. Dieses Frage-Element charakterisiert den Satz, in dem es auftritt, als Fragesatz, wobei der Skopus der Frage nicht den ganzen Satz, sondern nur die mit dem Frage-Element verschmolzene NP umfaßt 2 8 . Man vergleiche (22) und (17). (22) Hat jemand angerufen? In (22) bezieht sich die Frage auf die Gesamt-Aussage; präsupponiert wird, daß es ein X gibt und daß dieses X menschlich ist, und die Frage ist eine Aufforderung, der Aussage „X hat angerufen" einen Wahrheitswert zuzuerteilen. In (17) wird nicht nur präsupponiert, daß es ein X gibt und daß X menschlich ist, sondern auch, daß X angerufen hat; die Frage bedeutet hier eine Aufforderung, X zu identifizieren. Wer, was, worauf usw. gehören zu den unbestimmten Pro-Formen, die eine Spezifizierung im folgenden Text verlangen (vgl. 1.). Niemand und nichts sind Verschmelzungen unbestimmter nominaler ProFormen mit dem Negationselement. Dies Negationselement kann im Deutschen — im Gegensatz zum Frage-Element — in reiner Form auftreten (als nicht), es kommt aber auch in Verbindung mit nominalen und adverbialen Pro-Formen vor; außer niemand und nichts sind hier die noch zu behandelnden Formen kein, nie(mals), nirgends, nirgendwo und nimmer zu erwähnen 29 . 3.2

Subklassifizierung nach dem kategoriellen Status

In der traditionellen Grammatik werden Pro-Formen weder methodisch einheitlich noch den sprachlichen Tatsachen angemessen behandelt. Eindeutig als Pro-Formen erkannt wurden nur die Pronomina. Aber der Terminus „Pronomen" und die Interpretation dieses Terminus als Bezeichnung für eine Wortart verschleiern zweierlei; (a) Die Pronomina können weder syntaktisch noch semantisch als besondere Wortklasse angesehen werden. (b) Sie stehen nicht durchweg für ein Nomen (d. h. genauer: ein Substantiv), sondern auch für eine ganze Nominalphrase und sogar für einen Satz; andrerseits werden aber auch Sprachelemente zu den Pronomina gerechnet, 28 Cf. dazu Christian Rohrer, Zur Theorie der Fragesätze, in: Dieter Wunderlich (Hg.), Probleme und Fortschritte der Transformationsgrammatik, München 1971, p. 1 0 9 126. 29 Bei der Form nimmer (die nicht zu meinem aktiven Sprachschatz gehört) bin ich mir allerdings nicht sicher, ob es sich wirklich um eine unbestimmte Pro-Form handelt.

Pro-Formen des

Deutschen

33

die überhaupt nicht für ein Substantiv, sondern zusammen mit einem Substantiv stehen. Es handelt sich um die Determinantien dieser, jener, jeder, all(er), mancher, einige, mehrere, die Possessivpronomina mein, dein, sein, unser, euer und ihr u.a. 30 . Andere Pro-Formen (wie z. B. die adverbialen Pro-Formen hier, da, dort, jetzt, damals, wo, wann usw.) wurden gar nicht als Pro-Formen erkannt oder sie wurden — mit dem ebenso monströsen wie unzutreffenden Terminus „Pronominaladverb" versehen — als eine Kreuzung aus Pronomen und Adverb behandelt — offenbar, weil man sich die Pro-Funktion nur in Verbindung mit Pronomina vorstellen konnte. Nimmt man, wie es hier getan wird, die Vertretungs- bzw. Ersetzungs-Funktion als das Charakteristikum aller Pro-Formen und baut man auf Chomskys Beobachtung auf, daß Pro-Formen major categories vertreten, dann ergibt sich, daß sich Pro-Formen sinnvoll danach subkategorisieren lassen, welche Kategorie sie vertreten. Folgende Untergruppen werden fürs Deutsche zunächst angenommen: Pronomina 31 , Proverben, Proadverbiale, Proattribute und Prosätze. Der Ausdruck „Proattribut" fällt dabei insofern aus dem Rahmen, als er nicht auf die Kategorie, sondern auf die Funktion der betreffenden Pro-Formen Bezug nimmt 32 . Die Attributs-Funktion kann bekanntlich von Formen verschiedener kategorieller Zugehörigkeit ausgefüllt werden, nämlich von Adjektivphrasen, Nominalphrasen im Genitiv, Präpositionalphrasen und Relativsätzen. Für all diese verschiedenen Kategorien stehen im Deutschen jedoch die gleichen Pro-Formen zur Verfugung: welch(er), was für ein, solcher und so ein\ da das einzig Verbindende all der verschiedenen vertretenen Kategorien die gleiche Funktion ist, scheint der Name „Proattribute" für Pro-Formen dieser Art gerechtfertigt zu sein.

3.2.1

Pronomina

Pronomina stehen nicht nur für den substantivischen Kern einer NP, sondern auch für die Verbindung Det + N und im Fall der bestimmten Pronomina so-

30 Alle diese Formen wurden zusammen mit der, ein und der 0-Form des Artikels bei Heinz Vater, Das System der Artikelformen im gegenwärtigen Deutsch, Tübingen 1963, unter dem Terminus „Artikel" zusammengefaßt, später, in Vater, Tiefenstruktur, dem Gebrauch in der generativen Grammatik entsprechend, als „Determinantien". 31 Der traditionelle Terminus „Pronomen" wird, da er immer noch allgemein gebräuchlich ist, beibehalten, obwohl „Pro-NP" genauer wäre. Analog dazu wird auch „Proverb" gebraucht (was auch dem englischen Terminus „pro-verb" entspricht). 32 Zum Unterschied zwischen Kategorie und Funktion cf. Chomsky, Aspects, Kap. 2.

H. Vater

34

gar auch für die Verbindung Det + N + Attribut, d. h. für die Gesamt-NP 33 , wie die folgenden Beispiele demonstrieren. (23) (24) (25) (26) (27)

Ein Mann war da. Er will Sie sprechen. Mancher Mensch denkt, er kann tun, was er will. Unsere Katze schnurrt immer, wenn man sie streichelt. Der kleine karierte Koffer ist nicht da. Ist er im Keller? Der junge Mann mit dem flotten BMW denkt, die Autobahn sei nur für ihn da.

Er in (23) nimmt ein Mann wieder auf, er in (24) mancher Mensch, sie in (25) unsere Katze, er in (26) der kleine karierte Koffer und ihn in (27) ist eine ProFortführung von der junge Mann mit dem flotten BMW. Unbestimmte Pronomina können ein Attribut bei sich haben; sie repräsentieren dann nur den Kern einer NP (mit eventuellem Determinans): (28) (29) (30) (31) (32) (33) (34) (35)

Niemand mit gesundem Menschenverstand würde so etwas machen. Niemand auf der Welt würde mit ihm tauschen. Nichts auf Erden kann ihn erschüttern. Karl glaubt grundsätzlich nichts, was in Zeitungen steht. Jemand, der so etwas sagt, ist ein Dummkopf. Da geschah etwas, worauf ich lange gewartet hatte. Wer in Europa glaubt ihm noch? Wer, der den letzten Krieg mitgemacht hat, will noch einmal Soldat spielen? (36) Was in aller Welt soll das bedeuten? Dabei scheinen für wer und was stärkere Beschränkungen zu bestehen als für die anderen unbestimmten Pronomina: (37) *Wer mit Schnurrbart war das? (38) *Was mit Eis möchten Sie trinken? Satz (38) könnte allenfalls scherzhaft geäußert werden - unter der Voraussetzung, daß der Fragende von vornherein weiß, daß der Angeredete nur etwas mit Eis trinkt; der Satz wäre aber wohl auch dann ungrammatisch, und zwar 33 Determinantien lassen sich von Attributen - abgesehen von ihrer oberflächenstrukturell festgelegten Position innerhalb von NP - vor allem durch ihre verschiedene Ableitung abgrenzen: Während Attribute aus eingebetteten Sätzen abgeleitet werden (so z.B. Mötsch, Apposition, und Renate Steinitz, Adverbial-Syntax, Berlin 1969), werden Determinantien entweder als NP-Konstituenten bereits in der Tiefenstruktur angesetzt (so bei Chomsky, Aspects) oder aus Merkmalen von N durch SegmentierungsTransformationen gewonnen (cf. Postal, Pronouns, und Vater, Tiefenstruktur).

Pro-Formen

des

Deutschen

35

bewußt gegen die Regeln konstruiert, wie das ja häufig bei scherzhaftem, ironischem und poetischem Sprachgebrauch der Fall ist. Die Tatsache, daß unbestimmte Pronomina ein Attribut haben können (wenn auch mit Einschränkungen), bestimmte dagegen nicht, hat offenbar mit der verschiedenen Ableitungsart zu tun: Für unbestimmte Pronomina, die ja schon in der Tiefenstruktur vorhanden sind, gelten anscheinend annähernd die gleichen Beschränkungen wie für „normale" Substantive, also N mit dem Merkmal [ - P r o ] , während bestimmte Pronomina durch eine Transformation jeweils für eine ganze vorerwähnte NP beliebigen Komplexitätsgrads eingesetzt werden. Zu den unbestimmten Pronomina gehören außer den bereits erwähnten noch die Verbindungen mit irgend: irgendjemand, irgendetwas, irgendeiner, irgendwer und irgendwas. Diese Pro-Formen unterscheiden sich von jemand und etwas durch das zusätzliche Merkmal [-spezifisch]. Sie drücken notwendig aus, daß es sich um ein beliebiges Exemplar innerhalb der Klasse aller N, die etwas Menschliches bzw. etwas Nicht-Belebtes bezeichnen, handelt, während jemand und etwas in dieser Hinsicht merkmallos sind, d. h. sie können etwas Beliebiges bezeichnen wie die irgend-¥ormeti, aber auch etwas, das zwar nicht vorerwähnt oder als bekannt vorausgesetzt, aber doch näher spezifiziert ist (z. B. durch einen restriktiven Relativsatz) 34 . In den folgenden Beispielen sind die Sätze unter (ii) jeweils ungrammatisch, weil in ihnen die unspezifischen Pronomina mit einem spezifizierenden Zusatz verbunden sind. (39) (i) (ii) (40) (i) (ii)

Jemand, der das sagt, ist verrückt. ""Irgendjemand, der das sagt, ist verrückt. Wasserski ist etwas, was ich noch nie probiert habe. *Wasserski ist irgendetwas, was ich noch nie probiert habe.

Zu den unbestimmten Pro-Formen gehört weiterhin das Pronomen man. Es unterscheidet sich von jemand unter anderem dadurch, daß es auf eine Vielheit Bezug nehmen kann und daß es unter Umständen mit den Personalpronomina der ersten und zweiten Person austauschbar ist 35 .

34 Cf. dazu Vater, Artikelformen, ferner James McCawley, Where Do Noun Phrases Come From? , in: R. Jacobs - P. Rosenbaum (Hg.), Readings in English Transformational Grammar, Waltham (Mass.) 1970, p. 1 6 6 - 1 8 3 , ferner auch Odo Leys, Nicht-referentielle Nominalphrasen, Deutsche Sprache 2 (1973), 1 - 1 5 . . 35 Die komplizierte Syntax und Semantik von man sind bisher noch nicht gründlich erforscht worden. Interessante Ergebnisse sind hier von einer noch in Arbeit befindlichen Dissertation von Tilman Höhle zu erwarten, wo z. B. mehrere Varianten von man unterschieden werden, die sich auch syntaktisch verschieden verhalten.

H. Vater

36

(41) (i) Man hat sich lange darüber gestritten, welche Funktion die Mandeln im menschlichen Körper haben, (ii) *Jemand hat sich lange darüber gestritten, welche Funktion die Mandeln im menschlichen Körper haben. (42) (i) Wie geht es dir? - Man lebt. (ii) *Wie geht es dir? - Jemand lebt. Die Zahl der bestimmten Pronomina ist anscheinend auf er, sie und es beschränkt. Einige Determinantien kommen zwar ohne Substantiv vor in Fällen, wo sie mit einer vorerwähnten NP referenzidentisch sind, jedoch handelt es sich dabei nicht um Pro-Form-Ersetzung, sondern um Tilgung des substantivistischen Kerns (vgl. (43) — (47)). Gestützt wird diese Annahme dadurch, daß in solchen Fällen ein Attribut erhalten bleiben kann, was bei echten bestimmten Pronomina nicht möglich ist (vgl. (48) und (49)). (43) (44) (45) (46) (47) (48) (49)

Hier zweigen zwei Wege ab. Welcher ist der richtige? Zehn Menschen waren anwesend. Einer hat es gesehen. Zehn Menschen waren anwesend. Keiner hat es gesehen. Viele Vorschläge wurden gemacht. Dieser ist der einzig vernünftige. Alle Namen hat er aufgerufen, meinen hat er vergessen. Du hast so schöne Kleider. Mußt du ausgerechnet das rote anziehen? Wer ist denn jetzt Klaras Freund, der mit dem Bart oder der mit dem Silberblick?

Haskell nennt solche Formen, die nicht so sehr vorangegangene Einheiten ersetzen als deren optionale Anwesenheit implizieren, „unechte Pro-Formen" 3 6 . Um eine echte Pro-Form dürfte es sich allerdings bei der im folgenden Beispiel handeln. (50) Otto Meyer ist da. - Der hat mir gerade noch gefehlt! Der ersetzt Otto Meyer, es ist nicht ein Determinans, dessen übergeordnetes Substantiv getilgt wurde; im allgemeinen haben Eigennamen ja auch kein Determinans. In (50) — wie auch in vielen anderen Fällen — hat der im Gegensatz zu er eine negative Konnotation. Das ist jedoch durchaus nicht immer der Fall, vgl. (51). (51) Kennen Sie Peter Müller? - Der ist mein bester Freund.

36 Jocelyn Haskell, In Search of the German Pro-Verb, Language Sciences 25 (1973), 41-45, bes. p. 41.

Pro-Formen des

3.2.2

Deutschen

37

Proverben

Das Englische macht häufig Gebrauch von Proverben; das meistgebrauchte Proverb ist to do. (52) (53) (54) (55)

I like swimming. — I do too. I hate ice cream. — Do you? Peter wants to go and so do I. Paul comes here frequently, doesn't he?

Zunächst scheint es, als ob die deutschen Verben machen und tun ungefähr die gleiche Funktion haben wie do, nur daß sie stärkeren Restriktionen unterliegen, wie die folgenden Beispiele zeigen. (56) (i) (ii) (57) (i) (ii) (58) (i) (ii)

Peter schwimmt. Das tut er jeden Nachmittag, Peter schwimmt. Das macht er jeden Nachmittag. Regnet es viel in Hamburg? Das tut es fast täglich. *Regnet es viel in Hamburg? Das macht es fast täglich. *Ißt du gern Eis? Ja, ich tue es. *Ißt du gern Eis? Ja, ich mache es.

Anscheinend ist machen nicht möglich bei Wiederaufnahme eines unpersönlichen Verbs und sowohl machen als auch tun können offenbar nicht eintreten, wenn ein potentieller (noch nicht realisierter) Vorgang ausgedrückt wird (vgl. (58)). Bei näherer Inspektion zeigt es sich, daß ein wichtiger Unterschied zwischen machen und tun einerseits und to do andrerseits besteht: Die beiden deutschen Verben können ihre Pro-Funktion nur zusammen mit einem Objekt-Pronomen (das oder es) ausfüllen, im Gegensatz zu to do, das ohne ein solches Pronomen steht. Daraus hat Jocelyn Haskeil die Schlußfolgerung gezogen, daß machen und tun unechte Pro-Formen sind, ebenso wie die Determinantien. Sie ersetzen nicht ein Verb bzw. eine VP, sondern sie sind Begleiter eines Verbs, das selbst durch die Pro-Form es oder das aufgenommen wird. Ihre Funktion ist es, den Aspekt des Hauptverbs anzuzeigen. Gestützt wird diese These dadurch, daß tun, aber auch machen tatsächlich (also nicht nur in der vorauszusetzenden Tiefenstruktur) mit einem Verb im Infinitiv vorkommen, mindestens in der Umgangssprache, oder wenn das Hauptverb nominalisiert ist 3 7 : (59) Was tut er? Schlafen tut er. (60) Zuerst machte er eine Reise durch Frankreich, und dann fuhr er weiter nach England. 37 Haskell, Pro-Verb, p 42.

H.

38

Vater

Diese These erklärt auch, warum das Objektpronomen bei der Wiederaufnahme von intransitiven und sogar unpersönlichen Verben steht (vgl. (56) und (57)). Es wäre wenig sinnvoll, eine Transformation von zugrundeliegendem schwimmen oder regnen zu es tun anzunehmen, aber eine Transformation, die in tut regnen den Infinitiv durch es oder das ersetzt, ist durchaus einleuchtend und innerhalb des Gesamtsystems gerechtfertigt, wenn man bedenkt, daß es und das zu den neutralsten und allgemeinsten Pro-Formen gehören, die z. B. auch für ganze Sätze eintreten können. Haskeils Ansatz ist im Einklang mit Isaienkos Beobachtungen, wonach es und das das Hauptverb in Perfekt- oder Modalkonstruktionen (samt seinem Objekt, falls ein solches vorhanden ist) ersetzen 38 : (61) Hat Peter seinen Freund getroffen? Ja, das hat er. (62) Darf Peter seinen Apfel essen? Ja, er darf es. Auch die von R. Steinitz als Proverben behandelten Verben geschehen, stattfinden, eintreten, sich abspielen, sich ereignen, beginnen u. a. erklärt Haskeil als unechte Proverben, die den Aspekt des Infinitiwerbs (bzw. nominalisierten Verbs) angeben 39 . 3.2.3

Proadverbiale

Proadverbiale sind Pro-Formen für Adverbiale, d. h. Adverbien, Präpositionalphrasen oder eingebettete Sätze in adverbialer Funktion 4 0 . Wie bei den Pronomina kommen unbestimmte und bestimmte Formen vor. Hier einige Beispiele für unbestimmte Formen: (63) (64) (65) (66)

Wo ist der braune Koffer? - Im Keller. Wann fährst du nach Rom? - Am Dienstag. Wie kommst du zum Bahnhof? - Mit einer Taxe. Weshalb hat Anna den ganzen Abend nichts gesagt? - Weil sie schüchtern ist.

38 Alexander Isaöenko, Kontextbedingte Ellipse und Pronominalisierung im Deutschen, in: A. Isaienko et al. (Hg.), Beiträge zur Sprachwissenschaft, Volkskunde und Literaturforschung, Berlin 1965, p. 1 6 3 - 1 7 4 , bes. p. 173. 39 Steinitz, Adverbial-Syntax, bes. p. 27. 40 Der Terminus „Adverbial" wird - in Anlehnung an R. Steinitz - statt des älteren, unhandlichen Terminus „adverbiale Bestimmung" gebraucht. Ebenso wie bei „Proattribut" handelt es sich auch bei „Proadverbial" um eine Funktionsbezeichnung. Auch hier verhalten sich Formen verschiedener Kategorien (NP, PP, Adv, S) gleich; so kann damals Adverbiale wie letzten Sommer, im Jahr 1905, früher und als ich noch zur Schule ging wiederaufnehmen.

Pro-Formen

des

Deutschen

39

(67) Irgendwann müssen wir mal nach Island fahren. (68) Ich kann den Duden nirgendwo finden. Ähnlich wie bei den Pronomina handelt es sich bei den W-Formen um Verbindungen einer adverbialen Pro-Form mit einem Frage-Element und bei den Zusammensetzungen mit nirgend um unspezifische unbestimmte Pro-Formen. Die bestimmten Formen nehmen — falls sie nicht deiktisch verwendet sind — eine vorerwähnte referenzidentische adverbiale Angabe wieder auf: (69) (70) (71) (72) (73)

Mit zwanzig Jahren kam er nach Berlin. Dort studierte er Musik. Ich lernte Amalie 1950 kennen. Damals war sie sehr hübsch. Herr Müller dachte lange nach. Dann erhob er sich plötzlich. Fritz raucht zu viel. So wird er nie richtig gesund werden. Franz tanzte sehr viel mit Amalie. Deshalb war seine Frau den ganzen Abend eifersüchtig.

Die Proadverbiale in (71), (72) und (73) stehen für die eingebetteten Adverbialsätze nachdem er lange nachgedacht hatte, da er zu viel raucht und weil Franz sehr viel mit Amalie tanzte. Zu den Proadverbialen gehören auch die sogenannten „Pronominaladverbien"; sie sind nichts anderes als adverbiale Pro-Formen, die eine Präposition enthalten (und dadurch etwas spezifischer sind als die bisher erwähnten adverbialen Pro-Formen): (74) In der Ecke steht ein Tisch. Darauf liegen Bücher. (75) Hier ist ein Lappen. Damit kannst du den Tisch abwischen. Pro-Formen, die Adverbiale ersetzen, können auch für präpositionale Objekte stehen (vgl. (76) — (79); sie verhalten sich also genau so wie die entsprechenden Nicht-Pro-Formen, bei denen ebenfalls Adverbiale und präpositionale Objekte in gleicher morphologischer Gestalt (als Präpositionalphrasen) auftreten. (76) (77) (78) (79) 3.2.4

Woran denkst du? Worauf wartest du? Peter ist gekommen. Damit habe ich nicht gerechnet. Wir fahren nach Italien. Darauf freue ich mich. Proattribute

Als unbestimmte Proattribute werden die Formen was für (ein) und welcher benutzt, letztere Form kann jedoch auch Vorerwähnung voraussetzen (vgl. (43) und (83)), nämlich Vorerwähnung einer Menge, aus der durch welcher ein Einzelelement ausgewählt ist, das selbst unbestimmt (d. h. nicht identifiziert) ist.

H. Vater

40 (80) (81) (82) (83)

Was für Tee möchtest du trinken? Was für ein Kleid hatte Irene auf dem Ball an? Welchen Eindruck machte Herr Peters auf Sie? Das Haus hat drei Eingänge. Die Frage ist, durch welchen Eingang der Mörder das Haus betreten hat.

Welcher in (82) kann durch was für ein ausgetauscht werden, welcher in (83) nicht, da es vorerwähnt ist (oder sich jedenfalls auf eine vorerwähnte Obermenge bezieht) 41 . Die Formen was för ein und was für haben die gleiche Distribution wie ein und 0 - F o r m des Artikels: was für ein steht bei singularischen Substantiven, die Zählbares bezeichnen, was für bei pluralischen Substantiven oder solchen, die Nicht-Zählbares bezeichnen. In allen Fällen handelt es sich um die Verbindung einer unbestimmten Pro-Form mit einem Frage-Element. Gefragt wird stets nach dem Attribut. Die Antwort auf (80) könnte sein: grünen, oder Tee aus China (wobei der Kern Tee wiederholt werden muß) oder Tee, der aus China kommt usw. Ähnlich ist es in den anderen Fällen. Bestimmte Proattribute sind solcher, solch ein und so ein. (84) Ich bestellte grünen Tee. Solchen Tee hatte ich noch nie getrunken. (85) Ich habe ein Auto mit Schiebedach. So ein Auto ist bei großer Hitze sehr praktisch. Es scheint, als ob die Form solcher nur bei nichtzählbaren Substantiven oder zählbaren Substantiven im Plural möglich ist, die Form solch ein (bzw. so ein) dagegen wohl unterschiedslos bei zählbaren und nicht-zählbaren. Distribution und Verwendungsweisen von was für (ein), welcher, so ein und solcher bedürfen noch eingehender Untersuchungen. Interessanterweise gibt es im Deutschen keine Pro-Form für prädikative Adjektive. Für den englischen Satz (86) (i) mit so als Proadjektiv gibt es keine deutsche Entsprechung; (86)i(ii) ist ungrammatisch. (86) (i) Mr. Miller is very kind and so is his wife. (ii) *Herr Müller ist sehr freundlich und so ist seine Frau. 3.2.5

Prosätze

Bei Prosätzen handelt es sich stets um Pro-Formen für eingebettete Sätze. Als Pro-Formen für Subjekt- und Objektsätze dienen die Formen das, dies und es, als Proformen für adverbiale Sätze und Satzeinbettungen, die als prä41 Cf. Vater, Artikelformen, und Vater, Tiefenstruktur.

Pro-Formen des

Deutschen

41

positionales Objekt fungieren, dienen Pro-Formen wie daran, darauf, damit usw. (vgl. 3.2.3). (87) Peter kommt. Das freut mich. (88) Fritz hat die Unwahrheit gesagt. Dies hat mich sehr erschüttert. (89) Fritz hat die Unwahrheit gesagt. Es hat mich sehr erschüttert. Die Tatsache, daß für Pro-Sätze nur Formen zur Verfügung stehen,die auch als Pronomina und Proadverbiale verwendet werden, ist kein Zufall: Eingebettete Sätze werden immer von einem NP- oder PP-Knoten dominiert, sind also immer gleichzeitig eine NP (als Subjekt oder Objekt) oder eine PP (als Adverbial oder präpositionales Objekt). Prosätze lassen sich deshalb nicht als besondere Untergruppe innerhalb der Pro-Formen herausheben, da sie immer gleichzeitig Pronomina oder Proadverbiale sind. Aus dem gleichen Grund werden auch eingebettete Attributsätze durch die gleichen Pro-Formen vertreten, die für adjektivische und nominale Attribute verwendet werden. Einbettungen verhalten sich im Hinblick auf ihre „Proisierung" (wie auch in anderen syntaktischen Hinsichten) also genau so wie Nicht-Einbettungen in gleicher Funktion (also z. B. Subjektsätze wie nominale Subjekte). Die folgende Übersicht baut auf den vorangehenden Erörterungen und Beispielen auf.

H.

42 3.3

Tabellarische

Übersicht über die gebräuchlichsten

unbestimmt

a g g o &

[-Belebt] etwas 42 was

irgendjemand irgendwer irgendeiner

irgendetwas irgendwas

niemand

nichts

wer

was woran, worauf 45 womit usw.

5 ni'

Proadverbiale

Deutschen*

er, sie, es der, die, das43 dieser, diese, dies44

der, die das (Relativpronomen)

lokal

temporal kausal

modal

lokal

temporal kausal

wo woher wohin nirgendwo

wann

so

hier da46 dort dorthin

damals da47 dann darauf

a> ¿ jS was fir (ein) £ C welcher *

des

bestimmt

[+Menschlich] jemand man

modal

Pro-Formen

Vater

nie

warum weshalb weswegen

darum deshalb deswegen

solcher so ein

Unechte Pro-Formen (vgl. 3.2.1 und 3.2.2) wurden nicht berücksichtigt

42 Es handelt sich hier um (umgangssprachliches) was in Fällen wie Es muß was passiert sein. 43 Es geht um der (als Demonstrativum) in Fällen, wo es nicht Determinans ist, d.h. nicht durch Tilgung des Substantivs alleiniger Repräsentant einer NP geworden ist, cf. (50), (51) und (87). 44 Cf. dies in Beispiel (88). 45 Woran, worauf usw. als Pro-Formen für präpositionale Objekte (cf. 3.2.3). 46 Hier ist eine Pro-Form für den Ort des Sprechers, dort für den Ort des Angesprochenen; da ist neutral, d. h. es kann sich sowohl auf den Ort des Sprechers, als auch auf den Ort des Angesprochenen beziehen; vgl. die in einem Telefongespräch übliche Frage Ist Herr X da? und die Antwort Er ist nicht da, wo das erste da durch dort, und das zweite durch hier ersetzt werden kann. 47 Da wie in Da war's um ihn geschehen.

Peter Wunderli Der Prosatz „ n o n " Substitutionsprobleme im Rahmen der transphrastischen Syntax

Es mag übertrieben erscheinen, der Analyse eines so einfachen Monems wie non einen ganzen Aufsatz zu widmen. Handelt es sich hier nicht um eine kleine, vollkommen problemlose Partikel, die von fast allen Grammatikern in zwei Zeilen abgehandelt oder gar stillschweigend übergangen wird? Ich hoffe mit meinen Ausführungen zu zeigen, daß in diesem Fall der Schein trügt. Sobald man den Dingen nämlich auf den Grund zu gehen versucht, kompliziert sich alles auf überraschende Art und Weise. Daraus muß man wohl schließen, daß sich die Grammatiker bisher nicht genügend mit der Negation non auseinandersetzten, daß sie ihren Charakter nicht wirklich erfaßten und sich vorschnell mit einem Büschel recht heterogener Erklärungen zufriedengaben. Dies gilt teilweise sogar für David Gaatone, der in seiner wichtigen Arbeit über das französische Negationssystem non immerhin über 20 Seiten widmet. Ich will versuchen, eine kohärente Erklärung für die verschiedenen syntaktischen Verwendungen von non zu geben, wobei ich mich bemühen werde, diese verschiedenen syntagmatischen Funktionen auf ein und denselben paradigmatischen Grundwert zurückzuführen. Was die Redeverwendungen angeht, so weiß man heute, daß viele syntaktische (und semantische) Probleme nicht auf der Ebene des Satzes gelöst werden können. Dieser ist zwar eine reale linguistische Einheit, aber er stellt nicht die größte Einheit dar, die man bei der wissenschaftlichen Analyse von Kommunikation berücksichtigen muß. Diese Rolle kommt vielmehr dem Text zu. Ich werde deshalb die syntagmatischen Funktionen von non v.a. aus der Perspektive der Textlinguistik beschreiben und versuchen, seine Leistung im Rahmen der Textkonstitution und der Satzverknüpfung herauszuarbeiten. Die Untersuchung beschränkt sich auf den eigentlich syntaktischen Bereich; ausgeschlossen aus unseren Betrachtungen werden demnach sein: — das Präfix non in Lexien wie non pertinent, non interrompu, non-adaption, non-concomitance usw., da es sich hier um das Gebiet der Wortbildungslehre (wortinterne Syntax) handelt;

44

P.

Wunderli

— non in Formeln wie non seulement, non plus, non loin usw., aber auch non pas, da es sich um erstarrte Wendungen handelt, die auf einen früheren Sprachzustand zurückgehen; ihre Bildung kann daher nicht aufgrund der Regeln der freien Syntax des Modernfranzösischen erklärt werden. *

Um die sich im Zusammenhang mit der Negation non stellenden Fragen zu klären, werde ich in drei Schritten vorgehen: ich werde zunächst versuchen, non im allgemeinen Rahmen der Negation zu charakterisieren und zu situieren; dann soll die Funktion von non im Hinblick auf die Textkonstitution und die systematischen Gegebenheiten, nach denen diese Mechanismen ablaufen, untersucht werden; und schließlich werden wir uns mit einer bestimmten Anzahl von Fällen beschäftigen, die auf den ersten Blick der vorgeschlagenen Erklärung zu widersprechen scheinen, die aber ohne Schwierigkeiten auf die Grundhypothese zurückgeführt werden können. 1. Um non den Platz zuweisen zu können, der ihm im allgemeinen Rahmen der Negation zusteht, müssen wir uns zunächst fragen, was überhaupt eine Negation ist. Und hier stößt man bereits auf die ersten Schwierigkeiten, denn in den meisten der gängigen Grammatiken wird dieses Problem stillschweigend übergangen1. Als Beispiel möchte ich nur die beiden bekanntesten Grammatiken des 19. und 20. Jahrhunderts anführen, die Grammaire des Grammaires von Girault-Duvivier und den Bon Usage von Maurice Grevisse2. In der Grammaire des Grammaires lesen wir (unter dem Titel „De l'usage de la négative ne, pas, point et autres mots divers, appelés négatifs"): La négation s'exprime en français ou par ne ou non tout seul, ou par ne ou non, accompagné de pas ou de point. Grammaire des Grammaires, p. 846.

Darauf folgt eine lange Liste von Ausdrücken (darunter rien, jamais, nullement, aucun, nul, personne usw.), die - so der Verfasser - zwar selbst nicht negativ wären, gleichwohl aber die Orientierung oder den Wert der Negation 1

Dies trifft selbst für die letzte große Studie zu, die sich mit der Negation im Französischen beschäftigt: D. Gaatone, Etude descriptive du système de la négation en français contemporain, Genève 1971. Was bei einem Autor, der das gesamte grammatikalische und syntaktische System einer Sprache darzustellen versucht, zur Not noch entschuldbar ist, kann dort, wo sich die Studie nur auf das fragliche Phänomen richtet, nicht mehr hingenommen werden. 2 Cf. Ch.-P. Girault Duvivier, Grammaire des grammaires ou analyse raisonnée des meilleurs traités sur la langue française . . . , Paris 1 4 1 8 5 1 ; M. Grevisse, Le bon usage. Grammaire française avec des remarques sur la langue française d'aujourd'hui, Gembloux-Paris 8 1 9 6 4 .

45

Der Prosatz „non"

im einen oder anderen Sinn verändern würden. Es ist erstaunlich, daß diese Darstellung in d e m großen, für das 20. J a h r h u n d e r t repräsentativen Werk nur geringfügig verändert wieder a u f g e n o m m e n wird. Maurice Grevisse beginnt sein Kapitel über die Negation folgendermaßen: Les adverbes de négation sont, à proprement dire: non, atone. Bon Usage, § 8 7 3

forme accentuée, et ne, forme

Und drei Seiten weiter finden wir folgende Ergänzung: La négation ordinaire ne se trouve généralement accompagnée d'un des mots pas,

aucun,

point, aucunement, guère, jamais, nul, nullement, personne, plus, que, rien, ou d'une des expressions âme qui vive, qui que ce soit, quoi que ce soit, de ma vie, de (tel) temps, de longtemps, nulle part etc. Bon Usage, § 875a

In beiden Werken fehlt jeder Versuch, die Negation an sich zu definieren — u n d das Gleiche gilt auch fur die meisten anderen Grammatiken. Bei genauerem Zusehen finden wir in all diesen Darstellungen nichts weiter als eine m e h r oder weniger lange Liste von (kontinuierlichen oder diskontinuierlichen) Morp h e m e n oder gar Syntagmen, die als Negationsfunktion ausübend vorgestellt w e r d e n 3 . Was eine Negation wirklich ist, wird aber nirgends gesagt. Obwohl jeder intuitiv zu wissen glaubt, was m a n sich darunter vorzustellen hat, bleibt diese Unterlassung nicht ohne schwerwiegende Folgen: das Inventar dessen, was „ N e g a t i o n " genannt wird, fällt von Werk zu Werk verschieden aus. So führt Girault-Duvivier u n t e r diesem Titel z. B. Lexien wie moins, pis, pire, moindre, autre, autrement, rarement, sinon usw. auf, die sicherlich ein negatives Element oder etwas Ähnliches enthalten; aber sind sie deswegen schon Negationen? Die meisten modernen Grammatiker würden dies sicherlich verneinen, u n d sie würden auch die Berücksichtigung von F o r m e l n wie âme qui vive, qui que ce soit, de ma vie, de longtemps usw. im Inventar von Grevisse beanstanden. Es ist offensichtlich, daß man die Negation nicht durch ein Inventar definieren k a n n ; das, was ins Inventar a u f g e n o m m e n werden kann oder m u ß , hängt im Gegenteü von der Definition ab, die man dem Terminus „ N e g a t i o n " zugrundelegt. 3

Mehr oder weniger gleich gehen z. B. vor: J . - C . Chevalier et al., Grammaire Larousse du français contemporain, Paris 1964, § 6 2 2 ss.; R.-L. Wagner - J. Pinchon, Grammaire du français classique et moderne, Paris 1962, § 4 6 9 / 7 0 ; Ph. Martinon, Comment on parle en français, Paris 1927, p. 5 2 6 ss.; G. und R. Le Bidois, Syntaxe du français moderne II, Paris 2 1 9 6 7 , § 9 8 3 / 8 4 ; C. de Boer, Syntaxe du français moderne, Leiden ' 1947, p. 17ss.; G. Gougenheim, Système grammatical de la langue française, Paris 1939, p. 2 5 9 ss.; usw.

46

P.

Wunderli

Ein anderer Versuch, das Wesen der Negation zu erfassen, wurde von Ferdinand Brunot in seinem berühmten Werk La pensée et la langue4 unternommen. Das Ziel dieses Buches ist es, die grammatischen und syntaktischen Mittel des Französischen unter einem onomasiologischen Gesichtspunkt darzustellen5 . Leider wird die Art und Weise, wie Brunot zu seinen logischen Kategorien gelangt, kaum diskutiert; wir erfahren nur, daß sie der Psychologie und der Logik entstammen — nicht etwa der Psychologie und der Logik, die Brunot „rein" nennt, sondern einer „psychologie ou . . . logique reflétées dans le langage d'un peuple."6 Im Rahmen dieser Onomasiologie auf vorwissenschaftlicher Basis wird die Negation folgendermaßen dargestellt: Lorsqu'on veut répondre négativement c'est non qu'on emploie dans la langue soit ancienne, soit moderne: Venez-vous? Non. On nie purement et simplement la chose énoncée. Cette formule essentielle se suffit à elle-même. Brunot, La pensée et la langue, p. 494

Durch einen Rückgriff auf die Etymologie wird in der Folge die Partikel ne (und ihre Zusammensetzungen) zu non in Beziehung gesetzt. Diese Art, die Negation zu behandeln, ruft ebenso nach Vorbehalten wie die Versuche von Girault-Duvivier, Grevisse und vielen anderen. Sicher, Brunot hat nicht den Fehler begangen, die Negation durch eine mehr oder weniger vollständige Aufzählung der Negationszeichen definieren zu wollen. Aber ist die Zuflucht zur Etymologie etwa weniger anfechtbar? Überdies bringt Brunots Vorgehen erneut keine Definition dessen, was die Termini nier, négation für den Linguisten bedeuten: er versucht nirgends, ihre populäre, vorwissenschaftliche Bedeutung durch eine wissenschaftliche Definition zu ersetzen7. 4 5

F. Brunot, La pensée et la langue, Paris ^1965 ( 3 e tirage). Cf. Brunot, La pensée et la langue, p. VII: „Ce que j'ai voulu, c'est présenter un exposé méthodique des faits de pensée, considérés et classés par rapport au langage, et des moyens d'expression qui leur correspondent"; p. XVIII: „Entre les formes les plus diverses de l'expression, entre les signes les plus disparates, il y a un lien, c'est l'idée commune que ces signes contribuent à exprimer"; p. XX: „II faut se résoudre à dresser ses méthodes de langage, où les faits ne soient plus rangés d'après l'ordre des signes, mais d'après l'ordre des idées".

6

Cf. Brunot, La pensée et la langue, p. XX: „II ne s'agit pas du tout d'empiéter sur la psychologie, ni de faire de la grammaire une branche de la philosophie. Si je cherche à la reconstituer, c'est pour elle-même, pour ses fins propres comme par ses moyens propres. Le résultat sera toujours de faire apparaître des dissemblances profondes entre la psychologie ou la logique d'une part, de l'autre la psychologie ou la logique reflétées dans le langage d'un peuple". Cf. dazu auch G. Barnicaud, M . - A . Compare, O. Ducrot, A. Vidal, Le problème de la négation dans diverses grammaires françaises, Langages 7 (1967), 59.

7

Der Prosatz „non"

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Außerdem leidet die Darstellung der Beziehungen zwischen non und seinem Kontext unter einigen recht ärgerlichen Ungenauigkeiten. Brunot behauptet, daß einfach der „ausgesagte Inhalt" verneint werden müsse, um negativ zu antworten. Aber was ist dieser „ausgesagte Inhalt"? Etwa das außersprachliche Faktum „X vient" oder sogar „je viens"? Aber dieses Faktum wird nicht als solches gesagt; das, was ausgesagt wird, ist eine Frage, die sich auf dieses Faktum bezieht. Oder sollte Brunot an die Frage Venez-vous? denken, wenn er von „ausgesagtem Inhalt" spricht? Eine solche Interpretation ist nicht weniger unbefriedigend, denn wir werden sehen 8 , daß non nicht einem „venez-vous + Negation" (-> ne venez-vous pas?) gleichgesetzt werden darf. Wir müssen somit festhalten, daß Brunots Analyse der Beziehungen zwischen der Negation und ihrem Kontext unzureichend ist, und daß es ihm auch nicht gelungen ist, das Gebiet der Negation befriedigend abzugrenzen. Dieser Mißerfolg zeigt uns nochmals, daß eine exakte Definition dessen, was man unter Negation verstehen will, unabdingbare Voraussetzung für die wissenschaftliche Untersuchung dieses Phänomens ist; überdies muß herausgearbeitet werden, worauf eine Negation sich nun wirklich bezieht. Hierfür scheint es mir unumgänglich, auf die Logik zu rekurrieren — allerdings nicht im Sinne von Brunot, sondern in demjenigen von Charles Bally, Ducrot — Todorov usw. 9 Eine logische Aussage besteht aus einem Argument (z. B. Pierre) und einem Prädikat (z. B. dort). Die Gesamtheit von Argument und Prädikat kann man ein Diktum nennen {Pierre + dort). Das Diktum darf nun aber noch nicht der Aussage gleichgesetzt werden. Diese enthält außer dem Diktum noch eine Stellungnahme des Sprechers zum existentiellen Charakter des Diktums. Dieses existentielle Urteil wird Modus oder Modalität genannt; es kann affirmativ, negativ, interrogativ, imperativ usw. sein und manifestiert sich auf der Ebene des Satzes durch das, was Coseriu als „ontische Bedeutung" bezeichnet 1 0 . Wir können also sagen, daß sich eine Aussage aus Modalität und Diktum zusammensetzt, wobei das Letztere seinerseits in Argument und Prädikat zerfällt. Wenn wir nun wieder zu unserem Beispiel zurückkehren, so stellen wir fest, daß die Aussage Pierre dort ein Argument (Pierre) und ein Prädikat (dort) enthält, die zusammen das Diktum bilden, und außerdem eine Modalität, welche in diesem Fall diejenige der Affirmation ist. Nun wird in unserem Beispiel die Modalität (oder ontische Bedeutung) in 8 9

Cf. p . 56 SS. Cf. Ch. Bally, Linguistique générale et linguistique française, Berne ^1965, § 27 ss.; O. Ducrot - T. Todorov, Dictionnaire encyclopédique du langage, Paris 1972, p. 394/95 (cf. auch die bibliographischen Hinweise, p. 397). 10 Cf. E. Coseriu, Die Lage der Linguistik, Innsbruck 1973, p. 10.

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der Redekette durch kein spezifisches Element markiert - Bally spricht deswegen von einer „modalité implicite". Aber man kann die Dinge auch anders sehen. Da das Fehlen eines besonderen Merkmals immer bedeutet, daß wir es mit affirmativer Modalität zu tun haben, könnte man hier von einem Nullzeichen sprechen: dem signifié ,Affirmation' entspräche ein signifiant 0 1 1 . Welche Lösung man auch immer wählt, der Entscheid bleibt ohne Konsequenzen für die Probleme, die uns hier interessieren. Wichtig für unsere Fragestellung ist, daß die affirmative Modalität immer expliziert werden kann, indem wir auf lexikalische und syntaktische Mittel zurückgreifen, cf. z. B.: Il est vrai Il est juste etc.

que Pierre dort.

Was uns im Bereich des Modus besonders interessiert, ist natürlich die negative Modalität. Ersetzt man die implizite (Pierre dort) oder die explizite affirmative Modalität (il est vrai que Pierre dort) durch eine negative Modalität, erhält man einen Satz vom Typ II est faux que Pierre dort. In diesem Fall wird die explizite Negation in erster Linie mit Hilfe lexikalischer Mittel zum Ausdruck gebracht (être faux); hinzu kommt als sekundäre, von der ersten abhängige Erscheinung die syntaktische Unterordnung. Die erwähnte Form stellt die normale Periphrase der logischen Negation dar. Auf sprachlicher Ebene kann nun eine Konstruktion von Typ Pierre ne dort pas, wo der lexikalischen Negation eine morphosyntaktische Einheit entspricht, als äquivalent angesehen werden. Den beiden Typen gemeinsam ist, daß sie die Aufhebung oder besser Verweigerung der die (reelle oder fiktive) Existenz des Diktums betreffenden Affirmation markieren 12 . Unter diesem Blickwinkel ist die Negation mit der Frage (Est-ce que vous venez? ) und mit der Bedingung verwandt (Si tu viens, nous irons au cinéma), obwohl es sich in diesen Fällen nicht um eine Aufhebung der Verweigerung der Affirmation handelt: bei der Frage kann man von einer verschobenen oder aufgeschobenen Affirmation sprechen, bei der Hypothese von einer Affirmation, die von der Realisierung einer gegebenen Bedingung abhängig gemacht wird. Diese logisch begründeten Überlegungen erlauben es uns, ein erstes Element der gesuchten Negationsdefinition zu isolieren. Wir halten fest: 11 Cf. zu diesem Problem jetzt auch S. J. Schmidt, Texttheoretische Aspekte der Negation, ZGL 1 ( 1 9 7 3 ) , 1 7 8 - 2 0 8 , bes. p. 180, sowie den dort erwähnten Interpretationsvorschlag von J. S. Petöfi. 12 Cf. hierzu auch Schmidt, ZGL 1 (1973), 1 7 8 - 2 0 8 , bes. p. 1 8 0 - 1 9 3 .

Der Prosatz

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Eine Negation ist ein (einfaches oder komplexes) Zeichen, das die Verweigerung der existentiellen Affirmation eines Diktums markiert. Fügen wir noch hinzu, daß die Modalität, die einem Diktum zugeordnet wird, immer sprecherabhängig ist: sie hat demnach subjektiven Charakter. Eine affirmative oder negative Modalität gibt uns a priori keinen Aufschluß über die objektive Existenz oder Nicht-Existenz des Diktums, sondern nur über ihre Annahme bzw. Nicht-Annahme durch das modale Subjekt (Sprecher) 13 Nach diesem Exkurs in den Bereich der Logik kommen wir zu unserer eigenen Fragestellung zurück. Vom linguistischen Standpunkt aus ist die erarbeitete Definition der Negation deshalb noch unbefriedigend, weil sie es erlaubt, unter dieser Bezeichnung alle möglichen Erscheinungen zu klassieren, denen auf der Ebene des Sprachsystems die verschiedensten Grundwerte zukommen. Es ist eine derart weitgefaßte (implizite) Negationskonzeption, die es z. B. Ferdinand Brunot erlaubt, auch Ausdrücke wie allons donc!, par exemple! oder joliment! in den folgenden Beispielen als Negationen zu bezeichnen 1 4 : Allons donc! je vous dis que j'ai de bonnes raisons pour savoir que cela ne se peut pas. Musset, Lorenzaccio, IV/10 Ma faute à moi, par exemple! Donay, La Patronne, III/3 La duchesse une amie! . . . Oui, Daudet, L'immortel, 9

joliment!

Weitere Ausdrücke dieser Art wären il n'y a pas de danger!, justement!, tu parles!, usw. Es soll nicht bestritten werden, daß in den obigen Kontexten allons donc!, par exemple! und joliment! eine Funktion ausüben, die in etwa mit derjenigen einer Negation vergleichbar ist. Aber erlaubt uns diese Feststellung bereits, diese Ausdrücke zusammen mit non, ne pas usw. zu 13 Unsere Definition des negativen Satzes gleicht in gewisser Hinsicht den von DuboisLagane und Wartburg - Zumthor gegebenen Bestimmungen. Cf. J. Cubois - R. Lagane, La nouvelle grammaire du français, Paris 1973, p. 163: „Une phrase négative est une phrase où on nie une affirmation"; W. v. Wartburg - P. Zumthor, Précis de syntaxe du français contemporian, Berne 21958, p. 43: „La phrase négative exprime l'inexistence d'un fait. Elle implique une attitude spéciale d'esprit chez le sujet parlant; celui-ci infirme un jugement qui pourrait être porté par un autre . . ." - Vgl. auch Schmidt, ZGL 1 (1973), 180 ss. 14 Cf. Brunot, La pensée et la langue, p. 501; cf. auch Tesnière, Eléments, § 8 8 / 1 1 - 1 2 .

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klassieren, sie als eigentliche Negationen zu betrachten? Dies scheint mir mehr als zweifelhaft, v. a., wenn man bedenkt, daß im dritten der zitierten Beispiele eigentlich nicht joliment, sondern oui, joliment mit non kommittiert; oui, das affirmative Antonym zu non, müßte somit ebenfalls zu den Negationen gerechnet werden, was vom paradigmatischen Gesichtspunkt aus offensichtlich unsinnig ist! Um die Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen, müssen wir konsequent zwischen der Ebene der langue und derjenigen des discours unterscheiden. Zeichen wie non, ne . . . pas usw. sind negativ auf der Ebene der langue, die Negativität ist ein Teil ihres Grundwertes. Ganz anders liegen die Dinge bei den von Brunot zitierten Ausdrücken. Wenn wir sie durch non ersetzen, bewahren wir zwar das negative Element des Ausdrucks, in stilistischer Hinsicht kommen wir jedoch zu einem ganz anderen Resultat: wir verlieren das affektische Element. Der affektische Charakter aber ergibt sich aus der Tatsache, daß allons donc! usw. nur auf der Ebene des discours Negationen sind: kontextuelle Determinationen verformen einen anderen Grundwert in Richtung auf einen negativen Nutzwert hin. Man könnte deshalb von okkasioneller Negation sprechen oder besser noch von negativierendem Gebrauch; auf jeden Fall handelt es sich nicht um Zeichen, denen der negative Charakter bereits auf der Ebene der langue zukommt 1 5 . Was unsere Definition der Negation betrifft, so ist ihr eine Einschränkung beizufügen, die es erlaubt, die okkasionellen Negationen auszuschließen und nur Zeichen zu berücksichtigen, deren Grundwert ( > langue) die Negativität einschließt. Eine zweite Einschränkung drängt sich auf. Die oben besprochenen okkasionellen Negationen wie auch die logischen Negationsperiphrasen vom Typ il est faux que, c'est une erreur que usw. realisieren den negativen Sinneffekt der Aussage aufgrund von lexikalischen Einheiten; benutzt man hingegen non, ne . . . pas usw., bedient man sich morpho-syntaktischer Elemente. Daß lexikalische und morpho-syntaktische Einheiten oft miteinander konkurrieren, ist eine bekannte Tatsache, und auf der Ebene einer semantischen Satz- und Textanalyse müßte man selbstverständlich beide Möglichkeiten zur Verweigerung der existentiellen Affirmation eines Diktums gleichberechtigt behandeln. Da wir uns aber vorgenommen haben, eine syntaktische Analyse des Negationsphänomens durchzuführen, sind wir gezwungen, die negativen lexikalischen Einheiten auszuschließen. Unsere endgültige Definition der morpho-syntaktischen Negation sieht deshalb folgendermaßen aus: 15 Wenn m a n das Vorgehen von Brunot mit äußerster Konsequenz weiterführen würde, sähe man sich gezwungen, auch jeden mit ironischem U n t e r t o n ausgesprochenen Satz zu den Negationen zu stellen. Die Beschreibung des sprachlichen Modalsystems würde damit schlechterdings unmöglich.

Der Prosatz

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Eine Negation ist ein (einfaches oder komplexes) Morphem, dessen auf der Ebene der langue gegebene Funktion darin besteht, die existentielle Affirmation eines Diktums zu verweigern. Wir betrachten als Negation also nur das, was Lucien Tesnière die marquants de la négation16 nennt, d.h. diejenigen Zeichen, denen die Negationsfunktion auf der Ebene der langue zukommt und die zu geschlossenen Paradigmen gehören. Wir haben somit den Bereich der Negation genau umrissen; es bleibt uns die Aufgabe, den Platz zu definieren, den non in diesem Bereich einnimmt — ein Problem, das eng mit der Frage zusammenhängt, was denn eigentlich durch die verschiedenen Negationen verneint wird. Unsere Klassifikation von non erfolgt aufgrund von zwei Kriterien. In einem ersten Schritt werden wir non und dessen Ersatzformen (non pas, pas du tout, point du tout etc.) den Negationen vom Typ ne.. . pas, ne. . . point gegenüberstellen. Diese Opposition kann zunächst in syntagmatischer Hinsicht definiert werden. Non bildet ein Paradigma mit den Morphemen oui und si, und wie diese übt es für sich allein die Funktion eines Satzes bzw. Teilsatzes aus 17 : Es steht in Korrelation entweder mit der Intonation eines autonomen Aussage-, Ausruf- oder Fragesatzes, oder aber mit derjenigen des affigierten Elements (A) eines segmentierten Satzes (Typ AZ oder ZA) 1 8 . Wenn non durch seine Satzfunktion charakterisiert ist, so liegen die Dinge bei ne . . . pas usw. anders. Ein einfaches Beispiel wie Pierre ne dort pas und die Unmöglichkeit, mit ne . . . pas allein eine nicht-metasprachliche Aussage zu machen, beweisen zur Genüge, daß dieser Negationstypus immer Bestandteil eines Satzes oder Teilsatzes sein muß, der auf anderen sprachlichen Einheiten beruht. Wir können also mit L. Bloomfield sagen, daß ne. . . pas eine gebundene, non dagegen eine freie Form sei 19 . Indessen unterscheiden sich unsere beiden Negationen nicht nur durch ihren freien (phrastischen) bzw. gebundenen (nichtphrastischen) Charakter, sondern auch aufgrund der recht unterschiedlichen Beziehungen, die in diesen beiden 16 Cf. L. Tesniere, Elements de syntaxe structurale, Paris "4966, p. 217. 17 Cf. auch die Grammaire Larousse du français contemporain, §623: „II [sc. non] joue le rôle d'une proposition à un terme et alterne avec oui et Grevisse, Bon usage, § 874 a: ,JVon a, dans les réponses et ailleurs, la valeur d'une proposition reprenant de façon négative une idée, une proposition; . . .";Dubois-Lagane, La nouvelle grammaire du français, p. 165: „L'adverbe négatif non peut constituer à lui seul l'équivalent de toute une phrase négative . . ."; usw. 18 Zum segmentierten Satz cf. Bally, LGLF, § 79ss. 19 Cf. L. Bloomfield, Language, London 2 1935, p. 160.

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Fällen zwischen Negation und Diktum bestehen. Ein Satz wie Pierre ne dort pas kann in allen möglichen Kontexten vorkommen: er kann die Antwort auf eine Frage vom Typ Est-ce que Pierre dort? bilden, er kann ein Korrekturelement zu einer vorhergehenden Affirmation vom Typ Pierre dort darstellen, er kann eine einfache Feststellung im Rahmen einer gegebenen Situation auch ohne sprachlichen Kontext zum Ausdruck bringen, usw. Schon diese Beispiele genügen, um deutlich zu machen, worauf es hier ankommt: die Bedeutung des Satzes Pierre ne dort pas bleibt immer gleich, sie ist unabhängig vom Kontext 20 . Aus diesen Gegebenheiten folgt, daß das negierte Diktum Bestandteil desselben Satzes ist wie die Negation ne . . . pas selbst; die Reichweite dieser Negation überschreitet offensichtlich die Grenzen des Satzes bzw. Teilsatzes nicht. Deshalb werden wir diesen Negationstypus — in Anlehnung an die Terminologie der Kopenhagener Schule21 — homonex nennen, d. h. ,auf denselben Nexus (= Satz bzw. Teilsatz) bezogen'. Wenn wir jetzt auf unser altes Beispiel Venez-vous? - Non zurückkommen, so ist auf Anhieb klar, daß die Beziehungen zwischen Negation und Diktum hier anderer Art sind. Wir haben gesagt, non sei ein freies Morphem und übe für sich allein Satzfunktion aus. Obwohl wir die Frage, welches nun eigentlich bei diesem Negationstyp das negierte Diktum sei, noch nicht gelöst haben, könne wir gleichwohl schon jetzt feststellen, daß die Bedeutung dieses eingliedrigen Satzes nicht unabhängig vom Kontext ist. In den Beispielen: Venez-vous? - Non. Sors! - Non. II s'est endormi. - Non.

muß diese Bedeutung je nach Kontext mit ,Je ne viens pas', ,Je ne sors pas' oder ,11 ne s'est pas endormi' umschrieben werden. Die Bedeutung von non hängt also vom Kontext ab. Überdies wird das von der Negation betroffene Diktum nicht im von diesem Morphem gebildeten Satz expliziert, und die gleiche Feststellung trifft auch auf segmentierte Sätze wie non, je ne viens pas zu. Die Reichweite dieser Negation geht also über die Satzgrenzen hinaus; non betrifft ein Diktum, das außerhalb des monoremen negativen Satzes liegt 22 . 20 Diese Feststellung gilt aber nur für diejenigen Kontexte, die ich „normal" nennen würde; sie trifft nicht zu für metasprachliche, metaphorische, ironische usw. Kontexte. 21 Zur Definition von Nexus cf. K. Togeby, Structure immanente de la langue française, Paris ^ 1965, p. 67: „Nexus: syntagme caractérisé par des morphèmes extenses (verbaux)"; für die Termini homonex und heteronex cf. z. B. G. Boysen, Subjonctif et hiérarchie, Odense 1971, p. 16, 26, 32, 40. 22 Für den Terminus Monorem (= eingliedriger Satz) cf. Bally, LGLF, § 49; A. Sechehaye, Essai sur la structure logique de la phrase, Paris ^1950, p. 9 ss.

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Wir tragen diesen Gegebenheiten Rechnung, indem wir den vorliegenden Negationstypus als heteronex bezeichnen. Eine homonexe Negation ist demnach eine Negation, die ein Diktum betrifft, das in demselben Satz wie das Negationsmorphem zum Ausdruck gebracht wird, eine heteronexe Negation dagegen bezieht sich auf ein Diktum, das im Kontext des Negativsatzes steht. Für die transphrastische Syntax und damit fur die Textlinguistik ist v. a. dieser zweite Typ von Interesse23. Bleibt das zweite Klassifikationskriterium, das sowohl im Bereich der homonexen wie in demjenigen der heteronexen Negation zum Tragen kommt. Beginnen wir mit der heteronexen Negation, da hier die Gegebenheiten leichter zu fassen sind. Eine Negation kann sich auf einen ganzen Satz beziehen, oder besser: der Kern dieses Satzes, d.h. das Verb, kann ihr untergeordnet sein 24 . Dies ist der Fall in den Sätzen Pierre ne vient pas, Pierre ne vend pas sa voiture, Pierre ne part pas demain usw. Da das zentrale Element des Satzes von der Negation dominiert wird, betrifft diese nicht nur das Verb allein, sondern indirekt auch alle anderen Positionen, die von diesem Kern abhängig sind, d. h. die Aktanten und die Zirkumstanten. Greift man auf die Terminologie zurück, die die traditionelle Grammatik im Bereich der Frage benutzt, so könnte man von einer totalen Negation sprechen25 ; da wir aber bereits den Terminus Nexus verwendet haben, um den Satzkern zu bezeichnen, ziehe ich es vor, diesen Typus nexuelle Negation zu nennen 26 . Eine Negation muß sich indessen nicht unbedingt auf einen Nexus als Ganzes beziehen, sie kann auch nur 23 Schmidt, ZGL 1 (1973), 184 ss. bespricht den Fall der homonexen Negation dt. nicht, deren Bezugselement (eines der verschiedenen Satzglieder) erst aufgrund von Kontext- und/oder Situationsindikatoren festgelegt würde. Hier liegt zweifellos ein textlinguistisches Problem vor, aber meiner Auffassung nach nicht eines, das die (homonexe) Negation als solche betrifft: negiert wird immer der nicht enthaltende Satz als Ganzes; alles Weitere ist ein Problem der Hervorhebung bzw. der Thema-/Rhemastruktur des Textes. Dies gilt selbst für die Stellung von nicht, die von dieser Thema-/ Rhemastruktur abhängig ist; gleichwohl negiert nicht nie etwas anderes als den Satz als Ganzes (cf. auch den Fall des Französischen, wo die Stellung von ne . . . pas etc. fest ist, sich aber aufgrund von Hervorhebung bzw. Thema-/Rhemastruktur die gleichen Sinneffekte erzielen lassen wie im Deutschen mit „beweglichem" nicht). 24 Mit Tesnière und der Valenzgrammatik betrachte ich das Verb als das Zentrum des Satzes; cf. Tesnière, Eléments, p. 11 ss. 25 Cf. Wagner-Pinchon, Grammaire du français classique et moderne, p. 389 ss. 26 Nach Tesnière, Eléments, p. 218 ss. betrifft die Negation vom Typ Piere ne vient pas die Konnexion zwischen Subjekt und Verb, d. h. sie wäre eigentlich dem Verb untergeordnet (cf. auch G. Bamicaud, M . - A . Compare, O. Ducrot, A. Vidal, Le problème de la négation dans diverses grammaires françaises, Langages 7 [ 1 9 6 7 ] , 5 7 - 8 3 , besonders p. 65 ss.). Diese Auffassung scheint mir aber wenig adäquat zu sein, denn sie erklärt nicht, warum in diesem Fall die Negation auch für den zwei-

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eine der nicht verbalen Positionen des Satzes betreffen, d. h. einen der Aktanten oder Zirkumstanten 27 . Hier einige Beispiele mit Angabe des Elements, auf das sich die Negation bezieht: Personne n'est venu Je ne vois rien Je ne pense à rien Il ne vient jamais Je ne le trouve nulle part

1. Aktant (Subjekt) 2. Aktant („Akkusativobjekt") 3. Aktant („Dativobjekt") temporaler Zirkumstant lokaler Zirkumstant

ten Aktanten, den dritten Aktanten und die Zirkumstanten Gültigkeit hat; es ist offensichtlich, daß die nexuelle Negation dem Verb übergeordnet sein muß (cf. hierzu auch H.-J. Seiler, Zum Problem der sprachlichen Possessivität, Köln 1972 [Arbeitspapier 20 des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Köln], p. 6; Wunderli, Die Teilaktualisierung des Verbalgeschehens [Subjonctif] im Mittelfranzösischen, Tübingen 1970, p. 203 u. passim). Indem ich Guillaumes Inzidenztheorie dahingehend modifiziere, daß ich das Verb (anstelle des Subjekts) ins Zentrum des Satzes stelle und indem ich für das Verb eine neue Inzidenz auf die Sprecherorigo (Bühler) einführe (aktivatorische Inzidenz), kann ich die Negation ne . . . pas als die Inzidenz Verb - Sprecherorigo betreffendes Adverb auffassen. Die graphische Darstellung eines Satzes wie Pierre ne vend pas sa voiture müßte dann folgendermaßen aussehen: X •

(Sprecher-Origo)

(Neg.)

ne . . . pas

^ vend

Pierre

(sa) voiture

Zur Inzidenztheorie Guillaumes cf. Leçons de linguistique de Gustave Guillaume, p.p. R. Valin, 1 9 4 8 - 1 9 4 9 , série B: Psycho-systématique du langage. Principes, méthodes et applications I, Paris 1971, p. 149 ss. und v. a. G. Moignet, L'incidence de l'adverbe et l'adverbialisation des adjectifs, TLL 1 (1963), 175 ss. Cf. auch unsere kritischen Bemerkungen in VRom.32 (1973), 1 - 2 1 . Da für mich die Negation ne . . . pas nicht nur die Konnexion Verb - Subjekt betrifft, sondern den Nexus als Ganzes, ersetze ich Tesnières Bezeichnung konnexio-

neile Negation durch nexuelle Negation. 27 Für die Termini Aktant und Zirkumstant vgl. Tesnière. Eléments, p. 102. - Die Behauptung bei Schmidt, ZGL 1 (1973), 187 s., selbst eine nukleare Negation entspreche letztlich immer einer nexuellen, scheint mir nicht zuzutreffen (cf. Pierre ne voit pas X i Pierre ne voit personne [ Pierre voit que personne n'est là] ; usw.). 28 Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 217/18.

Der Prosatz

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Die verschiedenen Positionen des Satzbauplanes werden bei Tesnière als Nuklei bezeichnet 2 9 . Da bei diesem Negationstypus ein Nukleus allein, unter Ausschluß der übrigen Satzelemente, von der Negation betroffen ist, werden wir mit Tesnière von einer nuklearen Negation sprechen 3 0 . Man kann dieselbe Unterscheidung zwischen nexueller und nuklearer Negation auch im heteronexen Bereich machen. In unserem Beispiel „ Venezvous? - Non. " haben wir das Element non mit je ne viens pas umschrieben; es entspricht also einer nexuellen Negation im homonexen Bereich und ist deshalb selbst als nexuell zu bezeichnen; dasselbe gilt fur die Ersatzformen non pas, pas du tout usw. Die Einheiten jamais, rien, nulle part usw. können ebenfalls allein als Satz fungieren; in diesem Fall beziehen sie sich aber auf ein in einem anderen Satz ausgedrücktes Diktum und müssen zu den heteronexen Negationen gezählt werden, cf. z.B.: Est-ce que tu l'as revue? - Jamais. Qu'est-ce que tu fais'.' - Rien. Où est-il allé? - Nulle part, usw.

Die obigen Antworten können umschrieben werden mit je ne l'ai jamais

revue,

je ne fais rien, il n 'est allé nulle part. Heteronexes jamais, rien, nulle part, personne usw. entsprechen somit nuklearen Negationen im homonexen Bereich und sollen deshalb ebenfalls als nuklear bezeichnet werden. Nachdem wir bereits definiert haben, was für uns eine Negation ist, können wir nun non auch noch genau situieren im Bereich der französischen Negation: Non ist eine nexuelle heteronexe Negation.

2. Wir haben uns vorgenommen, im zweiten Teil unserer Ausfuhrungen das Funktionieren der Negation non aus der Sicht der transphrastischen Syntax zu untersuchen und die Rolle, die diese Partikel für die Textkonstitution spielt, herauszuarbeiten 3 1 . Unsere Überlegungen müssen zweifellos von der 29 Vgl. Tesnière, Eléments, p. 45 (14, 39). 30 Obwohl letztlich auch das Verb ein Nukleus des Satzes ist, kann die dieses betreffende Negation nicht zu den nuklearen Negationen gezählt werden: aufgrund der besonderen Stellung des Verbs im Satz hat sie immer für den gesamten Nexus Gültigkeit. 31 Die folgenden Überlegungen sind auch für die Morpheme, die non ersetzen können, gültig: pas du tout, point du tout, non pas, du tout etc. Diese Formen unterscheiden sich von non durch ihren affektischen Charakter und/oder durch die Zugehö-

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Feststellung ausgehen, daß non eine heteronexe Negation ist, d. h. daß es ein Diktum verneint, das außerhalb des negativen monoremen Satzes zum Ausdruck gebracht wird. Aus dieser Charakterisierung werden sich alle für die transphrastische Syntax wesentlichen Aspekte ergeben. Bevor wir diese präsentieren können, müssen wir aber noch ein anderes Problem lösen: die Frage nach dem Diktum, das durch non negiert wird. Es ist vollkommen unmöglich zu sagen - wie dies z. B. Ferdinand Brunot tut —, non negiere „purement et simplement la chose énoncée". Gehen wir von einem literarischen Beispiel Molières Misanthrope aus: Philinte La sincère Eliante a du penchant pour vous, La prude Arsinôé vous voit d'un œil fort doux: Cependant à leurs vœux votre âme se refuse, Tandis qu'en ses liens Célimène l'amuse, de qui l'humeur coquette et l'esprit médisant Semble si fort donner dans les mœurs d'à présent. D'où vient que, leur portant une haine mortelle, Vous pouvez bien souffrir ce qu'en tient cette belle? Ne sont-ce plus défauts dans un objet si doux? Ne les voyez-vous pas? ou les excusez-vous? Alceste Non, l'amour que je sens pour cette jeune veuve ne ferme point mes yeux aux défauts qu'on lui treuve, Misanthrope 1/1 (v. 2 1 5 - 2 2 6 )

Die Negation non kann sich nur auf den Stimulus „(ou) les excusez-vous? " beziehen, denn auf die vorhergehenden Fragen müßte man mit si antworten. Non stellt nun aber sicherlich weder die Negation von „les excusez-vous? " (-»«e les excusez vous pas? ) noch diejenige des affirmativen Gegenstücks „vous les excusez" ( -*• vous ne les excusez pas) dar. Diese Feststellung machen wir zunächst einmal rein intuitiv, aber wir müssen uns nicht damit begnügen: es ist möglich, einen linguistischen Beweis zu erbringen. Dieser Beweis beruht auf der Tatsache, daß eine heteronexe Negation im Rahmen eines segmentierten Satzes immer von einer homonexen Negation wieder aufgenommen werden kann. Diese redundante Weise des Negationsausdrucks hat den großen rigkeit zu einer anderen Stilschicht, z.B.: pas du tout: besondere Betonung der Negation; non pas, non point: besondere Betonung und (regionaler oder literarischer) Archaismus; du tout: besondere Betonung und familiär.

Der Prosatz

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Vorteil, daß so das Diktum expliziert wird, das der heteronexen Negation zugründe liegt: beide Negationen beziehen sich ja auf den gleichen Tatbestand, Hier noch ein weiteres literarisches Beispiel aus dem Misanthrope, das dieses Phänomen illustriert: Oronte Vous me flattez, et vous croyez peut-être . . . Philinte Non, je ne flatte point. Misanthrope 1/2 (v. 3 3 7 / 3 8 ) 3 2

Wenn im zweiten Beispiel non einem je ne flatte pas/point entspricht, muß es im ersten Fall mit je ne les excuse pas gleichgesetzt werden. In beiden Fällen ist das Diktum offensichtlich (je flatte, je les excuse) nicht mit dem Stimulus (vous [me] flattez; les excusez-vous? ) identisch, aber es ist nicht weniger klar, daß zwischen Stimulus und Diktum regelmäßige Beziehungen existieren. Wir können also sagen, das Diktum der Negation non sei eine Ableitung aus dem Stimulus — vorausgesetzt, es gelingt uns, die Regeln dieses Ableitungsmechanismus offenzulegen. Es handelt sich um deren zwei. Um den Stimulus in ein Diktum zu verwandeln, muß man v. a. von der Ausgangsmodalität abstrahieren. Ganz gleichgültig, ob es sich um eine Frage, einen Befehl, eine Negation usw. handelt, die Modalität des Stimulus muß immer durch die das Diktum an sich charakterisierende affirmative Modalität (0-Modalität) ersetzt werden. Zum zweiten muß man die Tatsache berücksichtigen, daß die grammatische Person eine deiktische, von der Sprecherorigo abhängige Kategorie ist. Findet ein Sprecherwechsel zwischen Stimulus und Antwort statt, müssen die Personalpronomina dem neuen Sprechersystem angepaßt werden. So wird eine 2. Person in eine 1. oder eine 1. Person in eine 2. umgesetzt 33 ; nur die 3. Personen bleiben im Prinzip unverändert (cf. z. B. Est-il venu? — Non, il n'est pas venu)3*. 32 Hinsichtlich des Stimulus haben wir hier eine kleine Abweichung aufgrund der Tatsache, daß das Objektspronomen bei der homonexen Negation implizit bleibt; für unsere weitere Argumentation spielt dies jedoch keine Rolle. 33 Wenn der Stimulus in der Höflichkeitsform steht (Pl.), muß in der Antwort auch der Plural des Stimulus durch den Singular ersetzt werden; die umgekehrte Erscheinung findet man dann, wenn die erste Person des Stimulus sich auf eine Person bezieht, die der zweite Sprecher in der Höflichkeitsform anzusprechen pflegt (cf. Suis-je fou? - Non, vous n'êtes pas fou). 34 Diese Feststellung ist nicht ohne Ausnahme. Es kommt vor, daß in bestimmten Situationen nicht der Angesprochene, sondern der Besprochene auf den Stimulus rea-

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Wir stellen also fest, daß der monoreme Satz non mit mindestens einem Satz seines Kontextes durch Suppletionsmechanismen verbunden ist. Vom Standpunkt der transphrastischen Syntax aus ist es nun wichtig zu wissen, ob diese Beziehung eine Beziehung nach rückwärts, d. h. mit dem, was vorausgeht (Anapher), oder ob es sich um eine Beziehung nach vorwärts, d.h. mit dem, was folgt, handelt (Katapherj. In allen bisher behandelten Beispielen ging non im Text ein wirklicher Stimulus voraus, der nach unserer Interpretation die für die Rekonstruktion des Diktums notwendigen Elemente enthielt. Wir können somit sagen, non besitze auf jeden Fall die Fähigkeit, als anaphorische heteronexe Negation zu fungieren. Aber ist dieser anaphorische Charakter obligatorisch? Handelt es sich um einen charakteristischen Zug, der non auf der Ebene der langue zukommt? Diese Frage muß verneint werden. Es gibt nicht nur keine zweite Negation gleicher Art, die die kataphorische Relation markieren würde, es läßt sich auch nicht übersehen, daß — trotz des viel häufigeren anaphorischen Gebrauchs — non auch in Kontexten vorkommt, wo das Diktum nur aufgrund des Nachfolgenden ergänzt werden kann 3 5 . Hierfür nochmals zwei aus dem Misanthrope stammende Beispiele. Der vierte Akt dieser Komödie beginnt folgendermaßen: Philinte Non, l'on n'a point vu d'âme à manière si dure, ni d'accommodement plus pénible à conclure: Misanthrope IV/1 (v. 113/34)

Auf der Ebene des Textes geht dem non nichts voran; die Zäsur zwischen dem dritten und dem vierten Akt ist absolut, denn die Personen auf der Bühne wechseln zwischen III/5 und IV/1 — es gibt also keine Möglichkeit, eine Beziehung zu einem Stimulus in der vorhergehenden Szene herzustellen. Um das Diktum, auf das sich non bezieht, zu rekonstruieren, müssen wir uns an das Nachfolgende halten, d. h. an das Element Z des segmentierten Satzes (AZ), der dem ersten Vers entspricht. Ein ähnlicher Fall findet sich einige Verse weiter in derselben Szene. Philinte zitiert die Worte Alcestes:

giert (vgl. Il est bête. - [überraschend tritt die besprochene Person auf] Non, je ne suis pas bête). Sobald der Besprochene das Wort ergreift, müssen auch Pronomina der dritten Person, die sich auf ihn beziehen, umgesetzt werden. 35 Cf. auch Gaatone, Système, p. 29.

Der Prosatz

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„non" Philinte

Et jamais différend si bizarre, je pense, n'avoit de ces Messieurs occupé la prudence. „Non, Messieurs, disoit-il, je ne me dédis point, Et tomberai d'accord de tout, hors de ce point. Misanthrope IV/1 (v. 1 I 3 7 - 4 0 ) 3 6

Nichts, was dieser Szene vorangeht, könnte als Stimulus angesehen werden. Das Zitat setzt plötzlich ein, Alcestes Worte sind offensichtlich aus ihrem Originalkontext herausgelöst; um dieses überraschende non zu interpretieren, müssen wir erneut zum nachfolgenden Text Zuflucht nehmen. In beiden Fällen liegt somit ein kataphorischer Gebrauch von non vor. Man könnte natürlich unserer Sicht entgegenhalten, im ersten Fall gebe es sicherlich einen in unserem Text nur nicht berücksichtigten Stimulus — entweder in Philintes Gedanken oder in seiner Rede — und im zweiten Fall sei Alcestes Worten im Originalkontext ganz ohne Zweifel ein Stimulus vorangegangen, der dieses non hervorgerufen habe. All dies mag zutreffen, ist aber ohne jede Bedeutung für uns. Wir haben die Aufgabe, den Aufbau und das Funktionieren eines vorgegebenen, als solcher autonomen Textes zu beschreiben. Um die beiden non zu interpretieren, um zu erfahren, auf welches Diktum sich diese Negation jeweils bezieht, bleibt uns nur die Möglichkeit, den nachfolgenden Kontext zu befragen. Wir müssen somit festhalten, daß die Negation non im Text ebenso gut kataphorische wie anaphorische Funktion haben kann. Auf der Ebene des Sprachsystems ist non neutral in Bezug auf die Opposition anaphorisch /v/ kataphorisch, es ist nur durch die Verpflichtung zur Kontextbindung charakterisiert; die Richtung dieser Inzidenz wird erst auf Redeebene festgelegt. Es gibt sogar Fälle, wo non gleichzeitig anaphorische und kataphorische Partikel ist, wo man zur Rekonstruktion des Diktums sowohl auf den vorhergehenden als auch auf den nachfolgenden Kontext rekurrieren kann; cf. unser bereits zitiertes Beispiel Vous me flattez . . . - Non, je ne flatte point. Natürlich wird man es bei Beispielen dieser Art im Rahmen einer spontanen Interpretation von non vorziehen, vom vorangehenden Kontext auszugehen, aber eine auf dem nachfolgenden Kontext beruhende Interpre-

36 In unseren beiden Beispielen ist das Bezugselement des kataphorischen non ein negativer Satz (homonexe Negation); obwohl dieser Typ frequenzmäßig dominiert, ist er nicht der einzig mögliche. Alceste hätte z. B. auch sagen können: „Non . . . je devrais me dédire? " usw.

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tation ist gleichermaßen möglich und legitim 37 . Der Suppletionsmechanismus fiir das Diktum von non liefert uns also nicht nur zweigliedrige (anaphorische oder kataphorische) Satzketten, er kann ebenso auch dreigliedrigen (anaphorischen und kataphorischen) Ketten zugrundeliegen38. Wie wir noch sehen werden, sind diese Ketten nicht unbedingt linear; sie können auch den Charakter von Büscheln haben. Und noch eine letzte Bemerkung zur Bildung von Satzketten mittels non. Wir wissen, daß ein sprachlicher Kontext fast immer durch einen situationeilen ersetzt werden kann; und dies gilt auch für den Kontext von non. Nehmen wir folgende Situation: Ich sitze am Tisch einer Bahnhofsgaststätte und schütte unglücklicherweise mein Bier über die Hose meines Tischnachbarn (den ich nicht kenne). Dieser ergreift ein Messer und stürzt sich auf mich. Erschrocken schreie ich: Nein!, was .Stoßen Sie nicht zu' oder etwas Ähnliches bedeutet. In diesem Beispiel wird das Diktum nirgendwo auf Redeebene expliziert, es ist vielmehr in der Situation enthalten. In einem solchen Fall ist non offensichtlich nicht an einen Kontext gebunden; man wird vielmehr sagen, daß dort, wo der sprachliche, eine anaphorische oder kataphorische Interpretation von non ermöglichende Kontext fehlt, dieses zu einem Instrument wird, das die Rede in der Situation verankert. Da die Situation in Bezug auf den Text weder ein Vorher noch ein Nachher darstellt, sondern vielmehr dessen Grundlage oder Fundament bildet, kann ein auf die Situation verweisendes non weder anaphorischen noch kataphorischen Charakter haben. Wir nennen diesen Gebrauch situativ. Wir können somit vier Funktionen von non auf Text- und Redeebene unterscheiden: die anaphorische, die kataphorische, die anaphorisch-kataphorische und die situative Funktion. Da es sich um Gebrauchstypen handelt, von denen jeder in aktueller Rede in einer unbegrenzten Anzahl von Fällen realisiert wird, können wir sagen, diese Typen seien bereits auf der Ebene der Norm gegeben. Als Einheit auf der Ebene der langue transzendiert das Zeichen non die vier Normfunktionen, es kennt die Anwendungsdifferenzierungen nicht. Um non als Systemeinheit zu charakterisieren, können wir nur auf diejenigen Züge zurückgreifen, die allen vier Normtypen gemeinsam sind. 37 Sie kann sogar die einzig mögliche sein in Fällen wie dem oben erwähnten Zitat von Alceste, wo der Stimulus unterdrückt worden ist, oder wenn jemand in einer Unterhaltung von mehreren Personen das dem non Vorangegangene nicht gehört oder nicht verstanden hat (Lärm, Unaufmerksamkeit usw.). 38 Es scheint, daß die kettenbildende Kraft sich nach dem ersten Element in beiden Richtungen (Anapher und Katapher) jeweils erschöpft. Um längere, sich linear fortsetzende Ketten zu erhalten, muß man auf andere Verknüpfungsmittel zurückgreifen.

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Zu diesen zählt v. a. einmal das Negativitätsmerkmal. Weiterhin stellen wir bei jedem Gebrauch von non die Notwendigkeit fest, sich auf ein Diktum außerhalb des die Negation enthaltenden oder durch diese gebildeten Satzes zu stützen. Es scheint mir aber wenig sinnvoll zu sein, dieses als „Kontexthungrigkeit" bezeichnete Phänomen mit einem Merkmal auf Systemebene gleichzusetzen; da ein syntagmatischer Kontext nur auf der Ebene des discours existiert, würden wir bei einer solchen Beschreibung Gefahr laufen, diese beiden Ebenen zu vermischen; gerade dies muß auf jeden Fall vermieden werden. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, wollen wir versuchen, das bisher über die phrastische und propositionelle Funktion von non Gesagte zu vertiefen. Bis jetzt waren unsere Formulierungen bewußt vorsichtig gehalten. Wir haben gesagt, non werde als Satz gebraucht, es übe Teilsatzfunktion aus, usw.: wir haben uns also immer auf die Ebene des discours und der Sinneffekte gestellt und uns gehütet, etwas über den hinter den konkreten Verwendungen stehenden Systemwert (langue) auszusagen. Aber könnte man nicht kurzerhand sagen, non sei ein vollständiger Satz auf der Ebene der langue? Ein Satz besteht normalerweise aus einem Bauplan und einem semantischen Komplex. Der Bauplan ist bereits auf der Ebene der langue gegeben; er liefert uns eine Art Skelett des Satzes, das eine bestimmte Anzahl von Positionen (Verb, Aktanten, Zirkumstanten usw.) enthält und die Beziehungen zwischen diesen Positionen festlegt 39 . Der spezifische semantische Komplex hingegen gehört auf die Ebene des discours; er umfaßt eine bestimmte Anzahl von Lexien und deiktischen Morphemen, die den Bauplan bei der Aktivierung (Übergang von der langue zum discours) auffüllen und ihm eine „Meinung" verleihen. Wie wir gesehen haben, hat non alleine noch keine Bedeutung; um zu einer solchen zu gelangen, brauchen wir einen Kontext (oder eine Situation), der es uns erlaubt, das Diktum, auf das die Negation sich bezieht, zu identifizieren 40 . Ein isoliertes non — z. B. herausgeschnitten aus einem Tonband wie Dr. Murkes Pausen in der berühmten Novelle von Boll 41 - liefert uns nur die Hinweise .Negation' und ,Satz- bzw. Teilsatzfunktion'. Sieht man vom Negationsmerkmal ab, ist non somit nichts weiter als ein semantisch leeres Zeichen, ein Statthaltersymbol für einen Satz oder Teilsatz. Dieses Phänomen findet man auch anderweitig im Sprachsystem, z. B. im Nominalbereich; jeden Inhalts entleerte Substantive (oder besser: Nominal39 Für die Zugehörigkeit des Bauplanes zur Ebene der langue cf. auch P. Wunderli, Zur Stellung der Syntax bei Saussure, ZRPh. 88 (1972), 483-506. 40 Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 97, 211/12. 41 Cf. H. Boll, Dr. Murkes gesammeltes Schweigen, Köln-Berlin 1958.

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syntagmen) pflegt man Pronomina zu nennen (cf. z. B. il le boulanger, le cuisinier, le vendeur usw.; ebenso le, celui-ci, qui, que usw.), und in Anlehnung an die Relation zwischen Nomen und Pronomen werden wir im Falle der Negation non von einem Prosatz sprechen 42 . Non ist ein Prosatz und kein Satz, denn es ist ohne spezifischen lexikalischen Gehalt; dieser verändert sich vielmehr von einer Verwendung zur anderen, er wechselt wie die sich ständig der veränderten Umgebung anpassende Farbe eines Chamäleons. Genau besehen muß man sogar sagen, non fehle noch mehr als der lexikalische Gehalt. Non kann sich auf ein Diktum wie je viens beziehen, aber auch auf j'ai vendu cette voiture à ton ami oder il arrivera demain à Paris usw. ; also auf grundverschiedene Satzbaupläne: je viens j'ai vendu cette voiture a ton ami il arrivera demain à Paris 43

A k t . ' - V. 1 2 3 Akt. - V. - Akt. - Akt. A k t . ' - V. - Zirk.* - Zirk.'

Non kann alle diese Baupläne vertreten; auf der Ebene der langue ist es somit an keinen von ihnen gebunden. Diese Feststellung wird weiter gestützt durch die Tatsache, daß non sich nicht unbedingt nur auf ein einziges Diktum beziehen muß, sondern auch gleichzeitig mehrere betreffen kann; cf. z.B.: Harpagon Dis-moi un peu: Marianne ne m'a-t-elle point encore vu? N'a-t-elle point pris garde à moi en passant? Prosine Non; mais nous nous sommes fort entretenues de vous . . . Molière, Avare III/1

Man kann non hier als Partikel ansehen, die die beiden vorangehenden Fragen wieder aufnimmt und ihr Diktum negiert: es vereinigt sie gewissermaßen zu einem Büschel. Es gebricht somit non offensichtlich nicht nur an lexikalischem Gehalt, es geht ihm auch ein spezifischer Bauplan ab. Unsere heteronexe Ne42 Wenn man dem Terminus Pronomen einen so weiten Sinn gibt wie R. Harweg, könnte man non in seine Kategorie der „neuen Pronomina" einreihen (vgl. R. Harweg, Pronomina und Textkonstruktion, München 1968, passim). - Für den Terminus Prosatz cf. auch Teodora Cristea, La structure de la phrase négative en français contemporain, Bucarest 1971, p. 141 s. 43 V. = Verb; A k t . 1 = erster Aktant; A k t . 2 = zweiter Aktant; A k t . 3 = dritter Aktant; Zirk. 1 = temporaler Zirkumstant; Zirk. 1 = lokaler Zirkumstant.

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gation enthält nur die Merkmale .Negation' und ,Satz' (ohne jede Spezifizierung) 44 ; sie ist auf der Ebene der langue nichts weiter als ein minimaler negativer Prosatz. Aus diesem Grundwert leitet sich die diskursive Funktion von non ab: da ein aktivierter Satz immer einen einem Bauplan überlagerten lexikalischen Gehalt besitzt, muß der in der Rede verwendete Prosatz non die ihm als Systemeinheit fehlenden Komponenten (lexikalischer Gehalt, Satzbauplan) mit Hilfe von außerhalb seiner Grenzen liegenden Elementen ergänzen: er muß sich auf den Kontext stützen (= Inzidenz). Daraus ergibt sich die erwähnte „Kontexthungrigkeit", die allen vier Normfunktionen von non gemeinsam ist und die nichts weiter als die diskursive Reinterpretation des Systemwertes des Prosatzes darstellt. Die Interpretation von non als negativer Prosatz ermöglicht es nun, eine Reihe von Problemen zu klären, die die traditionelle Grammatik nicht befriedigend zu lösen vermochte. Ihre Schwierigkeiten gehen v. a. auf die Gewohnheit zurück, non als Adverb zu betrachten 4 5 . Ein Adverb fügt sich normalerweise ohne besonderes Merkmal und ohne jede Transposition in einen „gebundenen Satz" (phrase liée) ein 46 — immer unter der Voraussetzung natürlich, daß es tatsächlich die Funktion eines Adverbs ausübt (cf. z. B. II est vraiment heureux; Je viens demain; Il ne consentira jamais; usw.). Dies gilt nun aber gerade nicht für non41, oui und si: um sie in einen „gebundenen 44 Was den Negationsmechanismus angeht, so muß das negative Element von non auf die aktivatorische Inzidenz (-»Sprecherorigo) des Prosatzes bezogen werden, dominiert sie doch den Prosatz als Ganzes. Die Verhältnisse entsprechen somit im Prinzip den bei ne . . . pas festgestellten (cf. N 26). Es darf aber nicht übersehen werden, daß es sich im Fall von ne . . . pas um eine syntaktisches Phänomen handelt, während wir es hier mit einem Problem der Anordnung (Hierarchie) der Seme zu tun haben. Außerdem darf non als Systemeinheit nicht als auf eine gegebenen Sprecherorigo bezogen angesehen werden; die aktivatorische Inzidenz ist auf dieser Ebene rein virtuell und hat Valenzcharakter: (Sprecher-Origo) Neg.'. , Prosatz' 45 Vgl. z. B. Grammaire Larousse du français contemporain, § 622; Grevisse, Bon usage, § 873; Wartburg-Zumthor, Précis, p. 5 6 / 5 7 ; J. Dubois et al., Dictionnaire du français contemporain, Paris 1970, p. 773; Petit Robert, Paris 1970, p. 1158; M. D a v a u - M . Cohen - M. Lallemand, Dictionnaire du français vivant, Paris-Bruxelles-Montréal 1972, p. 829; usw. 46 Zum Begriff der phrase liée (die zur phrase coordonnée und zur phrase segmentée in Opposition steht) cf. Bally, LGLF, § 100 ss. 47 Im Rahmen unserer Argumentation sind diejenigen Fälle, wo non nicht negativer Pro-

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Satz" integrieren zu können, muß ihnen obligatorisch die Partikel que vorangestellt werden; daraus ergeben sich Konstruktionen wie dire que non, prétendre que non, usw. 4 8 Hier einige literarische Beispiele dieses Typs: La bonne a apporté le thé. Francine lui a demandé si elle n'en prenait pas. La bonne a répondu que non, ça l'empêchait de dormir. R. Pinget, Le fiston, p. 129 (Gaatone, Système, p. 30) Je ressemble à n'importe qui, vous savez. - J'espère bien que non. H. Bazin, La mort du petit cheval, p. 171 (Gaatone, Système, p. 30) J'ai d'abord cru qu'elle était sourde; la servante prétend que non . . . A. Gide, La symphonie pastorale, p. 12 (Gaatone, Système, p. 30) usw. Es ist klar, daß diese Konstruktionen unmöglich im Rahmen der normalen Adverbialsyntax erklärt werden können, denn einem als solches verwendeten Adverb geht niemals que voran, welches auch immer die Konstruktion oder der Kontext sein mag. Wenn wir dagegen non (oui, si) als Prosatz interpretieren, macht die Erklärung keinerlei Schwierigkeiten. Alle Verben, denen diese Konstruktion eignet, haben transitiven Charakter: dire la vérité, espérer une récompense / un miracle oder gar répondre une renquête / la messe usw. 4 9 Nun wissen wir, daß die Position des zweiten Aktanten auch von einem Satz eingenommen werden kann -vorausgesetzt, daß er durch die Partikel que eingeleitet wird: que ist ein Translativ, das einen Satz in ein die Funktion des 2. Aktanten ausübendes Substantiv (proposition complétive) überfuhrt 50 , cf. z. B. il dit que tu mens, elle espère que tu viendras, usw. Der Transpositionsmechanismus hängt offenbar weder vom lexikalischen Gehalt des umgesetzten Satzes noch von seinem spezifischen Bauplan ab, sondern einzig von der Satzfunktion der in die Position des 2. Aktanten einzubrinsatz ist, nicht zu berücksichtigen. Es gibt ein non, das als Präfix fungiert, und das ich non^ nennen möchte {non pertinent, non interrompu, non-adaptation, non-concomitance usw.), und ein weiteres non, das Bestandteil gewisser erstarrter, sich aufgrund eines früheren Sprachzustands erklärender adverbialer Wendungen ist (non seulement, non plus, non loin usw.); cf. hierzu Gaatone, Système, p. 21 s.; WartburgZumthor, p. 58/59; Grevisse, Bon usage, § 874b; ferner oben, p. 43. 48 Cf. auch dire que oui/si; wie non muß man also auch oui und si zu den Prosätzen zählen (oui: affirmativer Prosatz; si: oppositiver Prosatz). 49 Vgl. Petit Robert, p. 1524. Der transitive Gebrauch von répondre mit nominalem Objekt ist selten, die Konstruktion mit Objektsatz dagegen hat nichts Außergewöhnliches an sich. 50 Cf. hierzu Bally, LGLF, § 179 ss. (für que § 183); Tesnière, Eléments, p. 361 ss., v. a. p. 546-48.

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genden Sequenz. Da non Prosatz ist, ist es nichts weiter als natürlich, daß es dort, wo es in einem Bauplan die Funktion des 2. Aktanten ausübt, gleich behandelt wird wie ein Vollsatz: der Prosatz non wird durch que in ein einem 2. Aktanten entsprechendes Substantiv (proposition complétive) transponiert 51 . Was das Diktum angeht, auf welches ein solcher transponierter Prosatz sich bezieht, so muß es offensichtlich außerhalb des komplexen Satzes gesucht werden, zu dem non gehört; es kommt recht häufig vor, daß es von seinem Stimulus durch mehrere eingeschobene Sätze getrennt ist 52 . Das zweite Problem, das sich jetzt beinahe von selbst löst, ist die Frage, warum non mittels ou einem Satz beigeordnet werden kann, cf. z. B. : . . . toute la science médicale du monde ne suffira pas à décider si la tumeur invisible est fiévreuse ou non . . . M. Proust, Le côté de Guermantes, p. 114 (Gaatone, Système, p. 30) Pour elle, qu'elle l'avouât ou non, les maîtres étaient les maîtres et les domestiques étaient les gens que mangeaient à la cuisine. M. Proust, Le côté de Guermantes, p. 1027 (Gaatone, Système, p. 31)

Ou ist eine koordinierende Konjunktion, die aber nur zur Verbindung von gleichartigen Elementen eingesetzt werden kann: zwei Substantiven (mon père ou ma mère), zwei Adverbien (demain ou après-demain), zwei Sätzen (il vient ou il ne vient pas) usw., nicht aber von zwei Einheiten, die in morphosyntaktischer Hinsicht verschiedenen Kategorien oder verschiedenen Hierarchiestufen angehören (z. B. Subst. + Adv., Satz + Subst. usw.). Wenn man non als Adverb ansieht, bleibt die Interpretation der zitierten Beispiele gezwungenermaßen unbefriedigend. Sieht man in non hingegen einen negativen Prosatz, ergibt sich die Erklärung von selbst: ou koordiniert in diesem Fall

51 Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 546 und Cristea, Structure, p. 143/44. Beispiele wie das folgende, wo que fehlt, sind selten: Pour faire dire oui aux hésitants, il importe avant tout de ne pas les laisser dire non, donc de changer de sujet. H. Bazin, Qui j'ose aimer, p. 110 (Gaatone, Système, p. 29) Oui, non sind in diesem Fall nicht transponiert, da sie wie Zitate behandelt werden: sie stehen in einem metasprachlichen Kontext. Diese spezifische Situation erklärt auch die Tatsache, warum es im Kontext kein Diktum gibt, auf welches oui und non sich beziehen könnten; selbst auf Redeebene bleiben sie leere Prosätze. 52 Ein analoger Gebrauch von non und out findet sich in Bedingungssätzen, cf. z. B. „si tu viens, nous irons au cinéma; si non, je me coucherai tôt". Der Prosatz wird mit Hilfe des Translativs si in einen Zirkumstanten umgesetzt (proposition circonstantielle). Cf. auch Tesnière, Eléments, p. 593.

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zwei Sätze ( -* la tumeur invisible est fiévreuse ou [la tumeur invisible n 'est pas fiévreuse] ; elle l'avoue ou [elle ne l'avoue pas] usw.). Bleibt ein dritter Fall, die Erklärung von Beispielen wie: Je m'éveillais brusquement avec, dans l'oreille, un grand cri - mais est-ce encore ce mot-là qui convient? Evidemment non. G. Bernanos, Journal d'un curé de campagne, p. 1099 (Gaatone, Système, p. 29) Vous croyez avoir quelque influence sur elle? - Non certes, pour le moment. G. Bernanos, Journal d'un curé de campagne, p. 1172 (Gaatone, Système, p. 29)

Man liest häufig, die Adverbien évidement, certes usw. würden die Negation „verstärken" 53 . Eine solche Formulierung scheint mir aber nicht statthaft zu sein, denn Existenz und Nicht-Existenz sind keiner Abstufung fähig 54 . Man könnte allenfalls sagen, daß in Formeln wie non non, non pas, pas du tout usw. der Ausdruck der Negation verstärkt ist, daß man auf die Negation insistiert5S. Aber sind Adverbien wie évidemment, certes, certainement, assurément usw. in der Lage, den Ausdruck der Negation zu verstärken? Dies scheint mir äußerst zweifelhaft, denn der Semantismus dieser Adverbien ist als solcher weder negativ noch affektiv oder quantitativ. Und er braucht es auch gar nicht zu sein, denn wenn man unsere Definition von non akzeptiert, müssen wir in diesen Adverbien nicht „Verstärkungen" der Negation oder des Negationsausdrucks sehen. Certes, vraiment usw. beziehen sich nicht auf non als Negation, sondern als Prosatz: sie fungieren als Satzadverbien und unterstreichen den sicheren, offensichtlichen wahren Charakter der Aussage in ihrer Gesamtheit. 3. Unsere Definition von non als „negativer Prosatz (heteronexe Negation)" scheint also eindeutige Vorteile zu bieten. Bevor wir ihrer aber endgültig froh werden können, müssen wir noch eine Reihe von Erscheinungen besprechen, die mit unserer Charakterisierung nur schwer in Einklang zu bringen sind oder die sie gar direkt zu widerlegen scheinen. Es handelt sich um die in der modernen Sprache sehr häufigen Fälle, wo non anstelle von pas (point) verwendet zu werden scheint 56 . Nun haben wir gesagt, pas, 53 Vgl. z. B. Gaatone, Système, p. 29; Wartburg - Zumthor, Précis, p. 59; Grevisse, Bon usage, § 874 d; Brunot, La pensée et la langue, p. 502; usw. - Für eine der meinen verwandte Interpretation cf. Cristea, Structure, p. 143. 54 Cf. auch Barnicaud et al., Langages 7 (1967), 59/60. 55 Cf. o b e n N 31. 56 Cf. z. B. Wartburg-Zumthor, Précis, p. 56; „II (se. non) est sur plusieurs points, dans l'usage actuel, concurrencé par pas"; vgl. auch Grevisse, Bon usage, § 874 a Rem. 1;

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point usw. seien homonexe Negationen 57 ; als solche können sie aber keine Prosätze sein. Wenn non auf den Bereich von pas übergreift, dann muß man sich entweder fragen, ob es eine Variante von non gibt, die nicht Prosatz ist, oder aber die angebliche Prosatzfunktion überhaupt in Zweifel ziehen. In einer ersten Serie von Beispielen scheint non nicht einen ganzen Satz wieder aufzunehmen, sondern nur das Verb: L'impur, donc l'histoire, va devenir la règle et la terre déserte sera livrée à la force toute nue qui décidera ou non de la divinité de l'homme. A. Camus, L'homme révolté, p. 171 (Gaatone, Système, p. 31) Il suffit de grouper des observations pour décider, si la jument est ou non aussi rapide que l'étalon. M. Monod, Le nuage, p. 70 (Gaatone, Système, p. 31)

Dieser erste Typ ist jedoch leicht in unseren Ansatz zu integrieren. Einmal haben wir gesagt, das Verb stelle das Zentrum des Satzes bzw. Teilsatzes dar und alle Aktanten und Zirkumstanten seien von ihm abhängig. Auch wenn non in unseren Beispielen nur das Verb wieder aufnehmen würde, wäre es doch Proform für das zentrale Element des Satzes; dies könnte es rechtfertigen, ihm trotz allem den Wert eines Prosatzes zuzubilligen. Eine solche Lösung scheint mir aber gleichwohl wenig zufriedenstellend zu sein, denn sie impliziert eine vorschnelle Gleichsetzung von Satz und Verb (bzw. Vorhandensein eines Verbs). Wir wissen aber, daß man oft Zeichenketten in Satzfunktionen findet, die kein Verb enthalten; es ist deshalb besser, diese Erklärung aufzugeben. Und wenn wir uns die obigen Beispiele nochmals etwas näher ansehen, dann wird bald klar, daß sie gar keine besondere Erklärung erheischen. Geht man von der Meinung dieser Konstruktion aus, so ist es unmöglich zu sagen, non beziehe sich allein auf die Verben décider und être; das Diktum der Negation ist im ersten Fall vielmehr „(la force toute nue) décidera de la divinité de l'homme", im zweiten Fall „la jument est aussi rapide que l'étalon". Überdies ist der Tatsache Rechnung zu tragen, daß in unseren beiden Beispielen die Sequenz „ou non" ohne jede Bedeutungsveränderung auch an das Satzende gestellt werden könnte — allerdings mit einem spürbaren Verlust an stilistischer Eleganz: Gaatone, Système, p. 31; G. Gougenheim, Système grammatical de la langue française, Paris 1939, p. 261; Cristea, Structure, p. 145 ss.; usw. 57 Pas, point sind primär gebundene Varianten von ne . . . pas, ne . . . point; ihre Verwendung ist obligatorisch, wenn das Verb eines Satzes implizit bleibt. Mit explizitem Verb sind pas, point freie (stilistische) Varianten und konnotieren die familiäre und vulgäre Sprache.

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. . . la terra déserte sera livrée à la force toute nue qui décidera de la divinité de l'homme ou non. . . . si la jument est aussi rapide que l'étalon ou non.

Diese beiden Feststellungen scheinen mir zu beweisen, daß der Negationsmechanismus in diesen Beispielen identisch ist mit demjenigen, den wir bereits oben (p. 65/66) bei mit einem Satz koordiniertem non herausgearbeitet haben. Die beiden Typen unterscheiden sich voneinander durch die Stellung der Gruppe „ou non" im Signifikanten des Satzbauplanes, in der linearen Zeichenabfolge: hier ist der koordinierte Prosatz unmittelbar nach dem Verb in den das Diktum liefernden Aussagesatz eingeschoben; wir haben es mit einer Art incise zu tun. In den folgenden Beispielen komplizieren sich die Dinge, ist es hier doch unmöglich, irgendeinen vollständigen Satz oder Teilsatz zu finden, den das (koordinierte) non wieder aufnehmen könnte. Das mit der Negation koordinierte Element ist anscheinend ein einfaches Adjektiv: Creuse ou non, je ne puis m'y poser. A. de Saint-Exupéry, Terre des hommes, p. 132 (Gaatone, Système, p. 31) Cet appel demande également à toutes les organisations, politiques ou non, d'appuyer les mesures . . . du gouvernement. Le Monde, 30. 3. 63, p. 7 (Gaatone, Système p. 31)

Aber auch hier trügt der Schein, denn das, was durch non aufgenommen wird, ist nicht ein Adjektiv als solches. In beiden Fällen haben wir es mit segmentierten Sätzen zu tun, in denen die Gruppe „Adj. + ou non" dem Element A entspricht; im ersten Beispiel geht das Thema A dem Rhema Z voran, im zweiten ist A in Z eingeschoben58. Nun ist das Element A eines segmentierten Satzes immer selbst einem Satz bzw. Teilsatz äquivalent, selbst wenn es kein Verb enthält. Dies gilt auch für unsere Beispiele, ja mehr noch: obwohl sie kein Verb enthalten, müssen die A-Elemente dieser segmentierten Sätze als komplexe Themen angesehen werden, die sich aus zwei durch ou koordinierten Elementen zusammensetzen und deren zweites das erste unter negativer Modalität wieder aufnimmt. Wir könnten somit diese Themen folgendermaßen paraphrasieren: qu'elle soit creuse ou non . . . que les organisations soient politiques ou non . . .

Wir haben es also mit Konzessivkonstruktionen zu tun. Gleichwohl redu58 Cf. Bally, LGLF, § 79 ss., v. a. § 86.

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ziert sich der erste Teil dieser Koordinationskomplexe in der Originalform (derjenigen der zitierten Beispiele) auf das Adjektiv; Verb, Subjekt, Konjunktion bleiben implizit. Wir können also sagen, creuse und politiques seien Repräsentanten von Sätzen, deren übrige konstitutiven Elemente implizit bleiben. Es trifft somit zu, daß das koordinierte non die Einheiten creuse und politiques wieder aufgreift, aber es nimmt sie als Satzrepräsentanten und nicht als Adjektiv wieder auf 5 9 . Non übt auch in diesem Fall die Funktion eines wirklichen Prosatzes aus. In den bisher besprochenen Fällen folgte non immer auf die Konjunktion ou und stellte für sich allein das koordinierte Element dar; vor allem seine isolierte Stellung nach der koordinierenden Konjunktion erlaubte es, non in allen Kontexten ohne größere Schwierigkeiten als einen eigentlichen negativen Prosatz zu interpretieren. Die Schwierigkeiten werden sich aber bei den jetzt zu besprechenden Typen nochmals erhöhen. In einer großen Zahl von Fällen folgt non nicht allein auf die Konjunktion ou, um entweder einen ganzen Satz oder einen Satzrepräsentanten unter negativer Modalität wieder aufzunehmen, sondern ist selbst — je nachdem nach einer Pause, de oder mais — von einem Substantiv, einem Adverb, einem Adjektiv usw. begleitet. Stoßen wir hier nicht endgültig in den Bereich von pas/ point vor, die als homonexe Negation normalerweise dazu dienen, einen Satz mit implizitem Verb zu verneinen ? Sehen wir uns einige Beispiele an, wo non auf eine Pause folgt: C'était une vague allusion à l'amour, non une promesse, non une invitation pressante. J. Romains, Les hommes de bonne volonté I, p. 536 (Gaatone, Système, p. 32) Ma jalousie naissait par des images, pour une souffrance, non d'après une probabilité. M. Proust, La prisonnière, p. 24 (Gaatone, Système, p. 32)

Fungiert non hier als homonexe Negation, hat es seinen Prosatzcharakter verloren? Eine solche Interpretation scheint möglich 60 , aber sie drängt sich nicht auf. Wir haben bereits gesehen, daß der Prosatz non durch Adverbien wie certes, vraiment usw. expandiert werden kann 6 1 . Man muß sich nun fragen, ob wir es in den oben zitierten Beispielen nicht ebenfalls mit Expansionen des Prosatzes zu tun haben, diesmal jedoch mit einem etwas an59 Dieselbe Argumentation gilt für Fälle, wo der Satz sich auf ein Substantiv oder ein Adverb reduziert. 60 Man müßte dann von einem non^ sprechen (vgl. auch N 47). 61 Cf. oben p. 66.

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deren Typ: es würde sich nicht mehr um Satzadverbien handeln, sondern um Aktanten oder Attribute, die den Prosatz begleiten. Wir wollen unsere Hypothese anhand der beiden Beispiele von J. Romains und M. Proust erläutern. Ersetzt man die heteronexe Negation durch eine homonexe, so erhält man Konstruktionen vom folgenden Typ: C'était une vague allusion à l'amour, ce n'était pas une promesse, ce n'était pas une invitation pressante. Ma jalousie naissait par des images, pour une souffrance, ma jalousie ne naissait pas d'après une probabilité.

In diesen Umformungen haben wir die Funktionen expliziert, die non als Prosatz global erfüllt. Worin unterscheidet sich dieser Typ nun von jenen Fällen, wo der heteronexen Negation kein Substantiv, Adverb (Präposition + Substantiv) usw. folgte? Wir können feststellen, daß in unseren Beispielen Subjekt und Verb des Ausgangssatzes im koordinierten Negativsatz wieder aufgenommen werden; in dieser Hinsicht sind der substituierte und der substituierende Satz identisch. Sie unterscheiden sich in einem einzigen Punkt: im Beispiel von Romains betrifft dieser Unterschied das Prädikatsnomen: „une vague allusion à l'amour" im Ausgangssatz wird im ersten Negativsatz durch „une promesse", im zweiten durch „une invitation pressante" ersetzt. In Prousts Beispiel betrifft der Unterschied einen Zirkumstanten: die zweifache Ergänzung „par des images, par une souffrance" im substituierten Satz wird im negativen Substitut durch „d'après une probabilité" ersetzt. Unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten würde ich die Rolle von non in Konstruktionen dieser Art folgendermaßen deuten: non ist ein negativer Prosatz, der alle Elemente des Stimulus (des substituierten Satzes) wieder aufnimmt, die nicht kontraindiziert sind. Kontraindikatoren treten immer dann auf, wenn eine bestimmte Position im ursprünglichen Satzbauplan ausfüllende lexikalische Einheiten nicht zum verneinten Substitut gehören sollen, wenn sie also von der Wiederaufnahme durch non auszuschließen sind. Das Prinzip dieses Mechanismus ist sehr einfach: die Position, deren lexikalischer Gehalt eliminiert werden soll, wird nach der Negation non gesondert wieder aufgegriffen und mit neuem lexikalischem Material besetzt 62 . Durch diese Wiederaufnahme eines Aktanten,

62 In Ausnahmefällen geht diese Expansion des Prosatzes sogar dem non voran; cf. Grammaire Larousse du français contemporain, p. 428 (il a fait souffrir tout le monde autour de lui, ses gens, ses chevaux, ses amis non, car il n'en avait pas un seul [Gide]J; Wagner-Pinchon, Grammaire de français classique et moderne, p. 404 Rem.

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eines Zirkumstanten oder eines Prädikatsnomens wird die entsprechende Position des Stimulus (substituierter Satz) neutralisiert oder blockiert und kann nicht durch non repräsentiert werden. Diese Interpretation erlaubt es uns zu sagen, non fungiere selbst dort als negativer Prosatz, wo es einem Substantiv, einem Adjektiv oder einem Adverb vorangeht, aber man muß hinzufügen, daß die Wiederaufnahmefähigkeit der Negation in Bezug auf den substituierten Satz nicht mehr integralen Charakter hat: eine der Positionen des Stimulus ist von ihr ausgeschlossen, da sie nach non als Expansion des Prosatzes neu eingeführt wird. Unsere Erklärung ist nicht nur für die Fälle gültig, wo „non + Expansion" nach einer Pause auftritt; derselbe Mechanismus kommt auch dort zum Zuge, wo der negative Prosatz und der substituierte Satz durch die koordinierenden Konjunktionen et und mais verbunden sind. Hier einige Beispiele: et non Il s'agit d ' u n règlement de c o m p t e s particulier, d ' u n e c o n t e s t a t i o n sur le bien, et non d ' u n e lutte universelle entre le mal et le bien. A. Camus, L ' h o m m e révolté, p. 4 4 (Gaatone, Système, p. 33) T o u t e reine qu'elle était, je voyais J e n n y pleurer parce q u e le g e n t i l h o m m e aimait sa belle suivante et n o n elle, la reine. E. Triolet, Personne ne m'aime, p. 22 (Gaatone, Système, p. 33)

mais non On p a r d o n n e les crimes individuels, mais non la participation à u n crime collectif. M. Proust, Le c ô t é de G u e r m a n t e s , p. 152 ( G a a t o n e , Système, p. 33) Car la vieillesse n o u s rend d ' a b o r d incapables d ' e n t r e p r e n d r e , mais n o n de désirer. M. Proust, La fugitive, p. 6 3 5 (Gaatone, Système, p. 33)

Unsere Erklärung gilt auch für Fälle, wo sich der Blockademechanismus nicht auf eine lexikalische Einheit (und deren Determinanten), sondern auf in Teilsätze transponierte Sätze bezieht: Aimez q u ' o n vous conseille, et n o n pas q u ' o n vous loue. Boileau, Art p o é t i q u e I (Grevisse, Bon usage, § 874a)

So fügen sich selbst die Beispiele, die zunächst aus dem normalen Rahmen zu fallen schienen, in unser Interpretationsschema ein; dieses erweist sich somit als fähig, alle Verwendungen von non als Einheit einer lebendigen

P. Wunderli

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und freien Syntax zu erklären 63 . Was die Textlinguistik bzw. die Textkonstitution betrifft, so muß noch beigefügt werden, daß non als koordinierter (nach Pause, ou, et, mais) und als untergeordneter Prosatz (nach que) nie eine kataphorische Beziehung markiert; sieht man von der seltenen Verwen- .. dung als eingeschobener Satz ab64, haben wir es immer mit anaphorischen Konstruktionen zu tun. Und da bei unabhängigem Gebrauch (Antworten usw.) die Anapher ebenfalls deutlich überwiegt, können wir sagen, daß obwohl die Opposition anaphorisch / v / kataphorisch auf der Ebene der langue neutralisiert ist - die anaphorische Beziehung auf den Ebenen des discours und der Norm eindeutig bevorzugt ist und frequenzmäßig dominiert. *

Eigentlich sind wir nun ans Ende unserer Untersuchung der Negation non gelangt. Eine letzte Frage bleibt jedoch noch zu klären. Wir haben gesagt, die Negation pas konkurrenziere non regelmäßig in den Fällen, wo dieses als koordinierter Prosatz verwendet wird (nach Pause, ou, et und mais). Muß man daraus schließen, daß pas in der modernen Sprache in den Bereich von non eindringt, daß es dabei ist, sich selbst in einen Prosatz zu verwandeln? Eine solche Erklärung kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, denn anstelle von non gebrauchtes pas wird oft als Merkmal der familiären Sprache angesehen65 ; sollte es bereits eine stilistische Variante von non darstellen? Bevor wir auf diese Frage eingehen, sollen hier einige Beispiele gegeben werden, wo pas die Stelle von non eingenommen zu haben scheint: nach einer Pause: Tout homme qu'il rencontre attend, espère ou exige quelque chose de lui. Pas Frédérique. R. Vailland, La truite, p. 243 (Gaatone, Système, p. 44) 63 Nur die erstarrten Formeln und das Gebiet der Wortbildung sind gesondert zu behandeln, cf. N 47. 64 Vgl. noch einen weiteren Einschubstyp, der sich von dem p. 67/68 erwähnten unterscheidet: Choisissez non le succès, mais l'honneur Grevisse, Bon usage, § 874a Non ist hier von einer Expansion gefolgt; außerdem fungiert es nicht als koordinierter Terminus, sondern ist in den ersten Teil der Konstruktion integriert, was das Auftreten von mais nach der Pause nach sich zieht. 65 Cf. z.B. Grevisse, Bon usage, § 874a; Wartburg-Zumthor, Précis, p. 58; Gaatone, Système p. 45.

Der Prosatz „non"

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S'il me plaît d'engager toute ma vie pour elle, trouverais-tu plus beau que je lie mon amour par des promesses? Pas moi. A. Gide, La porte étroite, p. 51 (Gaatone, Système, p. 44) nach ou: Elle parlait beaucoup, et toujours, de choses qui étaient si belles . . . qu'il allait je ne sais pas, de mon honneur de . . . les voir ou pas. M. Duras, Le marin de Gibraltar, p. 33 (Gaatone, Système, p. 44) nach et: Vous avez confiance en des inconnus, et pas en moi? H. de Montherlant, Le démon du bien, p. 1349 (Gaatone, Système, p. 44) Pierre souffrait pourtant de savoir qu'elle était à un autre, et pas à lui. L. Aragon, Les voyageurs de l'impériale, p. 372 (Gaatone, Système, p. 44) nach mais: Ces noms. . . elle les reconnaissait au passage, mais pas tous. G. Bernanons, Sous le soleil de Satan, p. 205 (Gaatone, Système, p. 44) Besonders interessant ist nun das folgende Beispiel, w o die Konstruktionen mit non und pas abwechseln: Je ne veux pas savoir s'il est difficile ou non, Madame Desbaresdes, dit la dame. Difficile ou pas, il faut qu'il obéisse. ; M. Duras, Modérato cantabile, p. 13 (Gaatone, Système, p. 45) Alles scheint zugunsten einer identischen Interpretation der beiden Negationen zu sprechen. Aber eine solche Schlußfolgerung würde meiner Ansicht nach zweierlei nicht berücksichtigen. Erstens: wenn pas wirklich ein Prosatz wäre, müßte es dann nicht non in allen seinen Verwendungen ersetzen können? Gaatone hat eindeutig festgestellt, daß dem nicht so ist: die beiden Negationen scheinen nur in den Fällen kommutierbar zu sein, wo die Negation als mit einem Satz oder einem Satzrepräsentanten koordiniert angesehen werden darf (also nach Pause, et, ou, mais)\ nach que oder als Antwort auf eine Frage oder einen anderen unabhängigen Stimulus kann man dagegen non nicht durch pas ersetzen 6 6 . Die Fälle, w o pas ausgeschlossen ist, sind genau diejenigen, wo die Interpretation als Prosatz sich auf Anhieb aufdrängt. Außerdem hat Gaatone festgestellt, daß pas in Konzessivkonstruktionen wie

66 Cf. Gaatone, Système, p. 42/43.

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P.

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difficile ou pas / non, grève ou pas / non usw. obligatorisch ist, sobald das erste Element nach der Negation wiederholt wird 6 7 , cf. z.B.: Aussi, guerre ou pas guerre, il était certain que nous entrions pour de bon dans une période assez fertile en désagréments. C. Simon, La corde raide, p. 140 (Gaatone, Système, p. 45)

Zeigt uns das erste Faktum, daß pas nicht als Äquivalent von non angesehen werden darf, daß man es also nicht als Prosatz betrachten kann, so scheint mir die zweite Erscheinung einen Hinweis zu liefern, wie die beschränkte Kommutationsmöglichkeit von pas und non erklärt werden muß. Wir haben p. 68 gesagt, in Konzessivsätzen dieser Art übe das erste Element Satzfunktion aus, ganz gleichgültig, ob es sich um ein Substantiv, ein Adjektiv oder ein Adverb handelt. Wenn nun ein solches Element nach der Konjunktion ou wieder aufgenommen wird, so muß dies in derselben Funktion geschehen, die es vor ou ausübt, d. h. als Satzrepräsentant und nicht einfach als Substantiv, Adjektiv usw. Da guerre, difficile usw. selbst als Prosatz fungieren, bleibt kein Platz mehr für die heteronexe Negation (Prosatz) non: sie können nur durch die homonexe Negation negiert werden, die dann Bestandteil des durch ein Substantiv, Adjektiv oder Adverb repräsentierten Satzes ist. Für all die Fälle, wo pas eine nicht-verbale Einheit begleitet, schlage ich vor, diese als Satzrepräsentanten anzusehen und der Negation ihre normale Funktion zuzuweisen: diejenige einer homonexen Negation. Diese Interpretation ist nicht nur für die Fälle gültig, wo eine bestimmte Lexie wiederholt wird, sondern auch dort, wo wir vom ersten zum zweiten Glied des koordinierten Komplexes eine lexikalische Substitution haben. Und die Fälle, wo auf pas weder ein Adjektiv noch ein Substantiv oder Adverb folgt (cf. difficile ou pas usw.)? Wir befinden uns hier in einer Grenzsituation, wo die Funktionen der beiden Negationen zusammenzufallen scheinen. Man kann sie nur noch differenzieren, wenn man annimmt, die erste satzhafte Komponente des koordinierten Komplexes werde durch ein Nullelement wiederaufgenommen und die homonexe Negation pas negiere diesen Nullrepräsentanten 68 .

67 Cf. Gaatone, Système, p. 45. 68 Man könnte dieser Interpretation von pas entgegenhalten, daß wir allein verwendetes jamais, rien usw. ebenfalls als heteronexe Negation mit Prosatzfunktion angesehen haben (cf. p. 55); wäre es da nicht konsequent, pas genauso zu behandeln? Ich glaube, daß es gute Gründe gibt, um ihm eine andere Funktion zuzuweisen. Zunächst kann pas nicht für sich einen unabhängigen Satz bilden, was bei einer nuklearen

Der Prosatz

„non"

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So kommen wir zum Schluß, daß selbst in den Fällen, wo pas und non frei kommutierbar zu sein scheinen, wo die Sinneffekte, die man aufgrund der beiden Konstruktionen erzielt, praktisch identisch sind, gleichwohl zwei grundverschiedene Mechanismen vorliegen; unter den vergleichbaren „Oberflächenstrukturen" verbergen sich erhebliche Unterschiede hinsichtlich der „Tiefenstruktur".

Negation möglich ist (Que fais-tu? - Rien; Quand V'as-tu revue? - Jamais; uswj ; pas kann nur innerhalb eines „gebundenen" Satzes nach einer koordinierenden Konjunktion allein stehen. Zweitens kann pas nicht durch que in einen Objektsatz umgewandelt werden, was wiederum im Fall von jamais, rien usw. möglich ist (il dit que jamais usw.). Es ist somit eindeutig, daß pas nicht als Prosatz betrachtet werden darf.

H e l m u t Genaust

Voici und voilà Eine textsyntaktische Analyse

I

Selten ist im Bereich der französischen Sprachwissenschaft die Bestimmung einer Wortklasse vielfältiger, selten die Divergenz der Meinungen über den eigentlichen linguistischen Status eines Zeichens größer gewesen als im Falle von voici/voilà. Die Definitionen, die von Präposition bis Adverb, von Demonstrativum über présentatif bis factif strumental épidictique und von Interjektion bis mot-phrase oder phrasillon logique reichen, lassen voici und voilà als einen wahrhaften linguistischen Proteus erscheinen. Wir brauchen diese Klassifikationsversuche nicht im einzelnen zu diskutieren, sondern können uns ohne Vorbehalt der Kritik von Gérard Moignet 1 anschließen, der 1969 — mehr als 60 Jahre nach der vergessenen Programmschrift von Friedrich Perle 2 — dem Problem erstmals wieder einen eigenen Beitrag aus der Schau des guillaumistischen Strukturalismus gewidmet hat. Moignet schlägt auf der Grundlage einer synchronischen Analyse eine neue Definition von voici/voild als V e r b 3 vor. Dieser Ansatz hat gegenüber früheren den unbestrittenen Vorzug, sich statt auf logische, morphologische oder semantische Überlegungen auf syntaktische Fakten abstützen zu können. Denn tatsächlich haben voici/voild das comportement syntaxique eines Verbs: „Comme le verbe, voici-voild peut faire phrase à lui seul, peut introduire un régime substantival, peut signifier ce régime sous la forme d'un pronom personnel atone conjoint antéposé ou du pronom relatif que, Le verbe voici-voilà, TLL 7/1 (1969), 1 8 9 - 2 0 2 . In seiner „Grammaire de l'ancien français. Morphologie et syntaxe" (Paris 1973) nimmt Moignet jedoch offenbar wieder eine Abkehr von seiner These vor, wenn er afr. voi ci etc. als „particules présentâmes" (p. 90) vorstellt. 2 Voici und voilà. Ein Beitrag zur französischen Wortkunde und Stilistik, Progr. Halberstadt 1905. 3 Von verbalem Charakter oder verbalem Ursprung von voici/voilà sprechen auch J. Dubois, G. Jouannon, R. Lagane, Grammaire française, Paris 1961, p. 123; Grammaire Larousse du français contemporain, Paris 1964, § 85, 310, 567; W. v. Wartburg - P. Zumthor, Précis de syntaxe du français contemporain, Berne 2 1958, § 615. 1

Voici und voilà

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peut régir un infinitif, une phrase nominalisée par la conjonction que ou d'autres nominalisateurs (qui, quoi, ce que, comme, comment, pourquoi, etc.), peut être l'élément nodal d'une phrase nominalisée mise en position de subordonnée, peut s'insérer entre ne et pas, entre ne et que, se mettre en phrase interrogative grâce au tour est-ce que ou à l'indice t-il (ti), recevoir l'incidence d'un adverbe" (p. 195, ähnlich schon p. 192) 4 . Reichen diese Gründe aus, um voici/voild den linguistischen Status eines Verbs zuzuweisen? Ich meine nein, da noch wesentliche morphosyntaktische Charakteristika der Klasse Verb fehlen. Moignet sieht diese Einwände auch und schränkt seine Definition entsprechend ein: „Nous proposons cependant de voir en lui [ = voici/voild ] un verbe au cas-limite — indépassable — de la défectivité, où la flexion se réduit à une seule f o r m e " (p. 196). Und weiter: „ Voici-voilà est un verbe réduit à la forme unipersonnelle du présent de l'indicatif de l'aspect i m m a n e n t 5 " (p. 196). Dies ist nun das zentrale Argument, mit dem die Bestimmung als Verb steht oder fällt: Wenn die syntaktische Distribution nicht beweiskräftig ist und die in Frage stehende Einheit über keinerlei flexivische Varianz (außer dem Wechsel von -ci und -là) verfügt, dann kann der ohnehin minimale verbale Charakter nur noch durch den Nachweis von — und sei es gleichfalls minimalen — Markierungen von Aktionsstand, Modus, Tempus, Person und Numerus (Moignet wählt stattdessen Modalität), also die jedem Verb eignende Aktualisierungshierarchie, erhärtet werden. Moignet unternimmt diesen Versuch, der nach unserer Auffassung einer Quadratur des Zirkels gleichkommt: Denn wie kann man, wenn die morphologischen Oppositionen, wenn die Aktualisierungsmerkmale auf allen Hierarchiestufen neutralisiert sind, noch so eindeutige Zuweisungen machen? Bei vollständiger Aufhebung aller termes marqués müßte ein Verb doch in seiner „reinsten Form", in seinem geringsten Aktualisierungsgrad, und das heißt im Infinitiv, erscheinen. Es ist unmöglich, wenn nicht methodologisch bedenklich, bei Fehlen aller Personal-, Tempus- oder Modusmorpheme Zuordnungen

wie unipersonnel, présent, indicatif und aspect immanent vorzunehmen. Dies will Moignet durch einzelne Indizien stützen, die im folgenden geprüft werden sollen:

4

Auch Damourette-Pichon (EGLF VI, § 2185) haben deutlich dieses syntaktische Verhalten erkannt, mit Rücksicht auf die bestehenden Differenzen die Zuordnung zur Klasse Verb aber vermieden.

5

Dem aspect immanent Guillaumes entspricht der von G. Hilty vorgeschlagene Terminus Aktionsstand des accomplissement.

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H. Genaust

a) Person: „En ce qui concerne la personne, il n'y a aucune difficulté à assimiler voici-voilà au verbe impersonnel" (p. 196). Es läge die unipersonale 6 Form des Präsens, d. h. die 3. Pers. Sing, in unpersönlicher Gebrauchsweise, vor. Dazu würde stimmen, daß seit dem 17. Jahrhundert das Morphem -t-il in der Frage auftritt. Ein Personalpronomen il fände sich zwar nie in affirmativen Äußerungen, aber das sei auch im Hinblick auf Wendungen wie faut le faire, vaut mieux y aller entbehrlich. Es handele sich nicht etwa um 0-Person, sondern um das, was Gustave Guillaume „personne d'univers" nannte, „tout phénomène particulier s'inscrivant, en effet, dans le phénomène général qu'est l'univers" (p. 197). Da Setzung des Pronomens generalisierenden Wert hätte, „c'est sans doute parce qu'on reste avec lui dans le domaine du particulier que voici-voilà refuse l'indice personnel il" (p. 197). Ebenso schwer wie man hier Moignets Argumentation folgen wird, so auch seinem Resultat: (1) Es ist grundsätzlich, wie oben betont, unzulässig, bei fehlender Personalgliederung eine bestimmte Person herauszusondern. (2) Das in Fragesätzen auftretende Element -t-il kann mit guten Gründen, wie unten (II, 10) dargestellt wird, als Interrogativmorphem /ti/ interpretiert werden, also nicht als Syntagma von / f / und Personalpronomen il. (3) Dringlicher wäre der Nachweis eines solchen Personalpronomens in affirmativen Äußerungen. Die beigeführten subjektlosen Konstruktionen bringen hier keine Entlastung, da es sich um im Modernfranzösischen erstarrte Syntagmen handelt, die nur in diachronischer Schau erklärbar sind: Nur im Altfranzösischen, nicht jedoch in der heutigen Sprache ist Nichtsetzung des Subjektpersonalpronomens bei unpersönlichen Verben Norm. Relikthafte Bewahrung eines solchen Phänomens liegt aber bei voici/voild nicht vor. (4) Überdies sind Wendungen wie mieux vaudrait, peu importe, faut pas faire ça nur freie Varianten sonst immer mit Personalindex kombinierter Verben, sofern man nicht noch an populärsprachliche und damit schichtenspezifische Varianten wie_y a un type qui te demande denken will. Solche stilgebundene Variation ist in dieser Form für voici/voild aber nicht belegbar; hier entfernt sich im Gegenteil Setzung des Pronomens gerade von der Norm:

6

Cf. G. Moignet, Personne humaine et personne d'univers. Contribution à l'étude du verbe unipersonnel, TLL 8/1 (1970), 191-202; Verbe unipersonnel et voix verbale, TLL 9/1 (1971), 267-82; Sur le système de la personne en français, TLL 10/1 (1972), 71-82.

Voici und

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voilà

System/Norm

unpersönliche Ausdrücke voici/voilà

stilschichtengebundene Variante

il

0 -t-il; je usw.

(5) Es ist weder syntaktisch noch semantisch einsichtig, warum voici/viold als „unpersönliche" Konstruktionen (ohne Personenmarke, aber doch unipersonal) gedeutet werden müssen. Im Gegensatz zu den echten unpersönlichen Äußerungen, wie z. B.11 pleut toujours oder II est des gens qui ne rient jamais, nehmen Äußerungen mit voici/voilà stets auf eine konkrete Situation Bezug, an der Sprecher und besonders die angesprochene Person teilhaben. Kontextfreier Gebrauch wäre im folgenden Beispiel ausgeschlossen: 1

Voilà des gens qui ne rient jamais.

Es scheint ferner, als inzidiere eine solche Äußerung mit voici/voild nicht allein auf die Situation und den allocutaire, sondern als sei dieser auch an dem in voici/voild selbst ausgedrückten „verbalen Geschehen" in Form eines 1. Aktanten beteiligt, wie eine Substitution auf Redeebene nahelegt: 2

Les cigarettes que voilà sont à moi

entspricht etwa „Les cigarettes que vous voyez là-bas, que vous trouvez (sur la table), que vous avez dans votre main, sont à moi". Eine weitergehende Redebedeutung wie etwa „Les cigarettes qui sont i c i . . . " ist zwar durchaus möglich, trägt aber schon nicht mehr dem syntaktischen Charakter der Wendung mit dem Relativum que Rechnung. Es geht also nicht an, in voici/voild unpersönliche Verben zu sehen. Ulrich Mauch, der sich erst jüngst eingehend mit den unpersönlichen Ausdrücken befaßt h a t 7 , führt denn aus verständlichen Gründen beide Einheiten gar nicht auf. Voici/voild ist somit weder ein unipersonales Verb (in unpersönlicher Verwendung) noch besitzt es überhaupt eine grammatische Person 8 . Dem widersprechen keineswegs die zwei Beispiele, die Moignet (p. 197) — weil unvereinbar mit seiner These — als Konfusion „dans la pensée de ceux qui possèdent imparfaitement le système de la langue", als Fälle aus der „grammaire des fautes" weginterpretiert: 3

Ah! te voilà? - Oui, je voilà. 5jähriges Kind, Beobachtung Moignets p. 197

7

U. Mauch, Geschehen „an sich" und Vorgang ohne Urheberbezug im modernen Französisch, Bern 1969 (RH 80).

8

Cf. EGLF, § 2 1 8 5 : „Ce qui les en [ = voici/voild c'est leur absence de support".

du verbe] distingue essentiellement,

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H. Genaust 4

. . . mais ne me voilà-/e pas prêt depuis des mois, des années? „Rabéarivolo (poète malgache)" (so Moignet p. 197), Calepins bleus, bei R. Boudry, Mercure de France, 15 sept. 1938, p. 539 (EGLF § 2188)

Im ersten Fall liegt in kindersprachlichem Idiolekt falscher Umsetzungsmechanismus von te voilà zu je voild statt me voild vor, nicht aber, wie Moignet annimmt, Assimilation von me voild an je suis Id. Im zweiten Beispiel wird man — bei einem namhaften Dichter — wohl kaum an Unkenntnis des französischen Sprachsystems zu denken haben, sondern gleichermaßen an einer Fehleinschätzung Moignets, der auch den Namen von Jean-Joseph Rabéarivélo9 falsch wiedergibt: Es handelt sich um eine poetische Lizenz in Analogie zu echten Fragesätzen vom Typus ne suis-je... , ne me trouvé-je.. ., keinesfalls jedoch um eine Bildung entsprechend dem Typus ne me voild-t-il pas prêt... , wo der Bezug auf den Sprecher durch das Objektpronomen ausgedrückt wird und ein scheinbarer Wechsel zur 3. Person als Subjekt stattfindet. Überdies hat diese Wendung einen gänzlich anderen Redewert („da bin ich doch . . . ! " ) ohne interrogativen Charakter, wie Moignet selbst an späterer Stelle darlegt. Beide Beispiele hätten Moignets Auffassung stützen können, voici/voild besäßen eine grammatische Person und seien deshalb Verb. Denn in beiden Fällen wird ja von Seiten der Sprecher voild als Verb interpretiert und demzufolge unter Verstoß gegen die Norm mit einer Personalmarke versehen. b)Modus: „Voici-voild ne connaît pas la variation modale: il est, intégralement, du mode indicatif (p. 197). Diese kategorische Feststellung überrascht wie die erste. Wir wiederholen ein weiteres Mal, daß bei Neutralisierung sämtlicher Oppositionen auch eine Modusbestimmung undurchführbar ist. In guillaumistischer Sprachauffassung, zu der sich Moignet bekennt, sind Modus und Tempus in der chronogénèse in der Weise verzahnt, daß auf einer ersten Stufe (saisie A) in der geistigen Repräsentation das „Zeitbild" (image-temps) noch nicht, auf der zweiten (saisie B) teilweise, auf der dritten (saisie Cj vollständig realisiert ist. Diesen saisies entsprächen die Modi Infinitiv/Partizip (A), Subjonctif (B), Indikativ (C) 10 . Das würde bedeuten, daß voici und voilà, sofern sie Verb sind, die gesamten Stufen der Chronogenese durchlaufen hätten, ja in jedem Sprechakt von neuem durchlaufen würden, und eine vollständige Tempusgliederung ausbildeten, die aber — widersprüchlich genug — nur in einem einzigen Tempus vorhanden sei. Dieser Schluß ist natürlich von der 9 (1901-1937), erster Dichter Madagaskars in frz. Sprache. Sein Name ist im EGLF unklar gedruckt. 10 Cf. M. Wilmet, Gustave Guillaume et son école linguistique, Paris-Bruxelles 1972, p. 47—49;P. Wunderli, VRom 32 (1973), 13/14.

Voici und voilà

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Tatsache abhängig, daß eine Äußerung mit voici/voild situationeil und zeitlich an den Moment der Sprechhandlung gebunden ist: „Voici-voilà, qui ne sort pas du moment de la parole, est incompatible avec le temps virtualisé que signifie le mode subjonctif (p. 198). Es liegt hier zum einen Verwechslung der Inzidenz auf die Situationelle Präsenz der Kommunikationspartner mit der temporalen Einheit Präsens vor, zum anderen ist zu fragen, warum hier denn nicht gerade der Subjonctif (wegen der partiellen Tempusgliederung) oder besser Infinitiv (als geringster Aktualisierungsgrad des Verbs) auftreten müßte. Auch Infinitive können ja in präsentischer Rede Träger der Verbalhandlung anstelle eines finiten Verbs sein! Daß voici/voild keine Konjunktive sein können, beweist Moignet damit, daß sie weder in unabhängigen Sätzen noch in Complétiven jussiven (besser: volitiven) Wert haben und nie mit konjunktivischen Formen in abhängigen Sätzen kommutiert werden können. Ungrammatikalisch sind also: 5

*Je veux que le voilà. *Tu souhaites que le voilà. *I1 faut que le voilà. *Dépêche-toi de partir avant que le voilà.

Ich meine, daß aus solchen durch den Semantismus der Einheiten voici/voilà gegebenen Selektionsbeschränkungen nicht ex negativo auf den Modus des vermeintlichen Verbs geschlossen werden darf. c) Tempus: „ Voici-voilà ne connaît pas la variation temporelle parce qu'il appartient à un seul temps, le présent. Il signale, exclusivement, le moment dans lequel le locuteur énonce" (p. 198). Nach dem oben Gesagten braucht nicht noch einmal die Brüchigkeit solcher Argumentation wiederholt zu werden; wenn keine Tempusgliederung da ist, gibt es auch kein Tempus, ja nicht einmal einen Indikativ. Äußerungen, die sich inzidenziell auf die Situation, auf den Moment des Sprechens beziehen, müssen nicht notwendigerweise präsentisch sein, sondern sind eher tempusindifferent und können den Redewert „Gegenwart" eben aus der Anwesenheit der Loquenten, ihrem Hier und Jetzt, erhalten, wie dies etwa beim lateinischen oder deutschen Imperativ zu beobachten ist. Es besteht also kein Grund, voici/voilà ein Tempus und damit einen Modus zuzusprechen, weil es seinen Bezugspunkt im Moment der Sprechhandlung habe, und mit diesem Argument die These vom verbalen Charakter beider Lexien zu stützen. Eher könnte dies von einem Beispiel her geschehen, das Moignet (p. 198) 11 aus Damourette-Pichon zitiert: 11 Im Widerspruch zu seiner Behauptung „II n'est pas possible de mettre voici-voilà au passé" (p. 198).

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Je te disais bien qu'en voilàait un [ . . . vwâlàè:œ:]. M. EP (5jähriger Knabe), 7.6.1931 (EGLF, § 2188)

Dieser Beleg wird natürlich von Moignet als Barbarismus eingestuft, da er seiner Behauptung zuwiderläuft. Was hier vorliegt, ist nicht allein systemfremder Bezug auf toncalen statt noncalen Standpunkt (so EGLF) - der Junge wollte verzeihlicherweise die Inzidenz auf das Vergangenheitstempus des Obersatzverbums markieren - , sondern ebenso ungewöhnliche Ausstattung des voild mit Imperfekt- und Personalmorphem; genau wie später bei Moignet ist hier von infantilem Sprecherbewußtsein voild als Verb interpretiert worden, das es nach unserer Meinung nicht ist. d) Modalität: „Le verbe voici-voilà n'est guère apte à sortir du domaine du positif" (p. 200), d. h. es lägen allgemein keine Anzeichen expliziter Modalitäten (Bally) vor. Dann ist aber auch dieses Argument für die These vom verbalen Charakter vollkommen unbrauchbar. Die Möglichkeiten einer Umsetzung in Negation und Frage, die Moignet oben (p. 192, 195) noch für diese These ins Feld geführt hatte, schränkt er an dieser Stelle eindeutig selbst wieder ein. Es erweist sich also, wie unzureichend die Indizienbeweise sind, die Moignet zur Stützung seiner Definition anführt. Es handelt sich nicht um „une sorte de verbe sans variation morphologique verbale, impersonnel, unimodal (indicatif), et unitemporel (présent), qui désigne ce qui est positivement dans le moment même de la parole" (p. 201), sondern voici/voild sind, wie dargelegt, apersonal, amodal, atemporal und — sofern man nicht an einen Infinitiv denken will, was bisher niemand getan hat — auch averbal. Die bei DamourettePichon und Moignet (hier ablehnend) genannten meist kindersprachlichen Beispiele können nicht als Beweis gegen diese Folgerung dienen, sondern sind umgekehrt zu deuten: Nicht weil in diesen Fällen Person und Tempus explizit markiert sind, hat man von Verben zu sprechen, sondern da die kindlichen Sprecher in voici/voild aus naheliegenden Gründen Verben zu sehen glaubten, fügten sie Subjektpronomen und Tempusmorphem an. Ähnliche Fälle sind aus der Literatur häufiger bekannt, cf. z. B. bei Martinet 12 : „On entend même, dans la bouche des enfants, ça m'alairait bon pour ça m'avait l'air bon". Ein Einwand, den Moignet nicht bringt, könnte der Hinweis darauf sein, daß voici/voild gewöhnlich ein Objekt bei sich haben, und dies wäre ja doch Kennzeichen eines transitiven Verbs. Nun ist aber zu bedenken, daß die Rektion eines 2. Aktanten erst zu den sekundären, variablen Merkmalen des französischen Verbs gehört. Die konstanten, primären verbalen Charakteristi12 A. Martinet, Eléments de linguistique générale, Paris 4 1 9 6 7 , p. 194.

Voici und voilà

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ka, wie Personen-, Numerus-, Tempus-, Modusgliederung, Aktionsstand, Diathese und Existenz eines 1. Aktanten (Subjekt) fehlen dagegen bei voici/ voilà vollständig. Das aber kann zu keinem anderen Schluß als dem fuhren, daß wir es hier gar nicht mit einem Verb zu tun haben, sondern mit einer anderen Einheit, die über eine 2. Valenz verfügen kann und lediglich aufgrund ihres syntaktischen Verhaltens bisweilen mit einem Verb identifiziert wird. Wir haben noch auf den bei Moignet übergangenen Ansatz Lucien Tesnières 13 einzugehen, der voici/voild als mot-phrase, genauer als phrasillon logique incomplet einreiht, freilich mit der besonderen Feststellung, daß es sich hier nicht um organismes ankylosés, um mots structuralement inanalysables wie bei den sonstigen mots-phrases handelt (p. 95). Gemeinsam sei allen diesen mots-phrases, daß sie Arten von Sätzen, nicht von Wörtern sind, da sie im discours syntaktisch die gleiche Rolle wie vollständige Sätze spielen (p. 95). Wenn nun Tesnière noch gegenüber diesen mots-phrases complets (z. B. den Interjektionen) wieder eine Sondergruppe, die mots-phrases incomplets, ausgliedert, die wie voici/voilà nur Teile von Sätzen sind (p. 97), so setzt er sich ein zweitesmal zu sich selbst in Widerspruch, da ja auch die strukturale (ausdrucksseitige) Unanalysierbarkeit zu den Kennzeichen der Satzwörter zählt. Nach semantischen Kriterien definiert Tesnière voici/voild alsphrasillons logiques, „des mots-phrases dans lesquels la notion exprimée est purement intellectuelle, sans aucun élément a f f e c t i f (p. 97). Nun ist nicht erkenntlich, warum voici/voild jedes affektive Element abgesprochen werden muß, wo andere Forscher 14 gerade diesen Aspekt hervorheben. Ein entscheidender Einwand gegen Tesnière ist, daß voici/voild gemäß seiner strengeren Definition gar keine mots-phrases sind, keine dem Monorem Ballys 15 gleichzusetzende Einwortsätze, in denen nur der propos (Rhema) explizit ausgedrückt ist, sondern daß (um Tesnières eigene Worte zu gebrauchen) „ils ne constituent que des fragments de phrases, qu'il est nécessaire de compléter par d'autres éléments pour obtenir des phrases complètes" (p. 97). Davon unberührt bleibt Tesnières Verdienst, mit den mots-phrases als „équivalents d'une phrase complète" der grammatikalischen Forschung eine neue Perspektive eröffnet zu haben. Es ist eine bemerkenswerte Parallele zu der Darstellung bei Tesnière daß auch Damourette-Pichon 16 voici/voild in ein gemeinsames Teilsystem mit 13 Eléments de syntaxe structurale, Paris 1959 ( 2 1965), p. 9 4 - 9 9 . 14 Cf. z.B. Wartburg-Zumthor, Précis p. 306 (§ 615 c); p. 137 (§ 243); Moignet, p. 201. 15 LGLF, Berne 4 1965, p. 5 3 - 5 6 . 16 Des mots à la pensée. Essai de grammaire de la langue française (= EGLF), livre VI, chap. II (t. VI, § 2 1 3 0 - 8 0 ) . - Der Terminus épidictique (cf. gr. epideiktikös „aufzeigend, zur Schau stellend") entspricht dem frz. présentatif.

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H. Genaust

oui, si, non einordnen und dieser letzten Gruppe das gleiche distinktive Merkmal „anaphorisch" zuweisen: Tesnière: phrasillons logiques incomplets anaphoriques

EGLF: factifs strumentaux épidictiques anaphoriques

voici/voilà

voici/voilà

oui/si, non

oui/si, non

Bei Damourette-Pichon fehlt auch nicht der Hinweis, daß die Determination durch eine deiktische Geste oder durch Inzidenz auf den Kontext vervollständigt werden muß (§ 2181); doch soll nicht verkannt werden, daß beide Ansätze auf verschiedenen, gleichwohl originellen Gedanken beruhen. Was nun die in beiden Werken als anaphorisch definierten Entsprechungen von voici/voilà angeht, so hat Peter Wunderli im Rahmen dieses Sammelbandes17 in überzeugender Weise dargelegt, daß die Negation non den linguistischen Status eines Prosatzes hat, dessen einziges semantisches Merkmal „+ negativ" ist; seinen spezifischen Gehalt und seinen Satzbauplan erhält non erst auf Redeebene kraft Inzidenz auf Kontext und Situation. Auch die übrigen Einheiten wird man ohne weiteres als Prosätze interpretieren dürfen.

II Es zeigt sich also, daß keiner der bisherigen Definitionsvorschläge akzeptabel, d. h. mit den sprachlichen Fakten vereinbar ist. Offensichtlich ist eine Lösung dieser Frage mit den Mitteln der traditionellen Grammatik ebensowenig wie mit Hilfe strukturalistischer Beschreibungsmethoden möglich, solange diese auf Wort- oder Satzebene beschränkt bleiben. Es empfiehlt sich daher, von einer höheren Beschreibungsebene aus, unter Einbeziehung von Kontext und Kotext, das Problem erneut anzugehen und anhand einer Analyse der Verwendungstypen von voici/voilä nach einer widerspruchsfreieren Definition ihres Grundwertes zu suchen. Nehmen wir als Beispiele des wohl häufigsten Typus sprachliche Äußerungen wie: 7 8

Voici votre chapeau! Où est mon chapeau? - Le voici.

Wäre voici wirklich ein unpersönliches Zustandsverb, wie Moignet annimmt, 17 Cf. p. 4 3 - 7 5 .

Voici und

voilà

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hätten wir parallele Erscheinungen zu d e n p r é s e n t a t i f s wie c'est, il est zu erwarten; auf jeden Fall aber müßte dann das ihm zugeordnete Nomen als 1. Aktant erscheinen. Das aber ist durch das Beisp. 8 ausgeschlossen. Das Nomen, das bei voici/voild steht, ist syntaktisch ein 2. Aktant und hierarchisch von voici/voild abhängig. Es bleibt nun zu erörtern, welchen Status voici hier haben muß, um einen 2. Aktanten regieren zu können, wenn es selbst kein Verb ist. Tesnières eigener Vorschlag, voici sei ein mot-phrase incomplet, konstatiert nur das anhin Bekannte und vermag nicht anzugeben, welche „équivalents d'une phrase complète" in voici gespeichert sind. Diese Frage wird uns nun beschäftigen. Akzeptiert man, daß voici — hier unvollständiges — Äquivalent eines Satzes ist, dann müßte es auch einen gleichfalls unvollständigen Satzbauplan repräsentieren. Welches Element aus diesem Bauplan ausgegliedert ist, ist nun offenkundig: Es ist der 2. Aktant, der explizit in Verbindung mit voici/voild gegeben werden muß, damit der Satz vollständig ist. Im Gegensatz zu den eigentlichen mots-phrases ist also das aus voici/voild + Nomen gebildete Syntagma variabel, da das Substantiv bzw. der hinter dem Objektpronomen stehende Referent einer offenen Liste angehört. Wenn, wie angenommen, voici/voilà Äquivalent eines Satzes sind, in dem die Stelle des 2. Aktanten noch aufzufüllen ist, dann repräsentieren sie mindestens ein Verb als zentralen Knoten und einen 1. Aktanten, möglicherweise auch einen Zirkumstanten. Die Stellvertretung eines Verbs läßt sich ohne Schwierigkeiten einsehen, zumal sie die für voici/voilà kennzeichnende Valenz über einen 2. Aktanten einleuchtend erklären würde. Die These Moignets steht dieser Überlegung sehr nahe, doch sind als die zwei wichtigsten Unterschiede hervorzuheben, daß Moignet (1) in voici/ voild selbst ein Verb und nicht einen ein solches einschließenden Repräsentanten sieht; (2) nicht erkennt, daß voici/voild mehr als ein Verb darstellen. Dieses Verb kann auch nicht mit Moignet als verbe d'existence, sondern nur als transitives Verb gedeutet werden. Damit ist aber auch Moignets Ansatz eines ausdrucksseitig zwar entbehrlichen unpersönlichen Subjekts hinfällig. Es erscheint vielmehr angemessen, als Repräsentation des 1. Aktanten ein persönliches Subjekt anzunehmen, das freilich — und dies ist ausschlaggebend — situationeil bzw. kontextuell gegeben ist. Die bisherige Forschung hat zu wenig darauf gesehen, daß die Setzung von voici/voild neben der Präsenz des Sprechers die eines Adressaten verlangt, was namentlich in dialogischer Redesituation der Fall ist. Jede sprachliche Äußerung mit voici/voild gewinnt ihren Sinn erst durch Inzidenz auf Situation und Kontext und den Appell an den Hörer/Leser; die Signalfunktion gehört somit — nach Karl Bühlers Terminolo-

H. Genaust

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gie — zum Symbolwert von voici/voild. Offener tritt dies in der typischen Appellsituation, dem Befehl, zutage: Im Imperativ, auch im Neufranzösischen, wird das Subjekt eingespart, weil es in der Person des allocutaire situationeil präsent ist. Der gleiche Einsparungsmechanismus liegt nach unserer Meinung auch im Falle von voici/voilà vor1®. Was die Frage nach der Repräsentation eines Zirkumstanten angeht, so erscheint dies fur die Ortsangabe gesichert. Dies ergibt sich nicht so sehr wegen der variablen Signifikantelemente /si/ und /la/, die ja eher - wie beim nfrz. pronom démonstratif - die Orientierung ± seitens des Sprechers markieren, als vielmehr aus dem Semantismus der Wendung: Voici/voild lenken die Aufmerksamkeit des lokal kopräsenten Adressaten auf den durch den 2. Aktanten bezeichneten Gegenstand oder Sachverhalt; es besteht ferner Kombinationsbeschränkung mit anderen struments locaux. Dagegen ist die Verbindung mit Zeitadverbien, die ein „Jetzt" markieren, wie z. B. maintenant, aujourd'hui, erlaubt, so daß der temporale Zirkumstant nicht implizit repräsentiert ist. voici/voilà

Verb

1. Aktant* (Adressat)

2. Aktant

Orts-* Zeitangabe

2. Aktant

(Zeitadverb, fakultativ)

(Substituierte Satzkonstituenten sind durch * bezeichnet.)

Stellt man dagegen die repräsentierte Struktur als Inhaltsseite der Zeichens voici/voild dar, so ergibt sich dieser Bauplan:

transitives Verb (z.B. .wahrnehmen, sehen') 1. Aktant 2. Aktant (= Adressat)

Ortsangabe

/vuasi/, /vuala/ + 2. Aktant

18 Cf. P. Wunderli, L'impératif de vouloir: subjonctif et indicatif, Actele celui de-al XlI-lea Congres international de lingvisticâ y filologie romanicâl, Bucurejti 1970,

Voici und voilà

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Voici/voild erweisen sich somit kraft ihrer Stellvertreterfunktion als linguistische Pro-Form, die von den eigentlichen Pronomina durch das Fehlen einer innersprachlichen Relationalität, von den „neuen Pro-Nomina" Roland Harwegs 19 durch den primär nicht vorhandenen (anaphorischen oder kataphorischen) Textbezug unterschieden ist. Vielmehr handelt es sich wegen des Bezugs auf die Origo von Sprecher und angesprochener Person, auf deren gemeinsames Zeigfeld, um Deiktika, um Zeigwörter, wie Bühler20 sagt. Wir gelangen so auf anderem Wege zu einer Opposition, wie sie Damourette-Pichon

bei der Untergliederung der factifs strumentaux (anaphorique / vs / épidictique) getroffen haben. Die deiktische Funktion, die also letztlich aus dem Origobezug der ProFormen voici und voild herrührt, ist auch an anderer Stelle unterstrichen worden, so von Bally: „D'une façon plus générale, tous les signes appelés déictiques n'ont pas d'autre fonction que de communiquer à l'entendeur tout ou une partie d'une pensée" 21 , dann von Henry 22 und Moignet 23 . Sie ist selbst Grundlage von Definitionen wie Demonstrativ oder Präsentativ geworden. Wir definieren somit voici/voilà vorläufig als eine deiktische Pro-Form, die ein Verb, seinen Situationen gegebenen 1. Aktanten und beschränkt einen lokalen Zirkumstanten repräsentiert und mit einem 2. Aktanten zu einem vollständigen Satz aufgefüllt wird. In der Hierarchie der linguistischen ProFormen stehen voici/voild damit über den Einheiten, die nur ein Satzglied (Verb, Aktant, Zirkumstant) substituieren, aber unter dem Prosatz, wie ihn P. Wunderli am Beispiel von non für das Modernfranzösische nachgewiesen h a t 2 4 . Man könnte unbefangen urteilen, daß sich die hier vorgeschlagene Definition ja einleuchtend aus der Etymologie von voici/voilà ergibt, nämlich aus dem Imperativ des transitiven Verbs voir, dessen Subjekt Situationen präsent ist, und dem Ortsadverb ci/ld. Doch sei betont, daß ich es für methodologisch bedenklich halte, synchronische Phänomene mit diachronischen Argumenten zu erklären 25 ; die hier gegebene Deutung beruht ausschließlich auf einer syn-

19 20 21 22 23 24 25

p. 5 5 7 - 6 8 ; Die Teilaktualisierung des Verbalgeschehens (Subjonctif) im Mittelfranzösischen, Tübingen 1970, p. 109ss.; VRom 30 (1971), 145. Cf. R. Harweg, Pronomina und Textkonstitution, München 1968, passim. Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 2 1965, bes. p. 1 0 2 - 2 0 (Die Origo des Zeigfeldes und ihre Markierung). LGLF, § 60, p. 52. Im unten (N 39) genannten Werk, p. 99. Moignet, p. 201. Cf. N 17. Dies geschieht z. B. bei Wartburg-Zumthor p. 306 und in der Grammaire Larousse du

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chronischen Analyse des neufranzösischen Materials und stellt sich die Definition einer sprachlichen Einheit auf Systemebene, nicht die Beschreibung einer Redekonstellation zum Ziel. Überdies ist es nicht notwendig, noch aus modernfranzösischer Sicht im Element /vua/ das Verb voir zu sehen. Sondern so wie dessen morphologische Indizien vollständig neutralisiert sind, so dürfte auch die ursprünglich differenzierte Semstruktur auf ein minimales Maß reduziert worden sein. Die Leistung von voici/voild besteht demnach darin, daß der Sprecher eine Sparform zur Hand hat, die es erlaubt, die (nicht nur optische, sondern auch akustische) Aufmerksamkeit des Adressaten auf einen Gegenstand oder Sachverhalt zu lenken, ohne daß das Subjekt, die gesamte Aktualisierungshierarchie 26 des Verbs und dessen jeweiliges Semantem bei der Abwahl aktiviert werden müssen. Als kontextuelle Bedeutung kann auf Redeebene auch eine Umwertung des transitiven Verbs in ein Zustandsverb erfolgen, wenn ohne psychologischen Rekurs auf den 1. Aktanten einfach eine Anwesenheit konstatiert wird (cf. te voilà = tu es là). Es ist nun zu sehen, ob die hier vorgeschlagene Deutung auch für die übrigen Verwendungstypen zutrifft. 1. Voici/voild + Nomen (Substantiv/Pronomen). gelegt, fungiert das Nomen als 2. Aktant, cf.:

Wie in Beispiel 7 - 8 dar-

9 Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches. Et puis voici mon cœur, qui ne bat que pour vous. Verlaine, Romances sans paroles. Green, v. 1/2 10 Epargner, pardonner, consoler, voilà toute la science de l'amour. A. France, Balthazar. Abeille, XXII, p. 192 (EGLF, § 2187) 11 Tenez, le v'ia . . . Allez-vous en . . . A. Flament, La vie de Manet I, p. 7

Verbreiteter als das mit article partitif eingeleitete Objekt: 12 Voici de l'argent

ist dessen anaphorischer Ersatz durch das Pronomen en, das damit zum 2. Aktanten von voici/voilà wird: 13 Tu as besoin d'argent. Tiens en voilà! (en = „de l'argent") français contemporain p. 85.1m übrigen besteht nicht einmal in diachronischen Erklärungen Einigkeit über den morphologischen Status und die Modalität des verbalen Elements; es wird an Befehl, Aussage, selbst an Frage (Gamillscheg, Historische französische Syntax, Tübingen 1957, p. 544) gedacht. Am ehesten wird man eine Neutralisierung von Modalität, Modus, Tempus und Person in einem reinen Verballexem annehmen, cf. J. Marouzeau, Composés à thème verbal, FM 20 (1952), 8 1 - 8 6 . 26 Cf. P. Wunderli, VRom. 28 (1969), 95; Teilaktualisierung (1970), p. 3 3 - 3 5 ; ZRPh. 85 (1970), 3 9 3 , 4 2 9 - 3 2 .

Voici und voilà

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En kann auch den Wert eines redundanten Objekts erhalten, wenn dessen source sémantique als 2. Aktant folgt (kataphorischer Gebrauch): 14 En voilà une de femme! . . . s'écria Florine. Balzac, Splendeur et misère des courtisanes I (t. XI, p. 497) 15 En voilà une d'histoire! . . . dit Malaga. Balzac, Esquisse d'homme d'affaires (t. XII, p. 195)

Selten ist die Setzung des prädikativen Personalpronomens als 2. Aktanten wie in: 16 . . . celui qui se marie tard, comme voilà toi, il a des chances d'aller longtemps . . . M. Aymé, Gustalin III, p. 34 (EGLF § 2409)

Zur Erklärung führen Damourette-Pichon an, daß hier nicht (wie mit Hilfe des unbetonten Pronomens) die Anwesenheit des Adressaten konstatiert, sondern daß seine Person als exemplarisch hingestellt werden soll. Dem Nomen kann ein Attribut angegliedert sein: 17 Deux Coqs vivoient en paix; une Poule survint, Et voilà la guerre allumée. La Fontaine, Fables VII, 12 18 Le voici installé petit commerçant quelque part. J. et J. Tharaud, L'ombre de la croix I, p. 26 (kommentiert EGLF, § 2186, p. 108)

Daß voici/voild mit ihrem nominalen Objekt einen vollständigen Satz bilden, zeigen die folgenden Beispiele, wo diese Verbindungen durch entsprechende Translativa genau wie Sätze mit explizitem Subjekt und Verb in untergeordnete Sätze umgeformt werden können, wie als Relativsatz (cf. II, 4): 19 Au point où me voilà . . .

Complétive: 20 Je crois que voici M. Choulette. A. France, Le lys rouge, p. 130 21 Tu parles qu'en voilà un qui ne doit pas être malheureux. Proust, A la recherche du temps perdu III, p. 85

Konditionalsatz: 22 Et si le voilà malade, qu'est-ce qui va arriver? Mme EP, 4 . 5 . 1 9 2 3 (EGLF § 2187)

Komparativsatz: 23 Peut-être vous semble-t-il qu'il est impossible d'obtenir d'un prisonnier plus que n'en voici obtenu. J. Rivière, L'Allemand I, 2, p. 85 (EGLF, § 2188)

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H. Genaust 24 J'aurais encore mon enfant, voire peut-être un gendre avec des petits-fils qui seraient sur mes genoux; ah! je serais un autre roi que ne me voilà! G. Polti et P. Morisse, trad. de Novalis, Henri d'Ofterdingen III, p. 64 (EGLF, § 2188)

Die beiden letzten Beispiele sind besonders eindrucksvoll, weil sie auch nach der Substitution von Subjekt und Verb die syntaktische Konstruktion mit Setzung des ne discordantiel beibehalten 2 7 . Auch Pro-Formen, die ganze Sätze repräsentieren wie non, oui, können diese Bedingungen zum Teil erfüllen (cf. Wunderli, oben p. 64): 25 II dit que oui. 26 Et si non, vous me payez tout.

Als seltene Variante von voici/voild treten revoici/revoilà auf: 27 Me revoici dans les bals. L. Veuillot, Agnès de Lauvens XXXIV (Œuvres III, p. 378) (EGLF, § 2 1 8 6 ) 28 Les revoilà encore qui viennent me dire adieu. Mme de Sévigné, Lettres VII, p. 284/85 Mommerque

Diese wohl nur in Verbindung mit Personalpronomina existierende Variante ist nicht als „voilà de nouveau" 28 zu interpretieren, weil sie nicht einen erneuten Blick auf das Objekt lenken soll, sondern die Wiederkunft der bezeichneten Person(en) anzeigt. Man könnte me voici revenu, les voilà revenus an ihrer Stelle einsetzen. 2. Voici/voilà + Q-Aktant. Der vorgeschlagenen Deutung scheinen Fälle zu widersprechen, in denen voici/voild allein oder ohne explizites Objekt auftritt: 29 Voilà! 30 Ah, voilà!

Das erste Beispiel kennzeichnet den einfachen Hinweis auf ein Objekt, das dem Adressaten vor Augen geführt wird; das zweite markiert eine plötzliche Einsicht, die der Sprecher an seine eigene Adresse richtet, die ihm einen Sachverhalt durchschaubar macht; es liegt also hier eine erweiterte Inzidenz auf Situation und Kontext vor. Deshalb ist es erlaubt, von einem impliziten, durch 0 bezeichneten 2. Aktanten zu sprechen. Das ist auch der Fall in den stehenden Wendungen: 31 Tiens voilà! 32 Voilà pour toi! 33 Voilà c'est comme ça! 27 Dies aber ist kein Beweis dafür, daß voilà deshalb ein Verb ist, wie Moignet p. 191 meint. 28 Cf. Grevisse, Bon usage ( 9 1969), § 948, Rem. 2.

Voici und voilà

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Es gibt sogar Fälle, in denen aus stilistischen Gründen auf die Markierung des Objekts verzichtet wird „pour exprimer qu'on ait dit tout ce qu'on avait à dire sur un objet donné" 2 9 . Voilà erhält hier auf Redeebene zwar den Wert einer Interjektion (wie in den Beisp. 2 9 - 3 0 ) , aber die stilistische Wirkung resultiert gerade aus der Setzung des (¡)-Objekts: 34 Et si, sacré nom de Dieu, vous n'êtes pas augmenté de huit jours, au rapport de demain matin, je veux être changé en bénitier! Voilà. Courteline, Le train de 8 h. 47 III, 3, p. 106 (EGLF, § 2182)

Der gleiche Redeeffekt wird bei einem in Form des Adjektivs tout vorhandenen 2. Aktanten in der Wendung voilà tout als Ausdruck der Resignation erzielt: 35 La justice est gratuite, seulement les moyens d'arriver à elle ne le sont pas, voilà tout. Brieux, La robe rouge III, 2 (EGLF, § 2182)

In dem Beispiel 36 Voici. C'est moi.

liegt nun nicht „emploi absolu" (Wartburg-Zumthor, p. 306, § 615 a) vor, sondern auch hier sind die Substitutionsmechanismen und die Inzidenz auf die Situation und den Kontext voll wirksam; man kann eher von kataphorisch-heteronexer Verwendung sprechen, wie auch unter Bezug auf den Kontext in: 37 Et puis voilà: toute l'angoisse ramassée en elle se fixe là, sur cet éclat, ces trous dans le bois. Nathalie Sarraute (Grammaire Larousse du fr. cont., p. 85)

Grevisse führt noch (Bon usage, § 948, Rem. 5) Beispiele aus höflicher Konversation an, in denen nach seiner Auffassung voici/voilà als Varianten von oui, s'il vous plaît usw. auftreten: 38 Ayez la bonté de m'apporter ce livre. - Voilà, monsieur.

Tatsächlich sind diese Redewerte nicht identisch, da oui usw. die Antwort vor, voici/voild die Antwort nach der ausgeführten Handlung ist. Es liegt also anaphorisch-heteronexer Gebrauch vor wie auch in: 39 Joseph: - Monsieur a sonné? Paul: - Vite! une plume, du papier, que je refasse ma carte. Joseph: - Voilà! voilà! Labiche et Choler, Les marquises de la fouchette, sc. VIII (EGLF, § 2187)

29 EGLF, § 2182.

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H. Genaust

Ein nominales Objekt ist schließlich durch 0 substituiert in: 40 Voici pourtant plus sérieux: une caisse de porcelaine, qui contenait la vaisselle de l'ambassadeur, s'est rompue dans le voyage. M. Levaillant, Chateaubriand et son ministre des finances (Revue des deux mondes, 15.6.1922, p. 863),

wo gemäß EGLF, § 2186, eine Entsprechung von voici quelque chose de plus sérieux zu sehen ist. 3. Voici/voild + Relativsatz. Häufig anzutreffen sind Relativkonstruktionen in Verbindung mit voild, seltener mit voici. Dabei übernimmt nach einem geläufigen Mechanismus das „neutrale" Demonstrativum ce die Funktion des 2. Aktanten; der folgende Satz wird durch das Relativum in ein Attribut dieses Aktanten transponiert, wie in: 41 Voilà ce que je voulais vous faire dire. H. Becque, Les Corbeaux III, 8 42 Voilà ce que c'est que d'aller au bois où sont les fées! A. France, La vie littéraire, IV e série: Contes et chansons populaires, p. 82 (EGLF, § 2186)

Auffallender sind Konstruktionen, in denen das Relativum qui direkt an voild (voici ist nicht belegt) tritt, ohne daß explizit ein 2. Aktant vorhanden ist: 43 44 45 46

Voilà qui est fort bien agi! Voilà qui est trop fort! Voilà qui est bien, qui va bien. Monsieur - faisant un nœud à son mouchoir: -Voilà qui m'y fera penser. E. Chavette, Les petits drames de la vertu, p. 214

In allen diesen Beispielen, die zumeist schon formelhaften Charakter haben, ist eine Referenz auf Personen ausgeschlossen; unmöglich ist: 47 *Voilà qui va vous répondre! Moignet, p. 191

Es liegt stets Referenz auf einen Sachverhalt 30 , meist auf ein sich dem Beschauer darbietendes Resultat, vor, wobei im Hinblick auf die Situationsgebundenheit (cf. Beisp. 42) analog dem vorhergehenden Abschnitt der 2. Aktant (das antécédent ce) durch 0-Form ausgedrückt, also eingespart ist. Wartburg-Zumthor 31 sprechen denn auch, ohne die Gründe aufzuzeigen, von einer Reduktion ce qui > qui: 30 Moignet spricht deshalb von einem qui neutre, die Grammaire Larousse du fr. cont. (p. 85) von Formen „sans antécédent (valeur indefinie)". 31 Précis p. 128, § 222.

Voici und voilà

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48 II est déjà arrivé! Voilà qui m'étonne!

ce à quoi > d quoi: 4 9 Voilà à quoi je ne m'attendais pas!

ce que > que: 5 0 Voilà que je trouve plaisant!

ce dont > dont (ohne Beleg). Häufig ist noch ein Typus, in dem sich qui nicht auf ein „neutrales" antécédent, sondern auf ein Nomen bezieht, das als 2. Aktant von voici/voild regiert wird: 51 Voilà le train qui arrive (Bally, LGLF, p. 75, § 108) 52 Parlons à ce rival, le voilà qui s'avance. Corneille, Sertorius II, 3

Diese Konstruktionen haben, wie Bally anläßlich Beisp. 51 bemerkt, die Funktion, ein Element hervorzuheben, ohne daß die progressive Sequenz AZ (thème-propos) verlorengeht; sie gehören mit ihrer populärsprachlichen Variante il y a (y a). .. qui zu den oben kommentierten tours présentatifs, cf. : 53 II y a Paul qui m'a chipé mon couteau. Bally, LGLF, p. 75

Gemeinsam ist den hier behandelten Relativkonstruktionen, daß sie als scheinbarer, d. h. nur psychologisch relevanter 2. Aktant von voilà (voici) fungieren, während das linguistische Objekt durch ce ausgedrückt oder durch 0 repräsentiert wird. 4. Voici/voild im Relativsatz. Es ist oben anhand des Beisp. 19 (Au point où me voild ... ) schon dargelegt worden, daß ein aus voici/voild und seinem 2. Aktanten gebildeter Satz wie jeder andere Satz durch ein Relativum in einen Relativsatz, d. h. in ein adjektivisches Attribut eines im Obersatz gegebenen Nomens, transponiert werden kann: 54 un écrit dont voici le contenu 55 Tavernier, est-ce un pseudonyme de Charles Guérin dont voici le modèle, dont voici la peinture? Apollinaire (Gramm. Larousse du fr. cont. p. 86)

Hier ist einmal me (Beisp. 19), das anderemal le contenu, le modèle, la peinture das Objekt von voici/voilà. Anders liegen Fälle, in denen das Relativum selbst den 2. Aktanten — natürlich in der dieser Bedingung entsprechenden Form que — darstellt, so daß also der Relativsatz auf Relativum + voici/voilà verkürzt ist: 56 Qu'as-tu fait, ô toi que voilà Pleurant sans cesse,

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H. Genaust Dis, qu'as-tu fait, toi que voilà, De ta jeunesse? Verlaine, Sagesse. Le ciel est, par-dessus le toit 57 . . . rapports que j'ai essayé d'expliciter par le trapèze que voici: G. Hilty, VRom. 32 (1973), 40

5. Voici/voild + Infinitiv. Die Funktion des 2. Aktanten kann auch durch einen Infinitivsatz erfüllt werden, wobei, wie auch Moignet (p. 190/91) bemerkt, die Kombination häufig auf Bewegungsverben, die ein Ankommen oder Fortgehen markieren, beschränkt ist: 58 Voici venir les temps où vibrant sur sa tige Chaque fleur s'évapore ainsi qu'un encensoir. Baudelaire, Fleurs du mal. Spleen et idéal, XVIII. Harmonie du soir 59 Mais voici déboucher, à travers feuilles, une troupe de galantins. J. Delteil, La Fayette II, p. 38 (EGLF, § 2186) 60 De l'Odéon au Moulin de la Galette, les voici partir pour la chasse aux Mimis Pinsons. P. Dufay, Au temps du Chat Noir (Mercure de France, 1.12.1931, p. 265) (EGLF, § 2186) 61 Voici, de la maison, sortir un Salavin épineux et glacé. G. Duhamel, Deux hommes, p. 209 (Grevisse, § 948a, 1007a)

Aber auch andere Semanteme des Verbs sind nicht nur in älteren Texten möglich: 62 Ta, ta, ta, ta. Voilà bien instruire une affaire! Racine, Les plaideurs III, 3 63 Et voici commencer le rêve de Shakespeare. J. Lemaître, Impressions du théâtre I, p. 116 (Grevisse, § 1007 a) 64 Voici croître en mon cœur guéri de ses chimères L'ennui des voluptés dont on touche le fond. J. Tellier, Prière (A. France, La vie littéraire IV, p. 186) (EGLF, § 2186)

Der Infinitiv kann auch für sich allein 2. Aktant von voilà sein: 65 Voilà parler! Le Temps, 10.12.1921, p. 1 (EGLF, § 2186)

Der hier erzielte Nutzwert entspricht — bei größerer Prägnanz — dem von Voild ce que c'est que de parler! In allen Fällen werden Sätze, deren Verb in der Form der Nullaktualisierung erscheint, durch 0-Translativ in einen nominalen 2. Aktanten transponiert, der die gleiche syntaktische Rolle wie das Substantiv in voici le train qui arrive (arriver) spielt. Anders als diese infinitivischen Complétiven muß ein Typus interpretiert werden, der fälschlich hierher gestellt worden ist 32 : 32 Grammaire Larousse du fr. cont., p. 117.

Voici und

voilà

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66 Nous voilà à rire.

Hier ist nämlich das Pronomen 2. Aktant von voild, nicht der präpositionale Infinitiv, der sich vielmehr diesem Pronomen hierarchisch in gleicher Funktion wie ein Relativsatz unterordnet ; die Neutralisierung der verbalen Aktualisierungsstufen in voild und à rire und die Einsparung von Zeichen verleiht solchen Wendungen Spontaneität und Prägnanz. 6. Voici/voild + Partizip Perfekt. Dem vorigen Typus auch im Semantismus des Verbs verwandt sind Wendungen, die äußerlich wie eine Umstellung der in Beisp. 17—18 besprochenen Struktur wirken, in denen also ein Partizip die Rolle des 2. Aktanten ausfüllt: 67 Voici revenus les beaux jouis! 6 8 Voilà passées une dizaine d'années. P. L. Courier, Œuvres (Littré)

Der Unterschied in der Leistung gegenüber dem infinitivischen Objekt besteht darin, daß diese Partizipien bereits eine erste Aktualisierungsstufe überschritten haben und den Aktionsstand des accompli, den bereits eingetretenen Sachverhalt, markieren. 7. Voici/voilà + Complétive. Eine recht unterschiedliche Beurteilung hat ein Typus von Sätzen erfahren, die mit voici (voild) que. . . eingeleitet werden: 6 9 Voilà qu'il galopait maintenant. Flaubert, Trois contes, p. 19 70 Mais voilà que l'étude synchronique elle-même a fait surgir des questions auxquelles l'histoire seule peut répondre. A. Henry, C'était il y a des lunes, p. 6 9 71 Jusqu'à ce soir fatal, elle n'était rien. Et voici soudain qu'elle existe. F. de Miomandre, Ecrit sur de l'eau. Une fée apparaît, p. 7 (EGLF, § 2 1 8 6 ) 72 Et voici qu'au contact glacé du doigt de fer Un cœur me renaissait, tout un cœur pur et fier. Et voici que, fervent d'une candeur divine, Tout un cœur jeune et bon battait dans ma poitrine. Verlaine, Sagesse. Bon chevalier . . , v. 1 1 - 1 4

Grevisse (§ 180, 1003 a) spricht von principales incomplètes, weil sie wie Sätze vom Typus assurément que... , heureusement que. . . , peut-être que . . . usw. kein Verb enthielten. Andere leiten aus diesem Vergleich die Deutung von voici/voild als Adverb her. Bally empfindet diesen Satztypus als Äußerung ohne Thema entsprechend den Monoremen. Tatsächlich aber handelt es sich um vollständige Sätze, in denen voici/voild stellvertretend für 1. Aktanten und Verb stehen, also nicht Adverb sein können 3 3 ; der 2. 33 Genau so wenig wie der Prosatz non im Satztypus Non que . . .

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H. Genaust

Aktant wird von dem folgenden Nebensatz geliefert, der durch das Translativ que in ein nominales Objekt transponiert wird. Es liegen also echte Complétiven vor 34 . Der Eindruck eines Adverbs (in Beisp. 69, 71 identisch mit dem explizierten Adverb maintenant, soudain) oder der eines Präsentativs ergibt sich lediglich als Nutzwert aus diesem besonderen Redetypus. 8. Voici/voild + pourquoi/comment (indirekter Fragesatz). Neben Relativsatz. Infinitivsatz und Complétive können auch indirekte Fragesätze die Funktion des 2. Aktanten von voici/voild ausüben, allerdings nur, wenn das Translat den Wert eines Substantivs 'la cause, la manière' hat: 73 Et voilà pourquoi j'avais mis en vous mon espoir. E. Estaunié, L'ascension de M. Baslèvre I, 5, p. 55 (EGLF, § 2186) 74 Voilà comment les choses se passent: le pays limitrophe s'avance jusque sur les bords de la frontière. M. Aymé, Silhouette du scandale, p. 149 (Grevisse, § 948)

Auch Einsparung aller Elemente des Fragesatzes bis auf das Fragewort selbst ist möglich, so daß scheinbar ein Adverb die Ergänzung von voici/voilà bildet: 75 Voici comment. 76 Voilà pourquoi.

Tatsächlich handelt es sich hier gleichfalls um einen 2. Aktanten, nämlich Nomina, die freilich Translationen von reduzierten Fragesätzen als knappstem Ausdruck der Frage nach den Ursachen, der Vorgangsweise eines Sachverhaltes sind, cf. entsprechend: 77 Je ne savais pas pourquoi, comment.

Moignet (p. 201) bestreitet die Annahme eines Fragesatzes nach voici/voild, da ja statt comment auch comme stehen könne: 78 Voilà comme il faut agir!

Er übersieht, daß comme auch heute noch als freie Variante des interrogativen Adverbs comment35 eintreten, ja selbst wie dieses als reduzierter Fragesatz vorkommen kann, wie ein Beispiel aus La Fontaine beweist: 79 Je t'attraperai bien, dit-il, et voici comme. Fables VIII, 10

Dem entspricht der Gebrauch von comme nach savoir: 80 J'attendais la catastrophe. Elle vint et l'on sait comme. G. Duhamel, Cri des profondeurs, p. 87 34 Cf. Wartburg-Zumthor, Précis, p. 306; Dubois-Jouannon-Lagane, p. 93; Grammaire Larousse du fr. cont., p. 112. 35 Cf. Grevisse, p. 773, § 835.

97

Voici und voilà

Wir haben somit 8 Typen von Sätzen kennengelernt, in denen das Objekt von voici/voild auf verschiedene Weise zum Ausdruck kommen kann. Alle Typen bestätigen gerade dadurch unsere Definition, daß voici/voild eine ProForm mit 2 Aktanten ist und daß beide Elemente zusammen erst Äquivalent eines vollständigen Satzes bilden. Es bleiben nun noch Fälle zu besprechen, in denen sich diese Pro-Form mit den Modalitäten der Negation und/oder der Frage verbindet und wo sie mit einer Zeitangabe in einen temporalen Zirkumstanten transponiert wird. 9. Negation (ne voild-t-ilpas, ne voild pas, usw.). Ein Verwendungstypus von voild (nicht voici) scheint der bislang vorgeführten Erklärung zuwiderzulaufen: 81 Ne voilà-t-il pas que vous n'avez aveint que six morceaux de sucre, m'en faut huit. Balzac, Eugénie Grandet (t. V, p. 253) 82 Faisons enfin observer que les salaires étaient beaucoup plus élevés dans les villes à corporations que dans les villes libres. Ne voilà-t-il pas une nouvelle preuve de l'utilité des corporations. Henri, comte de Paris, Le prolétariat I, 1, p. 23 83 Mais ne voilà-t-y pas un bébé? - A-t-on idée de pleurer comme ça! Courteline, Les linottes II, p. 53

Ohne das Element t-il in Texten bis zum 17. Jahrhundert: 84 Ne voilà pas mon enragé de maître! Molière, L'étourdi V, 7 (Moignet, p. 192)

In populärsprachlichem Kontext ohne das Element ne: 85 Voilà-t-il pas monsieur qui ricane déjà! 36 Molière, Tartuffe I, 1 86 J'ai eu tort de provoquer sa curiosité, - d'accord. Voilà-t-il pas un bien grand crime? L. Frapié, La maternelle III, p. 87 87 Mais vlà-t-i pas qu'en arrivant au pays, on était plusieurs! H. Barbusse, Le feu VIII (Moignet, p. 192)

Alle diese Beispiele könnten gegen unsere Definition sprechen, weil (a) ein 1. Aktant im Personalpronomen il vorhanden ist, (b) die Inversion vom Typus voild-t-il (analoge a-t-il) für den verbalen Charakter von voild spricht, (c) die Modalitäten der Negation und der Frage dies gleichfalls nahelegen. Dem ist entgegenzuhalten, daß (a) es sich um populärsprachliche Wendungen handelt, die unterhalb der Norm stehen, 36 Nicht als Frage (.

. déjà?), wie Grevisse, § 948, Rem. 1, zitiert.

98

H. Genaust

(b) das Element -t-il gar nicht als Verbindung von -t- und Personalpronomen il, sondern vielmehr als orthographische Variante (neben -t-y in Beisp. 83, -t-i in Beisp. 87) des volkssprachlichen Fragemorphems ti31 zu deuten ist, wie dies auch die Grammaire Larousse du français contemporain vermutet: „Elle [ = particule interrogative ti\ a eu plus de succès comme élément de renforcement d'un voilà nié" (p. 99. § 135), (c) die Modalität der Frage gar nicht zum Tragen kommt, da in der Mehrzahl der bekannten Fälle ein Ausruf (meist des Erstaunens) vorliegt (Beisp. 84,85, 87), sonst das Konstatieren einer Tatsache (Beisp. 81, 82). Beisp. 83 und 86 enthalten rhetorische Fragen. Das Signifikat „Frage" ist also in diesem Typus zum großen Teil durch den Kontext neutralisiert und wird auf Redeebene durch die beschriebenen Redebedeutungen verdrängt, (d) ebensowenig die Modalität der Negation (um die es hier geht) durchschlägt, sondern daß vielmehr „durch syntagmatische Kombination beider Modalitäten ein positiver Gesamtnutzwert erzielt" 38 wird, so daß also eine ausdrucksseitige Verstärkung der Aussage eintritt. Tatsächlich wird in keinem unserer Belege ein Sachverhalt durch die Negationsmorpheme negiert, auch nicht in der rhetorischen Frage (Beisp. 86), wo der Sinn nicht als „Ist das nicht. . . ?," sondern als „Ist das denn . . . ? " zu interpretieren ist. Keine Negation, nicht einmal ein „engagement minimal en négativité" (wie Moignet p. 200 glaubt) liegt in den Beispielen 23—24 vor, in denen ein Morphem ne in einem aus voici/voild und seinem Objekt gebildeten Komparativsatz enthalten war. Dieses ne markiert nun nicht die Negation des vermeintlichen Verbs voici/voild, sondern die Diskordanz des im Komparativsatz durch die Pro-Form substituierten Sachverhaltes zu dem Geschehen des Obersatzes, so daß man angemessener mit Damourette-Pichon von einem ne discordantiel zu reden hat. Es bleiben noch Fälle zu besprechen, wo voilà (nicht nur in präpositioneller Verwendung) in syntagmatischer Konstellation mit einer Zahlenangabe negiert zu sein scheint: 37 Cf. die Literatur zum frz. Fragesatz von G. Paris, Ti, signe d'interrogation, R 6 (1877), 4 3 8 - 4 2 (Mélanges linguistiques, Paris 1909, p. 2 7 6 - 8 0 ) ; E. Rolland, Ti, signe d'interrogation, R 7 (1878), 599, über E. Fromaigeat, Les formes d'interrogation en français moderne, VRom. 3 (1938), 1 - 4 7 , bis hin zu P. Behnstedt, Viens-tu? Est-ce que tu viens? Tu viens? Formen und Strukturen des direkten Fragesatzes im Französischen, Diss. Tübingen 1973, p. 1 4 - 3 5 . 38 P. Wunderli, VRom. 30 (1971), 316.

Voici und

99

voilà

88 II est parti ne voilà pas huit jours. 8 9 Ne voilà que deux de nos amis.

Wertet Moignet anfangs (p. 191) diese Fälle als „formes de la négation et de l'uniception réservées aux formes verbales", so schränkt er diese Ansicht später wieder ein: „II s'agit, en réalité, par la négation, de suggérer, non pas l'idée d'une durée nulle, mais celle d'une durée positive numériquement inférieure: le sens est: „voilà moins de trois jours que . . . " C'est le numéral, plutôt que ce qui l'introduit, qui est sous négation" (p. 200). Es liegt also auch hier positiver Nutzwert vor, obwohl syntaktisch die Setzung der Negationsmarke dank des in voild substituierten verbalen Elements möglich ist. 10. Voild + Fragemorphem. Die vorhergehenden Beispiele haben gezeigt, daß durch Kombination von Frage- und Negationsmorphemen ein positiver Gesamtnutzwert erreicht wird. Es gibt aber auch Fälle, in denen voild (nicht voici) mit der Interrogationsmarke allein ausgestattet ist, was nicht überrascht, da bekanntlich alle Sätze, also auch deren Pro-Formen, mit dem Fragemorphem, namentlich dem Prosodem „Ansteigen der Intonationskurve", kombinierbar sind: 9 0 Le voilà? 91 Est-ce que le voilà? 92 Te voilà-t-il?

Alle drei Typen sind zum einen durch Intonation mit Zeichencharakter, Beisp. 91 zusätzlich durch das Morphem est-ce que gekennzeichnet; im dritten Beispiel macht eine Transformation deutlich, daß kein invertiertes Personalpronomen vorliegt, sondern eine Variante des populärsprachlichen Fragemorphems ¡ti/ (cf. N 37): 93 Te verra-t-il? Te voilà-t-il?

Il te verra. Te voilà (*I1 te voilà ist ausgeschlossen)

Es scheinen allerdings mit Moignet (p. 200/01) keine echten Fragen vorzuliegen, sondern ein „cas minimal de l'interrogation, celui qui vise à obtenir, non pas une information, mais la simple confirmation d'un fait déjà énoncé ou attendu". Fragen nach den Aktanten dieser Sätze sind jedenfalls ungrammatikalisch. 11. Voici/voild + Zeitangabe. Schließlich ist noch eine verbreitete Kombination zu diskutieren, in der als 2. Aktant von voild, seltener von voici, eine Zeitangabe (sémiome de temps, A. Henry), am häufigsten gebildet aus Numerale + Substantiv aus dem Wortfeld „Zeiteinheit" auftritt. Dabei sind drei strukturell verschiedene Typen zu unterscheiden:

H. Genaust

100

a) Voici/voilà + Zeitangabe als segmentiertes

Satzelement:

94 Voici dix ans déjà, le 31 octobre 1955, mourait à sa table de travail Albert Dauzat. S. Sindou, FM 34 (1966), 75 (Henry, p. 102) 95 II vient de mourir, voici dix jours à peine, d'un infarctus. M. de Saint-Pierre, Les nouveaux aristocrates, p. 17 (Henry, p. 101)

In allen Beispielen haben wir es — nach der Terminologie Ballys — mit phrases segmentées zu tun, in denen ein hier ausschließlich (und stets?) aus voici + (durch Adverb modifizierte) Zeitangabe gebildeter Satz durch Koordination bzw. Insertion in ein Satzgefüge eingegliedert wird. Voici bewahrt hier durchaus seinen Grundwert als eine Pro-Form mit 2. Aktanten; der aus beiden Elementen gebildete Satz kann auf Redeebene als dem folgenden Typus vergleichbar empfunden werden. b) Voici/voild + Zeitangabe in präpositioneller

Verwendung:

96 II est parti voilà (bientôt) huit jours (cf. Beisp. 88). 97 Elle est jeune, mais d'une jeunesse qui s'épanouit et se fixa voici quinze ans . . . F. Mauriac, Le desert de l'amour, p. 32 (Henry, p. 101)

Auch in Variation mit il y a: 98 Car j'ai acquis la quasi certitude que deux personnes au moins sont mortes de la même façon, l'une voilà près de deux mois, l'autre il y a seulement trois semaines. G. Simenon, Les nouvelles enquêtes de Maigret, p. 70 (Henry, p. 103)

Der aus voilà (voici) und seinem Objekt gebildete Satz wird in diesen Beispielen durch 0-Translativ in einen temporalen Zirkumstanten transponiert. Henry, der speziell diesen Verwendungstypus untersucht hat 3 9 , spricht in Anlehnung an Damourette-Pichon vom Produkt einer „taxiematischen Metasematisation" (p. 99) aus einer Verbform, die direkt mit der Umsetzung des Syntagmas il y a in ein strument temporel vergleichbar wäre. Tatsächlich kann man auch in den Beisp. 94—98 il y a bzw. (Beisp. 96) il y aura kommutieren. Wir haben hier den Übergang von der phrase segmentée zur phrase liée vor uns, am deutlichsten greifbar in Beisp. 97. Es liegt natürlich auf der Hand, aus synchronischer Sicht in voilà/voici eine Präposition zu sehen, wie auch geschehen, zumal in Beisp. 96 und öfter voild auch mit depuis kommutabel ist. Diese Möglichkeit reicht aber noch nicht aus, um schon von einer Präposition zu sprechen, wie Moignet betont: „On est en 39 C'était „il y a" des lunes. Etude de syntaxe française, Paris 1968 (Bibliothèque française et romane A 15), p. 9 9 - 1 0 4 . - Siehe noch M. Wilmet, Note sur l'évolution sémantique et syntaxique de il y a, TLL 9/1 (1971), 2 8 3 - 3 0 7 .

Voici und voilà

101

droit, tout au plus, de parler d'un emploi prépositionnel, en discours, d'un mot qui, en langue, est toute autre chose" (p. 192). Es läge somit Neutralisierung der ohnehin minimalen verbalen Komponente auf der Ebene des discours vor 40 . Dies steht in Einklang mit den Ergebnissen, zu denen Albert Henry in seiner Studie über die präpositioneile Verwendung von il y a 4 1 gelangt: In der proposition juxtaposée (= phrase segmentée) behält il y a + Zeitangabe (Henry schreibt dafür Fx) seinen vollen verbalen Wert; von einer Präposition kann man nur in dem folgenden Typus sprechen: 9 9 Le menuisier est venu il y a deux jours. 100 Le menuisier était venu il y avait deux jours. (Henry, p. 6 3 )

Aber Henry zögert aus guten Gründen, dieser Gebrauchsweise den Status eines Zeichens Yx „Präposition" zuzuweisen, obschon eine Metasematisation vollzogen ist; immerhin handelt es sich um ein teilweise konjugiertes, oder — genauer gesagt — mit einem indice chronologique versehenes strument temporel, das auch noch in Negation auftreten kann. Henry folgert daher: „Yx (il y a, il y avait) est un strument temporel que la parole a donné à la langue. On découvre ici, une nouvelle fois, la souplesse avec laquelle la parole a utilisé un donné de la langue . . . pour, finalement, enrichir la langue ellemême d'un nouveau mécanisme" (p. 67) Der Kommutabilität von voici/voilà mit il y a und depuis sind freilich Grenzen gesetzt; alle drei Einheiten haben unterschiedliche Distribution und Systemwerte. Was den Vergleich mit il y a angeht, bemerkt Henry: „Voicivoilà a en commun avec Yx d'être un situant „relatif, mais moins riche de possibilités d'ordre chronologique. Voici-voilà, du point de vue du fonctionnement, équivaut, en pratique, uniquement à il y a nynégocentrique . . . Quoique appartenant au même „sous-système" que Yx, voici-voild n'a pas la liberté de déplacement de Yx sur la ligne de temps, si caractéristique" (p. 103). Entscheidend ist also der größere Aktionsradius von il y a, der die Leistungsbereiche des präpositioneil verwendeten voilà (voici) einschließt und letztlich auf der noch funktionierenden Verbalität von il y a beruht. Il y a gehört deshalb nach unserer Auffassung nicht dem gleichen Teilsystem wie voici/voild an, weil es selbst Teilsatz mit den Komponenten Verb, 1. Aktant und Ortsangabe und nicht Pro-Form dieser Elemente ist.

4 0 Cf. P. Wunderli, VRom. 3 0 ( 1 9 7 1 ) , 3 1 6 . 41 Henry, op. cit., p. 6 1 - 6 8 .

H. Genaust

102

Im Unterschied zu voilà lenkt depuis den Blick von der Vergangenheit als Ausgangspunkt auf die Origo des Sprechers, wie Moignet (p. 198) einleuchtend darstellt: 101 II est parti depuis huit jours. d e p u i s . . . . f—t—f—f * 12 3

Dagegen ist der Ausgangspunkt der Blickrichtung von voilà, dem oben beschriebenen Semantismus der Pro-Form entsprechend, diese Origo selber, das moi-ici-maintenant des Sprechers: 102 II est parti voilà huit jours. voilà . . . f—f—,—i M 3 21

Damit ist erklärt, daß das Geschehen in der Gegenwart des Sprechens vollendet sein muß: „Voici-voilà suivi d'un sémiome de temps situe dans le passé l'événement accompli" 42 . Unmöglich ist also ein Typus: 103 *I1 travaille voilà huit jours.

Ebenso ist die Setzung von voilà unvereinbar mit einem in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegenden Bezugspunkt, wie Jacqueline Pinchon43 jüngst gezeigt hat, cf. z. B. 104 *I1 sera parti voilà un mois demain (la semaine prochaine). 105 *I1 est parti voilà dix ans la semaine prochaine. (Henry, p. 103 N 10)

c) Voici/voilà + Zeitangabe + que-Satz: Nicht eine einfache Umstellung, sondern einen Typus gänzlich unterschiedlicher Funktion und Leistung bilden die folgenden Strukturen: 106 Voici plusieurs jours que je manque de courage. Balzac, Lettre à Mme Carraud, 1.1.1833 (Revue des deux mondes, 1.2.1923, p. 626) (EGLF, § 2189) 107 Voilà bien huit jours qu'il travaille. J. Pinchon, Langue française 21 (1974), 51 108 Voilà trente ans que je le vis pour la première fois. A. France, Etui de nacre, p. 28 (Le Bidois, § 1445)

In diesen Beispielen liegt, wie auch in der Wendung il y a + Zeitangabe + que 42 op. cit., p. 101. 43 „L'homme dans la langue". L'expression du temps, Langue française 21 (1974), 4 3 - 5 4 , bes. 50/51.

Voici und voilà

103

keinerlei präpositionaler Gebrauch vor. Im Unterschied zu dem eben geschilderten Typus (b) bewahrt dieser Bauplan die progressive Sequenz, bildet jedoch gegenüber dem Typus (a) eine phrase liée (Bally). Schwierig zu beantworten ist die Frage, welches Element die Rolle des 2. Aktanten von voici/voild übernimmt, ob nämlich die Zeitangabe selbst oder aber der durch que eingeleitete Satz, der dann Complétive (cf. II, 7) wäre. Grevisse (§ 1017, Rem. 2) deutet que als einfache, einen Temporalsatz einleitende Konjunktion; das hieße aber, daß dieser Satz durch das Translativ que in einen temporalen Zirkumstanten transponiert würde. Das aber ist nicht möglich. Dieser Zirkumstant wird vielmehr von voici/voild und seinem 2. Aktanten gebildet. Wenn dem so ist, dann liegt ein spezieller Gebrauch des Relativums nach proleptischer Zeitangabe vor, den Grevisse (§ 549) etwas unglücklich als „une sorte d'adverbe conjonctif" betrachtet: 109 La première fois que je l'ai vu . . . 110 II y a deux ans que je ne vous ai écrit. 111 Les jours qu'elles réglaient leurs comptes . . . Flaubert, Education sentimentale II, p. 211

Wir haben es also bei genauer Betrachtung mit einer Variante des Typus Voild le train qui arrive (Beisp. 51) zu tun, in dem der propos in einen Relativsatz verlegt wird. Es ist noch daraufhinzuweisen, daß voici/voild bei identischem Grundwert in der Verbindung mit Zeitangabe + que. .. zwei verschiedene Nutzwerte erzielen kann, die vom Aktionsstand des im Nachsatz enthaltenen Verbs gesteuert werden. Liegt dort accomplissement (aspect immanent) vor, wie in den Beisp. 1 0 6 - 1 0 8 , dann markiert voici/voilà „l'espace de temps depuis lequel dure l'action" 4 4 . Bei Inzidenz auf ein accompli {aspect transcendant, Guillaume) des folgenden Verbs dagegen bezeichnet voilà „qu'un certain laps de temps s'est écoulé entre l'accomplissement de l'action et le m o m e n t où l'on parle" 4 4 : 112 Voilà bien longtemps que je n'ai eu de tes nouvelles. E. Manet, Lettre à Mme Manet, 3 0 . 9 . 1 8 7 0 (A. Flament, La vie de Manet, p. 290) (EGLF, § 2189) 113 C'est voilà un an qu'ils sont partis déjà!, nous rappelait la vieille aux sodas. Céline, Voyage au bout de la nuit I, p. 4 4 (Henry, p. 103)

Die hier herausgestellten, im Deutschen unterschiedlich übersetzbaren Redewerte von voici/voild sind, wie sich gezeigt hat, als Positionsvarianten zu interpretieren. 4 4 Cf. Wartburg-Zumthor, p. 306, § 616.

H. Genaust

104

Bei fehlender Aktionsstandmarkierung des der Zeitangabe folgenden Verbs bleibt auch die Zuordnung zu einem dieser Nutzwerte im unsicheren: 114 Je pris le tramway de Munich, de Munich que j'avais abandonnée, voilà quinze ans pour venir toucher à Paris le premier prix du concours. J. Giraudoux, Siegfried et le Limousin, p. 71 (Henry, p. 102)

Henry und Jacqueline Pinchon 45 werten hier voild als semantisch neutral und führen das Beispiel als Beleg für den Fall an, wo der Bezugspunkt unbestreitbar in der Vergangenheit situiert ist. Deutlicher scheint das in einem Beispiel aus dem gleichen Werk 46 : 115 . . . avec sa Petite Entente, qui avait, voilà deux siècles, au-dessous de l'Europe alors apparente, acclame Poquelin. op. cit., p. 183

Es sei jedoch bemerkt, daß auch hier keine den Beisp. 112—113 vergleichbare Gebrauchsweise vorliegt.

III Die nunmehr einer Durchmusterung unterzogenen Verwendungstypen haben sich mit dem oben definierten Grundwert von voici und voild nicht nur als voll vereinbar gezeigt, sondern sie haben damit auch die vorgeschlagene Definition als haltbar erwiesen. Es bleibt abschließend noch die Frage zu klären, welcher Art die Opposition zwischen den beiden Einheiten ist. Die traditionelle Auffassung basiert auf einer Parallelisierung zu den Demonstrativpronomina [+ menschL] celui-ci /vs/ celui-ld bzw. [-menschL] ceci /vs/ cela41, wo mit Sicherheit eine Opposition der Zuordnung des Referenzobjekts zum Sprecher bzw. Nicht-Sprecher vorliegt. Diese Zuweisung wird nun zusätzlich, ohne daß die textlinguistischen Aspekte thematisiert werden, mit einer diaphorischen Funktion verbunden. Cf. die Darstellung bei Grevisse (§ 948): „ Voici sert à désigner à l'attention une personne ou une chose proche48 de la personne qui parle,

Voilà sert à désigner à l'attention une personne ou une chose éloignée48 de la personne à qui l'on parle,

45 Langue française 21 (1974), 51. 46 „II y a encore plusieurs autres emplois semblables dans cette œuvre; c'est pour ainsi dire un tic chez cet auteur" (Henry, p. 102 N 8). 47 Die Parallele zum Pronomen ceci/cela wird höchstens im Précis de grammaire historique von Brunot-Bruneau angesprochen. 48 Hervorhebungen von mir.

Voici und

105

voilà

ou une chose qu'on

une chose se rapportant à ce qui

va exposer48,

vient d'être actuel.

un etat actuel.

dit

, un état prochain ou

Oder kürzer 4 9 : „Voici.

. . désigne ce qui est rapproché ou ce qui suit, voilà, ce qui est éloigné ou

ce qui précède".

Diese Auffassung, die schon bei Girault-Duvivier 50 vertreten ist, wird nun durch eine synchronische Analyse des Materials nicht gestützt. Geht man die Beispiele durch, so überwiegt voild bei weitem, ja in einzelnen Verwendungstypen, wie namentlich bei Négations- und Fragemarkierung, ist es der einzig bekannte Vertreter, in anderen (Complétive, präpositionaler Gebrauch, Zeitangabe + wobei F n eine n-stellige Funktion ist, F n mit entsprechend tief gesetztem Index hingegen ein zugehöriges komplexes Prädikat. Ist F ein elementares Prädikat, so kann FJJ umgeschrieben werden derart, daß gilt: F ? (X) = 1 3 4 F (X, a 2 , a 3 , . . . a n ) F ? (X) = F ( a 1 , X , a 3 , . . . a n ) Fn (X) =

F(ai, a2, a3, . . .

X)

F ? / 2 ( X ) = F ( X , X, a 3 , . . . a n ) Mit anderen Worten werden die thematisierten Satzpositionen in einem solchen Fall als komplexes Prädikat aufgefaßt und thematisiert wie ein elementares Prädikat bzw. ein einzelnes Verb auch. Vollständig ist ein Satzinhalt also erst dann thematisiert, wenn solche komplexen Prädikate bzw. entsprechende Prädikatsbildungen mit einbezogen sind. Freilich kann an dieser Stelle nicht gesagt werden, ob alle darstellungsmäßig möglichen Komplexierungen auch tatsächlich für eine bestimmte natürliche Sprache vorkommen. — Interessant werden die weiter oben vorgeführten Komplexierungen nun auch für gleichsam normale Thematisierungen, d.h. für einfache Thematisierungen jeweils eines Aktanten. Auch hier nämlich ist das Ergebnis ein komplexes Prädikat, das diesmal freilich das Rhema bildet. Konzentrieren wir uns an dieser Stelle auf die Umfange von Prädikaten 1 3 5 und fuhren deshalb den Elementator ein, 134 = Äquivalenz. 135 Cf. zum Folgenden Franz v. Kutschera, Alfred Breitkopf, Einführung in die moderne Logik, Freiburg-Miinchen 2 1 9 7 1 , p. 150 ss., insbesondere p. 152.

Verbvalenz und Satzthema

143

so können wir den Umfang des Prädikats vermittels der dyadischen Relation des Elementators auf ein Argument als Element des Umfangs beziehen. Entsprechend wird ein Ausdruck wie F ( a j , a 2 , . . . a n ) als geordnetes n-Tupel Element des Umfangs Kpn des n-stelligen Funktors F i und durch den Elementator e wie folgt dem Umfang als Menge von n-Tupeln zugeordnet: e Kpn, wobei einige der zugehörigen Lambda-Terme lauten: X Xi ( e Kpn), oder auch * XKpn O i , a 2 , . . . an> e XKpn), oder dann: X X ^ p n (a 2 e XKpn), wobei a 2 parallel zu nullstelligen Funktoren ein 1-Tupel ist. Dabei gilt bzw. liegt zugrunde: a 2 e Kp^, ferner: (a 2 e K F n = F 2 (a 2 ) = F n (ai, a 2 , . . . a n ), bzw. F? (X 2 ) = F n (ai, X 2 , . . . a n ) . Mit Bezug auf die Umfange elementarer wie komplexer Prädikate gilt also generell, daß die Rhemata Funktoren, die Themata hingegen deren Argumente darstellen; so wird z.B. aus dem ersten der obigen Lambda-Terme - nämlich aus: XX! ( e K p n ) - : X X ! (X, e KfP), bzw. bei (X, e K p n ) = F U ^ X , ) : XX, FUi(X)i. Wichtiger jedoch als technische Details ist die damit verbundene Konsequenz für den einzelnen thematisierten Satzinhalt bzw. Satzbegriff, a) daß er pro Thematisierung einer oder mehrerer Satzpositionen in eine Funktion der Art X e Kp bzw. FU(X) zerfällt — aus der der Lambda-Operator XX eine Klasse macht 1 3 6 , doch siehe dazu noch später — und in einen thematisierten Gegenstand; angesichts des hier behandelten Gegenstandsbereichs muß eine Funktion FU(X) zudem genauer als Sachverhaltsfunktion bezeichnet werden. Versteht man b) den Gebrauch von Zeichen (siehe dazu schon weiter oben) als Gebiet der Pragmatik und bedenkt zudem, daß im Rückbezug auf Punkt a) der Satzinhalt auch als die Menge seiner potentiellen thematisch gebundenen Sachverhaltsfunktionen bezeichnet werden darf, so stellt der Satz ein pragmatisches Funktionspotential zur Konstitution von Sachverhalten (selbstver136 Cf. Bochénski - Menne, Logistik, p. 81.

144

M. Schecker

ständlich im R a h m e n einer K o m m u n i k a t i o n ) dar, was meines Erachtens eine recht plausible F o r m der altbekannten Verknüpfung der Bedeutung sprachlicher Zeichen (hier extensional-semantisch) mit ihrem Gebrauch wäre (dabei Gebrauch im Sinne Wittgensteins nicht so sehr als k o n k r e t e Verwendung als vielmehr als Verwendungstyp). Greifen wir hier ein letztes Mal auf den Titel unseres Aufsatzes zurück, so kann — gemessen an dieser Z u o r d n u n g von Semantik und Pragmatik — „Verbvalenz" — u n d in ihrem Gefolge unser Begriff der Satzinhaltsform — der Untersuchung der Bedeutung sprachlicher Zeichen zugeschlagen werden, „Satzthema" b z w . die Thema-Rhema-Gliederung hingegen der Untersuchung des Gebrauchs sprachlicher Zeichen.

Ausblicke Es bleibt zuguterletzt zu zeigen, wie es weitergehen k ö n n t e . Wenn durch die Lambda-Operation Satzinhalte thematisiert werden — genau genommen gibt es keinen nicht-thematisierten Satzinhalt, wohl nicht-thematisierte Satzformen (als elementare Zeichen nämlich) —, wenn also thematisiert wird, so heißt das im einfachsten Fall, daß bei zwei u n d mehr Sätzen jeweils genau einmal thematisiert wird, wir es also p r o Satz mit nur einer Thema-RhemaGliederung zu t u n haben. Entsprechend zerfällt jeder der zwei u n d m e h r Sätze a) in eine Sachverhaltsfunktion, die b ) auf einen b e s t i m m t e n Gegenstand hin thematisch gebunden ist. Die Sachverhaltsfunktion ihrerseits ist dabei zugleich Argument bzw. Operand des L a m b d a - F u n k t o r s bzw. Operators, der aus der Sachverhaltsfunktion eine Klasse m a c h t — nämlich eine Klasse von Gegenständen, von denen der thematisierte Gegenstand ein Element abgibt. Wichtig dabei ist, daß die verschiedenen Klassen oder Mengen der verschiedenen Lambda-Terme F U ( X ) i bis F U ( X ) n im thematisierten Gegenstand ihren Durchschnitt haben, was man mit dem folgenden Schema verdeutlichen kann:

Verbvalenz und Satzthema

145

Nimmt man an, daß die Durchschnittsmengenbeziehung und die Konjunktion der Aussagen logisch äquivalent sind 137 , so läßt sich der obige Sachverhalt wie folgt notieren — wobei wir statt des durch Punkt abgetrennten thematisierten Gegenstands ebenfalls die Elementschaftsbeziehung bzw. den Elementator ansetzen: a, e XX, (FUpC,), A FU(X,) 2 • • • F U ( X , ) n ) Für unseren Beispieltext „ein Mann betrat (eines Tages) ein Café (in . . . ), setzte sich an einen Tisch (des Cafés — siehe dazu schon weiter oben) und zog eine Zeitung aus seiner Tasche" lautet dann die Aufschlüsselung zum thematisierten Gegenstand „der Mann": „der Mann" e XX (X betrat ein Café A X setzte sich an einen Tisch A X zog eine Zeitung aus seiner Tasche). Setzten wir einmal die referentielle Zusammengehörigkeit von „Café" und „Tisch" — nämlich des Cafés — als unproblematisch voraus, unproblematisch vor allem deshalb, weil die Zusammengehörigkeit hier wie Identität behandelt werden soll, was an sich eben nicht unproblematisch ist, so gilt zudem: „Café/Tisch" e XX (ein Mann betrat X A ein Mann setzte sich an X) Zusammengenommen könnte das folgendes ergeben: „der Mann" e XX, („Café/Tisch" e XX2 (X, betrat X 2 A X¡ setzte sich an X 2 ) A X[ zog eine Zeitung aus seiner Tasche) Problematisch ist dabei dennoch die formale Beschreibung der Beziehung von „Café" und „Tisch" — und nicht zuletzt natürlich auch die vorgeführte Zusammenfassung hinsichtlich der Anordnung der thematisierten Gegenstände wie hinsichtlich der einzelnen Abfolgen von Sachverhaltsfunktionen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang wie schon angedeutet zudem die Rolle solcher Erweiterungen minimaler Sätze wie der Satzadverbiale; und sicherlich gilt es zuguterletzt auch, die Rolle bzw. Funktion der modalen Relationen Brekles einschließlich des Tempus näher auszuleuchten.

137 Cf. zur Umrechnung in eine mengenalgebraische Schreibweise Helmut Seiffert, Einführung in die Logik, München 1973, p. 142.

Reinhard Meyer-Hermann Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen

0. Vorbemerkung In seinen Überlegungen über „Einige Schwierigkeiten beim Postulieren einer ,Textgrammatik' " vertritt E. Lang 1 die These, daß die in der bisherigen Forschung als Begründung für die Notwendigkeit einer Textgrammatik „angeführten Faktengruppen weder einzeln genommen noch zusammengezählt ausreichen, um für die Grammatik eine von ,Satz* verschiedene erweiterte Domäne ,Text' zu f o r d e r n " 2 . Lang erläutert seine Auffassung u.a. am Beispiel derjenigen Fakten, „die am häufigsten als Argument für die Notwendigkeit einer ,Textgrammatik* ins Feld" 3 geführt werden: sie stammen „aus dem Bereich des Determinationssystems oder — allgemeiner noch — aus dem Bereich der Referenzbeziehungen" 4 . Die Forschungssituation in diesem Gebiet charakterisiert Lang zusammenfassend folgendermaßen: „Die unzähligen Arbeiten auf diesem Gebiet haben sich ( . . . ) nur mit der Spezifikation der komplizierten Bedingungen beschäftigt, denen gemäß zwei sprachliche Einheiten innerhalb einer zusammenhängenden größeren Struktur koreferieren, d.h. dasselbe Denotat haben, oder nicht koreferieren, d.h. unterschiedliche Denotate h a b e n " 5 . Innerhalb dieses Problembereichs wird die Notwendigkeit einer Textgrammatik u.a. mit einem Basis-Argument begründet, das man verkürzt etwa so darstellen kann: eine Grammatik, die ihre Beschreibungsdomäne auf die Einheit ,Satz' beschränkt, kann Gesetzmäßigkeiten des V o r k o m m e n s / d e r Verwendung von z.B. sogenannten Pronomina der dritten Person nicht vollständig erfassen, weil dies nur unter Bezugnahme auf das Bezugselement möglich ist. Dieses befindet sich jedoch in der Regel außerhalb des Satzes, in dem das 1 Ewald Lang, Über einige Schwierigkeiten beim Postulieren einer „Textgrammatik", in: F. Kiefer - N. Ruweg (eds.), Generative Grammar in Europe, Dordrecht 1973, p. 284-314. 2 Lang, p. 289. 3 Lang, p. 2 9 0 . 4 Lang, p. 2 9 0 . 5 Lang, p. 290.

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Pronomen steht. Ein Korrolar dieses Arguments ist die Bewertung von isolierten Sätzen, wie the man arrived at six o 'clock und he arrived then usw. als „ungrammatical discourses" und dementsprechend von Sätzen wie a train arrived at six o'clock und you arrived sometime usw. als „fully grammatical monosentential discourses"6. Lang zufolge trifft die Bewertung von isolierten Sätzen des Types er kommt und der andere Kerl grinste bloß usw. als „semi-grammatisch"7 nicht den Kern des Problems. Insbesondere lasse sich daraus nicht die Notwendigkeit einer Erweiterung der Beschreibungsdomäne, d.h. die Notwendigkeit einer Textgrammatik ableiten. Denn „als Satz, d.h. als Ergebnis der Anwendung bestimmter Kombinations- und Distributionsregeln der Einheiten des Sprachsystems innerhalb fixierter Spielräume ( . . . ) ist er kommt heute gewiß vollgrammatisch"8. Die u.a. von Sanders (s.o.) vertretene Auffassung, isolierte Sätze des Typs er kommt heute als ungrammatisch zu bezeichnen, wird m.E. durch Längs Einwand nicht erfaßt, da sie einen Grammatikalitäts-Begriff impliziert, welcher von dem durch Lang vertretenen differiert, und zwar hinsichtlich der Integration bzw. Nichtintegration einer ad hoc vielleicht „pragmatisch" oder „kommunikativ-funktional" zu nennenden Komponente. Lang definiert Gram6 Gerald A. Sanders, On the natural domain of grammai, Linguistics 63 (1970), 5 1 - 1 2 3 , p. 82. Da hier nicht der Ort ist für eine ausfuhrliche Diskussion des Begriffs „grammatisch in der Sprache L", muß ich mich an dieser Stelle mit einer kurzen Anmerkung zu einem Punkt in dem entsprechenden Kapitel von Dieter Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, Reinbek 1974, begnügen. Wunderlich diskutiert den in Chomsky, Syntactic structures, The Hague 1957, zugrundegelegten Grammatikbegriff, und dabei u.a. die Voraussetzung: „The grammar of L will [. . .] be a device that generates all of the grammatical sequences of L and none of the ungrammatical ones" (p. 13). Wunderlich weist p. 220 auf die Zirkularität dieser Voraussetzung hin und fordert: „Um diesen Zirkel zu vermeiden, müssen wir unabhängig von der Grammatik wissen, welche Sätze grammatisch sind und welche nicht. Es ergibt sich die Notwendigkeit eines vortheoretischen Begriffs „grammatisch in L", der in Befragungen, Beobachtungen o. ä. verwendet werden kann. Die Grammatik von L soll dann die Ergebnisse der empirischen Untersuchung rekonstruieren." Dieser Vorschlag enthält eben die Zirkularität, der Wunderlich zu entgehen sucht. Die in Befragungen durch Informanten vorgenommene Bewertung von Sätzen als „(un-)grammatisch" erfolgt natürlich immer unter Rekurs auf eine Grammatik, d.h. auf das, was der Informant als „grammatisch" anzusehen gelernt hat. Es ist fraglich, ob es überhaupt eine Möglichkeit geben kann, den theoriegebundenen Begriff „grammatisch in der Sprache L" auf empirischem Wege zu definieren. Beobachten läßt sich demgegenüber zumindest bis zu einem gewissen Maße, ob Kommunikation stattfindet und ob sie erfolgreich stattfindet. 7 Lang, p. 293. 8 Lang, p. 293.

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matik als „formale Rekonstruktion der Kompetenz des Sprechers/Hörers qua ,interiorisierte Grammatik' " 9 , eine Definition, welche durch das Definiendum ,Kompetenz' im Definiens Raum für Interpretationen läßt. Doch an anderer Stelle wird deutlicher, was Lang durch eine Grammatik (nicht) spezifiziert wissen will: denn zum einen fragt er sich, ob auch „Aspekte der Sprachverwendung" 10 dazu gehören sollen, zum anderen betrachtet er die Äußerung eines isolierten Satzes er kommt heute — wie schon erwähnt — nicht als ein grammatisches Problem, sondern als eine Frage der Akzeptabilität. Lang ist nun zwar der Chomsky'schen Lösung gegenüber skeptisch, die Akzeptabilitätsfragen in eine von der Kompetenz-Theorie scharf zu trennende Performanz-Theorie abzuschieben; er kann sich andererseits aber auch nicht dazu bereitfinden, die „Grammatik" als den theoretischen Ort anzusehen, der Regeln enthält, die angeben, unter welchen Bedingungen ein Sprecher die Äußerung er kommt heute so hervorbringt, daß der Hörer etwas mit diesem Satz anfangen kann 1 1 , d.h. daß Kommunikation stattfindet 12 . Eine solche Grammatik wäre zu verstehen als Modell (formale Rekonstruktion) der kommunikativen Kompetenz des Sprechers/Hörers, d.h. seiner Fähigkeit, erfolgreich zu kommunizieren 13 . Im Hinblick auf eine so definierte Grammatik bedeutet die Bewertung einer isolierten Hervorbringung von er kommt heute als ungrammatisch, daß gegen in dieser Grammatik enthaltene Regeln verstoßen worden ist, welche spezifizieren, unter welchen Bedingungen die Äußerung er kommt heute als sprachliche Komponente eines erfolgreichen Kommunikationsaktes zu verwenden ist/verwendet werden kann. Die vorangegangene Argumentation hat gezeigt, daß zwischen der Bewertung des isolierten Satzes er kommt heute als ungrammatisch und dem Ansatz einer kommunikativen Textlinguistik ein Zusammenhang besteht. Zusammengefaßt läßt sich sagen: die Bewertung von er kommt heute als ungrammatisch impliziert einen Begriff von Grammatik bzw. grammatisch, der u.a. auch Regeln für das Glücken von Kommunikation bzw. erfolgreiche Kommunikation enthält. Regeln für erfolgreiche Kommunikation beziehen sich auf die Basiseinheit von Lang, p. 286. Lang, p. 286. Cf. Lang, p. 294. Cf. dazu Lang, p. 294: „Die Akzeptabilität, mit der wir es hier zu tun haben, wird aber bestimmt durch funktionale Aspekte der Kommunikation. Dafür ist der richtige theoretische Ort erst noch zu suchen." 13 Cf. W. Kallmeyer/W. Klein/R. Meyei-Hermann/K. Netzer/H. J. Siebert, Lektürekolleg zur Textlinguistik, Band 1: Einführung, Frankfurt 1974, p. 66 s.

9 10 11 12

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Kommunikation, den Kommunikationsakt 14 . Die sprachliche Komponente des komplexen Vorganges .Kommunikationsakt' wird in der hier zugrundegelegten Theorie als ,Text' bezeichnet 1 5 . 1. Die Relation „Verweis" Nach diesen kurzen theoretischen Vorbemerkungen werden im folgenden anhand französischer Textbeispiele einige Probleme aus dem Phänomenbereich angesprochen, der je nach zugrundeliegender Theorie durch Begriffe wie „Substitution", JPronominalisierung", „Koreferenz", „Pro-Formen", „représentation pronominale" etc. charakterisiert wird; für die durch diese Begriffe gekennzeichnete Relation werde ich den Terminus „Verweis" verwenden 16 . Das folgende Textbeispiel (1) dient der Vergegenwärtigung sowie einer ersten Orientierung. Die in diesem Textstück hervorgehobenen und durch identische Indices versehenen Elemente stehen zueinander in einer VerweisRelation. Das Textstück (1) enthält natürlich nur einige wenige der verschiedenen im Französischen möglichen Manifestationen des Phänomens „Verweis"; auch sind nicht alle in dem Textstück (1) enthaltenen Verweis-Relationen durch Hervorhebung und Indizierung gekennzeichnet. (1) Je vais vous citer un cas qui s'est produit à Lyon, où des policiersi ont eu à tirer sur un malfaiteur2 quii venait de sauter, d'escalader un mur, de tomber dans la rue. Je crois même que ce gars-lài leur\ avait tiré dessus et s'était enfui après. Le policier 1 a tiré, il\ l'i a. tué. Eh bien ce policier \ a été très ennuyé. Ce type-i était un malfaiteur fiché, recherché. Avouez qu'on ne sait plus très bien ce qu'il faut faire. (Michèle Manceaux, Les policiers parlent, Paris 1969, p. 172.)

Das jeweils erste Element der durch identische Indizierung gekennzeichneten Verweis-Relation wird das Bezugselement (BE) genannt; für die übrigen Elemente der Verweisrelation verwende ich den Begriff Verweisform (VF) 1 7 . 14 Deshalb auch spricht Sanders, On the natural domain of grammar, p. 82, in Bezug auf he arrived then etc. von „ungrammatical discourse" und nicht etwa von „ungrammatical sentence". 15 Vergleiche dazu auch W. Kallmeyer/R. Meyer-Hermann, Textlinguistik, in: H.P.Althaus et alii (Hrsg.), Lexikon der germanistischen Linguistik, Tübingen 1973, p . 2 2 1 231. 16 Die meisten der hier zu behandelnden Probleme stellen sich nicht speziell in Bezug auf das Französische, das somit hier lediglich eine Objektsprache neben möglichen anderen ist, an welchen dieselbe Argumentation demonstriert werden könnte. Vgl. zum Portugiesischen meinen Aufsatz Some topics in the study of the referentials in spoken Portuguese, in: J. Schmidt-Radefeldt (ed.), Portuguese studies, Amsterdam 1975. 17 Vgl. dazu im einzelnen R. Meyer-Hermann, in: Lektürekolleg zur Textlinguistik, Einführung, Kap. 7, p. 1 7 7 - 2 5 2 .

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Verweisformen, die dem Bezugselement nachfolgen, werden anaphorische Verweisformen genannt, auf nachfolgende Textelemente wird durch kataphorische Verweisformen verwiesen. Die jeweiligen Bezugselemente der beiden in (1) ausgezeichneten VerweisSequenzen sind des policiers und un malfaiteur, die entsprechenden Verweisformen sind zum einen leur, le policier, il, ce policier, zum anderen qui, ce

gars-ld, V, ce type. Wie wird nun in den zu diesem Thema vorliegenden Arbeiten die Funktion der hier „Verweisformen" genannten Elemente beschrieben? Da im Rahmen dieses Aufsatzes keinesfalls ein umfassender Überblick über die einschlägigen Forschungsergebnisse gegeben werden kann, werde ich mich hier darauf beschränken, auf einige Arbeiten französischer Linguisten einzugehen. 2. Forschungsüberblick In seiner „Grammaire structurale du français" führt J. Dubois die Existenz des Phänomens „substitution" zurück auf das „principe de l'économie générale du message codé" 1 8 . Er betont, daß die damit verbundene Reduktion der Äußerungslänge mit einem mehr oder weniger großen Verlust an Informationsübermittlung einhergeht. Denn da es nur eine begrenzte Anzahl von „substituts" gebe, diese außerdem höhere Frequenzen haben als die Elemente, welche sie ersetzen („remplacent"), sei ihre „quantité d'information plus faible" 1 9 . Dubois definiert dann die Funktion der „substituts" folgendermaßen: „Les substituts remplacent un segment ou un ensemble de segments et évitent la répétition d'un trop grand nombre de formes, mais cela ne se produit qu'au prix de la perte d ' i n f o r m a t i o n " 2 0 . Mit der Auffassung, daß „substitution" mit Informationsverlust verbunden sei, steht Dubois nicht nur im Widerspruch zu der gängigen Meinung, wonach zwischen „antécédent" (Bezugselement) und „substitut" (Verweisform) Referenzidentität herrsche. Es scheint sich auch ein Widerspruch zu ergeben, wenn Dubois selbst an anderer Stelle seiner Grammatik in Bezug auf eine Substitutionsfolge, die aus den Elementen le dernier roman de Steinbeck als Bezugselement („antécédent") sowie V und en als Verweisform („substitut") besteht, schreibt: „ . . . ces deux segments [ / ' und en] sont supposés donner les mêmes informations que les syntagmes nominales qu'ils remplacent" 2 1 .

18 19 20 21

Jean Dubois, Grammaire structurale du français. N o m et p r o n o m , Paris 1965, p. 91. Dubois, p. 91. Dubois, p. 119. Dubois, p. 92.

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Im übrigen scheint Dubois das in der Funktionsbeschreibung für „substituts" verwendete Verb „remplacer" nicht als Terminus einer Definition anzusehen. Denn neben dem Verb „remplacer" umschreibt Dubois die Funktion der „substituts" an verschiedenen Stellen u.a. auch durch die Verben „se référer", „se substituer", „renvoyer" und „représenter" 22 . Von den Arbeiten, in denen sich Jacqueline Pinchon mit dem hier diskutierten Problemkomplex auseinandersetzt 23 , sei vor allem ihre Studie zu den „pronoms adverbiaux en et y" erwähnt. J. Pinchon unterscheidet zwischen „indicateur" (so z.B. die Pronomina der 1. und 2. Person) und „représentant". Viele Elemente können sowohl als „indicateur" als auch als „représentant" verwendet werden, so z.B. celui-ci. Am Beispiel von Pronomina umschreibt J. Pinchon die Funktion von „représentants" folgendermaßen: „ . . . ils évoquent un segment de la chaîne parlée qui, en général, a été précédemment énoncé et qui, de ce fait, est nommé antécédent. . ." 2 4 . J. Pinchon unterscheidet zwischen „représentation complète" und „représentation conceptuelle"; erstere ist gegeben „quand le pronom reprend le substantif dans sa compréhension [le concept] et dans son extension" 25 ; „représentation complète" durch ein Pronomen liegt z.B. im Textstück (2) vor: (2) Une étoile luisait et je la contemplais. (J. Pinchon, Les pronoms adverbiaux, p. 37)

Die Funktion des Pronomens la in (2) kennzeichnet J. Pinchon folgendermaßen: „ . . . le pronom désigne la même réalité que le substantif, ou le syntagme nominal" 26 . Diese Formulierung legt die Interpretation nahe, daß hinsichtlich der semantischen Leistung — oder wie ich es formulieren würde —, hinsichtlich der Referenzanweisungen zwischen „antécédent" und „représentant" kein Unterschied besteht. Diese Formulierung scheint allerdings in 22 Cf. u.a. Dubois, p.96 s„ 139 s., 148. 23 Jacqueline Pinchon, La représentation pronominale, FM 33 (1965), 1 8 8 - 1 9 8 ; id., Les pronoms adverbiaux en et y. Problèmes généraux de la représentation pronominale, Genève 1972 (PRF 119). Die entsprechenden Kapitel in R. L. Wagner - J. Pinchon, Grammaire du français classique et moderne, Paris 1962, geben offensichtlich die in den o.a. Untersuchungen vertretenen Auffassungen J. Pinchons wieder. 24 J. Pinchon, Les pronoms adverbiaux, p. 23. Ähnlich wie in der Grammatik von Dubois (s.o.) ist auch bei J. Pinchon die Beschreibung der Funktion der „représentants" durch terminologische Vielfalt gekennzeichnet: sie verwendet dazu u.a. die Begriffe „reprendre" (p. 5, 36), „évoquer un segment" (p. 23), ,représenter" (p. 23), „renvoyer" (p. 23), „se référer" (p. 25), „remplacer" (p. 25). 25 J. Pinchon, Les pronoms adverbiaux, p. 25. 26 J. Pinchon, Les pronoms adverbiaux, p. 37.

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einem gewissen Widerspruch zu stehen zu der an anderer Stelle gegebenen Charakterisierung des P r o n o m e n s als eines „substitut vide de sens" 2 7 . Die Unklarheiten bezüglich der F u n k t i o n des P r o n o m e n s als „représentant c o m p l e t " werden durch Erläuterungen, welche J. Pinchon dazu an anderer Stelle gibt, eher verstärkt als beseitigt. So z.B., w e n n sie in Bezug auf die „représentation complète" erklärt: „ . . . il y a identité entre la personne, l'objet, la n o t i o n évoqués par le substantif et ce que représente le p r o n o m " 2 8 . Wie auch dieses Zitat zeigt, dürften die genannten Unklarheiten vor allem darauf zurückzuführen sein, daß J. Pinchon nicht exakt genug unterscheidet zwischen dem Bezug des „ a n t é c é d e n t " als Designans auf das Designatum „la personne, l'objet, la n o t i o n évoqués par le substantif" einerseits u n d der auf die sprachliche Manifestation, d.h. das Designans bezogenen (Verweis-) Funktion des „représentant". Dieser Unterschied wird demgegenüber von Gaatone b e t o n t , w e n n er sagt: „les substituts, e u x , au sens strict du m o t , ne f o n t jamais référence à u n e réalité extérieure, extra-linguistique, mais bien à d'autres éléments linguistiu29

ques . In seiner Erläuterung des Begriffs „remplacement" als F u n k t i o n der „substituts" steht bei Gaatone der paradigmatische Aspekt im Vordergrund: „Ce qui est réellement remplacé n'est évidemment pas présent dans l'énoncé, mais lui est en quelque sorte sous-jacent" 3 0 . So n i m m t Gaatone für das Beispiel (3) Un ami est entré, je le connais depuis longtemps.

eine Zwischenstufe („étape intermédiaire") an, welche das d e m „substitut" le zugrundeliegende Nominalsyntagma enthält: ( 4 ) . . . , je connais cet a m i . . .

27 J. Pinchon, Les pronoms adverbiaux, p. 25. 28 J. Pinchon, La représentation pronominale,p. 193. 29 D. Gaatone, Pronoms et substituts, Etudes de Linguistique Appliquée N.S. 7 (1972), 3 8 - 4 7 , p. 39. Anders Kr. Sandfeld, Syntaxe du français contemporain, tome I: Les pronoms, Paris 2 1965, für den dieser Unterschied keine Rolle zu spielen scheint, denn er sieht die Hauptfunktion der Pronomina der 3. Person sowohl darin, „de représenter des personnes ou des choses mentionnées" (p. 32), als auch darin, ein vorangegangenes Wort zu repräsentieren („ . . . représentent un mot p r é c é d e n t . . . p. 42). Sandfeld sieht schließlich auch die Möglichkeit vor, daß ein Pronomen Repräsentant eines anderen Pronomens sein könne, was er u.a. an folgendem Textbeispiel aus Lotis Pêcheur exemplifiziert: „Tout cela, elle le lui pardonnait". Vgl. dazu auch N 51. 30 Gaatone, p. 41.

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Zwischen dem „antécédent" und dem in der Zwischenstufe (4) zugrundeliegenden Nominalsyntagma müsse Identität hinsichtlich der lexikalischen Elemente bestehen. Im Beispiel (3) besteht danach die Funktion des Pronomens le darin, cet ami zu ersetzen („remplacer") 31 . Die mit diesem Vorschlag verbundene Notwendigkeit, ein Substituendum zu hypostasieren, muß als das entscheidende Problem einer Theorie angesehen werden, wonach „substituts" die Funktion haben, (paradigmatisch) zu „ersetzen" („remplacer"). Das Problem zeigt sich indes nicht in erster Linie in Bezug auf pronominale Verweisformen vom Typ le. Denn die Annahme eines mit dem Bezugselement hinsichtlich der lexikalischen Elemente identischen Nominalsyntagmas in einer Zwischenstufe stellt im Vergleich mit einer Theorie, welche von einer syntagmatischen Substitution eines (Oberflächen-) Bezugselementes durch eine Verweisform ausgeht, keinen Explikationsgewinn dar. Es handelt sich vielmehr letztlich lediglich um eine Explizitierung der Theorie der Referenzidentität von Bezugselement und Verweisform. Die Problematik des Gaatoneschen Vorschlages zeigt sich aber besonders, wenn man nach den in der Zwischenstufe anzusetzenden Nominalsyntagmen für „substituts" wie cet ami, ce jeune homme etc. fragt, also nach „substituts" mit lexikalischen Elementen. Hier ergäbe sich also z.B. die Frage, ob für das „substitut" cet ami in der Zwischenstufe das Nominalsyntagma cet ami anzusetzen wäre usw. Vorrangig bliebe deshalb an Gaatones Vorschlag die Frage nach dem theoretischen Ort der „étape intermédiaire" zu klären. Ohne an dieser Stelle auf alle Implikationen dieses Vorschlages eingehen zu können, wird deutlich, daß er eine überflüssige Komplikation darstellt, zumal da aus der geforderten lexikalischen Identität von „antécédent" und dem auf der Zwischenstufe zugrundeliegenden Nominalsyntagma keine Schlußfolgerungen auf Identität im Designatumbereich gezogen werden können, wie Gaatone selbst zutreffend anmerkt 32 . 31 Gaatone, p. 41. Der Grundgedanke dieser Konzeption dürfte auf Ruth Crymes, Some Systems of Substitution Corrélations in Modern American English, The Hague 1968 (Janua Linguarum, series maior 23), zurückgehen. Essentiell für die Auffassung Ruth Crymes' ist, daß sie zwischen der Funktion „reference" eines „Substitute" und dessen Funktion zu „substituieren" unterscheidet: „A Substitute with an antecedent refers to its antecedent, but, (. . . ) , it does not Substitute for the antecedent. It Substitutes for a non-occurring potentially occurrent construction or word. For example, in there's a chair over there - take it, it refers t o a chair over there, but it replaces the chair over there. " (p. 34). Für weitere Details dieser Konzeption cf. R. Crymes, Some Systems, p. 34 s. 32 Gaatone, p. 41: „II faut d'ailleurs remarquer qu'identité lexicale ne signifie pas nécessairement même référence extra-linguistique. Dans Pierre a des amis, j'en ai aussi, je

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Was die Funktionsbeschreibung der Pronomina der 3. Person betrifft, lassen sich — bei allen sonstigen Unterschieden — die bisher erwähnten Untersuchungen grosso modo dem Konzept der „Substitution" zuordnen. Die Arbeit von Maurice Gross „On grammatical reference" 3 3 bezieht in dieser Frage eine andere Position. Ausgehend von dem Satzpaar John bought a book, I read it sagt Gross: „We will say that it has a book as DISCOURSE REFERENT (i.e. it points to unit of discourse which is a noun-phrase together with its interpretation in terms of the human universe)" 34 . D.h. fur Gross besteht die Funktion des Pronomens it — und das würde natürlich auch für das entsprechende französische Pronomen gelten — darin, auf die Nominalphrase a book zu zeigen, auf sie zu verweisen etc., jedenfalls nicht a book oder sonst eine supponierte NP zu „ersetzen". Und indem das Pronomen auf die NP a book verweist, verweist es zugleich auf die „semantische Leistung", anders formuliert, die Referenzanweisungen dieser NP. Zwischen dieser und meiner im nächsten Abschnitt näher zu erläuternden Konzeption bestehen bis zu einem gewissen Grade Ähnlichkeiten. Im Unterschied zu den hier referierten Auffassungen, welche die Beziehung zwischen „antécédent" und „représentant" als letztlich nur diese beiden Elemente betreffend ansehen, werde ich u.a. zu zeigen versuchen, daß — auf eine sehr allgemeine Formel gebracht — die zwischen Bezugselement und Verweisform bestehende Verweisrelation nur unter systematischer Miteinbeziehung des Kontextes von Bezugselement und Verweisform beschrieben werden kann. Auf Untersuchungen von Ducrot 3 5 , Maillard 36 und Moignet 3 7 , die im Zusammenhang dieses kleinen Forschungsüberblicks genannt werden sollten, wird in Bezug auf bestimmte Einzelfragen ggf. im nächsten Abschnitt näher einzugehen sein.

33 34 35 36 37

préfère les miens à ceux de Paul, les syntagmes sous-jacents aux substituts en, les miens, et ceux comportent bien tous un m ê m e élément ami, mais ne désignent pas toujours les mêmes personnes." Maurice Gross, On grammatical reference, in: F. Kiefer - N. Ruwet (eds.), Generative Grammar in Europe, Dordrecht 1973, p. 2 0 3 - 2 1 7 . Gross, p. 204. Cf. Oswald Ducrot, Dire et ne pas dire. Principes de sémantique linguistique, Paris 1972. Cf. Michel Maillard, Essai de typologie des substituts diaphoriques (Supports d'une anaphore et/ou d'une cataphore), Langue Française 21 (1974), 5 5 - 7 1 . Cf. Gérard Moignet, La suppléance du verbe en français, FM 28 ( 1 9 6 0 ) , 1 3 - 2 4 , 107-124.

Zur Textgrammatik

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3. Die Funktion der Verweisformen Im folgenden wird von einer Konzeption ausgegangen, wonach der Sprecher mit Hilfe sprachlicher Elemente im Kommunikationsakt dem Hörer Anweisungen gibt, bestimmte Operationen durchzuführen. Diese Anweisungen lassen sich den verschiedenen Ebenen der grammatischen Beschreibung zuordnen. So wird unterschieden zwischen Konsequenzanweisungen (cf. Ebene der Pragmatik), Referenzanweisungen (cf. Ebene der Semantik) und Konnexionsanweisungen (cf. Ebene der Syntax) 3 8 . Das Spezifische einer (pronominalen) Verweisform (im Unterschied zum Bezugselement) besteht darin, daß sie keine Referenzanweisungen, sondern „nur" Konnexionsanweisungen gibt; die Verweisfunktion einer pronominalen Verweisform kann danach in einer ersten allgemeinen Formulierung folgendermaßen umschrieben werden: Der Hörer wird durch Konnexionsanweisungen der Verweisform bezüglich bestimmter Referenzanweisungen auf die Referenzanweisungen eines im Text vorangehenden oder nachfolgenden Textstükkes verwiesen 39 . Hiermit unterscheiden wir uns von Auffassungen, in denen „Referenzidentität" von Bezugselement und Verweisform in dem Sinne zugrundegelegt wird, daß sich die Verweisform auf denselben Referenten beziehe wie das Bezugselement 4 0 . Der Unterschied zwischen diesen beiden Konzeptionen sei an den folgenden Schemata veranschaulicht. Fig. 1 zeigt die „Referenzidentität", Fig. 2 die hier vertretene Konzeption der „vermittelten" Referenz: 41

38 Zu dieser Unterscheidung cf. Lektürekolleg zur Textlinguistik, Band 1: Einführung, p. 4 7 - 6 0 . 39 Ähnlich Ruqaiya Hasan, Grammatical cohesion in spoken and written English: part one, London 1968 (Programme in Linguistics and English teaching, Paper 7), p. 82 s. 40 Cf. beispielsweise Roland Harweg, Pronomina und Textkonstitution, München 1968, p. 22; E.V. Paduceva, Anaphoric Relations and their Representation in the Deep Structure of a Text, in: M. Bierwisch - K. E. Heidolph (eds.), Progress in Linguistics, The Hague 1970, 2 2 4 - 2 3 2 , spricht p. 226 von „identical denotata". 41 Cf. Auch R. Meyer-Hermann, in: Lektürekolleg zur Textlinguistik, Band 1: Einführung p. 214ss. Eine „mittlere" Position bezieht in dieser Frage Karen H. Ebert, Referenz, Sprechsituation und die bestimmten Artikel in einem nordfriesischen Dialekt (Fering), Bredstedt 1971, p. 51; sie kennzeichnet den Unterschied zwischen einem Bezugselement patron und einer auf dieses bezogenen Verweisform il hinsichtlich ihrer Beziehung zu dem Objekt „patron" dadurch, daß die die Form patron mit dem Objekt „patron" durch eine durchgezogene Linie, il und das Objekt „patron" durch eine gestrichelte Linie verbindet.

R. Meyer-Hermann

156 Wirklichkeitsmodell

„Objekt" : p a t r o n

„Objekt" : p a t r o n

Referenzanweisungen

Referenzanweisungen

M

//

Konnexionsanweisungen Ebene der sprachlichen K o m p o n e n t e des Kommunikationsaktes

patron . . . .il

patron . . . . il

Fig. 1

Fig. 2

Zur weiteren Erläuterung und Präzisierung der oben gegebenen ersten Funktionsbeschreibung einer pronominalen Verweisform gehen wir von folgendem Textbeispiel (5) aus; es m a c h t deutlich, daß je n a c h d e m , m i t welchen sprachlichen Elementen über das hervorgehobene P r o n o m e n il prädiziert wird, il sich auf ein verschiedenes Bezugselement bezieht: (5) A la poursuite du garçon qui avait pris la fuite en direction de la forêt le commissaire i traversait la forêt, accompagné de son assistant2. C'était quelques mois seulement qu'

111 avait été nommé commissaire. 112 appartenait â la police.

In diesem Textbeispiel ist die Entscheidung darüber, auf welches Bezugselement sich il bezieht, davon abhängig, zwischen welchen Referenzanweisungen der Prädikationen über das P r o n o m e n il und welchen Referenzanweisungen der potentiellen Bezugselemente semantische Kompatibilität besteht. In Bezug auf ein zumindest weitverbreitetes Wirklichkeitsmodell besteht (semantische) Kompatibilität zwischen den Referenzanweisungen von commissaire und avait été nommé commissaire, j e d o c h nicht zwischen den Referenzanweisungen von

commissaire und c'était quelque mois seulement qu'il appartenait a la police, insofern wenige Monate Zugehörigkeit zur Polizei für eine Beförderung zum Kommissar in diesem Wirklichkeitsmodell nicht ausreichen usw. Verallgemeinernd läßt sich sagen: die (pronominale) Verweisform il hat die F u n k t i o n , dem Hörer zu signalisieren, daß er die Referenzanweisungen der über il geäußerten Prädikationen beziehen soll auf die Referenzanweisungen einer in Numerus und Genus mit il k o n g r u e n t e n , im T e x t vorangegangenen N o m i n a l g r u p p e 4 2 . Bei den pronominalen Verweisformen il, ils, elle, elles ist 42 Maillard, Essai de typologie, stellt das folgende, in diesem Zusammenhang interessante Textbeispiel aus Camus, La chute, zur Diskussion: „Quand je quittais un aveugle . . .

Zur Textgrammatik von Verweisformen im Französischen

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außerdem die Konnexionsanweisung, welche durch Oberflächenmarkierung von Genus und — was die schriftliche Kommunikation betrifft — Numerus gegeben wird, ein bei der Identifikation potentieller Bezugselemente wirksamer Steuerungs- bzw. Selektionsmechanismus. Verweisformen, welche nur Konnexionsanweisungen und keine Referenzanweisungen geben, nenne ich nicht-referentielle Verweisformen. Wie das folgende Textstück ( 6 ) zeigt, kann z.B. dann gegen die Bedingung der Numerus-Kongruenz „verstoßen" werden, wenn das Bezugselement der entsprechenden Verweisrelation eine Klasse von „Objekten" bezeichnet: (6) On a essayé d'avoir des renseignements auprès des concierges. La concierge est une personne qui connaît beaucoup de choses, mais enfin moi, je ne m'attache pas tellement à ce qu'elles disent, ni à leurs témoignages. (Les policiers parlent, p. 96) Von derartigen Ausnahmen abgesehen, muß ein textgrammatikalisches Regelsystem möglicher Verweisrelationen im Französischen die Bestimmung enthalten, daß mit Formen wie il, ils, elle, elles, celui(-ci), celle(-ci), lequel, lesquels, laquelle, lesquelles, la, le, les Verweisrelationen zu genus- und/oder numerus-kongruenten Bezugselementen etabliert werden. Es ist wichtig zu betonen, daß die umgekehrte Schlußfolgerung nicht zutrifft; d.h. genus- und/oder numerus-markierte Elemente des Textes, also Nominalgruppen, können auch als (potentielle) Bezugselemente solcher Verweisformen fungieren, welche hinsichtlich Genus und/oder Numerus unmarkiert sind 4 3 . Dazu gehören Formen wie ça, cela, ce, ceci, là, Id-dessus, y, aber auch z.B. bestimmte Verwendungs- bzw. Vorkommensmöglichkeiten der Form le. Zur Veranschaulichung dieser Tatsache einige Textbeispiele mit den nicht-referentiellen Verweisformen ça, là und y : je le saluais. Ce coup de chapeau ne lui était. . . pas déstiné, ilj ne pouvait pas le voir. A qui donc s'adressait-il2? Au public. " Die Tatsache, daß sich il\ auf aveugle und 1/2 auf coup de chapeau bezieht, erklärt Maillard folgendermaßen: „D'un substitut à l'autre, il y a glissement référentiel. C'est par un véritable acte de foi sémantique que le lecteur rapporte les /ils/ à leur antécédent respectif" (p. 58). Das angeführte Textbeispiel wird durch den Gültigkeitsbereich unserer Explikation erfaßt. Einen Hinweis auf Identifizierung von „antecedents" durch „information of a ,lexical' or .semantic' nature" enthält auch David G. Lockwood, Pronoun concord domains in English, Linguistics 54 (1969), 70-85, p. 79. 43 Angesichts dieser Tatsachen muß der Versuch, den Maillard, Essai de typologie, unternommen hat, zwischen der (Nicht-)Flektierbarkeit der Verweisformen und der (Nicht-)Flektierbarkeit potentieller Bezugselemente einen Zusammenhang zu konstruieren, zumindest was die Angaben über die „référants invariables" betrifft, als unzutreffend gelten: „Les référants invariables sont tous désignés pour représenter un énoncé global ( . . . ) inversement les référants variables sont aptes à représenter un segment, en particulier un substantif marqué en genre et nombre" (p. 59).

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(7) Je parlais „salaires" avec ces garçons. „Un principal, combien ça gagne? " „Oui, mais chez vous un contrôleur, ça fait quoi? " (Les policiers parlent, p. 66) (8) Je m'approche, je traverse les groupes qui étaient déjà formés, puis je vais à la grande grille et je me pointe là tout seul. (Les policiers parlent, p. 66) (9) Je ne me savais pas valoir aussi cher (six cents francs) du kilo! Je m'en suis aperçue au bout de quinze jours sur une health farm de la campagne anglaise . . . Moi aussi, j'y étais pour maigrir. (Nouvel Observateur 501, 1974, p.49) Die Zugehörigkeit der Form le zu den beiden oben gegebenen kleinen Listen von Verweisformen macht deutlich, daß le sowohl in numerus- als auch in genus-kongruenten Verweisrelationen auftritt, als auch in solchen, in denen die Kategorien Genus und Numerus auf das Bezugselement und die Verweisform le nicht zutreffen. Die Verweisform le stellt damit u.a. auch ein Beispiel dar für die auf zahlreiche Verweisformen zutreffende Tatsache der Polyfunktionalität 4 4 ; das Polyfunktionalitätsspektrum der Verweisform le ist allerdings mit den beiden angedeuteten Möglichkeiten noch nicht erschöpft. Die Genus- und Numerus-Markierung gilt für die Fälle, in denen le als (pronominale) Verweisform in der syntaktischen Position eines Objektes in Opposition steht zu la und les (vgl. Textstück ( 1 0 ) ). Sie gilt auch für die Verwendung von le als „Artikel", auf dessen (Verweis-) Funktion an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Die Zugehörigkeit von le zur Liste der genus- und numerus-unmarkierten Verweisformen bezieht sich auf Beispiele, in denen le in der syntaktischen Position des Prädikatsnomens von être z. B. auf ein vorangegangenes Partizip als Bezugselement verweist (vgl. Textstück (11), oder in denen le anaphorisch oder kataphorisch auf einen bzw. n Sätze als Bezugselement verweist (vgl. Textstücke (12) und ( 1 3 ) ):

44 Die Tatsache der Polyfunktionalität von Verweisformen oder, anders formuliert, die Tatsache, daß ein und dasselbe Oberflächenelement an der Realisierung verschiedener Verweis-Relationen beteiligt ist, stellt ein Problem dar bei dem Bemühen, Verweisformen so zu benennen und in die Textgrammatik zu integrieren, daß aus der Benennung einer Verweisform ihre Funktion abgelesen werden kann, d.h. abgelesen werden kann, auf welche Bezugselemente sie verweisen. J. Pinchon, Les pronoms adverbiaux, p. 4 kritisiert Versuche „de distinguer des pro-noms, des pro-adjectifs, des pro-verbes, et même des pro-phrases" mit dem bekannten Argument: „ . . . il n'est pas rare, que le même mot puisse prendre la place de plusieurs parties du discours différentes . . . Vgl. zu diesem Fragenkomplex ausführlicher R. Meyer-Hermann, in: Lektürekolleg zur Textlinguistik, Band 1: Einführung, p. 247 ss.

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(10) Il faut que le type sente que s'il veut se débarrasser du flic, il va falloir qu'il le démolisse. (Les policiers parlent, p. 55) (11) Mais même pour mieux connaître le programme de son candidat favori, l'électeur français estime aujourd'hui que la télévision est le meilleur moyen. [ . . . ] La radio est nettement distancée par la télévision. Elle /'est même - de peu, il est vrai par la presse écrite. (Nouvel Observateur 497, 1974, p. 33) (12) Si ceux qui ont les meilleurs postes ne veulent rien changer, ce n'est pas la faute aux principes de la République, c'est la faute à la médiocrité des hommes, à leur aveuglement, à leur paresse. Il fallait le rappeler. (Les policiers parlent, p. 36 s.) (13) Dans les universités, tout le monde le sait ça fait cinq ans que les étudiants et une grande partie des enseignants demandaient des réformes. (Les policiers parlent, p. 44)

Wenn wir oben gesagt haben, daß die Verweisform le auf einen bis n Sätze als Bezugselement verweisen könne, so stellt diese Formulierung eine Vereinfachung dar, die nicht den Anspruch erheben kann, das als „Satzpronominalisierung" bekannte Problem formuliert zu haben. Es scheinen dazu wenigstens einige zusätzliche Anmerkungen nötig, die im übrigen auch die Verwendungsmöglichkeiten von cela und ça als auf Sätze verweisend mit einbeziehen. Ge-' hen wir von folgendem Textbeispiel aus: (14) Homme du Nord, il [Hans Apel] est, lui aussi, fermé à toutes les subtilités de la latinité. Dans le Marché commun, cela compte. (Nouvel Obervateur 497, 1974, p. 39)

Fragen wir uns, worauf sich cela bezieht bzw. auf welche mit compte zu kombinierende Referenzanweisungen der Hörer durch cela verwiesen wird. Nicht die Tatsache, daß Apel als Mann des Nordens den „subtilités de la latinité" gegenüber verschlossen ist, ist es, die im Gemeinsamen Markt zählt; was im Gemeinsamen Markt zählt, ist (ganz allgemein) kein Verständnis für die Latinität zu haben. Mit anderen Worten, worauf cela verweist, ist informal formuliert, der Inhalt der Aussage über Apel, d.h. wieder anders formuliert, die Referenzanweisungen der Prädikationen über das Thema des vorangegangenen Satzes, — jedenfalls nicht der vorangegangene Satz, sei es seine Oberflächenstruktur oder die dieser zugrundeliegende Tiefenstruktur. Der dargelegte Unterschied käme etwa durch die Differenz der beiden folgenden Formulierungen zum Ausdruck, wobei (b) das beschriebene Bezugselement von cela in (14) verbalisiert: (14) (a) . . . ce qui compte dans le Marché commun, c'est que Apel . . . est fermé . . . (b) . . . ce qui compte dans le Marché commun, c'est d'être fermé . . .

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In noch deutlicherem Maße, als es dieses Beispiel bereits erkennen läßt, zeigt das folgende Textbeispiel (15), welche wohl unlösbaren Probleme die „Satzpronominalisierung" für Konzeptionen darstellt, die (wie z. B. im Prinzip Gaatone) davon ausgehen, daß zwischen dem als Bezugselement dienenden Oberflächensatz und dem Satz, welcher der Verweisform in der Tiefenstruktur zugrundeliege, lexikalische „Identität" bestehen müsse: (15) Je lui ai [à mon fils] dit: „Faut pas croire que dans la République ce sera impeccable et que les biens seront justement partagés, ça faut pas y compter, mais ça vient de l'égoïsme des uns et des autres plutôt que d'un défaut de structure . . . " (Les policiers parlent, p. 38)

Eine Textgrammatik hätte zu klären, aufgrund welcher Prozesse der Hörer in der Lage ist, das hervorgehobene ça dieses Textes auf ein Bezugselement zu beziehen, das, aus dem vorangegangenen Oberflächentext abgeleitet, Differenzen zu dessen Struktur aufweist; das Bezugselement der Verweisform ça in (15) lautet etwa folgendermaßen: (15a). . . que dans la République ce n'est pas impeccable et que les biens ne sont pas justement partagés, (ça) vient de l'égoïsme . . .

Fragen der hier nur an zwei Beispielen skizzierten Probleme der „Satzpronominalisierung" sind auch Gegenstand der Erörterung in Osten Dahls Aufsatz „On so-called ,sloppy identity' " 4 S . Dahl geht dabei aus von Stalnakers Unterscheidung zwischen „proposition" und „sentence" 46 . Dahl vertritt die Auffassung, daß die Regeln für die sog. Satzpronominalisierung „in terms of identity of propositions" 47 formuliert werden müßten. In einem Dialog wie z.B.: A. Je t'aime. B. Je ne le crois pas.

könne das Pronomen le nicht „under identity from a répétition of A's utterance" 48 abgeleitet werden, denn natürlich will B nicht sagen: „Je ne crois pas que je t'aime". Die Identität, die hier vorliege, sei eine Identität der Propositionen 49 . 45 Synthese 26 (1973), 8 1 - 1 1 2 . 46 Cf. R.C. Stalnaker, Pragmatics, Synthese 22 (1970), 2 7 2 - 2 8 9 ; dt. in: S. J. Schmidt (Hrsg.), Pragmatik I, München 1974, p. 1 4 8 - 1 6 5 . 47 Dahl, Sloppy identity, p. 91. 48 Dahl, Sloppy identity, p. 92. 49 Vgl. zu diesem Fragenkomplex weiter Dahl, Sloppy identity, p. 100 ss.; Traugott Schiebe, Zum Problem der grammatisch relevanten Identitäten: F. Kiefer - N. Ruwet (eds.), Generative Grammai in Europe, Dordrecht 1973, p. 482-529,bes. p. 499 s. und 516 : Steven Cushing, The semantics of sentence pronominalization, Foundations of Language 9 (1972), 1 8 6 - 2 0 8 .

Zur Textgrammatik

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Von grundsätzlicher Natur für die Struktur einer Textgrammatik der Verweisform ist auch eine Stellungnahme in einer Frage, welche durch die folgende Behauptung Maillards gekennzeichnet werden kann, der schreibt: „... dans le chapitre 3 de La Chute, des pages 61 à 68 le substitut /elles/ garde une pâleur' sémantique constante, à savoir le signifié .femmes' " so . Verallgemeinert lautet diese These: in einer durch eine Nominalgruppe eingeleiteten Verweiskette mit n nachfolgenden nicht-referentiellen Verweisformen vom Typ il verweisen die jeweiligen Realisationen von il auf die am Beginn der Verweiskette stehende Nominalgruppe 51 . Aus unserer oben gegebenen Definition der Funktion der nicht-referentiellen Verweisformen il, wonach il essentiell eine Konnexionsanweisung zur Kombination von Referenzanweisungen gibt, ist abzuleiten, daß wir im Widerspruch zu dieser „Konstanten"-Theorie stehen. Unsere Vorstellung geht demgegenüber dahin, daß in einer Verweiskette wie in dem folgenden Textstück angedeutet, (16) Un jeune homme\ entra; il\ avait l'air fatigué; après un moment d'hésitation ü\ s'assit tout près de la cheminée . . .

das erste il dem Hörer die Anweisung gibt, die Referenzanweisungen von avait l'air fatigué mit den Referenzanweisungen des Bezugselementes un jeune homme und den Referenzanweisungen von entra zu kombinieren. Wollte man das erste il dementsprechend durch einen sprachlichen Ausdruck substituieren, welcher die genannten, mit avait l'air fatigué zu kombinierenden Referenzanweisungen gibt, müßte es heißen: le jeune homme qui était entré. Für das zweite il würde es demnach heißen: le jeune homme qui était entré et qui avait l'air fatigué s'assit... etc. Bei der Instanz von il wird also im Prinzip das Gesamt der bis dahin gegebenen Referenzanweisungen über le jeune homme mit den Referenzanweisungen der jeweils neuen Prädikationen kombiniert 52 . Nur die Annahme einer solchen Akkumulation und — ggf. (auch 5 0 Maillard, Essai de typologie, p. 57. 51 Ähnlich auch R. Hasan, Grammatical cohésion, p. 42. Aus dieser Konzeption ergibt sich die Konsequenz, daß ein Pronomen nicht „Repräsentant" eines anderen (im Text vorangegangenen) Pronomens sein kann, wie es Kr. Sandfeld behauptet (vgl. N 29). In dem von Sandfeld gegebenen Beispiel ( . . . tout cela elle le lui pardonnait) handelt es sich um eine oberflächenstrukturell bedingte Redundanz einer Verweisform, wie u.a. durch die Umstellungsmöglichkeit elle lui pardonnait tout cela gezeigt werden kann. 52 Vgl. ausführlicher R. Meyer-Hermann, in: Lektürekolleg zur Textlinguistik, Band 1 : Einführung, p. 226 ss.; vgl. ähnlich auch K.H. Ebert, Referenz, Sprechsituation ..., p. 66 sowie 169, wo es heißt : „Es ist leicht zu sehen, daß dieses Verfahren der Explikation bei einem längeren Text zu unerwünscht komplexen Substituten für die Proformen führt, da alle

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R. Meyer-Hermann

memoriell bedingt) im Kommunikationsakt tatsächlich nur teilweise vollzogen Weiterleitung der über ein eingeführtes Designatum prädizierten Informationen scheint eine befriedigende Explikation dafür geben zu können, daß die Verweisketten nicht nur die Verweisform il zu enthalten brauchen bzw. enthalten, sondern daß auch Nominalgruppen Verwendung finden (können), deren Referenzanweisungen an Referenzanweisungen zuvor gegebener Prädikationen anschließen. So könnte es bei Fortsetzung des oben angefangenen Textes (16) über den jeune homme qui... et qui. .. et qui etc. heißen: et toujours il ne cessait pas de jouer. Le joueur... Die Form le joueur ist das, was wir als eine referentielle Verweisform bezeichnen. Referentielle Verweisformen geben neben ihren Konnexionsanweisungen (in le joueur durch die Form le) Referenzanweisungen (in le joueur durch die Form joueur). Im Rahmen dieses kleinen Überblicks über einige ausgewählte Probleme bei der Konstruktion einer Textgrammatik von Verweisformen einige wiederum notwendigerweise verkürzende Anmerkungen zum Phänomen der referentiellen Verweisform. In den referentiellen Verweisformen sind es die Determinantien vom Typ le, la, les sowie u.a. die sog. Demonstrativ-Artikel ce, cette, ces etc., welche die Funktion haben, dem Hörer zu signalisieren, daß die Referenzanweisungen des lexematischen Teils der referentiellen Verweisform mit Referenzanweisungen im Text vorangegangener Elemente zu kombinieren sind. So gibt in dem oben diskutierten Textstück (16), in dessen Fortführung die referentielle Verweisform le joueur verwendet wird, die Form le dem Hörer die Konnexionsanweisung, die Referenzanweisungen von joueur, dem lexematischen Teil der Verweisform, auf ihre Kompatibilität mit den Referenzanweisungen im Text vorangegangener Prädikationen zu überprüfen. Die Überprüfung ergibt in diesem Fall semantische Kompatibilität mit den Referenzanweisungen von il ne cessait pas de jouer-, also mit Referenzanweisungen von Prädikationen über le jeune homme qui et qui etc. ; aufgrund dieser Tatsache kann der Hörer die Referenzanweisungen von le joueur als auf das Designatum von le jeune homme qui et qui etc. bezogen ansehen. Ein textgrammatisches Regelsystem für die Verwendungsmöglichkeiten von le joueur hätte zu spezifizieren, mit welchen Referenzanweisungen die Referenzanweisungen von le joueur kompatibel oder inkompatibel sind. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, daß die Extrapolation dieser Forderung auf das Gesamt der Elemente einer Sprache, die als Bestandteil einer reMerkmale, die einem Referenten im Laufe eines Textes zugeordnet wurden, bei jeder neuen Erwähnung des Referenten wiederholt werden müßten. Stattdessen empfiehlt sich die Einführung von Referenzindices als Abkürzung der erwähnten Merkmale . . . u

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ferentiellen Verweisform fungieren können, mit anderen Worten, die Forderung nach einem Inventar der zwischen den Elementen einer Sprache bestehenden (In-)Kompatibilitäten weitgehend identisch ist mit den Forderungen, die an die semantische Beschreibung einer Sprache gerichtet werden. Zu heuristischen Zwecken wird man indes an dieser Stelle zwischen den folgenden Typen von Verweisrelationen mit referentiellen Verweisformen unterscheiden können 5 3 . 1.) „Identität" des Lexems der referentiellen Verweisform mit dem Lexem der als Bezugselement fungierenden Nominalphrase: (17) A mon avis, ils ont eu une grande peur au mois de mai, et de cette peur, ils ne s'en sont par relevés. Ils l'ont toujours. (Les policiers parlent, p. 191)

2.)

„Identität" des Lexems der Verweisform mit dem lexematischen Bestandteil einer im Text vorangegangenen Prädikation („Prädikatsnominalisierung"):

(18) Si vous donnez un coup de crosse au foie à quelqu'un, vous l'étendez par terre. Quand on amène quelqu'un dans cet état-là le chef de poste ne peut pas le garder au poste. Il est obligé de le conduire à l'hôpital et il se trouve indirectement responsable. Cette responsabilité a souvent limité les excès. (Les policiers parlent, p. 59 s.)

3.)

Zwischen den Referenzanweisungen des Lexems der referentiellen Verweisform und den Referenzanweisungen einer vorangegangenen Prädikation besteht eine Art „Synonymie"-Relation, im folgenden Beispiel zwischen den Referenzanweisungen von un Français sur deux und moitié:

(19) Les vacances? Le fait est que les Français, actuellement, ne pensent qu'à ça. Les Français, ou plus exactement ceux d'entre eux qui ont les moyens de partir. C'est-à-dire à peine un Français sur deux. Austérité ou pas, cette moitié-là de la France était de toute façon décidée à prendre des vacances. (Nouvel Observateur 501, 1974, p. 21)

4.)

Die Referenzanweisungen des Lexems der Verweisform stellen in Bezug auf die Referenzanweisungen im Text vorangegangener Prädikationen eine „Klassifikation" dar; diese Tatsache wird im übrigen im folgenden Beispiel (20) selbst verbalisiert:

(20) On se demande maintenant si le président Nixon n'avait pas choisi cette fin de semaine cruciale dans le conflit du Proche-Orient pour limoger le procureur Koks, pour régler son compte à l'homme chargé de l'enquête sur le Watergate. C'est

53 Vgl. dazu auch Gross, On grammatical reference, p. 210 ss.

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samedi soir en effet que le président des Etats-Unis a annoncé ce coup de poker, comme on le qualifie désormais à Washington. (Rundfunknachrichten, Europe I)

5.)

Die Referenzanweisungen des Lexems der Verweisform stellen eine „Kategorisierung"54 von Referenzanweisungen vorangegangener Textteile dar:

(21) Oui, exactement. J'aurais dû rencontrer des concours. Au commencement, il y en a périodiquement. Il faut passer quatre ou cinq ans à la police municipale pour y avoir droit, mais avec la guerre, je n'ai pas eu cette chance. . . (Les policiers parlent, p. 47)

6.)

Die Referenzanweisungen des Lexems der Verweisform nehmen auf „metakommunikativer Ebene"55 eine „Klassifikation" der Referenzanweisungen von vorausgegangenen oder nachfolgenden Textteilen vor:

(22) M. Mitterrand a répété que le problème no. 1 de la France était l'inflation. Il l'a dit parce que cet argument lui permettait de critiquer ma gestion de l'économie . . . (Nouvel Observateur 497, 1974, p. 38) (23) Que fera l'industrie européenne du nord quand la main-d'œuvre étrangère refluera vers le sud et se tarira? A défaut de s'automatiser, tel est le dilemme, force lui sera de suivre sa main-d'œuvre de se déplacer direction sud, deux autres donnees l'y inciteront: la pollution premièrement . . . (Europe I)

Diese Unterscheidung einiger Arten von Verweisrelationen mit referentiellen Verweisformen hat in ihrer Vorläufigkeit im Rahmen dieses Aufsatzes nur den Sinn, auf die Notwendigkeit zu weiterer (formaler) Explikation hinzuweisen.

4. Zusammenfassung In einer kurzen theoretischen Vorbemerkung wird (im Unterschied zu E. Lang) die Auffassung vertreten, daß zwischen der Bewertung isolierter Sätze vom Typ er kommt heute als ungrammatisch und dem Ansatz einer kommunikativen Textlinguistik bezüglich des zugrundegelegten Grammatik-Begriffes ein 54 Nach W. Kummer (in Vorb.) sind „Kategorien definitorisch von Klassifikationen dadurch unterschieden, daß die Klassifikationen Kategorien zugeordnet werden können, während Kategorien nicht Untermengen anderer Mengen repräsentieren können . . . " 55 Vgl. dazu auch in W. Raible, Satz und Text. Untersuchungen zu vier romanischen Sprachen, Tübingen 1972, p. 150 s., den Begriff der „Wiederaufnahme auf Abstraktionsebene".

Zur Textgrammatik

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Zusammenhang besteht. Einer ersten Definition der Relation „Verweis" folgt ein kurzer Überblick über Arbeiten französischer Linguisten zu diesem Thema (Dubois, J. Pinchon, Gaatone, Gross, Maillard etc.). Im Hauptabschnitt des Aufsatzes wird — exemplarisch — die Funktion der Verweisformen erläutert, die — nach der hier vertretenen Theorie — essentiell darin besteht, daß der Hörer durch die Konnexionsanweisungen der Verweisform bezüglich bestimmter Referenzanweisungen auf die Referenzanweisungen eines im Text vorangegangenen oder nachfolgenden Textstückes verwiesen wird. Weiterhin wird gezeigt, daß die Relation „Verweis", d.h. die Beziehung zwischen der Verweisform und dem Bezugselement von dem Vorhandensein semantischer Kompatibilität zwischen dem Kontext von Bezugselement und Verweisform abhängt. Bei Verweisrelationen mit referentiellen Verweisformen werden an Textbeispielen einige Arten verschiedener semantischer Kompatibilitäten zwischen Bezugselement und Verweisform aufgeführt.

Roland Harweg Präsuppositionen und Rekonstruktion Zur Erzählsituation in Thomas Manns Tristan aus textlinguistischer Sicht

1. Erzählsituationen sind Spezialfälle von Kommunikationssituationen — das heißt: von Situationen, in deren jeweiligem Zentrum eine Folge von mit parole-artiger Referenz 1 ausgestatteten Zeichen steht. Von Zeichen, die jeweils verbunden sind mit drei verschiedenen außerhalb ihrer liegenden Bezugsgrößen: sie aussendenden Sendern, sie rezipierenden Empfängern und durch sie abgebildeten Sachverhalten — verbunden etwa so, wie dies Karl Bühler in seinem bekannten Organonmodell beschrieben hat. 2 Die genannten Größen — Zeichen, Sender, Empfänger und Sachverhalte — sind die Grundparameter, auf die jede Beschreibung und Erklärung einer kommunikativen Situation zu rekurrieren hat, die Grundparameter, aber keineswegs sämtliche Parameter; denn mit diesen Grundparametern verbunden, ja gleichsam in ihnen enthalten sind eine Reihe von — ebenfalls zu berücksichtigenden — Sekundärparametern, Parametern, die, da sekundär, in unserem Kommunikationsmodell denn auch nicht (und wie ich meine zu Recht nicht) als eigenständige Größen figurieren. Es handelt sich bei diesen Sekundärparametern um Parameter wie die des Ortes und der Zeit — beide jeweils bezogen auf die Grundparameter des Senders, des Empfängers und des dargestellten Sachverhaltes — sowie um Parameter wie den des Vorwissens des Empfängers und den des Wissens des Senders um dieses Vorwissen. Rekurrierend auf die genannten Grund- und Sekundärparameter, möchte ich in diesem Aufsatz den Versuch machen, die kommunikative Situation zu beschreiben, in die ein bestimmter fiktionaler Erzähltext, nämlich die Erzählung Tristan von Thomas Mann, eingebettet ist. Die kommunikative Situation, in die ein fiktionaler Text eingebettet ist, ist komplizierter als die, in die ein nichtfiktionaler Text eingebettet ist, kompli1 Hinter diesem Begriff steht die Unterscheidung zwischen einer langue- und einer paro/e-artigen Referenz, zwei Phänomenen, die ich in einem anderen Aufsatz zu behandeln beabsichtige. 2 Cf. Karl Bühler, Sprachtheorie, Stuttgart 2 1 9 6 5 , p. 24 ss., bes. p. 28.

Präsuppositionen und Rekonstruktion

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zierter u n d nicht, wie m a n auch denken k ö n n t e , einfacher. Denken, sie sei einfacher, aber k ö n n t e n (oder m ü ß t e n sogar) alle diejenigen, die sich jener einleuchtenden u n d scheinbar wohlbegründeten Ansicht verschrieben h a b e n , der zufolge fiktionale T e x t e , da sie eben bloße Erfindungen seien, keinerlei Sachverhalte abbilden — einer Ansicht, die offensichtlich auf eine Eliminierung der Bezugsgröße „Sachverhalte" aus einem K o m m u n i k a t i o n s m o d e l l für fiktionale Texte hinauszulaufen scheint. Und in der Tat, einleuchtend u n d wohlbegründet ist diese Ansicht ja auch für den Fall, daß u n d so lange, wie m a n die Sachverhalte in der Welt des realen, historischen A u t o r s (sowie der realen, historischen Leser) eines fiktionalen Textes sucht; denn in dieser Welt existieren die Sachverhalte tatsächlich nicht, auch dann nicht, w e n n sie, wie häufig genug, geschöpft sind aus des Autors persönlicher Lebenserfahrung; sind sie doch damit, daß der A u t o r ihnen den Status des Fiktiven verliehen h a t , für diese Welt unwiederbringlich verloren. Andererseits aber ist jene Ansicht, wie ich meine, nicht m e h r so einleuchtend u n d wohlbegründet, wie es den Anschein h a t t e , w e n n m a n die etwaigen durch einen fiktionalen Text abgebildeten Sachverhalte statt in der Welt des realen, historischen Autors in der Welt eines fiktiven Erzählers, also in einer eigenen, dem jeweiligen fiktiven T e x t u n d nur ihm zugeordneten, fiktiven Welt angesiedelt sieht, und eben dies schlage ich in diesem Aufsatz vor zu tun. Das aber impliziert, daß die kommunikativen Situationen, in die fiktionale Erzähltexte eingebettet sind, komplizierter sind als diejenigen, in die nichtfiktionale T e x t e eingebettet sind. Inwiefern komplizierter? N u n , insofern, als sie statt eines einzigen zwei verschiedene Sender enthalten: den realen A u t o r und den fiktiven Erzähler, ja nicht nur zwei verschiedene Sender, sondern auch zwei verschiedene Empfänger, oder genauer: Kategorien von E m p f ä n g e r n : nämlich den dem realen A u t o r entsprechenden u n d derselben Welt wie er angehörenden realen Leser und den dem fiktiven Erzähler entsprechenden u n d derselben Welt wie dieser, nämlich der Welt des jeweiligen fiktiven Geschehens, angehörenden fiktiven Rezipienten. Ein fiktionaler Erzähltext ist somit genaugenommen jeweils in zwei verschiedene Kommunikationssituationen, eine reale und eine fiktive, eingebettet, in die reale als die Erfindung eines realen A u t o r s und das Objekt einer entsprechenden Rezeption seitens realer Leser, d. h. als bar eines sachverhaltsmäßigen Korrelats, und in die fiktive als Erzählung eines fiktiven Erzählers sowie das O b j e k t einer entsprechenden Rezeption seitens fiktiver Rezipienten, d . h . als Wiedergabe von (innerhalb einer fiktiven Welt) geschehenen Sachverhalten. Diese beiden Kommunikationssituationen bestehen freilich nicht unabhängig nebeneinander, sondern sind auf eine bestimmte Weise integrativ miteinander verbunden: die fiktive ist ein P r o d u k t der realen. Der reale

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R. Harweg

Autor nämlich schafft, zugleich mit seinem T e x t , den fiktiven Erzähler u n d der reale Leser, als eine Rolle, in die er hineinschlüpft, den fiktiven Rezipienten. Die Einführung eines fiktiven Erzählers und fiktiver Rezipienten in das Kommunikationsmodell fiktionaler T e x t e , ist, wie wir gesehen haben, hervorgegangen aus der Notwendigkeit, die Existenz sachverhaltsmäßiger Korrelate dieser Texte zu erklären. Diese Notwendigkeit, bei alleinigem Rekurs auf die G r u n d p a r a m e t e r der Kommunikationssituation möglicherweise nicht unmittelbar einsichtig, gewinnt eine geradezu plastische Deutlichkeit, sowie man auf b e s t i m m t e Sekundärparameter, wie z. B. die zeitliche S i t u i e r u n g d e r G r u n d p a r a m e t e r , eingeht, ist doch beispielsweise offensichtlich, daß das durch die für fiktionale Erzählungen so charakteristischen Vergangenheitstempora signalisierte, und zwar, wie ich glaube 3 , unabweisbar signalisierte, Nachzeitigkeitsverhältnis des Senders und der Rezipienten einer fiktionalen Erzählung zu den durch diese abgebildeten Sachverhalten nur durch die Instanz eines fiktiven Erzählers und fiktiver Rezipienten erklärbar ist. Die Vergangenheitstempora — und dazu rechne ich auch eine b e s t i m m t e Variante des Präsens — sind zwar, wie j e d e r m a n n weiß, fiir die fiktionalen Erzählungen charakteristisch, sie sind j e d o c h , auch außerhalb der Figurenreden, nicht die einzigen T e m p o r a solcher Erzählungen. In einigen Erzählungen oder zumindest in bestimmten Teilen von ihnen finden sich beispielsweise auch Gegenwartstempora, also T e m p o r a , die ein Gleichzeitigkeitsverhältnis zwischen Sender und Sachverhalt signalisieren. Beschränken wir uns auf diese beiden Kategorien von T e m p o r a — und das wollen wir, da Z u k u n f t s t e m p o r a in fiktionalen Erzählungen, außerhalb von Figurenreden, äußerst selten zu sein scheinen, 4 im folgenden tun — , so können wir, was die zeitlichen Konstellationen zwischen dem fiktiven Er3 Anders z. B. Harald Weinrich, Tempus - Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart 2 1971, und Kate Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 2 1968, bes. p. 78 ss. Beide sprechen den Tempora die Funktion, Zeitverhältnisse auszudrücken, ab; aber während Weinrich dies für die Tempora schlechthin tut, tut Käte Hamburger dies nur für die Tempora der fiktionalen Literatur - meiner Vermutung nach (denn sie selbst sagt das nicht explizit) nicht zuletzt deshalb, weil sie es unterläßt, einen fiktiven Erzähler und fiktive Rezipienten als die temporalen Bezugspunkte zu etablieren. Sie sieht zwar, daß der reale Autor und die realen Leser als solche Bezugspunkte nicht eigentlich in Frage kommen, aber die Alternative, die sie, wenn ich sie recht verstehe, vorschlägt, nämlich, die Figuren der erzählten Geschichte selber zu solchen Bezugspunkten zu machen, scheint mir ebensowenig in Frage zu kommen. 4 Was die sogenannten Zukunftsromane betrifft, so pflegen auch diese unter Rekurs auf Vergangenheitstempora erzählt zu werden - ein Beweis mehr für die Notwendigkeit der Annahme fiktiver Erzähler und fiktiver Rezipienten. Denn die in den Zukunftsro-

Präsuppositionen und Rekonstruktion

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zähler, den fiktiven Rezipienten und den fiktiven Sachverhalten der fiktionalen Erzählungen betrifft, vier Kategorien von Möglichkeiten unterscheiden, und zwar 1) die, in der der Erzähler sich im Verhältnis der Nachzeitigkeit zu den Sachverhalten und im Verhältnis der Vorzeitigkeit zu seinen Rezipienten befindet 2) die, in der der Erzähler sich im Verhältnis der Nachzeitigkeit zu den Sachverhalten und im Verhältnis der Gleichzeitigkeit zu seinen Rezipienten befindet 3) die, in der der Erzähler sich im Verhältnis der Gleichzeitigkeit zu den Sachverhalten und im Verhältnis der Vorzeitigkeit zu seinen Rezipienten und 4) die, in der der Erzähler sich im Verhältnis der Gleichzeitigkeit sowohl gegenüber den Sachverhalten als auch gegenüber den Rezipienten befindet.

Versucht man, und zwar mit Hilfe der Opposition „räumliches Beieinander" versus „räumliche Getrenntheit", eine Kategorisierung der räumlichen Konstellationen zwischen dem fiktiven Erzähler, den fiktiven Rezipienten und den fiktiven Sachverhalten, so erhält man ebenfalls vier verschiedene Kategorien, nämlich 1) diejenige, in der der Erzähler sich an einem anderen Ort befindet als die Rezipienten und beide wiederum an einem anderen Ort als die Sachverhalte 2) diejenige, in der der Erzähler sich an demselben Ort befindet wie die Rezipienten, aber an einem anderen Ort als die Sachverhalte 3) diejenige, in der der Erzähler sich an demselben Ort wie die Sachverhalte, aber an einem anderen Ort als die Rezipienten befindet und 4) diejenige, in der der Erzähler, die Rezipienten und die Sachverhalte sich alle an ein und demselben Ort befinden 5 .

Eine fünfte Möglichkeit, nämlich die, daß der Erzähler sich an einem anderen Ort befindet als die Rezipienten und die Sachverhalte, diese aber sich an ein und demselben Ort befinden, schließe ich als unrealistisch aus.

manen erzählten Ereignisse müssen für den Erzähler und die Rezipienten ja bereits vergangen sein. Das aber können sie, als Ereignisse von Zukunftsromanen, nicht für den realen Erzähler und viele seiner realen Rezipienten. 5 Die Konzepte Räumliches Beieinander" und „Einheit des Ortes" betreffen das Beieinander im bzw. die Einheit des natürlichen visuellen Umfeldes von Erzähler und Rezipient und tragen damit sowohl die (noch zu erläuternde) Möglichkeit der lokalen Autodeixis als auch die (ebenfalls noch zu erläuternde) Möglichkeit der lokalen Heterodeixis in sich. Räumliche Getrenntheit, im Sinne dieser Konzeption, beginnt damit erst dort, wo die in Rede stehenden Konstellationspole, nämlich Erzähler, Rezipienten und Sachverhalte, einander nicht überlappenden visuellen Feldern oder Umfeldern angehören.

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Prüft man die vier Möglichkeiten zeitlicher und die vier Möglichkeiten räumlicher Konstellationen zwischen den drei in Rede stehenden Grundparametern fiktionaler Kommunikationssituationen auf ihre Kombinierbarkeit zu raum-zeitlichen Konstellationen dieser Grundparameter hin, so stellt man fest, daß letztlich, d.h. bei Einbeziehung von rahmenerzählerisch beschriebenen und auf Kommunikationskanäle wie Brief, Fernsehen und Telefon rekurrierenden Kommunikationssituationen, zwar alle sechzehn der vier mal vier Kombinationsmuster irgendwie möglich sind — so z.B. könnte jemand, der vor einem Fernsehschirm der Originalübertragung eines Fußballspiels folgt, gleichzeitig jemand anders per Telefon den Verlauf dieses Fußballspiels erzählen - , daß aber die meisten dieser sechzehn Kombinationsmuster mehr oder weniger ungewöhnlich sind, einige davon hochgradig. Klammert man darüber hinaus die rahmenerzählerisch beschriebenen Kommunikationssituationen aus, so kommen, wie es scheint, überhaupt nur ganz wenige der sechzehn Kombinationsmuster in Betracht, und unter diesen wenigen gibt es noch einmal zwei Muster, die sich gewissermaßen als die Normalfälle herausheben lassen: ich meine die Kombination aus der zeitlichen Konstellationskategorie (1) und der räumlichen Konstellationskategorie (1) und die Kombination aus der zeitlichen Konstellationskategorie (2) und der räumlichen Konstellationskategorie (2) — zwei Kombinationen, von denen die erstere den Normalfall schriftlicher und die letztere den Normalfall mündlicher Erzählsituationen darstellt, schriftlicher Erzählsituationen, wie sie etwa im Falle von Brieferzählungen und Tatsachenberichten in Illustrierten vorliegen mögen (denn die Verhältnisse in den fiktiven Welten sind möglichst analog denen unserer realen Welt zu konzipieren), und mündlicher Erzählsituationen, wie sie vorliegen mögen, wenn jemand im Freundeskreis einen Schwank aus seiner Jugend erzählt. Welcher dieser beiden Normalfälle im konkreten Einzelfall eines bestimmten fiktionalen Erzähltextes vorliegen mag, ist, bei rahmenlosen Erzählungen, in der Regel nicht explizit gesagt, sondern allenfalls zu erschließen, zu erschließen auf Grund von Kriterien wie z.B. denen des Stils oder auch der relativen Länge einer Erzählung, Kriterien, die allerdings, auf Grund einer gewissen Kulturbereichsabhängigkeit, gewissen Schwankungen unterworfen sein mögen. Eindeutiger, dabei jedoch den soeben genannten unter Umständen zuwiderlaufend, sind Kriterien wie z.B. die Begriffe, mit denen der fiktive Erzähler auf seine Tätigkeit sowie auf seine Rezipienten Bezug nimmt, Kriterien, nach denen z.B. Thomas Manns Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (in dem der fiktive Ich-Erzähler davon spricht, daß er die Feder ergreife, um seine Geständnisse dem geduldigen Papier anzuvertrauen 6 , und 6 Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Stockholmer Gesamtausgabe), o.O. (S. Fischer-Verlag) 1955, p. 9.

Präsuppositionen

und

Rekonstruktion

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den Rezipienten als Leser bezeichnet 7 ) in eine schriftliche und Thomas Manns Erzählung Die vertauschten Köpfe (in der der fiktive Erzähler seine Rezipienten als Zuhörer und als Lauschende bezeichnet 8 ) in eine mündliche fiktive Erzählsituation eingebettet ist.

2.

Die fiktive Erzählsituation, in die Thomas Manns Erzählung Tristan — um die es in diesem Aufsatz geht — eingebettet ist, gehört weder der einen noch der anderen der soeben skizzierten und als die beiden Normalfälle hingestellten Kategorien fiktiver Erzählsituationen an und nimmt damit, wie es scheint, erzählsituationstypologisch eine Sonderstellung ein. Welcher Art diese Sonderstellung ist, will ich im folgenden, auf dem Wege einer Rekonstruktion der in Rede stehenden Erzählsituation — denn diese liegt keineswegs offen zu Tage, sondern ist lediglich aus gewissen Präsuppositionen der (erzählsituationell gleichsam torsohaften) Erzählung erschließbar —, versuchen zu zeigen. Die Rekonstruktion ist eine sozunennende interne Rekonstruktion, das heißt, sie nimmt ihren Ausgang von ausschließlich textinternen sprachlichen Daten, Daten, die sie textlinguistisch interpretiert. Stößt sie bei dieser Interpretation auf Daten, die einander widersprechen — und das wird mehr als einmal der Fall sein — , so betrachte ich als das für die Rekonstruktion relevantere Datum in der Regel dasjenige, das im Ablauf des Textes vorangeht — dies in Anbetracht und in Würdigung der Tatsache, daß ein Text, seinem inneren Wesen nach, ein unidirektionaler Prozeß ist und in diesem Prozeß Vorangehendes steuernd für Nachfolgendes ist. Ein weiteres, aber durchaus sekundäres Kriterium für die Rekonstruktionsrelevanz einander widersprechender Daten ist das quantitative Maß, in dem ein bestimmtes Datum des Textes mit anderen Daten dieses Textes verträglich ist. Da, nach Maßgabe unseres Primärkriteriums, die vorangehenden Textdaten rekonstruktionsrelevanter sind als die nachfolgenden, rekurrieren wir in erster Linie auf die Einleitung der Erzählung und innerhalb dieser Einleitung nach Möglichkeit schon auf den ersten Satz — nach Möglichkeit, das heißt: sofern bereits dieser Satz ein für die Rekonstruktion der Erzählsituation relevantes Datum enthält. Das aber ist der Fall; denn der Anfangssatz der Erzählung, der Satz 7 Thomas Mann, op. cit., p. 150. 8 Thomas Mann, Erzählungen (Stockholmer Gesamtausgabe), o.O. (S. Fischer-Verlag) 1958, p. 712 und 743.

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( Y)Hier ist ,ßinfried", das Sanatorium!9, enthält mit dem Ausdruck hier ein Deiktikon 1 0 , und Deiktika sind für die genannte Rekonstruktion die entscheidendsten Ausdrücke, die es gibt. Das Deiktikon hier, verbunden, wie im Anfangssatz des Tristan, mit einem Gegenwartstempus, bezeichnet ein räumliches Beieinander von Erzähler und Sachverhalt und impliziert zumeist, jedoch nicht immer, auch ein räumliches Beieinander von Erzähler und Rezipient. Dies erkennen wir deutlich, sowie wir uns die verschiedenen Situationen, in denen ein Satz wie dieser, oberflächlich betrachtet, geäußert werden könnte, vergegenwärtigen. Es handelt sich, in abgekürzter Charakterisierung nach „Erzählertypen", um die folgenden fünf: 1) 2) 3) 4) 5)

die die die die die

Fremdenführersituation Jahrmarktschreiersituation Rundfunkreportersituation Tonfilmkommentatorsituation und Moritatenerzählersituation.

Von diesen fünf Situationen sind die Rundfunkreporter- und die Tonfilmkommentatorsituation die einzigen, die kein räumliches Beieinander von Erzähler und Rezipient implizieren. Diese Situationen kommen jedoch als „Erzählsituationen" für Satz (1) bei genauerer Betrachtung nicht in Frage, die erstere deshalb nicht, weil der Ausdruck Winfried", das Sanatorium zu ungenau ist 11 , und die letztere schon aus dem Grunde nicht, weil der Tonfilmkommentator keine Möglichkeit hat, auf die betreffende Filmstelle zu zeigen. Das bedeutet, daß die auf Grund von Satz (1) rekonstruierbare Erzählsituation eine Situation ist, in der zumindest der fiktive Erzähler und die fiktiven Rezipienten räumlich beieinander sind. Doch nicht nur die Rundfunkreporter- und die Tonfilmkommentatorsituation, auch die Jahrmarktschreier- und die Moritatenerzählersituation kommen — obwohl nur sie das Ausrufungszeichen am Ende des Satzes rechtfertigen könnten — als Erzählsituationen für Satz (1) nicht in Betracht, die erstere nicht aus dem einfachen Grunde, weil der Satz in ihrem Rahmen nur auf Transportables bezogen werden kann, und die letztere deshalb nicht, weil das Deiktikon hier in ihr auf ein Bild oder einen Bildausschnitt verweisen 9 Mann, Erzählungen, p. 2 1 6 . 10 Mit dieser Interpretation revoziere ich die Interpretation dieses /»'er-Vorkommens als zweidimensionales Substituens in Roland Harweg, Pronomina und Textkonstitution, München 1 9 6 8 , p. 165. 11 In dieser Ungenauigkeit wäre Satz (1) lediglich, allerdings auch nur mit interpoliertem wieder, bei einer wiederholten Meldung aus dem Sanatorium im Rahmen einer sogenannten Konferenzschaltung denkbar.

Präsuppositionen

und

Rekonstruktion

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müßte, dazu aber, wenn es, wie in Satz (1), nicht aufzählungsartig-antithetisch verwendet ist, nicht in der Lage ist, da Erzähler und Rezipient — anders als vielfach auf Landkarten — auf diesem Bild keinerlei Standort haben und das Deiktikon hier den Standort des Sanatoriums somit nicht, wie semantisch von ihm gefordert 1 2 , in Relation zu dem des Erzählers (und gegebenenfalls auch dem der Rezipienten) bezeichnen kann. Hinzu k o m m t , als ein sekundärer Grund, daß die Moritatenerzählersituation auch bestimmte nachfolgende Deiktika, wie z.B. das lokale Deiktikon hierselbst13 und das temporale Deiktikon Anfang Januar1*, nicht erklären könnte. Bleibt also die Fremdenführersituation, eine Situation, die, angesichts von Satz (1), nicht nur den Erzähler, als den Führer, und die Rezipienten, als die Geführten, sondern auch Erzähler und Rezipienten auf der einen und das Sanatorium auf der anderen Seite räumlich beieinander sein läßt, ja nicht nur räumlich beieinander, sondern darüber hinaus auch zeitlich. Die Fremdenführersituation ist damit eine Situation, deren raum-zeitliches Konstellationsmuster zwischen den drei genannten Größen, Erzähler, Rezipienten und Sanatorium, einer Kombination aus Kategorie (4) der räumlichen und Kategorie (4) der zeitlichen der weiter oben aufgestellen Konstellationskategorien entspricht. Der Fremdenführer könnte, nach Maßgabe von Satz (1), ein öffentlicher oder ein privater und entsprechend auch die Führung eine öffentliche oder eine private sein. Bestimmte nachfolgende Textdaten sprechen jedoch dafür, daß es sich bei dieser Führung um eine private handelt. Wir rekonstruieren also folgende Situation: Ein Privatmann, wohnhaft in der Nähe des Sanatoriums, macht mit einem Besucher von auswärts einen Spaziergang, in dessen Verlauf die beiden auch auf das Sanatorium stoßen. 12 Von dieser Auflage kann das Deiktikon hier, wenn es auf Bildpunkte zeigt, nur dann entbunden werden, wenn es in mehreren, aufzählungsartig-antithetisch miteinander kontrastierenden, d.h. auf verschiedene Punkte ein und desselben Bildes zeigenden Vorkommen auftritt - ein Fall, in welchem die Standorte der gezeigten Gegenstände nicht mit dem Ort des Erzählers, sondern mit den wechselnden Örtem seines auf dem Bilde wandernden Zeigefingers oder Zeigestockes in Beziehung gesetzt werden. Zeigt das Deiktikon hier statt auf Bildpunkte auf ganze Bilder, so bedarf es, entsprechend, eines aufzählungsartig-antithetischen Zeigens auf verschiedene nebeneinander befindliche Bilder. Soll indes nur auf einen Bildpunkt bzw. ein Bild gezeigt wer.den, so muß an Stelle des Deiktikons hier das Deiktikon das hier verwendet werden; man muß also statt *Hier ist Dürer sagen: Das hier ist Dürer; das Deiktikon hier, bezogen auf ein, und nur ein Bild, kann nämlich nur dann verwendet werden, wenn es statt auf das Abgebildete auf die Abbildung verweist - so, wie z. B. in dem Satz Hier ist ein Dürer. 13 Mann, Erzählungen, p. 217. 14 Mann, Erzählungen, p. 218.

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An dieser Stelle unserer Rekonstruktion der Erzählsituation ist es nötig, auf einen weiteren der genannten Sekundärparameter einer Erzählsituation zu rekurrieren, nämlich auf das (echte oder vermeintliche) Wissen des Erzählers um den Stand des Vorwissens des Rezipienten; denn Satz (1) impliziert, mit seinem Ausdruck das Sanatorium, unzweideutig, daß der Erzähler weiß oder annimmt, daß der Rezipient, sein Besucher, das Sanatorium vom Hörensagen bereits kennt. Dieses Wissen des Fremdenführer-Erzählers um die erwähnte Hörensagen-Kenntnis seines Besucher-Rezipienten aber kann — und damit kommen wir zugleich auf das Problem der Rekonstruktion der fiktiven Vorgeschichte dieses Textes — zurückgehen auf mindestens zwei verschiedene Typen von Gesprächssituationen, entweder auf ein früheres, schon längere Zeit zurückliegendes Gespräch zwischen dem Fremdenführer-Erzähler und seinem Besucher-Rezipienten oder auf eine Bemerkung zu Beginn des in Rede stehenden Spaziergangs, eine Bemerkung, in der der Fremdenführer seinem Besucher-Rezipienten avisiert hat, daß sie im Laufe ihres Spazierganges auch noch an einem Sanatorium, namens „Einfried", vorbeikommen würden. Diese Bemerkung wiederum kann entweder eine spontane Information durch den Fremdenführer-Erzähler oder aber eine Antwort desselben auf eine Frage des sich bereits vage informiert zeigenden Besucher-Rezipienten sein. Welcher dieser beiden Möglichkeiten — denn wir wollen uns für eine von ihnen entscheiden 15 — bei der Rekonstruktion der fiktiven Textvorgeschichte der Vorzug gebührt, läßt sich auf Grund von Satz (1) nicht entscheiden, doch scheint es, als ob bestimmte Daten des nachfolgenden Textes 16 leichter erklärbar wären, wenn man sich für die letztere Möglichkeit entschiede. Wörtlich formuliert könnte sich diese Möglichkeit etwa in einem Dialog wie dem folgenden verkörpert haben: (I) 17

Besucher-Rezipient: Sagen Sie mal, gibt es hier in der Gegend nicht auch ein Sanatorium, „Einfried" mit Namen? Fremdenführer-Erzähler: Ganz richtig. Übrigens werden wir gleich noch daran vorbeikommen.

Der Anfangssatz des Mannschen Textes schließt sich, allerdings nicht als Ausruf, sondern mit normaler Lautstärke gesprochen — das Ausrufungszeichen ist deshalb zu streichen — , an diesen Dialog an. Er tut dies jedoch nicht 15 Diese Entscheidung entbehrt freilich nicht einer gewissen Willkür. 16 Diese Daten sind Daten, die ein bestimmtes Vorwissen des Besucher-Rezipienten implizieren. 17 Satzfolgen — und somit auch Dialoge - zähle ich, anders als Sätze, mit römischen Ziffern.

Präsuppositionen

und

Rekonstruktion

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unmittelbar. Das verbietet die für diesen Satz als Anfangssatz eines — etischen18 — Textes anzunehmende Betonungsstruktur, eine Struktur, die durch Akzente auf den Ausdrücken Einfried und Sanatorium gekennzeichnet ist, und diese Betonungsstruktur verlangt nicht nur, daß zwischen der Äußerung dieses Satzes und dem genannten Dialog eine gewisse Zeit- und damit auch Wegesspanne liegt, sondern auch, daß die Weggenossen, wenn sie in der Zwischenzeit ein Gespräch führen sollten, über andere Dinge als das Sanatorium reden 19 . Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht ferner dafür, daß das Sanatorium, wenn es sich schließlich den Blicken der Weggenossen darbietet, in ihrer unmittelbaren Nähe liegt, daß es bis zu diesem Augenblick den Blicken der Weggenossen völlig entzogen gewesen ist. Dies läßt sich schließen aus der Verwendung des Deiktikons hier an Stelle des Deiktikons da hinten. Das Deiktikon hier in Satz (1) ist ein Heterodeiktikon, d.h. ein Deiktikon, dessen Deixisobjekt den Deixispartnern, statt sie zu umgeben, gegenüberliegt. Dem entspricht, zumal mit den nun zwanglos als Bezeichnungen visueller Zeigobjekte interpretierbaren Ausdrücken seinem langgestreckten Hauptgebäude, seinem Seitenflügel, des weiten Gartens, seinen Schieferdächern und die Berge, auch die Perspektive des folgenden Satzes, dennoch aber fügt sich dieser Satz nicht in die auf Grund von Satz (1) rekonstruierte Erzählsituation ein, sondern stellt, textologisch und sprechhandlungstheoretisch gesehen, einen Bruch dar. Dieser Bruch besteht darin, daß er Informationen gibt, und zwar Informationen, wie man sie einem Rezipienten, der, wie unser Besucher, das Objekt selber vor Augen hat, nicht gibt. Will man diesen Bruch beseitigen, so besteht jedoch die Möglichkeit, den propositionalen Gehalt dieses Satzes in einen Aufforderungssatz einzubetten und etwa zu sagen: Sehen Sie nur, wie weiß und geradlinig es mit seinem langgestreckten Hauptgebäude und seinem Seitenflügel inmitten des weiten Gartens ( . . . ) liegt und wie hinter seinen Schieferdächern ( . . . ) die Berge himmelan ragen. Im zweiten Absatz des Textes kommt der Fremdenführer-Erzähler auf den Leiter des Sanatoriums zu sprechen, aber auch dies, wie die verschiedenen Präsuppositionen20 des ersten Satzes dieses Absatzes, des Satzes 18 Als etische Texte bezeichne ich Texte, die durch textexterne Kriterien definiert und delimitiert sind. Der Kontrastbegriff ist „emischer Text". Cf. Harweg, Pronomina, p. 152 ss., und ders., Textanfänge in geschriebener und in gesprochener Sprache, Orbis 17 (1968), p. 3 4 3 - 3 8 8 , bes. p. 344. 19 Cf. dazu Roland Harweg, Die textologische Rolle der Betonung, in: Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Beiträge zur Textlinguistik, München 1971, p. 1 2 3 - 1 5 9 . 20 Die Präsuppositionen sind: 1) daß der Rezipient Doktor Leander bereits, wenn auch nur vom Hörensagen, kennt, 2) daß er weiß, daß Doktor Leander der Leiter des Sanatoriums ist oder dies zumindest für eine bestimmte zurückliegende Zeit gewesen ist,

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(2) Nach wie vor leitet Doktor Leander die Anstalt, zeigen, nicht spontan und unvermittelt, sondern etwa nach folgendem, auf Grund dieses Satzes zu rekonstruierenden und durch den Besucher-Rezipienten auf Grund gewisser Vorkenntnisse — dies der Grund, warum ich mich auch bei der Rekonstruktion der Textvorgeschichte für die Vorkenntnis-Variante entschieden habe — , also auf Grund gewisser Vorkenntnisse initiierten Dialog (II)

Besucher-Rezipient: Übrigens, was den Leiter dieses Sanatoriums betrifft, ist das nicht ein gewisser Doktor Leander? - Fremdenführer-Erzähler: Ganz recht. Besucher-Rezipient: Ich habe allerdings auch mal gehört, das Sanatorium sollte irgendwann einen anderen Leiter bekommen. Das ist dann wohl noch nicht geschehen? ,

einem Dialog, an den sich, mit dem Vorschlag Nein, nein, Satz (2) als Antwort des Fremdenführer-Erzählers anschließt, seinerseits fortgeführt mit dem Interpolat Ein eigentümlicher Mann21 und, daran anschließend, mit dem nächsten Satz des Mannschen Originaltextes. Im dritten Absatz des Textes kommt die Rede auf ein Fräulein von Osterloh, das Faktotum der Anstalt. Doch wie schon auf Doktor Leander und das Sanatorium selber kommt auch auf dieses Faktotum die Rede nicht unvermittelt. Der Ausdruck was Fräulein von Osterloh betrifft (der den Absatz einleitet) präsupponiert nämlich, daß der Fremdenführer-Erzähler weiß oder annimmt, daß sein Besucher-Rezipient auch Fräulein von Osterloh bereits, zumindest vom Hörensagen, kennt, ja mehr noch: er präsupponiert, auch er, wiederum einen kurzen voraufgegangenen Dialog zwischen dem Fremdenführer-Erzähler und dem Besucher-Rezipienten. Dieser Dialog könnte etwa lauten: (III)

Besucher-Rezipient: Übrigens, ist da nicht auch ein gewisses Fräulein von Osterloh in diesem Sanatorium? - Fremdenführer-Erzähler: Ganz recht. Kennen Sie die Dame? - Besucher-Rezipient: Oh, nur vom Hörensagen,

und an diesen Dialog könnte sich, als Gesprächsfortführung des Fremdenführer-Erzählers und präludiert durch ein auftaktartiges Nun, der Ausdruck was Fräulein von Osterloh betrifft anschließen, seinerseits fortgeführt nicht, wie im Originaltext, durch eine Tätigkeitsangabe, sondern durch eine diese Tätigkeitsangabe, und zwar in defusionierter Form, enthaltende und auf Fräulein von Osterlohs Funktion abhebende Eigenschaftsangabe, das heißt fortgeführt 3) daß er einmal gehört hat, das Sanatorium würde womöglich bald einen anderen Leiter bekommen und 4) daß er dies alles dem Erzähler, in irgendeiner Form, mitgeteilt hat. 21 Dieses Interpolat trägt der Tatsache Rechnung, daß man an dieser Stelle zu hören erwartet, was für ein Mann dieser Doktor Leander ist, und nicht unmittelbar, was er tut.

Präsuppositionen

und

Rekonstruktion

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statt durch den Ausdruck so steht sie mit unermüdlicher Hingabe dem Haushalte vor durch den Ausdruck so ist sie die Person, die dem Haushalt vorsteht - und wie sie ihm vorsteht: mit einer Hingabe, die geradezu unermüdlich zu nennen ist. Der nächste Satz, der Satz (3) Mein Gott, wie tätig sie, treppauf und treppab, von einem Ende der Anstalt zum anderen eilt!,22 gibt uns Auskunft über einen gewissen Bestandteil der Lebensgeschichte des Fremdenführer-Erzählers selber. Denn dieser Satz, nicht reine Information des Besucher-Rezipienten, sondern halb selbstgesprächshafte, situationsvergessene Erinnerungsevokation, verrät, daß der Fremdenführer-Erzähler das Sanatorium auch, und zwar am naheliegendsten als Patient, von innen kennengelernt hat, ein Eindruck, der durch die Beschreibung Doktor Leanders im zweiten Absatz nur erst vage aufgekommen, in den folgenden Sätzen dieses dritten Absatzes nur noch verstärkt, ja geradezu zur Gewißheit wird. Trotz der Tatsache, daß der Fremdenführer-Erzähler selber eine gewisse Zeitlang in dem Sanatorium zugebracht haben muß, stellt sich, mit Beginn des folgenden Absatzes, die für die Rekonstruktion der fiktiven Erzählsituation im Tristan höchst bedeutsame Frage, ob der Fremdenführer-Erzähler als fiktiver Erzähler ausreicht. Die Anstöße zu dieser Frage liegen in zweierlei: einmal in dem nunmehr beginnenden Auftreten eines neuen Typus von Deiktika, des Typus der sozunennenden Autodeiktika, und zum andern in der Tatsache, daß die nachfolgenden Äußerungen, auch für einen ehemaligen Patienten des Sanatoriums, zu detaillierte Kenntnisse über die Interna desselben, vor allem für die Zeit seit seiner Entlassung, voraussetzen. Zwar ist — was diese letztere Tatsache betrifft — nicht auszuschließen, daß der Fremdenführer über die Interna des Sanatoriums für die Zeit zwischen seiner Entlassung und der Erzählsituation vom Hörensagen her unterrichtet ist, doch ist die Beschreibung bestimmter Details im Verhalten der Patienten, wie z.B. die Schilderung der Art und Weise, wie die keines Gedankens mehr fähige Pastorin Höhlenrauch seit einem Jahr am Arm ihrer Privatpflegerin durch das ganze Haus irrt, nämlich von einer blöden Unrast getrieben, starr und stumm, ziellos und unheimlich 23 , eher die eines Augenzeugen- als die eines Hörensagenerzählers, und wenn es von dem Tod der sogenannten Schweren heißt, niemand, selbst der Zimmernachbar nicht 2 4 , erfahre etwas davon 25 , so dürfte es sich auch nicht um die Äußerung eines Patienten handeln. 22 Mann, Erzählungen, p. 216. 23 Mann, Erzählungen, p. 217. 24 An Stelle von selbst der Zimmernachbar

nicht (der Ausdruck ist wörtlich übernom-

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Der Anstoß, den die erwähnten Deiktika, die sozunennenden Autodeiktika - das sind Deiktika, die Örter bezeichnen, die dem Ort des Erzählers (und gegebenenfalls auch des Rezipienten) nicht gegenüberliegen, sondern die mit diesem identisch sind oder ihn umgeben — , der Anstoß also, den diese Autodeiktika geben, betrifft nicht nur die Frage nach der Person des Erzählers, er betrifft darüber hinaus auch die Frage des Ortes des Erzählers (und mit ihm des Rezipienten),und mir scheint nun, daß sie nicht nur verlangen, daß der Erzähler im folgenden Teil des Tristan-Textes, wenigstens überwiegend, jemand anders als der Fremdenführer sei, sondern auch, und vor allem, daß der Erzähler und mit ihm der Rezipient sich innerhalb des Sanatoriums befinde. Oder sollte es möglich sein, daß der Fremdenführer-Erzähler, sich mit seinem Besucher-Rezipienten noch an etwa derselben Stelle befindend, von der aus er diesem, mit Hilfe des Heterodeiktikons /n'er von Satz (1), das Sanatorium gezeigt hat, die im vierten Absatz des Tristan-Textes begegnenden Vorkommen des Autodeiktikons hier in dem Sinne verwendete, daß sie nicht nur das Sanatorium und seinen Garten, sondern auch die nähere Umgebung noch umfaßten — etwa so, wie ein bildungsbeflissener Bürger einer Universitätsstadt, auch ohne Bürger der Universität zu sein, unter Umständen sagen könnte: Wir haben hier auch den berühmten Professor Soundso? Nun, ich habe, anders als im Falle der Bürgers der Universität, das — allerdings nicht hundertprozentig sichere — Gefühl, daß es nicht möglich ist, nicht möglich vermutlich deshalb, weil die Patienten eines Sanatoriums in ihrer Eigenschaft als Patienten weniger öffentlichkeitsrelevant sind als die Professoren einer Universität in ihrer Eigenschaft als Professoren, und wenn dieses mein Gefühl im Falle der autodeiktischen hier-Vorkommen, wie gesagt, auch noch nicht hundertprozentig sicher ist, so ist es doch angesichts des im sechsten Absatz des Tristan-Textes begegnenden Autodeiktikons hierselbst von jeglichem Zweifel befreit; denn dieses Autodeiktikon kann auf jeden Fall nur innerhalb des Sanatoriums und wohl auch nur von einem Internen geäußert werden. Sein Gewicht mit in die Waagschale werfend, interpretiere ich denn auch bereits die Autodeiktika des vierten Absatzes ohne Schwanken dahingehend, daß sie innerhalb des Sanatoriums und von einem Internen geäußert werden. Die Textstelle, an der der Fremdenführer-Erzähler seine Erzählerrolle abgibt, liegt zwischen dem ersten und dem zweiten Satz des vierten Absatzes und der Ort, an dem er sie abgibt, etwa am Eingang des Sanatoriums. Der Fremdenführer-Erzähler und sein Besucher-Rezipient müssen sich also zwirnen) müßte es, in diesem Kontext, strenggenommen heißen: nicht einmal der Zimmernachbar. 25 Mann, Erzählungen, p. 217.

Präsuppositionen

und

Rekonstruktion

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schenzeitlich weiter auf das Sanatorium zubewegt haben, und dies wiederum ist kaum ohne verbale Vorbereitung — etwa in Form der Erzähler-Äußerung Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir mal in das Sanatorium hinein. Ich kenne dort nämlich einige Leute - denkbar. Am Sanatorium angelangt, aber noch im Freien (so daß man sich ihn demonstrativ den Sauerstoff, auf den er hinweist, einsaugend denken kann), äußert der Fremdenführer-Erzähler noch den ersten Satz des vierten Absatzes und müßte dann seinem Nachfolger begegnen — einem Internen, den er von seinem eigenen Sanatoriumsaufenthalt her noch gut kennt und den man sich am besten als eine Art von Pfleger vorstellt. Diesem stellt er, nach kurzer Begrüßung, seinen Besucher-Rezipienten vor und sagt dann etwa: Ich sagte gerade zu Herrn Meier (dies sei der Name des Besucher-Rezipienten), für Lungenkranke ist „Einfried" ja wohl aufs wärmste zu empfehlen - eine Bemerkung, die der Pfleger aufnimmt mit den Worten: Richtig. Aber (und mit diesem Wort geht das Original weiter) es halten sich nicht nur Phthisiker (ein Wort, das, als textologische Wiederaufnahme des Wortes Lungenkranke normalerweise nicht ganz korrekt 2 6 , durch die Annahme besagten Erzählerwechsels eine geradezu feinsinnig-hintergründige Rechtfertigung erfährt), es halten sich Patienten aller Art, Herren, Damen und sogar Kinder hier auf. Der Pfleger-Erzähler nennt sodann, indem er (in textgrammatisch nicht völlig korrekter Handhabung des stilistischen Variationsprinzips) aus der Aufzählung von Patiententypen in eine Aufzählung von Vorgängen überwechselt und dabei schließlich auch noch das Autodeiktikon hier unterschlägt 27 , einige der in Einfried sich aufhaltenden Patiententypen und Patienten bei Namen. Die Namensnennungen der letzteren erfolgen dabei in einer Form, die die Patienten als bei den beiden Rezipienten bekannt voraussetzt, einer Form, die in deutlichem Gegensatz, ja Widerspruch steht zu der keinerlei Vorwissen der Rezipienten präsupponierenden Erzählhaltung, die der Pfleger-Erzähler ansonsten einnimmt. Dieser Widerspruch kann, will man die Namensnennungen nicht von jener Voraussetzung befreien und an die Stelle der Ausdrücke wie die Magistratsrätin Spatz und die Pastorin Höhlenrauch die Ausdrücke so zum Beispiel eine Magistratsrätin, namens Spatz bzw. eine gewisse Pastorin Höhlenrauch setzen, nur so beseitigt werden, daß man annimmt, daß der Pfleger-Erzähler sich einmal an den einen und ein andermal an den andern seiner 26 Cf. Harweg, Pronomina, p. 211. 27 Durch diese Unterschlagung wirken die davon betroffenen Sätze Mehrere Herren mit entfleischten Gesichtern werfen auf jene unbeherrschte Art ihre Beine, die nichts Gutes bedeutet und Eine ßnfzigjährige Dame ( . . . ) irrt ( . . . j durch das ganze Haus für mein Gefühl an der betreffenden Stelle nicht ganz korrekt.

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beiden Rezipienten wendet, daß er, wenn er sagt: Es gibt hier gastrisch Leidende, in Richtung des keinerlei Kenntnisse über den Patientenbestand des Sanatoriums besitzenden Besucher-Rezipienten blickt und spricht, daß er aber, wenn er fortfährt: wie die Magistratsrätin Spatz, Blick und Rede, etwa mit der zu interpolierenden Ergänzung nicht wahr, Herr Schmidt (dies sei der Name des Fremdenführers), dem die Rätin von seinem eigenen Sanatoriumsaufenthalt her bereits kennenden Fremdenfiihrer-Rezipienten zuwendet — und bei dem Übergang von dem Ausdruck eine fünfzigjährige Dame zu dem Ausdruck die Pastorin Höhlenrauch ganz genau so 2 8 . Namensnennungen, die den Namensträger bei den Adressaten als bekannt voraussetzen, sind auch die — innerhalb der Rede des Pfleger-Erzählers ersteingeführten — Ausdrücke Doktor Leander und Fräulein von Osterloh im vierten bzw. sechsten Absatz des Tristan-Textes. Aber diese Ausdrücke sind, anders als die Ausdrücke wie die Magistratsrätin Spatz und die Pastorin Höhlenrauch, nicht parenthetischer Natur und erlauben somit auch nicht jenen gleichsam parenthetischen Blick- und Redeschwenk des Pfleger-Erzählers von dem Besucher- auf den Fremdenführer-Rezipienten. Sie müssen deshalb entweder ersetzt oder ergänzt werden, ersetzt durch oder ergänzt um die Ausdrücke unser Chef bzw. unserm Faktotum. Dabei ist jedoch der Ergänzung der Vorzug zu geben, da sie und nur sie eine entsprechende Behandlung der Ausdrücke Doktor Leander im sechsten und Herrn Doktor Leander im siebten Absatz überflüssig macht. Der Erzähler und seine Rezipienten befinden sich, auch zum Zeitpunkt dieser letzteren Namensnennungen, weiterhin am oder im Sanatorium, also jedenfalls auf dessen Terrain. Das zeigen deutlich die verwendeten Deiktika, am deutlichsten, gewissermaßen als eine Art von Schlüsseldeiktikon, das bereits genannte Autodeiktikon hierselbst, dann aber auch das Autodeiktikon hier, auf das der Erzähler rekurriert, wenn er von einem sich in Einfried aufhaltenden Schriftsteller sagt, daß er „hier dem Herrgott die Tage stiehlt". An einigen Stellen freilich ist die Deixis nicht deutlich genug herausgearbeitet — so, wenn der Erzähler von dem „Portier, am Eingange des Seitenflügels" spricht und nicht von dem „Portier, am Eingang des Seitenflügels dort" (d.h. „dort" oder „hier", je nach Standort der Gruppe, aber doch wohl eher „dort", da sonst eine direktere Bezugnahme auf den Portier, nämlich durch den Ausdruck der Portier hier, am Platze gewesen wäre); so ferner, wenn der Erzähler, etwas unkorrekt, sagt: Sogar ein Schriftsteller ist da und nicht, wie es korrekt heißen müßte, Sogar ein Schriftsteller ist hier (denn der Ausdruck da, obwohl nicht im Sinne von dort, sondern eher im Sinne von anwesend 28 Cf., für die Zitate dieses Absatzes, Mann, Erzählungen, p. 217.

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Rekonstruktion

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verwendet, ist dennoch nicht akzeptabel, da er zugleich die Nuance des Gekommenseins impliziert, und zwar eines Gekommenseins, das zudem als das Ergebnis eines zuvor bereits diskutierten Kommens zu interpretieren ist) — und so schließlich auch, wenn der Erzähler sagt: Übrigens ist, neben Herrn Doktor Leander, noch ein zweiter Arzt vorhanden und nicht: Übrigens haben wir hier, neben Herrn Doktor Leander, noch einen zweiten Arzt29. Der Sprecher der zweiten Version des zuletzt genannten Satzes, ist, wie sollte es anders sein, der Pfleger-Erzähler. Halten wir jedoch an der ersteren, der Originalversion fest, so könnte er — da wir ja, zumindest für gewisse Inhalte, zwei Erzähler zur Verfügung haben — auch und meines Erachtens mit noch größerer Wirkung der Fremdenführer-Erzähler sein. Dabei müßte freilich die unmittelbare Fortsetzung dieser Bemerkung, der Ausdruck für die leichten Fälle und die Hoffnungslosen, eingeleitet von dem zu interpolierenden Kommentar ja richtig, bereits wieder aus dem Munde des Pfleger-Erzählers kommen, und es müßte auch der Pfleger-Erzähler sein, der dann schließlich, mit einem augenzwinkernd-skurrilen Humor, noch anmerkt: Aber er heißt Müller und ist überhaupt nicht der Rede wert30. Im Anschluß an diese letzte Bemerkung findet sich im Text — als graphisches Signal für den Übergang von der Milieuschilderung zu der Erzählung einer Geschichte, die sich in diesem Milieu zugetragen hat — ein etwas größeres Leerzeilenkontingent. Dieses Leerzeilenkontingent ist, im Sinne der Rekonstruktion des genannten Übergangs im Rahmen der beschriebenen Erzählsituation, ausgefüllt zu denken durch folgende Bemerkung des PflegerErzählers: Übrigens, da ich gerade von dem Schriftsteller gesprochen habe, der hier dem Herrgott die Tage stiehlt - da hat sich doch vor nicht allzu langer Zeit eine seltsame Geschichte hier zugetragen, eine Bemerkung, an die sich, nach Interesse- und Neugiersbekundungen zumindest des Besucher-Rezipienten, die im Original abgedruckt folgende Erzählung anschließt. Die mit dieser Erzählung beginnende Erzählsituation ist, erzählsituationstypologisch gesehen, von anderer Art als die bisher beschriebene. Zwar sind Erzähler und Rezipienten weiterhin räumlich und zeitlich beisammen, von den Sachverhalten aber, den Ereignissen, sind sie — das deuten bereits die Vergangenheitstempora an — von nun ab getrennt, und auf Grund dieser — wenn auch nur zeitlichen — Getrenntheit stellt die neue Erzählsituation nicht mehr, wie die bisherige, eine Kombination aus Kategorie (4) der räumlichen und Kategorie (4) der zeitlichen der auf den ersten Seiten dieses Aufsatzes aufge29 Cf. Mann, Erzählungen, p. 2 1 7 s. 3 0 Mann, Erzählungen, p. 218.

R. Harweg

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stellten und die Konstellation zwischen Erzähler, Rezipient und Sachverhalt betreffenden Konstellationskategorien, sondern eine Kombination aus Kategorie (4) der räumlichen und Kategorie (2) der zeitlichen jener Konstellationskategorien dar. Die Bezeichnung des Zeitpunktes des Beginns der Geschichte geschieht auf die gleiche Weise wie die Bezeichnung des Ortes zu Beginn der Milieuschilderung, nämlich durch ein Deiktikon; denn die Bezeichnung, mit der der Erzähler den Beginn der Geschichte zeitlich situiert, der Ausdruck Anfang Januar31, bedeutet, in Verbindung mit dem ihn seinerseits situierenden Vergangenheitstempus, unzweideutig „Anfang Januar dieses Jahres" und ist damit, auch sie, nur zu verstehen und zu akzeptieren, wenn man sie geäußert sieht innerhalb jener fiktiven Erzählsituation, die wir rekonstruiert haben. Nicht nur die Datierung des Beginns der Geschichte, auch die Datierungen ihres weiteren Verlaufs, die Ausdrücke Ende Februar32, am 26. Februar, am 27. und am 28.33, sind Deiktika, auch sie verlangen, implizit, die Ergänzung durch den Ausdruck dieses Jahres, jenen Ausdruck, dessen Denotat, neben der Geschichte, auch die Erzählsituation umschließt, und zwar umschließt in jenem Teil, der eine unbestimmte, aber nicht zu große Anzahl von Tagen nach dem 28. Februar, frühestens jedoch, wie der Beschreibung des letzten Nachmittags der Geschichte entnommen werden kann 3 4 , mit der Belaubung der Bäume und Sträucher beginnt. Neben diesen temporalen enthält die Erzählung der Geschichte auch noch einige eindeutige lokale und personale Bezugnahmen auf die rekonstruierte Erzählsituation: an personalen Bezugnahmen den unpersönlichen Ausdruck man in der Äußerung Man vergegenwärtige sich einen Brünetten am A nfang der Dreißiger ( . . . )3S sowie den inklusiv-persönlichen Ausdruck wir in der Frage Waren wir schon so weit, daß Herr Klöterjahn in die Heimat zurückgekehrt war? 36 und an lokalen Bezugnahmen z.B. den — mit seinem Bestandteil oben in konventionelle Landkartenperspektivik hinüberweisenden — Ausdruck dort oben am Ostseestrande37 sowie die Ausdrücke die Tür dort hinten38 und an der Tür dort hinten39. 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Mann, Mann, Mann, Mann, Mann, Mann, Mann, Mann, Mann,

Erzählungen, Erzählungen, Erzählungen, Erzählungen, Erzählungen, Erzählungen, Erzählungen, Erzählungen, Erzählungen,

p. p. p. p. p. p. p. p. p.

218. 237. 248. 261. 223. 226. 221. 247. 248.

Präsuppositionen und Rekonstruktion

183

Die beiden letztgenannten Ausdrücke sind, da sie nicht, der erstere nur schwerlich, der letztere aber überhaupt nicht, im Sinne erlebter Rede interpretierbar sind, zugleich Indizien für den genauen O r t der Erzählsituation, den O r t , an dem sich der Erzähler u n d seine beiden Rezipienten, wenigstens an diesem P u n k t e der Erzählung, b e f i n d e n : Es ist das Zimmer, aus dessen Perspektive die genannten Ausdrücke zu verstehen sind, das Konversationszimmer, genauer: die Stelle, an der das Klavier gestanden hat und vermutlich noch steht. „Und vermutlich noch steht" — für das Klavier ist die Identität seiner Standorte, das heißt seines Standortes während der erzählten u n d seines Standortes während der Erzählzeit, nur zu vermuten. Für die durch den Ausdruck die Tür dort hinten bezeichnete Tür demgegenüber ist sie als sicher a n z u n e h m e n . Das aber b e d e u t e t , daß der diesen Ausdruck näher charakterisierende Relativsatz die zum Korridor führte40 nicht im Präteritum stehen darf, sondern im Präsens zu stehen hat — ähnlich wie z.B. die Parenthese denn es führte keine Anfahrt zum Hause41, ein Ausdruck, der j e d o c h aus der Perspektive der rekonstruierten Erzählsituation, außer mit Einfügung der Vorwissen beschwörenden Partikel ja (hinter dem - bereits substituierten - Präsens führt), gar nicht mehr formulierbar ist, ebensowenig wie gewisse Teile der Beschreibung des Konversationszimmers auf p. 2 2 8 — es sei d e n n , der Erzähler stellte vergleichend Bezüge z u m Z e i t p u n k t der Erzählsituation her, etwa, indem er sagte: Das Konver-

sationszimmer war, wie noch heute, geräumig und schön.

3. Aus diesen auf K o r r e k t u r e n am Mannschen T e x t hinauslaufenden Bemerkungen geht, wie auch aus einer Reihe verwandter Bemerkungen im vorstehenden, deutlich hervor, daß die R e k o n s t r u k t i o n von mehr oder weniger impliziten, fiktiven Erzählsituationen (wie deren eine in T h o m a s Manns Tristan vorliegt) innerhalb des Textes auf mancherlei die Erzählsituation b e t r e f f e n d e Widersprüche stoßen k a n n , Widersprüche, die weder dem realen A u t o r noch seinen realen Lesern b e w u ß t zu sein pflegen und die erst recht nicht, wie vielfach dem A u t o r zuliebe angenommen wird, von diesem beabsichtigt sein müssen. Daß diese Widersprüche auch d e m realen A u t o r nicht b e w u ß t sind oder gewesen sind, hängt damit zusammen, daß dieser, als er seinem fiktiven Erzähler das Wort erteilte, ein kompromittierend-halbherziges Verhältnis zur 40 Mann, Erzählungen, p. 247. 41 Mann, Erzählungen, p. 218.

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fiktiven Erzählsituation hatte, und es ist diese — wie auch immer motivierte — Halbherzigkeit, auf die jene erzählsituationellen Ungereimtheiten, im Tristan und anderswo, zurückgehen mögen. Zu Tage treten solche Ungereimtheiten in der Regel erst dann, wenn man versucht, die auch für das Auge des Analysators zunächst nur leitfossilienhaft, nämlich im wesentlichen an den verwendeten Deiktika, erkennbare implizite fiktive Erzählsituation zu rekonstruieren. Ich für meinen Versuch am Beispiel des Tristan jedenfalls muß bekennen, daß ich, als ich mit diesem Versuch begann, die Erzählung bereits etliche Male gelesen hatte, ohne daß mir auch nur eine einzige dieser Ungereimtheiten zu Bewußtsein gekommen gewesen wäre. Das Ergebnis dieses Rekonstruktionsversuchs ist, im Falle des Tristan, der Aufweis eines verborgenen textuellen Rahmens. Das bedeutet, daß die Erzählung in jener der Rekonstruktion ihrer Erzählsituation noch harrenden Form, die ihr ihr realer Autor, nämlich Thomas Mann, verliehen hat, eine verstümmelte und damit zugleich verkappte Rahmenerzählung ist. Die Rekonstruktion dieser Rahmenerzählung hat, wie wir gesehen haben, einen mündlichen und zudem nichtprofessionellen Erzähler zu Tage gefördert. Für einen solchen aber erzählt der Erzähler des Tristan entschieden zu flüssig, zu elaboriert und zu planvoll, mit einem Wort: zu literarisch — theoretisch betrachtet zweifellos eine weitere Ungereimtheit 4 2 . Aber diese Ungereimtheit hat, im Unterschied zu den anderen von mir aufgewiesenen Ungereimtheiten, die, wenn man so will, fatale Eigenschaft, nicht eigentlich beseitigt werden zu können, und zwar weder von der Seite der eingebetteten Erzählung noch von der des sie einbettenden (und teilweise rekonstruierten) Rahmens her: von der ersteren her nicht, weil die Änderungen im Erzählstil des Erzählers allzu tiefgreifend sein müßten, und von der letzteren her nicht, weil eine Beseitigung des Rahmens dem textimmanenten Prinzip der Dominanz der vorangehenden Textteile über die nachfolgenden zuwiderliefe. Wir müssen diese Ungereimtheit also hinnehmen — hinnehmen, wie wir es bisher immer und auch ohne, daß Rekonstruktionen im Spiele gewesen wären, getan haben, wenn wir keinerlei Anstoß nahmen an literarisch überhöhter Figurenrede, an Versen im Drama oder auch an — originalen, d.h. nicht rekonstruierten — Rahmenerzählungen nichtprofessioneller mündlicher Erzähler. Andererseits ist — und dies ist die Kehrseite solcher Rekonstruktionen — nicht auszuschließen, daß Rekonstruktionen von der Art der vorgeführten den Effekt haben können, die künstlerisch-ästhetische Wirkung der Texte, 4 2 Zu bedenken wäre hier ferner auch noch der ganze Fragenkomplex der Wissenserlangungspotenz des Erzählers, doch klammere ich diesen Komplex an dieser Stelle bewußt aus.

Präsuppositionen und Rekonstruktion

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auf die sie angewandt werden, mehr oder weniger stark zu schwächen — so, wie es denn ja auch sonst, in anderen Bereichen der Kunst, bisweilen vorkommen mag, daß ein Gebilde als Torso eine ungleich stärkere Wirkung auf uns ausübt als in seiner etwaigen Ganzheit. Es kann demzufolge — u n d das m u ß mit aller Deutlichkeit gesagt werden — auch nicht die Absicht solcher Rekonstruktionen sein, irgendetwas für die Steigerung der künstlerisch-ästhetischen Wirkung des b e t r e f f e n d e n Textes zu leisten. Was sie anstreben, ist somit einzig und allein die Vertiefung unserer Einsichten in die S t r u k t u r von T e x t e n sowie die allgemeinen Gesetze des Erzählens, die ihnen zugrunde liegen.

Peter Chr. Kern Textreproduktionen Zitat und Ritual als Sprachhandlungen

Reproduzierte

Texte

Der Normalfall mündlicher Kommunikation ist, daß der Text sich unmittelbar und ad hoc aus der Redekonstellation ergibt, daß er „spontan" entsteht. Je nach Zahl, Art und Grad der beteiligten Faktoren der Redekonstellation entstehen unterschiedliche Textexemplare, und es macht gerade die Schwierigkeit der linguistischen Beschreibung aus, daß zuviele psychologische, soziologische, thematische und situative Elemente zu berücksichtigen sind, als daß man einen konkreten Text vollständig erfassen könnte. 1 Wenn die Situationskomplexität, zu der vor allem das persönlich-individuelle Beteiligtsein der Kommunikationspartner gehört, nicht ihren adäquaten Ausdruck in einer ebenso komplexen Textstruktur findet, dann wird die Äußerung und/oder der Sprecher diskriminiert durch die bekannten umgangssprachlichen Bezeichnungen wie „Klischeevorstellungen", „Inoriginalität", „Allgemeinplätze", „Phrasendrescherei" usw. Diese Werturteile beruhen auf der richtigen Einsicht des Hörers, daß ein Text, der „nur" wiederholt, re-produziert, was schon einmal so gesprochen wurde, der je neuen Eigenart der Sprachsituation nicht angemessen sein kann und darum auf ein unreflektiertes, unverantwortliches Sprachhandeln des Sprechers schließen läßt. Freilich nur, wenn der Hörer glaubt, der Sprecher wisse nicht um die Inoriginalität seiner Formulierungen; die Äußerung wird sofort einen völlig anderen kommunikativen Stellenwert einnehmen, wenn man weiß, der Einsatz vorgeprägter Textmuster geschehe bewußt. 1 Sie sind aus diesem Grund nicht logisch analysierbar, nur nachvollziehend beschreibbar. Daraufhat zuletzt überzeugend B. Switalla hingewiesen: „Methodische Verständigung über Handlungsverstehen und sprachliches Handeln scheint mir nur über die Thematisierung derartiger Verstehenskonflikte vom Standpunkt des gedanklich mithandelnden Dritten aus möglich zu sein; anders gesagt: theoretisches Verstehen sprachlich vermittelter Interaktionen, sprachlicher Handlungen setzt praktisches (Mit-)Verstehen voraus." (B. Switalla, Zu handlungslogischen Implikationen linguistischer Aussagen, In: Studien zur Texttheorie und zur deutschen Grammatik, hrg. von H. Sitta und K. Brinker, Düsseldorf 1973, p. 175).

Textreproduktionen

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Dieser letztgenannte Fall soll hier näher untersucht werden, allerdings nicht im Rahmen jenes komplizierten dialektischen Steuerungsprozesses von alter und ego, von antizipierter und tatsächlicher, expliziter und impliziter Reaktion, wie das für umfassende Sprachhandlungsanalysen notwendig wäre 2 ; ich glaube nicht, daß der Sachverhalt verfälscht wird, wenn die folgenden Überlegungen den Sprecher in den Vordergrund rücken, der einen festgelegt-vorgeprägten Text bewußt re-formuliert und damit rechnet, daß der Hörer das auch weiß. Selbstverständlich sind alle, auch alle spontanen sprachlichen Äußerungen unbewußt mustergeprägt und jeder Text ist nichts anderes als eine je-spezifische Kompilation solcher Wiederholungen von grammatischen und sprechaktlichen Mustern; das ist hier jedoch nicht angesprochen, denn wir setzen voraus, daß der Sprecher sich seiner Musterbezogenheit bewußt ist und in voller Absicht so sprechhandelt. Das kann mehrere Gründe haben: soziale, ökonomische, verweisende und rituelle. Soziale in jenen Fällen, wo jemand die Diktion seines Partners oder der Partnergruppe bis in Einzelheiten nachahmt (und so zwangsläufig das eine- oder anderemal ganze Sprachhandlungen nach Mustern ablaufen); ökonomisch bedingt sind Prägungen, wo vom Thema oder der Situation her sich Wiederholungen anbieten („Vom Süddeutschen Rundfunk hören Sie jetzt Nachrichten", „Betreten verboten"), wo aber durchaus die Möglichkeit bestünde, durch individuelle Variationen den Text zu verändern. Von diesen beiden nur kasuell reproduzierenden Typen unterscheiden sich die beiden anderen. Der Sprecher weiß nicht nur um die Vorgeprägtheit des Textes, er ist auch gehalten, ihn unverändert zu wiederholen: Zitat und Ritual. Der Unterschied dieser beiden liegt vor allem im Verbindlichkeitsanspruch und ist daher sprechakttheoretischer Natur. Während im Zitat eine vorgeprägte Äußerung (Text oder Teiltext) 3 nur wiederholt wird und der Sprecher für sich nicht in Anspruch nimmt, voll verantwortlich dafür zu sein, findet eben diese Identifikation mit dem Text beim Ritual statt (vgl. „Im Namen des Gesetzes sind Sie verhaftet"; „Und ich als beauftragter Diener der Kirche verkünde Euch hiermit die Vergebung all Euerer Sünden"; „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird . . . "; „Und somit erkläre ich die 10. Olympischen Spiele für eröffnet"; „XY hat sich um den Staat verdient ge2 Vgl. hierzu vor allem den kritischen Überblick, den Hans Haferkamp zu den Theorien des symbolischen Interaktionismus gibt (H. Haferkamp, Soziologie als Handlungstheorie, Düsseldorf 1972). 3 Als Text verstehe ich unter Umgehung der aktuellen Diskussion im Sinne der Umgangssprache jedes von einer Person erzeugte, kontinuierliche Sprachprodukt, das nicht unbedingt abgeschlossen sein muß; auch Teile einer Äußerung (ein Wort, ein Satzbruchstück, aber auch Satzkomplexe) können Text sein.

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P. Kern

macht"). Beiden gemeinsam ist, daß die Textgestalt prinzipiell unverändert ist. Im „Zitat" ist das (abgesehen vom Sonderfall der Travestie) ohnehin selbstverständlich. Das „Ritual" wurde in letzter Zeit, vor allem in handlungstheoretischen Zusammenhängen, gleichbedeutend mit „schabionisiert" verstanden („Rituale des Alltags" usw.), wodurch sich eine Vermischung mit dem ergab, was ich ökonomisch bedingte Musterbezogenheit nenne. Ich möchte in seinem ursprünglichen Sinn definieren, wie er heute noch in krichlichen und zum Teil in politischen amtlichen Handlungen praktiziert wird, nämlich Musterhaftigkeit als conditio sine qua non des Vollzugs. Zitat und Ritual sind Extremfälle, die jeweils eine sehr spezielle Sprechhaltung voraussetzen, deren Untersuchung aber auch dem besseren Verständnis jener Äußerungen dienen kann, die weniger rigid musterbezogen sind.

Faktoren der

Sprachhandlung

Da der Unterschied zwischen Zitat und Ritual in erster Linie ein sprachhandlungsbedingter ist, sollen einige theoretische Bemerkungen hierzu vorausgeschickt werden. Daß die Austin/Searlesche Differenzierung des Sprechaktes in einen (wie immer benannten) inhaltlichen und einen intentionalen Teil in mehrfacher Hinsicht ergänzungsbedürftig ist, hat die Diskussion der letzten Jahre deutlich gemacht. Fundamentale Forderungen waren die nach einer prinzipiellen Einbeziehung des Hörers als antizipierten Sprechers, der Dialektik des Kommunikationsvorgangs überhaupt. Darüber hinaus bemühte man sich um eine Differenzierung der Dichotomie Illokution-Proposition selbst, angesichts der unbefriedigenden Ergebnisse, die mit diesem Zweierschema erzielt werden können. So hat sich gezeigt, daß für die Proposition einer Äußerung Existenzmodalitäten einbezogen werden müssen, die nicht durch die Illokution abgedeckt werden: Faktoren des Gültigkeitsanspruchs, der dem propositionalen Inhalt vom Sprecher zugemessen wird (ob der Inhalt einer Proposition als vorhanden oder möglich, als notwendig oder möglich, als wünschenswert oder existent anzusetzen ist). Ernst Ulrich Große hat hier mit seinem Begriff der „metapropositionalen Basis" eine überzeugende Ergänzung vorgeschlagen: Zwischen den „performativen Modus" und die Proposition setzt er sie als Steuerungsniveau, das den modalen Status der Proposition b e s t i m m t 4 , 4 „Metapropositionale Basis" heißt hier also: vom Sprecher geschaffene Verstehensbasis, die dem Kommunikationsgeschehen zugrundeliegen soll. Sie signalisiert dem Hörer, als was (z.B. „wirklich", „möglich", „gewollt") er das, worüber der Sprecher spricht, verstehen soll. „Metapropositional" steht zu „propositional" im gleichen

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Textreproduktionen

wobei er vier Alternativen unterscheidet: ASS = assertorische Behauptung, SUBJ = Meinungskundgabe, V O L = Wunschäußerung u n d OBL = verpflichtende Ä u ß e r u n g 5 . Ein Satz „Wir dürften in Quiberon sein" würde demnach auf folgendes Strukturschema zurückzuführen sein: performat. Modus ICH

INT

TQ 5 a

Ich teile mit (ohne Appell)

metaprop. Basis

Proposition

SUBJ

X

ich glaube

Wir sind in Quiberon

Für G r o ß e ist das zunächst ein Beschreibungsmodell; ich m ö c h t e es allerdings eher als das Modell einer kommunikativen Tiefenstruktur verstehen, die zu zahlreichen Textalternativen transformiert werden kann ( „ I c h glaube/meine/ vermute, daß wir in Quiberon sind"; „Wir sind wohl/wahrscheinlich/allem Anschein nach/vermutlich in Quiberon"; „Ich sage dir, wir sind in Q u i b e r o n " usw.) 6 . Der Zusatzaspekt der metapropositionalen Basis m a c h t es möglich, eine Reihe von T e x t m e r k m a l e n (manche I n t e r j e k t i o n e n u n d Adverbien usw.) zu berücksichtigen, die in sprechakttheoretisch orientierten Textbeschreibungen verlegen übergangen w u r d e n , weil sie nicht eindeutig zuzuordnen waren. Es ist eine Ebene, die bisher weder durch die Proposition (die logische Relationen ausdrückt) noch durch die Illokution (die die Redeabsicht, nicht aber den Modalstatus des Inhalts erfaßt) abgedeckt waren. Verhältnis wie „metasprachlich" zu „sprachlich". „Metapropositional" bedeutet jenseits der Proposition, auf einem völlig anderen Niveau . . . " (E. U. Große, Texttypen. Linguistik gegenwärtiger Kommunikationsakte [preprint], Stuttgart 1974. p. 93). 5 Vgl. Große, op. cit., p. 56. 5a TQ (= tel quel) signalisiert in einer Äußerung, daß sie keine appellative Funktion (A) hat. 6 „Die metapropositionale Basis kann in geäußerten Sätzen oder Satzfolgen auf die verschiedenste Weise ausgedrückt sein: als Präsatz (ich glaube/vermute/meine, wir sind in Quiberon; möglich, daß wir in Quiberon sind); als Insatz oder Parenthese (wir sind, glaube ich, in Quiberon; wir sind meiner Meinung nach in Quiberon; wie sind möglicherweise/wahrscheinlich/vielleicht in Quiberon); als Postsatz (wir sind in Quiberon, glaube ich); durch spezielle modale Verben und Verbformen (wir könnten, dürften jetzt in Quiberon sein, wir müßten nun in Quiberon sein; beide Sätze werden hier als Vermutungen angesehen, d.h. als durch Kontext und Situation monosemiert)." (cf. Große, op. cit., p. 56).

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P. Kern

Ich kann allerdings nicht ganz damit einverstanden sein, wie Große diesen Aspekt in ein umfassendes Beschreibungssystem einbaut. Die durch die metapropositionale Basis modalisierte Proposition koppelt er an drei (alternative) performative M o d i 7 , den bewirkenden (CAUS), den demonstrativen (DEM) und den eine Absicht kundgebenden (INT). Wenn DEM = „durch ein Mittel zeigen" die Kundgabe eines Sachverhalts (im Unterschied zu der Kundgabe einer Absicht) meint, dann sind die drei Modi gleichzusetzen mit den herkömmlich als Bewirken, Mitteilen und Auffordern benannten Sprachhandlungen. Meint DEM dagegen so etwas wie „Selbstdarstellung", dann enthält das soviel „Absicht", daß es nicht in Opposition zu INT stehen dürfte. Ich ziehe deshalb die herkömmliche Einteilung vor, stimme allerdings mit Große überein in der Unterordnung der „Frage unter die Aufforderungen" 8 (eine Frage ist die Aufforderung zur sprachlichen Handlung, nämlich der Mitteilung). Die drei Grundformen sprachlichen Agierens (MITT; AUFF; CAUS) 9 verhalten sich nun unterschiedlich in ihrer Verknüpfung mit der Proposition. Im Bewirkungsakt CAUS kann es keine metapropositionale Differenzierung geben: man bewirkt etwas oder bewirkt es nicht. Die Olympischen Spiele sind mit der Eröffnungsformel nicht eventuell oder hoffentlich oder notwendigerweise, sondern eben nur „eröffnet"; das ist nicht von Vorbehalten, Einschränkungen, Wünschen u. dgl. gesteuert; das Glücken oder Mißglücken hängt nicht von Intentionen des Sprechers ab, sondern einzig vom Konsensus der Betroffenen mit der Aktion und ihrem Effekt, also von der Stabilität des Strukturzusammenhangs, in dem durch CAUS eine Veränderung vorgenommen wird. Demnach bleibt hier die Stelle der Metaproposition leer. 10 Ähnliches gilt für Aufforderungen. Da sie direkt den Kommunikationspartner und nicht ein tertium betreffen (Objekt der Performation und Subjekt der Proposition sind referenzidentisch), wäre eine Differenzierung nach Gültigkeitsmodalitäten unsinnig. Das DU steht ja nicht in Frage, sondern ist persönlich anwesend, essentieller Bestandteil der Redesituation und als solcher nicht Modalitäten in Hinblick auf Wünschbarkeit oder Denkbarkeit unterworfen. Auch die Großesche Unterscheidung von VOL und OBL trifft nicht 7 Vgl. Große, op. cit., p. 54 s. 8 Dies im Unterschied zu Maas, der die drei prinzipiellen Sprachhandlungen Auffordern, Mitteilen, Fragen (unter Vernachlässigung von Bewirken) auffuhrt und in ein handlungstheoretisches Gesamtkonzept integrieren will (cf. U. Maas, Sprachliches Handeln, in: Funkkolleg Sprache II, Frankfurt a. M. 1973, p. 144). 9 Man müßte evtl. als vierten Modus noch die phatische Sprechhaltung hinzunehmen, die nichts anderes beabsichtigt als auf sich als Kommunikationspartner aufmerksam zu machen oder eine Sprachhandlung zu eröffnen (z.B. „Hallo" usw.). 10 Zu diskutieren wäre evtl., ob CAUS eine Metaproposition nach sich ziehen kann, die auf [+ASS; -SUBJ] beschränkt sein müßte, etwa: Ich bewirke, daß feststeht, daß . . .

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Textreproduktionen

zu; ob eine Aufforderung als Wunsch oder als Verpflichtung zu verstehen ist, hängt nicht von der Intention, sondern vom sozialen Status des Sprechers im Vergleich zum sozialen Status des Hörers in der Kommunikationssituation ab. Natürlich sind je nach Verpflichtungsgrad unterschiedliche sprachliche Signale einsetzbar („Komm bitte" / „Du hast zu kommen"), doch sind diese nicht Ausdruck einer unterschiedlichen Metaproposition, sondern Ausfluß der spezifischen Verhältnisse auf der Beziehungsebene. Darüber wird unten noch zu lesen sein. Auch hier also bleibt die Metaproposition leer. Anders bei MITT: Behauptungen oder Feststellungen unterscheiden sich sehr wohl von Willenskundgebungen und müssen metapropositional getrennt werden in ASS und VOL. Dagegen sind subjektive Meinungsäußerungen und „objektive" Behauptungen nicht substantiell, sondern nur im Grad der persönlichen Überzeugtheit voneinander verschieden, so daß sie nur durch ein zusätzliches nicht aber alternatives Merkmal zu ASS zu kennzeichnen sind. Als (vorläufiges) Schema ergibt sich also Perform. Modus +MITT; 1 ?.. +MITT; . . . +MITT;. . .

Metapropos.11

Propos.

+ASS;+SUBJ;.. . +ASS;-SUBJ;.. . +VOL; 13

X. . . X. . . X. . .

Meinungsäußerung Feststellung Willensäußerung

DU . . .

Aufforderung

X gilt als Y

Bewirkungsakt

+AUFF;. . .

-

+CAUS

-

Die einzelnen Reihen sind als kommunikative Tiefenstrukturen zu verstehen, die je nach Kombination in unterschiedliche Oberflächenstrukturen überführt werden; diese können im Explikationsgrad variieren. So läßt sich auch [ICH +MITT;. . . +ASS;+SUBJ;... X . . . ] ein vollexpliziter Satz („Ich sage dir, Peter kommt, soviel ich weiß") ebenso wie ein impliziter ( , f e t e r kommt") ab11 Ich vermeide hinfort den Ausdruck „Basis" im Zusammenhang mit Metaillokution und Metaproposition, um nicht Anlaß zu Verwechslungen mit der „Basis" als dem Arsenal eines Generierungsapparates zu geben: diese besteht aus den Komponenten von Metaillokution, performativen Modus, Metaproposition und Proposition sowie dem „Lexikon" der zur Verfügung stehenden jeweiligen Indizes. 12 Diese Stelle ist für evtl. fakultative Zusatzmerkmale offengehalten. 13 Da ich nicht sicher bin, ob VOL und ASS den Gesamtbestand denkbarer Metapropositionen ausmacht, übernehme ich diese Bezeichnungen. Wenn es nur die beiden gäbe, würde [ + ASS] ausreichen.

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leiten, bei dem performativer Modus und Metaproposition transformationell eliminiert werden, wenn u n d weil der situative K o n t e x t die entsprechenden I n f o r m a t i o n e n bereithält. Dazwischen gibt es halb-explizite F o r m e n (Eliminierung der Metaproposition: „Ich sage Dir, Peter k o m m t " ; Eliminierung des perf. Modus: „Ich glaube, Peter k o m m t " ) . Zur vollständigen Analyse einer k o n k r e t e n Äußerung reicht dieses System jedoch immer noch nicht aus. Es erfaßt nicht (oder nur unzureichend in der Metaproposition) die S t i m m u n g des Sprechers, seine Haltung dem Partner gegenüber im Augenblick des Sprechens, Bedingungen, die von der Beziehungsebene her einen T e x t deutlich beeinflussen. Die Äußerungen „ K o m m j e t z t " , „Kommt jetzt aber", „Komm jetzt aber wirklich", „Kommst du endlich", „Kommst d u nun endlich", „Jetzt k o m m doch endlich", „ K o m m s t du? !" sind alle A u f f o r d e r u n g e n ; sie unterscheiden sich hinsichtlich eines Zusatzfaktors, der die aktuelle Beziehung, in der die Partner zueinander stehen, einbringt und in Wortwahl, Wortstellung, Betonung u n d einzelnen Wörtern die Stimm u n g des Sprechers wiedergibt: Ärger, Resignation, Ironie u. ä. Gewiß sind derartige affektive Modifikationen keineswegs auf die Sprache beschränkt, zeigen sich in erster Linie durch Mimik u n d Gestik, wirken sich aber eben auch im sprachlichen und parasprachlichen Bereich aus u n d sind zumindest teilweise vom Linguisten fixierbar. Das „endlich" in „Kommst du nun endlich" deutet beispielsweise bei entsprechender Betonung auf eine ärgerliche, zumindest ungeduldige Einstellung des Sprechers hin; ein „wirklich" würde Ironie signalisieren usw. Der illokutionäre A k t als solcher wird hier also modifiziert. Der Sprecher setzt Signale, wie seine Ä u ß e r u n g (nicht der Inhalt) gewertet werden soll. In Analogie zu Großes Modalbewertungsebene für die Proposition m ö c h t e ich von Metaillokution sprechen, weil hier eine Ebene jenseits der Illokution ( u n t e r der ich performativen Modus und Metaproposition verstehe) zu bezeichnen ist. Diesen weitgehend affektiven Bereich kann man natürlich nicht ohne ausführliche psycholinguistische Erhebungen angemessen differenzieren. Für einen zunächst ganz groben Raster lassen sich aber sicher vorläufige Anhaltsp u n k t e geben: In der Metaillokution wird der Anspruch festgelegt, den ein Sprecher erhebt, als Person und Sprecher mit dem Wie und Was seiner Ä u ß e r u n g beim Hörer a n z u k o m m e n . Umschreibungen dieses recht komplizierten Sachverhalts müßten also e n t h a l t e n : einen A k t a n t e n (der identisch ist mit dem des performativen Modus), den Anspruch u n d seine Differenzierung, das Prädikat und eine Überleitung zur P e r f o r m a t i o n . Also etwa: Ich beanspruche weder als Sprecher noch für das Gesprochene, wohl aber als Person ernstgenommen zu werden, w e n n . . . = humoristische Äußerung.

Textreproduktionen

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Ich beanspruche als Sprecher, nicht aber für das Gesprochene ernstgenommen zu werden, wenn . . . = ironische Äußerung. Ich beanspruche als Sprecher und mit meiner Ä u ß e r u n g ernstgenommen zu werden, wenn . . . = neutral-ernste Ä u ß e r u n g Ich beanspruche als Sprecher ernster g e n o m m e n zu werden als bisher, wenn . . . = (in sich noch graduierbar) ärgerliche Äußerung. Ich beanspruche ernstgenommen zu werden, ohne es wirklich zu erwarten, wenn . . . = resignative Äußerung usw. 1 4 Als viertes S t r a t u m bringt die Metaillokution sprachliche u n d parasprachliche Elemente in die Sprachhandlung ein, die ohne sie bei der Analyse unberücksichtigt bleiben müßten. Poly- und monoverbale Interjektionen ( „ . . . was soll's - . . . " ; „ . . . aber wirklich . . . " ; „ . . . doch . . . " ; „ . . . endlich . . . " usw.), bestimmte Wortstellungstypen, Betonungsdifferenzierungen gehören ebenso hierher, wie Durchbrechungen der Grammatikalität ( A n a k o l u t h e usw.). Vor allem aber sind auf diese Weise auch viele F o r m e n indirekten R e d e n s 1 5 näher zu bestimmen, die aufgrund der besonderen Verhältnisse in der Beziehungsebene gewählt werden. Wenn etwa eine deutlich als B e h a u p t u n g zu verstehende Ä u ß e r u n g mit „Ich k ö n n t e mir vorstellen, daß . . . " eingeleitet wird, ist das die Folge der besonderen Situation u n d S t i m m u n g des Sprechenden, der sich in der unterlegenen Position in einem k o m p l e m e n t ä r e n Kommunikationsverhältnis fühlt und deshalb nur bedingte Verbindlichkeit seiner Äußerung beansprucht. Es m u ß einer eigenen Arbeit vorbehalten bleiben, dieses System ausführlicher darzustellen und die mannigfachen Probleme anzureißen, die sich daraus ergeben, Fragen der Systematisierbarkeit von A f f e k t e n , der Segmentierbarkeit von Sprachmitteln, der Stringenz der Z u o r d n u n g e n von Haltung u n d Mitteln u. dgl. Für die vorliegende Untersuchung ist j e d o c h nur wichtig, auf diese Ebene als Steuerungsniveau für Äußerungen hinzuweisen, weil unsere Absicht ist, z. B. für das Ritual nachzuweisen, daß die metaillokutionären Möglichkeiten aufs äußerste, nämlich auf eine, restringiert sind.

14 An eine Formalisierung dieser Umschreibungen und des ganzen Gcnerierungssystems, die verdecken könnte, daß es sich um einen vorläufigen Vorschlag handelt, möchte ich mich hier noch nicht wagen. 15 Bei Wunderlich sind Sprechakte dann direkt, wenn grammatischer mit performativem Modus zusammenfällt. Dabei wurde nicht weiter berücksichtigt, daß viele Signale auch einen „indirekten" Sprechakt unverwechselbar machen können, die bei einem generativen Ansatz ihren sehr unterschiedlichen Ort zugewiesen b e k o m m e n (cf. dazu u.a. D. Wunderlich, Sprechakte, In: Funkkolleg Sprache, Studienbegleitbrief 9, Weinh e i m - B a s e l 1972, p. 5 9 ss.).

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Dieses vierstufige System [Metaillokution [performativer Modus [Metaproposition [Proposition ] ] ] ] stellt die Basis zur Erzeugung kommunikativer Tiefenstrukturen dar. Alle vier Strata können unmittelbar und jedes für sich an die Oberfläche transformiert werden und sind dann mit entsprechendem lexikalischen und syntaktischen Konstituenten dort vertreten (z.B. „Ich meine es ernst, wenn ich sage, ich glaube, daß Peter kommt"), was einen direkten Sprechakt im Sinne Wunderlichs nahekäme. Im Transformationsprozeß können die Ebenen aber auch ineinander integriert oder bei entsprechenden situativen Voraussetzungen sogar teilweise eliminiert werden („Peter kommt" kann auf die gleiche Tiefenstruktur wie der obige Satz zurückführbar sein, wenn der Kontext — Mimik, Gestik, vorausgegangene Sprachhandlungen usw. — die Merkmale Ernst, MITT, VOL mitliefert). Die Wortwahl ist in der Tiefenstruktur noch nicht festgelegt. Selbst die Proposition enthält nur das semantisch-sprachlogische Gerüst der Aussage, etwa im Sinne der semantischen Satzrepräsentation, wie sie die generative Semantik sieht. Lexikalisierungen treten erst im Verlauf des Transformationsprozesses auf, d.h. unter Berücksichtigung der in den einzelnen Strata eingebrachten Komponenten. Die Formel „X gilt als Y" (Proposition von CAUS-Akten) z.B. ist nur als Kern einer Proposition zu verstehen, die im Zusammenwirken der semantischen Merkmale von X und Y, von deiktischen Qualifikatoren an der Oberfläche verschiedenartigste Ausdrucksmöglichkeiten hat („Der Angeklagte ist verurteilt"; „X ist Dozent"; „X heißt Peter"). Entsprechendes gilt für die anderen Strata.Vor allem sind auch gegenseitige Integrationen möglich. In „Zum Donnerwetter: ich sage es zum letzten Mal: komm jetzt" ist „zum letzten Mal" sowohl modale Spezifikation von [+AUFF], als auch Ausfluß der Metaillokution [Ärger]. „sage" ist (nur) im Zusammenhang mit „kommst" als Explikation von [+AUFF] zu verstehen usw. Dieses Schema scheint die eigentliche Errungenschaft der Sprechakttheorie unberücksichtigt zu lassen, nämlich die Differenzierung und die Regularitäten des Gelingens und Mißlingens derselben. In der Euphorie, mit der die Linguistik die Thesen Austins und Searles für sich in Anspruch nahm, wurde jedoch vielfach nicht beachtet, daß sich die Theorie weit mehr für die logischen und mentalen Voraussetzungen als für die eigentlichen sprachlichen Prozesse bei der Formulierung von Sprechakten interessierte. Für den zu äußernden Text ist zunächst nicht die Tatsache von Gelingen oder Mißlingen im logischen Sinn bedeutungsvoll. Ich kann eine als solche erkennbare Drohungsäußerung machen, ohne daß der Sprechakt „Drohung" gelingt und kann umgekehrt eine nicht als „Drohung" gemeinte Äußerung so formulieren, daß sie als solche aufgefaßt wird, weil sie die sprachlichen Voraussetzungen erfüllt. Eine Drohung ist die Mitteilung an ein DU über zukünftige für das DU negative Ak-

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tionen von ICH, wobei ICH zu erkennen gibt, daß er für sich eine dominierende Position im gegenwärtigen Kommunikationssystem beansprucht. In unser Schema übertragen: der performative Modus MITT wird mit der Metaproposition VOL (= zukünftige Aktion von ICH) und der Proposition mit der Struktur ICH TUN DIR Z [+negativ] gekoppelt. Der soziale Dominanzanspruch findet als Element der Beziehungsebene in einer entsprechenden Metaillokution (je nach Grad: Ernst, Ärger, Zorn u. dgl.) seinen Niederschlag. Nur dann und immer dann, wenn all diese Sprachhandlungsfaktoren bei einer Äußerung explizit oder implizit vorhanden sind, kann sie den Anspruch, kommunikativ als „Drohung" zu wirken, erfüllen. In „Ich kann dir nur sagen, daß du noch was von mir erleben wirst" ist die Metaillokution durch „nur", „kann" und durch „noch", der performative Modus durch „sagen", die Metaproposition durch „wirst" und die Proposition durch „erleben" explizit vertreten und daher unmißverständlich als Drohung verstehen. Bei entsprechendem Kontext und in entsprechender Intonation kann „warte nur" auch eine „Drohung" sein, ist aber der geringeren Explizitheit halber (= zahlreiche Eleminierungen im Transformationsprozeß) sehr viel mißverständlicher.16 Die Sprechakte sind nach unserem Konzept das Ergebnis einer spezifischen Kombination von beteiligten Sprachhandlungsfaktoren auf verschiedenen Ebenen. In der stark am Vorhandensein performativer Verben17 orientierten Interpretation Searles wird diese Tatsache verwischt, da der Sprechakt als kompakte, statische Größe angesetzt ist. Der hier angebotene Vorschlag will die Sprechakttheorie um einen Erzeugungsmechanismus ergänzen, der dem dynamischen Aspekt von Sprachhandlungen Rechnung trägt und damit gleichzeitig eine größere Differenzierung erlaubt. Nach Searle würde beispielsweise „Zitieren" als ein Sprechakt auszubringen sein, der zwar hinsichtlich Mißlingen und Gelingen, also nach seinen logischen Voraussetzungen, nicht nach seiner sprachhandlungstheoretischen Struktur untersucht wird, deren Funktion die sprachliche Form ist.

16 Die Metaillokution kann eine Drohung nur verstärken, differenzieren oder abschwächen, nicht aufheben. Eine „ironische Drohung" ist eben keine: Der Sprecher macht durch die Metaillokution deutlich, daß die Bemerkung zwar der Form, nicht aber dem Inhalt nach eine Drohung ist. Umgekehrt können der Form nach „neutrale" Äußerungen auf eine Tiefenstruktur zurückgehen, die alle Merkmale der „Drohung" enthält: diese sind dann nur mehr oder weniger absichtlich während des Transformationsprozesses verwischt worden. 17 Vgl. u.a. Wunderlich, op. cit., p. 67

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Das Zitat Wenn ich zitiere („Hebbels Meister Anton sagte schon ,Ich verstehe die Welt nicht mehr' " oder „Ich hab' es getragen sieben Jahr"), äußere ich einen vorformulierten Text, differenziere dabei aber — mehr oder weniger deutlich — zwischen mir als Sprecher und dem Autor des Textes. 18 Das besagt, daß die beiden Ichs verschiedenen Ebenen der Sprachhandlungsbasis angehören: das Sprecher-Ich der Illokution (und Metaillokution), ein Zitat-Ich der Proposition. 19 Diese ist ja nicht prinzipiell an den ICH-DU-JETZT-HIER-Status der Illokution gebunden, deshalb ist es (im Unterschied zum Sprachritual) gleichgültig, welche Personalform und sonstige deiktischen Mittel im Zitat enthalten sind, sie beziehen sich prinzipiell nicht auf die Sprechsituation. Im Beispiel „ . . . und dann sagte Goethe: ,Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten' " ist klar, daß sich die Seitenkennzeichnung auf Goethe und nicht auf den Sprecher des Satzes bezieht. Komplizierter liegt der Fall, wenn der Sprecher sich in einer Situation befindet, die derjenigen Goethes ähnelt, und er deshalb, sich des Satzes erinnernd, zitiert. Hier handelt es sich um einen Annäherungs- oder Vergleichsprozeß, eine Übernahme der Kommunikationskonstellation des Zitierten (freilich nicht um eine Identifikation). Die sprachhandlungsmäßige Tiefenstruktur wäre etwa zu umschreiben: ,Ich adaptiere den folgenden Satz Goethes für meine eigene Situation, wenn ich sage . . . ' . Es ist also ein Unterschied zu machen zwischen zwei Möglichkeiten des Zitierens, die ich Apostrophierung und Adaption nennen will, die auch, aber nicht nur, durch das Merkmal [+_ ADAPT] auseinandergehalten sind. Die Apostrophierung ist unproblematisch: der Sprecher teilt mit, daß eine (ihm bekannte oder unbekannte) Person X den folgenden Text gesprochen habe. Eine persönliche Stellungnahme muß damit nicht verbunden sein. Die Proposition der Sprachhandlung umfaßt folglich tiefenstrukturell den Zitatautor und Zitattext; dieser ist also nur die zweite Ergänzung zu einem zweiwertigen verbum dicendi als Prädikat der Proposition.

X sagen (Zitattext) 18 Im Selbstzitat ist Sprecher-Ich und Autor-Ich zwar personal-, nicht aber referenzidentisch. 19 Entsprechend natürlich andere deiktischen Elemente. Vgl. hierzu u.a. D. Wunderlich, Pragmatik, Sprechsituation, Deixis, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 1 (1971), 1 5 3 - 9 0 . und des., Redeerwähnung, In: Funkkolleg Sprache, Studienbegleitbrief 9, Weinheim-Basel 1972, p. 89 ss.

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Da der Aktant der semantischen Satzrepräsentation X (und nicht ICH) ist, wird allein durch die Struktur der Proposition die Nichtidentität von Zitat-Ich und Sprecher-Ich gewährleistet. Die Verantwortung des Sprechers bezieht sich nur darauf, ob X die Äußerung auch tatsächlich (so) getan hat, nicht auf den Inhalt des Textes. Nur in Ausnahmefällen kann im Verlauf des Transformationsprozesses X eliminiert werden, etwa weil X (z.B. bei Sprichwörtern) nicht benennbar ist. Hier wird häufig aber durch ein Distanzierungssignal [-ADAPT] gekennzeichnet, daß es sich um keine Adaption handelt („einmal ist keinmal' - a b e r . . . ". 20 In der Adaption fällt dem Sprecher ein (oder auf), daß die Situation, in der er sich befindet, in wesentlichen Punkten der Situation sehr ähnlich ist, in der sich der Zitatautor befand. Er adaptiert den Text, indem er die Referenzidentität mindestens eines Textelementes mit seiner eigenen Situation suggeriert. In „Ich verstehe die Welt nicht mehr" geschieht diese Suggestion über das Ich, in „Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten" über die lokaldeiktischen Elemente, in „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan" über die auf die Sprechersituation passenden semantischen Merkmale von „Schuldigkeit". Das ist freilich nur dann möglich, wenn der Zitattext nicht nur als Objekt einer propositionalen Satzrepräsentation fungiert. In den angeführten Zitaten füllt er beispielsweise die ganze Proposition aus, da das Sprecher-Ich auf das Zitat-Ich projiziert wurde, das Subjektfunktion in der Proposition erfüllt. Diese Projizierung kann freilich auch auf Konstituenten der Metaproposition oder des performativen Modus erfolgen (vgl. „Wahrlich, ich sage e u c h . . . " , wo unabhängig vom folgenden propositionalen Inhalt die im Zitattext artikulierte Leistung des performativen Stratums adaptiert wird), wenn gerade sie die Vergleichbarkeit von Sprecher- und Zitatsituation nahelegen. Dieser Fall tritt allerdings erheblich seltener ein; Situationsgemeinsamkeiten sind naturgemäß meist propositionaler und nicht illokutionärer Natur, da die Illokution ausschließlich das Ich und seine Sprachhandlungsintentionen betrifft und demzufolge nur ein verhältnismäßig beschränktes Vergleichsfeld für eine Adaption zur Verfügung steht. In diesem Zusammenhang ist also ein Unterschied zu machen, ob die Adaption über ein propositionales Element erfolgt und dann eventuell metapropositionale und performative Signale vom Zitattext mehr oder weniger stimmig zusätzlich eingebracht werden oder ob gerade illokutionäre Bestandteile des Zitattextes die Adaption veranlaßten. Soweit ich sehe, können metail20 [-ADAPT] ist fakultativ, wird aber meist expliziert: bereits Wendungen wie „Wenn Goethe sagt: ,Edel sei der Mensch'..." oder „Goethe sagt auch: ,Edel . . . ' " enthalten Distanzierungssignale.

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lokutionäre Faktoren nicht solche Primärauslöser von Adaptionen sein, sondern eben nur vom - aus anderen Gründen übernommenen - Zitattext mitgeliefert werden und dementsprechend ihre ursprüngliche Funktion nicht genuin erfüllen. Wird ein Zitat als solches geäußert, dann setzt das auf jeden Fall eine gewisse Distanzhaltung voraus, weil sich der Sprecher bewußt ist, daß seine Äußerung nicht in jedem Punkt referentiell seiner Situation adäquat ist. Eine solche prinzipielle Distanzhaltung läßt keine Auswahl aus dem Repertoire metaillokutionärer Haltungen zu, ist vielmehr selbst ein metaillokutionärer Faktor. Das Adaptionsmerkmal [ + A D A P T ] ist demnach als Teil dieses obersten Stratums anzusetzen. Für die Adaption ergibt sich also folgendes Schema: Metaillokution

Peif.

Metaprop.

Prop.

[. . . + ADAPT Zitattext

(a und b stehen für beliebige nichtzitierte Teile der Sprachhandlung, in die der Zitattext eingebettet sein kann) Der Zitatautor X ist bei der Adaption nicht von Bedeutung, er kann, m u ß aber nicht genannt werden. Er gehört nicht wie in der Apostrophierung in die Proposition. Der Sprecher übernimmt für den Text selbst die Verantwortung und nicht der nur die Behauptung, X habe ihn gesagt. In einem Satz „Da kann ich nur mit Schiller sagen: ,von der Stirne heiß' in dem die ganze Sprechhandlung expliziert ist, wird deutlich, daß die Nennung des Zitatautors nicht Teil der Proposition sein kann. Vielmehr ist ,mit Schiller' ein Hinweis, daß hier keine selbstformulierte Äußerung vorliegt, gleichwohl aber deren Inhalt in Anspruch genommen wird. Es handelt sich also um eine der möglichen Aktualisierungen von [ +ADAPT] und signalisiert jene spezifische Mischung von Identifikation und Distanz, die die metaillokutionäre Eigentümlichkeit von Adaptionen ist. Dieses Merkmal allein bewirkt die Unterscheidung von Nicht-Zitaten. Wenn es nicht deutlich gekennzeichnet wird, besteht die Gefahr, daß man den Sprecher mit seiner Äußerung voll identifiziert und ihn — je nach Form und Inhalt des Zitates und dem Vor21 Weil er die ganze Proposition im Sinne einer semantischen Satziepräsentation einnimmt, kann der Zitattext auch (leicht) verändert werden im Sinne der Aussage- und Adaptionsabsicht des Sprechers. Er wird fur den Inhalt, nicht für die Form des Zitates verantwortlich gemacht. Im Gegensatz dazu ist in der Apostrophierung die Form weit mehr Gegenstand einer etwaigen Kontrolle, weil die Stimmigkeit der Proposition, in der Zitattext die invariable Größe Y eines zweiwertigen Prädikats ist, in Frage steht.

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wissen des Hörers — des Plagiats, der Inoriginalität oder der Abwegigkeit bezichtigt. 22 Daneben kann es auch zu Verwechslungen von Apostrophierung und Adaption kommen, wenn nämlich im Verlauf des Transformationsprozesses die Unterschiede der Tiefenstrukturen verschwinden. „Rilke sagt: ,Du mußt dein Leben ändern' " könnte — aus dem Kontext gerissen — Adaption sein mit der Tiefenstruktur: [. . . + ADAPT mit Rilke

[+AUFF ich fordere auf

[ Du m u ß t . . .

oder Apostrophierung mit der Tiefenstruktur [...-ADAPT

[+MITT ich sage

[+ASS;-SUB [Xsagt^^]]]] es ist der Fall: Rilke sagt: Du . . .

Daß es normalerweise nicht zu diesem Zusammenfall kommt, ist die Folge von Markierungsredundanzen: 1. Adaption kann nur ein Zitattext sein, dessen deiktische Mittel überhaupt mit der Situation des Sprechers vereinbar sind, also Personalpronomina der ersten und zweiten Person und/oder entsprechende Lokal-/Temporalhinweise: „Goethe sagt: Über allen Gipfeln ist Ruh" kann nur dann eine Adaption sein, wenn eine Affinität der Sprechsituation zu „Gipfeln" oder „Ruh" (aus Topikalisierungsgründen vermutlich nur „Ruh") folgt. 2. Unsere Sprache hält noch weitere, oft deutlichere Explikationen für [+ ADAPT] bereit als die bloße Autorennennung. In der Mehrzahl der Fälle enthalten sie ein deutliches Vergleichs-, Annäherungs- oder Identifikationsmerkmal konjunktionaler, präpositionaler oder verbaler Art: „Wie Goethe sagt: „Schon Goethe sagt: „mit Goethe: „Ich schließe mich Goethe an: 3. Merkmal [ - ADAPT] in der Apostrophierung ist häufig im Kontext markiert, so daß sich das Zitat nicht als Adaptierung auffassen läßt: „Goethe sagt: aber. . . "; „Wenn Goethe s a g t ^ ^ , dann . . . „Obwohl Goethe s a g t : ^ \ , . . . " usw. 22 „Ich verstehe die Welt nicht mehr" kann ohne weiteres als spontane Äußerung verstanden werden, wenn der Sprecher nicht mindestens durch den Tonfall seine Adaptionsabsicht deutlich macht. Ein nicht als Adaption gekennzeichnetes „Prophete r e c h t s . . . " dürfte beim Nicht-Kenner ein Kopfschütteln hervorrufen. Und wenn Linguisten immer mit dem gleichen Beispielsatz „Der Teufel holt den Soldaten" bzw. „Colorless green ideas sleep furiously" arbeiten, ohne den Ursprung der Bierwisch oder Chomsky anzugeben, geraten sie mit Recht in den Geruch des Nachschwätzens.

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4. Wenn der Z i t a t t e x t im Stil oder Inhalt von der Verhaltensnorm des Sprechers abweicht, ist er allein dadurch als Zitat kenntlich. Wenn kein A u t o r genannt wird oder kein - A D A P T gesetzt ist, k o m m t nur Adaption in Frage. Nur in den Fällen, w o keine dieser Markierungen eingesetzt ist u n d d e n n o c h der Zitatautor genannt wird, bleibt es unsicher, ob Adaption u n d Apostrophierung vorliegt. Wo dies nicht die Folge sprachlicher Ungeschicklichkeit ist, dient es der manipulatorischen und apologetischen Verschleierung. J e m a n d will den Eindruck erwecken (oder hat nichts dagegen, w e n n der Eindruck entsteht), er identifiziere sich mit einem Z i t a t ; wenn er darauf festgenagelt wird, kann er sich zurückziehen: er habe ja „nur" zitiert. Damit sind die V e r w e n d u n g s k o n t e x t e angesprochen, in denen Zitate vork o m m e n . Für die Adaption läßt sich sicherlich sagen, daß sie gebraucht wird, wenn der Sprecher sich, aus welchen Gründen immer, der A u t o r i t ä t des Zitats zur Wirkungssteigerung seiner eigenen I n t e n t i o n bedienen will. Diese A u t o r i t ä t k a n n im Rang u n d Namen des Zitatautors begründet sein, kann aber auch im Bekanntheitsgrad des Textes (vgl. Sprichwörter, Redensarten usw.) oder in der besonderen Zustilisierung auf die Sprechsituation, ihrer Treffsicherheit liegen. Der Sprecher will sich hinter der A u t o r i t ä t verstecken, will seine eigene Meinung intensivieren oder sich selbst (etwa durch seine Belesenheit) in ein besonderes Licht rücken. Als eine vorläufige pauschale Zusammenfassung läßt sich immerhin andeuten: das Zitat steht in der Adaption statt einer eigenen, nicht wie in der Apostrophierung als eigene Aussage. Das glaubt der Sprecher nötig zu haben, weshalb sich als metaillokutionärer Kern herausschält: Ich beanspruche größere A u f m e r k s a m k e i t als bisher (die anderen usw.), weil ich mehr zu bieten habe als einen eigenen T e x t , w e n n ich zitierend . . . 2 3 Ein entsprechender metaillokutionärer Kern für Apostrophierungen läßt sich dagegen nicht ausmachen. Die ihnen innewohnende Distanzhaltung bezieht sich ja nur auf den Gegenstand, nicht auf den K o m m u n i k a t i o n s p a r t n e r . Deshalb sind für diese F o r m des Zitats all jene metaillokutionären Möglichkeiten anzusetzen, die einem spontanen Mitteilungstext z u k o m m e n . Weitere Aussagen iassen sich vorläufig darüber nicht machen. Die übliche Erscheinungsform für die Apostrophierung bei neutraler Metaillokution ist der Beleg, bei metaillokutionärer Abwehrhaltung die Polemik, die als ironische Imitation, als Parodie, als Verriß usw. a u f t r e t e n kann. Unter Distanzhaltung entstehen Apostrophierungen, für die ein Musterbeispiel jenes Gespräch aus Lessings „Nathan" zwischen Tempelherr und Klosterbruder ist, in dem letzterer den Zitatcharakter seiner Äußerungen immer wieder b e t o n t („ . . . meint der Patriarch"), u m nicht selbst damit identifiziert zu werden. 23 Das kann sehr wohl mit weiteren metaillokutionären Merkmalen ausgestattet sein, etwa Ironie usw., die dann freilich sekundärer Natur wären.

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Entsprechend der für die Proposition festgelegten Struktur der Apostrophierung (Subjekt: Autor/indikatives verbum dicendi/ Objekt: Zitattext) und der assertiven Metaproposition kann dieser Zitattyp nur in Sprechakten auftreten, die den Bestandteil [+ MITT] aufweisen: erläutern, erzählen, berichten, ausrufen usw. Bei Adaption - entsprechend ihrer alle Strata übergreifenden Struktur sind Mitteilungen („Ach, ich bin des Treibens müde") und Aufforderungen („Gehe hin und tue desgleichen") möglich, nicht aber Bewirkungen. Ich kann nicht, indem ich einen Pfarrer „zitiere", jemand die Absolution erteilen oder, einen Standesbeamten imitierend, jemanden rechtskräftig zu Mann und Frau erklären. Mir fehlt dafür die entscheidende Voraussetzung, die volle Identifikation mit meiner Rolle, die ich ja gerade durch das Zitieren verhindere. Eben weil nur eine (assoziative oder explizite) Annäherung, aber gerade keine Gleichsetzung von Sprecher- und Textsituation vorliegen kann, verhindert das Merkmal + ADAPT im ersten Stratum die Abwahl von + CAUS im zweiten. Wo echtes +CAUS vorliegt, wenn ein Text reproduziert ist, handelt es sich nicht um Zitat,sondern um Ritual. Das Ritual Niemand würde auf die Idee kommen, ein Pfarrer zitiere (seine Vorgänger? , die Agenda? ), wenn er in der Abendmahlsfeier spricht: „Und ich als beauftragter Diener der Kirche verkünde euch hiermit die Vergebung all euerer Sünden". Dennoch handelt es sich hier (wie in den vergleichbaren, weiter oben angeführten Beispielen) eindeutig um einen vorfabrizierten Text. Man spricht umgangssprachlich etwa von „gestanzten Formen", die vorgesehen, z.T. sogar vorgeschrieben sind, wenn die Sprachhandlung gelingen soll. Wie unterscheiden sich solche Texte von Zitaten und wie von nichtzitierenden Äußerungen? Beim Zitat ist der vorgegebene Text nur Teil der Sprechhandlung. Die Nichtidentität von Sprecher- und Zitat-Ich steht fest. Was in der Proposition nicht zur Sprechersituation paßt, kann deshalb auch in der Adaption nicht stören, solange irgendein tertium comparationis die Reprojektion auf den Sprecher und seine Situation ermöglicht. Oft lösen gerade Diskrepanzen und Abwegigkeiten des Zitatinhalts ein Zitat aus, weil sie besonders geeignet sind, jene Aufmerksamkeit zu erregen, die wir als metaillokutionäre Voraussetzung für die Adaption festgehalten haben. Die Reaktion: es ist ja nur Zitat, erhellend, interessant, ähnlich zwar, aber eben nur ähnlich, letztlich unverbindlich. Absolute Verbindlichkeit aber verlangen Texte wie die zitierte Absolutionsformel. Hier dürfen keine Diskrepanzen referenzieller Art zwischen Illokution

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und Proposition vorliegen; insbesondere müssen Sprecher-Ich u n d Hörer-Du mit Text-Ich und -Du nicht nur ähnlich, sondern identisch sein. 2 4 Mit anderen Worten, der T e x t repräsentiert nicht nur die Proposition, sondern die gesamte Sprachhandlung. Der Absolutionsformel liegt dementsprechend folgende kommunikative Tiefenstruktur zugrunde:

Der Unterschied zu anderen bewirkenden Sprachhandlungen liegt ausschließlich darin, daß ein vorgeprägtes Muster vom Sprecher b e w u ß t gewählt wurde. Also ein T e x t , der schon einmal, u n t e r anderen Personen, an anderem Ort gesprochen wurde u n d hier zu reaktivieren war. * Es müssen Bedingungen von einschneidend restriktivem Charakter herrschen, wenn dieses Aufstülpen eines fremderzeugten Textes von den K o m m u nikationspartnern als angemessene Ausführung einer Sprachhandlung akzeptiert werden kann. Solche Bedingungen sind: 1. Es darf nicht auf die Individualität der K o m m u n i k a t i o n s p a r t n e r ankommen, d . h . sie dürfen nur in festdefinierten sozialen Rollen, nicht als rollenpolyvalente Personen a u f t r e t e n , da es nicht möglich ist, private Stellungnahmen zum T h e m a einzubringen, wenn der T e x t schon feststeht. 2. Das T h e m a m u ß beiden Partnern vertraut sein, damit der Sprecher nicht die (vermutete) Unkenntnis des Hörers antizipieren und verbal auf sie eingehen m u ß . 3. Es m u ß ausgeschaltet sein, daß Räumlichkeit u n d Z e i t p u n k t Einfluß auf den T e x t n e h m e n k ö n n e n . D.h. Raum und Zeit m u ß entweder absolut irrelevant für den Vollzug der Sprachhandlung sein oder aber umgekehrt so fixiert, daß nur an diesem Ort u n d / o d e r zu diesem Z e i t p u n k t die Sprachhandlung möglich ist und anderswo/wann nur als Zitat gewertet werden k ö n n t e .

24 Der persönlich anwesende Priester teilt die Absolution nicht nur mit; er erteilt bewirkt - sie: „Verkünden" repräsentiert eine transformationeil bedingte Integration von performativem Modus (+ CAUS) + evtl. Metaprop. ( + ASS; - SUBJ) + Prop. (X gilt als Y). „Euch" ist sowohl Objekt der Performation als Subjektattribut der Proposition. „Hiermit" ist Adverbialbestimmung des performativen Modus.

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Die Redekonstellation m u ß also von allen Zufälligkeiten u n d Individualitäten gereinigt sein, alles m u ß gemäß einer vorgegebenen O r d n u n g — rite — ablaufen, die Sprachhandlung m u ß als Ritual vollzogen werden. U n t e r den Individuen mit ihrer Polyvalenz im Gestalten vom Kommunikationssituationen u n d ihrer Möglichkeit mehrere Rollen schnell hintereinander oder gleichzeitig einzunehmen, wäre der sprachliche Austausch nach festgelegten vorgeprägten Mustern nur nach vorheriger Absprache möglich, würde gerade in der Absprache aber wiederum die freie E n t f a l t u n g reduzieren. Der Sprecher verzichtet also auf seine individuellen Ausdrucksmöglichkeiten, m u ß damit rechnen k ö n n e n , daß alles z u m Verständnis der Situation notwendige d e m Partner b e k a n n t ist. D. h., er ist auf die Rolle festgelegt, die ihm für den Sprachhandlungsmoment zugewiesen ist ; o f t m a l s machen das die T e x t e selbst deutlich („als beauftragter Diener der Kirche", „kraft A m t s " , „als Vertreter der Krone / des Staates / des Volkes" usw.) oder aber es herrscht durch Institutionalisierung ohnehin Einverständnis über die Parts der Beteiligten. Man befindet sich ja in der Lage von Schauspielern, die auf ihren T e x t festgelegt sind; w e n n sie ihn ändern, kann es geschehen, daß das Stück geschmissen ist: Formfehler bei Gericht, also Ritualbrüche, sind Rechtsgrundlage für eine Revision. Ebensowenig wie beim Drama ist es beim Sprachritual auszumachen, ob der T e x t die Rolle prägt oder u m g e k e h r t ; es ist in vielen Fällen nicht nur Folge des rollenhaften Sprechens; sondern Indiz dafür: erst wenn u n d weil der Sprecher einen b e k a n n t e n T e x t spricht, e r k e n n t der Hörer die Rollenhaftigkeit u n d damit den Verbindlichkeitsgrad der Sprachhandlung. O f t sind nur Teile eines K o m m u n i k a t i o n s k o n t i n u u m s auf diesen depersonalisierten Part angewiesen ( V e r h a f t u n g , Eheschließung, Eröffnungsfeierlichkeiten); zwischen textlich flexible Prä- und Postliminarien schiebt sich ein längerer oder kürzerer ritualisierter Teil ein, der anzeigt, daß der Sprecher sich j e t z t , für den Handlungskern der Situation, auf seine Rolle zurückzieht, w ä h r e n d er vorher m e h r oder weniger als „Mensch" sprach. Und auch der Angesprochene ist ausschließlich Funktionsträger. Sprachlich zeigt sich das durch depersonalisierende Klassenbezeichnungen „Angeklagter, erheben Sie sich", durch Wechsel von der 2. in die 3. Person „der Angeklagte wird schuldig b e f u n d e n " , durch restriktive Appositionen „der Angeklagte X", „Ihr, meine Brüder im Glauben" usw. Ist das Kommunikationsgefüge derart auf die Beteiligung zweier festdefinierter Rollenträger reduziert, die nichts als ihre F u n k t i o n ausüben, dann kann es keine Vielfalt auf der Beziehungsebene geben: Institutionalisierte Rollen können nicht ironisch, ärgerlich, zornig, resigniert usw. miteinander verkehren. Institutionen stehen zueinander in einem strukturellen, nicht aber gefühls-

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mäßig orientierten Zusammenhang. Deshalb ist neutraler Ernst die einzige angemessene Möglichkeit: was gesagt und wie etwas gesagt wird, darf nichts enthalten, was eine persönliche Stellungnahme beeinhalten könnte; ironischer Tonfall wäre ebenso verfehlt (und würde das Ritual zum Zitat entwerten) wie individuelle gefärbte Adverbien, Interjektionen, Zusätze usw. Im seltenen Fall, daß derartige persönliche Differenzierungen im Mustertext selbst vorgesehen sind („Wahrhaft würdig und recht, nützlich und heilsam i s t ' s . . . in einhelligem Jubel zu preisen . . . ") 25 zeigt sich gerade die Institutionalisierung des Gefühls; es handelt sich um typisches und erwartetes Rollenverhalten, das ganz unabhängig davon vorgetragen wird, in welcher Verfassung der Zelebrant augenblicklich ist, auch unabhängig davon seine Gültigkeit behält. Bezeichnenderweise wird die Freudenformel in obigem Beispiel keineswegs mit Jubel sondern mit sonorem Ernst vorgetragen und entgegengenommen. Genausowenig dürfen individuell-subjektive Meinungen vorgesehen sein; „ich glaube", „vermutlich" usw. können höchstens als institutionalisierte und damit semantisch entleerte Formeln in Texten enthalten sein, die dafür gedacht sind, daß sie von zahlreichen Individuen reproduziert werden, über deren Glauben und Vermutungen bei der Erstformulierung in Wirklichkeit nichts bekannt sein konnte. Damit ist auch die Metaproposition um eine wesentliche Variante nämlich [+ASS; — SUBJ], reduziert. In diesen Restriktionen (Metaillokution beschränkt auf,neutraler Ernst'; Metapropositionen ohne die Alternativmöglichkeit .subjektive Meinungskundgabe' 26 ) sehe ich die entscheidende Voraussetzung dafür, daß festgelegt-vorgeprägte Texte als vollgültige Sprachhandlungen aktualisiert werden können. Wenn diese Aussage zutrifft, dann bezeichnet sie präziser die Bedingungen ritueller Sprachhandlungen als bisherige mehr oder weniger verlegene Hinweise auf Institutionalisierungen usw. Sie gibt immerhin den Ort an und die Weise, wo und wie solche außerthematischen Faktoren wie die SprecherHaltung Einfluß auf die konkrete Textgestalt nehmen, und daß es tatsächlich nicht nur performative und propositionelle Restriktionen sind, die die Verwendbarkeit vorgefertigter Texte in Ritualen ermöglichen. Diese sind freilich augenfälliger. So dürfen beispielsweise keine Inhalte zu vermitteln sein, die den Kommunikationspartnern neu wären. Jeder Neuheitsoder Überraschungseffekt würde Rückfragen, Erläuterungen, Erweiterungen erfordern, die ein ritualisierter Text nicht erfüllen kann. Es mag vorkommen, 25 Teil des Einleitungszeremoniells in Abendmahlsfeiern nach lutherischem Ritus. 26 Die Metaproposition ist überhaupt nicht (oder nur durch [+ASS; SUBJ], cf. N 10) vertreten, wenn man sich dem Vorschlag anschließt, daß echte Rituale auf CAUS beschränkt sind, cf. u. p. 208.

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daß für den einzelnen Teilnehmer in der Tat das eine oder andere im Ritual neu ist; gerade dieser Hörer ist aber für die Sprachhandlung nicht vorgesehen, seine spontane Neugierde wird auch nicht befriedigt, das Ritual nimmt ohne Rücksicht auf ihn seinen Verlauf. Die Meßliturgie z.B. wird ohne Blick auf den Partner zelebriert: er ist zwar vorgesehen, aber auch ohne seine Anwesenheit findet sie statt. Beim Gerichtsurteil ist es ebenso, die Anwesenheit des Angeklagten und schon gleich die Anwesenheit weiterer Zuhörer ist nicht für den Ablauf des Rituals unbedingt erforderlich. Streng genommen bedeutet das, daß Mitteilungen und Aufforderungen für reproduzierende Sprachhandlungen nicht in Frage kommen. Mitteilungen sind nur dann welche, wenn ein Informationstransport von einem Wissenden zu einem Noch-Nicht-Wissenden erfolgt. Wird etwas schon Bekanntes übermittelt — und bei Reformulierungen muß der Sprecher immer damit rechnen, daß der Partner den Text kennt — , dann kann das allenfalls eine Reaktualisierung bedeuten, den Hinweis auf die Wichtigkeit für den Moment. Aufforderungen setzen voraus, daß der Sprecher glaubt, daß der Angesprochene nicht weiß, was von ihm im Augenblick verlangt wird und es ohnehin nicht tun würde. Aufforderungen mit vorformulierten Texten können also auch höchstens Aktualisierungsfunktion haben, daß der Zeitpunkt, nicht aber der Inhalt der Aufforderung signalisiert wird. „Unser Herr Jesus, in der Nacht da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach's und gab's seinen Jüngern . . . " oder „Der Beschuldigte wird des Diebstahls in Tateinheit . . . angeklagt"; „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr" brauchen keinen Mitteilungs- oder Aufforderungswert für den Empfänger zu besitzen, um dennoch vollwertige Sprachhandlungen zu sein: Ihre wesentliche Funktion liegt in ihrem Stellenwert in Struktur und Ablauf des Rituals. Dieses füllen, stützen, regeln sie, während sie ihre ursprüngliche Funktion (die sich in ihrem sprachlichen Duktus spiegelt) aufgegeben haben. Wenn diese Pseudoformen sprachlichen Handelns allein ein Ritual ausmachten, wäre es zum ewig sich selbst reproduzierenden Verlauf verurteilt, weil alle Teile in einem zwar strukturellen Zusammenhang stünden, aber keine handlungstheoretisch relevante, d.h. strukturtranszendente Funktion hätten. 27 Falls dem Ritual eine handlungstheoretische Relevanz eignen soll, dann darf in seinem Zentrum keine (Sprach-) Handlung stehen, die echt mitteilenden oder appellativen performativen Modus hat. Es kommt zwar auf die Äußerung des Textes an, aber sie gelingt auch (besonders? ) (nur? ) dann, wenn 27 Vgl. die Hofzeremonielle, die Universitätsrituale („der Muff von 1000 Jahren") usw., die tatsächlich weitgehend Selbstzweckcharakter haben und mehr (oder nur noch) der Daseinsbestätigung der Institution dienen, als daß sie relevante Handlungen repräsentierten.

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der propositionale Inhalt vorher bekannt ist. Eben dies ist der Fall bei allen CAUS-Aktionen. Große legt diesen bewirkenden Äußerungen das Schema [ICH CAUS - X gilt als Y ] zugrunde. 2 8 „Gilt als" trifft sehr genau die Funktion dessen, was da passiert. Eine typische CAUS-Handlung ist etwa die Eheschließung durch den Standesbeamten. Materiell verändert sich nichts bei den beteiligten Personen, wohl aber hat sich ihr Stellenwert innerhalb des Gesellschaftssystems verändert; nämlich dadurch, daß jeder Betroffene um diese Strukturveränderung weiß, sie akzeptiert und hinfort seine Tätigkeit nach den neuen Gegebenheiten ausrichtet. Der Mann und die Frau, aber auch alle Angehörigen der gleichen Gesellschaft leben nach der Trauung in einer neuen Wirklichkeit, die aber nicht sinnlich faßbar, sondern nur im Bewußtsein vorhanden, nicht „wahr", wohl aber gültig ist. Sowohl die Strukturveränderung als auch deren bloßer mentaler Habitus sind also sehr zutreffend mit: „X gilt als Y " als semantischer Satzpräsentation umschrieben. 2 9 Da das Ereignis nicht materiell sichtbar ist, braucht es ein Zeichen 3 0 , das die Strukturveränderung anzeigt: das ist der Text des Standesbeamten. Andererseits erfüllt dieses Zeichen nur dann seinen Zweck, wenn bei den Beteiligten über das Vorher und das Nachher der Zustandsänderung Klarheit herrscht, da es ja sonst keine manifesten Anhaltspunkte dafür gibt. Sicherlich m u ß der symbolische Akt in irgendeiner Weise auf das Ereignis referieren, verbal ausbreiten m u ß er die Verhältnisse jedoch nicht. Damit wäre die oben aufgestellte Forderung (notwendige Äußerung bei zu vernachlässigendem Inhalt) erfüllt,und es läßt sich als These aufstellen:

Die Verwendbarkeit von vorgeprägten T e x t e n in Ritualen hängt davon ab, ob in ihrem Z e n t r u m eine Sprachhandlung mit der performativen Modus CAUS und der Proposition: „X gilt als Y" steht.

Sowohl tiefen- wie auch oberflächenstrukturell verringern sich damit die Sprachverhaltensmöglichkeiten extrem. Einer alternativelosen Tiefenstrukturkette

28 Vgl. Große, op. cit., p. 56. 29 Eine weitere wesentliche Restriktion besteht darin, daß „gilt als" nur durch eine präsentische V e r b f o r m an der Oberfläche ausgedrückt werden kann. 30 Daß es „nur" auf Zeichen und nicht auf sprachbedingte Informationsvermittlung ank o m m t , zeigen die gestischen CAUS-Akte, die mit verbaler Unterstützung, aber auch ohne sie a u s k o m m e n : Ritterschlag, Taufe, Segen usw.

207

Textreproduktionen TS:

[NEUTR. ERNST

[ICHCAUS

[ 3 1 - [X gilt als Y ] ] ] ]

entspricht Einfachheit und Kürze in der Oberfläche: Neutraler Ernst verhindert die Verwendung von Elementen persönlicher Stellungnahme und läßt höchstens institutionalisierte, d.h. situationsstereotype Variierung zu. Für ein explizites CAUS stehen im Deutschen nur sehr wenige Verben zur Verfügung (etwa: bewirken, bestimmen); meist aber k o m m t es während des Transformationsprozesses zur Integration von CAUS und der durch X und Y spezifizierten Proposition (ernennen, taufen, vergeben/die Vergebung verkünden; verurteilen usw.) 3 2 . Doch auch dafür sind im Lexikon nicht allzuviele performative Ausdrücke vorhanden. Fakultative Zusätze können weiterhin noch sein: der Hinweis auf den Rechtfertigungshintergrund als Apposition zu ICH (ICH „als Vertreter der Krone") sowie eine kleine Anzahl lokal-/temporal- oder medialdeiktischer Elemente (hier, jetzt, hiermit). Da auch X und Y thematisch und situativ gebunden sind, ist die Bandbreite denkbarer Textvarianten im Vergleich zu anderen Sprachhandlungen sehr gering. Daß dem Zusammenspiel von Neutraler Ernst, CAUS und „gilt als" keine Konnotationen im semantischen Bereich vorgesehen sind, Texte demnach nur denotativ funktionieren, erleichtert die Übernahme vorgeprägter Texte sehr, legt sie sogar nahe. Für die Handlung selbst würde dieser zentrale Bewirkungstext ausreichen und bräuchte nicht durch die Pseudomitteilungen und Pseudoaufforderungen, von denen oben die Rede war, ergänzt werden. Sie aktualisieren die im Zusammenhang mit der Neusetzung durch CAUS stehenden Fakten: Aitiologischen 33 Begründungen und Motivationen 3 4 , Folgerungen 3 5 . Gestützt durch die Verbindlichkeit des handlungstheoretisch relevanten CAUSAkts füllen sie das Ritual auf und man könnte sie in Anbetracht ihrer referentiellen Bindung an CAUS als eingeschränkte Mitteilungen (bzw. Aufforderungen) einordnen:

31 Cf. N 10. 32 Ernennen: ICH CAUS + X gilt als Y/X: nomen proprium; Y: Appellativ + Element einer Ämterhierarchie. Taufen: ICH CAUS + X gilt als Y/X: Du; Y: nomen proprium. Verurteilen: ICH CAUS + X gilt als Y/X: nomen proprium; Y: schuldig usw. 33 Z. B. die Rückführung von Beichte und Abendmahl auf die biblische Ursituation. 34 Z. B. „Der hier anwesende X und die hier anwesende Y sind bereit in den Stand der Ehe einzutreten" oder die pauschalen Begründungen für Habilitationen u. dgl. 35 Z. B. Maßgaben, die sich aus dem durch CAUS initiierten neuen Status für den betroffenen ergeben.

208 [+Neutr.Ernst

P. Kern [+MITT

[+ASS. - SUBJ

[X../

[+bekannt ] ] ] ] ]

[DU../

[+bekannt ] ] ] ] ]

36

+VOL 3 6 [+Neutr. Ernst

[+AUFF

[

-

Da aber nur Bekanntes vermittelt wird, 3 7 bleibt nach wie vor ein gewisses Unbehagen, sie in gleichem Maße wie die CAUS-Aktion als vollverbindliche Sprachhandlungen zu verstehen. Aktualisierung allein ist n u n einmal nicht das essentielle Merkmal einer Mitteilung. Wenn ein Pfarrer im Zusammenhang mit dem Abendmahlvollzug die Einsetzungsworte Jesu als Aitiologie rituellwiederholend vorträgt, fragt man sich, ob er wirklich „ m i t t e i l t " . Es sei daher folgendes zur Diskussion gestellt: die in Frage stehenden Mitteilungen u n d A u f f o r d e r u n g e n sind keine der CAUS-Aktion vergleichbaren T e x t r e p r o d u k tionen, sondern „Adaptionen" im oben definierten Sinn. Der Sprecher adaptiert aus Gründen der Situationsähnlichkeit (der Ritus will ja eine Situation wiederholen) einen für die Urkonstellation geprägten T e x t , ohne daß er — wie bei CAUS — diesen Textteil in völliger Eigenverantwortlichkeit realisiert. Ein sprachlicher Ritus wäre in seinem Ablauf zu definieren als eine CAUS-Handlung, u m die sich eine Reihe von A d a p t i o n e n gruppiert, die die metaillokutionären u n d metapropositionalen Voraussetzungen von CAUS übernehmen, aber entsprechend ihrer S t r u k t u r nicht den vollen Verbindlichkeitsgrad des Ritualkerns b e s i t z e n 3 8 . Bisher w u r d e nur u n t e r s u c h t , w a r u m die Verwendung vorgeprägter, fixierter Texte im Ritus möglich ist oder naheliegt und u n t e r welchen Bedingungen sie vollzogen wird; nicht geklärt ist die Frage w a r u m m a n überhaupt auf solche Texte zurückgreift. Hier spielen zweifellos in erster Linie psychologische Gründe eine Rolle, atavistische u n d ästhetische F a k t o r e n , die das Bewußtsein steuern, über die wir nichts aussagen k ö n n e n 3 9 ; unsere Frage lautet vielmehr:

36 VOL-Äußerungen sind (im Unterschied zu subjektiven Meinungskundgaben +ASS; + SUBJ) auch rituell möglich, in dem Maße nämlich, wie im Rahmen der Amtshandlung Wirkungen erwartet werden. Vgl. „Der Herr sei mit Euch" - „Und mit Deinem Geiste" „Wünsche" im Sinne persönlicher Hoffnungen u. dgl. sind das freilich nicht. 37 Die Form, in der ein MITT-Akt am häufigsten erscheint ist dann die „Erinnerung" ([. . . [+MITT . . . [ . [ X . . . / [+bekannt] ] ] ] ] ) ; die „(Er-)Mahnung ( [ . . . [ + AUFF . . . [. [DU . . . I [+ bekannt] ] ] ] ]) ist die häufigste Form von AUFF. 38 Es ergäbe sich dann folgende Systematik: Ritualkern und Adaption sind komplementär distribuierte Formen reproduzierenden Sprachhandelns; Ritualkern tritt nur auf in Form von CAUS, während Adaption nur in Form von MITT oder AUFF erscheint. 39 Dazu gehören Fragen nach dem Wesen des Festes und der Feier, das allem Anschein nach essentiell auf Wieder-Holung und Re-Präsentation beruht und daher im Ritual

210

P. Kern

was legt vom sprachhandlungstheoretischen Aspekt aus die Verwendung solcher Texte nahe? Institutionen sind auf Konvention beruhende Einrichtungen zur Interaktionsregelung. Ob es sich dabei um die Wahrnehmung von Interessen einer Gruppe, den Schutz vor internen und externen interessewidrigen Aktionen oder Bestrafung von Interessenverletzungen handelt, in jedem Fall muß zunächst dieses Interesse in Form und Normen fixiert sein. Staat, Kirche und Kaninchenzüchterverein unterscheiden sich nicht in der grundlegenden Tatsache, daß alles, was sie tun, im Hinblick auf die durch die Gruppe gesetzte Norm geschieht. Der CAUS-Akt ist der sichtbarste Ausdruck dieser Tätigkeit. Hier dokumentiert die Institution den Grund, warum sie eingesetzt wurde, auch nach außen. Durch CAUS wird eine Neusetzung in die durch die Norm gesetzte Wirklichkeit eingebracht, sei es daß sich die Gruppe vergrößert oder verkleinert oder umstrukturiert wird, sei es, daß die Norm selber symbolisch vorgestellt wird oder in der Anwendung ihre Bestätigung findet. Unabhängig davon, welche materiell greifbaren Vorbedingungen und Folgen der CAUSAkt hat, er selber kann nur symbolischer Natur sein, da er die abstrakte Norm repräsentiert. Repräsentation heißt Wiedervergegenwärtigung; darin ist schon über die Zeiten hinweg andauernde Identität der Norm mit sich selbst ausgesprochen, die in der Identität des Symbols ihre Entsprechung finden muß. Daher die Wiederholung des einfurallemal vorgeformten Textes. Daneben darf ein pragmatischer Gesichtspunkt nicht außer acht gelassen werden. Die Institution selbst ist nicht handlungsfähig, sie bedarf der Menschen als Handlungsträger; Amtspersonen, wie man das umgangssprachlich nennt. Je mehr solcher Stellvertreter es gibt, desto größer ist die Gefahr der unzulässigen Disparatheit der Aktionen. Dem kann man durch vorgeprägte Texte vorbeugen, die dem Amtsträger zur Ausübung seiner Funktion vorgeschrieben sind. Nicht die zufällig zur Stellvertretung herangezogene Person, sondern die Institution selbst handelt. Nur sie kann dafür zur Verantwortung gezogen werden, und es sind bekanntlich die Verletzungen vorgeschriebener Handlungsmuster, die unter Umständen zu Sanktionen gegen einen Amtsträger führen. Durch den vorgegebenen Text schützt sich also auch der einzelne Amtsträger und gleicht den Verlust an individuellen Entfaltungsmöglichkeiten durch die Identifikation mit der Institution und deren größerer Verbindlichkeit aus 4 0 . seinen angemessenen Ausdruck findet; nach dem Spieltrieb und dem ihm innewohnenden Sinn für Wiederholungen; nach der kognitiven und affektiven Funktion von Kennen und Wiedererkennen usw. 40 Neben den erwähnten expliziten Bezugnahmen auf die Rollenfunktion trifft man des-

211

Textreproduktionen

Die rituelle Sprachhandlung stellt somit genau das dar, was Roland Barthes 4 1 ein m y t h i s c h e s Zeichen nennt: zunächst b e z e i c h n e t der T e x t einen b e s t i m m t e n Sachverhalt (das, was mit d e m C A U S - A k t erreicht werden soll). In seiner festgelegten Form verweist der T e x t als solcher darüber hinaus aber n o c h auf die N o t w e n d i g k e i t , Aktivität, Existenz, m. a. W. die Daseinsberechtigung der Institution und damit der Gesellschaft s e l b s t 4 2 .

Zusammenfassung 1.0 Betrachtet man die Entstehung von T e x t e n unter sprachhandlungstheoretischem Gesichtspunkt, so läßt sich eine Generierungsbasis postulieren, die aus vier Strata besteht: A ) Proposition

enthält das logisch-semantische Gerüst der Äuße-

B) Metaproposition

enthält die Modalitäten des Gültigkeitsanspruchs,

rung den der Sprecher an den propositionalen Inhalt stellt C) Performativer Modus

enthält die Möglichkeiten v o n Sprachhandlungen ( A u f f o r d e r u n g , Mitteilung, Bewirkung und die subsumierten Sprechakte).

D) Metaillokution

enthält die Modalitäten des Anspruchs, mit d e m der Sprecher mit seinem illokutiven A k t (perform. Modus + Metapropos.) seinem Kommunikationspartner gegenübersteht.

halb auch häufig auf Passivkonstruktionen ohne logisches Subjekt: „Hiermit wird die Republik proklamiert" oder „Das Verfahren ist eröffnet". Darüber hinaus wird meist durch außerverbale Mittel (Knieen, Bedeckung oder Entblößung des Kopfes, Aufstehen usw.) der Sonderstatus, die Sondersituation, der Sonderaugenblick betont. 41 Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 2 1970, p. 93 s. Im Sinne eines solchen Überzeichens wäre der Großesche performative Modus DEM (Große, op. cit., p. 54) zu erklären, dürfte dann aber nicht auf einer Stufe mit INT und CAUS stehen. 42 Je fester eine Zeit an die Eigenständigkeit und Unentbehrlichkeit von Institutionen glaubt, desto mächtiger werden Rituale sein. Umgekehrt muß man aber auch sehen, daß das Ritual nicht nur im amtlich-institutionellen Sinn, sondern auch im privaten Bereich seinen Sinn hat; es erleichtert dem einzelnen sowohl die Deklaration einer erhofften oder gewußten Gruppenzugehörigkeit als auch die Verschleierung von persönlichen Affekten: Traueranzeigen z.B. sind stark durchritualisierte Texte, die nicht nur aus sprachökonomischen Gründen (etwa: dieses Muster einer Traueranzeige hat sich bewährt und daher verwende ich es) immer wieder reproduziert werden.

212

P. Kern

1.1 Jedes dieser Strata hält eine Reihe von Alternativen bereit, aus denen p r o Redekonstellation eine spezifische kommunikative T i e f e n s t r u k t u r mit hierarchischem A u f b a u erstellt wird: [Metaill.

[Perform.

[Metaprop.

[Prop. ] ] ] ]

1.2 Vermittels unterschiedlicher Transformationsmöglichkeiten k ö n n e n aus dieser T i e f e n s t r u k t u r verschiedene Oberflächenstrukturen (konkrete Äußerungen) m i t identischer kommunikativer Leistung transformiert werden; ebenso ist es möglich, aus differenten Tiefenstrukturen oberflächenstrukturell identische Äußerungen mit unterschiedlicher kommunikativer Leistung zu erzeugen.

2.0 Vorformulierte Texte k ö n n e n aus sozialen oder sprachökonomischen Gründen wieder-verwendet werden, unterscheiden sich aber sprachhandlungstheoretisch nicht von spontanen, weil sie jederzeit auch anders formuliert h ä t t e n werden und in ihnen alle Möglichkeiten der vier Strata aktualisiert sein k ö n n e n . 2.1 Zitate n e h m e n eine Sonderstellung ein, weil bei ihnen nicht die gleiche Bandbreite an Aktualisierungsmöglichkeiten vorliegt. Hier besteht nicht die Möglichkeit, auch anders zu formulieren. Z u unterscheiden sind A) Apostrophierungen, w o der Z i t a t t e x t nur das O b j e k t Y in einer Proposition „X sagt Y " darstellt u n d somit als unveränderbares Element einer semantischen Satzrepräsentation f u n k t i o n i e r t . B) A d a p t i o n e n , w o durch ein Merkmal [+ADAPT] in der Metaillokution signalisiert ist, daß die (Teil)-Äußerung vom Sprecher als vorformuliert für die gegenwärtige Situation in A n s p r u c h genommen wird, was einerseits die volle Verantwortlichkeit des Sprechers einschränkt, andererseits gewährleistet, daß der T e x t unverändert an die Oberfläche transformiert wird. 2.2 Sprachrituale verwenden auch vorformulierte T e x t e , verlangen aber im Unterschied z u m Zitat volle Identifikation des Sprechers mit dem Text. 2.2.1 Das gilt zumindest für den Ritualkern, der immer den performativen Modus [+ CAUS] aufweist; darüberhinaus ist die Metaillokution auf die Möglichkeit / Neutraler Ernst / beschränkt.

Textreproduktionen

213

2.2.2 Um diesen Ritualkern können Ritualbestandteile gruppiert sein, die nicht bewirkende Performation aufweisen. Diese mitteilenden und auffordernden Partien können als Reformulierungen gelten, die ihre Aktualisierung aufgrund der Abhängigkeit vom Ritualkern und der gemeinsamen Metaillokution (Neutraler Ernst) erwirken oder/und als Adaptionen zu verstehen sind.

Index

Abwahl 88 accompli 95 103 accomplissement 103 Adaption 1 9 6 - 2 0 1 208 212 213 Adjektiv 68 69 74 131 136 Adverb 6 3 - 6 6 69 70 74 76 86 95 96 134 189 204 Adverbiale 109 115 Affekt 50 55 83 192 193 Affirmation 4 7 - 4 9 Aktant 54 6 1 64 65 67 70 83 8 6 - 9 7 9 9 - 1 0 1 103 105 106 115 116 130 131 1 3 3 - 3 6 138 141 142 192 197 Aktionsstand 83 95 103 104 Aktivierung 61 63 88 116 Aktualisierung 77 81 88 95 116 118 121 208 213 Akzent 174/75 Akzeptabilität 148 Allquantor 17ss. Anakoluth 193 Anapher 8 - 1 1 13 14 17 18 5 8 - 6 0 72 84 87 91 106 150 158 Angabe 115/16 Antezedens 93 150 151 153 154 Antonym 50 Anweisung 14 155 APEL K.-O. VIII Apostrophierung 196 1 9 9 - 2 0 1 212 Appell 85/86 Apposition 207 Äquivalent 85 97 Archimorphem 18 Argument 47 138 143 Argumentationstheorie 108 Artikel 6 8 118 131 - anaphorischer 8/9

- bestimmter 5 8/9 - kataphorischer 8/9 - unbestimmter 5 8/9 Aspekt 37/38 Assertion 130 189 191 Attribut 3 4 - 3 6 70 92 93 Aufforderung 175 189 191 Ausdrucksseite 109 133 Aussage 47 132 134 140 Aussagenlogik 108 113 123 124 Äußerung 16 AUSTIN J.L. 188 194 Autodeiktikon 1 7 7 - 8 0

BACH E. 129 131 BALLMER T h . T . 1 3 9 - 4 1 BALLY Ch. 47 48 83 87 93 95 100 103 116 118 136 BARTHES R. 211 BARTSCH Renate 109 110 116 129 130 Basis 27 110 134 Bauplan 61 85/86 103 Bedeutung 5 6 118 132 - ontische 47 Bedingung 48 Betonung 116 174/75 192/93 Bewirkungsakt 190 191 206 208 Bezugselement 89 149 150 1 5 3 - 6 0 165 BINNICK R. 128 130 131 Blockade 71 BLOOMFIELD L. 51 BOEDER W. 29 BOOST K. 134 BREKLE H.E. 124 127 1 3 0 - 3 5 137 141 145 Bruchzahlen 11

216 BRUNEAU Ch. 105 BRUNOT F. 46/47 49 50 56 105 BÜHLER K. 54 N 26 86 87 166

CARNAP R. 112 125 126 132 140 CHOMSKY N. IX X XII 21 33 116 117 134 148 Chronogenese 80 C-I-T-Linguistik 1 11 Complétive 89 95 co-occurrence 21 COSERIU E. XI 47 CRYMES Ruth 153 N 31

DAHL Ö. 160 DAMOURETTE J. 8 2 - 8 4 87 89 98 100 105 DANES F. 110 Deiktika 87 172 173 175 177 178 180 182 184 Deixis 39 57 106 141 169 N 5 175 180 194 - lokale 182 199 - personale 182 Dekodierung 2 4 6 18 Dekomposition 128/29 Deletion 115 Demonstration 190 Demonstrativa 76 87 104 162 Denotat 146 Dependenz 110 115 135 Designans 152 designated element 21 Designatum 152/53 162 determinant 136 Determinanten 5 18 33 34 36 37 162 Determination 110 146 Determinatum 136 déterminé 136 Diachronie 87 Diaphora 104/05 Diathese 83 Diktum 47ss. 52 53 5 6 - 5 8 61 62 67 136 discours 50 72 83 101 Diskordanz 98 diskursiv 63

Index Distribution 8 11 13 77 101 147 Dominanzprinzip 184 Dual 1 DUBOIS J. 150/51 DUCROT O. 47 154 Durchschnittsmenge 126/27

Eigenname 132 Element 4 - 6 39 139 140 144 Elementarzahlen 6 - 9 14 Elementator 142 145 Elimination 70 195 emisch 175 N 18 Empfänger 2 166 Emphase 135 ENGELS F. IX Ergänzung 115 Erkenntnisinteresse VIII Ersetzungsfunktion 22 152 Erwartung 13ss. Erzähler, fiktiver 167-70 1 7 2 - 8 3 Erzählhaltung 179 Erzählsituation 166-85 etisch 175 Etymologie 46 87 Existenzbehauptung 131 Existenzquantifikator 119 Expansion 69 71 Explikation 138 153 191 expressive Terme 130 Extension 126 129 Extraposition 31 N 25 Extraversion 141

faculté du langage XI FIGGE U.L. 123 Fiktion 166ss. 183-85 FILLMORE Ch. J. 117 127 131 135 FIRBAS J. 136 Flexion 77 Form 121 128-30 132 - freie 51 - gebundene 51 Frage 31/32 39 40 48 78 82 9 6 - 9 9 105 120 161 Fragemorphem 31/32 78 98/99

Index FREGE G. 111 118 122 124 132 Funktion 6 30ss. 147 Funktor 143 GAATONE D. 43 44 N 1 73 152 153 160 GADAMER H.-G. VIII GENAUST H. 7 6 - 1 0 6 Generative Grammatik 134/35 Generierung 27ss. Genus 2 22 1 5 6 - 5 8 Gestik 192 194 GlRAULT-DUVIVIER Ch.-P. 44 46 105 Grammatik 147 147 N 6 148 164 Grammatikalität 147/48 GREVISSE M. 4 4 - 4 6 95 1 0 3 - 0 5 GREWENDORF G. 108 120 GROSS M. 154 GROSSE E.U. 188 190 206 211 N 41 Grundwert XI 43 49 50 63 84 103 104 GUILLAUME G. 54 N 26 76 78 80 HABERMAS J. VIII HAMBURGER Käte 168 N 3 HARRIS Z. S. 20 HARWEG R. 87 109 1 6 6 - 8 5 HASKELL J. 3 6 - 3 8 HENRY A. 87 9 9 - 1 0 1 104 HERINGER H.J. 114/15 129 Hermeneutik VIII Heterodeiktikon 175 178 heteronex 53 55 56 58 62 70 91 Heuristik 163 HJELMSLEV L. 115 121 124 136 homonex 52 53 55 56 67 69 70 Homonymie 112 N 25 Hypotaxe 109 Illokution 108 119 120 189 192 196 197 201 Imperativ 86/87 Indikator 151 Infinitiv 37/38 77 81 94 121 Informationsblock 111 Inklusion 106 138 Inkompatibilität 112 163 Institutionalisierung 203/04 Instruktion 1 6

217 Integration 167 Intension 126 Interdependenz 115 135/36 Interjektion 76 91 189 193 204 Intonation 99 195 Inzidenz 54 N 26 59 63 63 N 44 79 81 82 84 85 90 91 Inzise 68 ISACENKO A. 38 ISENBERG H. 109 ISER W. VII

Kardinalzahlen 11 18 Kasus 135 Kasusgrammatik 107ss. 117 118 127 130 Katapher 8 - 1 1 13 14 17 18 5 8 - 6 0 72 87 89 91 106 150 158 Kategorie 30 32ss. Kategorisierung 164 KATZ J.J. 21 27 Kausativ 128 131 Kennzeichnung 131 KERN P. 1 8 6 - 2 1 3 Klasse 127 132 1 3 8 - 4 0 144 157 Klassifikation 163/64 KLIMA E. 28/29 Kode VIII N 10 2 Kode-Bedeutung 5/6 Kombination 7 8 31 147 170 181 Kommunikanten 2 - 4 Kommunikation 1 81 131 147 147 N 6 148 149 155 157 162 1 6 6 - 6 8 170 189 191 194 202 Kommunikationsmodell 3 167/68 Kommutation 74 101 Komparativsatz 89 98 Kompatibilität 156 162 163 165 Kompetenz X 148 - kommunikative 148 Kompositum 136 Konditionalsatz 89 Kongruenz 1 10 156/57 Konjunktiv 8 0 / 8 1 Konnexion 53 54 N 26 Konnexionsanweisung 155 157 161 162 165 Konnotation 207

218 Konsequenzanweisung 155 Konstellation 170 182 186 196 Konstituentensatz 129 134 136 Konstituentenstruktur 110/11 Kontext 5 10 50 52 53 5 9 - 6 1 63 84 85 90 91 98 111 130 135 136 140 154 165 192 194 195 Kontexthungrigkeit 61 63 Kontraindikation 70 Konversion 141/42 Konzessivsatz 68 73/74 Koordination 6 5 6 8 6 9 7 2 7 3 Kopenhagener Schule 52 Koreferenz 146 149 Kotext 84 Kundgabe 189/90

LAKOFF G. 120 128 - Robin 120 Lambda-Operator 138ss. LANG E. 1 4 6 - 4 8 LANGACKER R. 29/30 langue 50 58 6 0 - 6 3 72 LEES R. 28/29 Lexem 1 121 132 163/64 Lexie 43 45 61 Literaturwissenschaft und Linguistik VII Logik 46 47 130 134 Loquent 81

McCAWLEY J.D. 128 130 131 133 MAILLARD M. 154 161 MARTINET A. 82 Mathematik und Linguistik 5 18/19 MATHESIUS V. 107 MAUCH U. 79 Meinung 5 6 61 67 Meinungskundgabe 189 191 Menge 4 - 6 23 39 127 143 145 Mengenalgebra 126 Mengenraum 12 1 4 - 1 6 Mengenzahlen 9 - 1 1 14 Merkmal 2 1 - 2 4 31 35 77 Metaillokution 191 N 11 1 9 2 - 9 8 200 201 204 208 2 1 1 - 1 3 Metakommunikation 164

Index Metaproposition 1 9 0 - 9 2 194 195 197 201 204 208 211 212 metapropositionale Basis 188 189 191 Metasematisation 101 Metasprache 51 133 134 140 MEYER-HERMANN R. 1 4 6 - 6 5 Mimik 192 194 modale Relation 117 130/31 141 modales Subjekt 49 Modalität 47 48 57 82/83 96 98 136 Modallogik 112 Modus 47/48 80/81 83 130 MOIGNET G. 54 N 26 76ss. 85 94 96 9 8 - 1 0 0 102 154 Monem 43 Monorem 52 56 58 83 95 106 N 57 Morphem 1 4 7 45 51 52 61 77 78 82 116 MÖTSCH W. 28 Muster 186ss. 202/03 Negation 31/32 43ss. 82 9 6 - 9 9 105 130 Netz, kommunikatives 111 - thematisches 110/11 Neuigkeitswert 137 Neutralisation 11 16 18 71 72 77 80 95 98 101 nexuell 53 55 Nexus 52 Nomen 4ss. Nominalkompositum 134/35 Nominalphrase 32 non (fr.) 4 3 - 7 5 noncal 82 Norm 60 72 78 80 97 105 112 120 N 69 210 Normtypus 60 nuklear 55 Nukleus 55 Null-Aktant 90 Null-Aktualisierung 94 Nullform 40 92 Null-Modalität 57 Null-Repräsentant 74 106 Numeralartikel 8/9 12 13 Numerale 1 - 1 9 Numerus 1 - 1 9 135 1 5 6 - 5 8 Nutzwert XI 43 50 96 99 103 130

219

Index Oberflächenstruktur 75 159 160 191 206/07 Objektpronomen 38 Objektsprache 133/34 Ökonomieprinzip 4 150 188 Onomasiologie 46 Ontologie 111/12 119 125 Operator 117 129 N 96 130 Opposition 1 2 13 77 104 106 Ordinalzahlen llss. 18 Organon-Modell 166 Origo 54 N 26 57 63 N 44 87 102 Ort 86 105 166 178 183 - theoretischer 148 153

Paradigma 7 11 51 115 Paradigmatik 43 50 152 Paraphrase 129 138 Parataxe 109 Parenthese 109 Parodie 200 parole 166 Partizip 95 Passiv 135 Performanz X 148 Performation 192 204 performativer Modus 188/89 190-92 194 195 197 205 211 212 performative Verben 108 195 Periphrase 48 50 PERLE F. 76 Permutation 31 N 25 115 Person 78ss. 83 182 Personalpronomen 35 90 146-65 199 PETÖFI J. 110/11 PICHON E. 8 2 - 8 4 87 89 98 100 105 PINCHON Jacqueline 102-04 151/52 Plagiat 199 Plural 1 - 1 9 Polemik 200 Polyfunktionalität 158 Polysemie 112 N 25 Possessiva 33 POSTAL P.M. 21 27/28 Prädikat 47 113 123 124 126 127 130 132-35 138 142 143 Prädikatenlogik 119 124 133 139 140

Prädikation 130 131 134 159 161-63 Prädikatsadverbiale 116 Prädikatsnomen 71 Präfix 43 Pragmatik 4 106 143 144 147 155 Präposition 76 lOOss. Präsens 81 168 172 183 Präsentativ 76 85 87 96 Präsupposition 32 166-85 Präteritum 183 Primitive, semantische 133 „Pro" 21 Pro-Adjektiv 20 Pro-Adverbiale 20 33 38/39 41 42 Pro-Attribut 33 39/40 42 Pro-Form 2 0 - 4 2 87 97 98 100-02 106 149 - bestimmte 28ss. 42 - unbestimmte 2 4 - 2 8 30ss. 40 42 Pro-Fortführung 22 24 30 Pro-Konstituente 27 Pro-Morphem 20 Pronomen 20 32ss. 62 146 147 152-54 156 158 - bestimmtes 35/36 - unbestimmtes 34/35 Pronominaladverb 33 39 Pornominalisierung 28ss. 149 propos 103 136 Proposition 117 119 120 130 141 160 188 189 194-98 201 202 206 207 211 212 Prosatz 33 40/41 4 3 - 7 5 84 87 159 Prosodem 99 Pro-Verb 33 37ss. Psychologie 46

Qualifikator 194 Qualifikation 130 QUINE W.V. 119 134

Rahmenerzählung 184 RAIBLE W. 109 116 118 136 Raum 170 173 202 Reaktualisierung 205 Rede 59 60 79 84 98 100 125

220 - erlebte 183 - indirekte 193 Redewendung 43 80 88 Redundanz 89 199 Referent 2ss. 24 25 30 85 Referenz 22 23 27 29 36 87 92 104 105 111 121 123 125 1 2 9 - 3 1 137 140 146 150 151 1 5 3 - 5 5 157 161 162 165 166 1 9 0 - 9 2 195 196 N 18 197 201 203 Referenzanweisung 1 5 5 - 5 7 159 1 6 1 - 1 6 5 Referenzsemantik 111 Regel VIII REICHENBACH H. 130 Rekonstruktion 148 1 6 6 - 8 5 Relationalität 87 Relationskonstante 133 Relativsatz 9 2 - 9 4 - restriktiver 35 138 Relator 133 Relevanz, kommunikative 135/36 remplacement 152/53 Repräsentant 8 5 - 8 7 1 5 1 - 5 4 Reproduktion 1 8 6 - 2 1 3 Restriktion 29 30 34 37 86 193 204 Rezipient 1 6 7 - 7 0 1 7 2 - 7 5 177 178 1 8 0 83 Rhema 68 83 103 107ss. 110 113 135 138 142-44 Ritual 186ss. 193 196 2 0 1 - 1 1 212/13 ROBINSON Jane 117 Rolle 202/03 ROSS J.R. 29 108 120 Rundzahlen 12ss. RUSSELL B. 111 1 1 8 - 2 0 122 124 125 131 132

Sachverhalt 88 96 98 127 132 1 3 8 - 4 1 144 146 1 6 6 - 6 9 182 Sachverhaltstheorie 113 123/24 SANDERS G.A. 147 SANDFELD K. 152 N 69 161 N 51 SAPIR E. 125 Satz 32 43 51 52 61 6 7 - 6 9 83 107 110 1 1 4 - 3 4 135 136 138 140 141 146 147 158 159 171 - gebundener (phrase liée) 63 100 103

Index - segmantierter 51 56 58 68 100 Satzbasis 129 N 96 134 Satzbauplan XI 55 62 84/85 Satzinhaltsform 134 138ss. 144 Satzkonstitution X Satzperspektive, funktionale 107ss. 135 Satzpronominalisierung 159/60 Satzrepräsentant 69 73 74 106 194 197 Satzsemantik 129 Satzverknüpfung 43 Satzwort 83 SAUSSURS F. de XI SCHECKER M. 1 0 7 - 4 5 SCHUCHARDT H. 129 131 SCHULZ Gisela 109 SEARLE J.R. 111 1 1 8 - 2 0 124 1 3 0 - 1 3 2 188 194 195 Semantem 94 Semantik 50 144 155 163 - extensionale 108 111 126 127 144 - generative 1 2 8 - 3 1 194 Semem 112 N 25 semi-grammatisch 147 Semiom 99 Semstruktur 88 Sender 2 166 168 Sequenz, progressive 93 103 SGALL P. 107 130 135 137 Sigma-parole 120 N 69 Signalfunktion 85/86 Singular 1 - 1 9 Sinn 118 Sinneffekt 6 1 9 1 Situation 5 60 61 84 85 90 91 137 141 1 6 6 - 6 8 170 186 191 192 197 situativ 60 source sémantique 89 Sparform 86 88 95/96 Sprachhandlung 186ss. 190 195 196 202 205 208 210 Sprachspiel 1 2 6 Sprechakttheorie XIII 108 119 120 1 8 7 89 194 195 Sprechhandlung 175 201 SPRUNK K. 106 N 57 STALNACKER R.C. 160 STEINITZ Renate 22 24 30 38 Stimmung 192

221

Index Stimulus 5 7 - 5 9 70 71 STRAWSON P.F. I l l 118-21 128 132 Strukturalismus 84 Subjekt 126 132 135/36 - psycholigisches 134-36 Subjektivierung 135 Subkategorisierung 116 Subklassifizierung 30ss. Substantiv 69 70 74 118 121 131 Substanz 121 128-30 132 Substituendum 15^ Substitut 70 150-53 Substitution 43ss. 74 79 90 91 114 1 3 6 39 149 150 154 Suppletion 58 60 Symbolwert 86 Synchronie 87 100 Synonymie 163 Syntagma 45 78 Syntagmatik 43 51 98 153 Syntax 1 4 50 72 76 155 - und Semantik 5 - generative 110 System XI 49 59 80 88 Systemeinheit 60 Systemwert 61 101 130 Tagmemik 108 Teilsatz 52 61 67 68 71 Tempus 8 1 - 8 3 116 117 145 168 172 181 182 199 Termtheorie 131 TESNIERE L. 53 83 85 Text VII 43 87 107 110 134-44 146 149 160 163 165ss. 187 N 3 - fiktionaler 166ss. Textbauplan XI Text-Bedeutung 5 6 98 Textgrammatik 146 147 151 157 162 179 Textkonstitution IX X 43 44 55 72 140 Textlinguistik VIIss. 108 109 148 164 171 Textologie 175 179 Textreproduktion 186-213 Textsemantik 5 Textsyntax 5 76 ss. Textualität 1 Thema 68 95 107-45 Themenhierarchie 137

Theoriesprache 133 Tiefenkasus 117 127 131 135 Tiefenstruktur 26 28 75 111 117 120 129 N 96 134-36 159 160 189 191 194 196 199 206 Tilgung 27 36 TODOROV T. 47 TOGEBY K. 52 N 21 toncal 82 topic/comment 116 Topikalisierung 135 199 Transformation 27 28 31 38 99 129 N 96 135 194 195 197 199 207 Transition 136 Transitivität 85 Translat 96 Translation 96 Translativ 64 89 94 96 103 transphrastische Syntax 43ss. 56 106 Transposition 15 64 71

übereinzelsprachlich 19 Umfeld 169 N 5 ungrammatisch 34 81 147/48 unipersonal 78/79 Universalien 2 19 unpersönlich 79

Valenz 85 107-45 Valenzgrammatik 107ss. 115 Variation 179 VATER H. 2 0 - 4 2 VENNEMANN Th. 129/30 Verb lss. 61 67 76ss. 83 85 87 88 116 118 123 127-31 133 134 136 141 142 verbum dicendi 196 201 Verweis 149/50 165 Verweisform 146-65 Verweisrelation 163 voici (fr.) 7 6 - 1 0 6 voilä (fr.) 7 6 - 1 0 6 Vokativ 29 Vorwissen 174

Wahrheitswert 32 112 125

222 WARTBURG W. v. 105 Wechsellogik 108 WEINRICH H. VII 1 - 1 9 137 168 N 3 Welt 167 - mögliche 108 111 112 114 123 1 2 5 127 141 W-Formen 39 WHORF B.L. 125 Widerspruch 112 Willensäußerung 189 191 Wirklichkeitsmodell 156 WITTGENSTEIN L. 111 120 123 124 144 Wortbildung 43 wortinterne Syntax 43 Wortsemantik 129 Wortstellung 116 117 135 136 192/93 Wortwahl 192

Index WUNDERLI P. 4 3 - 7 5 84 87 116 WUNDERLICH D. X 29 126 147 N 6 193 N 15 WUNDT W. 129

Zahlentheorie 1 - 1 9 Zahlwort 1 - 1 9 134 Zeichen 1 76 86 108 109 122 143 144 Zeit 166 168 170 173 202 Zeitangabe 9 9 - 1 0 4 Zirkumstant 54 61 67 70 71 8 5 - 8 7 97 100 103 Zitat 186ss. 1 9 6 - 2 0 1 202 212 ZUMTHOR P. 105 Zuordnungsoperation 138 Zweitstruktur 1,34