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German Pages 168 [172] Year 2007
Text und Skulptur Berühmte Bildhauer und Bronzegießer der Antike in Wort und Bild herausgegeben von Sascha Kansteiner, Lauri Lehmann, Bernd Seidensticker und Klaus Stemmer
Ausstellung in der ABGUSS-SAMMLUNG ANTIKER PLASTIK BERLIN
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Ausstellung TEXT UND SKULPTUR Berühmte Bildhauer und Bronzegießer der Antike in Wort und Bild 20. Juli-14. Oktober 2007 in der ABGUSS-SAMMLUNG ANTIKER PLASTIK des Instituts für Klassische Archäologie an der Freien Universität Berlin Schloss-Str. 69b 14059 Berlin-Charlottenburg Tel.: 030/342 40 54 Fax: 030/33 77 83 32 www.abguss-sammlung-berlin.de Konzeption und Realisation: Die Herausgeber Katalogtexte: s. Autorenverzeichnis Photos: Bärbel Paetzel Layout: Christine Seidel Bildbearbeitung: Natalia Toma Beschriftung und Aufbau: Teresita Gonzales, Stefanie Klinitzke, Nicole Kühn, Nicole Richter und Anke Weber Restauratorische Betreuung: Stefano di Michele, Caspar-Tom Kern, Alena Körting und Franziska Schlicht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-11-019610-8 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlagabbildung: Papyrus in Berlin (s. Appendix 1); Athena-Marsyas-Gruppe (s. Kat. 5.2) Druck und buchbinderische Verarbeitung: Druckhaus Köthen GmbH, Köthen
Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung
V VI
Katalog Archermos
Marmorstatue der Nike (?)
1
Marmorstatue einer Kore
5
Bronzestatuen der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton
8
Antenor
Kritios und Nesiotes Sokrates Myron Phidias
Relief der drei Chariten
15
Bronzestatue eines Diskuswerfers Bronzegruppe der Athena und des Marsyas
20 25
Statue der Athena Kolossalstatue der Athena Parthenos Statue des Anakreon Bronzestatue einer verwundeten Amazone
28 33 47 50
Herme des Hermes Propylaios
53
Statue des Perikles Bronzestatue einer verwundeten Amazone
57 58
Bronzestatue des Kyniskos Bronzestatue eines Doryphoros Bronzestatue einer verwundeten Amazone Bronzestatue eines Diadumenos
62 65 69 70
Statue eines Athleten mit Diskus
75
Bronzestatue der Eirene
78
Statue(tte) einer Mänade
82
Bronzestatue des Apollon mit der Eidechse Marmorstatue des Hermes mit dem Dionysosknaben
90 94
Alkamenes Kresilas
Polyklet
Naukydes
Kephisodot Skopas
Praxiteles Lysipp Boïdas
Bronzestatue eines siegreichen Athleten „Agalma“ des Kairos
98 101
Statue eines Betenden
112
Chares
Kolossalstatue des Helios
114
Bronzestatue der Antiochia
118
Statue eines Knaben, der eine Gans würgt
122
Statuen des Apollon und des Herakles Vierfigurige Kultbildgruppe
125 129
Weihrelief eines Dichters
133
Marmorstatue eines Kämpfenden
138
Marmorstatue des Paniskos
140
Marmorstatue des sitzenden Philoktet (?)
143
Kolossalstatue des Herakles
146
Eutychides Boethos
Damophon Archelaos Agasias Kerdon
Apollonios Glykon
Appendix 1: Papyrus in Berlin
150
Appendix 2: Overbeck: Leben und Werk
152
Verzeichnis derAbkürzungen
154
Abbildungsverzeichnis
155
Verzeichnis der Autoren Adolf H. Borbein Jörg Deterling Klaus Hallof Sascha Kansteiner Ralf Krumeich Lauri Lehmann Massimiliano Papini Joachim Raeder Fabian Reiter
V
Vorwort 1868 veröffentlichte Johannes Overbeck „Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen“. Das Werk hat Generationen von Altertumswissenschaftlern als unentbehrliche Quellensammlung zur Geschichte der antiken Kunst gedient, bedarf aber nach fast anderthalb Jahrhunderten dringend einer gründlichen Erneuerung. Konnte Overbeck bei seinen Lesern noch auf ausreichende Literatur- und Sprachkenntnisse bauen, so ist die Sammlung heute für viele an den Texten Interessierte ohne Übersetzung und Kommentierung nicht mehr zu nutzen. Dazu kommt, dass sich der Quellenbestand vor allem durch die zahlreichen epigraphischen Neufunde erheblich erweitert hat; und schließlich bedürfen die bis zu Overbeck bzw. von Overbeck selbst und die in den folgenden 140 Jahren auf der Basis seines Quellenwerks vorgenommenen Identifizierungen und Zuweisungen antiker Skulpturen an namhafte Künstler dringend einer kritischen Überprüfung, die nur auf der Basis einer grundlegend neuen Edition und Analyse der Quellen erfolgen kann. Die seit langem allgemein als Desiderat erkannte Erneuerung des Overbeck ist das Ziel eines von der DFG geförderten Projekts, dem sich die Herausgeber des Katalogs seit mehr als drei Jahren widmen. Die in mehreren Lehrveranstaltungen am Institut für Klassische Archäologie der Freien Universität Berlin durch die Herausgeber vorbereitete Ausstellung „Text und Skulptur – Berühmte Bildhauer und Bronzegießer der Antike in Wort und Bild“ und ihr Katalog präsentieren der Öffentlichkeit die ersten Früchte der interdisziplinären Arbeit, die voraussichtlich in drei Jahren mit der Publikation des Neuen Overbeck (in 5 Bänden) abgeschlossen sein wird. Wir danken Adolf H. Borbein, Jörg Deterling, Ralf Krumeich, Massimiliano Papini und Joachim Raeder für ihre Beiträge, Klaus Hallof, der als Co-Editor für die epigraphischen Teile des Neuen Overbeck verantwortlich zeichnen wird, für die Bearbeitung der im Katalog erscheinenden Inschriften und Fabian Reiter für die Präsentation zweier Papyri und die Leihgabe eines Papyrus aus der Papyrologischen Sammlung des Ägyptischen Museums Berlin. Ein besonderer Dank gilt den beiden hauptamtlichen Mitarbeitern des Projekts, Sascha Kansteiner und Lauri Lehmann, die den weitaus größten Teil des Katalogs verfasst haben. Zu danken ist schließlich auch dem Verlag Walter de Gruyter, in dem der Neue Overbeck erscheinen wird, und insbesondere Sabine Vogt für die fachkundige Beratung und Betreuung. Die Gerd-Rodenwaldt-Gedächtnis-Stiftung, die Freunde & Förderer der Abguss-Sammlung Antiker Plastik Berlin e.V. und die Freunde und Förderer des Seminars für Klassische Philologie der Freien Universität Berlin – Philologia e.V. haben den Druck des Katalogs finanziell gefördert. Ihnen sei wie allen anderen Helfern herzlich gedankt! Berlin, den 13. Juni 2007
Bernd Seidensticker und Klaus Stemmer
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Einleitung „Neben den schriftlichen Ueberlieferungen aus dem Alterthum, unmittelbarer oder mittelbarer Art, mögen diese auf Papier, Pergament, Stein, Thon, Holz, Elfenbein, Erz, überhaupt Metallen, oder sonst irgend wie erhalten sein, mögen sie das grosse Literaturwerk oder die nackte Sammlernotiz oder den Zauber- oder Kinderspruch, die offiziellen Akte irgend einer Genossenschaft oder den Willen oder nur den Namen eines Todten, eines Besitzers, Fabrikanten u. dgl. oder eine Notiz im Verkehrsleben uns vorführen, steht eine andere Klasse von Denkmälern, die nicht durch das Medium der Sprache und Schrift zu uns reden, sondern durch die örtliche Fixierung, ihre chemische Beschaffenheit, ihr Gewicht, ihre Farbe, ihre Form.“ Carl Bernhard Stark, Systematik und Geschichte der Archäologie der Kunst (1880) 4f.
Jede Archäologie gleich welcher Fachrichtung versucht, die Lebens- und Geisteswelt einer vergangenen Kultur in allen ihren Bereichen zu rekonstruieren. Dabei bieten die geschichtlichen Perioden, die sich per definitionem durch ihr Schrifttum von den vorgeschichtlichen absetzen, den entscheidenden Vorteil, dass zu ihrer Erschließung auch auf schriftliche Zeugnisse zurückgegriffen werden kann. Für die erhaltenen materiellen und schriftlichen Zeugnisse aus der Antike, der Kultur der Griechen und Römer, ist seit der Renaissance die Klassische Altertumswissenschaft zuständig, in der zunächst die Klassische Philologie eine leitende Funktion übernommen und die Forschungsinhalte bestimmt hat. Die Klassische Archäologie, die sich mit der gesamten materiellen Hinterlassenschaft der Antike beschäftigt, hat sich erst kurz vor der Mitte des 19. Jhs. als eigenständige Disziplin von ihr getrennt. Beide Disziplinen haben also die gleichen Wurzeln und eine vergleichbare Zielsetzung und ergänzen sich bei einer umfassenden Behandlung eines Gegenstandes bzw. einer Fragestellung aus den Bereichen Kunst oder Technik, Kult oder Staats- und Privataltertümer gegenseitig. So ist die Klassische Philologie z.B. für das Verständnis der Produktions- und Rezeptionsbedingungen des antiken Dramas auf die archäologischen Erkenntnisse zur Entwicklung der antiken Theaterbauten angewiesen und kann ohne die Hilfe der Klassischen Archäologie weder die Bildbeschreibungen in der antiken Literatur noch die zahlreichen Epigramme auf Kunstwerke oder Künstler verstehen. Umgekehrt ist eine genaue Kenntnis antiker Texte für die Klassische Archäologie aus mehreren Gründen essentiell. Auf der Grundlage von Texten, die eine Beschreibung antiker Landschaften und Städte, ihrer Heiligtümer und ihrer Weihungen liefern, lassen sich vielfach Aufstellungsorte von Monumenten ermitteln, die nicht in situ oder in Form von Kopien erhalten sind. Vor allem mit Hilfe der Beschreibungen des Reiseschriftstellers Pausanias (2. Jh. n. Chr.) gelingt es z.B., sich ein Bild von den vielen bedeutenden Skulpturen zu machen, die die Akropolis von Athen seit dem 5. Jh. v. Chr. schmückten. Als Beispiele aus der Ausstellung seien das Chariten-Relief (Kat. 4.1.), die Athena Lemnia (Kat. 6.1.), der Anakreon (Kat. 6.3.), der Hermes Propylaios (Kat. 7.1.) und der Perikles (Kat. 8.1.) genannt.
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Gelegentlich kann die Beschäftigung mit antiken Texten auch für die Rekonstruktion bestimmter Monumente von Nutzen sein: allein anhand der überlieferten zahlreichen Wiederholungen der Athena Parthenos (Kat. 6.2.) wüssten wir z.B. nicht, dass ihre Sandalen mit Reliefs geschmückt waren. Dies geht aber aus einer Passage in der Naturkunde des Plinius (Kat. 6.2.3.) hervor. Einige Schriftzeugnisse bieten außerdem die Möglichkeit, eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie antike Bildwerke bald oder lange Zeit nach ihrer Aufstellung auf den Betrachter gewirkt haben. Ein eindrückliches, auch vom Umfang her bemerkenswertes Beispiel hierfür sind die Ausführungen des Kallistratos zur Mänade des Skopas (Kat. 12.1.5.). Maßgeblich sind antike Texte vor allem für die Zuweisung von erhaltenen Statuen oder, wichtiger noch, von Kopien oder Fragmenten solcher Statuen an bestimmte Bildhauer. Ohne die kunstkritischen und kunstgeschichtlichen Bemerkungen in der Literatur der Antike wären wir gezwungen, uns bei der Beurteilung antiker Skulpturen und Statuenkopien ausschließlich auf formal-ästhetische Beobachtungen und Analysen zu stützen. Schon 1506 gelang es aber den bei der Wiederauffindung des Laokoon (inv. 2/57) herbeigerufenen gebildeten Kunstkennern, Michelangelo und Giuliano da Sangallo, die Skulpturengruppe sofort zu benennen, weil sie sich an die Textstelle bei Plinius erinnerten (SQ 2031). Auch der 1545 gefundene „Farnesische Stier“ (inv. 83/16) konnte noch im 16. Jh. mit der bei Plinius erwähnten Gruppe (SQ 2038) identifiziert werden, welche die Bestrafung der Dirke zum Inhalt hat. Von den in der Austellung präsentierten Skulpturen wurde als nächste, allerdings erst 1756, der Apollon Sauroktonos mit der von Plinius erwähnten Statue von der Hand des Praxiteles (Kat. 13.1.) identifiziert, und zwar von Johann Joachim Winckelmann, der sich eine Erkenntnis des Gemmensammlers Baron von Stosch aus dem Jahr 1724 zu Nutze machte. Im Zeitalter Winckelmanns begann die antike Skulptur, anders als zuvor in der Epoche der vorwiegend antiquarisch ausgerichteten Altertumsforschung, in den Mittelpunkt des Interesses an der Kunst der Antike zu rücken. Mit ihrem Modellcharakter für die Hofbildhauer sowie als repräsentative Ausstattung der fürstlichen Schlösser und Vorzeigeobjekt der ersten museumsartigen Sammlungen avancierte sie zur sog. Königsgattung innerhalb der antiken Kunst. Dies war nicht allein dem hohen Ethos der oft heroischen oder historischen bzw. imperialen Sujets geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass die Skulptur wegen ihrer komplexen und differenzierten Formensprache am ehesten als künstlerischer Ausdruck der klassischen Epoche verstanden wurde und darüberhinaus auch noch einen Hauch der antiken Künstlerpersönlichkeit und ihrer Intentionen verspüren ließ. Die im 15. Jh. einsetzende und rasch zunehmende Verbreitung der antiken Literatur durch gedruckte Editionen förderte das Bestreben, bedeutende Skulpturen mit den bekanntesten Bildhauernamen aus der antiken Literatur zu verknüpfen. Dieses Interesse an großen Namen hat seinen Ursprung in der Antike: prominentes Beispiel sind die kolossalen Dioskuren auf dem Quirinal (inv. 07/4–5), die man in der Spätantike durch die Anbringung von Inschriften als Werke des Phidias und des Praxiteles auszuweisen versucht hat. Winckelmanns Nachfolger im Amt des päpstlichen Oberaufsehers aller Altertümer in und um Rom, Giambattista Visconti, wird die Erkenntnis verdankt, dass der berühmte, unter anderem von Plinius erwähnte Diskobol des Myron (Kat. 5.1.) in Kopien erhalten ist; Viscontis Sohn Ennio Quirino Visconti verband wenige Jahre später, 1790, als erster
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die Adaption der Tyche von Antiochia im Vatikan (Kat. 17.1.) mit der Statue, die Pausanias dem Bronzegießer Eutychides zuweist; vor allem im dritten Viertel des 18. Jhs. war dann eine relativ große Zahl von Identifizierungsversuchen von anhaltendem Erfolg gekrönt: Emil Braun identifiziert 1850 den Apoxyomenos des Lysipp (Kat. 14.1.), Heinrich Brunn 1853 den Marsyas aus der Athena-Marsyas-Gruppe des Myron (Kat. 5.2.) und 1867 die Eirene des Kephisodot (Kat. 11.1.), Karl Friederichs 1859 die „Tyrannenmörder“ des Kritios und Nesiotes (Kat. 3.1.) und 1863 den Doryphoros des Polyklet (Kat. 9.2.), Adolf Michaelis 1879 den Diadumenos (Kat. 9.4.). Heinrich Brunn, der weitgehend auf antike Textquellen gestützt und ohne jede Abbildung im Jahr 1853 eine „Geschichte der griechischen Künstler“ vorgelegt hat, verdankt die Forschung entscheidende Impulse für eine vorwiegend stilkritische Betrachtung der antiken Plastik. Sein Schüler Adolf Furtwängler führte diesen Forschungszweig mit der maßstabsetzenden Veröffentlichung „Meisterwerke der griechischen Plastik“ (1893) zu einem frühen Höhepunkt, indem er nahezu alle damals bekannten Kopien griechischer Originale des 5. und 4. Jhs. v. Chr. durch stilkritische Analysen dem Œuvre einzelner Bildhauer zuwies. Kaum vorstellbar ist Furtwänglers epochales Werk ohne die zahlreichen Vorarbeiten, unter anderem diejenige von Johannes Overbeck, der sich in den 1860er Jahren entschloss, alle literarischen und epigraphischen Zeugnisse zur antiken Kunst zu sammeln, zu ordnen und in einem Corpus zu edieren. Die 1868 erschienene Publikation „Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen“ präsentiert auf 475 Seiten knapp 2500 Texte, die heute um ca. 500 literarische und ca. 1300 inschriftliche Belege ergänzt werden können. Von diesen rund 4300 Testimonien zu bildenden Künstlern entfallen ca. 2000 literarische und ca. 1500 epigraphische Belege auf Bildhauer. Während für die Bildhauer der archaischen und klassischen Zeit die literarischen gegenüber den epigraphischen Zeugnissen überwiegen, kehrt sich das Verhältnis im Hellenismus um. Nachrichten über griechische Bildhauer finden sich in beinahe allen Gattungen der antiken und byzantinischen Literatur – in poetischen und prosaischen Texten, bei bekannten und entlegenen Autoren. Das Spektrum der Texte reicht von Fachschriftstellern wie Plinius, Strabon und Quintilian oder einem Perihegeten wie Pausanias über Dichter wie Herondas oder die zahlreichen Epigrammatiker der Anthologia Graeca bzw. im römischen Bereich Martial und Ausonius, Philosophen wie Platon und Aristoteles, Redner wie Demosthenes, Cicero, Dion von Prusa und Aelius Aristides, Geschichtsschreiber wie Thukydides, Diodor, Zosimos und Malalas sowie Biographen wie Plutarch und Diogenes Laertios bis hin zu Scholien und Lexika. Auch der chronologische Umfang der Quellen aus zwei Jahrtausenden ist enorm und reicht von den homerischen Epen, in denen bereits mythische Künstler erwähnt werden, bis hin zu einem byzantinischen Gelehrten wie Johannes Tzetzes, der in einigen Kapiteln seiner Chiliades auf die berühmten Bildhauer des 5. und 4. Jhs. v. Chr. wie Myron, Phidias, Polyklet und Lysipp eingeht. Obwohl die Testimonien zu Bildhauern weit über die gesamte Literatur verstreut sind, konzentriert sich die Vielzahl der Erwähnungen doch auf zwei Werke des 1. und 2. Jhs. n. Chr.: die Naturalis historia (Naturkunde) des Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) und die Perihegese (Reisebeschreibung) des Pausanias (ca. 115 – ca. 180 n. Chr.). Von den 37 Büchern der wohl 78 n. Chr. publizierten Naturalis historia sind für archäologisch-kunstgeschichtliche Fragestellungen insbesondere die Bücher 34–36 interessant, in denen sich längere Passagen zur Bildhauerei (Buch 34 und 36) und zur Malerei (Buch
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35) finden. Im 34. Buch, das die verschiedenen Metalle thematisiert und daher auch als „Metallurgie“ bezeichnet wird, behandelt Plinius im Abschnitt zu Kupfer und Bronze die griechischen Bronzegießer. Nach einer chronologischen Übersicht geht er zunächst auf die berühmtesten Bildhauer wie Phidias, Polyklet und Myron ein, führt dann einen weitgehend alphabetisch geordneten Katalog weiterer Bildhauer an und schließt den Abschnitt mit nach inhaltlichen Kriterien zusammengestellten Bildhauern ab. Im 36. Buch, das die verschiedenen Steinarten zum Gegenstand hat und daher auch als „Mineralogie“ bezeichnet wird, findet sich bei der Behandlung des Marmors eine ausführliche Passage zu bedeutenden Marmorskulpturen und deren Schöpfern. Bei der in der Zeit zwischen 160 und 180 n. Chr. verfassten Perihegese des Pausanias handelt es sich dagegen um einen nach Landschaften gegliederten Reiseführer durch Griechenland: Die Perihegese des Pausanias ist das einzige erhaltene Werk dieser Gattung. Von anderen Perihegeten wie dem hellenistischen Reiseschriftsteller Polemon von Ilion sind lediglich Fragmente bekannt. Pausanias hat Griechenland bereist und kannte die von ihm beschriebenen Kunstwerke aus eigener Anschauung. Neben literarischen Quellen, die er vorwiegend für mythologische und historische Erläuterungen verwendete, hat er seine Informationen aus Inschriften und aus Gesprächen mit Einheimischen, insbesondere lokalen Fremdenführern, bezogen (vgl. z.B. Kat. 19.2.1. mit Anm. 378). Für die Ermittlung des Aufstellungskontexts eines Kunstwerks sind seine Angaben zur Lokalisierung sehr wertvoll, da solche in anderen Schriftquellen weitgehend fehlen. Im Gegensatz zu Pausanias stellte der enzyklopädisch arbeitende Plinius die Passagen zur bildenden Kunst in den Büchern 34–36 seiner Naturalis historia aus kunsthistorischen Fachschriften zusammen. Unser Wissen über die kunstgeschichtlichen Schriften der Antike ist jedoch sehr begrenzt, da sich keine einzige erhalten hat. In den Autorenindices im ersten Buch gibt Plinius die von ihm benutzten Schriftsteller – meist ohne Titel, selten mit lateinischem Kurztitel – an. Die sog. Quellenforschung des 19. Jhs., zu deren bedeutendsten Vertretern August Kalkmann und Friedrich Münzer gehörten, glaubte, auf Grundlage des Plinius-Texts die verlorenen kunsthistorischen Fachschriften rekonstruieren zu können. Doch sind ihre Ergebnisse weitgehend hypothetisch. Denn sicher lassen sich Angaben bei Plinius nur dann auf frühere Autoren zurückführen, wenn Plinius seine Quelle im unmittelbaren Kontext nennt. Auf den Arbeiten der Quellenforschung aufbauend vertrat Bernhard Schweitzer in seiner wirkungsmächtigen Studie „Xenokrates von Athen“ (1932) die These, dass die antike Kunstgeschichtsschreibung auf den am Anfang des 3. Jhs. v. Chr. tätigen Bildhauer Xenokrates, der Schriften über Bronzebildnerei (de toreutice) und Malerei (de pictura) verfasste, zurückgehe und über den hellenistischen Gelehrten Antigonos von Karystos (um 200 v. Chr.) und den römischen Polyhistor Varro (116–27 v. Chr.) tradiert worden sei. Wenn auch die grundsätzliche Annahme, dass die Kunstgeschichtsschreibung aus der kunstwissenschaftlichen Diskussion des 5. und 4. Jhs. v. Chr., wie sie z.B. in der nur in wenigen Fragmenten und Paraphrasen erhaltenen Schrift „Kanon“ des Bildhauers Polyklet geführt wurde (vgl. Kat. 9.2.), hervorgegangen sei und sich unter Einfluss der sich in der Philosophie vollziehenden Systembildung in der Spätklassik und im frühen Hellenismus zu einer eigenständigen Disziplin ausgebildet habe, zutreffend sein dürfte, ist die intertextuelle Abhängigkeit – wie neuere Untersuchungen zeigen konnten – weitaus komplizierter als die von Schweitzer angenommene Traditionslinie. Z.B. lässt sich anhand der auf einem vor wenigen Jahren entdeckten Papyrus erhaltenen Andriantopoiika des Poseidipp von Pella wahrscheinlich
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machen, dass es neben und wahrscheinlich schon vor Xenokrates eine Kunstgeschichtsschreibung gab. Wenn sich die verlorenen kunsthistorischen Fachschriften auch nicht mehr rekonstruieren lassen, ist es doch auf der Grundlage kunstgeschichtlicher Bemerkungen in der Naturalis historia des Plinius und in anderen erhaltenen Texten, die auf solche Fachschriften zurückgegriffen haben, möglich, Rückschlüsse auf Grundprinzipien der antiken Kunstgeschichtsschreibung zu ziehen. Unter den Texten, die neben Plinius zur Beurteilung der antiken Kunstgeschichtsschreibung bedeutungsvoll sind, ist insbesondere der kunsthistorische Abschnitt in der Institutio oratoria des Quintilian (inst. or. 12,10,1–9) erwähnenswert, den dieser, ausgehend vom Ideal des allgemein und daher auch auf dem Gebiet der Bildhauerei und Malerei gebildeten Rhetors, in seinem Rhetoriklehrbuch der Erörterung der Stilentwicklung in der Redekunst vorangestellt hat. In den genannten Passagen bei Plinius und Quintilian tritt die Konzeption zu Tage, dass sich die Kunst zu immer größerer Naturwahrheit und technischer Perfektion entwickele. Neuerungen in der Kunst werden immer wieder einem bestimmten Künstler zugeschrieben, dem sog. Protos Heuretes, dem ersten Erfinder. Von einem solchen Protos Heuretes heißt es dann, dass er seine Vorgänger mit seiner Erfindung übertroffen habe. Ein Reflex auf dieses agonale Denken in der antiken Kunstgeschichtsschreibung ist die von Plinius überlieferte Anekdote vom Künstlerwettstreit in Ephesos (Kat. 8.2.1.). Einflussreicher als eine solche Auffassung der Geschichte der Kunst als einer Entwicklung zu immer größerer Perfektion sind in der hellenistischen Kunstgeschichtsschreibung entstehende klassizistische Tendenzen, die schließlich in der kaiserzeitlichen Literatur überwiegen und auch in der spätantiken und byzantinischen Kunstbetrachtung immer wieder anzutreffen sind. Besonders deutlich wird klassizistisches Denken an dem berühmten, einer hellenistischen Quelle entlehnten Satz, mit dem Plinius im 34. Buch seinen chronologischen Katalog der Bildhauer abschließt (Plin. nat. 34,52): Cessavit deinde
ars ac rursus olympiade CLVI revixit, cum fuere longe quidem infra praedictos, probati tamen Antaeus, Callistratus, Polycles Athenaeus, Callixenus, Pythocles, Pythias, Timocles
(Hierauf [= 296–293 v. Chr.] ging die Kunst zurück, blühte aber in der 156. Olympiade [= 156–153 v. Chr.] wieder auf mit den zwar weit unter den vorher genannten stehenden, dennoch geschätzten Künstlern Antaios, Kallistratos, Polykles aus Athen, Kallixenos, Pythokles, Pythias und Timokles). Unter den in diesem Ausstellungskatalog aufgeführten Schriftquellen zeigt insbesondere der Dialog Imagines des Lukian klassizistische Tendenzen (Kat. 6.1.2.; 6.4.2.). Die klassizistische Ausrichtung der Kunstbetrachtung seit dem Hellenismus ist ein Grund dafür, dass wir in den literarischen Quellen relativ wenig über hellenistische und beinahe gar nichts über kaiserzeitliche Künstler erfahren. Bei der Interpretation der zahlreichen Schriftquellen zu den griechischen Bildhauern muss man sich grundlegender methodischer Probleme bewusst sein. Eines der wichtigsten ist der zeitliche Abstand, der zwischen der Entstehung der Schriftquellen und der Kunstwerke liegt. Die meisten Schriftquellen stammen aus der Kaiserzeit, sind also rund 500 Jahre nach den Kunstwerken, die byzantinischen Quellen sogar über ein Jahrtausend später als diese entstanden und stellen daher eine Rezeption griechischer Kunst aus dem Blickwinkel ihrer Zeit dar. Wenn Martial z.B. eine Kopie des Apollon Sauroktonos als ein geeignetes Saturnaliengeschenk empfiehlt (Kat. 13.1.2.), ist die Statue in einen römischen Verwendungskontext gestellt, mithin über den ursprünglichen Entstehungs-
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und Aufstellungskontext nichts gesagt. Das auch bei Plinius (Kat. 13.1.1.) überlieferte Beiwort „Sauroktonos“ ist nicht die ursprüngliche Kultepiklese des Gottes, sondern offensichtlich erst später zur Bezeichnung der Statue gebräuchlich geworden. Eine Ausnahme vom zeitlichen Abstand zwischen Text und Kunstwerk stellen die inschriftlichen Zeugnisse dar, die meist zeitgleich mit dem Kunstwerk an dessen Basis (Kat. 1.1.1.; 2.1.1.; 9.1.2.), direkt auf dem Kunstwerk bzw. der Statuenstütze (Kat. 7.1.1.; 21.1; 23.1; 24.1.) oder auf einem separaten Inschriftenträger (vgl. Kat. 6.2.8.) angebracht worden sind. Die wichtigsten Inschriftengattungen sind die Künstlerinschrift, die den Namen des Künstlers und gelegentlich auch seinen Vatersnamen, seine Herkunft und den Darstellungsgegenstand nennt, und die Dedikationsinschrift, die Auskunft über den Auftraggeber und den Darstellungsgegenstand gibt, sowie Mischformen zwischen Künstler- und Dedikationsinschrift. Darüberhinaus finden sich Künstlernamen auch in inschriftlichen Abrechnungsurkunden. Von den literarischen Quellen, die den klassischen Kunstwerken zeitlich am nächsten stehen, sind in erster Linie einige Epigramme auf Kunstwerke (z.B. Kat. 14.2.1.) und Erwähnungen in der philosophischen Literatur des 4. Jhs. v. Chr., insbesondere bei Platon und Aristoteles, zu nennen. Neben dem historischen Kontext, in dem die Schriftquellen entstanden sind, ist ferner der inhaltliche Zusammenhang zu berücksichtigen, in dem Bildhauer und ihre Werke erwähnt werden. Anders als in den kunstgeschichtlichen Passagen der Naturalis historia des Plinius erfolgen Nennungen von bildenden Künstlern in der antiken Literatur oftmals gerade nicht aus kunsthistorischer Motivation. Wenn z.B. in der rhetorischen Fachliteratur Parallelen zwischen Reden und bildender Kunst gezogen werden (Kat. 5.1.2.; 9.2.2.; 9.2.3.), geht es den Autoren nicht darum, kunsthistorisches Wissen zu vermitteln, sondern ihr Beweisziel zu erreichen, z.B. dass ein Redner wie ein bildender Künstler zur Variation in der Lage sein müsse (Kat. 5.1.2.). Auch ein Beispiel aus der philosophischen Literatur mag dies verdeutlichen: In der pseudo-aristotelischen Schrift De mundo (Über die Welt) wird das Wirken Gottes in der Welt mit einem angeblich in der Mitte des Schildes der Athena Parthenos angebrachten Porträt des Phidias verglichen. Ebenso wie die Welt einstürzte, wenn man Gott aus ihr entferne, sei auch das Porträt des Phidias mit einem Mechanismus verbunden gewesen, der bei Entfernung des Bildnisses die gesamte Statue hätte zusammenbrechen lassen. Der philologischen Forschung ist der Nachweis gelungen (vgl. Kat. 6.2. mit Anm. 116), dass es sich sowohl bei dem angeblichen Porträt des Phidias als auch bei dem beschriebenen Mechanismus um literarische Erfindungen handelt. Bei der Interpretation der Schriftquellen ist also danach zu fragen, ob es dem Autor, der ein Kunstwerk erwähnt, um eine möglichst detaillierte, eventuell sogar auf Autopsie beruhende Beschreibung geht oder ob er eine andere Absicht verfolgt. Die meisten Testimonien zu Bildhauern und ihren Werken sind recht kurz – oftmals nicht länger als ein Satz – und in ihrem Informationsgehalt daher beschränkt. Ausführlicher können Kunstbeschreibungen wie z.B. die Ekphraseis des Kallistratos (Kat. 12.1.5.; 14.2.2.) sein, doch erschweren auch dort gattungsspezifische Charakterika die Textinterpretation: Die Bildbeschreibungen des Kallistratos sind stark rhetorisiert und variieren zudem wie zahlreiche antike Epigramme auf Kunstwerke den Topos, dass das Dargestellte besonders lebensecht wirke. Die lange Überlieferungsgeschichte der antiken und byzantinischen Texte bringt es mit sich, dass an einigen Stellen textkritische Probleme auftreten: Verschreibungen, die in
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der Regel auf die handschriftliche Überlieferung (z.B. Kat. 1.1.2., Archermos), gelegentlich auch auf Verwechslungen antiker Autoren (vgl. Kat. 8.2.2., Kresilas/Ctesilaus?) zurückgehen, sind insbesondere bei Künstlernamen und Zahlenangaben häufig. Manchmal betreffen sie aber auch längere Teile eines Satzes wie bei der Beschreibung des Ganswürgers des Boëthos bei Plinius (Kat. 18.1.1.). Aus methodischen Gründen ist allerdings Zurückhaltung angebracht, bei Texten, die nicht auf Autopsie beruhen, Konjekturen auf Grundlage der archäologischen Überlieferung vorzunehmen (Kat. 13.1.1.; 18.1.1.). Bei Papyri und Inschriften stellen die sich durch den oftmals fragmentarischen Erhaltungszustand ergebenden Textlücken ein besonderes Problem dar. So gehört die auf die Nike des Archermos zu beziehende Basisinschrift zu den umstrittensten archaischen Inschriften überhaupt und ist auf 15 verschiedene Weisen ergänzt worden (Kat. 1.1.1.). Ein Genfer Papyrusfragment, das ebenfalls in diesem Katalog vorgestellt wird (Kat. 24), ist im Anschluss an einen falschen Ergänzungsvorschlag des Erstherausgebers noch jüngst irrig auf den Bildhauer Glykon bezogen worden. Eine weitere der im Rahmen dieses Vorworts nur exemplarisch anzusprechenden methodischen Schwierigkeiten sind Übersetzungsprobleme. Ein Wort wie ἄγαλμα (ágalma) lässt sich nicht immer auf die gleiche Weise z.B. mit „Götterbild“ übersetzen, sondern kann neben rundplastischen Schöpfungen auch Reliefs (Kat. 4.1.4.) meinen oder allgemein „Kunstwerk“ (Kat. 12.1.5.: Kallistratos, Statuarum descriptiones 2,5) bedeuten. Zudem unterliegen viele Wörter im Laufe der Zeit einem terminologischen Wandel. Während auf einem Papyrus hellenistischer Zeit zwischen Götterbildnern (ἀγαλματοποιοί) und Menschenbildnern (ἀνδριαντοποιοί) unterschieden wird (vgl. Appendix 1), können die Wörter ἀνδριαντοποιός bzw. ἀνδριαντοπλάστης spätestens ab der Kaiserzeit auch in der allgemeinen Bedeutung „Bildhauer“ gebraucht sein. So bezeichnet ein Demosthenes-Scholion den auf dem Papyrus unter den Götterbildnern aufgeführten Phidias als ἀνδριαντοπλάστης (Kat. 6.2.4.). In den Übersetzungen im Katalog sind daher oft die griechischen Begriffe in Klammern hinzugesetzt. Der Neue Overbeck, an dem die Herausgeber mit der Hilfe ausgesuchter freier Mitarbeiter und mit finanzieller Unterstützung der DFG seit 2004 arbeiten, wird nicht nur alle relevanten Texte auf der Basis der maßgeblichen kritischen Ausgaben und mit einer Übersetzung präsentieren. Er wird den Leser auch knapp über Autor und Text bzw. den Kontext des zitierten Testimoniums informieren und die Texte soweit erforderlich philologisch und archäologisch kommentieren. Dazu kommen detaillierte Indices, die den Zugriff auf die Texte nicht nur nach Künstlernamen, sondern auch nach Texten und Inschriften, Materialien und Bildmotiven sowie nach antiken Standorten und heutigen Aufbewahrungsorten ermöglichen, und eine ausführliche philologisch-archäologisch-epigraphische Einleitung, die eine literatur-, überlieferungs- und forschungsgeschichtliche Orientierung über das in dem Corpus zusammengestellte Material gibt und in die damit verbundenen archäologischen und epigraphischen Probleme einführt. Dass der Neue Overbeck neben der Buchform auch in einer für ein Corpuswerk angemessenen digitalen Form präsentiert wird, versteht sich von selbst. Die Ausstellung „Text und Skulptur – Berühmte Bildhauer und Bronzegießer der Antike in Wort und Bild“ bietet die Gelegenheit, das Projekt vorzustellen und die Vielschichtigkeit des Verhältnisses von Kunstwerk und Text an repräsentativen Beispielen zu veranschaulichen.
XIII
Während die mehrbändige Edition alle namentlich bekannten Künstler enthalten wird, können in einer Ausstellung der Abguss-Sammlung Antiker Plastik naturgemäß ausschließlich Skulpturen gezeigt werden. Die gezeigte Auswahl ist außerdem dadurch bestimmt, dass nur diejenigen Plastiken ausgestellt und besprochen sind, die in antiken Texten erwähnt werden oder in der Forschung mit schriftlich bezeugten Statuen in Verbindung gebracht worden sind. Der enge zeitliche Rahmen, der für die Erstellung des Katalogs zur Verfügung stand, zwang uns ferner, einige der im Abguss vorhandenen ‚opera nobilia’ aus dem Katalog auszuklammern (Aphrodite von Knidos; Laokoon-Gruppe; Dirke-Gruppe; Niobiden-Gruppe). Die Reihenfolge der Katalognummern ergibt sich aus der Schaffenszeit der Künstler. Einige der markantesten Fallbeispiele, an denen die charakteristischen Fragestellungen und der Gang der Forschung exemplarisch verdeutlicht werden sollen, seien vorab genannt: - Eine Art Idealfall stellt der Hermes von Olympia (Kat. 13.2.) dar. Allen Zweifeln zum Trotz ist in diesem Hermes mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Originalwerk spätklassischer Zeit erhalten. Da die Statue dort gefunden wurde, wo sie Pausanias gesehen hat, ist sie als Werk des Bildhauers Praxiteles gesichert. - In der Regel ist die Verbindung von Text und Monument allerdings sehr viel komplexer: Ein rundplastisches Bronzeoriginal unbekannter Größe (Kairos, Kat. 14.1.), mehreren Texten zufolge ein Werk des Bronzegießers Lysipp, ist zu einer nicht zu ermittelnden Zeit in ein Relief umgesetzt worden, welches seinerseits im 1./2. Jh. n. Chr. mehrfach wiederholt und außerdem durch den Zusatz eines Bartes bei der Figur des Kairos variiert worden ist. - Bei der Amazone Mattei (Kat. 6.4.) ist die Verbindung mit dem Bildhauer Phidias zwar so gut wie sicher, doch besteht über das Aussehen des Kopfes in der Forschung kein Konsens, da bei allen Kopien des Originals der Kopf fehlt. Eine Gipsrekonstruktion samt Kopf dient dazu, den statuarischen Typus vollständig wiederzugewinnen und zwei Statuen von Amazonen (Kat. 8.2. und 9.3.) gegenüberzustellen, die einem berühmten Text des Plinius zufolge gemeinsam mit der Amazone Mattei aufgestellt waren. - Um einen Sonderfall handelt es sich schließlich bei zwei griechischen Statuen des 4. Jhs. v. Chr., die überaus häufig reproduziert worden sind, aber in Texten keine Erwähnung gefunden haben. Ausgestellt sind Kopien des kindlichen Pan und des Herakles, die Signaturen des jeweiligen Kopisten tragen, im einen Fall die früheste bekannte Kopistensignatur (Kerdon, Kat. 22), im anderen Fall die späteste (Glykon, Kat. 24). Die im Katalog behandelten, prominenten Fallbeispiele zeigen, dass auch vermeintlich gesicherte Zuweisungen von Skulpturen an einen bestimmten Künstler einer erneuten kritischen Prüfung der Quellenlage bedürfen. Unterzieht man sich dieser Mühe, so wird einerseits deutlich, bis zu welchem Punkt das Œuvre einzelner Bildhauer zuverlässig rekonstruiert werden kann. Andererseits zeigt der konzentrierte Umgang mit den Texten die Grenzen auf, die diesem Forschungszweig gesetzt sind. Auch dort, wo keine Sicherheit zu erreichen ist, veranschaulichen viele Texte, welche Faszination einzelne Bildwerke beim Betrachter hervorgerufen haben. Die ausgestellten Skulpturen ermöglichen es uns, diese Begeisterung zu teilen. Kansteiner/Lehmann/Seidensticker/Stemmer
Archermos
1.
ARCHERMOS (Ἄρχερμος) aus Chios
1.1.
Delos: Marmorstatue (der Nike?)
1
Original: Athen, Nationalmuseum, Inv. 21. – Erhaltene Höhe 90 cm; Kopfhöhe 19 cm (Abguss). – Gefunden auf Delos (1877). Datierung: um die Mitte des 6. Jhs. v. Chr.
1.1.1. Inscriptions de Délos I Nr. 9 Zwei Fragmente vom Oberteil einer Basis aus weißem Marmor, rechts und hinten gebrochen, 14 x 52 x 29 cm. FO: Delos, Fr. a am Artemision (1880), Fr. b unbekannt (1882); jetzt Athen, Nationalmuseum, Inv. 21 α. – Inschrift auf der Vorderseite (?). Μικκι̣ά̣[δης τόδ᾿ ἄγα]λμα καλὸν π̣[οίησε καὶ υιὸς] [Ἄ]ρχερμω σο[φ]ίεισιν εκηβώ[λωι ἰοχεαίρηι] []οι Χῖοι, Μέλ̣α̣[ν]ος πατρόϊων ἄσ[τυ νέμοντες].1 Mikkiades hat dieses schöne Standbild gefertigt und sein Sohn Archermos mit Kunstfertigkeit für die sichere Pfeilschützin, aus Chios, die väterliche Stadt des Melas bewohnend. Die in einem lokalen Alphabet abgefasste Inschrift bestand aus drei Hexametern und ist der Form der Buchstaben zufolge bald nach der Mitte des 6. Jhs. v. Chr. entstanden. Sie gehört zu den umstrittensten archaischen Texten überhaupt, wovon nicht weniger als 15 unterschiedliche Ergänzungsversuche zeugen (aufgelistet bei Scherrer 19–21). Für Probleme sorgt bereits die Unterscheidung der langen und kurzen Vokale.2 Umstritten ist 1 2
Ergänzungen von Homolle; vgl. Hansen. Es stehen, wie vor allem aus Paros bekannt, Ω für bzw. Ο für ο (Ἄρχερμως, ἡκηβω[λ-, πατρόϊων), aber
Archermos
2
aber vor allem, ob die genannten Personen Mikkiades und Archermos beide oder jeweils nur einer von ihnen als Bildhauer und/oder Dedikant(en) genannt waren. Im wesentlichen gibt es zwei grundlegend verschiedene Interpretationen. Nach der von Carl Robert begründeten Fassung ist Mikkiades der Stifter:3 „Du sicher treffende Herrin, dieses schöne Standbild, gearbeitet durch die Kunstfertigkeit des Sohnes Archermos, nimm an für Mikkiades aus Chios, der die väterliche Stadt des Melas verließ.“ Hiergegen ist einzuwenden, dass der Dativ plur. σοφίῃσιν nur von mehreren Künstlern gesagt werden kann (vgl. Hansen I Nr. 291) und dass keine archaische Inschrift mit dem Namen des Stifters im Dativ beginnt. Nach der auf Théophile Homolle zurückgehenden Ergänzung waren Mikkiades und sein Sohn Archermos die Schöpfer der Statue, die sie der „sicher treffenden“ Gottheit weihten. Da ἑκηβόλος Epitheton beider Götter ist, lässt sich zwischen Apollon und Artemis nicht entscheiden; für letztere spricht der Fundort der Inschrift am Artemision. 1.1.2. Scholia vetera zu Aristophanes, Aves 574 α (= SQ 315) In der 414 v. Chr. aufgeführten aristophaneischen Komödie Die Vögel (Ὄρνιθες/Aves) versucht der Athener Peisetairos ein mächtiges Vogelreich zu errichten und sich Menschen und Götter untertan zu machen. Den Einwand, dass Vögel wegen ihrer Flügel nicht für Götter gehalten werden könnten, entkräftet Peisetairos mit dem Argument, dass auch Götter wie Hermes, Nike und Eros zu fliegen imstande seien. Ein Scholion zu Vers 574 gibt an, dass Archermos nach nicht weiter genannten Quellen eine geflügelte Nike geschaffen habe. Die Textüberlieferung des Scholions ist allerdings problematisch. Der Νame Archermos ist in den Handschriften zu Archennos bzw. Archennon verschrieben.4 Durch die Angabe τὸν Βουπάλου καὶ Ἀθήνιδος πατέρα (Vater des Bupalos und des Athenis) ist zwar die Identität mit dem bei Plinius (nat. 36,11) genannten Bildhauer Archermos von Chios wahrscheinlich, doch wird das Wort καί, wenn man τὸν Βουπάλου καὶ Ἀθήνιδος πατέρα als Apposition zu Ἄρχερμον versteht, unverständlich und muss getilgt werden. Nicht erklärbar ist ferner die Auffassung des Scholiasten, dass die Darstellung der Nike mit Flügeln recht neu sei: ungeflügelte Darstellungen der Nike aus archaischer Zeit sind nicht bekannt (vgl. Thöne 73f.). αὐτίκα Νίκη πέταται: Νεωτερικὸν τὸ τὴν Νίκην καὶ τὸν Ἔρωτα ἐπτερῶσθαι. Ἄρχερμον γάρ φησι, †καὶ† τὸν Βουπάλου καὶ Ἀθήνιδος πατέρα, οἱ δὲ Ἀγλαοφῶντα τὸν Θάσιον ζωγράφον
„Zum Beispiel ist Nike geflügelt“ (Zitat Aristoph. Aves 574): Recht neu ist es, dass Nike und Eros geflügelt sind. Archermos, sagt er,5 †und† der Vater des Bupalos und des Athenis, andere aber
eben nicht ausschließlich (in καλόν, σοφίεισιν, Μέλανος steht Ο für ), so dass es unklar bleibt, ob Z. 3 []οι Χῖοι oder [τ]ι Χίοι (= τῶι Χίωι, Dativ) zu lesen ist. Ebenso steht Η nicht nur für ein e oder für den -Laut, sondern auch für , umgekehrt aber einmal auch Ε für η (σοφίηισιν). 3 Μικκι̣ά̣[δηι τόδ᾿ ἄγα]λμα καλὸν [ἐργασμένον υι] / Ἀρχέρμω σο[φ]ίεισιν εκηβώ[λε δέχσαι ἄνασσα] / [τ]ι Χίοι· Μέλ̣α̣ν̣ος πατρόϊων ἄσ[τυ λιπόντι]. 4 Im cod. Ravennas 429, olim 137,4,A (10./11. Jh.) [R], im cod. Venetus Marcianus 474 (11./12. Jh.) [V] und im cod. Laurentianus plut. 31,15 (14. Jh.) [Γ] ist ἄρχεννος, im cod. Ambrosianus L 41 sup. (15. Jh.) [M9] ist ἀρχέννων überliefert. 5 Das Subjekt zu φησί ist unklar. Sofern man die oben gegebene Textgestaltung nach der Ausgabe von
3
Archermos
πτηνὴν ἐργάσασθαι τὴν Νίκην ὡς οἱ περὶ Καρύστιον τὸν Περγαμηνόν φασιν.
wie z.B. die Gelehrten um Karystios von Pergamon sagen, Aglaophon, der Maler aus Thasos, habe Nike geflügelt dargestellt.6
Die unweit des Fundorts der Basis zu Tage getretene Marmorstatue der Nike im Knielaufschema wird trotz des Fehlens der Plinthe häufig auf die Basis bezogen, da Archermos durch das Scholion zu Aristophanes als Urheber einer Darstellung der Nike gesichert zu sein scheint und da eine stilkritische Analyse der Nike dafür spricht, dass sie ebenso wie die Basis um oder bald nach der Mitte des 6. Jhs. geschaffen worden ist. Geht man davon aus, dass sich die Inschrift auf der Vorderseite der Basis befunden hat, so kann die Form der Einlassung, mithin die Form der verlorenen Plinthe allerdings nicht mit den Füßen bzw. dem Gewand der Nike korrespondiert haben. Man vermutet daher, dass die Nike vom Boden gelöst und vermittels eines Zwischenstücks mit der Plinthe verbunden war (Scheibler). Auf der Athener Akropolis ist eine Inschrift gefunden worden, in der ein Archermos aus Chios als Schöpfer einer Statue genannt wird.7 Umstritten bleibt, ob man diese Statue (einer Kore?) als Alterswerk für Archermos in Anspruch nehmen darf oder ob man sie wegen des zeitlichen Abstandes von etwa 30 Jahren, der zu der Inschrift aus Delos besteht, einem sonst unbekannten gleichnamigen Enkel zuschreiben muss. Fragwürdig ist ferner die Zuweisung von nicht inschriftlich gesicherten Monumenten an Archermos (Vorschläge bei Floren 337). Lit. zur Inschrift: T. Homolle, BCH 7, 1883, 254–56; Loewy Nr. 1 und Add. p. XVII; C. Robert, Hermes 25, 1890, 445–50; Wilamowitz bei: F. Hiller v. Gaertringen, Historische griech. Epigramme (1926) Nr. 48; A. Plassart, Inscriptions de Délos I (1950) Nr. 9; W. Peek, Wiss. Zeitschr. Univ. Halle 4, 1954/55, 572–76 Nr. 19; J. Marcadé, Recueil des signatures de sculpteurs grecs II (1957) 21r–v Taf. 29,1; M.L. Lazzarini, Le formule delle dediche votive nella Grecia arcaica (1976) Nr. 825; P.A. Hansen, Carmina epigraphica Graeca I (1983) Nr. 425; P. Scherrer, ÖJh 54, 1983, 19–25; V.C. Goodlett, Collaboration in Greek Sculpture (1989) 48–54; L.H. Jeffery, The Local Scripts of Archaic Greece (21990) 294f. 305 Nr. 30 Taf. 56 (um 550–530 v. Chr.). – Zur Nike: J. Floren, Die Griechische Plastik I (1987) 336f.; J. Marcadé (Hrsg.), Sculptures Déliennes (1996) 38 Nr. 12 mit Abb. (P. Jockey); V. Brinkmann, Frisuren in Stein (1998) 64 D 11 Abb. 70–73; C. Thöne, Ikonographische Studien zu Nike im 5. Jh. v. Chr. (1999) 17; K. Karakasi, ArD. Holwerda, Scholia vetera et recentiora in Aristophanis Aves (1991) akzeptiert, ist nach dem Sprachgebrauch der Scholien Aristophanes als Subjekt zu φησί anzunehmen (vgl. ähnlich Schol. Aristoph. Nubes 773 = Kat. 4.1.2: αἰνίττεται): „Aristophanes spricht von Archermos, dem Sohn des Bupalos und des Athenis“. Denkbar ist aber auch, dass ein anderes Subjekt aufgrund der Textverderbnis ausgefallen ist. Wenn man hingegen der von W. Dindorf, Aristophanis Comoediae IV. Scholia Graeca ex codicibus aucta et emendata (1838) vorgeschlagenen Lesart φασί folgt, müsste man unpersönlich übersetzen: „man sagt“. 6 Bei Karystios von Pergamon handelt es sich um einen Gelehrten des 2. Jhs. v. Chr. (FHG IV 356–359). Die Vermutung von F. Münzer, Zur Kunstgeschichte des Plinius, Hermes 30, 1895, 524f., dass eine Verwechslung mit dem nachweislich als Kunstschriftsteller tätigen Antigonos von Karystos (3. Jh. v. Chr.) vorliege, ist zu spekulativ und daher von T. Dorandi, Antigone de Caryste (1999) CX–CXI zu Recht zurückgewiesen worden. 7 Säulenbasis in Athen, Epigraphisches Museum, Inv. 6241: IG I3 (1998) Nr. 683; Marcadé, Recueil II 21v– 22r Taf. 29,2. – Die metrische Inschrift lautet: Ἄρχερμος ἐποίεσεν ὁ Χῖος / Ἰφιδίκε μ᾿ ἀνέθεκεν Ἀθεναίαι πολιόχοι (Archermos aus Chios hat gefertigt. Iphidike hat mich der stadtbeschirmenden Athena geweiht).
4
Archermos
chaische Koren (2001) 85 Taf. 89 unten; P. Karanastassis in: Bildhauerkunst I (2002) 212f. – Zur Verbindung von Basis und Nike: I. Scheibler, Griechische Künstlervotive der archaischen Zeit, MüJb 30, 1979, 20f. Abb. 11. Hallof/Lehmann/Kansteiner
Antenor
5
2.
ANTENOR (Ἀντήνωρ) aus Athen (?)
2.1.
Athen, Akropolis: Marmorstatue einer Kore, Weihung des Nearchos
Original: Athen, Akropolismuseum, Inv. 681. – Höhe 2,01 m (Sohle–Scheitel); Kopfhöhe 27 cm (Abguss); Fußlänge dem erhaltenen Fußumriss zufolge 26,5 cm. – Ergänzt sind Teile der Oberschenkel und Kleinigkeiten. Datierung: 520/10 v. Chr.
2.1.1. Inscriptiones Graecae I³ Nr. 628 Aus drei Fragmenten zusammengesetztes Kapitell einer Pfeilerbasis aus Pentelischem Marmor, rechts gebrochen, 27 x 61 x 61 cm. FO: Akropolis, Fr. a westlich des Erechtheion (1886); jetzt Athen, Akropolismuseum, Inv. 681. – Zwei Inschriften an der Frontseite. Ι
Νέαρχος ἀνέθεκεν [ο κεραμε]– ὺς ἔργον ἀπαρχὲν τ̣ἀθ[εναίαι].8
II
Ἀντένορ ἐπ[οίεσεν ]– ο Εὐμάρος τ[ὸ ἄγαλμα].
I Nearchos, der Töpfer, hat als Gabe9 seiner Arbeiten geweiht der Athene. – II Antenor, der Sohn des Eumares, hat dieses Standbild gefertigt. Ergänzt von C. Robert, Hermes 22, 1887, 129–35. Ein zwischenzeitlich verschollenes Fragment der Inschrift wurde 1990 wiedergefunden, s. Supplementum epigraphicum Graecum 50, 2003, Nr. 78. Beide Inschriften sind stoichedon. 9 Der griechische Begriff bezeichnet oft einfach nur den Teil bestimmter Einnahmen, vgl. Karakasi; Thes CRA I (2004) 275. 8
6
Antenor
Die Länge der Plinthe der überlebensgroßen Kore lässt sich nach Autopsie recht präzise mit 49 cm bestimmen,10 was genau mit der Länge der Einlassung (49,4 cm) im Pfeilerkapitell korrespondiert. Auch angesichts der gemeinsamen Auffindung von Fragmenten der Basis und der Figur im Jahr 1886 und angesichts der singulären Größe der Kore11 ist keine Skepsis an der erstmals von Franz Studniczka befürworteten Zusammengehörigkeit angebracht. Die Form der Buchstaben und die stilkritische Beurteilung der Kore sprechen für eine Datierung des Monuments in das letzte Viertel des 6. Jhs. v. Chr. Als Weihender kommt der berühmte Töpfer Nearchos in Frage, der bereits im zweiten Viertel des 6. Jhs. vorwiegend als Töpfer signiert hat und anschließend offenbar über lange Zeit hinweg eine Töpferwerkstatt geführt hat, in der u.a. seine Söhne tätig waren.12 Den Umsatz dieser Werkstatt veranschaulicht die von Antenor geschaffene Kore – wohl die größte Kore der Akropolis –, die Nearchos hochbetagt gegen 520 v. Chr. als Dankesgabe für den lebenslangen Erfolg dargebracht haben mag. Antenor hat neben der von Nearchos geweihten großen Kore mindestens einen weiteren bedeutenden Auftrag erhalten. Pausanias und Plinius überliefern (SQ 443f.), dass er – wohl kurze Zeit nach dem Sturz der Tyrannis im Jahr 510 v. Chr. und den Kleisthenischen Reformen (508/07 v. Chr.) – eine Gruppe der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton angefertigt hat. Diese Gruppe ist von den Persern unter der Führung des Xerxes nach der Einnahme von Athen im Jahr 480 v. Chr. verschleppt worden (SQ 443–445); an ihre Stelle trat ab 477 eine von den Bronzegießern Kritios und Nesiotes angefertigte Ersatzgruppe (Kat. 3.1.). Antenor ist außerdem auch außerhalb von Athen mit der Herstellung von Skulpturen betraut worden: zwei der im letzten Viertel des 6. Jhs., wohl zwischen 520 und 510 v. Chr., geschaffenen Giebelfiguren der Ostseite des Apollontempels in Delphi stehen der Antenor-Kore hinsichtlich der Wiedergabe von Gewand und Haar so nahe, dass sie von der Forschung einvernehmlich Antenor zugeschrieben werden.13 Es besteht keine Veranlassung, den Vater des Antenor mit dem von Plinius (nat. 35,56) erwähnten Athener Maler Eumaros oder Eumares zu identifizieren,14 da dieser deutlich früher gelebt haben muss. Der Vater des Antenor dürfte vielmehr ebenso wie sein Sohn als Bildhauer tätig gewesen sein.15 Schüler des Antenor sind nicht bekannt. Lit.: F. Studniczka, JdI 2, 1887, 136f.; A. Raubitschek, Dedications from the Athenian Akropolis (1949) 232f. Nr. 197; J. Floren, Die Griechische Plastik I (1987) 296 Taf. 21,3; K. Junker in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 155–57 Kat. B 30; K. Karakasi, Archaische Koren (2001) 133 Taf. 148f. 254–56; C.M. Keesling, The Votive Statues of the Athenian Acropolis (2003) 56–59. 213. – Zur Farbigkeit: V. Brinkmann, Die Polychromie der archaischen und frühklassischen Statuen (2003) Kat. 102. – Zur Basis: K. Kissas, Die attischen Statuen- und Stelenbasen archaischer Zeit (2000) 116f. Kat. B 45 Abb. 110f. – Zur Inschrift: F. Hiller v. Gaertringen, IG I² (1924) Die Plinthe ist fast vollständig erhalten (s. Karakasi Taf. 148f.), am Abguss indes unvollständig! Vgl. die Übersicht über die knapp 100 Koren von der Akropolis bei Karakasi 168–71. 12 Zu Nearchos vgl. Künstlerlexikon II, 113f. s.v. Nearchos I (B. Kreuzer). 13 Vgl. Floren 245. 296; Bildhauerkunst I, Abb. 345; Keesling. 14 So aber Floren 295; Künstlerlexikon I, 225f. (W. Müller). Der Maler dürfte im 7. Jh. v. Chr. tätig gewesen sein, vgl. N. Koch, De picturae initiis (1996) 28f. 15 Dies geht mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer Pfeilerbasis hervor, deren Inschrift wohl von demselben Schreiber stammt wie diejenige der Antenor-Kore, vgl. IG I³ (1998) Nr. 627; Kissas 168 Nr. B 107.
10 11
Antenor
7
Nr. 485; L. Jeffery und D. Lewis, IG I³ (1998) Nr. 628; M.L. Lazzarini, Le formule delle dediche votive nella Grecia arcaica (1976) Nr. 636; P.A. Hansen, Carmina epigraphica Graeca I (1983) Nr. 193 und Add. Bd. II p. 302. Hallof/Kansteiner
Kritios
8
3.
KRITIOS (Κρίτιος) aus Athen und NESIOTES (Νησιώτης)
3.1.
Athen, Agora: Bronzestatuen der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton
Marmorkopie: Neapel, Museo Archeologico Nazionale, Inv. 6009 u. 6010 (ehemals Rom, Palazzo Farnese) sowie Rom, Konservatorenpalast, Inv. 2404 (Kopf des Aristogeiton). – Höhe 1,85 m (Harmodios) und 1,83 m (Aristogeiton; jeweils Sohle–Scheitel); Kopfhöhe 22,5 cm (Harmodios). – Ergänzt sind am Harmodios das rechte Bein, der linke Unterschenkel samt Fuß und beide Arme, am bärtigen Aristogeiton der rechte Arm, die linke Hand, die Genitalien und Kleinigkeiten. – Datierung: hadrianisch-frühantoninisch.
3.1.1. Lukian, Philopseudes 18 (= SQ 457) Zum Kontext s. Kat. 5.1.3. Ἀλλὰ τοὺς μὲν ἐπὶ τὰ δεξιὰ εἰσιόντων ἄφες, ἐν οἷς καὶ τὰ Κριτίου καὶ Νησιώτου πλάσματα ἕστηκεν, οἱ τυραννοκτόνοι.
Nein, lass die Figuren beiseite, die beim Eintreten rechter Hand stehen, darunter auch die Plastiken (plásmata) des Kritios und des Nesiotes, die Tyrannenmörder.
3.1.2. Pausanias 1,8,5 (= SQ 443) Im ersten, um 160 n. Chr. verfassten Buch seiner Perihegese behandelt Pausanias (um 115 – um 180 n. Chr.) Athen und Attika. Bei der Beschreibung der Athener Agora erwähnt er in der Nähe des in römischer Zeit aus dem attischen Pallene auf die Agora versetzten Arestempels die Statuen des Harmodios und des Aristogeiton. Οὐ πόρρω δὲ ἑστᾶσιν Ἁρμόδιος καὶ Ἀριστογείτων οἱ κτείναντες Ἵππαρχον· αἰτία δὲ ἥτις ἐγένετο καὶ τὸ ἔργον ὅντινα τρόπον ἔπραξαν, ἑτέροις ἐστὶν 16
Nicht weit davon stehen Harmodios und Aristogeiton, die Hipparch ermordeten. Den Grund dafür, und wie sie die Tat vollbrachten, haben andere erzählt.16 Von
Hdt. 5,55; 6,123; Thuk. 1,20,2; 6,54. 56−58; Aristot. Ath. pol. 18.
9
Kritios
εἰρημένα. Τῶν δὲ ἀνδριάντων οἱ μέν εἰσι Κριτίου τέχνη, τοὺς δὲ ἀρχαίους ἐποίησεν Ἀντήνωρ· Ξέρξου δέ, ὡς εἷλεν Ἀθήνας ἐκλιπόντων τὸ ἄστυ Ἀθηναίων, ἀπαγομένου καὶ τούτους ἅτε λάφυρα, κατέπεμψεν ὕστερον Ἀθηναίοις Ἀντίοχος.
den Statuen (andriántes) sind die einen (die jüngeren) ein Werk des Kritios, die alten aber machte Antenor. Xerxes führte, als er Athen nach Räumung der Stadt durch die Athener eingenommen hatte, auch diese als Beute weg. Später sandte Antiochos17 sie den Athenern zurück.
Kritios aus Athen und Nesiotes, über dessen Herkunft wir nicht informiert sind, müssen in den Jahren nach den Perserkriegen (480−470/60 v. Chr.) zu den renommiertesten Künstlern in Athen gehört haben.18 In welchem Ansehen sie bereits kurz nach 480 v. Chr. standen, zeigt besonders der ihnen von Seiten der Athener erteilte Auftrag, Ersatzfiguren für die von Xerxes geraubten Statuen der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton und damit für das zentrale Denkmal des demokratischen Staates anzufertigen. Nicht allein bei dieser im Jahr 477/76 v. Chr. aufgestellten Statuengruppe, sondern auch bei sämtlichen übrigen für sie überlieferten Werken, bei denen es sich zumeist um einzelne Bronzestatuen handelte, signierten Kritios und Nesiotes jeweils gemeinsam als Künstler.19 Dabei bleibt allerdings offen, wie die Arbeitsteilung jeweils organisiert war und wer welche Aufgaben übernahm.20 Anders als Nesiotes wird Kritios als Lehrer mehrerer Künstler des 5. Jhs. v. Chr. genannt und scheint daher eine größere Wirkung entfaltet zu haben als sein langjähriger Mitarbeiter.21 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Pausanias als Künstler der Tyrannenmörder-Gruppe und der Waffenläufer-Statue des Epicharinos (s.u.) jeweils allein Kritios nennt, obwohl beide Werke nachweislich von Kritios und Nesiotes zusammen ausgeführt worden sind.22 Durch literarische Nachrichten, römische Kopien und einige marmorne Basisblöcke von der Athener Akropolis sind für Kritios und Nesiotes insgesamt sieben bronzene Werke überliefert, die durchweg in Athen zur Aufstellung kamen und hier in ihrer überwiegenden Anzahl bis zur späteren römischen Kaiserzeit zu sehen waren. Mit Ausnahme der Tyrannenmörder-Gruppe handelt es sich um statuarische Weihgeschenke, die einzelne Stifter auf der Akropolis von Athen errichten ließen. Dagegen kann die Verbindung des auf der Akropolis gefundenen ‚Kritios-Knaben’, der in der Zeit um 480 v. Chr. zum ersten Mal in der griechischen Kunst eine ponderierte Figur zeigt, mit dem Künstler Kritios keine besondere Wahrscheinlichkeit beanspruchen.23 Die Rücksendung der Statuen wird von anderen antiken Autoren dagegen nicht mit Antiochos I., sondern mit Alexander dem Großen oder Seleukos I. verbunden und lässt sich daher lediglich in den Zeitraum zwischen etwa 330 und 261 v. Chr. einordnen: R.E. Wycherley, Literary and Epigraphical Testimonia, Agora 3 (1957) 93; Brunnsåker 44f. 18 Plin. nat. 34,49 (SQ 452) nennt Kritios und Nesiotes unter den Zeitgenossen des Pheidias. 19 Vgl. IG I3 (1998) Nr. 846–51 (jeweils mit Verwendung der Dualis-Form ἐποιεσάτεν: „ ... haben [es] beide gemacht“). Eine Weihinschrift des Kitharoiden Alkibios von der Athener Akropolis (510/500 v. Chr.) endet mit dem Wort „Nesiotes“, das hier allerdings nicht mit dem Verb ἐποίησεν verbunden ist und daher kaum als Signatur des Künstlers Nesiotes verstanden werden kann: IG I3 Nr. 666; Loewy Nr. 431. 20 Vgl. Brunnsåker 138−40. 21 Vgl. SQ 463 (Paus. 6,3,5). 469; Brunnsåker 142. 22 Paus. 1,8,5; 1,23,9 (= SQ 443. 459). Die Zusammenarbeit von Kritios und Nesiotes ist hier gesichert durch Lukian, Philopseudes 18 (SQ 457) und die erhaltene Inschrift der Epicharinos-Statue (SQ 460; IG I3 Nr. 847). 23 Die Jünglingsstatue wird seit A. Furtwängler, AM 5, 1880, 34 immer wieder mit Kritios verbunden; die stilistische Ähnlichkeit der Figur zum Harmodios der Tyrannenmörder-Gruppe weist auf eine ähnliche 17
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Das Hauptwerk der beiden Künstler war das Denkmal der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, das im Jahr 477/76 v. Chr. mitten auf der Athener Agora plaziert wurde und hier die wenige Jahre zuvor auf Befehl des Xerxes in die persische Residenzstadt Susa verschleppte ältere, ebenfalls bronzene Tyrannenmörder-Gruppe des Antenor ersetzte;24 beide Denkmäler stellten die frühesten und für lange Zeit (bis 393 v. Chr.) einzigen staatlichen Ehrenstatuen des demokratischen Athen dar. Dargestellt waren die miteinander befreundeten Athener Harmodios und Aristogeiton, die zusammen mit einigen Helfern am Panathenäenfest des Jahres 514 v. Chr. aus persönlichen Motiven einen Anschlag auf den Peisistratiden Hipparchos verübt hatten, diesen tödlich verwundeten und kurz danach selbst getötet wurden. Auch wenn die Tyrannis nun noch einige Jahre andauerte und Hippias, der Bruder des Hipparchos, erst im Jahr 510 v. Chr. mit maßgeblicher Hilfe der Spartaner aus Athen vertrieben werden konnte, galten Harmodios und Aristogeiton schon kurz nach den Kleisthenischen Reformen und der Einführung der demokratischen Verfassung (508/07) als heldenhafte Vorkämpfer der Demokratie. Wahrscheinlich bald nach 508/07 v.Chr. ließen die Athener auf der Agora eine bronzene Statuengruppe der beiden „Helden“ errichten, für die nun auch ein staatlicher Kult (unter Leitung des Archon Polemarchos) eingerichtet wurde.25 Anders als die 480/79 von den Persern geraubte Gruppe des Antenor sind die jüngeren Statuen der Tyrannenmörder von der Hand des Kritios und des Nesiotes auch archäologisch gut überliefert: Nachdem bereits Otto von Stackelberg Wiedergaben der Figuren in Werken der Kleinkunst erkannt hatte, gelang Karl Friederichs im Jahr 1859 die Identifizierung der Statuen im Bestand der römischen Kopien.26 Bis heute sind jeweils drei Statuen- und insgesamt sechs Kopfrepliken nach den Figuren der beiden Tyrannenmörder bekannt;27 hinzu kommen einige fragmentarisch erhaltene römische Gipsabgüsse des 1. Jhs. n. Chr. aus Baiae, deren Tonformen direkt von den bronzenen Statuen in Athen abgenommen worden waren und die daher einen authentischen Eindruck einiger Partien der originalen Werke des Kritios und des Nesiotes geben können.28 Eine gute Vorstellung von der Gruppe vermitteln (trotz ihrer neuzeitlichen Ergänzungen) insbesondere die ausgestellten Statuenkopien in Neapel, die wahrscheinlich ursprünglich zur Ausstattung einer Villa in der Umgebung von Rom gehörten: Die beiden leicht überlebensgroßen Tyrannenmörder stürmen Rücken an Rücken als nackte, mit Schwertern bewaffnete Kämpfer in Ausfallstellung gegen den imaginären, in der Gruppe nicht reEntstehungszeit der beiden Werke, reicht aber nicht aus für eine Zuschreibung an Kritios oder Nesiotes. Zur Statue und ihrer Zuweisung an Kritios vgl. J.M. Hurwit, AJA 93, 1989, 41ff. bes. 65ff. 24 Vgl. SQ 443. 457f. 900; vgl. ferner Wycherley a.O. 93ff.; Brunnsåker 33ff. Die exakte Datierung ergibt sich aus der Angabe im Marmor Parium, einer aus Paros stammenden Marmorstele mit dem Text einer hellenistischen Chronik (SQ 458). – Zur älteren, von Antenor gearbeiteten Gruppe vgl. Text zu Kat. 2.1. 25 Aristot. Ath. pol. 58,1. Die im Grunde nicht sehr angemessene Überhöhung der beiden Tyrannenmörder fand auch im privaten Bereich der aristokratischen Symposien ihren Niederschlag, bei denen die beiden Freunde in Trinkliedern (Skolien) als heldenhafte Vorkämpfer der Freiheit und Demokratie gerühmt wurden: Poetae Melici Graeci, ed. D.L. Page (1962) Nr. 893−896. Für Kritik an der Überhöhung der Tyrannenmörder in Athen vgl. bereits Hdt. 5,55; 6,123; Thuk. 1,20,2; 6,53−59. 26 O. von Stackelberg, Die Graeber der Hellenen (1837) 33–35; K. Friederichs, AZ 17, 1859, Sp. 65–72. 27 Replikenlisten: Brunnsåker 47ff.; C. Reusser, Der Fidestempel auf dem Kapitol in Rom und seine Ausstattung, BCom Suppl. 2 (1993) 117 Anm. 25; Krumeich 1995, 303 Anm. 28. 28 C. Landwehr, Die antiken Gipsabgüsse aus Baiae (1985) 27ff. Weder ausreichend begründet noch plausibel ist die Kombination der Gipsabgussfragmente sowie der römischen Marmorkopien mit der älteren Gruppe des Antenor durch Landwehr 43ff. bes. 46f. (mit Datierung dieses Denkmals in die Zeit um 490 v. Chr.).
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präsentierten Tyrannen nach vorne.29 Thema der Gruppe war also nicht der historische Vorgang des Jahres 514 v. Chr., sondern die dynamische Aktion der beiden Athener, die als nachahmenswertes Vorbild sowie als Abschreckung gegen künftige potentielle Tyrannen im Zentrum der athenischen Polis repräsentiert waren.30 Die Nacktheit der beiden Figuren ist – ähnlich wie zum Beispiel bei den archaischen Grabkuroi – nicht wörtlich zu nehmen, sondern unterstreicht den athletischen und gut trainierten Körperbau der beiden Kämpfer, die damit den traditionellen Konventionen des spätarchaischen (und frühklassischen) Athen genügten; die Statuen gehören zu den idealisierenden Porträtstatuen, bei denen (auch in den Gesichtern) auf die Wiedergabe individueller Merkmale vollkommen verzichtet wurde. Nicht allein der Vollbart des Aristogeiton und die Bartlosigkeit des Harmodios, sondern auch die unterschiedliche Modellierung der Oberkörper unterstreichen den Altersunterschied zwischen den beiden Vorkämpfern: Dem hageren, durch härtere Zäsuren unterteilten Muskelrelief des Aristogeiton stehen die weicheren und geschmeidigeren Formen bei der Figur des Harmodios gegenüber. Aber auch in der Kampfesweise unterscheiden sich die beiden Tyrannenmörder voneinander: Während Aristogeiton mit dem Schwert weit nach hinten ausholt, dabei aber seine linke Flanke mit dem vorgestreckten linken Arm und dem darüber gelegten Mantel schützt, bietet der weniger erfahrene Harmodios seinen gesamten Körper ungeschützt als Angriffsfläche. Reste von Verbindungsstegen an zwei Kopfrepliken des Harmodios zeigen, dass der jüngere Tyrannenmörder den rechten Arm scharf angewinkelt hatte, sein Schwert parallel zum Rücken führte und zu einem tödlichen Hieb ausholte; dieses ‚Harmodios-Motiv’ wurde bereits in der spätarchaischen Zeit zur Charakterisierung besonders dynamischer Kämpfer entwickelt und unterstreicht hier die mutige und vorbildhafte Rolle des jüngeren Tyrannenmörders.31 Als nachahmenswerte Vorkämpfer für die Demokratie und gegen jeden potentiellen Tyrannen standen die Tyrannenmörder nun für Jahrhunderte im Zentrum der Stadt und des historischen Gedächtnisses der athenischen Polis. Welch eine zentrale Bedeutung die Statuen der Tyrannenmörder für das demokratische Athen hatten, zeigen nicht allein der Raub der älteren Gruppe durch die Perser und ihre rasche Ersetzung durch ein neues Denkmal, sondern auch die Wiedergabe der von Kritios und Nesiotes gearbeiteten Statuen auf offiziellen athenischen Denkmälern: So erscheinen Die Komposition der Gruppe ist heute nicht mehr exakt zu ermitteln, da die Statuen der Tyrannenmörder zumeist als Einzelstatuen mit eigenen Plinthen kopiert wurden und da das 1936 auf der Agora von Athen gefundene kleine Fragment der originalen Basis (wohl der 2. Gruppe) keine Standspuren aufweist: Brunnsåker 89ff. mit Abb. 13; IG I3 Nr. 502 (Athen, Agoramuseum, Inv. I 3872). – Die Wiedergaben der Tyrannenmörder in der Flächenkunst zeigen aber, dass die Bronzestatuen gemeinsam auf einer niedrigen Basis befestigt waren und Rücken an Rücken standen; umstritten ist, ob die Figuren genau parallel zueinander standen oder keilförmig nach vorne stürmten. Rücken an Rücken und wahrscheinlich parallel zueinander aufgestellt waren die Repliken der Tyrannenmörder auf dem Kapitol in Rom: Reusser a.O. 120 mit Abb. 50. 30 Vgl. zuletzt Bumke 138ff. 31 P. Suter, Das Harmodiosmotiv (1975).
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die Figuren als Schildzeichen der Athena auf panathenäischen Preisamphoren des Jahrgangs 403/2 v. Chr. oder als Beizeichen auf attischen Silbermünzen der hellenistischen Zeit.32 Nachdem Alexander der Große oder einer seiner Nachfolger die ältere Gruppe des Antenor aus Susa hatte zurückschicken lassen (zwischen 330 und 261 v. Chr.) standen auf der Athener Agora nun zwei Tyrannenmörder-Gruppen, deren kompositorische und ikonographische Beziehung zueinander allerdings nicht mehr zu ermitteln ist.33 Per Gesetz untersagte man die Aufstellung von Ehrenstatuen in der Nähe der Tyrannenmörder, die bis in die römische Kaiserzeit als besonders gut sichtbares und herausgehobenes Denkmal fungierten und deren Bedeutung durch die Kombination der älteren und der jüngeren Gruppe spätestens seit dem 3. Jh. v. Chr. geradezu potenziert worden sein muss.34 Die nach Lukian (Kat. 3.1.1.) angeblich in einem Athener Privathaus stehende Kopie der Tyrannenmörder des Kritios und des Nesiotes, die zusammen mit Repliken weiterer Meisterwerke zur Ausstattung dieses Hauses gehört haben soll,35 dokumentiert zum einen das Ansehen dieser Künstler in der mittleren Kaiserzeit; darüber hinaus erhält die Erwähnung der Tyrannenmörder in diesem Zusammenhang ihre Bedeutung durch die Fiktion, dass hier eines der wichtigsten staatlichen Denkmäler Athens in einem privaten Kontext innerhalb der gleichen Stadt zitiert worden sei. Sechs weitere bronzene Werke des Kritios und des Nesiotes standen als Weihgeschenke einzelner Personen auf der Akropolis von Athen.36 Während die entsprechenden, zwischen 490/80 und 470/60 entstandenen Statuen nicht erhalten sind, liefern die aus pentelischem Marmor gearbeiteten Basissteine mit den Weihinschriften und den zum Teil gut erhaltenen Befestigungsspuren wichtige Informationen zu Thema, Format und Standmotiv der zugehörigen, heute verlorenen Denkmäler. Die Blöcke mit erhaltenen Standspuren trugen jeweils lebens- oder leicht überlebensgroße Bronzestatuen: Auf einer Rundbasis stand als Weihgeschenk zweier Athener aus dem attischen Demos Oion eine etwa 1,80 m hohe Figur mit eng nebeneinander gesetzten Füßen, die wahrscheinlich in leicht ponderiertem Stand wiedergegeben war und sich mit der Linken auf eine Lanze stützte.37 Thematisch könnte es sich um eine männliche Gestalt Brunnsåker 100f. 104f. Taf. 23,2. 23,6a−c. Auf den panathenäischen Preisamphoren scheinen die Tyrannenmörder auf die Restitution der demokratischen Verfassung im Jahr 403 v. Chr. anzuspielen; vgl. zuletzt M. Bentz, Panathenäische Preisamphoren, AntK Beih. 18 (1998) 50 mit weiterer Literatur. 33 Pausanias sieht die beiden Gruppen nebeneinander, eine Kombination, die bereits für die hellenistische Zeit zu erwarten ist. Wenn Pausanias die Figuren des Antenor als „alt“ bezeichnet, so mag dies nicht nur auf die unterschiedliche Entstehungszeit, sondern auch auf einen stilistischen Unterschied in Relation zur jüngeren Gruppe hinweisen. 34 Verbot der Aufstellung von Ehrenstatuen neben den Tyrannenmördern: Wycherley a.O. 97 Nr. 278f. (314/13 bzw. 295/94 v. Chr.). Nur zwei Ausnahmen von dieser Regel sind bekannt: Im Jahr 307/06 wurden die in Athen als „Retter“ (Soteres) kultisch verehrten makedonischen Könige Antigonos Monophthalmos und Demetrios Poliorketes durch Statuen in einem vergoldeten Viergespann neben Harmodios und Aristogeiton geehrt; und als sich die Athener nach der Ermordung Caesars im Jahr 44 v. Chr. auf die Seite der Cäsarmörder schlugen, ehrte man Brutus und Cassius als „Neue Tyrannenmörder“, indem man ihre Statuen zu Seiten der beiden nunmehr hier nebeneinander stehenden Tyrannenmördergruppen aufstellte: Diod. 20,46,2; Cass. Dio 47,20,4; Wycherley a.O. 95. In beiden Fällen war die außergewöhnliche Ehrung von begrenzter Dauer: Die Änderung der politischen Verhältnisse führte um 200 v. Chr. bzw. kurz nach der Niederlage der Cäsarmörder bei Philippi (42 v. Chr.), spätestens aber nach der Schlacht von Actium (31 v. Chr.) dazu, die Statuen der Makedonen und der Cäsarmörder zu beseitigen. 35 Neben den Tyrannenmördern erwähnt Lukian den Diskobol des Myron, den polykletischen Diadumenos und eine Porträtstatue des Strategen Pellichos (410/400−360/50 v. Chr.), vgl. Kat. 5.1.3. 36 IG I3 Nr. 846−851; Raubitschek Nr. 120−123. 160−161a. 37 Athen, Akropolismuseum, Inv. 13270 (Höhe 44 cm; Durchmesser 91,5 cm; IG I3 Nr. 848). Lit.: SQ 462;
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oder um die Statue einer bewaffneten Athena gehandelt haben, die ähnlich wie die etwa gleichzeitige, von einem Angelitos auf der Akropolis gestiftete marmorne Athena mit einem Peplos bekleidet war.38 Eine etwa lebensgroße Statue zeigte den Stifter Epicharinos offenbar in der Haltung eines startenden Waffenläufers im Profil nach links; noch Pausanias sah die Figur um 160 n. Chr. auf der Höhe des Brauronion im südwestlichen Bereich des Heiligtums.39 Mindestens ein weiteres Werk der beiden Künstler befand sich ebenfalls noch in der römischen Kaiserzeit unter den Weihgeschenken auf der Akropolis, hatte allerdings spätestens im 1. Jh. n. Chr. seine „Identität“ gewechselt: Eine wohl kurz nach den Perserkriegen von einem Hegelochos gestiftete Figur in weiter Ausfallstellung sollte nach der ausführlichen metrischen Weihinschrift an die „Mühen des Ares (= Krieges)“ erinnern. Bei der Bestimmung des Statuen-Themas hilft in diesem Fall eine frühkaiserzeitliche Ehreninschrift weiter, die direkt unter der älteren Inschrift eingemeißelt wurde und zeigt, dass die frühklassische Figur als staatliche athenische Ehrenstatue für L. Cassius wiederverwendet wurde; dieser ist wahrscheinlich mit L. Cassius Longinus, dem Consul suffectus des Jahres 11 n. Chr., oder dem gleichnamigen Consul des Jahres 30 n. Chr. zu identifizieren.40 Es muss sich also um eine männliche, wegen des Standmotivs ganz oder weitgehend nackte Figur gehandelt haben, die wahrscheinlich als (mythischer oder historischer) Krieger zu rekonstruieren ist.41 Auf diese Weise konnte die Statue an die überstandenen „Kriegsmühen“ des Stifters Hegelochos und seiner Familie (wohl in den Perserkriegen) erinnern und hernach die dynamische Kraft (virtus) des römischen Honoranden betonen. Ähnlich wie in anderen Fällen der auf der Athener Akropolis besonders gut dokumentierten Wiederverwendung älterer Statuen garantierte die beibehaltene Signatur der bekannten Künstler die hohe Qualität der Statue. Neben der jüngeren Tyrannenmörder-Gruppe waren in Athen in der mittleren römischen Kaiserzeit also mehrere weitere gemeinsame Werke des Kritios und des Nesiotes zu sehen, von denen zumindest eine im 1. Jh. n. Chr. von den Athenern als Ehrenstatue für einen hohen römischen Beamten wiederverwendet worden war.42 Als durchweg lebensgroße oder leicht überlebensgroße Bronzestatuen vermittelten sie im öffentlichen Bereich der Raubitschek Nr. 160; C.M. Keesling in: C.C. Mattusch et al. (Hrsg.), From the Parts to the Whole I, JRA Suppl. 39 (2000) 69ff. 38 Zur Athena des Angelitos s. M.S. Brouskari, The Acropolis Museum. A Descriptive Catalogue (1974) 129f. Abb. 248. − Keesling a.O. 73 interpretiert die bogenförmige Einlassung neben dem rechten Fuß der Figur (ebenda 70 Abb. 2) als Spur der Befestigung des bronzenen Gewandes der Figur, die in diesem Fall eindeutig als Athena zu identifizieren wäre. 39 Athen, Akropolis (Höhe 32 cm; Breite 62 cm; Tiefe 74 cm; IG I3 Nr. 847). Lit.: Paus. 1,23,9; SQ 459−460; Raubitschek Nr. 120; G. Fischer-Heetfeld in: U. Hausmann (Hrsg.), Der Tübinger Waffenläufer (1977) 67ff. mit Taf. 21; D.G. Kyle, Athletics in Ancient Athens (1987) 201 Kat. A 24; C.M. Keesling, The Votive Statues of the Athenian Acropolis (2003) 29. 170–72. 40 Athen, Akropolis, Inv. 13206 (Höhe 35 cm; Breite 65 cm; Tiefe 129 cm; IG I3 Nr. 850; IG II/III2 Nr. 4168). Lit.: SQ 461; Raubitschek Nr. 121; A. Rumpf in: Festschrift für Eugen v. Mercklin (1964) 144 mit Abb. 5d (Faksimile); W. Gauer, Weihgeschenke aus den Perserkriegen, IstMitt Beih. 2 (1968) 123f.; H. Blanck, Wiederverwendung alter Statuen als Ehrendenkmäler bei Griechen und Römern (1969) 80f. Kat. B 30; P.A. Hansen, Carmina epigraphica Graeca I (1983) Nr. 272; Keesling, Votive Statues 186–90; J.L. Shear in: Z. Newby − R. Leader-Newby (Hrsg.), Art and Inscriptions in the Ancient World (2007) 235−38. Nach Ausweis der Dübelspuren wurde die originale Statue nicht etwa durch eine neuere Figur ersetzt. 41 Nicht ausgeschlossen ist, dass Hegelochos sich selbst oder seinen Vater als Krieger repräsentieren ließ. 42 Neben der Weihung des Hegelochos wurde offensichtlich ein weiteres, von Kritios und Nesiotes signiertes Anathem in römischer Zeit als Ehrenstatue wiederverwendet: IG I3 Nr. 849; Raubitschek Nr. 123.
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Akropolis noch Jahrhunderte nach ihrer Anfertigung eine lebendige Vorstellung von der erfolgreichen Zusammenarbeit zweier der renommiertesten Künstler des frühklassischen Athen. Lit. zu den Tyrannenmördern: S. Brunnsåker, The Tyrant-Slayers of Kritios and Nesiotes (21971); T. Hölscher, Griechische Historienbilder des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. (1973); B. Fehr, Die Tyrannentöter (1984); W.H. Schuchhardt − C. Landwehr, JdI 101, 1986, 85ff.; M.W. Taylor, The Tyrant Slayers (21991); R. Krumeich in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 300–304 Kat. C 6; ders. in: Die griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit, Ausst.-Kat. Berlin 2002, 221f. 237–40 Kat. 132f.; H. Bumke, Statuarische Gruppen in der frühen griechischen Kunst, 32. Ergh. JdI (2004) 131ff. – Zu Kritios und Nesiotes: A.E. Raubitschek, Dedications from the Athenian Akropolis (1949) 513−17; Brunnsåker 135−43; Künstlerlexikon II, 124−28 s.v. Nesiotes (D. Vollkommer-Glökler). Krumeich
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SOKRATES (Σωκράτης) aus Theben
4.1.
Athen, Akropolis: Relief der drei Chariten
Marmorkopie: Rom, Vatikanische Museen, Inv. 1669. – Höhe der rechten Figur 75,5 cm; Kopfhöhe 10 cm. – Ergänzt ist die linke untere Ecke. Fundort: Rom, in der Nähe von S. Giovanni in Laterano (1769). Datierung: 2. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr.43
4.1.1. Plinius, Naturalis historia 36,32 (= SQ 915) Im 36. Buch der Naturalis historia, der sog. Mineralogie, behandelt Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) verschiedene Steinarten. Im ersten Teil (36,1–125) wendet er sich dem Marmor zu und nennt eine Reihe von Kunstwerken aus Marmor und deren Künstler (36,9–43).
Non postferuntur et Charites in propylo Atheniensium, quas Socrates fecit, alius ille quam pictor, idem ut aliqui putant.
Nicht weniger schätzt man auch die Chariten im Propylon in Athen, die ein Sokrates schuf, ein anderer als der Maler oder derselbe, wie einige glauben.
4.1.2. Scholion zu Aristophanes, Nubes 773 a–b (= SQ 910) Ein antikes Scholion zu der aristophaneischen Komödie Die Wolken (Νεφέλαι/Nubes) bringt ein Relief der Chariten mit dem berühmten Athener Philosophen Sokrates in Verbindung, indem es behauptet, die von Sokrates als Hauptfigur der Komödie gebrauchte Schwurformel νὴ τὰς Χάριτας (bei den Chariten) spiele auf das Kunstwerk an, das von dem Philosophen geschaffen sei. νὴ τὰς Χάριτας: Πάλιν ἑτέρῳ ὅρκῳ κέχρηται ὁ Σωκράτης. Οὐχ ἁπλῶς ὄμνυσι κατὰ τῶν Χαρίτων. Ὀπίσω γὰρ τῆς Ἀθηνᾶς ἦσαν γλυφεῖσαι αἱ Χάριτες
„Bei den Chariten“ (Zitat Aristoph. Nubes 773): Wiederum benutzt Sokrates eine andere Schwurformel. Er schwört nicht einfach nur so bei den
Die weit herabgezogenen Oberlider finden Entsprechung z.B. beim Porträt des jugendlichen Commodus (1. Typus: 175/77 n. Chr.). 43
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ἐν τῷ τοίχῳ, ἃς ἐλέγετο ὁ Σωκράτης γλύψαι. Τὸ γὰρ πρῶτον λιθογλύφος ἦν τὴν τέχνην. Αἰνίττεται οὖν αὐτοῦ τοῦ Σωκράτους εἰς τὴν πρώτην τέχνην.
Chariten. Denn hinter der Athena waren im Relief an der Wand die Chariten wiedergegeben, die Sokrates gemeißelt haben soll. Zuerst war er nämlich Bildhauer dem Beruf nach. Er (sc. Aristophanes) spielt also auf den ersten Beruf des Sokrates an.
Die Überlieferung, dass Sokrates zunächst Bildhauer wie sein Vater Sophroniskos gewesen sei, lässt sich bereits ab spätklassischer/frühhellenistischer Zeit belegen und ist daher relativ glaubwürdig.44 Sowohl der Platonschüler Menedemos aus Pyrrha (4. Jh. v. Chr.), der Philosoph Aristoxenos aus Tarent (4. Jh. v. Chr.) und der Historiker Timaios aus Tauromenion (um 350 – um 260 v. Chr.), die in einer Schrift des Bischofs Kyrill von Alexandrien (5. Jh. n. Chr.) zitiert werden,45 als auch der Historiker Duris von Samos (um 340 – um 270 v. Chr.) und der Dichter Timon aus Phleius (um 320 – um 230 v. Chr.), die von Diogenes Laertios (Kat. 4.1.5.) angeführt werden, haben Kenntnis davon. Die Zuweisung der Chariten an den Philosophen Sokrates findet sich bei Pausanias (Kat. 4.1.3–4), Diogenes Laertios (Kat. 4.1.5.) und von letzterem abhängig in der Suda (Kat. 4.1.6.). 4.1.3. Pausanias 1,22,8 (= SQ 911) In dem um 160 n. Chr. verfassten ersten Buch seiner Perihegese behandelt Pausanias (um 115 – um 180 n. Chr.) Athen und Attika. Seine Beschreibung der Athener Akropolis beginnt er mit den Propyläen (1,22,4). Κατὰ δὲ τὴν ἔσοδον αὐτὴν ἤδη τὴν ἐς ἀκρόπολιν Ἑρμῆν, ὃν Προπύλαιον ὀνομάζουσι, καὶ Χάριτας Σωκράτην ποιῆσαι τὸν Σωφρονίσκου λέγουσιν, ᾧ σοφῷ γενέσθαι μάλιστα ἀνθρώπων ἐστὶν ἡ Πυθία μάρτυς [...].
Direkt am Eingang zur Akropolis ein Hermes, den man Propylaios (vor dem Tor / im Vorhof stehend) nennt, und Chariten, , die Sokrates, der Sohn des Sophroniskos geschaffen haben soll, dem die Pythia Zeuge ist, dass er der Weiseste der Menschen sei [...].46
4.1.4. Pausanias 9,35,3–7 (= SQ 912) Im neunten Buch seiner Perihegese, das er in den späten 70er Jahren des 2. Jhs. n. Chr. verfasst hat, behandelt Pausanias Böotien. In der Passage zur Geschichte von Orchomenos findet sich ein Exkurs zu den Chariten (9,35,1–7). Dabei kommt er zunächst im ZusamZum Problem des „historischen Sokrates“, d.h. der Frage, ob und wie sich das Leben des Philosophen rekonstruieren lässt, s. K. Döring, in: H. Flashar (Hrsg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie 2,1 (1998) 139–78. 323–41; zu Sokrates’ Tätigkeit als Bildhauer s. dort 146. 45 Cyrill. Alex., Contra Iulianum 6,208 a–c (= G. Giannantoni, Socratis et Socraticorum Reliquiae [1990] I B 41, 1–11). 46 Zu dem delphischen Orakelspruch, dass kein Mensch weiser sei als Sokrates, s. E. Heitsch, Platon. Apologie des Sokrates. Übersetzung und Kommentar (2002) 73–77 zu Plat. Apol. 20e–21a. 44
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menhang mit der Dreizahl der Chariten auf das Kunstwerk auf der Athener Akropolis zu sprechen. Wenig später räumt Pausanias ein, nicht angeben zu können, wer als Erster die Chariten nackt dargestellt habe. Diese Frage nach dem πρῶτος εὑρετής (prótos heuretés), dem ersten Erfinder, ist für die antike Kunstgeschichtsschreibung typisch. Unter den Beispielen für die Darstellung bekleideter Chariten, die Pausanias im Folgenden anführt, nennt er u.a. auch die Chariten des Sokrates, die er wie im ersten Buch am Eingang zur Akropolis lokalisiert, dabei aber nicht die Formulierung κατὰ δὲ τὴν ἔσοδον αὐτὴν (in unmittelbarer Nähe des Eingangs selbst), sondern πρὸ τῆς ἐς τὴν ἀκρόπολιν ἐσόδου (vor dem Eingang zur Akropolis), wobei die Präposition πρό offensichtlich aus der Perspektive desjenigen, der die Akropolis verlässt, also vom Parthenon aus betrachtet, zu verstehen ist. [...] καὶ Ἀθήνησι πρὸ τῆς ἐς τὴν ἀκρόπολιν ἐσόδου Χάριτές εἰσι καὶ αὗται τρεῖς, παρὰ δὲ αὐταῖς τελετὴν ἄγουσιν ἐς τοὺς πολλοὺς ἀπόρρητον. [...] (6) Ὅστις δὲ ἦν ἀνθρώπων ὁ γυμνὰς πρῶτος Χάριτας ἤτοι πλάσας ἢ γραφῇ μιμησάμενος, οὐχ οἷόν τε ἐγένετο πυθέσθαι με, ἐπεὶ τά γε ἀρχαιότερα ἐχούσας ἐσθῆτα οἵ τε πλάσται καὶ κατὰ ταὐτὰ ἐποίουν οἱ ζωγράφοι· [...] Σωκράτης τε ὁ Σωφρονίσκου πρὸ τῆς ἐς τὴν ἀκρόπολιν ἐσόδου Χαρίτων εἰργάσατο ἀγάλματα Ἀθηναίοις. Καὶ ταῦτα μέν ἐστιν ὁμοίως ἅπαντα ἐν ἐσθῆτι, οἱ δὲ ὕστερον, οὐκ οἶδα ἐφ’ ὅτῳ, μεταβεβλήκασι τὸ σχῆμα αὐταῖς· Χάριτας γοῦν οἱ κατ’ ἐμὲ ἔπλασσόν τε καὶ ἔγραφον γυμνάς.
[…] und in Athen stehen vor dem Eingang zur Akropolis ebenfalls drei Chariten; und bei diesen feiern eine heilige Handlung, von der die gemeine Menge nichts wissen darf. [...] (6) Welcher Mensch die Chariten in der Plastik oder Malerei zuerst nackt dargestellt hat, war mir nicht möglich in Erfahrung zu bringen; denn früher haben sie die Bildhauer und ebenso die Maler bekleidet dargestellt: [...] Sokrates aber, der Sohn des Sophroniskos, hat für die Athener die (Relief-)figuren (agálmata) der Chariten vor dem Eingang zur Akropolis gemacht. Und auch diese sind alle bekleidet; dagegen haben die späteren , ich weiß nicht weshalb, ihre äußere Erscheinung geändert: Heutzutage stellen die Bildhauer und Maler die Chariten jedenfalls nackt dar.
4.1.5. Diogenes Laertios 2,19 (= SQ 913) In seinen Philosophenbiographien beruft sich Diogenes Laertios (3. Jh. n. Chr.) zunächst auf den Historiker Duris von Samos (um 340 – um 270 v. Chr.) für die Tatsache, dass Sokrates Steinmetz gewesen sei. Dann fügt Diogenes – sich offensichtlich auf andere Quellen stützend – an, dass einige auch behaupteten, die Chariten auf der Akropolis seien ein Werk des Sokrates. Δοῦρις δὲ καὶ δουλεῦσαι αὐτὸν (sc. Σωκράτην) καὶ ἐργάσασθαι λίθους· εἶναί τε αὐτοῦ καὶ τὰς ἐν ἀκροπόλει Χάριτας ἔνιοί φασιν, ἐνδεδυμένας οὔσας. Ὅθεν καὶ Τίμωνα ἐν τοῖς Σίλλοις εἰπεῖν· ἐκ δ’ ἄρα τῶν ἀπέκλινεν λιθοξόος
Duris behauptet, er (sc. Sokrates) sei auch im Dienst anderer tätig gewesen und habe Steine bearbeitet. Von ihm seien auch, sagen einige, die Chariten auf der Akropolis, die bekleidet seien. Daher habe auch Timon in seinen Sillen (Spottgedichte) gedichtet: Steinmetz ward er sodann und weltver-
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ἐννομολέσχης, Ἑλλήνων ἐπαοιδός, ἀκριβολόγους ἀποφήνας, μυκτὴρ ῥητορόμυκτος, ὑπαττικὸς εἰρωνευτής.
bessernder Schwätzer,/ Bezauberer der Hellenen, spitzfindiger Rede Erfinder,/ Nasenrümpfer, Rhetorenverspotter, halbattischer Heuchler.
4.1.6. Suda s.v. Σωκράτης (= SQ 916) In der Suda, einem byzantinischen Lexikon aus dem 10. Jh. n. Chr., sind im Artikel zu Sokrates, der sich weitgehend auf Diogenes Laertios stützt, ebenfalls die bekleideten Chariten des Sokrates erwähnt. Σωκράτης, Σωφρονίσκου λιθοξόου καὶ μητρὸς Φαιναρέτης μαίας· πρότερον γενόμενος λιθοξόος, ὥστε καί φασιν αὐτοῦ ἔργον εἶναι τὰς Ἀθήνησιν ἐνδεδυμένας Χάριτας· [...]
Sokrates, der Sohn des Steinmetzen Sophroniskos und der Hebamme Phainarete, war zuerst Steinmetz. Daher sagt man auch, dass die bekleideten Chariten in Athen sein Werk seien.
Die Gruppe der drei Grazien ist in der Antike mehrfach als ein Werk des Philosophen Sokrates aufgefasst worden, dessen Vater Steinmetz war und der selbst Hermen angefertigt haben soll (Lukian, SQ 909). Eine Durchsicht der Quellen zeigt aber auch, dass die Gruppe in den antiken Quellen nicht durchgängig dem Philosophen zugeschrieben wurde (nicht: Kat. 4.1.1.47) und dass Pausanias nicht als zuverlässiger Gewährsmann für die Verbindung mit dem Philosophen angesehen werden kann: an einer Stelle (Kat. 4.1.3.) weist er dem Philosophen irrtümlich auch ein Werk zu, das von Alkamenes stammt, den Hermes Propylaios (Kat. 7.1.). Da an anderer Stelle nicht belegt ist, dass Sokrates tatsächlich bedeutende Aufträge für Bildhauerarbeiten erhalten hat, wird man davon ausgehen, dass die Figurengruppe mit dem Philosophen erst dann in Verbindung gebracht worden ist, als ihr Bildhauer, ein gewisser Sokrates aus Theben, bereits in Vergessenheit geraten war. Von Sokrates aus Theben wissen wir durch Pausanias, dass er zu Lebzeiten des Dichters Pindar (um 520 – um 440 v. Chr.) gemeinsam mit Aristomedes aus Theben eine Statue der Meter Dindymene, wohl eine Sitzfigur der Kybele, geschaffen hat, die in der Umgebung von Theben aufgestellt war.48 Der von Pausanias für die Charitengruppe des Sokrates verwendete Begriff agálmata lässt zunächst an rundplastische Figuren denken, doch hat Pausanias den Begriff nachweislich auch für Relieffiguren gebraucht.49 Nur solche können hier gemeint sein, was aus dem Scholion zu Aristophanes (Kat. 4.1.2.) hervorgeht. Es besteht also kein Grund zu der mehrfach geäußerten Annahme, dass eine ursprünglich rundplastisch gestaltete Gruppe in hellenistischer Zeit oder bereits im 5. Jh. v. Chr. in ein dreifiguriges Relief umgesetzt worden sei.50 Das Charitenrelief im Vatikan wird vielmehr, gemeinsam mit einer Reihe Ganz unsicher ist es, wen Plinius mit dem Maler Sokrates meint, vgl. Künstlerlexikon II, 405 s.v. Sokrates III. 48 Paus. 9,25,3 (= SQ 478). Vgl. N. Pharaklas, Thebaika, AEphem 135, 1996, 156ff. 49 Paus. 2,3,1; Paus. 3,19,3 (SQ 360); Paus. 3,22,4 (SQ 235). – Zur Verwendung des Begriffs ágalma s. G. Nick, Die Athena Parthenos, 19. Beih. AM (2002) 11–15. 50 So aber z.B. B.S. Ridgway, Roman Copies of Greek Sculpture (1984) 52; dies., The Severe Style in Greek
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weiterer Reliefs, als maßgleiche Kopie auf ein originales Relief zurückgehen, welches dem Stil nach zu urteilen in der Zeit um 470 v. Chr. entstanden ist. Die nicht sehr genauen Angaben bei Pausanias („am Eingang“; „vor dem Ein-/Ausgang“) und im Scholion zu Aristophanes („hinter der Athena“ = Athena Hygieia?) weisen auf einen Aufstellungsort im Bereich zwischen Parthenon und altem Propylon. Dieser Bereich ist allerdings nach der Anfertigung der Gruppe im Zuge der Errichtung der Propyläen neu strukturiert worden, so dass der ursprüngliche Aufstellungsort nicht mehr zu ermitteln sein wird.51
Lit.: Lippold, Plastik 112 (Zuschreibung an Sokrates aus Theben); E. Schwarzenberg, Die Grazien (1966) 14–19; LIMC III (1986) 196f. s.v. Charis, Charites Nr. 26. – Zur Kopie im Vatikan: BrBr 654 rechts (mit Text von Arndt und Lippold); B. Andreae (Hrsg.), Bildkatalog der Skulpturen des Vatikanischen Museums I: Museo Chiaramonti (1995) Taf. 428f. (ohne Hinweis auf Sokrates). Lehmann/Kansteiner
Sculpture (1970) 115ff. 51 Vgl. Schwarzenberg 18, ferner O. Palagia, A New Relief of the Graces and the Charites of Socrates, in: Sacris Erudiri 31, 1989/90, 354f.
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5.
MYRON (Μύρων) aus Eleutherai (Attika)
5.1.
Aufstellungsort unbekannt: Bronzestatue eines Diskuswerfers
Rekonstruktion unter Verwendung von mindestens drei antiken Kopien: Rom, Palazzo Massimo, Inv. MNR 56039 (Rumpf); Rom, Palazzo Massimo, Inv. MNR 126371 (Kopf); Rom, Vatikanische Museen, Inv. 2346 oder London, British Museum Nr. 250 (Füße und Unterschenkel und rechter Arm [?]). Kopfhöhe 24 cm (Abguss).
5.1.1. Plinius, Naturalis historia 34,57 (= SQ 533) Im 34. Buch seiner Naturalis historia nennt Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) in dem eigentlich nach chronologischen Gesichtspunkten geordneten Abschnitt über die berühmtesten Bildhauer (53–71) Myron und dessen Werke chronologisch falsch nach Polyklet (55–56; Kat. 9) und vor Pythagoras von Rhegion (59).
Myronem Eleutheris natum, Hageladae et ipsum discipulum, bucula maxime nobilitavit celebratis versibus laudata, quando alieno plerique ingenio magis quam suo commendantur. Fecit et canem et discobolon et Perseum et pristas et Satyrum admirantem tibias et Minervam, Delphicos pentathlos, pancratiastas, Herculem, qui est apud circum maximum in aede Pompei Magni.
Myron, der in Eleutherai geboren wurde und gleichfalls (wie Polyklet) ein Schüler des Ageladas/Hageladas war, ist vor allem durch seine Kuh berühmt, die in bekannten Versen gefeiert worden ist, wie ja die meisten mehr durch fremde als durch ihre eigene Begabung bekannt gemacht werden. Er schuf einen Hund, einen Diskuswerfer, einen Perseus, Holzsäger, einen Satyr, der die Flöte bewundert, und eine Athene, delphische Fünfkämpfer, Pankratiasten und einen Herakles, der beim Circus Maximus im Tempel des Pompeius Magnus steht.
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5.1.2. Quintilian, Institutio oratoria 2,13,8–10 (= SQ 545) Quintilian (um 35 – um 100 n. Chr.) rät im Kapitel 2,13 seines Rhethoriklehrbuchs Institutio oratoria dazu, dass ein Redner sich nicht starr an das von seinen Lehrern empfohlene Schema halten, sondern es entsprechend den Erfordernissen seiner Rede abändern solle, und veranschaulicht seinen Ratschlag – wie es oft in der rhetorischen Fachliteratur geschieht – mit Beispielen aus der Bildhauerei (9–10) und Malerei (12–13). Auch in der Bildenden Kunst bestehe der Reiz in der Variation, die besonders bei dem Diskuswerfer des Myron gelungen sei. Die Statue gewinne gerade dadurch, dass sie von dem alten (archaischen) Schema der aufrecht stehenden Statue abweiche.
Expedit autem saepe mutare ex illo constituto traditoque ordine aliqua, et interim decet, ut in statuis atque picturis videmus variari habitus vultus status; (9) nam recti quidem corporis vel minima gratia est: nempe enim adversa sit facies et demissa bracchia et iuncti pedes et a summis ad ima rigens opus. Flexus ille et, ut sic dixerim, motus dat actum quendam et affectum: ideo nec ad unum modum formatae manus et in vultu mille species; (10) cursum habent quaedam et impetum, sedent alia vel incumbunt, nuda haec, illa velata sunt, quaedam mixta ex utroque. Quid tam distortum et elaboratum quam est ille discobolos Myronis? Si quis tamen ut parum rectum improbet opus, nonne ab intellectu artis afuerit, in qua vel praecipue laudabilis est ipsa illa novitas ac difficultas?
Es bewährt sich aber oft, an der überkommenen festen Ordnung etwas zu ändern, und bisweilen ist es auch schicklich so, wie wir bei Statuen und Bildern sehen, dass Haltung, Mienenspiel und Standmotiv variiert werden. (9) Denn der gerade stehende Körper zeigt wohl am wenigsten Anmut. Lasse man doch nur das Gesicht geradeaus blicken, die Arme herabhängen, die Füße nebeneinander gestellt: Ein starres Werk wird es sein von oben bis unten.52 Die Drehung und, wie ich sagen möchte, seine Bewegung vermitteln dagegen den Eindruck von Handlung und Gefühlsregung. Daher sind die Hände nicht nach einer einzigen Weise gestaltet, und für das Mienenspiel gibt es tausend Arten des Ausdrucks. (10) Manche haben eine Laufhaltung und ungestüme Bewegung, andere sitzen oder sind gelagert; nackt sind die einen, bekleidet andere, manche zeigen Mischungen zwischen beiden Möglichkeiten. Gibt es etwas so Verdrehtes und Artifizielles wie jenen berühmten Diskuswerfer des Myron? Wenn indessen jemand dieses Werk als nicht aufrecht genug tadeln wollte, zeigte er da nicht nur, wie fern er ist von dem Verständnis für die Kunst, in der doch gerade das Neue und Schwierige besonders zu loben ist?
Die Charakterisierung alter (archaischer) Werke als „starr“ findet sich auch in Quintilians kunsthistorischem Exkurs im 12. Buch, in dem in einer Entwicklungslinie die Statuen des Kallon und Hegias als duriora (recht hart), die Statuen des Kalamis als minus rigidiora (weniger steif) und schließlich die Statuen 52
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5.1.3. Lukian, Philopseudes 18 (= SQ 544) In dem philosophiekritischen Dialog Die Lügenfreunde oder der Ungläubige (Φιλοψευδεῖς ἢ Ἀπίστων) berichtet der Protagonist der Schrift, der kritische Tychiades, von einem Gespräch am Krankenbett eines gewissen Eukrates. Dabei hätten sich der Hausherr, vier Philosophen und ein Arzt, lauter unglaubwürdige Wundergeschichten erzählt. Eukrates habe behauptet, die Statue des korinthischen Feldherrn Pellichos53 laufe nachts in seinem Hause umher, vergnüge sich und habe sogar einmal einen Einbrecher gestellt.54 Lukian (um 120 – um 190 n. Chr.), der diesen Dialog wahrscheinlich in den 60/70er Jahren des 2. Jhs. n. Chr. in Athen verfasst hat, lässt Eukrates, bevor er die wundersame Statue beschreibt, drei Meisterwerke griechischer Kunst, darunter den Diskobol, erwähnen. Durch diesen Kontrast macht er die im Folgenden als besonders hässlich beschriebene Statue des korinthischen Feldherrn noch lächerlicher und die Geschichte des Eukrates noch unglaubwürdiger. Die Stelle ist ein literarischer Beleg dafür, dass in kaiserzeitlichen Villen Kopien berühmter griechischer Statuen aufgestellt waren. Die fiktive Villa des Eukrates ist im Dialog nicht näher lokalisiert, aber die Anwesenheit der Philosophen und der vermutliche Entstehungsort der Schrift legen nahe, dass am ehesten an eine Villa in Athen oder Attika gedacht ist.55 Οὐχ ἑώρακας, ἔφη, εἰσιὼν ἐν τῇ αὐλῇ ἀνεστηκότα πάγκαλον ἀνδριάντα, Δημητρίου ἔργον τοῦ ἀνθρωποποιοῦ; Μῶν τὸν δισκεύοντα, ἦν δ᾿ ἐγώ, φής, τὸν ἐπικεκυφότα κατὰ τὸ σχῆμα τῆς ἀφέσεως, ἀπεστραμμένον εἰς τὴν δισκοφόρον, ἠρέμα ὀκλάζοντα τῷ ἑτέρῳ, ἐοικότα συναναστησομένῳ μετὰ τῆς βολῆς; Οὐκ ἐκεῖνον, ἦ δ᾿ ὅς, ἐπεὶ τῶν Μύρωνος ἔργων ἓν καὶ τοῦτό ἐστιν, ὁ δισκοβόλος
Hast du nicht, sagte er (sc. Eukrates), beim Hereingehen im Hof eine wunderschöne Statue aufgestellt gesehen, eine Arbeit von Demetrios, dem Menschenbildner56? Du meinst doch, sagte ich (sc. Tychiades), nicht den Diskuswerfer, der sich in der Haltung des Abwurfs gebückt hat, zu der gewendet, die den Diskus hält, ein Knie leicht gebeugt, wobei er den Eindruck erweckt,
des Myron als molliora (noch weicher) bezeichnet werden (inst. or. 12,10,7 = SQ 601). Ähnlich werden bei Cicero, Brutus 70 (SQ 600) die Statuen des Kanachos signa rigidiora (recht steife Statuen) genannt. 53 Zum Feldherrn Pellichos s. R. Krumeich, Bildnisse griechischer Herrscher und Staatsmänner im 5. Jh. v. Chr. (1997) 179. 54 Statuen die Fähigkeit der Bewegung zuzuschreiben, ist ein Topos, der in der Literatur immer wieder insbesondere zur Hervorhebung der Lebensechtheit von Kunstwerken benutzt wird. Am bekanntesten ist die Anekdote, derzufolge die Statuen des legendären Künstlers Dädalos festgebunden werden mussten, damit sie nicht wegliefen; dazu s. R. Kassel, Dialoge mit Statuen, in: H.-G. Nesselrath (Hrsg), Rudolf Kassel. Kleine Schriften (1991) 140–53. – Auch die Vorstellung von heilenden Statuen und Bildern findet sich häufiger in der antiken Literatur; vgl. O. Weinreich, Antike Heilungswunder. Untersuchungen zum Wunderglauben der Griechen und Römer (1909) 137–61. – Die bekannteste Parallele für Anekdoten über strafende bzw. sich rächende Statuen ist die Geschichte von der Siegerstatue des Theagenes, die, als sie von einem Konkurrenten des Künstlers ausgepeitscht wurde, herunterfiel und ihn erschlug (so Paus. 6,11,6) bzw. vom Sockel stieg, den Übeltäter ihrerseits auspeitschte und dann tötete (so Dion von Prusa, or. 31,95f.); vgl. auch Euseb. praep. evang. 5,34,9–17. 55 Darauf, dass der Dialog offensichtlich in athenischem Kontext entstanden ist, weist auch M. Ebner, in: M. Ebner et al. (Hrsg.), Lukian. Die Lügenfreunde oder: Der Ungläubige (2001) 60 hin. 56 Als Vokabel für „Bildhauer“ wird hier bewusst ἀνθρωποποιός (Menschenbildner) und nicht ἀνδριαντοποιός (Statuenbildner) verwendet, um die Lebesechtheit der von Demetrios geschaffenen Statue zu unterstreichen, die nach der von Eukrates erzählten Wundergeschichte nachts wie ein Mensch agiert.
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ὃν λέγεις· οὐδὲ τὸν παρ᾿ αὐτόν φημι, τὸν διαδούμενον τὴν κεφαλὴν τῇ ταινίᾳ, τὸν καλόν, Πολυκλείτου γὰρ τοῦτο ἔργον. Ἀλλὰ τοὺς μὲν ἐπὶ τὰ δεξιὰ εἰσιόντων ἄφες, ἐν οἷς καὶ τὰ Κριτίου καὶ Νησιώτου πλάσματα ἕστηκεν, οἱ τυραννοκτόνοι· σὺ δὲ εἴ τινα παρὰ τὸ ὕδωρ τὸ ἐπιρρέον εἶδες προγάστορα, φαλαντίαν, ἡμίγυμνον τὴν ἀναβολήν, ἠνεμωμένον τοῦ πώγωνος τὰς τρίχας ἐνίας, ἐπίσημον τὰς φλέβας, αὐτοανθρώπῳ ὅμοιον, ἐκεῖνον λέγω· Πέλλιχος ὁ Κορίνθιος στρατηγὸς εἶναι δοκεῖ.
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dass er sich gleichzeitig mit dem Wurf wiederaufrichten wird? Nein, sagte er, den nicht; denn das ist ein weiteres Werk des Myron, der Diskobol, von dem du sprichst. Und auch den neben ihm meine ich nicht, der sich gerade eine Stirnbinde um den Kopf legt, den Schönen, denn das ist ein Werk des Polyklet (Kat. 9.4.). Nein, lass die Figuren beiseite, die beim Eintreten rechter Hand stehen, darunter auch die Plastiken des Kritios und des Nesiotes, die Tyrannenmörder (Kat. 3.1.). Wenn du aber beim Springbrunnen eine Figur mit vorstehendem Bauch sahst, mit Glatze, die Kleider so drapiert, dass sie halb nackt ist, leicht vom Wind umweht, was sich an einigen Barthaaren zeigt, und Adern, die deutlich hervortreten, ganz ähnlich einem wirklichen Menschen, diese Figur meine ich: Es scheint der korinthische Feldherr Pellichos zu sein.
Im Fall des myronischen Diskuswerfers glückte die Identifizierung des statuarischen Typus erst verhältnismäßig spät, da die Torsorepliken, die als erste gefunden worden waren, sinnentstellend als Endymion, als Gefallener und als Diomedes ergänzt worden sind. Erst die im Jahr 1781 erfolgte Entdeckung einer relativ gut erhaltenen weiteren Kopie57 brachte Giambattista Visconti dazu, diese auf die Statue des Myron zurückzuführen. Da die Deutung als Diskuswerfer gleich nach der Auffindung erfolgte, wird man davon ausgehen dürfen, dass der rechte Arm der 1781 gefundenen Replik samt Teilen des Diskus antik und nicht das Werk des Ergänzers Giuseppe Angelini ist.58 Zehn Tage nach der Entdeckung schreibt Visconti, nachdem er das Replikenverhältnis zum Torso im Museo Capitolino, der als Gefallener ergänzt ist, erkannt hat: „Ricercai dunque, se alcuno degli antichi mentovava fralle opere de’ piú rinomati scultori qualche simulacro di Lanciator di ruzzola. Ed in fatti tre celebri sculture di Diskoboli trovai annoverati in Plinio, uno di Mirone, l’altro di Naucide, il terzo di Taurisco.“59 Für die Identifizierung des Diskobolen ausgerechnet mit der Statue von der Hand des Myron kommt der von Visconti noch nicht in die Betrachtung einbezogenen Quelle 5.1.3. (Lukian) besondere Bedeutung zu, da die dort in seltener Ausführlichkeit geschilderte 57 Sog. Diskobol Lancellotti, Rom, Palazzo Massimo (Museo Nazionale Romano, Inv. 126371); zu diesem s. Geominy 229ff.; ders. in: Sportschau, Ausst.-Kat. Bonn 2004, 77–79 zu Kat. 14. 58 Dass der angesetzte rechte Arm antik ist, hat Geominy 232f. vor allem aufgrund von bildhauerischen Mängeln in Zweifel gezogen. Ohne das Vorhandensein von Arm und Diskus wäre Visconti indes schwerlich so rasch zu seiner Deutung gelangt. 59 „Ich prüfte also, ob einer der alten (Schriftsteller) unter den Werken der renommiertesten Bildhauer einen Diskuswerfer erwähnt. Und wirklich fand ich bei Plinius drei berühmte Diskobolen, einen des Myron, einen zweiten des Naukydes und einen dritten des Tauriskos.“ – SQ 533, SQ 996, SQ 2039.
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Haltung der Statue so eigentümlich ist, dass die Verbindung der Schriftquellen mit dem statuarischen Typus als zwingend anzusehen ist.60 Aus der Größe der fünf erhaltenen Kopfrepliken geht hervor, dass die von Myron geschaffene, lebensgroße Bronzestatue in aufrechter Haltung eine Höhe von etwa 1,80 m erreicht hätte.61 Dargestellt war ein erwachsener Athlet, der – wohl bei einem der vier panhellenischen Agone – im Fünfkampf gesiegt hat; der als Einzeldisziplin nicht ausgetragene Diskuswurf war Teil des Fünfkampfes. Pausanias hat sich in Olympia anhand der Inschrift auf der jeweiligen Statuenbasis die Namen einiger Sieger notiert, für die Myron eine Statue geschaffen hat, doch ist unter diesen kein Fünfkämpfer.62 Auch wenn der Diskobol in Griechenland in Form von Kopien gegenwärtig war – dies lässt der Text Lukians erwarten –, muss man daher mit der Möglichkeit rechnen, dass er zu den Statuen gehört hat, die seit hellenistischer Zeit aus Griechenland, vorzugsweise nach Rom, verschleppt und auf diese Weise zu anonymen Athleten geworden sind.63 Der um die Mitte des 5. Jhs. v. Chr. geschaffene Diskobol ist für die Kenntnis von Myrons Schaffen von ähnlicher Relevanz wie der Apoxyomenos für Lysipp (Kat. 14.1.), da er eine gute Vorstellung davon gibt, wie Myron Köpfe von Athleten, ein zentrales Thema in seinem Œuvre, gestaltet hat. In Kenntnis des Diskobolen hat Adolf Furtwängler einen in mehreren Repliken überlieferten Kopftypus mit Myron in Verbindung gebracht, dessen Körper bis heute nicht nachgewiesen ist.64 Vergleicht man das Haar des Diskobolen mit dem des rund 25 Jahre älteren Wagenlenkers in Delphi, so wird außerdem deutlich, dass Myron mit der Haarwiedergabe ganz in der Tradition älterer Bildhauer steht. Eben dies hat sich in einem von Plinius (nat. 34,58) referierten Kunsturteil niedergeschlagen, welches Myron eine überaus altertümliche Haarbildung bescheinigt. Wenn in derselben Quelle davon die Rede ist, dass Myron den Spielraum naturgetreuer Darstellung erweitert zu haben scheint,65 so ist zu überlegen, ob auch diese Aussage maßgeblich vom Diskobol beeinflusst ist. Mindestens die Berühmtheit des Diskobolen hat in der Antike ein weiteres Werk des Myron erreicht, die auch von Plinius (Kat. 5.1.1.) erwähnte Bronzestatue einer Kuh, die etliche Dichter dazu animiert hat, vor allem ihre ‚Lebensechtheit’ in Epigrammen zu preisen.66
Wertlos für die Zuweisung des Diskobolen an Myron ist die Inschrift „Myron epoiei“ auf der Stütze der 1791 gefundenen Kopie im Vatikan (Inv. 2346; Anguissola Nr. 5): die Inschrift ist neuzeitlich. 61 Den statuarischen Typus überliefern neben den Kopfrepliken elf Repliken des Körpers, etliche Fragmente sowie einige verkleinerte Wiederholungen. 62 Siegerstatuen des Lykinos, des Timanthes, des Philippos und des Chionis, vgl. Paus. 6,2,2; 6,8,4; 6,8,5; 6,13,2 (SQ 546–49). 63 Nicht maßgeblich für die Benennung des Diskobolen ist die Tatsache, dass eine kaiserzeitliche Wiederholung auf einer Gemme in London (LIMC V, 549 s.v. Hyakinthos Nr. 48) durch die Beischrift als Hyakinthos ausgewiesen wird. Den mythischen Athleten Hyakinthos, den Apollon versehentlich mit dem Diskus tötet, sahen im Diskobolen z.B. Lippold, Plastik 137; Giuliano 170. 64 Furtwängler, Meisterwerke 344ff. – Es handelt sich um den Kopftypus ‚Ince-Riccardi’. – Denkbar ist die Verbindung mit Myron auch bei dem sog. Amelungschen Athleten, einem ruhig stehenden Pankratiasten, der sich einen Kopfschutz anlegt, vgl. A. Bohne in: Sportschau, Ausst.-Kat. Bonn 2004, 105–07 Kat. 28. 65 So die Interpretation der Wendung multiplicasse veritatem videtur bei N. Kaiser in: Polyklet, Ausst.-Kat. Frankfurt 1989, 60. 66 SQ 553ff. 60
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Lit. zum statuarischen Typus: W. Geominy in: „Wiedererstandene Antike“. Ergänzungen antiker Kunstwerke seit der Renaissance, Kolloquium Oranienbaum 1999 (2003) 229–42; P.C. Bol in: Bildhauerkunst II, 25f.; A. Anguissola, JRA 18, 2005, 317–35 (Replikenliste). – Zur ausgestellten Rekonstruktion vgl. G.E. Rizzo, BdA 1, 1907, 1–14; ders. im Text zu BrBr 631f.; S. Howard, Antiquity Restored (1990) 76f. Abb. 95. – Zur Geschichte der Identifizierung: A. Giuliano, Scritti minori (2001) 163–72.
5.2.
Athen, Akropolis: Bronzegruppe der Athena und des Marsyas
Marmorkopie: Frankfurt, Liebieghaus, Inv. 195 (Athena) sowie Vatikan, Museo Gregoriano Profano, Inv. 9974 (Marsyas). – Höhe ca. 1,57 m (Athena) und 1,59 m (Marsyas, jeweils Sohle–Scheitel, am Abguss). – Ergänzt sind an der Athena die linke Schulter, am Marsyas die rechte Fußspitze, der linke Unterschenkel sowie Kleinigkeiten, am Abguss außerdem die Armansätze. – Fundort der Athena: Rom, Via Gregoriana (1884); Fundort des Marsyas: Rom, antike Bildhauerwerkstatt in der Nähe von St. Maria Maggiore (1823). Datierung: augusteisch (Athena); 1. Jh. n. Chr. (Marsyas).
5.2.1. Plinius, Naturalis historia 34,57 (= SQ 534) Unter den Werken des Myron nennt Plinius einen Satyr und eine Athena (zur Stelle vgl. Kat. 5.1.1.).
Fecit […] satyrum admirantem tibias et Minervam […]
Er schuf [...] einen Satyr, der die Doppelflöte bewundert, und eine Athena [...]
5.2.2. Pausanias 1,24,1 (= SQ 533 Anm. f) Auch Pausanias (um 115 – um 180 n. Chr.) erwähnt bei seiner Beschreibung der Athener Akropolis (1,22,4–28,3) eine Gruppe der Athena und des Marsyas, ohne allerdings deren Künstler anzugeben.
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Ἐνταῦθα Ἀθηνᾶ πεποίηται τὸν Σιληνὸν Μαρσύαν παίουσα, ὅτι δὴ τοὺς αὐλοὺς ἀνέλοιτο, ἐρρῖφθαι σφᾶς τῆς θεοῦ βουλομένης.
Dort steht auch Athena, die den Silen Marsyas schlägt, weil er die Doppelflöte (auloi) wieder aufhob, die die Göttin fortgeworfen wissen wollte.
Die Rekonstruktion der myronischen Gruppe anhand zweier statuarischer Typen der Athena und des Marsyas erfolgte vor 100 Jahren durch Bruno Sauer und Ludwig Pollak.67 Auch wenn bis heute keine Kopie der gesamten Gruppe zu Tage getreten ist, können beide Identifizierungen als gesichert gelten: die stilkritische Beurteilung der Athena und des Marsyas spricht dafür, dass die Originale um die Mitte des 5. Jhs. v. Chr. geschaffen worden sind. Außerdem stimmen beide Statuen darin überein, dass sie lebensgroß sind, wobei bemerkenswert ist, dass Athena als Göttin nicht größer wiedergegeben ist als der Satyr, der vollständig aufgerichtet eine Höhe von ca. 1,70 m erreichen würde. Aus Wiederholungen der Gruppe auf einer Choenkanne in Berlin (Junker Abb. 15) und auf attischen Münzen des 2. Jhs. n. Chr. (Junker Abb. 16) geht hervor, dass sich der Satyr rechts von der Athena befunden hat. Damit gut zu vereinbaren sind die Haltungsmotive der beiden statuarischen Typen: Die Blicke der Athena und des Marsyas sind auf die Auloi gerichtet, die am Boden liegend zu ergänzen sind. Da sich keine antike Kopie erhalten hat, die beide Statuen gemeinsam auf einer Basis zeigt, ist zu prüfen, ob die inhaltliche Deutung der Gruppe Aufschluss über die genaue Zuordnung der beiden Figuren zueinander gibt. Erfüllt von einer gewissen Furcht vor dem wundersamen Instrument, das am Mund der Athena gerade noch eigenartige Töne von sich gegeben hat und nun am Boden liegt, versucht Marsyas das Objekt seiner Begierde mit dem gestreckten rechten Fuß anzutippen, um festzustellen ob es Geräusche von sich gibt.68 Die Annäherung geschieht so vorsichtig, dass Marsyas gezwungen ist, mit beiden Armen zu ‚rudern’ – der rechte Arm, der bei allen vier Körperrepliken verloren ist, war dabei steil angehoben – um sein Gleichgewicht zu halten. Der Gedanke, dass die Vorsicht bei der Annäherung zusätzlich dadurch motiviert sei, dass Marsyas sein Tun vor der Göttin, die sich gerade vom Schauplatz des Geschehens abzuwenden scheint, geheim zu halten versuche und sich deshalb anschleiche,69 erscheint angesichts der Nähe der beiden Skulpturen zueinander sehr gesucht. Pausanias hat die zwei aufeinander folgenden Ereignisse, die in der Gruppe vereint sind70 – das Fortwerfen der Auloi durch Athena und die „Wiederinbetriebnahme“ derselben durch Marsyas –, offenbar nicht richtig aufgefasst, wenn er den Begriff „schlagen“ verwendet.71 Vielmehr scheint er das Schlagen aus einer späteren Version der Sage abgeleitet zu haben, derzufolge Athena einen Fluch ausgespochen haben soll, der demjenigen galt, der sich der Auloi bemächtige.72 In der myronischen Gruppe kommt es nicht zu einer InterBeide haben unabhängig voneinander den statuarischen Typus der Athena erkannt; bereits 1853 hatte Heinrich Brunn den statuarischen Typus des Marsyas identifiziert. 68 Zu anderen, nicht plausiblen Deutungen der Aktion des Marsyas, u.a. als tanzend, vgl. Geominy 147–50. Junker 171 spricht von „tänzelndem Vortasten und gleichzeitigem Zurückweichen“. 69 So Geominy 151f. 70 Vgl. Junker 168; anders Geominy 154. 71 Pausanias hat sicher keine zweite Gruppe dieses Themas gemeint, vgl. Junker 129. 182f.; Geominy 147. 160. 72 Hygin fab. 165. Dort weist freilich nichts darauf hin, dass Athena im Beisein des Marsyas den Fluch ausspricht.
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Myron
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aktion zwischen Athena und Marsyas: in der rechten Hand hielt Athena eine Lanze,73 die Hand des gesenkten linken Arms war wahrscheinlich leer74 und gab keine Veranlassung dazu, eine Geste des Drohens oder Ähnliches zu erkennen. Bei der von Wilfred Geominy befürworteten keilförmigen, der Aufstellung der Tyrannenmörder (Kat. 3.1.) ähnlichen Anordnung der Figuren könnte Athena so gestanden haben, dass sich das Tun des Marsyas in ihrem Rücken abspielte; bei einer reliefmäßigen Anordnung75 wäre sie Augenzeuge seines Tuns. Anlass und Stifter der Weihung sind unbekannt. Nach den Untersuchungen von Klaus Junker und Geominy ist die alte Annahme obsolet, dass die Schöpfung der Gruppe durch eine politische Auseinandersetzung zwischen Athen und Böotien motiviert gewesen sei.76 Auch wenn die Gruppe die Wiederaufnahme und Perfektionierung des von Athena erfundenen Aulosspiels durch Marsyas zum Thema hat, war den Zeitgenossen des Myron sicher auch der weitere Verlauf der Sage präsent: Marsyas wird bei lebendigem Leib gehäutet, nachdem er sich erdreistet hat, Apollon zum musischen Agon herauszufordern.77 Lit.: H. Brunn, Il Marsia di Mirone, AdI 1858, 374–83; B. Sauer, Die Marsyasgruppe des Myron, JdI 23, 1908, 125–62; J. Sieveking, Myrons Gruppe der Athena und des Marsyas, AA 1908, Sp. 341–43; L. Pollak, Die Athena der Marsyasgruppe Myrons, ÖJh 12, 1909, 154–65; G. Daltrop – P.C. Bol, Athena des Myron (1983); K. Junker, Die Athena-Marsyas-Gruppe des Myron, JdI 117, 2002, 127–84; W. Geominy in: P.C. Bol (Hrsg.), Zum Verhältnis von Raum und Zeit in der griechischen Kunst, Symposion Frankfurt 2000 (2003) 143–60; P.C. Bol in: Bildhauerkunst II, 26–28 Abb. 36f. – Zur Athena in Frankfurt: P.C. Bol, Liebieghaus – Antike Bildwerke I (1983) 55–63 Kat. 16. – Zum Marsyas im Vatikan: C. Vorster, Museo Gregoriano Profano. Katalog der Skulpturen II 1 (1993) 21–24 Nr. 3. – Zur Geschichte der Identifizierung: Junker 129; Geominy 143f. Lehmann/Kansteiner
Die rechte Hand der Kopie in Frankfurt ist erhalten und zeigt, dass Athena den Lanzenschaft im rechten Winkel zur Stellung des Unterarms gehalten hat, vgl. Bol, Liebieghaus 63 Abb. 16,9–10; Junker 134 Abb. 7. 74 Geominy 146 Anm. 15; 149 mit Anm. 31. 75 Für die reliefmäßige Anordnung, die von fast allen Forschern als wahrscheinlich erachtet wird, spricht doch wohl das Gesicht der Athena, das bei frontaler Betrachtung so schmal erscheint wie kein zweites antikes Gesicht. 76 Der Aufhänger für diesen Konflikt wäre die unterschiedlich große Beliebtheit des Aulosspiels in Athen und in Böotien, in der Gruppe vertreten durch Marsyas, gewesen; vgl. Junker 142ff. 77 Vgl. Ov. fast. 697ff.; die Geschichte von der Häutung des Marsyas findet bereits im 5. Jh. bei Herodot Erwähnung (Hdt. 7,26). 73
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Phidias
6.
PHIDIAS (Φειδίας) aus Athen
6.1.
Athen, Akropolis: Statue der Athena
Kopie in Bologna
Marmorkopie: Dresden, Skulpturensammlung, Herrmann Nr. 49; ehemals Rom, Sammlung Albani. – Höhe 1,98 m (Sohle–Scheitel, mit ergänzter Kalotte); Kopfhöhe 25 cm. – Datierung: um die Mitte des 1. Jhs. n. Chr.
In drei Texten des 2. Jhs. n. Chr. (6.1.1–3) ist die Athena Lemnia namentlich erwähnt. 6.1.1. Pausanias 1,28,2 (= SQ 758) Am Schluss seiner Beschreibung der Athener Akropolis (1,22,4–28,3), die er an den Propyläen beginnen und dort auch wieder enden lässt, erwähnt Pausanias (um 115 – um 180 n. Chr.) u.a. zwei Weihungen, eine Statue des Perikles, die wahrscheinlich mit dem bereits in Paus. 1,25,1 genannten Standbild identisch ist (Kat. 8.1.; vgl. auch 6.3.1.), und das Götterbild der Athena Lemnia, das er mit einer in seiner Perihegese geläufigen Wendung θέας μάλιστα ἄξιον als das betrachtenswerteste unter den Werken des Phidias hervorhebt. Gemeint sind dabei offensichtlich die Bronzewerke des Künstlers, da Pausanias nur kurz vorher die chryselephantine Statue der Athena Parthenos beschrieben hat (1,24,5–7; Kat. 6.2.). Δύο δὲ ἄλλα ἐστὶν ἀναθήματα, Περικλῆς ὁ Ξανθίππου καὶ τῶν ἔργων τῶν Φειδίου θέας μάλιστα ἄξιον Ἀθηνᾶς ἄγαλμα ἀπὸ τῶν ἀναθέντων καλουμένης Λημνίας.
Und noch zwei andere Weihungen (anathémata) sind da: Perikles, der Sohn des Xanthippos, und von allen Werken des Phidias das sehenswerteste, die Statue (ágalma) der Athena, die man nach den Weihenden die Lemnische (Lemnía) nennt.
Phidias
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6.1.2. Lukian, Imagines 4–6 (= SQ 760) In seinem auch unter dem Titel Panthea überlieferten Dialog Die Bilder (Εἰκόνες/ Imagines) lässt Lukian (um 120 n. Chr. – um 190 n. Chr.) Lykinos von der Schönheit der Panthea, der Geliebten des Lucius Verus, schwärmen. Lykinos beschreibt seinem Dialogpartner Polystratos die schöne und gebildete Griechin aus Smyrna, indem er ihre einzelnen Körperteile mit denen berühmter griechischer Kunstwerke, zunächst der Bildhauerei, dann der Malerei vergleicht. Diesem Verfahren liegt ein eklektizistisches Kunstverständnis zugrunde, bei dem die Schönheit durch die Zusammensetzung schöner Einzelteile erzielt wird. Unter den plastischen Werken, die von Lykinos herangezogen werden, sind neben der Knidischen Aphrodite des Praxiteles (SQ 1230–1232), der von Alkamenes geschaffenen Aphrodite in den Gärten (SQ 814f.) und der Sosandra des Kalamis (SQ 517–520) die Athena Lemnia und die Amazone des Phidias (Kat. 6.4.). ΛΥΚΙΝΟΣ Ἀλλὰ καὶ ταῦτα μὲν ἱκανῶς. Τῶν δὲ Φειδίου ἔργων τί μάλιστα ἐπῄνεσας; ΠΟΛΥΣΤΡΑΤΟΣ Τί δ’ ἄλλο ἢ τὴν Λημνίαν, ᾗ καὶ ἐπιγράψαι τοὔνομα ὁ Φειδίας ἠξίωσε; Καἰ νὴ Δία Ἀμαζόνα τὴν ἐπερειδομένην τῷ δορατίῳ. [...] (6) ΛΥΚΙΝΟΣ [...] Τὴν δὲ τοῦ παντὸς προσώπου περιγραφὴν καὶ παρειῶν τὸ ἁπαλὸν καὶ ῥῖνα σύμμετρον ἡ Λημνία παρέξει καὶ Φειδίας· ἔτι καὶ στόματος ἁρμογὴν αὐτὸς καὶ τὸν αὐχένα παρὰ τῆς Ἀμαζόνος λαβών.
Lykinos: So weit, so gut. Aber unter den Werken des Phidias, welches gefällt dir am besten? Polystratos: O gewiss kein anderes als die Lemnia, die sogar Phidias würdig befand, sie inschriftlich mit seinem Namen zu versehen. Und, bei Zeus, die Amazone, die sich auf die Lanze stützt. […] (6) Lykinos […] Aber die Kontur des ganzen Gesichtes und die Weichheit der Wangen und die ebenmäßige Nase soll ihr Phidias von seiner Lemnia geben. Ferner soll er die harmonische Formung des Mundes und den Nacken von seiner Amazone übernehmen.
6.1.3. Aelius Aristides, oratio 34,28 In seiner 170 n. Chr. im Bouleuterion von Smyrna gehaltenen Prunkrede Gegen diejenigen, die Mysterien entweihen (κατὰ τῶν ἐξορχουμένων) verherrlicht Aelius Aristides (117 – um 180 n. Chr.) die Redekunst und wendet sich gegen Redner, die mit qualitativ minderwertigen Reden die Redekunst, die nach dem Verständnis des Aristides etwas Heiliges ist, gleichsam wie Mysten, die ihr Mysteriengeheimnis verraten, entweihen. Um seine These zu belegen, dass ein Redner mit einer schönen Rede am meisten erreiche und daher schlechten Stil vermeiden solle (26), führt er zunächst an, dass man auch lieber schönen als hässlichen Körpern begegnet (27), und gibt dann Beispiele aus der Bildhauerei für Statuen, die aufgrund ihrer Schönheit und Präzision am meisten geschätzt würden, darunter auch die Athena Lemnia (28). Μὴ τοίνυν ὅτι ἐν τοῖς σώμασιν, ἀλλ’ ἐν τοῖς πλάσμασι καὶ τοῖς ἀγάλμασι ποῖ’ ἄττα μάλιστα χειροῦται τοὺς ἐντυγχάνοντας; Ἆρ’ οὐ τὰ κάλλιστα καὶ μεγαλοπρεπέστατα καὶ πρὸς
Was also beeindruckt nicht nur bei von Körpern, sondern auch in der Plastik und Skulptur die Betrachter am meisten? Sind es nicht die schönsten, prächtigsten
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Phidias
τοὔσχατον ἥκοντα τῆς εἰς ταῦτ’ ἀκριβείας; Ὁ Ζεὺς οὑλύμπιος, ἡ Ἀθήνησιν Ἀθηνᾶ, λέγω τοῦτο μὲν τὴν ἐλεφαντίνην, τοῦτο δ’, εἰ βούλει, τὴν χαλκῆν καὶ νὴ Δία γ’, εἰ βούλει, τὴν Λημνίαν, ἅπαντα ταῦτα ὑπερβολὴν μὲν ἀρετῆς τῷ δημιουργῷ, τοῖς δὲ θεαταῖς ἡδονῆς ἔχει.
und diejenigen, die ein Höchstmaß an künstlerischer Vollkommenheit (akríbeia) erreichen? Der Zeus von Olympia, die Athena in Athen, ich meine zum einen die elfenbeinerne (Athena Parthenos; Kat. 6.2.), zum anderen auch die bronzene (Athena Promachos) und, beim Zeus, schließlich auch die Lemnia: all diese bezeugen dem Künstler außergewöhnliche Kunstfertigkeit, den Betrachtern aber bereiten sie außergewöhnliche Freude.
Nach den in diesen drei Texten enthaltenen Hinweisen handelt es sich bei der Athena Lemnia um ein von Phidias signiertes Weihgeschenk der Bewohner der Insel Lemnos, das auf der Akropolis – von Paus. 1,28,2 kurz vor dem Verlassen der Akropolis genannt – nördlich des Prozessionsweges im Gebiet zwischen der Athena Promachos und der nördlichen Halle der Ostfassade der Propyläen stand, in unmittelbarer Nähe des bronzenen Viergespanns, das die Athener nach ihrem Sieg über die Böoter und Chalkidier geweiht hatten,78 und einer Statue des Perikles (vgl. dazu Kat. 8.1.). Eine genauere Lokalisierung des Standortes vor den Propyläen, wo Felsbettungen für Weihgeschenke vorhanden sind,79 oder innerhalb der Propyläen-Halle80 wurde erwogen, lässt sich aber nicht belegen. Nach den Dedikanten wurde die Statue ‚Lemnia’ genannt. Aufgrund der Seltenheit nichtattischer Weihungen auf der Athener Akropolis und der durch den Künstlernamen gegebenen ungefähren Zeitstellung der Weihung in perikleischer Zeit dürften unter den ‚Lemnioi’ attische Siedler (Kleruchoi) auf der Insel Lemnos zu verstehen sein, die spätestens seit den frühen 90er Jahren des 5. Jhs. v. Chr. (Hdt. 6,136,2; 140) die Insel als strategisch wichtigen Außenposten in ihrem Besitz hatten und schließlich Bundesgenossen des Delisch-Attischen Seebundes waren. Die Statuenweihung der Lemnia brachte man mit einer vermuteten Aussendung weiterer attischer Kleruchen nach Lemnos um 450 v. Chr. in Verbindung, die man aus der Senkung des Tributs für den Seebund und einer nunmehr getrennten Veranlagung der beiden lemnischen Städte Myrina und Hephaistia in diesen Jahren erschloss. Die Aussendung ist jedoch durch keine Quelle belegt und eine Reduzierung des Tributs (Phoros) konnte von den Athenern aus vielen politischen Gründen konzediert werden. Eine zeitliche Eingrenzung der Weihung der Athena Lemnia ist somit aus den Quellen nicht zu begründen; ebensowenig ist der Anlass der Weihung bekannt.81 Bei den folgenden zwei weiteren literarischen Testimonien (6.1.4–5) ist der Bezug auf die Athena Lemnia zwar recht wahrscheinlich, aber nicht zweifelsfrei zu sichern, da das Beiwort Lemnia nicht ausdrücklich genannt ist.
SQ 469a–c (Hdt. 5,77; Paus. 1,28,2; Diodor 10,23,3). Vgl. A.E. Raubitschek, Dedications from the Athenian Akropolis (1949) 191 Nr. 168; 201 Nr. 173; P. Schollmeyer, Antike Gespanndenkmäler (2001) 53–61; F. Jünger, Gespann und Herrschaft (2006) 225–49. 79 G.P. Stevens, Hesperia 5, 1936, 514f. Abb. 7. 63. 80 E.B. Harrison in: Kanon. Festschrift E. Berger (1988) 107. 81 Vgl. dazu zuletzt Steinhart 380ff. 78
Phidias
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6.1.4. Plinius, Naturalis historia 34,54 (= SQ 759) Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) erwähnt im Abschnitt über die berühmtesten Bildhauer im 34. Buch seiner Naturalis historia unter den Werken des Phidias eine Athena von außerordentlicher Schönheit.
Ex aere (sc. Phidias fecit) vero praeter Amazonem supra dictam Minervam tam eximiae pulchritudinis, ut formae cognomen acceperit.
Aus Bronze aber (sc. schuf Phidias), außer der oben (nat. 34,53 bei der Anekdote vom Künstlerwettstreit in Ephesos; s. Kat. 8.2.1.) genannten Amazone, eine Athena von so außerordentlicher Schönheit, dass sie den Beinamen „die Gestalt“ erhielt.
6.1.5. Himerios, oratio 68,4 (= SQ 761) Der im 4. Jh. n. Chr. tätige Rhetor Himerios führt in einer wohl an seine Schüler gerichteten protreptischen Rede, in der er dazu auffordert, Reden abwechslungsreich zu gestalten, als Beispiel dafür, dass auch ein Bildhauer wie Phidias in seinem Schaffen variiert habe, eine von diesem angefertigte Bronzestatue der Athena ohne Helm und Waffen an. Wie Plinius betont auch Himerios die Schönheit der Göttin. Die Formulierung, dass Phidias die Schönheit der Göttin unter dem Rot ihrer Wangen verborgen habe, dürfte als rhetorisch übersteigerte Ausdrucksweise zu verstehen sein, mit der die Tatsache, dass die Statue keinen Helm trug, betont werden soll, wodurch die Schönheit gerade besonders sichtbar wurde. Οὐκ ἀεὶ Δία Φειδίας ἔπλαττεν, οὐδὲ σὺν ὅπλοις ἀεὶ τὴν Ἀθηνᾶν ἐχάλκεύετο, ἀλλὰ καὶ εἰς ἄλλους θεοὺς ἀφῆκε τὴν τέχνην καὶ τὴν παρθένον ἐκόσμησεν ἐρύθημα καταχέας τῆς παρειᾶς, ἵνα ἀντὶ κράνους ὑπὸ τούτου τῆς θεοῦ τὸ κάλλος κρύπτοιτο.
Nicht immer schuf Phidias einen Zeus, und nicht immer stellte er seine bronzenen Athenen mit Waffen dar, sondern er ließ seine Kunst auch anderen Göttern zuteil werden und schmückte die jungfräuliche Göttin (Athena) dadurch, dass er Röte über ihre Wange goss, damit darunter statt unter einem Helm die Schönheit der Göttin verborgen sei.
Die Athena Lemnia galt als das „sehenswerteste“ Werk des Phidias. Ihre von Lukian gerühmte Schönheit, besonders der Konturen des Gesichts, berechtigt vielleicht dazu, in der bei Plinius genannten bronzenen Athena des Phidias mit dem Beinamen „Die Schöne“ (forma) (Kat. 6.1.4.) und in der von Himerios (Kat. 6.1.5.) erwähnten waffen- oder helmlosen Athena des Phidias die Lemnia zu sehen; Zweifel an dieser Verbindung können jedoch nicht ausgeräumt werden. Diese beiden Quellen und die aus ihnen abgeleitete Annahme, das Weihgeschenk der Lemnier habe die Athena helmlos wiedergegeben, sind aber der Ausgangspunkt dafür, im Denkmälerbestand Bildwerke zu ermitteln, die eine Rekonstruktion der verlorenen Originalstatue des Phidias erlauben. Mit großen Erfolg hat Adolf Furtwängler die schriftlichen Quellen mit dem klassischen Statuentypus Dresden-Bologna verbunden,82 der in drei Repliken des Körpers und fünf 82
Replikenliste: Gercke 152ff. Nr. 32–38; hinzu kommt der neu gefundene Einsatzkopf aus Pozzuoli in
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des Kopfes überliefert ist.83 Die Verbindung von Kopftypus und Statuentypus darf aufgrund der Untersuchung des Marmors und der modernen Restaurierungsmaßnahmen bei der ausgestellten Statue als gesichert gelten;84 die Verbindung wird außerdem durch die Gemmenbilder gestützt, deren Zeugniswert nicht zur Gänze abgelehnt werden kann.85 Die jugendlich schlanke und in kontrapostischer Haltung aufrecht stehende Athena ist mit einem Peplos und einer schrägen Ägis bekleidet, die von einer verknoteten Schlange übergürtet sind. Der unbedeckte Kopf mit schmalem Gesicht und reich gewelltem Haar ist zur rechten Standbeinseite gewendet und leicht geneigt. Der waagerecht abgestreckte linke Oberarm und die Einlassung vor (!) dem linken Fuß der zweiten Dresdner Kopie (Herrmann Nr. 50) erlauben eine ungefähre Bestimmung der Position der mit der linken Hand gehaltenen Lanze (vgl. Gercke 42). Die Kopfwendung und die Haltung des rechten Oberarms sowie die Gemmenbilder und die ikonographische Tradition einer helmhaltenden Athena86 machen es wahrscheinlich, dass Athena in der rechten Hand einen Helm87 gehalten hat als Ausdruck ihres Wesens und Zeichen ihres göttlichen Beistandes88 und vielleicht auch als Hinweis auf eine ruhmreiche Vergangenheit der Stifter.89 Vorschläge, der Athena einen Kranz oder die Eule90 in die rechte Hand zu geben, haben nicht überzeugen können. Auf der Basis der römischen Kopien sind verschiedene Rekonstruktionen der Originalstatue vorgenommen worden,91 zuletzt in Kassel Rekonstruktionen des Bronzeoriginals in seiner ursprünglichen metallenen Erscheinung und einer bemalten römischen Kopie.92 Der Stil der Gewandfigur und des Kopfes scheint eine Zuweisung des wegen der vielen Repliken sicher berühmten Werkes an Phidias nahezulegen, was Otto Puchstein, Adolf Furtwängler, Bernhard Schweitzer und zuletzt Gerhard Neumann mit guten Argumenten zu begründen versucht haben.93 Die Statue ist dem Stil zufolge älter als die Athena Parthenos (Kat. 6.2.) und in die Zeit um die Mitte des 5. Jhs. v. Chr. zu datieren. Als gesichert kann die Identifizierung des Typus Dresden – Bologna mit der in den Schriftquellen geBaia, Castello Aragonese, der gegenüber der Replik in Bologna vereinfacht und weniger zur rechten Schulter gedreht ist: C. Valeri, Marmora Phlegraea (2005) 78ff. Nr. IV.4 Abb. 68–73. – Bis heute ungeklärt ist, ob der Kopf auf der Statue Vatikan, Inv. 569 (Amelung, Vat. Kat. II, 605f. Nr. 400 Taf. 49; L. Baumer, Vorbilder und Vorlagen [1997] 97 Nr. G 6/2 Taf. 8,2) eine Replik der Lemnia ist. 83 Dazu kommt eine spiegelbildliche Umbildung in Rom, Villa Albani Inv. 19, s. Villa Albani II (1990) 90–94 Nr. 178 Taf. 46–49 (R. Bol). 84 Vgl. H. Protzmann, Jahrbuch der Staatl. Kunstsammlungen Dresden 16, 1984, 7ff.; ders. in: Das Albertinum vor 100 Jahren, Ausst.-Kat. Dresden 1994, 268–70. – Dadurch sind die Zweifel an der Zusammengehörigkeit von Kopf und Körper und die daraus folgenden Hypothesen von K.J. Hartswick, AJA 87, 1983, 335–46; ders. in: Stephanos. Festschrift Ridgway (1998) 105ff. als obsolet anzusehen. 85 Zusammenstellung der geschnittenen Steine bei Gercke 176ff. Nr. 39–43. – Zweifel an der Echtheit aller Gemmen äußerten K.J. Hartswick, AJA 87, 1983, 336f. und H. Meyer, AA 2004, 132. 86 E. Kirsten in: Neue Beiträge zur Klass. Altertumswissenschaft. Festschrift B. Schweitzer (1954) 166ff.; N. Kunisch, AM 89, 1974, 85ff.; LIMC II 975f. s.v. Athena Nr. 194–197. 87 Vermutlich einen korinthischen Helm, s. S. Ritter, JdI 112, 1997, 51. 55. 88 Steinhart 377ff. erkennt im Helm einen konkreten Hinweis auf das berühmte Schmiedehandwerk von Lemnos; dem widerspricht die Fülle der bildlichen Darstellungen dieses Motivs in der attischen Keramik mit einer allgemeineren, auf die Göttin bezogenen Aussage. 89 So T. Schäfer, Andres Agathoi (1997) 58ff. 69f. 90 E. Langlotz, Phidiasprobleme (1947) 109 Anm. 2 (Kranz); E. Simon, Die Götter der Griechen (²1980) 207 (Eule). 91 Zusammenstellung bei Gercke 40ff.; 189 Nr. 51. 92 Gercke 185 Nr. 49; ClassiColor. Ausst.-Kat. Kopenhagen 2004, 90f. Abb. 4. 6. 93 O. Puchstein, JdI 5, 1890, 93ff.; B. Schweitzer, JdI 55, 1940, 194ff. 231ff.; Neumann 221ff.
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nannten Athena Lemnia des Phidias allerdings nicht gelten. In jüngerer Zeit wurden zwei andere Vorschläge zur Identifizierung der Lemnia gemacht: Evelyn Harrison schlug die Athena Typus Medici vor.94 Nach Aussage der römischen Kopien hat es sich beim Original dieses Typus jedoch um eine Akrolith-Statue und damit eher um ein Kultbild gehandelt, so dass Harrison eine Aufstellung der Statue in der Vorhalle der Propyläen annehmen muss, wofür es aber keinen Beleg gibt.95 Hugo Meyer schlug den Typus der Athena mit der Kreuzbandägis vor, der nur sehr gebrochen in einer Statue aus Pergamon in Berlin und einem Relief in Fier (Albanien) überliefert ist. Das Relief verwendet einen attischen Athena-Typus, ist jedoch in der künstlerisch ungeschickten Darstellung des Attributs in der rechten Hand deutlich als eine für die lokale Verwendung des Reliefs veränderte Umbildung eines Vorbilds vielleicht des späten 5. Jhs. v. Chr. zu verstehen. Lit.: Furtwängler, Meisterwerke 4ff.; H. Lamer in: RE XII (1925) 1897–1927 s.v. Lemnia Nr. 2 (mit der älteren Lit.); W. Müller im Text zu: BrBr 793/94 (1943); G. Becatti, Problemi Fidiaci (1951) 160–74; I. Kasper-Butz, Die Göttin Athena im klassischen Athen (1990) 182f.; P. Gercke, Apollon und Athena. Ausst.-Kat. Kassel 1991, passim; C. Höcker – L. Schneider, Phidias (1993) 99–104; EAA Suppl. II (1994) 649. 657 (A. Delivorrias); M. Steinhart, AA 2000, 377–85; Künstlerlexikon II, 218f. Nr. 7 (V.M. Strocka); H. Meyer, AA 2004, 129–34 (mit älterer Lit.); G. Neumann, AM 119, 2004, 221–38.
6.2.
Athen, Akropolis, Parthenon: Kolossalstatue der Athena Parthenos
Verkleinerte Marmorwiederholung: Athen, Nationalmuseum, Inv. 129. – Höhe 94 cm ohne Basis. – Gefunden in Athen, am Varvakion-Gymnasium (1880). – Datierung: 1. Hälfte des 3. Jhs. n. Chr.
E.B. Harrison in: Kanon. Festschrift E. Berger (1988) 101ff.; dies. in: O. Palagia (Hrsg.), Personal Styles in Greek Sculpture (1996) 52f. 95 s. schon Lamer Sp. 1926. 94
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Die Statue der Athena Parthenos im Parthenon gehört zu den berühmtesten Kunstwerken der Antike. Von ihren zahlreichen Erwähnungen in der antiken Literatur (SQ 645–690) können hier nur die wichtigsten vorgestellt werden. 6.2.1. Pausanias 1,24,5–7 (= SQ 649) Bei der Beschreibung des Parthenon, den er bei seinem Besuch in Athen um 160 n. Chr. gesehen hat, konzentriert sich Pausanias (um 115 – um 180 n. Chr.) fast ausschließlich auf das Kultbild der Athena Parthenos. Zwar nennt er am Anfang noch die Darstellungsgegenstände der beiden Giebel und erwähnt am Ende die Statuen des Kaisers Hadrian und des athenischen Feldherrn Iphikrates (1. Hälfte des 4. Jhs. v. Chr.), andere Sehenswürdigkeiten des Tempels wie das Bildprogramm der Friese und Metopen lässt er aber unerwähnt. In seine Beschreibung bettet Pausanias – wie es für seine Perihegese typisch ist – einen mythologischen Exkurs zu den Greifen ein. Ἐς δὲ τὸν ναὸν, ὃν Παρθενῶνα ὀνομάζουσιν, ἐς τοῦτον ἐσιοῦσιν, ὁπόσα ἐν τοῖς καλουμένοις ἀετοῖς κεῖται, πάντα ἐς τὴν Ἀθηνᾶς ἔχει γένεσιν, τὰ ὄπισθεν ἡ Ποσειδῶνος πρὸς Ἀθηνᾶν ἐστιν ἔρις ὑπὲρ τῆς γῆς· αὐτὸ δὲ ἔκ τε ἐλέφαντος τὸ ἄγαλμα καὶ χρυσοῦ πεποίηται. Μέσῳ μὲν οὖν ἐπίκειταί οἱ τῷ κράνει Σφιγγὸς εἰκών – ἃ δὲ ἐς τὴν Σφίγγα λέγεται, γράψω προελθόντος ἐς τὰ Βοιώτιά μοι τοῦ λόγου –, καθ’ ἑκάτερον δὲ τοῦ κράνους γρῦπές εἰσιν ἐπειργασμένοι. (6) [… mythologischer Exkurs zu den Greifen …] (7) Καὶ γρυπῶν μὲν πέρι τοσαῦτα εἰρήσθω· τὸ δὲ ἄγαλμα τῆς Ἀθηνᾶς ὀρθόν ἐστιν ἐν χιτῶνι ποδήρει καί οἱ κατὰ τὸ στέρνον ἡ κεφαλὴ Μεδούσης ἐλέφαντός ἐστιν ἐμπεποιημένη· καὶ Νίκην τε ὅσον τεσσάρων πηχῶν, ἐν δὲ τῇ χειρὶ δόρυ ἔχει, καί οἱ πρὸς τοῖς ποσὶν ἀσπίς τε κεῖται καὶ πλησίον τοῦ δόρατος δράκων ἐστίν· εἴη δ’ ἂν Ἐριχθόνιος οὗτος ὁ
Tritt man in den Tempel ein, den man Parthenon nennt, so bezieht sich die ganze Darstellung im Giebel auf die Geburt der Athena, der rückwärtige Giebel zeigt den Streit des Poseidon mit Athena um das Land. Die Kultstatue (ágalma) selbst ist aus Gold und Elfenbein gemacht. Mitten auf ihrem Helm sitzt die Figur (eikón) einer Sphinx – was man von der Sphinx erzählt, werde ich schreiben, wenn meine Darstellung Böotien erreicht hat96 –, beiderseits an dem Helm aber sind Greifen angearbeitet. (6) [… Exkurs zu den Greifen …] (7) Über die Greifen mag dies genügen. Die Kultstatue (ágalma) der Athena steht aufrecht und ist mit einem Chiton bis zu den Füßen , und auf ihrer Brust ist das Medusenhaupt aus Elfenbein angebracht. Und eine Nike (Siegesgöttin), gegen vier Ellen hoch, hält sie und in der Hand hat sie eine Lanze97 und zu ihren Füßen steht ein Schild, und neben der Lanze befindet sich eine Schlange,
Vgl. Paus. 9,26,3. In den modernen Textausgaben wird der Text wie oben angegeben: καὶ Νίκην τε ὅσον τεσσάρων πηχῶν, ἐν δὲ τῇ χειρὶ δόρυ ἔχει. Dabei sind sowohl Νίκην als auch δόρυ als Objekte zu ἔχει zu verstehen. Die Formulierung ist trotz der Gliederung durch τε … δέ, auf die H. Hitzig – H. Blümner, Des Pausanias Beschreibung von Griechenland 1,1 (1896) 274 hinweisen, recht hart. J.H.C. Schubart (ed. 1853/54) schlägt daher vor, ἐν δὲ τῇ χειρί (in der< anderen> Hand) zu lesen. Aus textkritischer Sicht kommt ferner das Problem hinzu, dass in der Haupthandschrift β, dem Exemplar des italienischen Humanisten Niccolò Niccoli (1363–1437), Νίκη im Nominativ überliefert ist. 96
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Phidias
δράκων. Ἔστι δὲ τῷ βάθρῳ τοῦ ἀγάλματος ἐπειργασμένη Πανδώρας γένεσις. Πεποίηται δὲ Ἡσιόδῳ τε καὶ ἄλλοις ὡς ἡ Πανδώρα γένοιτο αὕτη γυνὴ πρώτη· πρὶν δὲ ἢ γενέσθαι Πανδώραν οὐκ ἦν πω γυναικῶν γένος. Ἐνταῦθα εἰκόνα ἰδὼν οἶδα Ἀδριανοῦ βασιλέως μόνου, καὶ κατὰ τὴν ἔσοδον Ἰφικράτους ἀποδειξαμένου πολλά τε καὶ θαυμαστὰ ἔργα.
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und diese Schlange dürfte Erichthonios sein. An der Basis des Kultbildes ist die Geburt der Pandora (Pandóras génesis) dargestellt. Hesiod98 und andere haben erzählt, wie diese Pandora die erste Frau wurde; vor der Geburt der Pandora gab es das Geschlecht der Frauen noch nicht. Hier steht sonst nur eine Statue (eikón) des Kaisers Hadrian, wie ich selbst gesehen habe, und am Eingang eine des Iphikrates, der viele bewundernswerte Taten vollbracht hat.
6.2.2. Plinius, Naturalis historia 34,54 (= SQ 648) Im Abschnitt zu den berühmtesten griechischen Bronzegießern im 34. Buch seiner Naturalis Historia behandelt Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) im Anschluss an die Anekdote vom Künstlerwettstreit in Ephesos (Kat. 8.2.1.) als ersten Künstler Phidias und nennt, bevor er auf dessen Werke aus Bronze eingeht, dessen chryselephantine Statuen.
Phidias praeter Iovem Olympium, quem nemo aemulatur, fecit ex ebore aeque Minervam Athenis, quae est in Parthenone stans.
Phidias schuf außer dem Zeus von Olympia, dem niemand den Rang streitig macht, ebenfalls aus Elfenbein eine Athena in Athen, die sich im Parthenon befindet, aufrecht stehend .
6.2.3. Plinius, Naturalis historia 36,18 (= SQ 661) Im ersten Teil des 36. Buches seiner Naturalis historia, das die verschiedenen Steinarten und deren Verwendung zum Gegenstand hat, behandelt Plinius d. Ä. zunächst den Marmor (36,1–125) und zählt die berühmtesten Marmorbildhauer und deren Werke auf (36,9–43).
Phidian clarissimum esse per omnes gentes, quae Iovis Olympii famam intellegunt, nemo dubitat, sed ut laudari merito sciant etiam qui opera eius non videre, proferemus argumenta parva et ingenii tantum. Neque ad hoc Iovis Olympii pulchritudine utemur, non Minervae Athenis factae amplitudine, cum sit ea cubitorum viginti sex – ebore haec et auro constat, – sed in scuto eius Amazonum proelium caelavit intumescente ambitu parmae, eiusdem 98
Hes. theog. 590; erg. 80–82.
Dass Phidias als berühmtester bei allen Völkern gilt, bis zu denen der Ruf seines olympischen Zeus gelangt ist, bezweifelt niemand; damit aber auch diejenigen, die seine Werke nicht gesehen haben, wissen, dass man ihn verdientermaßen rühmt, wollen wir kleine Belege anführen, und zwar nur solche, die seine Erfindungsgabe beweisen. Wir werden dazu nicht die Schönheit seines olympischen Zeus, nicht die Größe seiner in Athen geschaffenen Athena, obgleich diese 26 Ellen hoch ist
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Phidias
concava parte deorum et Gigantum dimicationes, in soleis vero Lapitharum et Centaurorum. Adeo momenta omnia capacia artis illi fuere. In basi autem quod caelatum est, Πανδώρας γένεσιν appellant: dii sunt nascenti XX numero. Victoria praecipue mirabili, periti mirantur et serpentem ac sub ipsa cuspide aeream sphingem. Haec sint obiter dicta de artifice numquam satis laudato, simul ut noscatur illam magnificentiam aequalem fuisse et in parvis.
– sie besteht bekanntlich aus Elfenbein und Gold – heranziehen, sondern , dass er auf ihrem Schild am konvexen Rund die Amazonenschlacht, im konkaven Teil die Kämpfe der Götter und Giganten, an den Sandalen aber die der Lapithen und Kentauren dargestellt hat. Jedes Detail bot ihm Anlass für kunstvolle Darstellung. Das Relief auf dem Sockel aber nennt man Pandóras Génesis (die Geburt der Pandora): Zwanzig Gottheiten sind bei der Geburt zugegen. Seine Nike ist vor allem bemerkenswert; Kenner bewundern aber auch die Schlange und die eherne Sphinx (am Helm) unterhalb der Speerspitze. Diese beiläufigen Bemerkungen über den niemals genug gelobten Künstler mögen ausreichen, damit man zugleich erkenne, dass sich jene (sc. des Phidias) großartige künstlerische Begabung auch in kleinen Gegenständen gleichermaßen zeigte.
6.2.4. Scholion zu Demosthenes or. 22,13 (= SQ 642 + SQ 646) Ein Scholiast zu einer Stelle in der 355 v. Chr. gehaltenen Rede des Demosthenes gegen Androtion, an der die Propyläen und der Parthenon erwähnt sind, gibt Phidias als Bildhauer der Statue der Athena Parthenos an. Im Folgenden zählt er – offensichtlich aus einer Quelle exzerpierend – drei auf der Akropolis befindliche Statuen der Athena auf.99 Παρθενὼν ναὸς ἦν ἐν τῇ ἀκροπόλει Παρθένου Ἀθηνᾶς περιέχων τὸ ἄγαλμα τῆς θεοῦ, ὅπερ ἐποίησεν ὁ Φειδίας ὁ ἀνδριαντοπλάστης ἐκ χρυσοῦ καὶ ἐλέφαντος. Τρία γὰρ ἀγάλματα ἦν ἐν τῇ ἀκροπόλει τῆς Ἀθηνᾶς ἐν διαφόροις τόποις, ἓν μὲν ἐξ ἀρχῆς γενόμενον ἐξ ἐλαίας, ὅπερ ἐκαλεῖτο Πολιάδος Ἀθηνᾶς διὰ τὸ αὐτῆς εἶναι τὴν πόλιν, δεύτερον δὲ τὸ ἀπὸ χαλκοῦ μόνου, ὅπερ ἐποίησαν νικήσαντες οἱ ἐν Μαραθῶνι – ἐκαλεῖτο δὲ τοῦτο Προμάχου Ἀθηνᾶς –, τὸ τρίτον ἐποιήσαντο ἐκ χρυσοῦ καὶ ἐλέφαντος, ὡς πλουσιώτεροι γενόμενοι ἀπὸ τῆς ἐν
Der Parthenon war der Tempel der Athena Parthenos auf der Akropolis und mit dem Standbild (ágalma) der Göttin, das der Bildhauer (andriantoplástes) Phidias aus Gold und Elfenbein angefertigt hatte. Es gab nämlich drei Standbilder (agálmata) der Athena auf der Akropolis an unterschiedlichen Orten: Eines stammte aus der Frühzeit und war aus Olivenbaumholz; dies wurde Athena Polias genannt, weil die Stadt (pólis) der Athena war. Das zweite war ganz aus Bronze; dies hatten die Sieger von Marathon anfertigen lassen und es
Eine Aufzählung von drei Athena-Statuen auf der Akropolis findet sich auch bei Aelius Aristides (Kat. 6.1.3), bei dem allerdings anstelle der Athena Polias die Athena Lemnia genannt ist.
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Phidias
Σαλαμῖνι νίκης, ὅσῳ καὶ μείζων ἡ νίκη· καὶ ἐκαλεῖτο τοῦτο Παρθένου Ἀθηνᾶς.
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wurde Athena Promachos (Vorkämpferin) genannt. Das dritte ließen sie aus Gold und Elfenbein errichten, weil sie reicher geworden waren nach dem Sieg bei Salamis, in dem Maße wie auch der Sieg größer war ; dies wurde Athena Parthenos genannt.
6.2.5. Scholion zu Aristophanes Pax 605α (= SQ 647) In der 421 v. Chr. aufgeführten aristophaneischen Komödie Der Frieden (Εἰρήνη/Pax) wird der Ausbruch des Peloponnesischen Krieges damit erklärt, dass Perikles den Krieg begonnen habe, um von den Schwierigkeiten, in die sein Freund Phidias geraten sei, abzulenken (Aristoph. Pax 605–608). Das Scholion zur Stelle zitiert den Historiker Philochoros (um 340 – um 260 v. Chr.), der eine Geschichte Attikas (Atthis) verfasst hat. Φιλόχορος ἐπὶ Πυθοδώρου ἄρχοντος ταῦτά φησι· καὶ τὸ ἄγαλμα τὸ χρυσοῦν τῆς Ἀθηνᾶς ἐστάθη εἰς τὸν νεὼν τὸν μέγαν ἔχον χρυσίου σταθμὸν ταλάντων μδ´ Περικλέους ἐπιστατοῦντος, Φειδίου δὲ ποιήσαντος. Καὶ Φειδίας ὁ ποιήσας δόξας παραλογίζεσθαι τὸν ἐλέφαντα τὸν εἰς τὰς φολίδας ἐκρίθη. Καὶ φυγὼν εἰς Ἦλιν ἐργολαβῆσαι τὸ ἄγαλμα τοῦ Διὸς τὸ ἐν Ὀλυμπίᾳ λέγεται, τοῦτο δὲ ἐξεργασάμενος ἀποθανεῖν ὑπὸ Ἠλείων.
Philochoros100 berichtet aus dem Archontat des Pythodoros (438/37 v. Chr.) folgendes: Es wurde auch die goldene Statue (ágalma) der Athena in dem großen Tempel (Parthenon) aufgestellt, die Gold im Gewicht von 44 Talenten an sich trug; die Leitung lag bei Perikles und die Ausführung bei Phidias. Da der Künstler Phidias in den Verdacht geriet, das Elfenbein für den Panzer falsch abgerechnet zu haben, wurde er angeklagt. Es heißt, er sei nach Elis geflohen/verbannt worden,101 habe dort den Auftrag für die Statue des Zeus in Olympia übernommen, sei aber, nachdem er diese fertiggestellt habe, von den Eleern umgebracht worden.
6.2.6. Thukydides 2,13 (= SQ 655) Das Gold an der Statue wurde als Staatsschatz benutzt. Im Geschichtswerk des Thukydides (um 460 – nach 404 v. Chr.) zählt Perikles in seiner Rede, in der er den Athenern im Jahr 431 v. Chr., bevor die Peloponnesier in Attika einmarschierten, zu der Taktik riet, sich in der Stadt zu verschanzen, die Machtmittel an Geld und Truppen auf, über die die Athener verfügten. Darunter nennt er auch den Goldschatz der Athena Parthenos. Ἔτι δὲ καὶ τὰ ἐκ τῶν ἄλλων ἱερῶν προσετίθει χρήματα οὐκ ὀλίγα, 100 101
Ferner rechnete er (Perikles) die nicht unbedeutenden Reichtümer aus den
FGrHist 328 F 121. Das Verb φεύγω kann sowohl „fliehen“ als auch „verbannt werden“ bedeuten.
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Phidias
οἷς χρήσεσθαι αὐτούς, καὶ ἢν πάνυ ἐξείργωνται πάντων, καὶ αὐτῆς τῆς θεοῦ τοῖς περικειμένοις χρυσίοις· ἀπέφαινε δ’ ἔχον τὸ ἄγαλμα τεσσαράκοντα τάλαντα σταθμὸν χρυσίου ἀπέφθου, καὶ περιαιρετὸν εἶναι ἅπαν.
anderen Heiligtümern hinzu, die sie verwenden könnten, und wenn sie völlig von allem abgeschnitten würden, auch das Gold, womit die Göttin selbst bekleidet war, und er wies darauf hin, dass die Statue 40 Talente pures Gold an sich trage und alles rundum abnehmbar sei.
6.2.7. Plutarch, Perikles 31,2–5 (= SQ 630) Eine andere Version des wohl unhistorischen Phidias-Prozesses102 als das AristophanesScholion (6.2.5.) gibt Plutarch (um 45 – vor 125 n. Chr.) in seiner Perikles-Vita. Ἡ δὲ χειρίστη μὲν αἰτία πασῶν, ἔχουσα δὲ πλείστους μάρτυρας, οὕτω πως λέγεται. Φειδίας ὁ πλάστης ἐργολάβος μὲν ἦν τοῦ ἀγάλματος ὥσπερ εἴρηται, φίλος δὲ τῷ Περικλεῖ γενόμενος καὶ μέγιστον παρ᾿ αὐτῷ δυνηθείς, τοὺς μὲν δι᾿ αὑτὸν ἔσχεν ἐχθροὺς φθονούμενος, οἱ δὲ τοῦ δήμου ποιούμενοι πεῖραν ἐν ἐκείνῳ ποῖός τις ἔσοιτο τῷ Περικλεῖ κριτής, Μένωνά τινα τῶν Φειδίου συνεργῶν πείσαντες ἱκέτην ἐν ἀγορᾷ καθίζουσιν, αἰτούμενον ἄδειαν ἐπὶ μηνύσει καὶ κατηγορίᾳ τοῦ Φειδίου. Προσδεξαμένου δὲ τοῦ δήμου τὸν ἄνθρωπον καὶ γενομένης ἐν ἐκκλησίᾳ διώξεως, κλοπαὶ μὲν οὐκ ἠλέγχοντο· τὸ γὰρ χρυσίον οὕτως εὐθὺς ἐξ ἀρχῆς τῷ ἀγάλματι προσειργάσατο καὶ περιέθηκεν ὁ Φειδίας γνώμῃ τοῦ Περικλέους, ὥστε πᾶν δυνατὸν εἶναι περιελοῦσιν ἀποδεῖξαι τὸν σταθμόν, ὃ καὶ τότε τοὺς κατηγόρους ἐκέλευσε ποιεῖν ὁ Περικλῆς· ἡ δὲ δόξα τῶν ἔργων ἐπίεζε φθόνῳ τὸν Φειδίαν, καὶ μάλισθ᾿ ὅτι τὴν πρὸς Ἀμαζόνας μάχην ἐν τῇ ἀσπίδι ποιῶν αὑτοῦ τινα μορφὴν ἐνετύπωσε, πρεσβύτου φαλακροῦ πέτρον ἐπηρμένου δι᾿ ἀμφοτέρων τῶν χειρῶν, καὶ τοῦ Περικλέους εἰκόνα παγκάλην ἐνέθηκε μαχομένου πρὸς Ἀμαζόνα. Τὸ δὲ σχῆμα τῆς χειρός,
Das Übelste aber, was als Kriegsursache angeführt und von sehr vielen Zeugen bestätigt wird, ist dies: Die Anfertigung der Athenastatue hatte, wie schon erwähnt, der Bildhauer Phidias übernommen, der mit Perikles befreundet war und großen Einfluss bei ihm hatte. Dieser hatte sich schon selber Feinde gemacht, die ihm den Ruhm neideten; andere wollten, indem sie ihn angriffen, das Volk auf die Probe stellen , wie es sich bei einer Anklage gegen Perikles verhalten würde. Sie überredeten Menon, einen von Phidias’ Gehilfen, sich als Schutzflehender auf den Markt zu setzen und um Sicherheit zu bitten, da er Phidias anzeigen und Klage gegen ihn erheben wolle. Als das Volk ihm das gewünschte Versprechen gegeben hatte und vor der Volksversammlung Anklage erhoben worden war, konnte der Vorwurf der Unterschlagung nicht bewiesen werden, denn Phidias hatte das Gold auf Perikles’ Rat gleich von Anfang an so geschickt ringsum an dem Götterbild (ágalma) angebracht, dass es ganz abgenommen und sein Gewicht nachgeprüft werden konnte, was Perikles denn auch damals die Ankläger tun hieß. Es war jedoch der Ruhm
Vgl. K. Raaflaub, Prozesse im Umkreis des Perikles, in: L. Burkhardt – J. v. Ungern-Sternberg (Hrsg.), Große Prozesse in Athen (2000) 96–113.
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Phidias
ἀνατεινούσης δόρυ πρὸ τῆς ὄψεως τοῦ Περικλέους, πεποιημένον εὐμηχάνως οἷον ἐπικρύπτειν βούλεται τὴν ὁμοιότητα, παραφαινομένην ἑκατέρωθεν. Ὁ μὲν οὖν Φειδίας εἰς τὸ δεσμωτήριον ἀπαχθεὶς ἐτελεύτησε νοσήσας, ὡς δέ φασιν ἔνιοι φαρμάκοις, ἐπὶ διαβολῇ τοῦ Περικλέους τῶν ἐχθρῶν παρασκευασάντων. Τῷ δὲ μηνυτῇ Μένωνι γράψαντος Γλαύκωνος ἀτέλειαν ὁ δῆμος ἔδωκε, καὶ προσέταξε τοῖς στρατηγοῖς ἐπιμελεῖσθαι τῆς ἀσφαλείας τοῦ ἀνθρώπου.
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seiner Werke, der durch den Neid, den er auslöste, Phidias in Schwierigkeit brachte, und ganz besonders die Tatsache, dass er sich selber abbildete, als er den Amazonenkampf auf dem Schilde der Göttin schuf, und zwar in der Gestalt eines kahlköpfigen Alten, welcher mit beiden Händen einen Stein in die Höhe hebt, und dass er überdies ein vortreffliches Bildnis des Perikles, wie er mit einer Amazone kämpft, in die Darstellung einfügte. Von besonderer Raffinesse zeugt die Haltung der rechten Hand , die einen Speer vor Perikles’ Gesicht hält. Es ist, als habe Phidias damit die Ähnlichkeit verdecken wollen, die aber von beiden Seiten her deutlich in die Augen fällt. Phidias wurde ins Gefängnis geworfen, wo er an einer Krankheit oder, wie einige behaupten, an Gift starb, das ihm die Feinde des Perikles gebracht hatten, um diesen zu verleumden. Dem Menon aber, der ihn angezeigt hatte, verlieh das Volk auf Glykons Antrag Abgabenfreiheit und beauftragte zugleich die Feldherrn, für seine Sicherheit Sorge zu tragen.
6.2.8. Plutarch, Perikles 13,14 (160c) (= SQ 650) In der Perikles-Vita des Plutarch heißt es an anderer Stelle, dass Phidias auf einer στήλη (stéle) als Künstler der Statue genannt worden sei. Dieser Überlieferung scheint die Nachricht bei Cicero (Tusc. 1,15,34 = SQ 674), dass es Phidias nicht erlaubt gewesen sei, mit seinem Namen zu signieren,103 zu widersprechen. Allerdings steht auch Ciceros Glaubwürdigkeit in Frage, da ein solches Signaturverbot ansonsten aus der Antike nicht bekannt ist und im Falle des olympischen Zeus von Pausanias (5,10,2 = SQ 692) mitgeteilt wird, dass die Statue durch eine Inschrift unterhalb der Füße des Gottes als Werk des Phidias ausgewiesen war. Außerdem geht aus dem Text des Plutarch nicht hervor, dass Phidias die Signatur selbst angebracht hat. Geht man von der Historizität der Überlieferung des Plutarch aus, muss man am ehesten eine separate Inschriftenstele annehmen.104 Opifices post mortem nobilitari volunt. Quid enim Phidias sui similem speciem inclusit in clupeo Minervae, cum inscribere non liceret. (Auch die Künstler wünschen, dass ihr Name nach dem Tod
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nicht an Glanz verliere. Wozu, wenn nicht zu diesem Zweck, hat Phidias auf dem Schild der Athena Parthenos ein ihm ähnliches Bild eingefügt, da es ihm nicht erlaubt war, seinen Namen beizuschreiben?). Die Ergänzung kann aufgrund des Kontexts der Stelle als relativ sicher gelten. 104 Vgl. Leipen 53 Anm. 101; A. Stadter, A Commentary on Plutarch’s Pericles (1989) 117 ad loc. – Da das Wort στήλη auch ‘Säule’ bedeuten kann, ist zumindest sprachlich nicht auszuschließen, dass die Nennung
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Phidias
Ὁ δὲ Φειδίας εἰργάζετο μὲν τῆς θεοῦ τὸ χρυσοῦν ἕδος, καὶ τούτου δημιουργὸς ἐν τῇ στήλῃ εἶναι γέγραπται.
Phidias selbst schuf das goldene Standbild (hédos) der Athene; er wird auch in einer Inschrift auf der Stele als Schöpfer des Werks genannt.
6.2.9. Ps.-Aristoteles, De mundo 6,399b (= SQ 669) Der unbekannte, wohl späthellenistische oder kaiserzeitliche Verfasser der fälschlicherweise unter dem Namen des Aristoteles überlieferten, stark stoisch gefärbten Schrift Über die Welt (Περὶ κόσμου/De mundo)105 vergleicht das Wirken Gottes, der den Einklang und Bestand des Alls sichere, mit der Funktion, die ein Schlussstein in einem Gewölbebogen habe: Wie der Schlussstein den Bogen, so halte Gott die Welt in Gleichmaß und Ordnung zusammen. Als weiterer Vergleich wird eine von Phidias angeblich an der Athena Parthenos angebrachte Vorrichtung, durch deren Herausnahme die gesamte Statue habe zum Einsturz gebracht werden können, angeführt.106 Φασὶ δὲ καὶ τὸν ἀγαλματοποιὸν Φειδίαν κατασκευάζοντα τὴν ἐν ἀκροπόλει Ἀθηνᾶν ἐν μέσῃ τῇ ταύτης ἀσπίδι τὸ ἑαυτοῦ πρόσωπον ἐντυπώσασθαι, καὶ συνδῆσαι τῷ ἀγάλματι διά τινος ἀφανοῦς δημιουργίας, ὥστε ἐξ ἀνάγκης, εἴ τις βούλοιτο αὐτὸ περιαιρεῖν, τὸ σύμπαν ἄγαλμα λύειν τε καὶ συγχεῖν.
Man erzählt, dass auch der Bildhauer Phidias, als er die Athena auf der Akropolis schuf, in der Mitte ihres Schildes sein eigenes Porträt angebracht und durch eine geheime Vorrichtung so mit dem Standbild (ágalma) verbunden habe, dass, wenn jemand es herausnehmen wollte, zwangsläufig das ganze Kunstwerk (ágalma) auseinanderbrechen und zusammenstürzen musste.
6.2.10. Dion von Prusa, or. 12,6 (= SQ 668. 677) Der Redner und Philosoph Dion von Prusa, auch Dion Chrysostomos genannt (um 40 – nach 112 n. Chr.), spricht in seiner um 100 n. Chr.107 in Olympia gehaltenen Punkrede mit dem späteren Titel Olympische Rede oder Über die erste Erkenntnis Gottes (Ὀλυμπικὸς ἢ περὶ τῆς πρώτης τοῦ θεοῦ ἐννοίας) über die Gottesvorstellungen in der Bildenden Kunst und der Dichtung, indem er die Zeus-Statue des Phidias in Olympia mit der Darstellung des Gottes bei Homer vergleicht. Der Rede vorangestellt ist eine Prolalia (Vorrede; or. 12,1–15) über ornithologische Fragen, die thematisch mit dem Rest der Rede durch die Erwähnung des Phidias, der an seiner Statue der Athena Parthenos eine Eule angebracht habe, verbunden wird. des Künstlers an der Säule angebracht war. Zu den Datierungsversuchen der ps.-aristotelischen Schrift De mundo s. O. Schönberger, Über die Welt (1991) 46–53. 106 Die Anekdote findet sich fast wortgleich auch in der ps.-aristotelischen Schrift Mirabilia 846a und in der lateinischen Übersetzung (Ps.-)Apuleius, de mundo 32. 107 Die genaue Datierung der Rede ist umstritten. Anhaltspunkte für die Datierung stellen die Tatsache, dass die Rede anlässlich von Olympischen Spielen gehalten wurde, und Anspielungen in or. 12,16–20 auf einen Feldzug gegen die Daker dar. Denkbar sind daher die Jahre 89, 97, 101 und 105 n. Chr. Das Jahr 89 ist aber wohl auszuschließen, da sich Dion zu dieser Zeit im Exil befand. Zur Datierung s. H.-J. Klauck – B. Bäbler, Dion von Prusa. Olympische Rede oder über die erste Erkenntnis Gottes (2000) 25–27.
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Phidias
[Ὑφ’ ἧς]108 καὶ τῇ Ἀθηνᾷ λέγεται προσφιλὲς εἶναι τὸ ὄρνεον, τῇ καλλίστῃ τῶν θεῶν καὶ σοφωτάτῃ, καὶ τῆς γε Φειδίου τέχνης παρὰ Ἀθηναίοις ἔτυχεν, οὐκ ἀπαξιώσαντος αὐτὴν συγκαθιδρῦσαι τῇ θεῷ, συνδοκοῦν τῷ δήμῳ. Περικλέα δὲ καὶ αὑτὸν λαθὼν ἐποίησεν, ὥς φασιν, ἐπὶ τῆς ἀσπίδος.
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Von Athena, der Schönsten und Klügsten unter den Göttern, sagt man, ihr sei dieser Vogel (Eule) besonders lieb gewesen. Die Eule kam denn auch bei den Athenern in den Genuss der Kunstfertigkeit des Phidias, der sie mit Zustimmung des Volkes nicht für unwürdig hielt, der Göttin als Attribut beizugeben, während er Perikles und sich selbst, wie man sagt, nur versteckt auf dem Schild darstellte.
6.2.11. Platon, Hippias maior 290a–c (SQ 653) Im Dialog Hippias maior, der in der Regel als platonischer Frühdialog gilt, dessen Authentizität aber umstritten ist,109 diskutiert Sokrates mit dem Sophisten Hippias aus Elis über das Schöne (τὸ καλόν). Sokrates berichtet, dass er in einem Gespräch mit einem Fremden nicht in der Lage gewesen sei, das Schöne zu definieren, und fragt Hippias um Rat. Hippias gibt drei Definitionen für das Schöne, die Sokrates jeweils darauf prüft, ob sie den Fremden überzeugen könnten, und schließlich widerlegt. Der zweiten Definition des Hippias, das Schöne sei das Gold (289d2–291c9), mangelt es daran, dass Gold nur ein Spezialfall eines schönen Gegenstandes, nicht aber das Schöne selbst ist. Sokrates führt an, der Fremde könne einwenden, wer behaupte, Gold sei das Schöne, meine auch, Phidias sei ein schlechter Künstler gewesen, weil er die Athena Parthenos nicht ganz aus Gold gemacht habe. ΣΩΚΡΑΤΗΣ Καὶ μὲν δὴ ταύτην γε τὴν ἀπόκρισιν, ὦ ἄριστε, οὐ μόνον οὐκ ἀποδέξεται, ἀλλὰ πάνυ με καὶ τωθάσεται, καὶ ἐρεῖ· ὦ τετυφωνένε σύ, Φειδίαν οἴει κακὸν εἶναι δημιουργόν; Καὶ ἐγὼ οἶμαι ἐρῶ ὅτι οὐδ’ ὁπωστιοῦν. ΙΠΠΙΑΣ Καὶ ὀρθῶς γ᾿ ἐρεῖς, ὦ Σώκρατες. ΣΩΚΡΑΤΗΣ Ὀρθῶς μέντοι. Τοιγάρτοι
Sokrates: Und doch wird er diese Antwort nicht nur nicht gelten lassen, mein Bester, sondern er wird sich noch recht lustig über mich machen und sagen: „Du, Hohlkopf, hältst du etwa Phidias für einen schlechten Künstler?“ Und ich werde dann wohl erwidern, das sei keineswegs der Fall. Hippias: Womit du auch recht hast, Sokrates. Sokrates: Allerdings. Aber wenn ich
Der Anschluss an den vorangehenden Satz ἆρ’ οὐκ ὀρθῶς ἀπεικάζω τὴν σπουδὴν ὑμῶν τῷ περὶ τὴν γλαῦκα γιγνομένῳ σχεδὸν οὐκ ἄνευ δαιμονίας τινὸς βουλήσεως; (Bin ich da nicht im Recht, wenn ich euren Eifer mit dem vergleiche, was sich um die Eule herum abspielt, fast möchte ich meinen: nicht ohne Fügung einer Gottheit?) ist nur schwer verständlich. H.-J. Klauck a.O. 46f. mit Anm. 33 übersetzt offensichtlich mit Bezug auf βουλήσεως: „Von daher rührt auch, was man über Athena, der Schönsten und Klügsten unter den Göttern sagt“. D.A. Russell, Dio Chrysostom: Orations VII, XII and XXXVI (1992) ändert ὑφ’ ἧς in τύχης und zieht es zu βουλήσεως in den vorangehenden Satz. 109 Die moderne Forschung tendiert dazu, den Dialog für platonisch zu halten; vgl. P. Woodruff, Hippias maior (1982); I. Ludlan, Hippias maior. An interpretation (1991); T.A. Szlezák, Platon, in: DNP 9 (2000) 1098f. – Zum methodisch grundsätzlich schwierigen und vielleicht nicht abschließend lösbaren Problem, die Echtheit des Hippias maior zu beweisen oder zu widerlegen, vgl. E. Heitsch, Grenzen philologischer Echtheitskritik. Bemerkungen zum ‚Großen Hippias’ (1999). 108
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ἐκεῖνος, ἐπειδὰν ἐγὼ ὁμολογῶ ἀγαθὸν εἶναι δημιουργὸν τὸν Φειδίαν, Εἶτα, φήσει, οἴει, τοῦτο τὸ καλὸν ὃ σὺ λέγεις ἠγνόει Φειδίας; Καὶ ἐγώ· Τί μάλιστα; φήσω. Ὅτι, ἐρεῖ, τῆς Ἀθηνᾶς τοὺς ὀφθαλμοὺς οὐ χρυσοῦς ἐποίησεν, οὐδὲ τὸ ἄλλο πρόσωπον οὐδὲ τοὺς πόδας οὐδὲ τὰς χεῖρας, εἴπερ χρυσοῦν γε δὴ ὂν κάλλιστον ἔμελλε φαίνεσθαι, ἀλλ’ ἐλεφάντινον, δῆλον ὅτι τοῦτο ὑπὸ ἀμαθίας ἐξήμαρτεν ἀγνοῶν ὅτι χρυσὸς ἄρ’ ἐστὶν ὁ πάντα καλὰ ποιῶν, ὅπου ἂν προσγένηται. Ταῦτα οὖν λέγοντι τί ἀποκρινώμεθα, ὦ Ἱππία;
ΙΠΠΙΑΣ Οὐδὲν χαλεπόν· ἐροῦμεν γὰρ ὅτι ὀρθῶς ἐποίησε. Καὶ γὰρ τὸ ἐλεφαντινόν, οἶμαι, καλόν ἐστιν. ΣΩΚΡΑΤΗΣ Τοῦ οὖν ἕνεκα, φήσει, οὐ καὶ τὰ μέσα τῶν ὀφθαλμῶν ἐλεφάντινα ἠργάσατο, ἀλλὰ λίθινα, ὡς οἷόν τ’ ἦν ὁμοιότητα τοῦ λίθου τῷ ἐλέφαντι ἐξευρών; Ἢ καὶ ὁ λίθος ὁ καλὸς καλόν ἐστι; Φήσομεν, ὠ Ἱππία;
dann zustimmt habe, dass Phidias ein trefflicher Künstler ist, wird jener sagen: Und du glaubst also, dass Phidias das, was du als das Schöne bestimmst, nicht gekannt habe? – Da werde ich fragen: Wieso denn das? – Weil er, so wird er antworten, seiner Athena die Augen nicht golden gemacht hat, und auch sonst weder das Gesicht noch Hände noch Füße, wo es doch golden am schönsten erschienen wäre, sondern elfenbeinern. Offenbar hat er diesen Fehler aus Unkenntnis gemacht, weil er nicht wusste, dass Gold das ist, was alles schön macht, wohin es auch kommt. Wenn er nun das sagt, was sollen wir ihm antworten, Hippias? Hippias: Das ist nicht schwer. Wir wollen sagen, er hätte recht getan. Denn auch Elfenbeinernes, denke ich, ist schön. Sokrates: Weshalb aber, wird er dann sagen, hat er nicht das Innere der Augen auch aus Elfenbein gemacht, sondern aus Stein, wobei er einen aussuchte, der dem Elfenbein möglichst ähnlich war? Oder ist auch der Stein, der schöne jedenfalls, etwas Schönes? Werden wir das sagen, Hippias?
6.2.12. Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia 1,1 ext.7 (= SQ 654) In seiner in tiberischer Zeit entstandenen Sammlung rhetorischer Exempla überliefert Valerius Maximus die singuläre Anekdote, dass Phidias den Athenern empfohlen habe, die Athena Parthenos aus Marmor anzufertigen.110
Iidem (sc. Athenienses) Phidiam tulerunt quamvis marmore potius quam ebore Minervam fieri debere dicebat, quod diutius nitorem mansurum, sed ut adiecit et vilius, tacere iusserunt.
Dieselben (sc. die Athener) rühmten den Phidias, obwohl er sagte, dass die Minerva eher aus Marmor als aus Elfenbein gemacht werden müsse, weil so der Glanz länger erhalten bleibe; als er aber hinzufügte, dass es auch billiger sei, hießen sie ihn still zu sein.
Weitere Künstleranekdoten zu Phidias finden sich bei Valerius Maximus 3,7, ext. 4; 8,14,6. Zur Charakterisierung griechischer Künstler bei Valerius Maximus vgl. H.-F. Mueller, Roman Religion in Valerius Maximus (2002) 94f. 110
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Den Schriftquellen ist zu entnehmen, dass das ágalma der Athena Parthenos, das Phidias aus Gold und Elfenbein (Details außerdem aus Bronze und anderen Materialien) geschaffen hat, eine Höhe von 26 Ellen besaß (Kat. 6.2.3.) und auf einer mit dem Mythos der Pandora-Geburt verzierten Basis im Parthenon auf der Athener Akropolis stand. Die aufrecht stehende Athena trug Sandalen, die mit einer Kentauromachie verziert waren (Kat. 6.2.3.), ein langes Gewand (Kat. 6.2.1.), auf der Brust die Aegis mit einem elfenbeinernen Gorgoneion und auf ihrem Haupt einen mit Sphingen und Greifen besetzten Helm. Als weitere Attribute waren der Göttin beigegeben eine vier Ellen hohe Nike auf der rechten Hand, eine Eule (Kat. 6.2.10.), eine Lanze an ihrer linken Seite und zu ihren Füßen die Erichthonios-Schlange sowie ein außen mit einer Amazonomachie und innen mit einer Gigantomachie (Kat. 6.2.3.) verzierter Schild, auf dem ihre linke Hand ruhte. Die Statue soll inschriftlich als Werk des Phidias ausgewiesen worden sein (Kat. 6.2.8.). Das Goldelfenbeinbild der Athena Parthenos wurde 438/37 v. Chr. fertiggestellt, wie aus Kat. 6.2.5. und den Abrechnungsurkunden der Kommission hervorgeht,111 die für die Herstellung der Statue zuständig war und deren Mitglied Perikles als Epistates war.112 Finanziert wurde die Statue aus dem Schatz der Athena, die Gesamtkosten lagen bei 700–1000 Talenten Silber, wobei allein das Gold des abnehmbaren Gewandes der Statue ein Gewicht von 40, 44 oder 50 Talenten hatte. Die den Texten zu entnehmenden Angaben zur Athena Parthenos sind so reichhaltig, dass man bereits vor der Identifizierung einer statuarischen Nachbildung des Kultbildes eine recht genaue Vorstellung von dem verlorenen Goldelfenbeinbild gewinnen konnte.113 Ausgangspunkt einer auf archäologische Denkmäler sich stützenden Rekonstruktion war eine 1859 in Athen gefundene Marmorstatuette, die Charles Lenormant als verkleinerte Wiedergabe der Athena Parthenos erkannte.114 In der Folge konnten eine Vielzahl von statuarischen Nachbildungen in Marmor, Akrolithtechnik, Bronze und Terrakotta sowie Darstellungen auf Reliefs, Gemmen, Schmuckstücken, Münzen und anderen Bildträgern nachgewiesen werden. Unter diesen gibt die hier gezeigte, auf 1/12 der originalen Größe verkleinerte Statuette das Goldelfenbeinbild in seiner Gesamterscheinung am vollständigsten wieder. Die auf 1/6 verkleinerte „Minerve au Collier” „Minerve au Collier“ aus hadrianischer Zeit115 vermag darüber hinaus etwas von der repräsentativen Wirkung der Kultstatue zu vermitteln. Die statuarischen Nachbildungen erweitern das aus den Schriftquellen gewonnene Bild der Athena Parthenos mit ihrem vielfältigen Beiwerk und den Attributen um eine räumIG I² (1924) Nr. 354–56. 358–60; s. dazu G. Donnay, BCH 91, 1967, 50–86; BCH 92, 1968, 21–28; R. Meiggs – D. Lewis, A Selection of Greek Historical Inscriptions (1969) 146ff. Nr. 54; A. Wittenburg, Griechische Baukommissionen des 5. und 4. Jhs. v. Chr. (1978) 45ff.; B. Wesenberg, AA 1985, 49ff. 112 C. Triebel-Schubert, AM 98, 1983, 101ff. rechnet mit der Fertigstellung der Statue erst für das Jahr 434/33 v. Chr. 113 s. z. B. die von Charles Simart im Auftrag des Herzogs von Luynes für Schloss Dampierre 1846–55 geschaffene Rekonstruktion: G. Grimm, AA 1990, 181ff.; A. Blühm, The Colour of Sculpture. Ausst.-Kat. Amsterdam 1996, 23 Abb. 19. 114 Athen, Nationalmuseum, Inv. 128: Schuchhardt 46–52 Taf. 33–37; Kaltsas 106 Kat. 190. 115 Paris, Louvre Ma 91 (ehemals Sammlung Borghese, vermutlich in Rom gefunden): BrBr 512; Leipen 6 Nr. 19; Nick 242f. Nr. A 18. 111
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liche, typologische und stilistische Vorstellung von der Skulptur: Die Göttin steht auf der Basis in frontal aufrechter Haltung mit deutlich zur Seite gesetztem und an der Ferse angehobenem linken Spielbein. Die linke Hand umgreift den oberen Rand des fast senkrecht aufgestellten Schildes, an dessen Innenseite sich eine Schlange emporwindet; hier dürfte auch die Lanze aufgestellt gewesen sein. In der Handfläche des nach vorn angewinkelten rechten Armes trägt sie die Statue einer ihr zugewandten Nike; die Varvakion-Statuette und andere Bilder scheinen für das Original eine Säule unter der linken Hand als Stütze zu belegen. Auf dem nur schwach zur rechten Standbeinseite gewendeten Haupt sitzt ein attischer Helm mit drei mächtigen Buschkämmen, die von einer Sphinx und zwei geflügelten Pferden unterfangen sind. Das Haar fällt in einem kräftigen Schopf tief in den Rücken und in jeweils zwei welligen Strähnen auf Schultern und Brust. Eine dreiteilige Kette schmückt den Hals, von der bei der „Minerve au Collier“ der oberste Teil erhalten ist. Athena trägt einen gegürteten Peplos mit langem Überfall, der an der rechten Seite offen ist. Als Gürtel dienen zwei Schlangen. Eine von Schlangen gesäumte Aegis mit dem Gorgoneion ist auf Schultern und Brust gelegt. Das mit breiten Faltenrücken schwer herabfallende Gewand lässt die Körperformen kaum in Erscheinung treten, lediglich der linke Oberschenkel mit dem Knie prägt sich unter dem Stoff durch, was aber durch die vom Knie starr auf den Boden geführte Vertikalfalte in der Wirkung reduziert wird. Die leicht schräg verlaufenden Horizontalzäsuren von Apoptygmasaum, Gürtel und Überfall spiegeln immerhin die kontrapostische Bewegung des Körpers wider. Einzelne Elemente des Bildprogramms der Statue sind auch ausschnitthaft in der antiken Bildkunst rezipiert worden und vervollständigen das aus den Gesamtdarstellungen des Kultbildes zu gewinnende Bild. Aus der Amazonomachie des Schildes sind Einzelfiguren und Kampfgruppen von kaiserzeitlichen Werkstätten maßgleich kopiert und als Bildmotive dekorativer Reliefs in einem veränderten Funktionszusammenhang wiederverwendet worden.116 Die Bildnisse des Phidias und des Perikles auf dem Schild hat Felix Preisshofen als literarische Erfindungen erkannt.117 Von dem aufgemalten oder reliefierten Kampf der Götter gegen die Giganten auf der Innenseite des Schildes scheinen Reflexe in der rotfigurigen Vasenmalerei vorzuliegen.118 Die Basis der Lenormant-Statuette und die der Statue aus Pergamon (in Berlin) sowie ein Relieffragment in Rhodos geben zusammen mit weiteren Zeugnissen eine skizzenhafte Vorstellung von der Darstellung der Pandora-Geburt an der Vorderseite (und den Seitenflächen?) der Kultbildbasis.119 Mit geringerer Wahrscheinlichkeit sind Kopien des Aegis- oder Schildgorgoneions120 und der Sphinx auf dem Helm der Parthenos121 sowie Nachbildungen des Kampfes der Lapithen
Leipen 41–46; Th. Stephanidou-Tiveriou, Neoattika (1979); LIMC I (1981) 602 s.v. Amazones Nr. 246; D. Maruschat, Boreas 10, 1987, 32–58; H. Meyer, AM 102, 1987, 295–321; F. Sinn, Vatikanische Museen. Katalog der Skulpturen III (2006) 84–89 Nr. 19. 117 F. Preisshofen, Phidias-Daedalus auf dem Schild der Athena Parthenos?, JdI 89, 1974, 50–69. – Die Quellen zum Porträt des Phidias sind SQ 630. 669–671. 674. 677; zum Porträt des Perikles SQ 630. 677. 118 Leipen 46–50; LIMC IV (1988) 211 s.v. Gigantes Nr. 40; K.W. Arafat, BSA 81, 1986, 1ff. 119 Leipen 24–27; LIMC VII (1994) 164 s.v. Pandora Nr. 6; A. Kosmopoulou, The Iconography of Sculptured Statue Bases in the Archaic and Classical Periods (2002) 112ff. 236ff. Nr. 59; N. Robertson, Pandora and the Panathenaic Peplos in: M. Cosmopoulos, The Parthenon and its Sculptures (2004) 86–96; W. Ehrhardt, JdI 119, 2004, 9–14. 120 Leipen 29; J. Floren, Studien zur Typologie des Gorgoneion (1977) 145ff.; zur Medusa Rondanini: B. Vierneisel-Schlörb, Glyptothek München. Katalog der Skulpturen II (1979) 62–70 Nr. 7. 121 Leipen 32f.; C. Vorster, Museo Gregoriano Profano. Katalog der Skulpturen II 1 (1993) 146 Nr. 63.
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gegen die Kentauren von den Sandalen122 und der Nike auf der Hand der Athena nachzuweisen.123 Für die modernen Rekonstruktionen des Kultbildes im Royal Ontario Museum in Toronto (im Maßstab 1:10) und in Nashville, Tennessee (maßgetreu) sind die schriftlichen und archäologischen Zeugnisse in ihrer Gesamtheit berücksichtigt worden. Die einzige originale Spur vom Goldelfenbeinbild in der Cella des Parthenon sind Blöcke der Fundamentierung und des inneren Aufbaues der Basis sowie eine 76 x 45 cm große und 37 cm tiefe Einlassung für den das Kultbild tragenden senkrechten Holzbalken. Aus den im Cellaboden vorhandenen Aufschnürungen lässt sich für die Basis eine Fläche von 8,07 x 4,10 m erschließen; ihre Höhe betrug vermutlich 1,30 bis 1,50 m.124 Das Problem des Kultbildcharakters des Goldelfenbeinbildes und der politisch-religiöse Rezeptionskontext wurden zuletzt von Gabriele Nick und Burkhard Fehr125 ausführlich abgehandelt. Die Statue diente noch gegen 375 n. Chr. als Kultbild (Kat. 6.2.13.) und wurde offenbar erst im 5. Jh. n. Chr. aus dem Tempel entfernt, wie in der Vita Procli (Kat. 6.2.14.) berichtet wird.126 6.2.13. Zosimos, Historia nova 4,18 Der spätantike Historiker Zosimos (um 500 n. Chr.) überliefert in seinem Geschichtswerk „Neue Geschichte (bzw. Geschichte der neueren Zeit)“ (Ἱστορία νέα/Historia nova), dass von Nestorios, der unter dem oströmischen Kaiser Valens (reg. 364–378 n. Chr.) das Amt des Hierophanten (Priester) der Eleusinischen Gottheiten bekleidete, um 375 n. Chr. im Parthenon ein Heroenkult für Achill eingeführt worden sei. Νεστόριος ἐν ἐκείνοις τοῖς χρόνοις ἱεροφαντεῖν τεταγμένος ὄναρ ἐθεάσατο παρακελευόμενον χρῆναι τὸν Ἀχιλλέα τὸν ἥρωα δημοσίαις τιμᾶσθαι τιμαῖς· ἔσεσθαι γὰρ τοῦτο τῇ πόλει σωτήριον. ἐπεὶ δὲ ἐκοινώσατο τοῖς ἐν τέλει τὴν ὄψιν, οἱ δὲ ληρεῖν αὐτὸν οἷα δὴ ὑπέργηρων ὄντα νομίσαντες ἐν οὐδενὶ τὸ ῥηθὲν ἐποιήσαντο, αὐτὸς καθ᾿ ἑαυτὸν λογισάμενος τὸ πρακτέον καὶ ταῖς θεοειδέσιν ἐννοίας παιδαγωγούμενος, εἰκόνα τοῦ ἥρωος ἐν οἴκῳ μικρῷ
Nestorios, der in jenen Zeiten mit der Aufgabe eines Hierophanten betraut war, sah ein Traumgesicht, das ihm auftrug, der Heros Achill solle durch Feierlichkeiten, die auf Staatskosten abzuhalten seien, geehrt werden; denn dies werde der Stadt Rettung bringen. (3) Doch als Nestorios den führenden Männern von seinem Traum berichtete, diese aber meinten, er rede wie ein uralter Mann nur törichtes Geschwätz, und seinen Worten keinerlei Bedeutung
Leipen 29f.; zum Marmorkrater in Madrid, Prado 303 E: S. Schröder, Katalog der antiken Skulpturen des Museo del Prado in Madrid II (2004) 30–34 Nr. 95; zum Relief im Vatikan: Sinn a.O. 89–93 Nr. 20. 123 Leipen 34–36. – Umstritten ist ferner die Existenz einer Säule bzw. Stütze unter der rechten Hand des Kultbildes, unklar der Platz der Eule, die Dion von Prusa (SQ 677) und ein Kertscher Goldmedaillon bezeugen, vgl. J. Fink, AM 71, 1956, 90ff.; Leipen 40f. 124 G.Ph. Stevens, Hesperia 24, 1955, 244–67; Leipen 23f.; A.K. Orlandos, Ἡ ἀρχιτεκτονικὴ τοῦ Παρθενῶνος III (1978) 369ff. 125 Nick; B. Fehr, Die Parthenos im Parthenon zwischen recepta religio und politischem Kalkül, Hephaistos 19/20, 2001/02, 39–66. 126 Vgl. Leipen 18; A. Frantz, AJA 83, 1979, 401 Anm. 54; A. Frantz in: The Athenian Agora XXIV (1988) 58. 122
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δημιουργήσας ὑπέθηκετῷ ἐν Παρθενῶνι καθιδρυμένῳ τῆς Ἀθηνᾶς ἀγάλματι. Τελῶν δὲ τῇ θεῷ τὰ συνήθη κατὰ ταὐτὸν καὶ τῷ ἥρωϊ τὰ ἐγνωσμένα οἱ κατὰ θεσμὸν ἔπραττε.
beimaßen, überlegte er sich selbst, was zu tun sei, und verfertigte, von göttlichen Eingebungen geleitet, das Bild des Heros in einem kleinen Tempelchen (oíkos) und legte es zu den Füßen der im Parthenon aufgestellten Athenastatue (ágalma) nieder. Indem er so der Göttin zu Ehren die gewohnten Zeremonien verrichtete, kam er zugleich auch dem Heros gegenüber einem diesem herkömmlicherweise geschuldeten heiligen Brauche nach.
6.2.14. Marinus, Vita Procli 30 In der Vita des neuplatonischen Philosophen Proklos (412–485 n. Chr.), die von dessen Schüler Marinus verfasst worden ist, wird berichtet, dass die Statue der Athena Parthenos zu Lebzeiten des Proklos abtransportiert worden sei. Ὅπως δὲ αὐτὸς καὶ αὐτῇ τῇ φιλοσόφῳ θεῷ προσφιλὴς ἐγένετο, παρέστησε μὲν ἱκανῶς καὶ ἡ αἵρεσις τοῦ ἐν φιλοσογίᾳ βίου, τοιαύτη γενομένη οἵαν ὁ λόγος ὑπέδειξε· σαφῶς δὲ καὶ αὐτὴ ἡ θεὸς ἐδηλωσεν, ἡνίκα τὸ ἄγαλμα αὐτῆς τὸ ἐν Παρθενῶνι τέως ἱδρυμένον ὑπὸ τῶν καὶ τὰ ἀκίνητα κινούντων μετεφέρετο. Ἐδόκει γὰρ τῷ φιλοσόφῳ ὄναρ φοιτᾶν παρ’ αὐτὸν εὐσχήμων τις γυνὴ καὶ ἀπαγγέλλειν ὡς χρὴ τάχιστα τὴν οἰκίαν προπαρασκευάζειν· ἡ γὰρ κυρία Ἀθηναΐς, ἔφη. παρὰ σοὶ μένειν ἐθέλει.
Wie beliebt Proklos auch bei der philosophischen Gottheit selbst war, bewies ausreichend die Art und Weise seines philosophischen Lebens, die so war, wie es unsere Schilderung dargelegt hat. Aber auch die Gottheit selbst zeigte es deutlich, als ihre Statue (ágalma), die lange Zeit im Parthenon aufgestellt war, von denen fortgetragen wurde, die auch die unbeweglichen Dinge bewegen. Denn schien dem Philosophen im Traum eine schöne Frau zu ihm zu kommen und zu melden, er solle schnellstens vorher sein Haus in Ordnung bringen. „Denn die Herrin von Athen“, sagte sie, „will bei dir wohnen.“
Lit.: A. Michaelis, Der Parthenon (1871) 266–84; T. Schreiber, Die Athena Parthenos des Phidias und ihre Nachbildungen, AbhLeipzig 8, 1883, 545–642; W.H. Schuchhardt, AntPl 2 (1963) 31–53; G. Becatti, Problemi Fidiaci (1951) 109–24; N. Leipen, Athena Parthenos. A Reconstruction (1971); E. Berger (Hrsg.), Parthenon-Kongreß Basel (1984) 177–97 (mit Bibliographie zum Parthenon und zum Kultbild 461–95); P. Karanastassis, AM 102, 1987, 323–39. 401–11; C. Höcker – L. Schneider, Phidias (1993) 62–82; K. Lapatin, Chryselephantine Statuary in the Ancient Mediterranean World (2001) 63–79; G. Nick, Die Athena Parthenos, Studien zum griechischen Kultbild und seiner Rezeption, 19. Beih. AM (2002); S. Schröder, Katalog der antiken Skulpturen des Museo del Prado in Madrid II (2004) 24–29 Nr. 94; K. Lapatin, The Statue of Athena and other Treasures in the Parthenon in: J. Neils (Hrsg.), The Parthenon (2005) 261–91. – Zur Varvakion-Statuette: BrBr 39f.; Schuchhardt 31–46 Taf. 20–32; N. Kaltsas, Sculpture in the National Archaeological Museum, Athens (2002) 104f. Nr. 187; Nick 240 Nr. A 15.
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Athen, Akropolis: Statue des Anakreon
Marmorkopie: Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek, Inv. 491; ehemals Rom, Villa Borghese. – Erhaltene Höhe 1,90 m (ohne Basis). – Gefunden in der Villa der Bruttier am Monte Calvo (Latium), vor 1835. Datierung: späthellenistisch.
Der Bildhauer der Statue des Anakreon ist in antiken Quellen nicht genannt; in der Ausstellung erscheint die Statue deshalb, weil sie dank der Stilanalyse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Phidias zugewiesen werden kann. 6.3.1. Pausanias 1,25,1 Pausanias führt bei seinem Rundgang über die Athener Akropolis (1,22,4–28,3) östlich des Parthenon die Statue des Lyrikers Anakreon an, die in der Nähe der Statue des Strategen Xanthippos, des Vaters des Perikles, gestanden habe. […] ἔστι δὲ ἐν τῇ Ἀθηναίων ἀκροπόλει καὶ Περικλῆς ὁ Ξανθίππου καὶ αὐτὸς Ξανθίππος [...] τοῦ δὲ Ξανθίππου πλησίον ἕστηκεν Ἀνακρέων ὁ Τῄος, πρῶτος μετὰ Σαπφὼ τὴν Λεσβίαν τὰ πολλὰ ὧν ἔγραψεν ἐρωτικὰ ποιήσας· καὶ οἱ τὸ σχῆμά ἐστιν οἷον ᾄδοντος ἂν ἐν μέθῃ γένοιτο ἀνθρώπου.
[…] auf der Akropolis von Athen steht Perikles, der Sohn des Xanthippos, und Xanthippos selbst [...] in der Nähe des Xanthippos aber steht Anakreon von Teos, der als Erster nach der Lesbierin Sappho vor allem Liebesgedichte schrieb. Und er ist in einer solchen Haltung dargestellt, wie wohl ein trunkener Mensch singen würde.
Diese vermutlich bronzene Bildnisstatue des berühmten Dichters des Weines und der Liebe, dessen Lebenszeit etwa zwischen 575 und 490 v. Chr. anzusetzen ist,127 scheint 127
P.A. Rosenmeyer, The Poetics of Imitation (1992); DNP 1 (1996) 646–49.
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in einer späthellenistischen Marmorkopie in Kopenhagen fast vollständig überliefert zu sein. Die wohl einige Jahre vor 1835 gefundene Statue steht mit ihrem Bildniskopf im Replikenverhältnis zu einer Hermenbüste im Museo Capitolino in Rom,128 die den Dargestellten inschriftlich als Ἀνακρέων λυρικός bezeichnet, was die Benennung der Statue sichert. Sechs weitere Bildnisköpfe gehen auf dieselbe Originalstatue des Anakreon zurück. Das Bildnis weist kaum individuelle Züge auf. Das reich gelockte, in der Stirnmitte geteilte Haar, das an Götter- und Heroenköpfe erinnert, wird von einem das Haar eng einschnürenden schmalen Band gehalten. Der volle, Wangen, Oberlippe und Kinn bedeckende Bart reicht mit seinen langen Strähnenlocken weit am Hals herab. Der Mund ist in auffälliger Weise geöffnet. Dieser lebensvolle Zug setzt sich in der augenblickshaften Bewegung des zur Seite gekippten und leicht nach hinten geneigten Kopfes und des gesamten Körpers fort. Der Körper ist in Rumpf und Schulter ruckhaft bewegt und mit seinem Gewicht in die Rücklage und etwas unsicher über das seitwärts gestellte Spielbein geraten. Auch die Arme waren lebhaft bewegt; mit der linken Hand hat er das Barbiton, mit dem der Dichter auf einigen attisch-rotfigurigen Schalen dargestellt ist, gehalten, in der erhobenen Rechten vermutlich ein Plektron, mit dem er zum Instrument hinüber greift. Der nackte Körper ist in seiner klar artikulierten Brust-, Bauch- und Leisten-Gliederung ebenso ideal gehalten wie das Gesicht. Das Glied ist wie auf zahlreichen Vasenbildern von Musikern und Symposiasten hochgebunden und die Vorhaut ist verschnürt.129 Über die Schultern und den Rücken ist ein kurzes Mäntelchen gelegt. Die Nackheit, die Binde im Haar, das kurze Mäntelchen und die infibulatio lassen den Dichter als Teilnehmer eines fröhlichen Symposions erscheinen, der rauschhaft entrückt sich zum Liedgesang und Spiel auf dem Barbiton von der Kline erhoben hat. Der gegenüber klassisch ponderierten Statuen ungewöhnliche Stand könnte als Zeichen des Enthusiasmos des inspirierten Sängers gedeutet werden, erweckt aber auch den Eindruck, als stehe der Dichter ähnlich einem Trunkenen unsicher auf den Beinen. Adolf Furtwängler hat die bis heute maßgebliche Datierung des Vorbildes in das Jahrzehnt 450/440 v. Chr. begründet. An Figuren der Parthenon-Südmetopen 2, 8 und 28 begegnen ähnlich ruckhafte Körperbewegungen, sich an den Körper anschmiegende und wellig gebrochene Rundfalten und der füllige, in einzelne Locken zerfallende und tief herabreichende Bart. Der Kopf der Athena Lemnia (Kat. 6.1.), die in eben dieses Jahrzehnt zu datieren ist, steht durch die Ähnlichkeit der straff modellierten Stirn- und Augenpartie mit den abgeflachten Schläfen und der Anlage der sich über der einschneidenden Binde stauenden Haare dem Anakreon-Bildnis sehr nahe. Vollends führt der Vergleich mit dem Relief eines verwundeten Griechen (sog. Kapaneus) vom Schild der Athena Parthenos130 in den Kreis des Phidias: Die Körperbewegung in ihrer Gebrochenheit, die Faltenführung des Mäntelchens, die Anlage von Bart- und Haupthaar, die über die Haarbinde geschlagenen Locken entsprechen sich an beiden Figuren weitgehend. An der Datierung des Vorbildes der Bildnisstatue und an der Zuweisung an Phidias selbst oder einen seiner engsten Mitarbeiter wird man daher festhalten dürfen. Richter 76 Nr. 1 Abb. 271f. 274. Zur infibulatio: RE IX (1916) Sp. 2543–48. 130 Kopien in Chicago, Art Institute Inv. 1928.257 und in Rom, Villa Albani Inv. Nr. 20: Th. StephanidouTiveriou, Neoattika (1979) 74ff. Taf. 42f.; P.C. Bol in: Villa Albani II (1990) 104–07 Nr. 185 Taf. 65f. 128
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Die Datierung des Werkes in das Jahrzehnt nach der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. und die Zuweisung an Phidias oder seinen Kreis ließ immer schon die Verbindung mit der von Pausanias genannten Bildnisstatue des Anakreon auf der Athener Akropolis als plausibel erscheinen. Die von Pausanias hervorgehobene Trunkenheit der Dichterdarstellung könnte sich auf die ungewöhnliche Körperhaltung beziehen oder auch auf ein Trinkgefäß, das die Statue nach einem Vorschlag Serena Brusinis wie auf einigen Vasenbildern anstelle des Plektrons in der rechten Hand gehalten haben mag. Die Aufstellung einer Anakreon-Statue auf der Athener Akropolis mehr als eine Generation nach seinem Tod ist durchaus bemerkenswert. Die durch die Nähe zur XanthipposStatue häufig vermutete Stiftung der Statue durch Perikles wird durch die Quelle nicht bestätigt. Damit fehlt der von Paul Zanker vorgeschlagenen Deutung der Statue als Darstellung eines vorbildlichen Vertreters des perikleischen Bürgerideals und Verkörperung eines „Mustersymposiasten“ die Grundlage; sie ist auch kaum aus der Ikonographie der Bildnisstatue abzuleiten. Andere erkannten in der Dichterstatue eine Stiftung aristokratischer Kreise, die an das „süße Leben“ und die fürstlichen Gelage vor den Perserkriegen erinnern wollten. Doch ist zu bedenken, dass das sicher aus privater Initiative gestiftete Anathem in einem sakralen Kontext als Ausdruck der Frömmigkeit und Dankbarkeit gegenüber den Göttern, insbesondere der Göttin Athena aufgestellt worden ist. Als weitere Möglichkeit scheint daher die Stiftung der Bildnisstatue des Protagonisten der Symposionsdichtung durch einen Schüler oder Nachfolger in der Dicht- und Sangeskunst erwägenswert – entsprechend anderen, nur wenig älteren Weihungen von musischen Künstlern oder Dichtern auf der Athener Akropolis.131 Lit.: R. Kekulé, JdI 7, 1892, 119–26; Furtwängler, Meisterwerke 92–94; F. Poulsen, From the Collections of the Ny Carlsberg Glyptothek 1, 1931, 1–15; G. Hafner, JdI 71, 1956, 1–28; G.M.A. Richter, The Portraits of the Greeks I (1965) 75–78 Abb. 271–98; E. Voutiras, Studien zu Interpretation und Stil griechischer Porträts des 5. und frühen 4. Jhs. (1980) 77–91; C. Vorster, Museo Gregoriano Profano. Katalog der Skulpturen II 1 (1993) 150f. Nr. 65; P. Zanker, Die Maske des Sokrates (1995) 29–38; N. Himmelmann, BJb 195, 1995, 654f.; D. Klug in: Standorte, Ausst.Kat. Berlin 1995, 184f. Kat. B 46; S. Brusini, RdA 20, 1996, 59–74; R. Krumeich, Bildnisse griechischer Herrscher und Staatsmänner im 5. Jh. v. Chr. (1997) 69f.; B.S. Ridgway, AJA 102, 1998, 717–38; S. Brusini, La decorazione sculturea della Villa Romana di Monte Calvo, RIA 55, 2000, 178–93 Nr. 10; V. Saladino (Hrsg.), Le Antichità di Palazzo Medici Riccardi (2000) 185–88 Nr. 64; C. Bol in: Bildhauerkunst II (2004) 104f. Abb. 73; J. Daehner, JdI 120, 2005, 284–86. Lehmann/Raeder
A.E. Raubitschek, Dedications from the Athenian Akropolis (1949) 89–94 Nr. 84–86; zu Votiven auf der Akropolis: C.M. Keesling, The Votive Statues of the Athenian Acropolis (2003) mit der Rez. von R. Krumeich, BJb 202/03, 2002/03, 600–606. 131
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6.4.
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Ephesos, Artemision: Bronzestatue einer verwundeten Amazone
Kopie in Petworth
Kopie (Typus Mattei): Rom, Vatikanische Museen, Inv. 748; ehemals Rom, Villa Mattei. – Höhe 1,90 m (Sohle–Scheitel, an der Abguss-Rekonstruktion); Kopfhöhe 26 cm (Abbati-Abguss). – Ergänzt sind beide Arme, der rechte Unterschenkel, der obere Teil der Stütze und Kleinigkeiten. – Datierung: frühe Kaiserzeit (Körper); frühe Kaiserzeit (Kopf).
6.4.1. Plinius, Naturalis Historia 34,53 Zum Kontext s. Kat. 8.2.1. (Kresilas)
Venere autem et in certamen laudatissimi, quamquam diversis aetatibus geniti, quoniam fecerant Amazonas, quae cum in templo Dianae Ephesiae dicarentur, placuit eligi probatissimam ipsorum artificum, qui praesentes erant, iudicio, cum apparuit eam esse, quam omnes secundam a sua quisque iudicassent. haec est Polycliti, proxima ab ea Phidiae, tertia Cresilae, quarta Cydonis, quinta Phradmonis.
Es traten aber auch die am höchsten gepriesenen Künstler, obwohl sie zu verschiedenen Zeiten geboren waren, zum Wettbewerb gegeneinander an, da sie Amazonen geschaffen hatten. Als diese im Heiligtum der Artemis zu Ephesos geweiht wurden, beschloss man, die gelungenste durch das Urteil der anwesenden Künstler selbst auswählen zu lassen. Dabei zeigte es sich, dass es diejenige war, die ohne Ausnahme alle nach ihrer eigenen als zweitbeste beurteilt hatten. Dies ist die des Polyklet, als nächste folgt die des Phidias, den dritten Platz belegt die des Kresilas, den vierten die des Kydon, den fünften die des Phradmon.
Phidias
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6.4.2. Lukian, Imagines 4–6 Zum Kontext s. Kat. 6.1.2. ΠΟΛΥΣΤΡΑΤΟΣ […] Καἰ νὴ Δία Ἀμαζόνα τὴν ἐπερειδομένην τῷ δορατίῳ. [...] (6) ΛΥΚΙΝΟΣ [...] ἔτι καὶ στόματος ἁρμογὴν αὐτὸς καὶ τὸν αὐχένα παρὰ τῆς Ἀμαζόνος λαβών.
Polystratos: […] Und, bei Zeus, die Amazone, die sich auf die Lanze stützt. […] (6) Lykinos: […] Ferner soll er die harmonische Formung des Mundes und den Nacken von seiner Amazone übernehmen.
Zu den Amazonenstatuen, die im Artemision von Ephesos aufgestellt worden sind, s. Kat. 8.2. (Kresilas). Die zwischen 440 und 430 v. Chr. geschaffene Amazone des Phidias lässt sich als einzige der drei Amazonen sicher mit einem statuarischen Typus, dem Typus Mattei, verknüpfen.132 Das von Lukian für die Amazone überlieferte Stütz-Motiv ist mit Hilfe einer Wiederholung der Statue auf einer 1,3 cm hohen, verschollenen Gemme, die Lorenz Natter um 1750 gezeichnet hat, rekonstruiert worden: um das verwundete linke Bein vollständig zu entlasten, stützt sich die Amazone mit der linken und mit der über den Kopf herüber geführten rechten Hand auf eine ungefähr senkrecht gehaltene Lanze. Das Gewand ist vom linken Oberschenkel hochgenommen und unter den Gürtel gesteckt, um Kontakt mit der Wunde zu verhindern.133 In der vorliegenden Rekonstruktion ist das namengebende Stück des Typus Mattei, dem im Vatikan ein nicht zugehöriger Kopf der Amazone Typus Sosikles aufsitzt, mit dem Kopf verbunden worden, der sich in den 1860er Jahren im Besitz des Kunsthändlers Abbati befand und seit langer Zeit verschollen ist. Die zuerst von Paul Arndt vorgeschlagene, später von Josef Floren ausführlich begründete Verbindung der Amazone Mattei, deren Kopf bei allen erhaltenen Kopien fehlt, mit dem Kopf Typus Petworth-Abbati134 ist in der jüngeren Forschung abgelehnt worden. Sie verdient indes schon allein deshalb besondere Beachtung, weil man in den Barbarathermen in Trier, wo nur eine Handvoll großplaKopie in Petworth stischer Werke aus Marmor zu Tage getreten ist, einen Torso der Amazone Typus Mattei und ein Kopffragment eben des Typus Petworth-Abbati in unmittelbarer Nähe gefunden hat.135 Beide Fragmente passen Vgl. Floren 120. Die abweichende Interpretation von M. Weber basiert auf einer nachweislich falschen Rekonstruktion des Typus mit Bogen statt Lanze. Gegenstandslos ist die unlängst befürwortete Verbindung des Typus Mattei mit Polyklet durch Strocka in: V.M. Strocka (Hrsg.), Meisterwerke, Symposion anlässlich des 150. Geburtstages von A. Furtwängler, Freiburg 2003 (2005) 138. 133 Eigenartiger Weise trägt die Amazone Mattei im Unterschied zur Amazone Typus Sciarra nur am Fuß des linken, verwundeten Beins einen Sporenriemen, vgl. dazu Amelung, Vat. Kat. II (1908) 457. 134 P. Arndt in: Festschrift Loeb (1930) 1–4; vgl. auch Lippold, Plastik 171f. – Zum Kopftypus vgl. auch C. Ciatti, in: Le Antichità di Palazzo Medici Riccardi II. Le Sculture, hrsg. von V. Saladino (2000) 151–54 Kat. 50. 135 Trier, Landesmuseum, Inv. G 41 und G 46. – Lit.: Arndt a.O. 2; H. Manderscheid, Die Skulpturenaus132
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Phidias
zwar, da der Hals verloren ist, nicht aneinander an, bestehen nach Autopsie aber aus dem gleichen Marmor. Gegen die Zugehörigkeit des Kopfes Typus Petworth-Abbati zur Amazone Mattei ist bislang nur damit argumentiert worden, dass eine in der Villa des Herodes Atticus in Luku gefundene, als „Umbildung“ der Amazone Mattei klassifizierte Relieffigur einen Kopf mit Mittelscheitel-Frisur überliefert.136 Einer Prüfung hält dieser Einwand nicht stand: der Bildhauer der in antoninischer Zeit entstandenen, gegenüber dem Vorbild verkleinerten „Umbildung“ war damit beauftragt, einen Pfeiler zu verzieren, und zwar mit der Darstellung einer – unverwundeten – Amazone. Bei der Umsetzung dieses Vorhabens orientierte er sich im Hinblick auf die Entblößung der linken Brust und hinsichtlich der Bekleidung an der Amazone Typus Mattei, ohne indes irgendwelche Details der Gewandanlage aufzugreifen.137 Für den Kopf wählte der Bildhauer der Pfeilerfigur eine für Amazonen gängige Mittelscheitel-Frisur, wobei nicht zu entscheiden ist, ob ihm dafür ein Vorbild Pate stand. Selbst wenn dies der Fall war, würde nichts zu der Annahme zwingen, dieses im Typus Mattei zu suchen, da der Bildhauer auch eklektisch verfahren sein kann. Die oben genannte Gemmenwiederholung der Amazone gibt keinen Aufschluss über die Frisur.138 Zur Kühnheit des statuarischen Motivs der Amazone Mattei passt in jedem Fall ein ‚unkonventioneller’ Kopf wie der Typus Petworth-Abbati entschieden besser als ein Kopf mit traditionellem Mittelscheitel. Die stilkritische Beurteilung des Kopftypus PetworthAbbati durch Josef Floren und Joachim Raeder spricht außerdem eindeutig für die Verbindung mit Phidias.139 Bestätigt wird die hier präsentierte Rekonstruktion dadurch, dass sich der mehrfach überlieferte Stegansatz auf dem Kopf ohne Schwierigkeiten mit dem Handgelenk des rechten Arms verbinden lässt. Die mehrfach geäußerten Zweifel am ‚weiblichen’ Geschlecht des Kopfes sind unbegründet: am Hals sind ‚Venusringe’ als Hinweis auf die Weiblichkeit angegeben.140 Gegen die immer wieder befürwortete Bestimmung des Typus Petworth-Abbati als männlicher Athlet spricht entschieden die Überlegung, dass bei einer wie auch immer bewegten Athletenfigur – eine Gottheit kommt sicher nicht in Frage – das Motiv des über den Kopf zur Seite geführten Arms nicht erklärt werden kann. Lit. zum statuarischen Typus: J. Floren, Die Amazone des Phidias, in: Festschrift Wegner (1992) 119–41; R. Bol, Amazones volneratae (1998) 58–71. 206–15; J. Raeder, Die antiken Skulpturen in Petworth House (2000) 37–42 zu Nr. 2. Lehmann/Kansteiner
stattung der kaiserzeitlichen Thermenanlagen (1981) Kat. 12 Taf. 14; Floren 121. 132. – Von Binsfeld ist der Kopf irrig als Reliefkopf gedeutet worden (CSIR Deutschland IV/3/1 [1988] 241 zu Kat. 527). – Zur Auffindung: W. Chassot von Florencourt, BJb 9, 1846, 93. 136 Bol 69f.; Raeder 49. – Zur Umbildung s. Bol 211 Kat. III.8 Taf. 123–25. 137 Eine Absetzung der Gewandanlage der Pfeilerfigur vom Typus Sciarra ist kaum möglich. 138 Anders Bol 67f., doch bietet die ebenda angeführte Nattersche Zeichnung der seit langem verschollenen Gemme keinen Hinweis darauf, dass Natter auf der Gemme wirklich einen Mittelscheitel hat erkennen können. 139 Floren 134f.; Raeder 49f. – Der Typus ist am besten überliefert durch den Kopf im englischen Petworth House, s. Floren 136 mit Taf. 10f. 140 Vgl. Floren 129 und bereits W. Helbig, BdI 1867, 33: „collo quasi feminile“.
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Alkamenes
7.
ALKAMENES (Ἀλκαμένης) aus Athen (?)
7.1.
Athen, Akropolis: Herme des Hermes Propylaios
Kopie oder Umbildung: Marmorherme Istanbul, Archäologisches Museum, Inv. 1433. – Erhaltene Höhe 1,19 m; Kopfhöhe ca. 30 cm. – Fundort: Pergamon (1903). Datierung: 1. Hälfte des 2. Jhs. n. Chr.
7.1.1. Supplementum epigraphicum Graecum 46 Nr. 2376 Auf dem Schaft der Herme befindet sich eine fünfzeilige Inschrift, die ein elegisches Distichon und eine Sentenz umfasst. εἰδήσεις Ἀλκαμένεος περικαλλὲς ἄγαλμα, Ἑρμᾶν τὸν πρὸ πυλῶν· εἵσατο Περγάμιος. γνῶθι σαυτόν.
Sehen wirst du das wunderschöne Standbild des Alkamenes, den Hermes vor den Toren; aufgestellt hat ihn Pergamios. Erkenne dich selbst.141
Der in dem Pentameter der Inschrift enthaltene Ausdruck πρὸ πυλῶν ist von Alexander Conze als dichterische Umschreibung des Epithetons Προπύλαιος verstanden worden.142 Die Gleichsetzung des verlorenen Originals, welches der Herme aus Pergamon zugrunde liegt, mit dem von Pausanias genannten Hermes Propylaios basiert außerdem auf der Annahme, dass Pausanias im Bildhauer der Herme irrtümlich Sokrates statt Alkamenes gesehen hat. Erscheint diese Annahme vor dem Hintergrund, dass Pausanias auch die in Hermes war der Gott der Gymnasien; von ihm lernten die Knaben die delphische Weisheit: „Erkenne dich selbst“. Dieser Spruch stand zusammen mit anderen Sentenzen der „Sieben Weisen“ im Pronaos des Apollontempels in Delphi (Paus. 10,24,1); vgl. H. Pomtow, RE Suppl. V (1931) 121 Nr. 203. 142 Diese Interpretation ist problematisch, vgl. Brahms 115f. 141
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Alkamenes
der Nähe des Hermes aufgestellte Charitengruppe nicht mit dem richtigen Bildhauer verbindet (s.o. Kat. 4.1.3–4), durchaus plausibel, so wird die Beurteilung dadurch erschwert, dass noch ein zweiter, in Ephesos gefundener und von der Herme in Pergamon hinsichtlich der Frisur deutlich abweichender Hermes der metrischen Inschrift zufolge auf ein Werk des Alkamenes zurückgeht: οὔκ εἰμι τέχνα τοῦ τυχόντος, ἀλλά μου μορφὰν ἔτευξε[ν], ἣν σκοπῇς, Ἀ̣[λκα] μένης. Ich bin nicht das Kunstwerk eines Beliebigen, sondern meine Gestalt, die du siehst, hat Alkamenes geschaffen.143 Aufgrund einer stilkritischen Analyse der beiden Hermentypen kam Dietrich Willers zu dem Schluss, dass das Original von der Hand des Alkamenes durch den Typus Ephesos überliefert sei, zu dem mehr als 20 Repliken zu zählen sind, darunter etliche aus Athen. Die Herme aus Pergamon führte Willers dagegen zusammen mit drei Repliken144 auf ein Original zurück, das als eine Weiterbildung bzw. „klassizistische Redaktion“ des archaistischen Hermes des Alkamenes anzusehen sei.145 Gegenüber dem Typus Ephesos scheint bei der Herme aus Pergamon der archaistische Charakter der Frisur noch dadurch verstärkt zu sein, dass die Stirn anstelle Herme im Typus ,Ephesos’ der Buckellocken längere ‚Korkenzieherlocken’ rahmen. Der Bart bietet dagegen keine Veranlassung, im Original tatsächlich eine klassizistische Redaktion zu sehen. Nicht nachvollziehbar erscheint die folgende, von Willers 84f. getroffene Feststellung: „Die flimmernde Unruhe des Bartes [des Typus Pergamon] tritt an die Stelle der massigen Ruhe des alkamenischen Hermes, die man nicht mehr ertrug.“ Es ist zu fragen, ob man sich bei der Beurteilung der beiden Hermen zu sehr davon hat leiten lassen, dass der Typus Pergamon in deutlich geringerer Stückzahl als der Typus Ephesos überliefert ist. Keine ausreichende Berücksichtigung fand die Tatsache, dass die Inschrift einer Kopie nur höchst selten Auskunft über den Bildhauer des Originals gibt (vgl. den Text zu Kat. 24, Glykon).146 Dieser seltene Fall ist hier aber gegeben, doch wäre gerade hier, hält man für den Typus Pergamon an der These der klassizistischen Redaktion fest, der Name zu Unrecht genannt worden. Umgekehrt wäre, wenn man mit Tatjana Brahms das klassische Original nicht im Typus Ephesos, sondern im Typus Pergamon überliefert sieht, der Name des Alkamenes bei der Herme aus Ephesos zu Unrecht geIzmir, Museum, Inv. Nr. 675. – Willers 42–44 Abb. 1–4; LIMC V (1990) 297 s.v. Hermes Nr. 42. Zu den drei Repliken in Berlin, Athen und im Palazzo Barberini in Rom sowie zu einer weiteren Replik in Ostia s. Brahms 298f. 145 Vgl. auch B. Vierneisel-Schlörb, Glyptothek München. Katalog der Skulpturen II (1979) 55 Anm. 11: „Der Grund für die ‚Verbesserung’ des Typus ist wieder einmal in der Verständnislosigkeit der Spätzeit für die strenge, gebundene Form des frühhochklassischen Originals zu suchen.“ – Anders Brahms 125ff. 146 Ein Hermenschaft im Vatikan (Inv. 274) trug der Inschrift zufolge einst eine Teilkopie der von Praxiteles geschaffenen Statue des Gottes Eubouleus (s. GK Denkmäler Nr. 1320). Vgl. ferner eine Basis aus dem kilikischen Klaudiopolis (G. Nick, Die Athena Parthenos, 19. Beih. AM [2002] 250 Nr. A 38), die laut Inschrift vielleicht eine kleine Wiederholung der Parthenos des Phidias getragen hat. 143
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Alkamenes
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nannt. Den Typus Ephesos, der in der Regel mit Alkamenes verbunden und in die Jahre 450/30 v. Chr. datiert wird (Willers; Krämer 119f.), interpretiert Brahms als eklektische Schöpfung späthellenistischer Zeit. Ausreichend begründet ist diese Einschätzung, die u.a. darauf basiert, dass das Verhältnis von Einzelform zum Ganzen „geradezu konstruiert“ wirke (Brahms 128), allerdings nicht. Die konträren Beurteilungen der beiden Hermentypen machen vor allem eines deutlich: man hat die der Stilforschung gesetzten Grenzen nicht respektiert, indem man einen Sonderfall, i.e. Köpfe mit einer seltenen, nicht zeitgemäßen archaistischen Frisur, in ähnlicher Weise zu klassifizieren versucht hat wie etwa eine dichte Reihe von weiblichen Gewandfiguren.147 Hält man den Inhalt der Inschriften, den die Hermen aus Pergamon und Ephesos überliefern, für glaubhaft, muss man die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Alkamenes zwei Hermen geschaffen hat, die sich im Ausdruck und in der Formulierung von Details unterschieden und beide kopiert worden sind. Alkamenes stammt ursprünglich vielleicht aus Lemnos148 und soll Plinius zufolge von Phidias ausgebildet worden sein (nat. 36,16) bzw. Phidias nachgeeifert haben (nat. 34,49). Unsicher sind insbesondere Anfang und Ende seiner Karriere als Bildhauer: Die Angabe des Pausanias, Alkamenes habe – in den Jahren um 460 v. Chr. – die westliche Giebelgruppe des Zeustempels in Olympia geschaffen (Paus. 5,10,8 = SQ 825), lässt sich nicht damit vereinbaren, dass Thrasybulos nach dem Sturz der Tyrannis der Dreißig, also erst 403/02 v. Chr., eine Reliefgruppe von der Hand des Alkamenes geweiht haben soll (Paus. 9,11,6 = SQ 823). In der Regel wird die Diskrepanz dadurch aufgelöst, dass man die Verbindung des Alkamenes mit dem Zeustempel als Irrtum des Pausanias ansieht und den/die Bildhauer der Giebelfiguren unbenannt lässt.149 Folgt man dieser Einschätzung, so lässt sich allerdings die von Brahms aufgrund der Stilanalyse befürwortete Datierung des Hermes Propylaios (Typus Pergamon) in die Jahre 460/50 v. Chr. nicht aufrecht erhalten. Neben dem Hermes Propylaios hat Alkamenes noch ein zweites archaistisches Bildwerk geschaffen, die angeblich erste Darstellung der Hekate in dreigestaltiger Form. Pausanias erwähnt die Statue, auf die möglicherweise kleinformatige Nachbildungen Bezug nehmen,150 in der Nähe des Tempels der Athena Nike auf der Akropolis (Paus. 2,30,2 = SQ 817). Ein weiteres Werk des Alkamenes, das Pausanias auf der Athener Akropolis gesehen hat, ist im Unterschied zum Hermes Propylaios offenbar nicht kopiert worden, aber im Original erhalten: es zeigt Prokne vor der Tötung ihres mit Tereus gezeugten Sohnes Itys.151 Pausanias liefert lediglich die Information, dass Alkamenes die Gruppe geweiht habe; da er keine Angaben zum Bildhauer macht, ist davon auszugehen, dass für ihn die Identität von Weihendem und Bildhauer selbstverständlich war. Die MarmorIn der aktuellen Forschung zur antiken Skulptur des 5. Jhs. v. Chr. wird der Hermes gelegentlich ganz übergangen (Bildhauerkunst II). 148 So das byzantinische Lexikon Suda (SQ 809); vgl. auch SQ 810 (Tzetzes). – Plin. nat. 36,16 bezeichnet Alkamenes als Athener. 149 Vgl. zuletzt H. Kyrieleis in: N.Ch. Stampolides, Genethlion (2006) 183–201 (mit weiterführender Literatur). Anders Künstlerlexikon I, 24, wo die Verbindung des Alkamenes mit den Giebelfiguren aufrecht erhalten wird. 150 Vgl. Brahms 156ff.; N. Werth, Hekate. Untersuchungen zur dreigestaltigen Göttin (2006) 15ff. 151 Paus. 1,24,3; bei Overbeck im Kleindruck zu SQ 826. – Athen, Akropolismuseum, Inv. 1358; der früher dem Torso der Prokne aufgesetzte, zu große Kopf ist mittlerweile abgenommen worden. – Zur Prokne, deren Mythos Gegenstand der sophokleischen Tragödie Tereus war: Bildhauerkunst II, 216–18 Abb. 146. 147
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Alkamenes
gruppe stammt dem Stil nach aus den Jahren 430/20 v. Chr.: Alkamenes muss zu dieser Zeit bereits berühmt und, da er die Gruppe selbst geweiht hat, entsprechend vermögend gewesen sein. Der Prokne steht in der Gewandwiedergabe ein statuarischer Typus („Terme-Sacchetti“) so nahe, dass man mit guten Gründen anhand der beiden erhaltenen Kopien ein weiteres Werk des Alkamenes rekonstruiert,152 auch wenn sich die Skulptur mit keiner der in den Schriftquellen genannten Schöpfungen des Alkamenes identifizieren lässt. – Von den Bildwerken, die außer dem Hermes Propylaios literarisch für Alkamenes bezeugt sind (SQ 812–826), meint man mindestens noch eine zweite Skulptur archäologisch nachweisen zu können: Im statuarischen Typus des Ares Borghese sieht die Forschung im Anschluss an Furtwängler die Statue des Ares aus dem Arestempel im attischen Pallene überliefert, die Pausanias nach der Versetzung des Tempels auf der Agora von Athen gesehen hat (Paus. 1,8,4 = SQ 818). Auch wenn das Original des Ares Typus Borghese wie die Prokne im letzten Drittel des 5. Jhs. geschaffen worden ist und von männlichen Statuen anderer Bildhauer, etwa des Polyklet, abgesetzt werden kann, lässt sich die Identifizierung nicht sichern: ein stilkritischer Vergleich des Ares mit der Prokne scheitert daran, dass die beiden Werke keine formalen Gemeinsamkeiten aufweisen. Es kommt hinzu, dass die von Pausanias im Arestempel erwähnte Statue der Athena, die ein sonst nicht nachzuweisender Lokros aus Paros geschaffen hat, vielleicht in Form eines Torsos erhalten ist, der in 50 m Entfernung vom Arestempel gefunden worden ist.153 Dieser Torso gehörte zu einer Statue, die mit einer Höhe von 2,50 m keine Kultbildgruppe zusammen mit dem deutlich kleineren Ares Borghese gebildet haben kann.154 Lit.: A. Conze, SBBerlin 1904, 69–71; W. Altmann, AM 29, 1904, 179–83, Taf. 18–21; J. Bousquet, BCH 80, 1956, 567–73; D. Willers, JdI 82, 1967, 75–78 Nr. 1 Abb. 49–51; LIMC V (1990) 298 s.v. Hermes Nr. 47 (G. Siebert); F. Chamoux, CRAI 1996, 37–53; T. Brahms, Archaismus (1994) 113–33; M. Giercke in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 187–89 Kat. B 48; E. Krämer, Hermen bärtiger Götter (2001) 9–11. 36f. 152f. – Zur Inschrift: Supplementum epigraphicum Graecum 46, 1999, Nr. 2376; R. Merkelbach und J. Stauber (Hrsg.), Steinepigramme aus dem griechischen Osten I (1998) Nr. 06/02/07. – Zu Alkamenes: Furtwängler, Meisterwerke 116–28; EAA Suppl. I (1994) 172–79 (A. Delivorrias); Künstlerlexikon I, 24–26 s.v. Alkamenes I (W. Müller); D. Kreikenbom in: Bildhauerkunst II, 216–18. Hallof/Lehmann/Kansteiner
Vgl. L. Baumer, Vorbilder und Vorlagen (1997) 66f. Taf. 23. Athen, Agoramuseum, Inv. S 654. Vgl. Delivorrias 177 Abb. 209; Künstlerlexikon II, 20 s.v. Lokros (P. Schollmeyer). 154 E. Harrison in: J.M. Barringer – J. Hurwit (Hrsg.), Periklean Athens and its Legacy (2005) 119–31 umgeht dieses Problem durch die Annahme, die Kultstatue des Tempels in Pallene (Athena Pallenis) sei erst in römischer Zeit mit dem ursprünglich in Athen aufgestellten Ares (Typus Borghese) vereint worden. 152
153
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Kresilas
8.
KRESILAS (Κρησίλας) aus Kydonia
8.1.
Aufstellungsort unbekannt (vielleicht Athen, Akropolis): Statue des Perikles
Teilkopie: Marmorherme in London, British Museum Nr. 549. Höhe 59 cm; Kopfhöhe 25– 26 cm. Gefunden in Tivoli, Villa des Cassius (1779). Datierung: frühes 2. Jh. n. Chr.
8.1.1. Plinius, Naturalis historia 34,74 Im 34. Buch seiner Naturalis historia, das die Metalle Kupfer (1–137), Eisen (138–155) und Blei (156–176) zum Gegenstand hat, beschäftigt sich Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) in einer längeren, für unsere Kenntnis der griechischen Bildhauerkunst grundlegenden Passage (15–93) mit der antiken Bronzeplastik. Nach der chronologischen Behandlung der berühmtesten Bildhauer (53–71) zählt er im Folgenden in weitgehend alphabetischer Reihenfolge weitere Bildhauer, darunter auch Kresilas, und deren Werke auf (72–84).
Cresilas [...] Olympium Periclen dignum cognomine, mirumque in hac arte est, quod nobiles viros nobiliores fecit.
Kresilas schuf […] den Olympier155 Perikles, der seines Beinamens würdig ist; bemerkenswert an dieser Kunst ist, dass sie berühmte Männer noch berühmter machte.
Die Bezeichnung mit dem ansonsten für Zeus üblichen Beinamen „Olympius“ (der Olympier) ist für Perikles in der antiken Literatur mehrfach belegt: Aristoph. Ach. 530; Diod. 12,40; Plin. nat. 34,81; Val. Max. 5,10, ext. 1; Plut. Perikles 8,3–4. Bereits in den Komödien des Kratinos (PCG IV, fr. 73. 118. 258. 259) wird Perikles mit Zeus verglichen. In den 425 v. Chr. aufgeführten Acharnern des Aristophanes ist der Beiname zum ersten Mal ausdrücklich genannt. Die Erklärungsversuche, die Plutarch in seiner PeriklesVita gibt, dürften sekundär sein: Plutarch führt den Beinamen in erster Linie auf die Beredsamkeit des Perikles zurück, nennt darüber hinaus aber auch die Möglichkeit, dass der Beiname mit der Pracht der in 155
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Kresilas
Das für Kresilas überlieferte Bildnis des Perikles ist möglicherweise identisch mit einer von Pausanias (1,25,1 und 1,28,2) auf der Athener Akropolis gesehenen Porträtstatue des Perikles. Da Plutarch (Perikles 3,4) jedoch von mehreren behelmten und unbehelmten Bildnissen dieses Politikers spricht und da eine auf der Akropolis gefundene und wahrscheinlich mit einer Signatur des Kresilas versehene Basis kaum zu einer Perikles-Statue gehört,156 kann diese Kombination nicht als gesichert gelten. Ebenfalls denkbar ist eine Verbindung des kresileischen Olympius Pericles mit dem in vier römischen Kopfkopien überlieferten, inschriftlich als Porträt des Perikles gesicherten Porträttypus; die aus dem Stil erschlossene Entstehungszeit des Originals in den Jahren um 430 v. Chr. lässt diese Annahme jedenfalls plausibel erscheinen. Lit. zum Porträt des Perikles: G.M.A. Richter, The Portraits of the Greeks I (1965) 102–104 Abb. 429–47; N. Himmelmann, Ideale Nacktheit in der griechischen Kunst, 26. Ergh. JdI (1990) 86–101; D. Hertel, Das Porträt des Miltiades – Zum Wandel des Feldherrnbildnisses im klassischen Athen, MM 36, 1995, 262–64; P. Zanker, Die Maske des Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst (1995) 29. 32–34; R. Krumeich, Bildnisse griechischer Herrscher und Staatsmänner im 5. Jahrhundert v. Chr. (1997) 118–25. 236–39 Kat. A 33–41 Abb. 56–62. – Zur Herme in London: Krumeich 236 Kat. A 33 Abb. 56f.
8.2.
Ephesos, Artemision: Bronzestatue einer verwundeten Amazone
Marmorkopie (Typus Sciarra-Lansdowne): Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptotek, Inv. 1658; ehemals Rom, Sammlung Barberini und Sammlung Sciarra. – Höhe 1,87 m (Sohle–Scheitel); Kopfhöhe 24,5 cm (am Abguss). – Am Abguss fehlen rechter Ellbogen und Unterarm; ergänzt sind Kleinigkeiten. – Datierung: hadrianisch-antoninisch.
perikleischer Zeit entstandenen Bauten oder der politischen Macht des Perikles zusammenhänge. Athen, Epigraphisches Museum, Inv. 6258: IG I3 Nr. 884; Krumeich 125. 238 zu Kat. A 38 Abb. 54f.
156
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Kresilas
8.2.1. Plinius, Naturalis historia 34,53 (= SQ 946) Die Behandlung der griechischen Bildhauer und ihrer Werke (54–93) beginnt Plinius nach einem Abschnitt zur Künstlerchronologie (49–53) mit der Anekdote eines Künstlerwettstreits in Ephesos, die er wahrscheinlich einem Werk des Historikers Duris von Samos (um 340 – um 270 v. Chr.) entnommen hat.157
Venere autem et in certamen laudatissimi, quamquam diversis aetatibus geniti, quoniam fecerant Amazonas, quae cum in templo Dianae Ephesiae dicarentur, placuit eligi probatissimam ipsorum artificum, qui praesentes erant, iudicio, cum apparuit eam esse, quam omnes secundam a sua quisque iudicassent. haec est Polycliti, proxima ab ea Phidiae, tertia Cresilae, quarta Cydonis, quinta Phradmonis.
Es traten aber auch die am höchsten gepriesenen Künstler, obwohl sie zu verschiedenen Zeiten geboren waren, in Wettbewerb miteinander, da sie Amazonen geschaffen hatten. Als diese im Heiligtum der Artemis zu Ephesos geweiht wurden, beschloss man, die gelungenste durch das Urteil der anwesenden Künstler selbst auswählen zu lassen. Dabei zeigte es sich, dass es diejenige war, die ohne Ausnahme alle nach ihrer eigenen als zweitbeste beurteilt hatten. Dies ist die des Polyklet, als nächste folgt die des Phidias, den dritten Platz belegt die des Kresilas, den vierten die des Kydon, den fünften die des Phradmon.
Der Einschub „quamquam diversis aetatibus geniti“ (obwohl sie zu verschiedenen Zeiten geboren waren) macht deutlich, dass Plinius selbst an der Historizität der Anekdote zweifelt. In der Tat ist nicht anzunehmen, dass die genannten Künstler anlässlich der Aufstellung der Statuen eigens aus Griechenland angereist und über die Qualität ihrer Werke abgestimmt haben. Auf das Anekdotische der Geschichte weist auch die beschriebene Entscheidungsfindung hin, wonach der von allen Zweitplazierte als Bester ausgewählt wird. Das gleiche Vorgehen schildert Herodot 8,123 bei der Wahl des Themistokles zum tapfersten Feldherrn nach der Schlacht bei Salamis. In der Anekdote vom Künstlerwettstreit kommt zum Ausdruck, dass sich die antike Kunstgeschichtsschreibung oftmals agonaler Begrifflichkeit bediente. Der Name des vierten, bei Plinius genannten Künstlers (Kydon) gilt als falsch überliefert.158 Wahrscheinlich hat Plinius oder seine Quelle das Ethnikon des Kresilas, der aus Kydonia stammt, für den Eigennamen eines anderen Künstlers gehalten. 8.2.2. Plinius, Naturalis historia 34,75 (= SQ 872) Als den Schöpfer einer verwundeten Amazone nennt Plinius auch den ansonsten unbekannten Bildhauer Ktesilaos.
Ctesilaus doryphoron et Amazonem volneratam (sc. fecit). 157 158
Ktesilaos (sc. schuf) einen Speerträger und eine verwundete Amazone.
A. Kalkmann, Die Quellen der Kunstgeschichte des Plinius (1898) 152. s. Jahn 37f.
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Kresilas
Die bereits im 19. Jh. vertretene Annahme, dass der als Ctesilaus (Ktesilaos) bezeichnete Künstler mit Kresilas identisch sei, gründet sich zum einen darauf, dass der Name des Kresilas gelegentlich verderbt (z.B. Ctesilas) überliefert wird, zum anderen darauf, dass von Kresilas bekannt ist, dass er eine Amazone geschaffen hat. Folgt man dieser Gleichsetzung, darf man jedoch nicht einen Kopistenfehler vermuten, sondern muss davon ausgehen, dass bereits Plinius die beiden Künstler voneinander trennte, da die doppelte Nennung eines Künstlers an verschiedenen Stellen im alphabetischen Bildhauerverzeichnis, zumal in solch unmittelbarer Nähe, nicht wahrscheinlich und zudem ohne Parallele ist. Drei der bei Plinius genannten Amazonenstatuen sind jeweils in einer Reihe maßgleicher römischer Kopien sowie in Form von Adaptionen, z.B. als Pfeilerfiguren aus dem Theater von Ephesos, überliefert. Die Kopien stimmen in der Größe von 1,85–1,90 m, im Material Bronze und im Thema – verwundete stehende Amazone – überein, nicht aber in der Art und der Stelle der – schwerlich tödlichen159 – Verwundung, der Gestik, den Attributen sowie dem Grad der Entblößung. Eine stilkritische Analyse der drei Amazonen erbringt, dass alle drei zur gleichen Zeit, zwischen 440 und 430 v. Chr. geschaffen worden sind. Tonio Hölscher geht davon aus, dass mit der Verpflichtung von herausragenden Bildhauern ein lokaler ephesischer Auftraggeber, vielleicht die Priesterschaft des Heiligtums, in einem „Akt der Selbstbehauptung gegen das übermächtige Athen“ (Hölscher 214) die Bedeutung des Artemisions, hier in seiner Funktion als Asyl gewährende Stätte, betonen wollte. Ein konkreter Anlass für die Vergabe des Auftrags wird nicht mehr zu ermitteln sein: Die Fertigstellung des Älteren Artemisions – nach über 100 Jahre währender Bauzeit – kommt kaum in Frage, da sie schwerlich in das dritte Viertel des 5. Jhs. fällt.160 Die Amazone des Kresilas ist mit Sicherheit in Form römischer Kopien einschließlich des Kopfes überliefert. Von drei statuarischen Typen, die jeweils anhand einer größeren Zahl von Kopien zu erschließen sind, kann einer, der Typus Mattei, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Phidias zugewiesen werden (hier Kat. 6.4.). Für Kresilas und Polyklet verbleiben die Amazone Typus Sosikles und die Amazone Typus SciarraLansdowne, doch konnten dem Kresilas bislang weder die erstgenannte161 noch die zuletzt genannte162 mit zwingenden Argumenten zugeschrieben werden. Allein die Tatsache, dass die Amazone des Kresilas in ihrer Formgebung keine fundamentalen Unterschiede zu derjenigen des Polyklet aufgewiesen haben kann, zeigt, wie schwer es ist, die ‚Handschrift’ des Kresilas zu bestimmen.163 In den antiken Schriftquellen finden sich keine Beurteilungen des Schaffens des Kresilas. Nicht weiter hilft ferner ein in mehreren Repliken greifbares Porträt des Strategen Perikles, da es nicht sicher mit der für Kresilas überlieferten Porträtstatue dieses Mannes in Verbindung gebracht werden kann (s.o.). Dass Kresilas den Auftrag für ein Porträt des Perikles erhielt, lässt indes keinen Zweifel daran, dass er einer Einschätzung als tödlich: B. Schmaltz, AA 1995, 337; Bol, Amazones 117; anders Strocka, Künstlerlexikon II, 225; T. Hölscher, BCH Suppl. 38 (2000) 211; R. Fleischer, JdI 117, 2002, 198. 160 Vgl. H. Svenson-Evers, Die griechischen Architekten archaischer und klassischer Zeit (1996) 95–99; anders aber noch Hölscher a.O. 211f.; R. Fleischer a.O. 194. 161 So zuerst H. Meyer – J. Schulze, Winckelmann’s Werke IV (1811) 356 Anm. 370; ferner Furtwängler, Meisterwerke 293: „Kresilas versetzt sich in die Seele der Verwundeten und schafft so von innen heraus.“ (zur Sosikles-Amazone); Schmaltz a.O. 335–39; Bol, Amazones 93. 162 So z.B. Floren 121; Lippold, Plastik 172. 163 Voller Zuversicht, die Handschrift des Kresilas ermitteln zu können, war Furtwängler, der auf nicht weniger als rund 70 Textseiten zu Kresilas kam (Meisterwerke 267–339). 159
Kresilas
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der bedeutendsten (Plinius: laudatissimi) Bronzegießer seiner Zeit gewesen sein muss. Die Schaffenszeit des aus der kretischen Stadt Kydonia stammenden Kresilas kann aufgrund von erhaltenen Basisinschriften und aufgrund seines gemeinsamen Auftretens mit den Künstlern Phidias und Polyklet in die Zeit von etwa 450 bis 420 v. Chr. datiert werden; seine Werke, sowohl mythologische als auch historische Gestalten, kamen in Athen, Delphi und Ephesos, aber auch an eher entlegener Stelle, in Hermione (Argolis), zur Aufstellung. Zwei seiner Skulpturen zeigten verletzte Gestalten; mit ihnen hat Kresilas ein seit dem Strengen Stil beliebtes Sujet aufgenommen. Die Konstituierung des statuarischen Typus der Amazone Typus Sciarra-Lansdowne wird Otto Jahn verdankt; die Rekonstruktion kann seit kurzem in allen Punkten als gesichert gelten: eine in Écija (Provinz Sevilla) gefundene, vollständige Replik164 beweist, dass die alte, inzwischen entfernte Ergänzung der Kopenhagener Replik mit einem auch für das Bronzeoriginal vorauszusetzenden, relativ schmalen Pfeiler zutreffend war. Lit.: O. Jahn, Über die Ephesischen Amazonenstatuen, in: Berichte über die Verhandlungen der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wiss. zu Leipzig. Phil.-Hist. Klasse, Nr. 2, 1850, 46f.; J. Floren, Die Amazone des Phidias, in: Festschrift Max Wegner (1992) 119–21; R. Bol, Amazones volneratae (1998). Lehmann/Kansteiner
164
Écija, Museum, Inv. 197. – A. Romo Salas, JRA 16, 2003, 293 mit Abb. S. 298.
62
Polyklet
9.
POLYKLET (Πολύκλειτος) aus Argos
9.1.
Olympia, Zeusheiligtum: Bronzestatue des Knabensiegers Kyniskos
9.1.1. Pausanias 6,4,11 (= SQ 948) In der Beschreibung der olympischen Siegerstatuen im sechsten, wohl in den Jahren 173– 176 n. Chr. entstandenen Buch seiner Perihegese (6,1–18) erwähnt Pausanias (um 115 – um 180 n. Chr.) die Statue des Kyniskos. Κυνίσκῳ δὲ τῷ ἐκ Μαντινείας πύκτῃ παιδὶ ἐποίησε Πολύκλειτος τὴν εἰκόνα.
Für Kyniskos, den Sieger im Knabenfaustkampf aus Mantineia, hat Polyklet die Statue (eikón) gemacht.
9.1.2. Olympia V. Die Inschriften von Olympia Nr. 149 Basis aus weißem Marmor, unten gebrochen, 18 x 64 x 56/57 cm. FO: Olympia, als Fußbodenplatte in der byzantinischen Kirche (1877); jetzt Olympia, Altes Museum, Inv. Λ 526 (165). – Inschrift, ein elegisches Distichon, umlaufend auf der Oberseite.
πύ[κ]τ̣α̣[ς] τ̣ό̣ν̣δ᾿ ἀνέθεκεν ἀπ᾿ εὐδόξοιο [Κ]υνίσκ̣ος Μαν[τ]ινέας νικν πατρὸς ἔχον ὄνομα. Maßstab 1:10
Der Faustkämpfer Kyniskos aus dem ruhmreichen Mantinea – des Vaters Namen trägt er – hat als Sieger dies165 aufgestellt. Kyniskos, Sohn des Kyniskos, stammte aus Mantinea in Arkadien. Die in der Inschrift nicht genannte Altersstufe des Dargestellten hat Pausanias sicher aus der Größe der Figur erschlossen, während der ebenfalls ungenannte Name des Künstlers vielleicht auf dem verlorenen unteren Teil der Basis angegeben war. – Das Datum des Sieges ist nicht überliefert. Da in der Liste der Olympioniken (Papyrus Ox. 222 = FGrHist 415) die Knabensieger der 79. und 80. Olympiade (464 und 460 v. Chr.) fehlen, hat als erster Carl Robert den Sieg des Kyniskos in das Jahr 460 datiert. Die Buchstabenformen der Inschrift erlauben den Schluss, dass die Statue in den Jahren nach dem Sieg, spätestens gegen 450 v. Chr. geschaffen worden ist. Auf der Oberseite der Basis zeichnet sich der Umriss des linken Fußes zwar nicht ab, doch kann die Fußlänge der verlorenen Statue anhand der Einlassungsspuren für die Fußverzapfung nach Autopsie recht präzise mit ca. 22,5–23 cm bestimmt werden.166 165 166
Gemeint ist „dieses Standbild“ (τόνδ᾿ ἀνδριάντα). Vgl. die Angaben zur Fußlänge bei K. Purgold, AZ 40, 192. – Am Epheben Westmacott habe ich eine
Polyklet
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Das Standmotiv des Kyniskos zeigt der 1,45 m große „Ephebe Westmacott“ (London, British Museum Nr. 1754) – die am besten erhaltene Kopie eines verbreiteten statuarischen Typus –, der wegen seiner polykletischen Frisur erstmals von Maxime Collignon als Kopie der verlorenen Kyniskosstatue interpretiert worden ist.167 Auf der Grundlage einer Analyse von Kompositionsform und Körperbildung vertritt die Forschung seit geraumer Zeit jedoch mehrheitlich die These, dass das Original dieses statuarischen Typus erst rund 25 bis 50 Jahre nach dem Kyniskos entstanden sei.168 Der Kyniskos selbst wird dagegen als eine Statue rekonstruiert, deren Körper- und Kopfhaltung dem Doryphoros im Gegensinn entsprochen haben soll, indem der Arm der Spielbeinseite gesenkt war und der Kopf zur Standbeinseite nach links wies. Diese Rekonstruktion überzeugt nicht: ist die Vorstellung schon bedenklich, dass der Kyniskos mit einer deutlich jüngeren Statue im Standmotiv genau übereinstimmte,169 so erscheint vor allem die Annahme heikel, Polyklet habe einer für sein Œuvre „verbindlichen“, im Doryphoros bald nach der Mitte des 5. Jhs. verwirklichten Kompositionsform bereits rund zehn Jahre zuvor vorgegriffen.170 Es kommt hinzu, dass der Ephebe Westmacott dem Kyniskos auch in der Größe entspricht und außerdem in der kleinteiligen Wiedergabe der Frisur gerade einem Frühwerk des Polyklet, dem sog. Diskophoros, näher steht als späteren Werken des Bildhauers.171 Für den Epheben Westmacott lässt sich eine Rekonstruktion mit einem in der Nähe des Kopfes in der rechten Hand gehaltenen Kranz wahrscheinlich machen.172
Fußlänge von 23,5 cm gemessen (vgl. Furtwängler, Meisterwerke 453: 23,3 cm; am Abguss in Berlin 23 cm). 167 M. Collignon, Histoire de la sculpture grecque I (1892) 499; zustimmend u.a. Furtwängler, Meisterwerke 452f. und, auf der Basis einer sorgfältigen Analyse des Befunds, Anti Sp. 596–600. 168 Vgl. A.H. Borbein, GGA 234, 1982, 213; A. Linfert in: Polyklet 245f.; Kreikenbom in: Bildhauerkunst II, 244f. („malerische Körperwiedergabe“; um 410 v. Chr.). – Anders J. Floren in: Festschrift Wegner (1992) 139 (mit Datierung des Kyniskos in das Jahrzehnt 460/50 v. Chr.) und Lehmann 119, der den Kyniskos unter Missachtung der Buchstabenformen in die Jahre um 430 v. Chr. datiert. 169 Dass die Standmotive des Epheben Westmacott und des Kyniskos nicht nur ähnlich sind, sondern übereinstimmen, ist mehrfach nachgewiesen worden, vgl. Anti Sp. 730 Abb. 86, Floren a.O., Lehmann. – Der Abstand zwischen dem rechten Fußballen und der Ferse des linken Fußes beträgt beim Epheben Westmacott 16 cm (Furtwängler; am Abguss 15 cm); für den Kyniskos kommt man anhand der Einlassungsspuren auf ca. 15 cm. 170 So aber z.B. T. Lorenz, StädelJb 14, 1993, 10: „statuarischer Aufbau setzt den des Doryphoros voraus“. 171 Vgl. Kreikenbom 244 und Floren a.O. 139. 172 Abzulehnen ist die u.a. von Linfert vertretene These, der Ephebe habe den Kranz bereits angelegt (Linfert, Polykletforschungen 150): die am Hinterkopf an etlichen Repliken zu beobachtende Abtreppung hängt mit der Haaranlage zusammen (vgl. die Kopfrepliken des sog. Diskophoros) und resultiert nicht aus einem in das Haar gepressten Kranz.
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Polyklet
Geht man davon aus, dass der Kyniskos in Olympia abgeformt und kopiert worden ist, wäre darauf hinzuweisen, dass Kopien von Siegerstatuen, die in Olympia aufgestellt waren, sonst nicht sicher bezeugt sind. Bei der Siegerstatue eines so berühmten Bildhauers wie Polyklet wäre die Abformung allerdings nicht verwunderlich. Tatsächlich scheint noch eine zweite Siegerstatue, die Polyklet für das Zeusheiligtum in Olympia geschaffen hat, kopiert worden zu sein, die des Fünfkämpfers Pythokles, der im Jahr 452 v. Chr. gesiegt hat (Paus. 6,7,10 = SQ 949): In Rom hat man im Jahr 1891 eine Basis des 2. Jhs. n. Chr. gefunden, die der Inschrift zufolge eine Statue des Pythokles von der Hand des Polyklet trug.173 Da die Angaben des Pausanias keinen Anlass zu der Vermutung geben, dass sich in Olympia im 2. Jh. n. Chr. nur noch die Basis – ohne die Statue bzw. mit einer Ersatzstatue – befunden hat, wird auf der römischen Basis eine Kopie gestanden haben. Die Buchstabenformen der erhaltenen Pythokles-Basis in Olympia174 geben keinen Hinweis darauf, dass die Statue, deren Standmotiv vielleicht demjenigen des Doryphoros ähnelte,175 erst lange Zeit nach dem Sieg aufgestellt worden ist.176 Polyklet wird vielmehr nur zu Beginn seiner bildhauerischen Tätigkeit Siegerstatuen geschaffen haben.177 Lit. zur Basis: Loewy Nr. 50; Olympia V. Die Inschriften von Olympia (1896) 255f. Nr. 149; C. Robert, Hermes 35, 1900, 174; L. Moretti, Olympionikai, in: MemLinc 1957, 97 Nr. 265; L. Semmlinger, Weih-, Sieger- und Ehreninschriften aus Olympia und seiner Umgebung, Diss. Erlangen 1974, 311–23; S. Lehmann, NüBlA 13, 1996/97, 118–20. – Zur Inschrift: L.H. Jeffery, The Local Scripts of Archaic Greece (1961) 212. 216 Nr. 30; J. Ebert, Griechische Epigramme auf Sieger an gymnischen und hippischen Agonen (1972) 82–84 Nr. 21. – Zum Epheben Westmacott: C. Anti, MonAnt 26, 1920, Sp. 596–600; A.H. Borbein, GGA 234, 1982, 213; A. Linfert in: Polyklet, Ausst.-Kat. Frankfurt 1989, 245f.; ders. in: H. Beck – P.C. Bol (Hrsg.), Polykletforschungen (1993) 147–62 (mit Replikenliste); C. Vorster, Museo Gregoriano Profano. Katalog der Skulpturen II 1 (1993) 41f. zu Nr. 12; D. Kreikenbom in: Bildhauerkunst II, 244f.
L. Moretti, IGUR IV (1990) Nr. 1580; E. La Rocca, RM 108, 2001, 196f.; die Einlassungen in der Oberseite sind laut E. Petersen, RM 6, 1891, 304f. sekundär, geben also für die Rekonstruktion des Standmotivs nichts her. 174 Olympia, Altes Museum, Inv. Λ 532. – Olympia V (1896) Nr. 162. 175 Das Standmotiv (Diskussion bei Anti Sp. 635ff.) ist ebensowenig gesichert wie die Fußgröße, die allerdings derjenigen des Kyniskos ähnlich gewesen sein könnte. – Die Inschrift der Basis in Olympia ist im 2./1. Jh. v. Chr. erneuert worden; aus den Einlassungen in der Oberseite der Basis geht außerdem hervor, dass die Statue des Pythokles zu einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt durch eine andere ersetzt worden ist. 176 So aber z.B. P.C. Bol, Künstlerlexikon II, 288 s.v. Polykleitos II. 177 Weitere polykletische Siegerstatuen aus Olympia stammen von Polyklet d. J., sind von Pausanias aber wohl für Werke des älteren Polyklet gehalten worden. 173
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Polyklet
9.2.
Aufstellungsort unbekannt: Bronzestatue eines Doryphoros
Marmorkopie: Minneapolis. – Höhe 1,97 m (Sohle–Scheitel, am Abguss); Kopfhöhe 26 cm (am Abguss). – Keine nennenswerten Ergänzungen. Fundort: angeblich Castellamare di Stabia. Datierung: augusteisch.178
9.2.1. Plinius, Naturalis historia 34,55 (= SQ 953) Zum Kontext s.u. 9.4.1.
[...(Fortsetzung von 9.4.1.)] idem (sc. Polyclitus) et doryphorum viriliter puerum. Fecit et quem canona artifices vocant liniamenta artis ex eo petentes veluti a lege quadam, solusque hominum artem ipsam fecisse artis opere iudicatur.
Derselbe (sc. Polyklet) schuf auch den Doryphoros (Speerträger), einen Jungen von männlicher Erscheinung. Er schuf auch die , die die Künstler Kanon nennen und von der sie die Richtlinien ihrer Kunst wie von einem bestimmten Gesetz ableiten, und er gilt als der einzige Mensch, der die Kunst selbst durch ein Werk der Kunst geschaffen hat.
9.2.2. Cicero, Brutus 86,296 (= SQ 954) In seinem 46 v. Chr. verfassten Dialog Brutus, in dem er selbst als Dialogfigur auftritt, behandelt Cicero (106–43 v. Chr.) die Geschichte der römischen Beredsamkeit. Nach dem Vorwort und einem Überblick über die griechische Redekunst (25–52) stellt er fünf EpoDie Datierung einer weiteren, weitgehend erhaltenen Replik in Neapel in tiberische Zeit (Zanker etc.) ist wegen der Punktbohrung der Pubes m.E. korrekt (nicht zutreffend dagegen die Frühdatierung in die Zeit um 70 v. Chr. durch H. Weinstock, RM 104, 1997, 519–26). 178
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Polyklet
chen vor: die ältesten römischen Redner (52–60), den alten Cato und seine Zeitgenossen (61–96), die Zeit der Gracchen (96–126), die Generation des Crassus und Antonius (127–228) und schließlich seine eigene Zeit (228–329). Durch seine Bemerkung, dass er die 106 v. Chr. vom Redner Licinius Crassus (140–91 v. Chr.) gehaltene Rede für die Lex Servilia iudiciaria179 des Konsuls Quintus Servilius Caepio stets als Vorbild betrachtet habe (Cicero, Brutus 164180), fühlt sich sein Gesprächspartner und Freund Titus Pomponius Atticus an einen Ausspruch des Lysipp erinnert, dass diesem der Doryphoros des Polyklet eine Lehrmeisterin (magistra) gewesen sei.
Omitto ceteros; venio ad eos, in quibus iam perfectam putas esse eloquentiam, quos ego audivi, sine controversia magnos oratores, Crassum et Antonium. De horum laudibus tibi prorsus assentior; sed tamen non isto modo: ut Polycliti doryphorum sibi Lysippus aiebat, sic tu suasionem legis Serviliae tibi magistram fuisse […].
Die übrigen (sc. Redner) lasse ich beiseite. Ich komme auf die, bei denen die Redekunst ihre Vollkommenheit erreichte, wie du glaubst, die ich auch selbst noch gehört habe, ohne Zweifel große Redner: Crassus und Antonius. Was du über ihre Vorzüge sagtest, dem stimme ich durchaus zu. Allerdings nicht ganz auf deine Weise: Wie Lysipp es für sich von dem Doryphoros des Polyklet erklärte, so du von der Rede zur Empfehlung des Servilischen Gesetzes: Es sei deine Lehrmeisterin gewesen […].
9.2.3. Quintilian, Institutio oratoria 5,12,21 (= SQ 955) Im fünften Buch seines nach 90 n. Chr. publizierten Rhetoriklehrwerks Institutio oratoria (Rhetorische Unterweisung) behandelt Quintilian (um 35 – um 100 n. Chr.) die Beweisführung und unterstreicht seine Aussage, dass der Redner nicht nur auf die stilistische Ausgestaltung seiner Rede, sondern auch auf die Auswahl und Anordnung seiner Argumente (argumenta) und Beispiele (exempla) achten müsse, durch einen Vergleich mit den bildenden Künstlern, die sich auch nicht die Eunuchen Bagoas und Megabyzos, sondern den Doryphoros zum Vorbild nähmen. Dass Quintilian dabei nicht Polyklet als Bildhauer angibt, spricht für die Bekanntheit der Statue.181
An vero statuarum artifices pictoresque clarissimi, cum corpora quam speciosissima fingendo pingendove efficere cuperent, numquam in hunc ceciderunt errorem, ut Bagoam aut Megabuzum aliquem in
Sind doch die berühmtesten Bildhauer und Maler, wenn sie in der plastischen Kunst oder der Malerei möglichst ansehnliche Körper darzustellen wünschten, niemals auf den Irrweg geraten, sich einen Bagoas oder
Mit der Lex iudiciaria wurde die seit Gaius Sempronius Gracchus übliche Besetzung der Gerichtshöfe mit Rittern ganz (so Cicero, De inventione 1,92; Cicero, De oratore 2,199f. 223; Cicero, Brutus 156. 161) bzw. teilweise (so Liv. per. 66) an den Senatorenstand zurückgegeben. 180 Mihi quidem a pueritia quasi magistra fuit, inquam, illa in legem Caeponis oratio („Mir jedenfalls“, sagte ich, „war jene Rede zum Gesetz des Caepio von Jugend auf gleichsam eine Lehrmeisterin.“). 181 Eine weitere Nennung des Doryphoros ohne Angabe des Künstlers: Sen. epist. 65,15. 179
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exemplum operis sumerent sibi, sed doryphoron illum aptum vel militiae vel palaestrae, aliorum quoque iuvenum bellicorum et athletarum corpora decora vere existimarunt […].
Megabyzos als Vorbild für ihre Arbeit zu nehmen, sondern den Doryphoros, der für den Krieg taugt und auch für die Palästra; und auch die Körper anderer junger Krieger und Athleten haben sie für wirklich schön gehalten [...].
Die Identifizierung des statuarischen Typus mit der literarisch bezeugten Figur eines von Polyklet geschaffenen Mannes mit Lanze gelang Karl Friederichs im Jahr 1863. Das Bronzeoriginal, das keine Stütze und außer dem Speer keine Attribute aufwies, dürfte ausschließlich anhand der Inschrift auf der Statuenbasis zu identifizieren gewesen sein. Wie fast alle aus Griechenland verschleppten Statuen wird auch der Doryphoros ohne Basis von seinem ursprünglichen Standort entfernt worden und so zu einer namenlosen Figur geworden sein. Pausanias hat das Original auf seiner Studienreise durch Griechenland sicher nicht mehr zu Gesicht bekommen. Die Schriftquellen bieten ebensowenig wie die Kopien und deren Attribute einen Anhaltspunkt für die Deutung des Originals. Nicht zu verwerten sind die jeweils nur einmal überlieferten Attribute Schwertband (Statue in Rom, Villa Albani Kat. 411), Fell (Umdeutung als Pan in Kopenhagen) sowie Schulterbausch (Umdeutung als Hermes in Rom, Villa Albani)182 und Chlamys (Umdeutung als Hermes in Paris, Louvre Ma 550). Auszuschließen ist eine Deutung des Originals als speerwerfender Athlet, da bei gymnischen Wettkämpfen nicht das dory, sondern ausschließlich das akontion, ein Kurzspeer, zum Einsatz kam.183 Die Deutung als Achill ist zuerst von Friedrich Hauser vertreten worden184 und hat viele Fürsprecher gefunden, u.a. Burkhardt Wesenberg und German Hafner, nicht zuletzt wegen der von Plinius (nat. 34,18) für nackte Speerträger (nudae tenentes hastam) überlieferten Bezeichnung quas Achilleas vocant.185 Den statuarischen Typus, der auf ein Original aus dem Jahrzehnt 450/440 v. Chr. zurückgeht, überliefern mindestens 25 maßgleiche Körperrepliken186 sowie mindestens 25 maßgleiche Kopfrepliken; verkleinerte Wiederholungen spielen in der Überlieferung dagegen keine nennenswerte Rolle.187 Dass das Original einen Schild gehalten habe (Franciosi), Von R.M. Schneider, Villa Albani IV (1994) 37f. zu Nr. 404 (Inv. 596) irrig als Wiederholung des Diskophoros gedeutet. Ausschlaggebend für die Verbindung mit dem Doryphoros ist die von Schneider nicht berücksichtigte Größe, die mit dem Diskophoros gerade nicht übereinstimmt. 183 Vgl. Hauser 104; Wesenberg 61. 184 Gegen die vor allem von Hauser (ÖJh 12, 1909, 104ff.) befürwortete Deutung des Doryphoros als Achill s. P.C. Bol in: Agalma, Festschrift Despinis (2001) 168f. (Polydeukes). – Themelis erwägt eine Deutung als Theseus (P. Themelis in: Festschrift Isler, 2001, 411–19), Gauer eine als Orest (W. Gauer, Eirene 36, 2000, 166–89; Eirene 38, 2002, 202). 185 Versuche, die Statue mit Schilderungen des Achill in der Ilias zu verbinden, überzeugen nicht: Hafner interpretiert die leere rechte Hand als Hinweis auf die Untätigkeit des Achill während seines Zorns; Wesenberg sieht einen im Schreiten innehaltenden Achill, der anlässlich der Leichenspiele für Patroklos eine Lanze zur Wettkampfstätte bringt (Ilias 23,884ff.). 186 Kreikenbom, Bildwerke Kat. III, 1–7, 9–14, [15–16 sind Umdeutungen], 17–22, 25–26, 28–29 sowie ein Torso in London (Smith Nr. 2035) und eine Umdeutung als Hermes im Louvre (Ma 550). – Nicht Replik ist ein Torso im Vatikan (C. Vorster, Museo Gregoriano Profano. Katalog der Skulpturen II 1 [1993] Nr. 10). 187 Nachzuweisen sind zwei Köpfe, der des Fackelträgers der sog. Ildefonso-Gruppe (vgl. W. Geominy in: Bildhauerkunst II, 296) und der Kopf, der einst ungebrochen auf einem Körper in Berlin (SMPK, Inv. 182
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Polyklet
geht aus den erhaltenen Kopien gerade nicht hervor: nicht ein einziges Mal sind Reste eines Schildes aus Marmor nachzuweisen. Polyklet ist wohl der erste Bildhauer, vielleicht der erste bildende Künstler überhaupt, der auch als Kunsttheoretiker hervorgetreten ist, indem er eine Schrift mit dem Titel Kanon verfasst hat. Diese Schrift ist zwar mit Ausnahme einiger Zitate und Paraphrasen verloren, doch lässt die Mehrzahl der erhaltenen Schriftquellen, die mit dem Kanon in Verbindung gebracht werden können,188 erwarten, dass die Schrift auf eine ‚kanonische’ Statue Bezug nahm und nicht durch eine solche illustriert wurde.189 Entgegen der Formulierung des Plinius (Kat. 9.1.1.)190 wird der ‚Kanon’ in der Regel gleichgesetzt mit dem statuarischen Typus des Doryphoros (vgl. Furtwängler 422). „Möglich bleibt aber, dass der Doryphoros erst nachträglich als Inkarnation des Kanon empfunden wurde.“191 Lit.: K. Friederichs, 23. BWPr, 1863, 3–9; Furtwängler, Meisterwerke 417–28; F. Hauser, ÖJh 12, 1909, 104–14; H. v. Steuben in: Polyklet, Ausst.-Kat. Frankfurt 1989, 185–98; D. Kreikenbom, Bildwerke nach Polyklet (1990) 59–94; ders. in: H. Beck – P.C. Bol (Hrsg.), Polykletforschungen (1993) 334–37; T. Lorenz, StädelJb 14, 1993, 7–10; G. Hafner, Polyklet. Doryphoros (1997); B. Wesenberg, JdI 112, 1997, 59–75; Künstlerlexikon II (2004) 277f. s.v. Polykleitos I (E. Berger); P.C. Bol in: Bildhauerkunst II (2004) 127–29; V. Franciosi, Il ‚Doriforo’ di Polycleto (2003); ders., Eidola 1, 2004, 61–89. – Zur Replik in Minneapolis: Kreikenbom, Bildwerke Kat. III 1 Taf. 104–07; H. Schwarzer in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 432f.
Sk 1942) saß und nach der Trennung vom Körper über den Kunsthandel nach Madrid gelangt ist (Madrid, Museo Arqueológico Nacional, Inv. 2002/114/2. – Lit.: Reflejos de Apolo. Ausst.-Kat. Almería [2005] 162f. Kat. 18 mit Abb.; Sotheby’s New York 8.6.1994 Nr. 67 u. Frontispiz. – Zum Zustand vor der Trennung s. P. Zanker, Klassizistische Statuen [1974] Taf. 5,3). 188 Hier Kat. 9.1.1.; Lukian (SQ 956f.), Galen (SQ 958f.), Tzetzes (SQ 960). Die Texte dieser drei Autoren zum Kanon finden sich samt Übersetzung bei N. Kaiser in: Polyklet, Ausst.-Kat. Frankfurt 1989, 72f. 74–76. 78. 189 Vgl. T. Lorenz, StädelJb 14, 1993, 8f.; A.H. Borbein, in: Die griechische Klassik (2002) 356; anders Galen de plac. 5 (= SQ 959): erst die Schrift, dann die Statue. 190 Die Passage Plin. nat. 34,55 weist etliche Ungereimtheiten auf: schwerlich zutreffend ist die Angabe zur Herkunft des Polyklet (Sikyon statt Argos) und die Angabe, dass der spätestens gegen 540 v. Chr. geborene Ageladas sein Lehrer gewesen sei. 191 A.H. Borbein, GGA 1982, 234. – Zum Kanon vgl. Borbein, ebenda 232ff.; ders. in: Die griechische Klassik (2002) 354ff.; N. Koch, Techne (2000) 113ff.; W. Sonntagbauer in: Festschrift Felten (2002) 123–30.
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Polyklet
9.3.
Ephesos, Artemision: Bronzestatue einer verwundeten Amazone
Kopie in Wörlitz
Marmorkopie (Typus Sosikles): Rom, Museo Capitolino, Inv. 651. – Höhe 1,875 m (Sohle–Scheitel, am Abguss); Kopfhöhe 25 cm. – Ergänzt sind der rechte Arm und der linke Unterarm samt Hand und dem von der Hand gehaltenen Stück des Gewandes. – Fundort: Frascati bei Rom.192 Datierung: antoninisch.
9.3.1. Plinius, Naturalis historia 34,56 (= SQ 946) Zum Text s. Kat. 8.2.1. (Kresilas) Zu den Amazonenstatuen, die im Artemision von Ephesos aufgestellt worden sind, s. Kat. 8.2. (Kresilas). Die zwischen 440 und 430 v. Chr. geschaffene Amazone des Polyklet ist zwar mit Sicherheit in Form römischer Kopien einschließlich des Kopfes überliefert, doch konnten für eine Entscheidung zwischen den beiden in Frage kommenden statuarischen Typen der Amazone Sosikles193 und der Amazone Sciarra-Lansdowne (so Furtwängler und zuletzt Bol) bislang keine zwingenden Argumente beigebracht werden: eine paradoxe Situation, ist die ‚Handschrift’ des Polyklet doch so gut zu bestimmen wie die keines anderen antiken Bildhauers. Zur Amazone Sciarra-Lansdowne s. oben Kat. 8.2. (Kresilas). Für die Erschließung des statuarischen Typus der Amazone Typus Sosikles zeichnet vor allem Adolf Michaelis verantwortlich, der im ersten Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts eine Rekonstruktion vorlegte, die wenige Jahre später von Adolf Furtwängler modifiziert worden ist. Die einzige Unsicherheit, die bis heute geblieben ist, betrifft die genaue Haltung des rechten Arms, der sich bei keiner der zehn bekannten Körperrepliken erhalten hat.194 Aufschluss über die Haltung gibt eine Wiederholung der Amazone Typus Sosikles Den Fundort hat erst P. Liverani ermittelt, vgl. BMusRom 10, 1996, 98–101. So zuerst B. Graef, JdI 12, 1897, 83, aufgrund des Vergleiches der Kopfform mit dem Diadumenos, ferner v. Steuben; J. Floren in: Festschrift Wegner (1992) 120f. 194 Allen Restauratoren ist entgangen, dass es sich um eine Figur handelt, die sich aufstützt. 192
193
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auf einer Gemme in Paris, die erkennen lässt, dass der rechte Arm in Kopfnähe eine annähernd senkrecht positionierte Lanze umfasst.195 Als einzige der drei Amazonen trägt die Amazone Typus Sosikles zusätzlich zum kurzen Chiton einen Mantel, der den Rücken bedeckt. Mit der linken Hand greift sie ein Stück vom Chiton, um zu verhindern, dass der Stoff mit dem Blut verklebt, das aus einer Wunde unterhalb der rechten Brust tritt. Der auf der Baumstammstütze der Kopie im Museo Capitolino erhaltene Schriftzug Σωσικλῆ[ς]196 wird trotz des Fehlens von ἐποίει/ἐποίησεν (epoíei/epoíesen) als ‚Signatur’ des Kopisten angesehen.197 Dies ist in der Tat eher wahrscheinlich als eine Besitzer- oder Stifterangabe, da es nachweislich einen Bildhauer Namens Sosikles gegeben hat, der allerdings schon im 1. Jh. v. Chr. oder 1. Jh. n. Chr. in Buthrotum (Butrint/Albanien) tätig war.198 Lit.: A. Michaelis, Die sogenannten ephesischen Amazonenstatuen, JdI 1, 1886, 14–47; Furtwängler, Meisterwerke 291–96; H. v. Steuben, Die Amazone des Polyklet, in: H. Beck – P.C. Bol (Hrsg.), Polykletforschungen (1993) 73–102 mit Abb.; Künstlerlexikon II (2004) 284f. s.v. Polykleitos I (E. Berger); R. Bol in: Bildhauerkunst II (2004) 145–58; GK Denkmäler (2007) Nr. 523.
9.4.
Aufstellungsort unbekannt: Bronzestatue eines ‚Diadumenos’
Marmorkopie: Athen, Nationalmuseum, Inv. 1826. – Höhe 1,85 m (Sohle–Scheitel); Kopfhöhe 25 cm (am Abguss). – Ergänzt ist die Nasenspitze. – Fundort: Delos, ‚Haus des Diadumenos’ (1894). Datierung: späthellenistisch, um 100 v. Chr. 195 Furtwängler, Meisterwerke 291f. Abb. 39; Bol, Amazones 25f.; zur Gemme ebenda 194f. Kat. II.14 Taf. 70a–b. – Bei der Kopfreplik in Kopenhagen (Bol, Amazones Kat. II.27 Taf. 94) ist der Rest eines Steges erhalten, der vom Kopf zum Handgelenk der rechten Hand geführt haben wird. 196 Der letzte Buchstabe ist offenbar vergessen worden. 197 So M. Donderer, ÖJh 73, 2004, 82f. mit Abb.; vorsichtiger dagegen Loewy Nr. 434. 198 J. Bergemann, Die römische Kolonie von Butrint und die Romanisierung Griechenlands (1998) 66. 133f. Kat. Th 4; O.J. Gilkes (Hrsg.), The Theatre at Butrint. Ugolini’s Excavations (2003) 233–35 Nr. 10 mit Abb.; 250.
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Polyklet
9.4.1. Plinius, Naturalis historia 34,55 (= SQ 952) Im Abschnitt über die griechische Bildhauerkunst im 34. Buch seiner wohl 77 n. Chr. publizierten Naturalis historia (49–93) behandelt Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) nach einer chronologischen Übersicht (49–53) zunächst die berühmten Künstler wie Phidias, Polyklet und Myron (53–71). In den beiden Kapiteln zu Polyklet (55–56) zählt er dessen Werke auf und macht am Ende noch eine allgemeine Bemerkung zu dessen Kunst.
Polyclitus Sicyonius, Hageladae discipulus, diadumenum fecit molliter iuvenem, centum talentis nobilitatum [… (Fortsetzung s. 9.2.1.)]
Polyklet aus Sikyon, Schüler des Hageladas,199 schuf den Diadumenos (jemand, der sich eine Kopfbinde umlegt), einen jungen Mann von weichlicher Erscheinung, bekannt geworden durch seinen Preis von 100 Talenten [… (Fortsetzung s. 9.2.1.]
9.4.2. Lukian, Philopseudes 18–19 Der Text erscheint vollständig unter Kat. 5.1.3. (Myron). Οὐκ ἐκεῖνον, ἦ δ᾿ ὅς, ἐπεὶ τῶν Μύρωνος ἔργων ἓν καὶ τοῦτό ἐστιν, ὁ δισκοβόλος ὃν λέγεις· οὐδὲ τὸν παρ᾿ αὐτόν φημι, τὸν διαδούμενον τὴν κεφαλὴν τῇ ταινίᾳ, τὸν καλόν, Πολυκλείτου γὰρ τοῦτο ἔργον.
Und auch den neben ihm meine ich nicht, den der sich gerade eine Stirnbinde um den Kopf legt (diadúmenos), den Schönen, denn das ist ein Werk des Polyklet.
Die Identifizierung des statuarischen Typus mit der von Plinius und Lukian erwähnten Figur eines von Polyklet geschaffenen Mannes, der sich eine Binde um den Kopf legt, gelang Adolf Michaelis im Jahr 1878. Die archäologische Forschung ist sich heute darin einig, dass die Statue in Athen zusammen mit einer umfangreichen Reihe weiterer, jüngerer Repliken ein Original kopiert, das dem Stil zufolge um 430/420 v. Chr. entstanden ist. Für eine Deutung des Originals bieten die beiden Schriftquellen und eine weitere Erwähnung der Figur bei Seneca200 nicht den geringsten Anhalt. Da das Werk – im Unterschied zur Kopie in Athen – aus Bronze bestand und somit weder eine Stütze noch Attribute aufwies, konnte der Betrachter ausschließlich anhand der Inschrift auf der Statuenbasis erkennen, wer dargestellt war. In Frage kommt eine Deutung als Gott (Apollon), Heros (z.B. Theseus) oder Athlet.201 Sollte es sich um einen Athleten gehandelt haben, hätte die Statue mit einer Höhe von 1,85 m zu einer Gruppe von Siegerstatuen gehört, deren Größe von 1,80 bis 1,90 m die übliche Körpergröße von durchschnittlich ca. 1,70 m202 Der Name des Künstlers ist auch als Ageladas und Hagelades überliefert, in byzantinischer Zeit sogar zu Gelades verschrieben, vgl. SQ 389ff. 200 Seneca, ep. Mor. 65,4. – Polyklet, Ausst.-Kat. Frankfurt 1989, 57f. Nr. 28. 201 Zur Debatte vgl. F. Rausa, L’ immagine del vincitore (1994) 107 Anm. 98. – Die von G. Hafner (ÖJh 61, 1991/92, 59–61) als Kronzeuge für eine Deutung des Originals als Theseus bemühte Schnellwaage in Form einer bronzenen Büstenwiederholung des Diadumenos, die laut Inschrift einem Beamten namens Theseus gehört hat, erlaubt keine Aussage zum Inhalt des Vorbilds. 202 Zur Größe von Männern in der Antike vgl. K. Dahmen, Untersuchungen zu Form und Funktion klein199
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Polyklet
überstieg. Als Athletenstatue müsste die Figur von einem in Olympia oder anderswo siegreichen Athleten bzw. seiner Familie oder seiner Polis bei Polyklet in Auftrag gegeben worden sein. Sollte es sich beim Original dagegen um eine Darstellung des Apollon gehandelt haben, wäre der Gott zwar rund 15 cm kleiner wiedergegeben als der Doryphoros/Achill (Kat. 9.2.),203 aber größer als der polykletische Hermes (1,82 m).204 Die älteste, auf Delos gefundene Replik weist als Attribut an der Stütze einen Köcher auf,205 der dafür spricht, dass der Kopist im Diadumenos Apollon gesehen hat. Es ist davon auszugehen, dass der Bildhauer der frühesten erhaltenen Kopie eines polykletischen Werkes überhaupt (noch keine Massenproduktion!) noch den Inhalt des Originals gekannt hat. Spätere Kopisten haben die Bedeutung des Originals anscheinend ebensowenig wie die Schriftsteller ermitteln können: Keine der übrigen Repliken ist als Apollon kenntlich gemacht; als Stütze mehrfach überliefert ist ein für Athletenfiguren üblicher Palmstamm.206 Um gezielte Umdeutungen des Apollon als Athlet wird es sich bei diesen Stücken nicht handeln, da Umdeutungen griechischer Statuen gerade umgekehrt vorgenommen wurden, indem man vorzugsweise Athleten in Hermes und Apollon in Dionysos umwandelte.207 Ernst Berger hat die Deutung des Originals als Apollon zusätzlich dadurch stützen wollen, dass er eine kaiserzeitliche Statue in Lissabon208 mit Köcher am Stamm als Kopie des Diadumenos deutete. Bei der kopflosen Figur waren ursprünglich jedoch beide Oberarme gesenkt, so dass eine Verbindung mit dem Diadumenos ausgeschlossen werden kann.209 Hinzuweisen ist aber darauf, dass sich auf der Agora in Athen ein Apollon unbekannter Hand befand, der „sich mit Hilfe einer Tänie das Haar aufbindet“ (ἀναδούμενος ταινίᾳ τὴν κόμην)210 und der zweifellos nicht nur durch seine Aufstellung neben Herakles und Theseus oder durch ein um den Körper geführtes Köcherband,211 sondern vor allem anhand der Inschrift als Gott kenntlich gewesen sein muss. Zur Bezeichnung des Diadumenos als molliter iuvenis (Plinius) schreibt Furtwängler:212 formatiger Porträts in der römischen Kaiserzeit (2001) 3. Größer als der Diadumenos war der Herakles des Polyklet, dessen Körperhöhe mit ca. 59 cm fast derjenigen des Doryphoros entspricht; zum Herakles vgl. S. Kansteiner, Herakles (2000) 94ff. 204 Der statuarische Typus des Hermes ist gesichert, da der Kopf der um eine Chlamys bereicherten Kopie im Giardino Boboli in Florenz nach Autopsie (1997 und 2005) zweifellos zugehört. Körperreplik dieses Hermes ist ein Torso im Thermenmuseum (Kreikenbom, Bildwerke Kat. II 19). Bei einem Kopf in Privatbesitz (ehem. Rom, Asturri) und einem Kopf mit Petasos in Korinth (S 2755), die beide als Repliken des Hermes angesehen werden (Kreikenbom in: Polykletforschungen 333 mit Abb. 17–20 und Kreikenbom, Bildwerke Kat. II 13; A. Ajootian, AM 118, 2003, 204 Taf. 52,3), handelt es sich dagegen eindeutig um maßgleiche Repliken des sog. Diskophoros, eines Frühwerks des Polyklet. 205 Der Bogen ist gegen E. Löwy, ÖJh 8, 1905, 271 nicht vorhanden. – Zur Gestaltung der Stütze vgl. F. Hauser, ÖJh 9, 1906, 281: „Unter sämtlichen mir bekannten Stützen antiker Marmorstatuen erinnere ich mich keiner, die mit einer so rührenden Engelsgeduld ausgeführt wäre.“ 206 Nicht antik sind nach Autopsie die Halteres (Sprunggewichte) an der Stütze der Replik im Hof des Palazzo Torlonia. 207 Beispiele bei S. Kansteiner in: V.M. Strocka (Hrsg.), Meisterwerke, Symposion anlässlich des 150. Geburtstages von A. Furtwängler, Freiburg 2003 (2005) 63f. 65. 69. 208 V. de Souza, CSIR Portugal (1990) Nr. 118; die Torsolänge entspricht nach Autopsie allerdings der des Diadumenos. 209 In die Irre führt ferner der Hinweis von F. Hauser (ÖJh 12, 1909, 101) auf eine vermeintliche Torsoreplik des Diadumenos aus dem Pythion in Gortyn (MonAnt 18, 1907, 254ff. Nr. 3 Abb. 32f.): der Torso gehört zu einer Replik des Athleten Perinth-Kyrene (s. I. Romeo – E. C. Portale, Gortina III [1998] Kat. 4). 210 Paus. 1,8,4. 211 So aber E. Löwy, ÖJh 8, 1905, 271. 212 Furtwängler, Meisterwerke 443.
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„Zu dem Gesamteindrucke grösserer Weichheit [gegenüber dem Doryphoros] trägt aber auch die geneigte Haltung des Kopfes nicht unwesentlich bei.“ Erscheint die Charakterisierung des Diadumenos noch nachvollziehbar, so bleibt doch, die Richtigkeit der Identifizierung vorausgesetzt, ganz unklar, worin andererseits das Knabenhafte des Doryphoros (viriliter puer) bestanden haben soll. Die Kopie aus Delos war ursprünglich, sicher zum Zweck der farblichen Angleichung an das Bronzeoriginal, vollständig mit einem Überzug aus feinstem Blattgold versehen.213 Ihr Bildhauer hat Einzelheiten der Frisur, besonders an den Kopfseiten recht frei und z.T. auch durchaus grob gestaltet. Der statuarische Typus ist fast im gesamten Mittelmeerraum nachzuweisen, vor allem in Form von maßgleichen Kopien aus Marmor. Die Beliebtheit des Diadumenos hat in der jüngeren Forschung allerdings dazu geführt, dass man mit dem Typus Köpfe in Verbindung gebracht hat, die mit dem Diadumenos lediglich das Vorhandensein einer Haarbinde teilen. Vom Diadumenos zu trennen ist aber beispielsweise – im Anschluss an die ältere Forschung214 – ein Kopffragment in Budapest,215 dessen Haaranlage oberhalb der deutlich tiefer sitzenden Binde vollständig vom Diadumenos abweicht. Wie weit eine Nachbildung vom Vorbild entfernt sein kann, lässt sich dagegen an einer in der zweiten Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. angefertigten Statue in London (British Museum Nr. 501) anschaulich machen: aufgrund seiner geringen bildhauerischen Qualität ist der sog. Anadumenos Farnese (Abb.) erst in den 1970er Jahren als verkleinerte und erheblich vereinfachte Adaption des polykletischen Diadumenos bestimmt worden.216 Aus der Luft gegriffen ist indes die noch in jüngster Zeit vertretene Annahme, der Statue in London liege eine in späthellenistischer Zeit entstandene Umbildung des polykletischen Werkes zu Grunde.217 Die Vereinfachungen in der Haltung des rechten Armes und des Spielbeins sind durchaus nicht das Ergebnis einer bewussten Umbildung, sondern resultieren aus dem Bestreben des Steinmetzen, die Gliedmaßen nicht zu weit vom Körper zu lösen.218 Die Möglichkeit einer bewussten Umbildung scheidet auch deshalb aus, weil die Statue trotz der
B. Bourgeois – P. Jockey, BCH 128/129, 2004/5, 335–39. – Auch die Stütze war vergoldet! Vgl. etwa E. Langlotz in: Festschrift Mercklin (1964) 76f. 215 P. Zanker, Klassizistische Statuen (1974) 17; Kreikenbom Kat. V 58 Taf. 347; C. Maderna-Lauter in: Polyklet, Ausst.-Kat. Frankfurt 1989, 634f. Nr. 164 (dort ist die angebliche Abhängigkeit vom Diadumenos nicht einmal begründet). 216 Zanker a.O. 13f. – Nicht antik ist dagegen eine verkleinerte Kopfwiederholung des Diadumenos in der Sammlung Fleischman, W.G. Moon (Hrsg.), Polykleitos, the Doryphoros, and Tradition (1995) Abb. S. 237. 217 M. Fuchs, In hoc etiam genere Graeciae nihil cedamus (1999) 90f.; vgl. aber D. Kreikenbom, Bildwerke nach Polyklet (1990) 140; A. Stähli in: K. Stemmer (Hrsg.), Kaiser Marc Aurel und seine Zeit, Ausst.-Kat. Berlin 1988, 206. 218 Ähnliches gilt beispielsweise für den sog. Herakles Hope (in Los Angeles), vgl. S. Kansteiner, Herakles. Die Darstellungen in der Großplastik der Antike (2000) 23f. 213
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Knabengröße von 1,48 m eine entwickelte Pubes aufweist,219 was im Übrigen auch die schon von Johann Joachim Winckelmann220 erwogene und ausdrücklich von Furtwängler befürwortete Verbindung mit der von Pausanias in Olympia erwähnten Statue eines siegreichen Knaben von der Hand des Phidias (Paus. 6,4,5 = SQ 757) ausschließt. Lit. zum Diadumenos: A. Michaelis, AdI 1878, 10–24; Furtwängler, Meisterwerke 435–44; P.C. Bol in: Polyklet, Ausst.-Kat. Frankfurt 1989, 206–12; D. Kreikenbom, Bildwerke nach Polyklet (1990) 109–40. 188–203; ders. in: H. Beck – P.C. Bol (Hrsg.), Polykletforschungen (1993) 338f.; Künstlerlexikon II (2004) 279 s.v. Polykleitos I (E. Berger); P.C. Bol in: Bildhauerkunst II (2004) 130–32 Abb. 84f. – Zu den Texten: S. Settis, Fortuna del Diadumeno: I Testi, NumAntCl 21, 1992, 51–68. – Zur Replik in Athen: Kreikenbom, Bildwerke 188 Kat. V 1; E. Berger, Der Entwurf des Künstlers, Ausst.-Kat. Basel 1992, 118ff.; K. Braoudakis in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 397 Nr. C 38. – Zum sog. Anadumenos: J.J. Winckelmann, Ville e Palazzi di Roma (2003) 128. 365; GK Denkmäler (2007) Nr. 549. Hallof/Lehmann/Kansteiner
219 220
Kaum zutreffend Zanker a.O. 14 mit Anm. 91 („bewußter Kunstgriff“). J.J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums (21776) 653 Anm. 3.
Naukydes
75
10.
NAUKYDES (Ναυκύδης) aus Argos
10.1.
Aufstellungsort unbekannt: Statue eines Athleten mit Diskus
Kopfreplik im Mus. Nuovo Capitolino
Marmorkopie: Rom, Vatikanische Museen, Inv. 2349 (Sala della Biga Nr. 615). – Höhe 1,66 m (Sohle–Scheitel); Kopfhöhe 22 cm. – Zu den Ergänzungen s. Bol 114; nicht zugehörig ist der Kopf; gefunden von Gavin Hamilton in der sog. Villa des Gallienus an der Via Appia (1771). Datierung: augusteisch (?).
10.1.1. Plinius, Naturalis historia 34,80 (= SQ 996) Im Abschnitt über die griechische Bildhauerkunst im 34. Buch seiner Naturalis Historia zählt Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) nach der chronologischen Behandlung der berühmtesten Bildhauer (53–71) weitere weniger bekannte Bildhauer und deren Werke auf (72–84).
Naucydes Mercurio et discobolo et immolante arietem censetur.
Naukydes wird nach seinem Hermes, seinem Diskuswerfer und seinem Mann, der einen Widder opfert, beurteilt.
Mit dem Diskuswerfer nimmt Plinius bzw. die von ihm verwendete Quelle sicher Bezug auf die Statue eines Athleten, der in einem der vier panhellenischen Agone im Pentathlon, zu dem der Diskuswurf zählte, gesiegt hat. Ein in mehr als zehn Kopien überlieferter statuarischer Typus eines lebensgroßen, fast erwachsenen Athleten mit einem Diskus in der linken Hand, der sog. ‚antretende’ Diskobol, ist mit zwingenden Argumenten auf ein Original der Polykletschule bezogen worden. Die erstmals von Ennio Quirino Visconti221 als wahrscheinlich angesehene Verbindung mit dem Bildhauer Naukydes ist nicht gesichert, aber statthaft, da die Schriftquellen außer 221
E.Q. Visconti, Museo Pio Clementino III (1790) 119f.; ders., Musée Pie-Clémentin III (1819) 130ff.
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Naukydes
für Myron nur für ihn die Statue eines Diskuswerfers überliefern.222 Naukydes stammt einer Angabe des Pausanias (6,1,3) zufolge aus Argos, wo er mit großer Wahrscheinlichkeit von Polyklet ausgebildet worden ist (keine Schriftquelle!). Mit dieser These korrespondiert die plausible Angabe des Plinius (nat. 34,50), dass sich Naukydes zur Zeit der 95. Olympiade (400–397 v. Chr.) auf dem Höhepunkt seines Schaffens befunden habe. Noch im ausgehenden 5. Jh. hat Naukydes außerdem Alypos aus Sikyon (SQ 1002–1003) als Bildhauer ausgebildet, der im letzten Jahrzehnt des 5. Jhs. mit eigenen Werken an die Öffentlichkeit trat.223 Eine in Olympia gefundene Basis gibt zu erkennen, dass Naukydes für die Statue des Athleten Eukles224 ein mit dem Diskobolen vergleichbares Standmotiv benutzt hat. Die zugehörige Statue ist ebenso wenig wie die übrigen sechs bis sieben für Naukydes literarisch oder epigraphisch bezeugten Statuen in Form von Kopien nachzuweisen. Allenfalls bei dem Hermes Typus Pitti/Lansdowne, der dem Stil zufolge auf ein Original aus dem letzten Viertel des 5. Jhs. zurückgeht und in einer Reihe lebensgroßer römischer Kopien überliefert ist,225 erscheint eine Verbindung mit dem Hermes, den Plinius dem Naukydes zuschreibt, denkbar. Die Kopfrepliken des Hermes gleichen indes in der Haaranlage dem sicherlich später entstandenen Diskobolen nicht so sehr, dass die wiederholt erwogene Verbindung mit Naukydes als zwingend anzusehen wäre. Zu den bisher bekannten Kopien des statuarischen Typus des ‚antretenden’ Diskobolen, der ausschließlich in Form von maßgleichen Repliken aus Marmor überliefert ist, sind nachzutragen Kopfrepliken in Oxford (auf nicht zugehöriger Statue), in Florenz (Museo Archeologico) und in Privatbesitz (antik?, ehemals angeblich in Monterotondo bei Rom) sowie eine bereits 1776 gefundene Körperreplik im Castello di Lanciano (Marche, s. Abb.).226 Kopie im Castello di Lanciano
Für Alkamenes überliefert Plinius (nat. 34,72) einen Fünfkämpfer. Die Existenz eines zweiten Naukydes ist nicht gesichert. Einziger, ernsthaft zu erwägender Hinweis auf einen zweiten, jüngeren Naukydes, der als Sohn eines Mothon und jüngerer Bruder des jüngeren Polyklet anzusehen wäre, ist Paus. 2,22,7 (SQ 995). Zur Diskussion vgl. Bol 70f. 224 Paus. 6,6,2 (= SQ 1001); zur Inschrift: Olympia V Nr. 159; Bol 65f. Abb. 64–66. 225 Einige der Kopien des Hermes weisen einen Porträtkopf auf, so etwa die in New York aufbewahrte Statue aus der Sammlung Lansdowne (Bol 78f. Abb. 75). 226 Oxford: A. Michaelis, Ancient Marbles in Great Britain (1882) 552 Nr. 42. – Florenz: L.A. Milani, Il R. Museo Archeologico di Firenze (1912) 310 Nr. 24 Taf. 151 ganz rechts. – Ehemals Monterotondo: P. Barbina et al., in: Roman Villas around the urbs. Konferenz Rom 2004 (2005) 44 Abb. 17. – Castello di Lanciano: E. Catani, Gli scavi Bandini ad Urbisaglia, AnnMac 21, 1988, 266 Abb. 12. – Bei dem Torso im libyschen Tripolis (Bol a.O. 118 Kat. IIa) handelt es sich nach Autopsie um eine maßgleiche Kopie. 222 223
Naukydes
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Die vielleicht in augusteischer Zeit angefertigte Kopie im Vatikan ist kurz nach ihrer Entdeckung nachhaltig restauriert worden. Wilhelm Heinse schreibt während seines Italien-Aufenthalts im Jahr 1782/83:227 „Eine schöne Figur, aber so zusammengesetzt und verschmiert und verkleistert und begipst und bestrichen und alt gebeitzt, daß es einen ärgerlich macht.“ Gavin Hamilton, der vor allem in der Umgebung von Rom zahllose Antiken (u.a. zwei Panstatuen von der Hand des Kerdon, hier Kat. 22) zu Tage gefördert hat, hatte den Erhaltungszustand als gut bezeichnet228 und möglicherweise gar nicht bemerkt, dass der kopflosen Figur ein in der Größe passender antiker Kopf aufgesetzt wurde, der ursprünglich nicht dazugehörte.229 Lit.: P.C. Bol, Der Antretende Diskobol (1996); ders. in: Künstlerlexikon II (2004) 110–12; W. Geominy in: Bildhauerkunst II (2004) 290f. – Zur Replik im Vatikan: Bol 46–48 Abb. 39–41; S. 54f. 114. – Zur sog. Villa des Gallienus: R. Neudecker, Die Skulpturenausstattung römischer Villen in Italien (1988) 189–91 Nr. 38. Kansteiner
Wilhelm Heinse, Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass, hrsg. von M. Bernauer et. al., Bd. I (2003) 778. 228 A.H. Smith, Gavin Hamilton’s Letters to Charles Townley, in: JHS 21, 1901, 312. 229 Zum antiken Kopf, der wohl ebenfalls einen Athleten wiedergibt, existiert eine maßgleiche Replik in Leptis Magna (Libyen), vgl. EAA V (1963) 363 Abb. 488.
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Kephisodot
11.
KEPHISODOT (Κηφισόδοτος) aus Athen (?)
11.1.
Athen, Agora: Bronzestatue der Eirene
Marmorkopie: München, Glyptothek, Inv. 219; ehemals Rom, Villa Albani. Höhe 2,01 m (Sohle–Scheitel); Kopfhöhe 27 cm. Am Abguss ergänzt (an der Marmorstatue fehlend): der rechte Arm, die linke Hand mit Füllhorn; Arme und Füße des Plutos, Kleinigkeiten. – Datierung: 1. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr.
11.1.1. Pausanias 1,8,2 (= SQ 1143) Im ersten, um 160 n. Chr. verfassten Buch seiner Perihegese, in dem Athen und Attika behandelt werden, erwähnt Pausanias (um 115 – um 180 n. Chr.) im südwestlichen Bereich der Athener Agora das Standbild der Eirene mit dem Plutosknaben. Eirene ist die Göttin des Friedens und nach Hesiod (Theogonie 901–903) als Tochter des Zeus und der Themis neben ihren Schwestern Eunomia und Dike eine der drei Horen. Μετὰ δὲ τὰς εἰκόνας τῶν ἐπωνύμων ἐστὶν ἀγάλματα θεῶν, Ἀμφιάραος καὶ Εἰρήνη φέρουσα Πλοῦτον παῖδα.
Nach den Standbildern (eikónes) der Eponymen folgen Statuen von Göttern sowie ein Amphiaraos und eine Eirene, die den Plutosknaben hält.
11.1.2. Pausanias 9,16,1–2 (= SQ 1142) Im neunten, um 180 n. Chr. verfassten Buch, in dem Böotien behandelt wird, kommt Pausanias bei der Beschreibung einer ikonographisch vergleichbaren Tyche-Statue der Künstler Xenophon und Kallistonikos in Theben noch einmal auf die Athener Eirene-Statue zurück und gibt als deren Künstler Kephisodot an. Θηβαίοις δὲ μετὰ τοῦ Ἄμμωνος τὸ ἱερὸν οἰωνοσκοπεῖόν τε Τειρεσίου
Bei den Thebanern befindet sich nach dem Heiligtum des Ammon die
Kephisodot
καλούμενον καὶ πλησίον Τύχης ἐστὶν ἱερόν· (2) φέρει μὲν δὴ Πλοῦτον παῖδα· ὡς δὲ Θηβαῖοι λέγουσι, χεῖρας μὲν τοῦ ἀγάλματος καὶ πρόσωπον Ξενωφῶν εἰργάσατο Ἀθηναῖος, Καλλιστόνικος230 δὲ τὰ λοιπὰ ἐπιχώριος. Σοφὸν μὲν δὴ καὶ τούτοις τὸ βούλευμα, ἐσθεῖναι Πλοῦτον ἐς τὰς χεῖρας ἅτε μητρὶ ἢ τροφῷ τῇ Τύχῃ, σοφὸν δὲ οὐχ ἧσσον Κηφισοδότου· καὶ γὰρ οὗτος τῆς Εἰρήνης τὸ ἄγαλμα Ἀθηναίοις Πλοῦτον ἔχουσαν πεποίηκεν.
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so genannte Vogelschauwarte des Teiresias und in der Nähe ein Heiligtum der Tyche: (2) trägt den Plutosknaben. Wie die Thebaner sagen, schuf der Athener Xenophon Hände und Gesicht der Statue (ágalma), der einheimische Kallistonikos das Übrige. Klug ist die Entscheidung dieser , der Tyche als Mutter oder Amme Plutos in die Arme zu legen, nicht weniger klug als die des Kephisodot. Denn dieser schuf für die Athener die Statue (ágalma) der Eirene, die den Plutos hält.
Die Münchner Statue, die das in etlichen maßgleichen römischen Marmorkopien überlieferte Original231 am vollständigsten wiedergibt, schätzte bereits Johann Joachim Winckelmann für ihre Schönheit, deutete sie aber noch als Darstellung der Ino Leukothea mit dem Dionysoskind. Im dritten Viertel des 19. Jhs. äußerten einige Forscher, darunter auch Johannes Overbeck,232 die Vermutung, dass es sich bei ihr um eine Kopie der von Pausanias beschriebenen Statue der Eirene mit dem Plutosknaben handeln könnte. Die Identifizierung des Typus wird in der Regel Heinrich Brunn zugeschrieben, der diese in seinem Aufsatz „Über die sog. Leukothea“ aus dem Jahr 1867 vorschlug.233 Eine Replik des Knaben (Athen, Nationalmuseum, Inv. 175), die 1881 im Piräushafenbecken gefunden wurde, belegt, dass Eirene in der linken Hand ein Füllhorn hielt, an dem das Kind zusätzlichen Halt fand. Diese Rekonstruktion wird durch Abbildungen der Statue auf Panathenäischen Preisamphoren (s. Abb.),234 römischen Münzen und einer hellenistischen Gemme235 bestätigt, aus denen hervorgeht, dass das Füllhorn über den Kopf des Knaben herausragte und Blüten beinhaltete. Aus den Nachklängen in der Vasenmalerei und Kleinkunst lässt sich auch die Haltung des rechten Arms erschließen, der an keiner Replik erhalten ist: Der Oberarm war zur Die Überlieferung des Künstlernamens Kallistonikos beruht auf der Handschrift P, Parisinus gr. 1410 (Datierung: 1491). In der Haupthandschrift β, dem Exemplar des italienischen Humanisten Niccolò Niccoli (1363–1437), ist der Name zu κάλλιστον νίκος verschrieben. 231 Neueste Replikenliste bei N. Agnoli, Xenia Antiqua 7, 1998, 22f. 232 J. Overbeck, Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen (1868) S. IX; ferner im Kleindruck zu SQ 1143. 233 H. Brunn, Ueber die sogenannte Leukothea in der Glyptothek Sr. Majestät König Ludwigs I., Vortrag in der öffentlichen Sitzung der königlichen Akademie der Wissenschaften am 25. Juli 1867 (abgedruckt in: Kleine Schriften II [1905] 328–40). – Zur Geschichte der Identifizierung des Typus s. A. Furtwängler, Beschreibung der Glyptothek König Ludwig’s I. (1910) 219f. zu Nr. 219; Vierneisel-Schlörb 257. 234 LIMC III (1986) 703f. s.v. Eirene Nr. 6–7 mit Abb. 235 Ebenda Nr. 4f. mit Abb.
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Seite geführt, der Ellenbogen angewinkelt und der Unterarm nach oben gerichtet. Die rechte Hand umfasste ein Szepter, das die Form eines langen Stabes hatte, unten auf der Standfläche ruhte und oben den Kopf der Eirene überragte. Seitdem Christa Landwehr unter den antiken Gipsabgüssen aus Baiae ein Fragment des Plutosknaben identifiziert hat, ist bewiesen, dass das Werk des Kephisodot aus Bronze gefertigt war. Die stilkritische Beurteilung der Eirene spricht für eine Datierung in die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. Sechs durch Namensbeischrift des eponymen Archon Kallimedes ins Jahr 360/59 v. Chr. datierte Preisamphoren aus Eretria, auf denen die Eirene des Kephisodot abgebildet ist, bestätigen als terminus ante quem diesen chronologischen Ansatz. Unter Hinzuziehung der literarischen Überlieferung lässt sich die Entstehungszeit der Statue noch genauer erschließen. Aus einigen Schriftquellen ist bekannt, dass der staatliche Kult für Eirene im Jahr 374 v. Chr. eingeführt wurde,236 nachdem auf der panhellenischen Konferenz in Sparta unter Beteiligung des Dionysios I. von Syrakus und des persischen Großkönigs die κοινὴ εἰρήνη, eine umfassende Friedens- und Sicherheitsordnung für den gesamten östlichen Mittelmeerraum beschlossen worden war, über die der attische Redner Isokrates (436–338 v. Chr.) sagt, dass kein anderes Abkommen seiner Stadt so sehr genutzt habe (Isokrates, or. 15,110). Die Nachricht in der Kimon-Vita des Plutarch (um 40 – um 120 n. Chr.), dass die Athener der Eirene bereits nach der Schlacht am Eurymedon (466 v. Chr.), dem entscheidenden Sieg über die Perser, einen Altar aufgestellt hätten, dürfte ein Irrtum des kaiserzeitlichen Biographen sein, da die Kulteinführung im Jahr 374 v. Chr bei dem zeitgenössischen Redner Isokrates und dem glaubwürdigen Atthidographen Philochoros (um 340–267/61 v. Chr.) belegt ist. Allerdings wurden der Eirene wohl bereits im 5. Jh. v. Chr. private Opfer dargebracht, wie sich aus der Bemerkung in der Aristophaneischen Komödie Eirene, die Friedensgöttin könne keine blutigen Opfer sehen, erschließen lässt (Aristophanes, Eirene 1019f.; vgl. auch Schol. ad loc.). Die Statue der Eirene dürfte also mit großer Wahrscheinlichkeit recht bald nach der Kulteinführung im Jahr 374 v. Chr. aufgestellt worden sein oder auch nach Erneuerung des panhellenischen Friedens im Jahr 371 v. Chr. (vgl. Xen. Hell. 6,3,18; 6,5,2). Das von Helmut Jung vorgeschlagene Aufstellungsdatum nach der Schlacht von Mantineia (362 v. Chr.), also erst nach über zehnjährigem Bestehen des Kults, scheint hingegen zu spät. Welch große Bedeutung dem Kult der Eirene in Athen zukam, zeigt sich auch daran, dass ihr Fest am 15./16. Hekatombeion (Juli/August), dem Tag der Synoikie, des nach der Gründungssage von Theseus vollzogenen Zusammenschlusses der attischen Kleinstaaten, gefeiert wurde. Der Eirenekult stellte insbesondere für die konservativen Kräfte in der Polis eine Möglichkeit dar, an die Glanzzeit, die Athen im 5. Jh. erlebt hatte, anzuknüpfen. Durch die Gewandtracht wird diese Intention auch an der Statue der Eirene verbildlicht. Denn der schwere dorische Peplos, der in der 1. Hälfte des 4. Jhs. nicht mehr üblich war, verlieh der Göttin nicht nur einen feierlichen Habitus, sondern stellte zugleich einen bewusst eingesetzten Klassizismus dar, der den Betrachter an die glorreiche Epoche Athens erinnern sollte. Die Ikonographie der allein stehenden Eirene mit dem Plutosknaben bot sich für die allegorische Darstellung der Eirene an, da die Verbindung von Frieden und Reichtum im griechischen Denken tief verwurzelt ist, wie sich an einer Reihe literarischer Stellen 236
Isokrates, or. 15,109f.; Philochoros, FGrHist 328 F 151; Cornelius Nepos, Timotheus 2,2.
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zeigen lässt.237 Ob es sich bei der Ikonographie der Eirene und entsprechend der Tyche in Theben – wie Pausanias (9,16,1–2 = Kat. 11.1.2.) behauptet – um Erfindungen der Künstler Kephisodot, Xenokrates und Kallistonikos handelte, die Zeitgenossen waren und von denen sich zumindest Kephisodot und Xenokrates, die nach Pausanias (8,30,10 = SQ 1140) zusammen in Megalopolis arbeiteten, kannten, oder ob die Darstellung einer weiblichen Gottheit mit Plutosknaben einem allgemeinen Zeitgeschmack folgte, lässt sich nicht entscheiden. Die Entstehungszeit der Eirene fällt mit der Akmé des Kephisodot zusammen, die Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) in die 102. Olympiade, also in die Jahre 372–369 v. Chr. datiert (Plin. nat. 34,50 = SQ 1138). Kephisodot war der Bruder der ersten Frau des attischen Politikers Phokion (Plutarch, Phokion 19 = SQ 1139). Da der älteste Sohn des Praxiteles ebenfalls den Namen Kephisodot trug (Plin. nat. 36,24 = SQ 1339; IG II2 Nr. 1628; IG IV Nr. 766), ist es entsprechend der griechischen Sitte, den Erstgeborenen nach dem Großvater zu benennen, sehr wahrscheinlich, dass der Schöpfer der Eirene der Vater des Bildhauers Praxiteles war. Weitere für Kephisodot literarisch bezeugte Werke konnten bisher nicht archäologisch nachgewiesen werden. Plinius d. Ä. (nat. 34,87 = SQ 1137) nennt einen Hermes, der das Dionysoskind nährt (Mercurius Liberum patrem in infantia nutriens), ein der Eirene ikonographisch offensichtlich verwandtes Kunstwerk, und einen Volksredner mit erhobener Hand (contionans manu elata). Pausanias (8,30,10 = SQ 1140) erwähnt Statuen des Zeus, der Personifikation der Stadt Megalopolis und der Artemis Soteira im Tempel des Zeus Soter in Megalopolis, die von Kephisodot und dem Athener Bildhauer Xenophon, der auch an der Statue der Tyche in Theben mitarbeitete, angefertigt worden seien. Bei seiner Beschreibung des Helikon weist Pausanias (9,30,1 = SQ 878) eine Gruppe von neun Musen und eine Teilgruppe von drei Musen dem Kephisodot zu. Da der Periheget in keinem Fall angibt, ob es sich um den älteren oder jüngeren Bildhauer dieses Namens, also den Vater oder den Sohn des Praxiteles handelt, können die Werke nur mit einiger Wahrscheinlichkeit aufgrund des Gründungsdatums von Megalopolis 368/67 v. Chr. oder der Tatsache, dass Strongylion, ein Zeitgenosse des älteren Kephisodot, eine weitere Musengruppe auf dem Helikon geschaffen hat, dem Vater des Praxiteles zugeschrieben werden. Lit.: A.H. Borbein, Die griechische Statue des 4. Jhs. v. Chr., JdI 88, 1973, 115–45 Abb. 26–30; E. La Rocca, Eirene e Ploutos, JdI 89, 1974, 112–36 Abb. 1–17. 20–23; H. Jung, Zur Eirene des Kephisodot, JdI 91, 1976, 97–134 Abb. 1–3; B. Vierneisel-Schlörb, Glyptothek München. Katalog der Skulpturen II (1979) 255–73 Abb. 119–27; C. Landwehr, Die antiken Gipsabgüsse aus Baiae (1985) 103f. Nr. 63 Taf. 60; LIMC III (1986) 703 s.v. Eirene Nr. 8 (E. Simon); N. Eschbach, Statuen auf Panathenäischen Preisamphoren des 4. Jhs. v. Chr. (1986) 58f. Taf. 16–18,5; H.A. Shapiro, Personifications of Greek Art (1993) 45–50; LIMC VII (1994) 206 s.v. Pax Nr. 1 (E. Simon); H. Knell, Athen im 4. Jh. v. Chr. – eine Stadt verändert ihr Gesicht (2000) 73–80 Abb. 45–47; GK Denkmäler (2007) Nr. 426. – Zu Kephisodotos d. Ä.: Künstlerlexikon I, 408–10 s.v. Kephisodotos I (M. Weber); A. Corso, The Art of Praxiteles (2004) 76–108. Lehmann
Vgl. z.B. Hom. Od. 24,486; Corpus Theognideum 885f. West; Anth. Lyr. 2 carm. pop. fr. 1, 3–5 Diehl; Pind. Olymp. 13,7; Bakchyl. fr. 4,61–63 Snell. 237
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12.
SKOPAS (Σκόπας) aus Paros
12.1.
Aufstellungsort unbekannt: Statue(tte)238 einer Mänade
Kopie oder Wiederholung: Dresden, Skulpturensammlung, Herrmann Nr. 133 (1901 erworben). Marmor; erhaltene Höhe 45 cm, ursprüngliche Figurenhöhe ca. 60 cm; Kopfhöhe 8,8 cm. – Datierung: 2. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. (Protzmann).
Vier Epigramme in der Anthologia Graeca nehmen Bezug auf die von Skopas geschaffene Statue einer Bakche, einer Frau aus dem mythischen bzw. kultischen Gefolge des Dionysos (auch Mänade oder Thyiade). Zwar nennen nur zwei von diesen Epigrammen ausdrücklich Skopas als Künstler (12.1.1 und 2), doch sind die beiden anderen (12.1.3 und 4) inhaltlich so verwandt, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass auch sie die Statue des Skopas zum Gegenstand haben.239 An archäologisch verwertbaren Informationen enthalten die Epigramme lediglich die Angaben, dass die Statue aus (parischem) Marmor bestand (12.1.1: ξέσε; 12.1.2: Παρία, γλύπτας, τὸν λίθον; 12.1.3: λίθῳ; 12.1.4: λαϊνέη) und eine rasende Bakche darstellte. In Anthologia Graeca 9,774,4 (12.1.2) wird die Bakche zusätzlich als χιμαιροφόνος (ziegentötend) bezeichnet. Die Intention der Epigramme besteht nicht darin, die Statue zu beschreiben, sondern den Topos der Lebensechtheit eines Kunstwerks zu variieren. Der Kontrast zwischen leblosem Stein und der wilden Raserei einer Bakche bot sich dafür besonders an. 12.1.1. Anthologia Graeca 16,60 (= SQ 1162) Ein aus zwei iambischen Trimetern bestehendes, fälschlicherweise unter dem Namen des Dichters Simonides (6./5. Jh. v. Chr.) überliefertes Epigramm240 gibt im Wechsel kurzer Zur Frage, ob es sich um eine Statue oder um eine Statuette gehandelt hat, s. unten. Vgl. G. Schwarz, Die griechische Kunst des 5. und 4. Jahrhunderts im Spiegel der Anthologia Graeca (1971) 80–84, bes. 81. 240 Unter den in der Anthologia Graeca Simonides zugeschriebenen Epigrammen gibt es zahlreiche Fäl-
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Fragen und Antworten den Dialog zweier fiktiver Betrachter wieder. Auffällig ist die starke Betonung des Künstlernamens, der an beiden Versenden – im zweiten Vers sogar zweimal hintereinander – im letzten Metrum genannt wird. [ΣΙΜΩΝΙΔΟΥ] Τίς ἅδε; Βάκχα. Τίς δέ νιν ξέσε; Σκόπας. Τίς δ᾿ ἐξέμηνε, Βάκχος ἢ Σκόπας; Σκόπας. [Von Simonides] „Wer ist diese ?“ – „Eine Bakche.“ – „Und wer meißelte sie?“ – „Skopas.“ / „Und wer versetzte sie in Raserei: Bakchos (Dionysos) oder Skopas?“ – „Skopas.“ 12.1.2. Anthologia Graeca 9,774 (= SQ 1163) Über den Autor des ausführlichsten Epigramms zur Bakche des Skopas, einen Glaukos aus Athen, ist nichts Näheres bekannt. Unter seinem Namen ist in der Anthologia Graeca ein weiteres Epigramm auf die Darstellung eines Zeus als Satyr in der Mänadenschar (Anth. Graec. 9,774) überliefert, dessen Echtheit aber umstritten ist.241 Außerdem wird ihm in der Regel ein nur mit dem Namen „Glaukos“ ohne den Zusatz „aus Athen“ überschriebenes Epigramm auf ein Gemälde des Parrhasios zugewiesen (Anth. Graec. 16,111 = SQ 1709).242 Die von James H. Oliver vermutete Identität des Autors mit einem inschriftlich bekannten Dichter, Rhetor und Philosophen namens Titus Flavius Glaucus aus Marathon, der in der Mitte des 3. Jhs. n. Chr. tätig war, ist ungewiss.243 ΓΛΑΥΚΟΥ ΑΘΗΝΑΙΟΥ Ἁ βάκχα Παρία μέν, ἐνεψύχωσε δ᾿ ὁ γλύπτας τὸν λίθον· ἀνθρῴσκει δ᾿ ὡς βρομιαζομένα. ὦ Σκόπα, ἁ θεοποιὸς ἐμήσατο τέχνα θαῦμα χιμαιροφόνον θυιάδα μαινομέναν. Von Glaukos aus Athen Die Bakche ist zwar aus parischem , doch der Bildhauer flößte dem Stein Leben ein. / Sie springt wie berauscht. // Skopas, dein Können (téchne), das Götter hervorbringt, ersann ein / Werk, eine rasende Thyiade, die eine Ziege tötet. 12.1.3. Anthologia Graeca 16,57 (= SQ 1163 Kleindruck) Paulos Silentarios, griechischer Dichter und Hofbeamter des 6. Jhs. n. Chr., von dem u.a. eine Beschreibung der Hagia Sophia erhalten ist, bedient sich des in der Ekphrasis nicht selten benutzten,244 aus der Philosophie und Rhetorik bekannten Gegensatzpaares von schungen. Bei dem vorliegenden Epigramm ist die Autorschaft des Simonides schon aus chronologischen Gründen ausgeschlossen; zu dem Epigramm vgl. D.L. Page, Further Greek Epigrams (1981) 281f. Nr. LVII l. 914f.; D.A. Campbell, Greek Lyric III (1991) 570f. Nr. LVII; L. Bravi, Gli epigrammi di Simonide e le vie della tradizione (2006) 123 mit Anm. 61. 241 Vgl. DNP 4 (1998) 1095 s.v. Glaukos Nr. 10 (M.G. Albiani). 242 Vgl. A.S.F. Gow – D.L. Page, The Greek Anthology. The garland of Philip and some contemporary epigrams 2 (1968) 457f. 243 J.H. Oliver, Two Athenian Poets, in: Commemorative Studies in Honor of Th. Leslie Shear, Hesperia Suppl. 8 (1949) 243–58; vgl. auch M. Lausberg, Das Einzeldistichon (1982) 467 mit Anm. 24. 244 Vgl. z.B. Anth. Graec. 9,590. 738. 793. 798; 16,83.
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φύσις (Natur) und τέχνη (Kunst, künstlerisches Können). In der autographisch erhaltenen Handschrift der Appendix Planudea, wie das 16. Buch der Anthologia Graeca nach seinem Editor, dem in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. n. Chr. tätigen Philologen Maximos Planudes, heißt, findet sich im Lemma zu dem Epigramm die Angabe „Εἰς βάκχην ἐν Βυζαντίῳ“ („Auf die Bakche in Byzanz“), die darauf hindeutet, dass die Statue bzw. eine Kopie in Konstantinopel aufgestellt war. ΠΑΥΛΟΥ ΣΙΛΕΝΤΙΑΡΙΟΥ – Εἰς βάκχην ἐν Βυζαντίῳ Ἔκφρονα τὴν βάκχην οὐχ ἡ φύσις, ἀλλ᾿ ἡ τέχνη θήκατο καὶ μανίην ἐγκατέμιξε λίθῳ. Von Paulos Silentarios – Auf die Bakche in Byzanz Nicht die Natur (phýsis) versetzte die Bakche in Raserei, sondern das Können (téchne) / des Künstlers vollbrachte es und flößte dem Stein Raserei ein. 12.1.4. Anthologia Graeca 16,58 (= SQ 1163 Kleindruck) Das ohne Angabe des Autors überlieferte Epigramm verortet die Statue der Bakche in einem Tempel. Ihre lebensechte Wirkung wird mit dem Topos, dass sie den Eindruck erweckt habe, laufen zu können, verdeutlicht. Ἴσχετε τὴν βάκχην, μὴ λαϊνέη περ ἐοῦσα οὐδὸν ὑπερθεμένη νηὸν ὑπεκπροφύγῃ. Haltet die Bakche! Sonst rast sie, auch wenn sie nur aus Stein ist, über die Schwelle / und entkommt aus dem Tempel. 12.1.5. Kallistratos, Statuarum descriptiones 2 (= SQ 1164) In seiner an echte oder fiktive Zuhörer (ὑμῖν, §1; γνώσεσθε, §5) gerichteten Ekphrasis der Bakche des Skopas geht Kallistratos (wohl 4. Jh. n. Chr.) von der These aus, dass nicht nur Dichter und Redner, sondern auch bildende Künstler von göttlichem Enthusiasmos beseelt sein können (§ 1). Die sich im Folgenden anschließende Beschreibung der Statue (§ 2–4), in der wie in den Epigrammen der Anthologia Graeca die Lebensechtheit der Statue betont wird, verfolgt drei Ziele: (1) Vordergründig soll die Eingangsthese bewiesen werden, die auch zum Schluss durch den Vergleich des Bildhauers Skopas mit dem berühmten Redner Demosthenes aufgegriffen wird. (2) Ferner soll der Hörer bzw. Leser durch eine rhetorisch ausgefeilte Ekphrasis unterhalten werden. (3) Darüberhinaus nutzt Kallistratos die Statuenbeschreibung unterschwellig dazu, Kritik am platonischen Kunstbegriff zu üben. Zwar nennt Kallistratos an keiner Stelle den Namen des Philosophen, doch benutzt er eine Reihe platonischer Wörter, die seine Argumentationsabsicht signalisieren (ἐκ θεῶν θειασμός, θειότερα πνεύματα, μανία, ἐπίπνοια, θεοφορία, ἐνθουσιασμός, τὸ ὄντως ὄν, φαινόμενον, εἴδωλον, μίμησις). Explizit distanziert sich Kallistratos vom platonischen Kunstverständnis, nach dem Kunstwerke ontologisch minderwertige Abbilder von Abbildern darstellen und damit gleich doppelt von der Wahrheit entfernt sind, wenn er formuliert, dass die Kunst die Nachahmung in das wirklich Seiende überführe (ἡ τέχνη δ᾿ εἰς τὸ ὄντως ὂν ἀπήγαγε τὴν μίμησιν, § 2), oder den Künstler als Schöpfer der Wahrheit (δημιουργὸς ἀληθείας, § 5) bezeichnet. Die Frage, ob Kallistratos die in seinen Ekphraseis beschriebenen Kunstwerke aus Autopsie kannte, ist in der Forschung umstritten.245 Im 245
Vgl. Bäbler – Nesselrath 12–15.
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Falle der Bakche des Skopas legt die recht detaillierte Beschreibung, die zwar rhetorisch sehr stilisiert und in weiten Teilen vom Topos der Lebensechtheit geprägt ist, aber viele über die in den Epigrammen der Anthologia Graeca (Kat. 12.1.1–4) enthaltenen Informationen hinausgehende Angaben macht, nahe, dass Kallistratos die Statue aus eigener Anschauung kannte.246 Εἰς τὸ Βάκχης ἄγαλμα (1) Οὐ ποιητῶν καὶ λογοποιῶν μόνον πνέονται τέχναι ἐπὶ τὰς γλώττας ἐκ θεῶν θειασμοῦ πεσόντος, ἀλλὰ καὶ τῶν δημιουργῶν αἱ χεῖρες θειοτέρων πνευμάτων ἐράνοις ληφθεῖσαι κάτοχα καὶ μεστὰ μανίας προφητεύουσι τὰ ποιήματα· ὁ γὰρ δὴ Σκόπας, ὥσπερ ἔκ τινος ἐπιπνοίας κινηθεὶς εἰς τὴν τοῦ ἀγάλματος δημιουργίαν τὴν θεοφορίαν ἐφῆκεν. Τί δὲ ὑμῖν οὐκ ἄνωθεν τὸν ἐνθουσιασμὸν τῆς τέχνης διηγοῦμαι;
(2) Ἦν βάκχης ἄγαλμα ἐκ λίθου Παρίου πεποιημένον ἀλλαττόμενον πρὸς τὴν ὄντως βάκχην. Ἐν γὰρ τῇ οἰκείᾳ τάξει μένων ὁ λίθος τὸν ἐν λίθοις νόμον ἐκβαίνειν ἐδόκει· τὸ μὲν γὰρ φαινόμενον ὄντως ἦν εἴδωλον, ἡ τέχνη δ᾿ εἰς τὸ ὄντως ὂν ἀπήγαγε τὴν μίμησιν. Εἶδες ἂν ὅτι καὶ στερεὸς ὢν εἰς τὴν τοῦ θήλεος εἰκασίαν ἐμαλάττετο γοργότητος διορθουμένης τὸ θῆλυ καὶ εἰς ἐξουσίαν ἀμοιρῶν κινήσεως ᾔδει βακχεύεσθαι καὶ τῷ θεῷ εἰσιόντι τὰ ἔνδον ὑπήχει.
Auf die Statue (ágalma) einer Bakche (1) Nicht nur die Künste von Dichtern und Schriftstellern werden inspiriert, wenn ein göttlicher Hauch ihre Zungen erreicht, sondern auch die Hände bildender Künstler bringen, wenn sie von den Gaben göttlicher Inspiration ergriffen sind, solche Werke hervor, die von Wahnsinn erfüllt und durchdrungen sind. Der berühmte Skopas z.B. ließ, wie von einem Hauch bewegt, diese göttliche Inspiration in die Ausarbeitung seiner Statue fließen. Aber warum beschreibe ich euch nicht von Anfang an die göttliche Begeisterung seiner Kunst? (2) Es gab da eine aus parischem Stein geschaffene Statue (ágalma) einer Bakche, die einer wirklichen Bakche zum Verwechseln ähnlich war. Obwohl nämlich der Stein die ihm eigene Natur bewahrte, schien er das für Steine geltende Gesetz zu überschreiten: Denn das, was sich zeigte, war in Wirklichkeit ein Abbild, aber die Kunst überführte die Nachahmung in das wahrhaft Seiende. Man hätte sehen können, dass der Stein, obwohl er hart war, zur Darstellung des Weiblichen weich wurde, wobei die Wildheit die weibliche Natur berichtigte, und dass der Stein, hinstrebend zu freier Bewegung, obwohl er die Freiheit, sich nach Belieben zu bewegen, nicht besaß, bakchisch zu tanzen wusste und dem in das Innere
Auch der Hinweis im Lemma zu Anth. Graec. 16,57 (Kat. 12.1.3), dass sich – sofern dort die Bakche des Skopas gemeint ist – die Statue bzw. eine Kopie von ihr in Konstantinopel befand, könnte, auch wenn nicht beweisbar ist, dass dies bereits zur Zeit des Kallistratos der Fall war, und es auch nur eine Vermutung ist, dass Kallistratos in Konstantinopel wirkte, als Indiz dafür gewertet werden, dass Kallistratos die Statue aus eigener Anschauung beschreibt.
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(3) Πρόσωπόν γε μὴν ἰδόντες ὑπὸ ἀφασίας ἔστημεν· οὕτω δὴ καὶ αἰσθήσεως συνείπετο δήλωμα μὴ παρούσης αἰσθήσεως, καὶ βάκχης ἐκβακχεύων θειασμὸς ἐμηνύετο θειασμοῦ μὴ πλήττοντος καὶ ὅσα φέρει μανίας οἰστρῶσα ψυχὴ τοσαῦτα πάθους διέλαμπε τεκμήρια ὑπὸ τῆς τέχνης ἀρρήτῳ λόγῳ κραθέντα. Ἀνεῖτο δὲ ἡ κόμη ζεφύρῳ σοβεῖν καὶ εἰς τριχὸς ἄνθησιν ὑπεσχίζετο, ὃ δὴ καὶ μάλιστα τὸν λογισμὸν ὑπεξίστη, ὅτι καὶ τριχὸς λεπτότητι λίθος ὢν ἐπείθετο καὶ πλοκάμων ὑπήκουσεν μιμήμασιν καὶ τῆς ζωτικῆς ἕξεως γεγυμνωμένος τὸ ζωτικὸν εἶχεν.
(4) Ἔφης ἂν ὅτι καὶ αὐξήσεως ἀφορμὰς ἡ τέχνη συνήγαγεν· οὕτως καὶ τὸ ὁρώμενον ἄπιστον καὶ τὸ μὴ πιστὸν ὁρώμενον. Οὐ μὴν ἀλλὰ καὶ χεῖρας ἐνεργοὺς ἐπεδείκνυτο οὐ γὰρ τὸν βακχικὸν ἐτίνασσε θύρσον, ἀλλά τι σφάγιον ἔφερεν ὥσπερ εὐάζουσα, πικροτέρας μανίας σύμβολον· τὸ δὲ ἦν χιμαίρας τι πλάσμα πελιδνὸν τὴν χρόαν· καὶ γὰρ τὸ τεθνηκὸς ὁ λίθος ὑπεδύετο καὶ μίαν οὖσαν τὴν ὕλην εἰς θανάτου καὶ ζωῆς διῄρει μίμησιν, τὴν μὲν ἔμπνουν στήσασα καὶ οἷον ὀρεγομένην Κιθαιρῶνος, τὴν δὲ ἐκ τοῦ βακχικοῦ θανατωθεῖσαν οἴστρου καὶ τῶν αἰσθήσεων ἀπομαραίνουσαν τὴν ἀκμήν.
dringenden Gott antwortete. (3) Als wir dann aber erst das Gesicht betrachteten, hielten wir sprachlos inne; so deutlich war hier die Darstellung von Empfindung, obwohl Empfindung doch nicht vorhanden war, und die sie in bakchische Raserei versetzende Ekstase tat sich deutlich kund, obwohl Ekstase doch nicht erfasste, und alle Zeichen von Wahnsinn, die eine aufgestachelte Seele zeigt, leuchteten hervor, von der Kunst in unaussprechlicher Weise verwirklicht. Das Haar war dem Westwind überlassen, der es wehen ließ, und aufgeteilt zu einer regelrechten Haar-Blüte; und eben dies überstieg die Vernunft: dass der Stein, obwohl er Stein war, sich der Zartheit des lebendigen Haars fügte und in die Nachahmung von Locken einwilligte, und, obwohl der Lebenskraft beraubt, Lebenskraft in sich trug. (4) Man könnte behaupten, dass die Kunst hier auch die künstlerischen Mittel der Verstärkung miteinander verband: So unglaublich war, was man sah, und doch so sichtbar, was unglaublich war. Aber auch ihre Hände zeigte sie in Aktion. Sie schwang nämlich nicht den bakchischen Thyrsos, sondern trug ein Schlachtopfer, so als stieße sie den Schrei „Euoi!“ aus, Zeichen für einen heftigeren Wahnsinn; das Schlachtopfer war die Nachbildung einer Ziege und in ihrer Färbung leichenblass; denn auch die Erscheinung des Toten hatte der Stein angenommen, und obwohl das Material nur eines war, unterschied es zwischen der Darstellung von Tod und Leben genau, indem es die Bakche wie lebend und so als strebte sie in den Kithairon darstellte, die Ziege aber als ob sie in bakchischem Rasen getötet worden wäre und die Schärfe ihrer Sinne hinschwände.
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(5) Ὁ μὲν οὖν Σκόπας καὶ τὰς ἀψύχους εἰδωλοποιῶν γενέσεις δημιουργὸς ἀληθείας ἦν καὶ τοῖς σώμασι τῆς ὕλης ἀπετυποῦτο τὰ θαύματα, ὁ δὲ τὰ ἐν λόγοις διαπλάττων Δημοσθένης ἀγάλματα μικροῦ καὶ λόγων ἔδειξεν εἶδος αἰσθητὸν τοῖς νοῦ καὶ φρονήσεως γεννήμασι συγκεραννὺς τὰ τῆς τέχνης φάρμακα. Καὶ γνώσεσθε δὲ αὐτίκα, ὡς οὐδὲ τῆς οἴκοθεν κινήσεως ἐστέρηται τὸ εἰς θεωρίαν προκείμενον ἄγαλμα, ἀλλὰ καὶ ὁμοῦ δεσπόζει καὶ ἐν τῷ χαρακτῆρι σῴζει τὸν γεννήτορα.
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(5) Skopas also war, wenn er auch die Bilder lebloser Geschöpfe schuf, ein Schöpfer von Wahrheit und prägte den Körpern aus Material seine Wunder ein; Demosthenes aber, der (sc. mit Skopas vergleichbar) Kunstwerke (agálmata) in Worten formte, präsentierte sogar fast ein wahrnehmbares Bild seiner Worte, indem er mit den Schöpfungen des Geistes und des Denkens die Zaubermittel der Kunst mischte. Und ihr werdet sogleich erkennen, dass das Bildwerk (ágalma), das der Gegenstand der Betrachtung ist (sc. die Bakche), der ihm (sc. einer Bakche) eigenen Bewegung durchaus nicht beraubt ist, diese (sc. Bewegung) aber zugleich auch beherrscht und in seinem Charakter seinen Schöpfer (sc. dessen Ruhm) bewahrt.
Zur Mänade des Skopas liegt ein ähnliches Quellenspektrum (Kallistratos + Epigramme) vor wie zum Kairos des Lysipp (hier Kat. 14.2.). Der Vorschlag, die Statuette der Dresdner Mänade als Kopie des literarisch bezeugten ágalma (Kallistratos) aus Marmor zu identifizieren, stammt von Georg Treu (1903), dem damaligen Direktor des Albertinums. Ausschlaggebend für die Identifizierung waren zwei Gesichtspunkte: einerseits finden Einzelheiten der Formgebung, etwa die Kopfform, bei den gedrungenen Köpfen vom skopasischen Athena-Alea-Tempel in Tegea Entsprechung,247 während zu Werken des Praxiteles, der ebenfalls Mänaden geschaffen haben soll (Plin. nat. 36,23 = SQ 1204), keine Verwandtschaft besteht.248 Andererseits hat Treu in der Hand des verlorenen linken Arms ein getötetes Zicklein ergänzt, was mit der Angabe χιμαιροφόνος (ziegentötend) im Epigramm 12.1.2 korrespondieren würde. Ausschlaggebend für die Ergänzung mit einem geschulterten Ziegenstück sind Bruchspuren am Rand der linken Schulter, die nicht als Folge des Abbrechens des Arms verständlich sind, sondern erwarten lassen, dass dort ein Gegenstand auflag.249 Die am Ansatz des linken Arms zu erkennenden Bohr- bzw. Dübellöcher sind nur mit einer antiken Reparatur zu erklären:250 Der Oberarm muss der Abarbeitung zufolge ursprünglich bis unterhalb der Brust am Körper angelegen haben (anders Six und Lorenz). Unklar bleibt, weshalb man die Anstückung des linken Arms immer als primär angesehen und in ihr sogar einen Hinweis darauf gesehen hat, dass die Mänade im Gegensatz Zum Tempel der Athena Alea s. Paus. 8,45,4–7 (= SQ 1150). Einige der Köpfe, die zu den Giebelfiguren des Tempels der Athena Alea gehörten, sind von Treu publiziert worden, vgl. Protzmann 275f. 248 Weitere literarische Erwähnungen von statuarischen Mänaden sind selten, vgl. Paus. 2,7,5 (Marmorgruppe unbekannter Hand in Sikyon). 249 Die Forschung ist Treu in diesem Punkt mit Ausnahme von Schwarzmaier gefolgt. – In der Mitte der Schulter befindliche Bruchspuren gehören allerdings zu dem im Ansatz erhaltenen Haarband. 250 So einzig H. Protzmann, AW 12/4, 1981, 38 Anm. 7. – Am Abguss sind die Löcher verschmiert. 247
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Skopas
zur schriftlichen Überlieferung ein Tympanon (Tamburin) gehalten habe. Ein Tympanon erscheint zwar bei anderen Darstellungen von Mänaden mit zurückgeworfenem Kopf,251 doch ist trotz der thematischen Übereinstimmung kein typologischer Zusammenhang ersichtlich (anders Vorster). Der rechte Arm war gesenkt; die Hand hielt das Messer, mit dem die Ziege zerteilt worden ist. Die gegenwärtige Sockelung der Mänade erscheint insofern plausibel, als das Haar, der Schwerkraft gehorchend, ungefähr senkrecht herabfällt. Nicht mit Sicherheit zu bestimmen ist hingegen die genaue Haltung der Füße; der ekstatischen Verzückung wird die von Treu in Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Walter Sintenis entwickelte Rekonstruktion gerecht, in welcher beide Füße nur mit dem Ballen den Boden berühren (Protzmann Abb. 283). Die Dresdner Mänade wird als verkleinerte Wiederholung eines großformatigen griechischen Vorbilds angesehen.252 Tatsächlich nehmen andere 50–70 cm große Statuetten, die ähnlich sorgfältig wie die Dresdner Mänade gearbeitet sind, gelegentlich als mehr oder minder genaue Verkleinerungen auf großformatige Vorbilder Bezug. Allerdings handelt es sich bei jenen Vorbildern in der Regel um sehr berühmte und entsprechend verbreitete statuarische Typen,253 während sich von der Dresdner Mänade keine Repliken nachweisen lassen.254 Die Mänade könnte daher auch – als maßgleiche Kopie – ein kleinformatiges Original überliefern; sie entspräche damit zwei auch inhaltlich verwandten statuarischen Typen, dem schwänzchenhaschenden Satyr und dem berauschten Hercules Mingens,255 die beide auf kleine, jeweils nur etwa 52 cm hohe Originale hellenistischer Zeit zurückgeführt werden. z.B. auf einem Trapezophor aus dem 3. Jh. n. Chr. in Athen, s. N. Kaltsas, Sculpture in the National Archaeological Museum, Athens (2002) 362–64 Nr. 776. 252 Vgl. Treu 323; Protzmann, Schwarzmaier; C. Picón, AntPl 22 (1993) 95 Anm. 37. – Der Wortlaut der Quellen (ágalma) bietet keinen Anhaltspunkt. 253 Beispiele: Aphrodite Typus Louvre-Neapel in Athen etc. (M. Brinke, AntPl 25, 52 Kat. r49 Taf. 49); Strigilisreiniger in Boston (68 cm); Athena Typus Velletri in Broadlands; etwas kleiner ist die Wiederholung der sog. Aphrodite Sosandra in New York. Größer und häufiger sind Figuren wie der Diomedes Palatin und der Eros Centocelle, bei denen die Originalgröße um die Hälfte reduziert ist. – Unklar ist das Zustandekommen der kleinformatigen Überlieferung beim Herakles des Polyklet (vgl. S. Kansteiner, Herakles [2000] 94–96). 254 Das Unterteil einer Statuette in Burgos kann gegen J.A. Luzón, MM 19, 1978, 283–85 Taf. 68 und C. Picón, AntPl 22 (1993) 95 Anm. 37 nicht zu einer Replik der Dresdner Mänade gehört haben, da der Verlauf des Gewandes nicht annähernd übereinstimmt. 255 Zum Hercules Mingens s. S. Kansteiner, Johann Joachim Winckelmann und das Gartenreich DessauWörlitz, Ausst.-Kat. Wörlitz und Stendal 2003, 18–21 Kat. 2; zum Schwänzchenhascher: H. Büsing in: Stips Votiva, Festschrift Stibbe (1991) 31–35.
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Skopas
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Die Zuschreibung der Mänade an Skopas lässt sich nicht anhand von Kopien anderer Werke dieses Bildhauers überprüfen, da kein statuarischer Typus sicher mit ihm verbunden werden kann. Der oft als skopasisch bezeichnete Meleager geht zwar mit Sicherheit auf ein Original des 4. Jhs. zurück, wird in der schriftlichen Überlieferung aber weder in Verbindung mit Skopas noch sonst erwähnt.256 Der auf einen Thyrsos gestützt zu rekonstruierende Pothos257 wiederum ist auf eine Figur aus einer von Pausanias in Megara besichtigten Statuengruppe von der Hand des Skopas (Paus. 1,43,6 = SQ 1165) bezogen worden. Dabei irritiert, dass die beiden anderen Figuren der Gruppe, Eros und Himeros, nicht in Form von Kopien nachzuweisen sind. Der Pothos wäre außerdem eines der höchst seltenen Beispiele für ein von Pausanias außerhalb von Athen besichtigtes Monument, welches in kaiserzeitlichen Kopistenateliers Berücksichtigung fand.258 Nicht sicher mit Skopas zu verbinden sind ferner trotz den relativ ausführlichen Angaben bei Plinius (nat. 36,31: ab oriente caelavit Scopas) Platten vom Amazonomachiefries, der in einer Höhe von mindestens 12 Metern am Maussolleion von Halikarnassos angebracht war. Im Hinblick auf die Kopfhaltung steht der Mänade nahe eine unterlebensgroße Nereide in Ostia mit Miniaturdelphinen im Haar. Sie ist als Kopie einer literarisch für Skopas bezeugten Marmorstatue, die Teil eines wohl seit dem 1. Jh. v. Chr. in Rom aufbewahrten marinen Thiasos war (Plin. nat. 36,26 = SQ 1175), interpretiert worden,259 weicht aber in der ‚hellenistisch bewegten’ Haarordnung260 so gravierend von der ordentlich gescheitelten Dresdner Statuette ab, dass eine Verbindung mit Skopas ausgeschlossen werden kann. Lit.: G. Treu in: Mélanges Perrot (1903) 317–24; T. Lorenz, BABesch 43, 1968, 52–58 Abb. 1–6; S. Altekamp, Boreas 11, 1988, 131–38; H. Protzmann in: Das Albertinum vor 100 Jahren, Ausst.Kat. Dresden 1994, 272–74 Kat. 282; A. Schwarzmaier in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 416–18 Kat. D 11; Künstlerlexikon II, 395 s.v. Skopas II (Vorster); C. Maderna in: Bildhauerkunst II (2004) 335f. Abb. 306; B. Bäbler – H.G. Nesselrath, Ars et Verba. Die Kunstbeschreibungen des Kallistratos (2006) 27–39 Taf. 1. Lehmann/Kansteiner
Zum Meleager vgl. S. Kansteiner in: „Wiedererstandene Antike“, Kolloquium Oranienbaum 1999 (2003) 243–48. 257 A. Stähli in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 406–08; C. Landwehr, Cherchel II (2000) Kat. 112 (mit irriger Rekonstruktion als Statue, die sich auf einen Mantel [sic] stützt); GK Denkmäler (2007) Nr. 358. 258 G. Lippold, Kopien und Umbildungen (1923) 68: „Es muß auffallen, wie es so gar nicht gelingen will, die zahlreichen bei Pausanias [außerhalb von Athen] genannten Statuen in Kopien wiederzufinden.“ – Denkbar ist allerdings auch eine Verbindung des statuarischen Typus mit dem Pothos, den Plinius als Werk des Skopas auf Samothrake nennt (nat. 36,25 = SQ 1167; die Lesung „Pothon“ ist nicht gesichert). 259 Die Verbindung mit Skopas wird u.a. vertreten von Protzmann und L. Todisco, Scultura Greca del IV secolo (1993) Nr. 155; dagegen zu Recht, aber etwas lässig Vorster 396. – G. Waywell, AntPl 25 (1996) 90f. Abb. 16 sieht in der Figur eine kleine Skylla. Gegen die Deutung der Nereide als Kopie einer der Thiasosfiguren spricht auch, dass das Monument nicht von anderen Kopien oder Wiederholungen überliefert zu sein scheint. 260 A. Stewart, Skopas of Paros (1977) Taf. 43d. 256
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Praxiteles
13.
PRAXITELES (Πραξιτέλης) aus Athen
13.1.
Aufstellungsort unbekannt: Bronzestatue des Apollon mit einer Eidechse (sog. Apollon Sauroktonos)
Kopie: Paris, Louvre, Inv. Ma 441. – Höhe 1,49 m (Sohle–Scheitel); Kopfhöhe 21 cm. Thasischer Marmor;261 Ergänzungen: rechte Hand samt einem Drittel des Unterarms, linke Hand mit großen Teilen vom Arm, Penis, Kleinigkeiten. – Fundort: wohl Rom oder Umgebung. Datierung: 1. Jh. n. Chr., wohl claudisch.
13.1.1. Plinius, Naturalis historia 34,70 Unter den Werken des Praxiteles nennt Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) in den Kapiteln zur griechischen Bildhauerkunst im 34. Buch seiner wohl 78 n. Chr. publizierten Naturalis historia (34,35–93) eine Apollonstatue, die Sauroktonos (Σαυροκτόνος = Eidechsentöter, von ἡ σαύρα = Eidechse und κτείνω = töten) genannt wurde.
Fecit et puberem Apollinem subrepenti lacertae comminus sagitta insidiantem, quem sauroctonon vocant.
Er (sc. Praxiteles) schuf auch einen jugendlichen Apollon, der einer herankriechenden Eidechse mit einem Pfeil ganz aus der Nähe nachstellt. Diesen Apollon nennt man Sauroktonos (Eidechsentöter).
Das Attribut puberem (in der Übersetzung mit „jugendlich“ wiedergegeben) meint offensichtlich einen zu einem jungen Mann Herangereiften, erscheint allerdings angesichts des Fehlens der Pubes an den erhaltenen Statuen für den Sauroktonos gerade nicht als anC. Gasparri, RendPontAcc 78, 2005/06, 170 Nr. 50.4 (in einer Übersicht über Skulpturen aus thasischem Marmor).
261
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Praxiteles
gebracht (vgl. auch die von Plin. nat. 34,55 für die Statue des polykletischen Doryphorus gebrauchte, hinsichtlich des Alters des Dargestellten ähnlich verwirrende Wendung „doryphorum viriliter puerum“; s. Text zu Kat. 9.4.). Den Text aufgrund des archäologischen Befundes – wie Johann Joachim Winckelmann vorgeschlagen hat262 – in impuberem (noch nicht erwachsen, kindlich) zu ändern, ist aus methodischen Gründen abzulehnen, da die Beschreibung des Plinius nicht auf Autopsie beruht, sondern der kunsthistorischen Fachliteratur entnommen ist. 13.1.2 Martial 14,172 Die nach 83/84 n. Chr. und vor dem Tod des Kaisers Domitian (96 n. Chr.) verfassten263 Xenia („Gastgeschenke“, Buch 13) und Apophoreta („Festgeschenke“ Buch 14)264 des Martial (um 40 – nicht später als 104 n. Chr.) enthalten Epigramme auf Geschenke, die man sich beim römischen Fest der Saturnalien im Dezember machte. Abgesehen von den programmatischen Eingangsepigrammen 13,1–3 und 14,1–2 handelt es sich durchweg um Einzeldistichen (Epigramme, die aus einem einzelnen Paar eines Hexameters und eines Pentameters bestehen), die der Dichter mit Überschriften (lemmata) versehen hat.265 In der Gruppe der Epigramme 14,170–182, die sich auf Werke der bildenden Kunst wie Statuen, Statuetten und Bilder beziehen,266 geben die Überschriften in der Regel den Darstellungsgegenstand und das Material des Kunstwerks an. Das Wort Corinthius (korinthisch) steht für Bronze, da die berühmteste Bronze in der Antike aus Korinth kam.267
Sauroctonos Corinthius Ad te reptanti, puer insidiose, lacertae Parce: cupit digitis illa perire tuis.
Der Sauroktonos (Eidechsentöter) aus korinthischer Bronze Zu dir kriecht, listiger Junge, eine Eidechse. / Schone sie! Sie wünscht sich durch deine Hand zu sterben.
Auffällig ist, dass Martial zur Beschreibung der Statue ähnliche Wörter wie Plinius gebraucht (reptanti – subrepenti; insidiantem – insidiose). Sollte Martial nicht unmittelbar durch den Text des Plinius Kenntnis von der Statue gehabt haben, würde die Übereinstimmung dafür sprechen, dass der Statuentypus des Sauroktonos in der nicht erhaltenen antiken Fachliteratur mit diesem Vokabular beschrieben wurde; die Übereinstimmung ist Johann Joachim Winckelmann, Schriften und Nachlass 4,1: Geschichte der Kunst des Alterthums, hrsg. von A.H. Borbein, M. Kunze u.a. (2003) 659 (= Geschichte der Kunst des Alterthums [21776] 679). 263 Zumindest für die Epigramme 13,4 und 14,170 stellt Domitians Annahme des Beinamens „Germanicus“ im Jahr 83/84 n. Chr. einen terminus post quem dar. – Zur Datierung vgl. T.J. Leary, Martial. Book XIV. The Apophoreta (1996) 9–13; M. Citroni, Marziale e la letteratura per i Saturnali (poetica dell’intrattenimento e cronologia della pubblicazione dei libri, Illinois Classical Studies 14, 1989, 201–26; J.P. Sullivan, Martial: The Unexpected Classic (1991) 12 mit Anm. 26; N. Holzberg, Martial und das antike Epigramm (2002) 44. 264 Zum Begriff „Apophoreton“ vgl. A. Stuiber, Apophoreton (Nachtrag zum RAC), JAC 3, 1960, 155– 59. 265 Dass die Überschriften von Martial selbst und nicht einem späteren Editor stammen, geht aus Martial 14,2,3–4 hervor: lemmata, si quaeris cur sint adscripta, docebo: / ut, si malueris, lemmata sola legas (Fragst du, weshalb Überschriften dazugeschrieben sind, will ich es erklären: damit du, wenn es dir lieber ist, nur die Überschriften zu lesen brauchst). 266 Zum Aufbau der Apophoreta s. J. Scherf, Untersuchungen zur Buchgestaltung Martials (2001) 89– 105. 267 Plin. nat. 34,6–8; vgl. auch Mart. 14,43; 14,177. 262
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in jedem Fall ein Indiz dafür, dass Martial für seine Epigramme auf Werke der bildenden Kunst literarische Vorlagen nutzte und sich nicht (zumindest nicht in erster Linie) auf Autopsie stützte.268 Zwar dürfte Martial den weit verbreiteten Statuentypus auch aus eigener Anschauung gekannt haben, zumal er den Sauroktonos offensichtlich für ein geeignetes Saturnaliengeschenk hielt. Doch geht es Martial wie dem antiken epideiktischen Epigramm allgemein nicht um eine detailgetreue Beschreibung eines Kunstwerks. Der Dichter nimmt das Kunstwerk vielmehr zum Anlass, es mit einem interessanten, oftmals geistreichen Gedankengang zu verbinden.269 Der Reiz des vorliegenden Epigramms besteht darin, dass Martial den Darstellungsgegenstand des Sauroktonos mit dem insbesondere in der Kaiserpanegyrik gebräuchlichen Topos, dass sich ein Tier von dem Gott, durch den es erbeutet wurde, den Tod wünscht, kontrastiert.270 Für martialische Epigramme typisch ist, dass die Wendung in der zweiten Pentameterhälfte erfolgt. Während der Sauroktonos im Hexameter als puer insidiose (listiger Junge) angesprochen und im ersten Teil des Pentameters um Schonung gebeten wird, der Leser also davon ausgeht, dass Apollon die Eidechse zu töten beabsichtigt, besteht die Überraschung darin, dass die Eidechse schließlich freiwillig zu sterben bereit ist.271 Aufgrund der für antike Bildwerke des Apollon singulären Thematik ist es Johann Joachim Winckelmann 1756 gelungen, die von Plinius erwähnte Statue mit der ausgestellten, damals in der Villa Borghese in Rom aufbewahrten Kopie zu verbinden. In der unveröffentlicht gebliebenen Schrift „Von den Vergehungen der Scribenten“ stellt er fest, dass es der Ergänzer in Unkenntnis der Schriftquelle versäumt habe, dem Apollon einen Pfeil in die rechte Hand zu geben. Die Überlieferung des verlorenen Bronzeoriginals umfasst drei weitgehend erhaltene Statuen, zehn Torsorepliken, zehn Kopfrepliken sowie einige verkleinerte Wiederholungen (u.a. auf Gemmen). In der römischen Kaiserzeit ist der Apollon Sauroktonos außerdem gelegentlich durch das Hinzufügen von Flügeln in eine Skulptur des Eros umgedeutet worden.272 Von besonderem Interesse für die Rekonstruktion des Originals ist eine erst seit drei Jahren bekannte, mit Ausnahme von Teilen der Arme vollständige statuarische Replik aus Bronze. Der Bereich ihrer linken Schulter gibt zu erkennen, dass die von der Kopie in Paris überlieferte Haltung des linken Arms in einem Punkt vom Original abweicht: der Unterarm der Bronze war zwar ebenfalls leicht angehoben und offenbar unweit vom Ellbogen an den Baumstamm gelehnt,273 der Oberarm aber führte waagerecht zur Seite (vgl. die Kopie in den Uffizien, Preisshofen Kat. S 10), so dass der Baum etwas weiter Die These von K. Lehmann (A Roman Poet Visits a Museum, Hesperia 14, 1945, 259–69), dass sich Martials Epigramme 14,170–182 auf eine Kunstsammlung in Rom bezögen, beruht auf so vielen unbeweisbaren Annahmen, dass sie nicht mehr als eine Spekulation darstellt. 269 Ähnlich M. Lausberg, Das Einzeldistichon (1982) 209 zu Mart. 14,180. 270 Zu dem Topos vgl. K. Scott, The Imperial Cult under the Flavians (1936) 119–24; E. Courtney, A Commentary on the Satires of Juvenal (1980) zu Juv. 4,69. 271 Vgl. Leary a. O. 234: „The humour of this epigram lies in Apollo’s being told to disappoint the lizard by sparing its life. Paradoxically, it is through sparing rather than killing the lizard that he is insidiosus here.“ 272 Vgl. Preisshofen 104ff. Kat. E1–E2 Taf. 62–64; Geominy, Künstlerlexikon II, 310; S. Kansteiner in: V.M. Strocka (Hrsg.), Meisterwerke, Symposion anlässlich des 150. Geburtstages von A. Furtwängler, Freiburg 2003 (2005) 65. 273 Der erhaltene linke Unterarm der Statue in Cleveland lässt nicht erwarten, dass die linke Hand des Originals einen Ast umfasste (so aber Preisshofen 42). Die Gemmen erlauben in diesem Punkt keine Entscheidung, vgl. G. Horster, Statuen auf Gemmen (1970) 83–90.
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Praxiteles
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entfernt von der Figur war als bei der Kopie in Paris, wo Baum und Figur aus materialökonomischen und statischen Gründen näher aneinander gerückt sind. Ob das Original aus Griechenland nach Rom verschleppt worden ist, lässt sich nicht klären, da es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass das von Martial verfasste Epigramm auf ein in Rom aufgestelltes Bronzeoriginal Bezug nimmt (s.o.). Das von Plinius und Martial gebrauchte griechische Wort sauroktónos (Eidechsentöter) ist sicher nicht die ursprüngliche Epiklese dieser Darstellung des Apollon, sondern wird in Unkenntnis des originären kultischen Zusammenhangs allein aus den Attributen, der Eidechse und dem Pfeil, abgeleitet worden sein, vgl. hier Kat. 9.2.; 9.4.; 14.1. (Doryphoros, Diadumenos und Apoxyomenos). Im Original dürfte man kaum den Gott im Moment vor der Tötung der Echse erkannt haben: da Echsen nicht als Schädlinge angesehen wurden, wäre die Szene allenfalls als Anspielung auf die Tötung des sagenhaften Drachen Python verständlich, doch wird man mit einem solchen, fast parodistischen Zug bei einer Skulptur des 4. Jhs. noch nicht rechnen dürfen.274 Berücksichtigt man ferner, wie locker der Gott den Pfeil am ca. 50 cm275 langen Schaft in der rechten Hand gehalten haben muss,276 so kann man ausschließen, dass die Aktion auf ein Zustechen abzielte.277 Zu erschließen ist vielmehr ein spielerisches Necken der Eidechse.278 Nicht durch Belege abzusichern ist die Annahme von Renate Preisshofen, dass der knabenhafte Gott als Allegorie des Frühlings die Eidechse mit einem sonnenstrahlgleichen Pfeil aus der Winterstarre zum Licht emportreibe.279 Die zuletzt nochmals von Wilfred Geominy hervorgehobene Ähnlichkeit, die in der Gesichtsbildung zur Eirene des Kephisodot besteht (hier Kat. 11.1.), spricht für eine Datierung des Originals in das 2. Viertel des 4. Jhs. v. Chr.280 Lit.: J.J. Winckelmann, Ville e Palazzi di Roma (2003) 185 zu 8,29–30; Furtwängler, Meisterwerke 569; Geominy, Künstlerlexikon II (2004) 309f. s.v. Praxiteles II; ders., in: Bildhauerkunst II (2004) 294f.; J. Hurwit, Hesperia 75, 2006, 131f.; Praxitèle, Ausst.-Kat. Paris 2007, hrsg. von A. Pasquier u. J.-L. Martinez, 202–35 (mit einer Liste der Repliken). – Zur Kopie im Louvre: GK Denkmäler (2007) Nr. 299; R. Preisshofen, AntPl 28 (2002) 56–59 Kat. S 1 Taf. 21–25; Praxitèle 2007, 216–18 Kat. 50. – Zur Bronzekopie in Cleveland: L. Marinescu in: 16. Bronzekongress, Bukarest 2003 (2004) 301–03; Praxitèle 2007, 206–08 mit Abb. Lehmann/Kansteiner
Vgl. Preisshofen 49f. Zur Länge von Pfeilen vgl. H. Baitinger, Die Angriffswaffen aus Olympia, OF 29 (2001) 7. 276 Die bei der Statuettenwiederholung in der Villa Albani (verändert ist die Haltung des Unterarms bei Darstellungen auf Gemmen) erhaltene rechte Hand erlaubt den Schluss, dass der Pfeil von Daumen, Zeigeund Mittelfinger – vor dem Körper – gehalten wurde. 277 Anders aber noch Geominy 294: „Der Gott ... schleicht sich an, beugt sich leicht vor, ... ist in dieser Haltung, die sich in einem blitzschnellen Zustechen entladen wird, erstarrt.“ Ähnlich bereits Klein, Praxiteles 113: „ein blitzartiges Aufschnellen, und ehe man sichs versieht, ist das grüne Tierchen an die Wand gespießt.“ 278 Vgl. z.B. Furtwängler, Meisterwerke 569. 279 Preisshofen 52f. – Vgl. bereits O. Rayet, Monuments de l’art antique II (1880) Text zu Taf. 17–19. 280 Geominy begründet eine Datierung in die Zeit um 370 folgendermaßen: „Die Züge sind noch von jener weiträumigen Aufteilung der Gesichtsdetails bestimmt, die für das frühe 4. Jh. typisch ist.“ 274
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13.2.
Olympia, Heraion: Marmorstatue des Hermes mit dem Dionysosknaben
Original: Olympia, Museum. Höhe ca. 2,13 m (Sohle–Scheitel); Kopfhöhe 30 cm. Ergänzungen (nicht am Abguss): beide Unterschenkel und der linke Fuß, Kleinigkeiten. Es fehlen der rechte Unterarm mit der Hand, Daumen und Zeigefinger der linken Hand, der Penis und die in den Händen gehaltenen Gegenstände, am Dionysosknaben die Füße und die Finger der linken Hand außer dem Daumen, am Baumstamm der auf der Basis stehende untere Teil.
In der Ausstellung gehört der Hermes zusammen mit den Statuenfragmenten von der Hand des Damophon (Kat. 19.1.–19.2.) zu den einzigen literarisch überlieferten Skulpturen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Original erhalten sind. 13.2.1. Pausanias 5,17,3 (= SQ 1223) Im fünften und sechsten Buch seiner Perihegese behandelt Pausanias (um 115 – um 180 n. Chr.) Olympia. Im Heraion erwähnt er zunächst einige agálmata archaischer Zeit und kommt danach auf Bildwerke zu sprechen, die ursprünglich nicht im Heraion aufgestellt waren. [...] χρόνῳ δὲ ὕστερον καὶ ἄλλα ἀνέθεσαν ἐς τὸ Ἡραῖον· Ἑρμῆν λίθου, Διόνυσον δὲ φέρει νήπιον, τέχνη δέ ἐστι Πραξιτέλους [...]
Später stellte man auch andere Statuen im Heraion auf, so einen Hermes aus Marmor; er trägt den kleinen Dionysos und ist ein Werk des Praxiteles.
Hermes und Dionysos sind im dritten Jahr der deutschen Ausgrabungen in Olympia, am 8. Mai 1877 im Heraion gefunden und sofort mit der Gruppe, die Pausanias ebenda um 175 n. Chr. gesehen hat, identifiziert worden. Zum Zeitpunkt der Auffindung lag der Hermes herabgestürzt von seiner Basis aus weißgrauem Kalkstein, deren an ihrem Platz verbliebene Reste den Aufstellungsort der Statue bezeichneten: zwischen der zweiten und der dritten Innensäule der Nordseite des Heratempels. Wichtig für die Rekonstruktion, insbesondere des Gegenstandes in der verlorenen Rechten des Hermes wurde ein römisches Wandgemälde des 1. Jhs. n. Chr. aus der „Casa
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del Naviglio“ in Pompeji (Abb.): Es zeigt einen dem Hermes im Darstellungsmotiv verblüffend ähnlichen Satyr, der mit seinem linken Arm, von dem ein Mantel herabhängt, den kleinen Dionysos trägt, während er mit seiner Rechten ein Traubenbüschel hochhebt. Auch die Proportionen des Körpers, der zusätzlich mit einem Rehfell bekleidet ist, erinnern sehr an den Hermes, so dass die Vermutung sich aufdrängt, das pompejanische Bild sei von der Statue in Olympia inspiriert worden. Das muss nicht auf direktem Wege geschehen sein; der Figur in Olympia ähnliche Darstellungen des Hermes, eines Satyrn oder eines Silens mit dem Dionysosknaben haben eine lange Tradition in der antiken Kunst. Hermes und Dionysos sind eindeutig gekennzeichnet: Hermes durch die mit auffälliger Detailfreude gearbeiteten Sandalen, den über den stützenden Baumstamm herabfallenden Reisemantel und – vielleicht – ein einst in der Hand gehaltenes Kerykeion (den Botenstab) als Herold und Gott der Wege. Die zumeist kurzen, mehr oder weniger konzentrisch von der Mitte des Schädels ausgehenden, doch in einer natürlich wirkenden Unordnung wiedergegebenen Locken einer ‚Athletenfrisur’ deuten nicht nur die Jugend des Hermes an, sondern wohl auch seine Funktion als Gott der Palästra, also des sportlichen Wettkampfes. Im Haar sind (vor allem am Hinterkopf) Reste des Zweiges wahrscheinlich eines Efeukranzes erkennbar, dessen Blätter in Metall angesetzt waren, worauf Stiftlöcher hinweisen. Ein ‚dionysischer’ Efeukranz würde die enge Verbindung zu Dionysos unterstreichen. Dieser wird durch sein Kindesalter und seine Beziehung zu Hermes charakterisiert. Sein vom Scheitel in Wellen herabfallendes Haar mit einem einst vorhandenen Haarknoten über der Stirn ist eine für Kinder typische Frisur. Der in der Armbeuge seines großen Bruders sitzende kleine Gott stützte den rechten Fuß auf einen von dem Baumstamm abgehenden Ast; der linke Fuß hing frei herunter. Das heitere, gelöste Beisammensein der beiden Zeussöhne enthält nicht zuletzt eine allgemeine Aussage: Hermes und Dionysos gehören zu den von Homer (z. B. Ilias 6,138; Odyssee 4,805) als „leicht lebend“ gekennzeichneten Göttern, Wesen, die ihr seliges Dasein genießen und sich den Menschen als glänzende Erscheinung, als Epiphanie aus einer anderen Sphäre offenbaren. Damit stellt sich die Statue in Olympia zu den neuen Götterbildern, die griechische Künstler des 4. Jhs. v. Chr., insbesondere Praxiteles, in Abkehr von den älteren Darstellungskonventionen geschaffen haben. Genannt seien der Apollon im Belvedere und von Werken des Praxiteles der Apollon Sauroktonos (hier Kat. 13.1.), die Aphrodite von Knidos und der Angelehnte Satyr. Beim Apollon Sauroktonos und bei der Aphrodite von Knidos finden wir ebenfalls ‚genrehafte’ Motive, wie die Kunst der folgenden Epoche des Hellenismus sie gern einsetzte: Der Kontrast zwischen der hochartifiziellen Form und ihrer realistischen Wirkung diente dazu, den Betrachter zum Staunen zu bringen, ihm die intendierte ‚Botschaft’ in suggestiver Weise zu vermitteln. Der Mantel des Hermes ist ein Bravourstück derart ‚realistischer’ Kunst: Die Gestaltung der Faltenkaskaden und die sensible Bearbeitung der Oberfläche mit leichten Eindellungen verwandeln den Marmor scheinbar in schwer fließenden kostbaren Stoff – man fühlt sich an Atlasseide erinnert. Die virtuose Glättung der nackten Partien des Körpers des Hermes im Kontrast zur Frisur, zum Gewand und zum Baumstamm, die durch entsprechende Meißelarbeit jeweils anders charakterisiert sind, sowie die treffende Wiedergabe des Baby-Fleisches des kleinen Dionysos illustrieren ebenfalls das Urteil der antiken Kunstkritik (z. B. Plinius, nat. 7,127; 34,69; 36,20), Praxiteles habe – im Unterschied etwa zu Polyklet und Lysipp
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– seine besten Leistungen nicht in Bronze, sondern in Marmor erzielt. Technisch perfekt sind auch die Anstückungen von Einzelpartien am Mantel des Hermes und am Dionysos. Bemalung muss die realistische Wirkung der Statue verstärkt haben.281 Nach antiker Überlieferung hat Praxiteles der Bemalung seiner Marmorwerke so große Aufmerksamkeit geschenkt, dass er damit gelegentlich einen der berühmtesten Maler seiner Zeit beauftragte, den Athener Nikias (Plinius, nat. 35,133 = SQ 1294). Das Thema ‚Hermes mit dem Dionysosknaben’ war in der Kunst Athens mindestens seit dem 5. Jh. v. Chr. populär. Von Kephisodot dem Älteren (hier Kat. 11) – vielleicht der Vater des Praxiteles – ist ein „Hermes, der dem Dionysosknaben Nahrung gibt“, ein Werk aus Bronze literarisch überliefert (Plinius, nat. 34,87 = SQ 1137). Neu war weder das Sujet der Statue in Olympia, noch der Darstellungstypus, sondern die Art, wie Praxiteles beides realisierte. Die beiden Götter sind in einer augenblicksbezogenen Kommunikation (Spiel mit dem Traubenbüschel) dargestellt und zugleich durch das Motiv der Rast in einen Zustand der Ruhe versetzt. Mythische Erzählung und Wesensaussage verschränken sich so. Formal auffällig ist folgendes: Obwohl Hermes sich mit dem linken Arm, der den Dionysosknaben trägt, aufstützt, ist jeder Eindruck des Lastens vermieden; der Körper reckt sich vielmehr in kühner Schwingung empor. Bestimmend für die Gesamtwirkung der Figur sind weniger die Unterscheidung zwischen Standbein und Spielbein und die daraus abzuleitenden Verschiebungen der Muskeln und Glieder als vielmehr die senkrechte Linie, die man vom leicht gesenkten Gesicht zum linken Spielbein ziehen kann: Sie scheint die tragende Achse zu sein; zu ihren Seiten befinden sich das Kind und das zu ergänzende Traubenbüschel in einem schwankenden Gleichgewicht. Neben dieser optisch dominierenden Achse ist die tatsächliche Stütze von untergeordneter Bedeutung: Es sieht so aus, als könne der Körper sich auch ohne sie aufrecht halten, und dazu passt, dass der Baumstamm von dem herabfallenden Mantelstoff fast vollständig verhüllt wird; die Stütze hat nicht nur ihren Zweck, sondern auch ihre feste Konsistenz scheinbar eingebüßt. Auf optische Reize zielt auch die bereits erwähnte virtuose Marmorarbeit; der Blick des Betrachters gleitet über die wie flimmernd erscheinende, leicht bewegte Oberfläche des Körpers des Hermes, nimmt farblich wie bildhauertechnisch dazu kontrastierende Partien, beleuchtete und verschattete Abschnitte wahr. Unverkennbar ist die Auseinandersetzung des Künstlers mit formalen Problemen: Praxiteles hat während seiner gesamten Karriere verschiedene Möglichkeiten der Stützfigur erprobt; beim Hermes wird die Stütze zum manieristisch verfremdeten Zitat. Eine ähnliche Verfremdung erfährt die den menschlichen Körper als Funktionsgefüge aus belasteten und entlasteten Teilen definierende ‚kontrapostische’ Darstellungsweise, die im 5. Jh. v. Chr. Polyklet zur Vollendung brachte, und die in der griechischen Kunst die Grundlage des Menschenbildes blieb: Reste von Rot fanden sich an den Lippen des Hermes, in seinem Haar (als Grundierung einer anderen Farbe?) und an seiner Sandale (als Grundierung einer Vergoldung?). – Durch Farbe muss ferner das um den Unterkörper des Dionysos gewickelte Mäntelchen von dem Manteltuch des Hermes abgesetzt gewesen sein.
281
Praxiteles
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Während das exzentrisch gelagerte rechte Standbein des Hermes in Verbindung mit einer starken Drehung der Hüfte seitlich auszuschwingen scheint, stützt das linke Spielbein, obwohl es angehoben und zurückgesetzt ist, den Schwerpunkt der Gestalt, welcher sich etwa in der Höhe des Brustmuskelansatzes befindet. Der Sinn des Kontrapostes, das ‚Gewicht’ der Figur im Standbein zu konzentrieren, hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Ein derart voraussetzungsreiches und bildhauertechnisch neuartiges Werk hat seit seiner Auffindung den Verdacht aufkommen lassen, es handele sich nicht um ein ‚klassisches’ Original des Praxiteles, sondern eine spätere Schöpfung in Anlehnung an den großen Meister oder zumindest um eine römische Kopie. Nicht in das eigene Bild von der Skulptur des 4. Jhs. v. Chr. passend fand man die Politur der nackten Teile des Hermes, das ‚realistische’ Gewand, die Querstütze zwischen der linken Hüfte des Gottes und dem Baumstamm, das betont babyhafte Aussehen des Dionysos sowie den Kontrast zwischen der perfekt gearbeiteten Front der Statue und der vernachlässigten Rückseite – vor allem am Kopf des Hermes, am Baumstamm und Manteltuch. Ungeglättete Partien im Rücken des Hermes führte man auf eine Umarbeitung zurück oder auf eine Reparatur nach einer Beschädigung etwa durch ein Erdbeben. Bestätigt schienen solche Annahmen durch die Reste der Basis, auf der die Statue im Heratempel stand: Die Basis kann nach dem unbestrittenen Urteil der Kenner schwerlich vor der hellenistischen Epoche entstanden sein; die Figur muss, auch wenn sie das Werk des großen Praxiteles ist, ursprünglich anders aufgestellt gewesen sein. Letzteres muss aber nicht verwundern: Nach dem Zeugnis des Pausanias war der Heratempel in der römischen Kaiserzeit eine Art Museum, in das verschiedene Kunstwerke von anderen Orten in Olympia überführt wurden. Der Hermes ist ein bedeutendes griechisches Original des späten 4. Jhs. v. Chr., ein Meisterwerk des großen Praxiteles. Die virtuose Marmorarbeit ist deshalb ohne unmittelbare Parallele, weil wir vergleichbare Meisterwerke im Original nicht besitzen. Die Vernachlässigung der Rückseite ist bei Originalen des 4. Jhs. v. Chr. und des frühen Hellenismus dagegen häufiger anzutreffen, nicht zuletzt bei Köpfen; Statuen wurden damals so aufgestellt, dass sie dem Betrachter nur ihre Vorderseite zeigten. Auch der Hermes ist als plastisches Werk so konzipiert, dass die Vorderansicht die gesamte Aussage der Figur enthält; die Flanken und die nach vorn gekrümmte Rückseite besitzen keinen Eigenwert. Eine genaue Untersuchung der unterschiedlichen Bearbeitungsspuren am Rücken des Hermes lässt zudem kein bestimmtes Konzept erkennen – weder eine Umarbeitung, noch eine Reparatur. Praxiteles war ein bereits zu Lebzeiten hochberühmter, viel beschäftigter Bildhauer mit einer großen Werkstatt. Er konnte es sich offenbar leisten, auch bei einem anspruchsvollen Auftrag wie dem Hermes – dessen ursprüngliche Bestimmung in Olympia wir nicht kennen – in perfekter Manier nur das auszuführen, was allgemein sichtbar war. Der erstrebten Wirkung tat dies keinen Abbruch. Lit.: G. Treu in: Olympia III (1897) 194–206 Taf. 49–52; G. Rodenwaldt, ΘΕΟΙ ΡΕΙΑ ΖΩΟΝΤΕΣ (1944) bes. 11ff.; A. Corso, The Hermes of Praxiteles, NumAntCl 25, 1996, 131–53; W. Geominy in: Rezeption und Identität, hrsg. von G. Vogt-Spira u. B. Rommel (1999) 56; ders. in: Künstlerlexikon II, 305f. s.v. Praxiteles II; Praxitèle, Ausst.-Kat. Paris 2007, hrsg. von A. Pasquier u. J.-L. Martinez, 97–103. 120–23. – Zur Ikonographie: LIMC V (1990) 319ff. s.v. Hermes Nr. 365ff. – Zu weiteren Werken des Praxiteles, die anhand von Kopien rekonstruiert werden können, s. K. Stemmer (Hrsg.), Praxiteles oder die Überwindung der Klassik (ungebundener Ausst.-Kat. Berlin 2002); Praxitèle, Ausst.-Kat. Paris 2007, passim. Borbein
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Lysipp
14.
LYSIPP (Λύσιππος) aus Sikyon
14.1.
Aufstellungsort unbekannt, später in Rom: Bronzestatue eines siegreichen Athleten, der seinen rechten Arm von Öl und Schmutz befreit (Apoxyomenos)
Kopie: Rom, Vatikanische Museen, Inv. 1185. – Höhe 1,95 m (Sohle–Scheitel); Kopfhöhe 24 cm. – Pentelischer Marmor; keine Ergänzungen282; am Abguss sind ergänzt die Finger der rechten Hand, das Schabeisen und der Penis. – Fundort: Rom, Trastevere, Vicolo delle Palme (1849). Datierung: claudisch.
14.1.1. Plinius, Naturalis historia 34,62 (= SQ 1502) Innerhalb der kunsthistorischen Passage zu den griechischen Bildhauern im 34. Buch seiner Naturalis historia (34,49–93) nennt Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) im Abschnitt zu Lysipp (34,61–65) von den Werken des Künstlers als erstes die Statue eines Athleten und erzählt, welche Begeisterung das Kunstwerk in Rom auslöste.
Plurima ex omnibus signa fecit, ut diximus, fecundissimae artis, inter quae destringentem se, quem M. Agrippa ante Thermas suas dicavit, mire gratum Tiberio principi. Non quivit temperare sibi in eo, quamquam imperiosus sui inter initia principatus, transtulitque in cubiculum alio signo substituto, cum quidem tanta pop. R. contumacia fuit, ut theatri clamoribus reponi apoxyomenon flagitaverit 282
Er (Lysipp) schuf, außerordentlich fruchtbar in seiner Kunst, wie wir gesagt haben (vgl. Plin. nat. 34,37), die meisten Statuen von allen, darunter einen sich abschabenden , den Marcus Agrippa in einer feierlichen Zeremonie vor seinen Thermen aufstellen ließ und der dem Kaiser Tiberius außerordentlich gefiel. Dieser konnte, obwohl er zu Beginn seiner Regierung Herr über sich war, der von
Zum Erhaltungszustand: P. Moreno (Hrsg.), Lisippo, Ausst.-Kat. Rom 1995, 201.
Lysipp
princepsque, quamquam adamatum, reposuerit.
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dieser Statue ausgehenden Versuchung nicht widerstehen und ließ die Figur in sein Schlafgemach bringen und ersetzte sie durch eine andere; das römische Volk zeigte aber einen so hartnäckigen Eigensinn, dass es im Theater mit Geschrei dringend verlangte, der Apoxyomenos solle wieder an seine Stelle gebracht werden, und der Kaiser, obgleich er so in ihn vernarrt war, ihn wieder zurückstellen ließ.
Aufgrund des ungewöhnlichen, wenn auch nicht singulären Motivs konnte die Statue des ‚Schabers’ kurz nach der Entdeckung, wohl noch 1849, als Kopie der von Plinius erwähnten Figur identifiziert werden,283 was bislang nicht mit ernst zu nehmenden Argumenten bestritten worden ist. Im Gegenteil: „Bei der Betrachtung der Werke Lysipps wird man vom Apoxyomenos ausgehen, obwohl dieser eher ein Spätwerk ist und obwohl seine einzige Kopie nur aus inneren Gründen zugewiesen ist.“284 Die lysippische Statue dürfte ohne Basis aus Griechenland nach Rom verschleppt worden sein. Wie bei anderen griechischen Athletenstatuen, die dieses Schicksal teilten, war in Rom nur noch der Name des Bildhauers, nicht mehr derjenige des Athleten, von Bedeutung (vgl. hier Kat. 5.1.; 10.1.). Allein die Berühmtheit des Lysipp wird dazu geführt haben, dass das Volk – mit Erfolg – dagegen protestierte, dass der Apoxyomenos von Tiberius aus dem öffentlich zugänglichen Ambiente entfernt wurde.285 Vor dem Hintergrund der von Plinius geschilderten, ausnahmslos als glaubhaft angesehenen Anekdote286 überrascht die Tatsache, dass bislang nicht ein einziger antiker Torso oder Kopf sicher als Replik des Apoxyomenos identifiziert werden konnte,287 obwohl die erhaltene Kopie nicht daran zweifeln lässt, dass das Original in Rom abgeformt werden konnte. Die größte Ähnlichkeit mit dem lysippischen Apoxyomenos zeigt interessanterweise der Kopf einer 1962 in Lucus Feroniae bei Rom gefundenen Marmorherme, der ebenfalls nicht in Repliken nachzuweisen ist.288 Zu Recht zurückgewiesen wurde die Identifizierung des Apoxyomenos mit dem an allen vier panhellenischen Agonen siegreichen Ringer Cheilon aus Patrai, der Pausanias zufolge nach seinem Tod im Jahr 322 v. Chr. in Olympia eine von Lysipp geschaffene Statue erhalten hat. Der Text des Pausanias (SQ 1499) enthält keinen Hinweis darauf, dass sich Zur Identifizierung vgl. E. Braun, AdI 1850, 223ff. Lippold, Plastik 279. 285 In Rom gaben außer dem Apoxyomenos auch andere dorthin verschleppte Werke, z.B. eine Darstellung Alexanders (Plin. nat. 34,64 = SQ 1485), eine Vorstellung vom Schaffen des Lysipp, vgl. Lisippo, Ausst.Kat. Rom 1995, 299ff. 286 Entfernte Parallele: Cicero, Verr. 2,4,93 (= SQ 537 [im Auszug]), zu einem von Verres geraubten Apollon des Myron. 287 Zu den vermeintlichen Körperrepliken s. S. Kansteiner in: History of Restoration of Ancient Stone Sculptures, Symposium Los Angeles 2001 (2003) 53f. – Zur ebendort erwähnten Statue in Florenz, jetzt Villa della Petraia, s. V. Saladino in: M. Michelucci (Hrsg.), Apoxyomenos. L’ Atleta della Croazia, Auss.Kat. Florenz 2006, 54–57. – Ein seit etwa 2005 im Antikenmuseum in Basel ausgestellter Torso (Inv. S 385) – antik? – scheint tatsächlich eine maßgleiche Kopie zu sein (Publikation in Vorbereitung). 288 Lisippo, Ausst.-Kat. Rom 1995, 206f. mit Abb. 283
284
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in Olympia im 2. Jh. n. Chr. nur noch die Basis befand, während die Statue bereits nach Rom verschleppt war.289 Zu Unrecht ist man andererseits so weit gegangen, grundsätzlich in Frage zu stellen, dass die Figur des Apoxyomenos das Porträt eines bestimmten Siegers sei (Weber). Die für antike Verhältnisse seltene Körpergröße von etwas mehr als 1,90 m spricht nicht dagegen, da Athletengröße in Olympia bis ca. 1,90 m (= ca. 30 cm Fußlänge) reichte: 1,87 m maß die Statue des Periodoniken Diagoras von der Hand des Kallikles (SQ 1035f.), ähnlich groß waren die Athleten Damoxenidas (SQ 1029, Nikodamos) und wohl auch Eukles (SQ 1001, Naukydes); zu einer mindestens 1,90 m großen Athletenstatue gehört der in Olympia gefundene Bronzekopf eines Faustkämpfers, der rund 20 Jahre vor dem Apoxyomenos, wohl um 340 v. Chr., entstanden ist.290 Andere, vielleicht nicht in Olympia aufgestellte Siegerstatuen entsprechen in der Größe ungefähr dem Apoxyomenos, so z.B. der häufig kopierte Strigilisreiniger aus dem frühen 4. Jh. v. Chr. (1,92 m).291 Hinfällig ist daher Webers Deutung des Apoxyomenos (und des Strigilisreinigers) als „Leitbild für den freien Polisbürger in der Altersstufe des Neos“.
Lit.: H. Schwarzer in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 436f. Kat. D 26; M. Weber, RM 103, 1996, 31–49; B. Andreae (Hrsg.), Bildkatalog der Skulpturen des Vatikanischen Museums II (1997) Taf. 43–49; Künstlerlexikon II, 33 s.v. Lysippos I (P. Moreno); C. Maderna in: Bildhauerkunst II (2004) 351–54 Abb. 319.
Anders H.K. Süsserott, Griechische Plastik des 4. Jahrhunderts vor Christus (1938) 181–83. Vgl. aber SQ 1000 (Paus. 6,9,3), wo Pausanias ausdrücklich feststellt, dass eine Statue des Cheimon aus Argos nach Rom transferiert worden ist. 290 Athen, Nationalmuseum, Inv. X 6439. W. Geominy in: Sportschau, Ausst.-Kat. Bonn 2004, 220–22 Kat. 53. – Die Kopfhöhe beträgt am Abguss in Berlin 26 cm (ohne Haarspitzen). 291 Zur Beurteilung des Strigilisreinigers maßgeblich: W. Geominy in: Bildhauerkunst II (2004) 286–89 Abb. 242a–b; vgl. ferner M. Michelucci (Hrsg.), Apoxyomenos. L’ Atleta della Croazia, Auss.-Kat. Florenz 2006, 21–61. 289
Lysipp
14.2.
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Sikyon (?), später Konstantinopel (?): „Agalma“ des Kairos
Adaption: Relief Turin, Museo di Antichità. – Figurenhöhe 49,5 cm (am Abguss); Kopfhöhe 9,5 cm (am Abguss). Fundort unbekannt.
Adaption: Relief Split, Archäologisches Museum (aus Trogir in Dalmatien). – Figurenhöhe ursprünglich ca. 48 cm; Kopfhöhe 7,7 cm (am Abguss). Fundort unbekannt.292
Zum lysippischen Kairos, der Personifikation des günstigen Augenblicks, liegt ein breites Spektrum an Schriftquellen vor, die abgesehen von einem Epigramm des im 3. Jh. v. Chr. tätigen Dichters Poseidipp von Pella in spätantike oder byzantinische Zeit zu datieren sind (14.2.1–5). Hinzu kommen zwei lateinische Texte (14.2.6–7) aus der Kaiserzeit, die allerdings nicht mit Sicherheit mit dem lysippischen Kunstwerk in Verbindung stehen. 14.2.1. Anthologia Graeca 16,275 (= SQ 1463) Die Zuschreibung des in der Anthologia Graeca überlieferten Epigramms an Poseidipp von Pella wird in der modernen Forschung ausnahmslos akzeptiert.293 Aufgrund seiner zeitlichen Stellung nur rund 100 Jahre nach der Schaffung des lysippischen Kunstwerks kann das Testimonium vergleichsweise hohe Verlässlichkeit beanspruchen. Auch wenn Kunstepigramme in der Regel literarische Vorlagen verarbeiten, so ist es bei diesem Epigramm nicht unwahrscheinlich, dass der Dichter die von ihm beschriebene Statue aus eigener Anschauung kannte. Denn zum einen spricht Poseidipps Herkunft aus Pella dafür, dass er ein Werk Lysipps, das vielleicht sogar im Auftrag Alexanders entstanden ist (vgl. 14.2.4.), auch selbst gesehen haben kann, zum anderen scheint der Dichter genaue Kenntnis vom Aufstellungsort (ἐν προθύροις, im Vorhof) gehabt zu haben. Ferner kommt M. Abramic, ÖJh 26, 1930, 1: „Das Relief ist auf dem Dachboden eines Privathauses unter altem Kram zum Vorschein gekommen.“ 293 So A.S.F. Gow – D.L. Page, Hellenistic Epigramms (1965) Nr. XIX, 3154–3165; E. Fernández-Galiano, Posidipo de Pela (1987) 121–26 Nr. 19; C. Austin – G. Bastianini, Posidippi Pellaei quae supersunt omnia (2002) 180f. Nr. 142. Die Autorschaft des Poseidipp wurde lediglich von P. Schott, Posidippi epigrammata collecta et illustrata (1905) 85 in Zweifel gezogen. Seine Argumentation beruht jedoch weitgehend auf nicht nachvollziehbaren Qualitätskriterien. 292
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hinzu, dass der Dichter – wie an einer Reihe unter dem Titel Andriantopoiika auf einem vor wenigen Jahren entdeckten Mailänder Papyrus erhaltenen Epigrammen auf Statuen deutlich wird – über kunsthistorische Kenntnisse verfügte.294 Das Epigramm imaginiert die Gesprächssituation zwischen dem Kairos und dessen Betrachter. Dass Kunstwerke in epideiktischen Epigrammen als sprechend vorgestellt werden, ist nicht ungewöhnlich. In der schnellen Abfolge von kurzen Fragen und Antworten wird die Flüchtigkeit des Kairos auch sprachlich nachempfunden. ΠΟΣΕΙΔΙΠΠΟΥ Τίς, πόθεν ὁ πλάστης; – Σικυώνιος. – Οὔνομα δὴ τίς; – Λύσιππος. – Σὺ δὲ τίς; – Καιρὸς ὁ πανδαμάτωρ. – Τίπτε δ᾿ ἐπ᾿ ἄκρα βέβηκας; – Ἀεὶ τροχάω. – Τί δὲ ταρσοὺς ποσσὶν ἔχεις διφυεῖς; – Ἵπταμ᾿ ὑπηνέμιος. – Χειρὶ δὲ δεξιτερῇ τί φέρεις ξυρόν; – Ἀνδράσι δεῖγμα, ὡς ἀκμῆς πάσης ὀξύτερος τελέθω. – Ἡ δὲ κόμη τί κατ᾿ ὄψιν; –Ὑπαντιάσαντι λαβέσθαι, νὴ Δία. – Τἀξόπιθεν πρὸς τί φαλακρὰ πέλει; – Τὸν γὰρ ἅπαξ πτηνοῖσι παραθρέξαντά με ποσσὶν οὔτις ἔθ᾿ ἱμείρων δράξεται ἐξόπιθεν. – Τοὔνεχ᾿ ὁ τεχνίτης σε διέπλασεν; – Εἵνεκεν ὑμέων, ξεῖνε, καὶ ἐν προθύροις θῆκε διδασκαλίην. Von Poseidipp Wer ist der Bildhauer, , und woher stammt er? – Aus Sikyon. – Und wie ist sein Name? / – Lysipp. – Und wer bist du? – Kairos, der alles bezwingt. – // Warum läufst du auf den Zehen? – ich immer eile. – Weshalb / hast du Flügelpaare an den Füßen? – ich so schnell wie der Wind fliege. – // (5) Warum hältst du in deiner Rechten ein Rasiermesser? – Als Zeichen für die Menschen, / dass ich mich als schärfer erweise als jede Klinge. – // Wozu ist der Haarschopf vorne an deiner Stirn? – Damit, bei Zeus, mich ergreifen kann, wer mir begegnet. – / Und warum ist dein Hinterkopf kahl? – // Wenn ich erst einmal mit meinen geflügelten Füßen vorbeigelaufen bin, / (10) wird mich niemand mehr von hinten festhalten, auch wenn er es noch so sehr wünscht. // Weswegen hat dich der Künstler geschaffen? – Euch zur Lehre, / Fremder, stellte er im Vorhof auf. Zunächst fragt der fremde Betrachter nach dem Bildhauer. Das Wort πλάστης (plástes) wird in der archäologischen Literatur oftmals als Indiz dafür angeführt, dass es sich um einen Bronzegießer und daher beim Kairos um eine vollplastische Figur gehandelt haben müsse.295 Wenn diese Schlussfolgerungen im vorliegenden Fall auch richtig sein dürfte, kann sie doch nicht allein am Wort πλάστης festgemacht werden, das auch allgemein „Bildhauer, Schöpfer“ bedeuten kann,296 sondern muss sich vor allem auf die Aussage des Kallistratos (14.2.2.) stützen, dass der Kairos aus Bronze war. Zu den Andriantopoiika und ihrem kunsthistorischen Hintergrund s. E. Kosmetatou, Vision and Visibility: Art Historical Theory Paints a Portrait of Leadership in Posidippus’ Andriantopoiika, in: dies. – M. Baumbach (Hrsg.), Labored in Papyrus Leaves: Perspectives on an Epigram Collection Attributed to Posidippus (P. Mil. Vogl. VIII 309) (2004) 187–211. 295 So z.B. Schwarz 245. 296 Vgl. LSJ s.v. πλάστης. 294
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Auf die Frage, wen sie denn darstelle, antwortet die Statue: Kairos, der alles bezwingt. Das Wort Kairos findet sich zwar schon bei Hesiod (7. Jh. v. Chr.; erg. 694), als Personifikation ist Kairos aber erst in einem Hymnos des Ion von Chios (5. Jh.; PMG 742) belegt. Kultische Verehrung fand Kairos, der als jüngster Sohn des Zeus galt, in Olympia (Paus. 5,14,9). Außerdem ist Kairos ein zentraler Begriff in der antiken Philosophie297 und spielte auch in der kunsthistorischen Diskussion um das Zustandekommen der richtigen Proportion eine Rolle.298 Die philosophischen und kunsthistorischen Implikationen des Begriffs „Kairos“ haben in der Forschung Anlass dazu gegeben, die Statue von philosophischen Lehren, der peripatetisch-pythagoreischen oder sogar der stoischen, beeinflusst zu sehen299 oder sie als programmatisches Gegenstück des Künstlers zum polykletischen Kanon zu interpretieren.300 Zwar geht auch das Epigramm des Poseidipp davon aus, dass mit dem Kunstwerk eine Belehrung (διδασκαλίην, v. 12) der Menschen intendiert sei, doch kann diese auch lediglich in der Versinnbildlichung der allgemeinmenschlichen Erfahrung, wie schnell man den günstigen Augenblick ergreifen muss oder verfehlen kann, bestehen. 14.2.2. Kallistratos, Statuarum descriptiones 6,1–4 (= SQ 1464) Ins 4. Jh. n. Chr. werden in der Regel die Kunstbeschreibungen des Kallistratos datiert. Über den Autor ist nichts bekannt. Es kann aber mit einiger Wahrscheinlichkeit vermutet werden, dass er in Konstantinopel tätig war. Bei seinen Kunstbeschreibungen handelt es sich offensichtlich um Übungsreden; vielleicht war Kallistratos also Rhetoriklehrer. Ob er die von ihm beschriebenen 14 Kunstwerke aus Autopsie kannte, ist in der Forschung umstritten.301 Die Beschreibung des Kallistratos gliedert sich in drei Abschnitte: Zunächst nennt er Kunstwerk und Künstler (1), dann folgt ein deskriptiver Teil (1–2). Abgeschlossen wird die Ekphrasis durch eine stark rhetorisierte Interpretation (3–4). Im letzten Teil stellt Kallistratos ähnlich wie bei seiner Beschreibung der Bakche des Skopas (Kallistratos 6,3; hier Kat. 12.1.5.) sein sprachloses Staunen fest und betont die Lebensechtheit der Statue, wobei es sich um einen Topos in der antiken Kunstbeschreibung handelt. ΕΙΣ ΤΟ ΕΝ ΣΙΚΥΩΝΙ ΑΓΑΛΜΑ ΤΟΥ ΚΑΙΡΟΥ (1) Ἐθέλω δέ σοι καὶ τὸ Λυσίππου δημιούργημα τῷ λόγῳ παραστῆσαι, ὅπερ ἀγαλμάτων κάλλιστον ὁ δημιουργὸς τεχνησάμενος Σικυωνίοις εἰς θέαν προὔθηκε. Καιρὸς ἦν εἰς ἄγαλμα τετυπωμένος ἐκ χαλκοῦ πρὸς τὴν φύσιν ἁμιλλωμένης τῆς τέχνης. Παῖς δὲ ἦν ὁ Καιρὸς ἡβῶν ἐκ κεφαλῆς αὐτοῦ
Auf das Standbild (ágalma) des Kairos in Sikyon (1) Ich will dir auch das Werk des Lysipp mit meiner Rede vorführen, das der Künstler als schönstes von seinen Standbildern kunstvoll anfertigte und den Bewohnern von Sikyon zur Schau darbot. Es war Kairos, in ein Standbild aus Bronze gefasst, wobei die Kunst mit der Natur wetteiferte. Ein Knabe war
Vgl. z.B. Plat. leg. 4,709b 7. Vgl. z.B. Plut. mor. 45c. 299 Schwarz 243–66 hält das Kunstwerk von der peripatetisch-pythagoreischen Philosophie beeinflusst, K. Moser v. Filseck, Kairos und Eros (1990) 9–18 von der stoischen. 300 P. Moreno, Testimonianze per la teoria artistica di Lisippo (1973) 1–34. 177–84 (Komm. zu S. 49f.); ders., Vita e arte di Lisippo (1987) 259–70; A. Stewart, AJA 82, 1978, 163–71. 301 Einen forschungsgeschichtlichen Überblick zu der Frage, ob Kallistratos die von ihm beschriebenen Kunstwerke aus Autopsie kannte, geben Bäbler – Nesselrath 12–15. 297
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ἐπανθῶν τὸ τῆς ἥβης ἄνθος. Ἦν δὲ τὴν μὲν ὄψιν ὡραῖος σείων ἴουλον καὶ ζεφύρῳ τινάσσειν, πρὸς ὃ βούλοιτο, καταλιπὼν τὴν κόμην ἄνετον, τὴν δὲ χρόαν εἶχεν ἀνθηρὰν τῇ λαμπηδόνι τοῦ σώματος τὰ ἄνθη δηλῶν.
der Kairos in seiner Jugendblüte; vom Kopf bis zu den Füßen ließ er die Blüte dieser Jugend deutlich hervortreten. Er bot einen schönen jugendlichen Anblick, schüttelte seine ersten Barthaare und ließ sein Haar frei und offen, damit der Zephyr es zausend bewege, wohin er wolle; er hatte eine blühende Hautfarbe und ließ durch das helle Glänzen seines Körpers dessen Blüte sichtbar erscheinen. (2) Er war aber besonders dem Diony(2) Ἦν δὲ Διονύσῳ κατὰ τὸ πλεῖστον sos ähnlich; sein Gesicht nämlich glänzte ἐμφερής· τὰ μὲν γὰρ μέτωπα χάρισιν vor Anmut, und seine Wangen, sich ἔστιλβεν, αἱ παρειαὶ δὲ αὐτοῦ εἰς ἄνθος ἐρευθόμεναι νεοτήσιον ὡραίζοντο rötend wie zu einer Blüte, erstrahlten in jugendlicher Schönheit und vermitἐπιβάλλουσαι ἐς πόδας τοῖς ὄμμασιν telten den Augen eine ἁπαλὸν ἐρύθημα, εἱστήκει δὲ ἐπί τινος σφαίρας ἐπ᾿ ἄκρων τῶν ταρσῶν βεβηκὼς zarte Röte. Er stand auf einer Kugel, und zwar auf den Fußspitzen, mit Flüἐπτερωμένος τὼ πόδε. Ἐπεφύκει δὲ geln an den Füßen. Sein Haar aber war οὐ νενομισμένως ἡ θρίξ, ἀλλ᾿ ἡ μὲν nicht in der üblichen Weise gewachsen, κόμη κατὰ τῶν ὀφρύων ὑφέρπουσα ταῖς sondern sein Haarschopf schob sich über παρειαῖς ἐπέσειε τὸν βόστρυχον, τὰ die Augenbrauen und ließ seine Locken δὲ ὄπισθεν ἦν τοῦ Καιροῦ πλοκάμων auf die Wangen fallen; der hintere Teil ἐλεύθερα μόνην τὴν ἐκ γενέσεως (des Kopfes) des Kairos aber war frei βλάστην ἐπιφαίνοντα τῆς τριχός. von Locken und zeigte nur den Haarwuchs eines Neugeborenen. (3) Wir nun standen in sprachlosem (3) Ἡμεῖς μὲν οὖν ἀφασίᾳ πληγέντες Erstaunen angesichts dieses Anblicks, πρὸς τὴν θέαν εἱστήκειμεν τὸν χαλκὸν da wir sahen, wie die Bronze Werke ὁρῶντες ἔργα φύσεως μηχανώμενον καὶ der Natur vollbrachte und die Grenzen τῆς οἰκείας ἐκβαίνοντα τάξεως· χαλκὸς ihrer Bestimmung überschritt: Obwohl μὲν γὰρ ὢν ἠρυθραίνετο, σκληρὸς δὲ es nämlich Bronze war, rötete sie sich, ὢν τὴν φύσιν διεχεῖτο μαλακῶς εἴκων und obwohl sie von Natur hart war, zerτῇ τέχνῃ πρὸς ὃ βούλοιτο, σπανίζων floss sie weich und folgte δὲ αἰσθήσεως ζωτικῆς ἔνοικον ἔχειν der Kunst, wohin diese wollte; obwohl ἐπιστοῦτο τὴν αἴσθησιν καὶ ὄντως sie keine lebendige Wahrnehmung hatἐστήρικτο πάγιον τὸν ταρσὸν ἐρείσας, te, machte sie den Betrachter glauben, ἑστὼς δὲ ὁρμῆς ἐξουσίαν ἔχειν ἐδείκνυτο καί σοι τὸν ὀφθαλμὸν ἠπάτα, eine ihr innewohnende Wahrnehmung ὡς καὶ τῆς εἰς τὸ πρόσω κυριεύων φορᾶς, zu haben; und in der Tat stand sie da καὶ παρὰ τοῦ δημιουργοῦ λαβὼν καὶ τὴν die Fußsohle fest auf den Boden gedrückt; obwohl aber stehend, wurde sie ἀέριον λῆξιν τέμνειν εἰ βούλοιτο ταῖς so gezeigt, als habe sie die Fähigkeit zu πτέρυξι. eigenem Antrieb, und täuschte dir das Auge, als ob sie sowohl über eine nach vorn gerichtete Bewegung verfüge als auch vom Künstler die Fähigkeit erhalten habe, sogar den Luftraum mit ihren
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(4) Καὶ τὸ μὲν ἡμῖν θαῦμα τοιοῦτον ἦν, εἷς δέ τις τῶν περὶ τὰς τέχνας σοφῶν καὶ εἰδότων σὺν αἰσθήσει τεχνικωτέρᾳ τὰ τῶν δημιουργῶν ἀνιχνεύειν θαύματα καὶ λογισμὸν ἐπῇδε τῷ τεχνήματι, τὴν τοῦ καιροῦ δύναμιν ἐν τῇ τέχνῃ σῳζομένην ἐξηγούμενος· Τὸ μὲν γὰρ πτέρωμα τῶν ταρσῶν αἰνίττεσθαι τὴν ὀξύτητα, καὶ ὡς τὸν πολὺν ἀνελίττων αἰῶνα φέρεται ταῖς αὔραις ἐποχούμενος, τὴν δὲ ἐπανθοῦσαν ὥραν, ὅτι πᾶν εὔκαιρον τὸ ὡραῖον καὶ μόνος κάλλους δημιουργὸς ὁ καιρός, τὸ δὲ ἀπηνθηκὸς ἅπαν ἔξω τῆς καιροῦ φύσεως, τὴν δὲ κατὰ τοῦ μετώπου κόμην, ὅτι προσιόντος μὲνλαβέσθαι ῥᾴδιον, παρελθόντος δὲ ἡ τῶν πραγμάτων ἀκμὴ συνεξέρχεται καὶ οὐκ ἔστιν ὀλιγωρηθέντα λαβεῖν τὸν καιρόν.
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Flügeln zu durchteilen, falls sie das wolle. (4) Und unsere Verwunderung war von solcher Art; einer von denen aber, die sich in den Künsten auskennen und die Wunderwerke der Künstler mit noch kunstverständigerer Wahrnehmung zu ergründen wissen, steuerte zu diesem Kunstwerk auch noch eine rationale Begründung bei und führte aus, dass in dieser Schöpfung die Macht des günstigen Augenblicks bewahrt sei: Die Beflügelung der Füße nämlich deute seine Schnelligkeit an und wie er, das lange Zeitalter aufrollend, auf den Lüften getragen dahineile; sein blühendes Jugendalter an, dass das Jugendalter als ganzes eine gute günstige Zeit darstelle und nur der Kairos ein Schöpfer von Schönheit sei, dagegen alles Verblühte außerhalb der Natur des günstigen Augenblicks stehe; und schließlich deute das über die Stirn fallende Haar an, dass es leicht sei, den günstigen Augenblick zu ergreifen, wenn er herankomme, dass aber mit seinem Vorbeigehen zugleich der entscheidende Moment für Handeln entschwinde und es nicht möglich sei, den günstigen Augenblick noch zu packen, wenn man ihn nicht beachtet habe.
14.2.3. Himerios, oratio 13,1 (= SQ 1465) Wie Kallistratos betont auch der ebenfalls im 4. Jh. n. Chr. tätige Redner Himerios die Jugendlichkeit des Kairos. In einer nur fragmentarisch erhaltenen Schulrede gibt er eine Beschreibung der Statue. Abweichend von den übrigen Quellen hält Kairos bei Himerios eine Waage in der linken Hand. Aus der Formulierung ὡς ἐμὲ μνημονεύειν (soweit ich mich erinnere) hat man abzuleiten versucht, dass Himerios das beschriebene Kunstwerk in Konstantinopel oder Athen gesehen hat.302 Doch ist ebenso denkbar, dass er eine literarische Schilderung aus der Erinnerung wiedergibt. Zudem dürfte Himerios mit dem Einschub vor allem die Absicht verfolgen, den Hörern und Lesern der Rede zu signalisieren, dass es ihm in erster Linie um das Exemplum für die Klugheit des Lysipp und nicht so sehr um eine detailgetreue Beschreibung des Kairos geht.
302
H. Völker, Himerios. Reden und Fragmente (2003) 186 Anm. 6.
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Προτρεπτικὸς εἰς τοὺς περὶ Πείσωνα νεήλυδας Pisos Δεινὸς δὲ ἦν ἄρα οὐ χεῖρα μόνον, ἀλλὰ καὶ γνώμην ὁ Λύσιππος. Οἷα γοῦν ἐκεῖνος διὰ τῆς ἑαυτοῦ γνώμης τετόλμηκεν· ἐγγράφει τοῖς θεοῖς τὸν Καιρόν, καὶ μορφώσας ἀγάλματι τὴν φύσιν αὐτοῦ διὰ τῆς εἰκόνος ἐξηγήσατο. Ἔχει δὲ ὧδέ πως, ὡς ἐμὲ μνημονεύειν, τὸ δαίδαλμα. Ποιεῖ παῖδα τὸ εἶδος ἁβρόν, τὴν ἀκμὴν ἔφηβον, κομῶντα μὲν τὸ ἐκ κροτάφων εἰς μέτωπον, γυμνὸν δὲ τὸ ὅσον ἐκεῖθεν ἐπὶ τὰ νῶτα μερίζεται, σιδήρῳ τὴν δεξιὰν ὡπλισμένον, ζυγῷ τὴν λαιὰν ἐπέχοντα, πτερωτὸν τὰ σφυρά, οὐχ ὡς μετάρσιον ὑπὲρ γῆς ἄνω κουφίζεσθαι, ἀλλ’ ἵνα δοκῶν ἐπιψαύειντῆς γῆς λανθάνῃ κλέπτων τὸ μὴ κατὰ γῆς ἐπερείδεσθαι.
Protreptikos (Ermutigungsrede) an die neuen Schüler aus dem Hause Lysipp war nicht nur handwerklich geschickt, sondern auch ein kluger Kopf. An welch bedeutende Werke hat er sich dank seiner Klugheit herangewagt! So reihte er den Kairos unter die Götter ein, verlieh ihm in einem Standbild Gestalt und legte mit diesem Bild sein Wesen dar. Soweit ich mich erinnere, war das Kunstwerk folgendermaßen ausgeführt: Er schuf einen Knaben von zarter Gestalt, in der Blüte der Jugend, mit langem Haar von den Schläfen bis zur Stirn, aber kahl am Hinterkopf (wörtlich: von dort bis zum Rücken), in der Rechten bewaffnet mit einem Eisen (Klinge/Schwert/Messer) und die Linke mit einer Waage vorstreckend; an den Knöcheln hat er Flügel, nicht um sich hoch über die Erde erheben zu können, sondern damit dadurch, dass er die Erde nur leicht zu berühren scheint, die Tatsache verborgen bleibt, dass er den Eindruck zu erwecken versucht, sich auf die Erde abzustützen.
14.2.4. Tzetzes, Chiliades 8,428–434 (= SQ 1466) In der byzantinischen Literatur wird der Kairos des Lysipp durchgängig als Chronos (Zeit) bezeichnet. Mehrfach erwähnt ihn der byzantinische Gelehrte Johannes Tzetzes (um 1110–1185) in seinen Briefen (epist. 70, epist. 95) und einem in Versform verfassten philologisch-historischen Kommentar zu seinem eigenen Briefcorpus (chil. 8,428–34; 10,264–74; 10,289f.). Außer bei Tzetzes findet das lysippische Kunstwerk auch bei den Geschichtsschreibern Nikephoros Blemmydes (1197–1272)303 und Kedrenos (Kat. 14.2.5.) Erwähnung. Da Tzetzes in chil. 10,290, epist. 70 und epist. 95 von einem Gemälde spricht, ist anzunehmen, dass er aus eigener Anschauung oder aus einer literarischen Beschreibung ein Bild kannte, das den Kairos zeigte. Offensichtlich war darauf eine weitere Figur abgebildet, die Tzetzes in epist. 70 ausführlicher erklärt: Nachdem Kairos an der Figur vorbeigeeilt sei, halte er ihr nach hinten gerichtet ein Messer entgegen, womit die Stiche angedeutet würden, wie sie diejenigen, die die Zeit versäumt hätten, verspürten. Οὗτος ὁ Σικυώνιος ὁ Λύσιππος ὁ πλάστης, καὶ Ἀλεξάνδρου πῶ ποτε χρόνον παραδραμόντος, καὶ ἀθυμοῦντος δὲ δεινῶς τῇ παροιχήσει τούτου, πανσόφως ἠγαλμάτωσε τοῦ χρόνου τὴν εἰκόνα, 303
F. Osann, AZ 10, 1852, 460.
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πάντας ἐντεῦθεν νουθετῶν, χρόνον μὴ παρατρέχειν, κωφόν, ὀπισθοφάλακρον, πτερόπουν ἐπὶ σφαίρας, πρὸς τὸ κατόπιν μάχαιραν τινὶ διδόντα πλάσας. Dieser Bildhauer Lysipp aus Sikyon / hat auch, als Alexander einst einen günstigen Augenblick hatte vorübergehen lassen / und sich über diese Nachlässigkeit gewaltig ärgerte, / in großer Klugheit ein Standbild des Chronos angefertigt, / mit dem er allen ans Herz legte, den günstigen Augenblick nicht vorübergehen zu lassen, / indem er ihn taub, hinten kahl, mit geflügelten Füßen auf einer Kugel darstellte, / wie er jemandem nach hinten ein Messer reicht. 14.2.5. Kedrenos 1,564 (= SQ 1467) Der Historiker Georgios Kedrenos (11./12. Jh. n. Chr.), der eine Chronik von der Erschaffung der Welt bis zum Jahr 1057 kompilierte, behandelt auch die Kunstsammlung des byzantinischen Beamten Lausos am Hofe Kaisers Theodosios II. (reg. 408–450) in Konstantinopel, in der sich die Statue (bzw. eine Adaption) des ‚Chronos’ des Lysipp befunden habe. Die Schilderung des Kedrenos gilt als weitgehend glaubwürdig, da er auf Konstantin von Rhodos (886–912) und dieser auf Malchos aus Philadelphia in Syrien (5. Jh.) fußt.304 Kαὶ τὸ τὸν χρόνον μιμούμενον ἄγαλμα, ἔργον Λυσίππου, ὄπισθεν μὲν φαλακρόν, ἔμπροσθεν δὲ κομῶν.
Und das Standbild, das die Zeit darstellt, ein Werk des Lysipp; hinten kahl, vorne mit Haaren.
14.2.6. Phaedrus 5,8 (= SQ 1466 Kleindruck) In zwei lateinischen Texten (14.2.6–7) ist der Bezug zum lysippischen Kairos nicht gesichert, da kein oder ein anderer Künstlername (Phidias) angegeben ist. Im Falle des Gedichtes des römischen Fabeldichters Phaedrus (1. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr.) ist es aber aufgrund der darin gegebenen Beschreibung und der Bemerkung, dass die Alten (antiqui) ein solches Bild (effigies) der Zeit (tempus) dargestellt hätten, recht wahrscheinlich, dass das Werk Lysipps gemeint ist.
Cursu volucri, pendens in novacula, calvus, comosa fronte, nudo corpore, (quem si occuparis, teneas; elapsum semel non ipse possit Iuppiter reprehendere), occasionem rerum significat brevem. Effectus impediret ne segnis mora, finxere antiqui talem effigiem Temporis. Geflügelten Laufs, auf Messers Schneide schwebend, / kahlköpfig, dicht behaart die Stirn, am Körper nackt – / wenn du ihn ergreifst; so hast du ihn; ist er erst einmal entwischt, / könnte ihn selbst Jupiter nicht festhalten –: / (5) den günstigen Augenblick zum Handeln, den kurzen, bezeichnet er. / Damit nicht träges Zaudern den Erfolg verhindere, / schufen die Alten ein solches Bild der Zeit. M. Vickers, Phidias’ Olympian Zeus and its Fortuna, in: J.L. Fitton (Hrsg.), Ivory in Greece and the Eastern Mediterranean from the Bronze Age to the Hellenistic Period (1992) 217–25; B. Bäbler, in: H.-J. Klauck (Hrsg.), Dion von Prusa. Olympische Rede (2000) 237.
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14.2.7. Ausonius, Epigrammata 12 (= SQ 1466 Kleindruck) Ein Epigramm des Ausonius (um 310 – 394) variiert das eingangs vorgestellte Epigramm des Poseidipp (14.2.1.).305 Auch bei Ausonius ist ein Gespräch zwischen einem fiktiven Betrachter und dem Kunstwerk imaginiert. Da der günstige Augenblick im Lateinischen mit dem femininen Wort occasio bezeichnet wird, handelt es sich bei der dargestellten Figur um eine Frau. Dieser ist zusätzlich eine weitere Person, Metanoia (Reue), an die Seite gestellt. Ob das Epigramm des Ausonius lediglich eine literarische Variation darstellt oder auf ein Bildwerk zurückgeht, lässt sich nicht entscheiden.
‘Cuius opus’ ‘Phidiae, qui signum Pallados, eius, quique Iovem fecit, tertia palma ego sum. Sum dea quae rara et paucis Occasio nota.’ ‘Quid rotulae insistis?’ ‘Stare loco nequeo.’ ‘Quid talaria habes?’ ‘Volucris sum. Mercurius quae et Fortuna solet, trado ego, cum volui.’ ‘Crine tegis faciem.’ ‘Cognosci nolo.’ ‘Sed heus tu occipiti calvo es.’ ‘Ne tenear fugiens.’ ‘Quae tibi iuncta comes?’ ‘Dicat tibi.’ ‘Dic, rogo, quae sis.’ ‘Sum dea cui nomen nec Cicero ipse dedit; Sum dea quae facti non factique exigo poenas, nempe ut paeniteat: sic Metanoea vocor.’ ‘Tu modo dic, quid agat tecum.’ ‘Quandoque volavi haec manet; hanc retinent quos ego praeterii. Tu quoque dum rogitas, dum percontando moraris, elapsam disces me tibi de manibus.’ „Wessen Werk ?“ – „ des Phidias, der die Statue der Pallas (Athena Parthenos) / und den Zeus (in Olympia) geschaffen hat, sein dritter Siegespreis bin ich. // Ich bin eine Göttin, die selten und nur wenigen bekannt ist, des günstigen Augenblicks.“ / „Warum stellst du dich auf ein Rad?“ „An einem Ort stehen zu bleiben vermag ich nicht.“ // „Warum trägst du Flügelschuhe?“ Weil ich flüchtig bin. Was Merkur und Fortuna zu schenken pflegen, das übergebe ich, sobald ich es will.“ / „Du bedeckst dein Gesicht mit Haar.“ „Ich will nicht erkannt werden.“ „Aber sieh, / am Hinterkopf bist du kahl.“ „Ja, damit ich nicht festgehalten werden kann, wenn ich fliehe.“ // „Wer ist dir als Begleiterin zur Seite gestellt?“ „Das soll sie dir selbst sagen.“ „Sag, ich frage dich, wer bist du?“ / Ich bin eine Göttin, der nicht einmal Cicero einen Namen zu geben vermochte. // Ich bin die Göttin, die für Getanes und Versäumtes die Strafen einfordert, / damit die Reue folgt. Deshalb nennt man mich Metanoia (sc. die Reue).“ // „Doch du, sag, was sie zusammen mit dir tut?“ „Sobald ich weggeflogen bin, bleibt sie zurück; diejenigen, an denen ich vorübergegangen bin, behalten sie zurück. // Auch du, während du fragst und beim Fragestellen verweilst, wirst merken, dass ich dir aus den Händen entwichen bin.“
Zum Verhältnis zum Epigramm des Poseidipp vgl. F. Benedetti, La tecnica del „vertere“ negli epigrammi di Ausonio (1980) 109–22; R.P.H. Green, The Works of Ausonius (1991) 384f.
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Die in den Quellen genannten Eigenschaften und Attribute der Kairos-Darstellung (Lauf auf den Zehen; Flügel an den Füßen; Rasiermesser in einer Hand; Haarschopf vorne über der Stirn, Kahlheit am Hinterkopf) haben erstmals im 18. Jh. zu einer Identifizierung mit der Figur des ausgestellten, damals wie heute in Turin aufbewahrten Reliefs geführt.306 Ernst Curtius hielt das Relief, dem das hier ebenfalls gezeigte, im 20. Jh. bekannt gewordene Relief in Split und ein Relieffragment in Athen weitgehend, aber nicht im Replikensinn entsprechen, für die Kopie eines lysippischen Reliefs.307 Dies ist allerdings nicht mit der von Kallistratos verwendeten Bezeichnung als ágalma aus Bronze zu vereinbaren, die dafür spricht, dass es sich um ein rundplastisches Werk gehandelt hat. Will man die Reliefs mit dem für Lysipp bezeugten Kairos in Verbindung bringen, ist man vielmehr gezwungen, ein ‚Zwischenoriginal’ zu postulieren, in welchem die rundplastische Bronzeskulptur – unter Berücksichtigung der Größe des Vorbilds? – eine Umsetzung als Relief erfahren hat. Parallelen für die Umsetzung einer griechischen Statue in ein Relief, das seinerseits vervielfältigt wird, sind anscheinend sonst nicht bezeugt (vgl. den Komm. zu Kat. 4.1.).308 Beim Kairos wäre die Umsetzung aber deshalb plausibel, weil die Plastik, wohl eine knabengroße Statue oder eine Statuette, aus statischen Gründen – der rechte Fuß berührte den Boden nicht (vgl. das Relief in Turin) – schwerlich in Stein kopiert werden konnte und weil man nicht davon ausgehen kann, dass es sich bei der Ur-Relieffassung um eine ‚lysippisierende’ Umsetzung des Epigramms und nicht um die Adaption einer Plastik gehandelt hat. Die Körperwiedergabe der Relieffiguren lässt sich mit der für lysippische Werke erschlossenen Körperbildung in Einklang bringen, wobei die Autorschaft eines anderen Bildhauers nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Außer dem von Lysipp geschaffenen Bildwerk überliefern die antiken Quellen allerdings keine weitere Darstellung des Kairos.309 Folgt man Kallistratos, so müsste das Original in Sikyon gestanden haben.310 Fraglich bleibt, wie genau die Relieffassung am Vorbild orientiert war. Im Relief könnten – ebenso wie in den späteren Quellen – Details interpoliert sein:311 die Rückenflügel (in den Quellen nicht erwähnt), die Waage (davon abhängig die Position der rechten Hand), das Rasiermesser (in der linken statt in der rechten Hand). Die durch Kallistratos und Tzetzes bezeugte Kugel ist mit Stefan Altekamp als Zutat anlässlich einer Neuaufstellung in Konstantinopel denkbar. Erschwert wird die Rekonstruktion des Originals zusätzlich Text zu Kapitel 22 der „Marmora Taurinensia“ (1743), hrsg. von G.P. Ricolvi und A. Rivantella (vgl. Altekamp 145). Im 19. Jh. findet sich eine Diskussion der Verbindung von Text und Skulptur z.B. bei O. Jahn, BerSächsGesdWiss 1853, 55. 307 E. Curtius, AZ 33, 1875, 7. 308 Umsetzungen von Freiplastik in Reliefs, die nicht vervielfältigt worden sind, lassen sich – u.a. bei einem Werk des Lysipp – belegen, vgl. ein Relief in Kyrene, das den Eros, der den Bogen spannt, in verkleinerter Form adaptiert (Lisippo, Ausst.-Kat. Rom 1995, 392 mit Abb.). Ebensowenig wie der Kairos konnte das Original des Satyrs aus Mazara del Vallo in Marmor kopiert werden, da die Figur nur mit der rechten Fußspitze den Boden berührt. Eine stark verkleinerte Adaption dieses Satyrs zeigt das Relief eines Grabaltars in Piacenza, vgl. P. Moreno in: R. Petriaggi (Hrsg.), Il Satiro danzante di Mazara del Vallo, Kongress Rom 2003 (2005) 222 mit Abb. 33. 309 Falsch Ausonius (hier 14.2.7.; Moser 158f.), der als Bildhauer der Occasio Phidias nennt. 310 Moser 153 bezweifelt dies; Stewart hält es für denkbar, dass der Kairos zur Ausstattung des Hauses des Lysipp gehört hat. Schwarz 264–66 zieht als Aufstellungsort den Palast Alexanders in Pella in Erwägung. – Der Schwierigkeit, den Aufstellungsort zu lokalisieren, hat Moreno dadurch zu entgehen versucht, dass er ohne Anhalt mehrere rundplastische Originalfassungen annahm (LIMC V, 922). 311 So G. Schwarz, Die griechische Kunst des 5. und 4. Jhs. v. Chr. im Spiegel der Anthologia Graeca (1971) 92; anders Moser, Kairos 4; Altekamp 140. 306
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dadurch, dass zwei weitere Reliefadaptionen ähnlicher Größe (St. Petersburg, Ermitage, Inv. A 544 [s. Abb.] und ehemals Florenz, Palazzo Medici), die neuerdings als antik gelten,312 Kairos bärtig zeigen, mithin als Darstellungen des Chronos (vgl. Kat. 14.2.5.) zu verstehen sind. Der aus Sikyon stammende Bronzegießer Lysipp soll dem Historiker Duris von Samos zufolge (SQ 1444) Autodidakt gewesen sein und im Verlauf seiner langen Schaffenszeit (ca. 370–310 v. Chr.) sehr viele Bildwerke, wohl ausschließlich aus Bronze, geschaffen haben.313 Außer dem Kairos und dem Apoxyomenos können nur zwei weitere Plastiken, die in der literarischen Überlieferung für Lysipp bezeugt sind, mit großer Wahrscheinlichkeit in Form von Kopien nachgewiesen werden: die Statuette des sitzenden Herakles Epitrapezios (SQ 1475f.)314 und – in Kopien des Kopfes – ein Porträt des Sokrates (SQ 1493).315 Weitere Skulpturen des Lysipp sind zwar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kopien zu fassen, lassen sich aber nicht mit Schriftquellen verbinden, in denen thematisch übereinstimmende Bildwerke des Lysipp Erwähnung finden: es sind dies der Eros, der die Spannung des Bogens prüft,316 und der Herakles Typus Farnese (s. hier Kat. 24, Glykon).317 Lediglich im Hinblick auf das Bildschema greifbar sind dagegen lysippische Arbeiten, die nur auf Münzbildern wiederholt worden sind,318 sowie eine sitzende, ursprünglich in Tarent aufgestellte Kolossalstatue des Herakles (SQ 1468ff.), auf die außer Münzen mehrere kleine Bronzestatuetten und eine Marmorstatuette Bezug nehmen.319 Ein weiterer statuarischer Typus des Herakles, der Herakles Typus Lenbach, ist von der jüngeren Forschung ohne ersichtlichen Grund aus dem Œuvre des Lysipp ausgeklammert worden.320 Das Standmotiv dieses Herakles entspricht in etwa demjenigen einer Statue unbekannten Inhalts, deren Standspuren auf einer von Lysipp ‚signierten’ Basis in Korinth Vgl. S. Ensoli in: Lisippo a.O. 395f. mit Abb.; anders etwa A. Greifenhagen, Die Antike 11, 1935, 67ff. Taf. 4; Altekamp 143. – Vgl. auch antike Gemmen mit Darstellungen des bärtigen Kairos (Lisippo a.O. 195. 397 mit Abb.). 313 Sicher übertrieben ist die Zahl von 1500 Werken, die Plinius (nat. 34,37 = SQ 1445) überliefert. 314 S. Kansteiner, Herakles (2000) 79; M. Meyer, 33. Erg.-H. JdI (2006) 62 Anm. 288. 315 Sokrates Typus B: P. Zanker, Die Maske des Sokrates (1995) 62–66; D. Piekarski, Anonyme griechische Porträts des 4. Jhs. v.Chr. (2004) 36f.; I. Scheibler, JdI 119, 2004, 179–86. 316 Dieser Eros ist ohne sicheren Anhalt wiederholt mit dem Eros verbunden worden, den Pausanias in Thespiai nennt (Paus. 9,27,3 = SQ 1461), vgl. Lisippo, Ausst.-Kat. Rom 1995, 111ff. 317 Zum Œuvre des Lysipp dürften außerdem zu zählen sein der Sandalenbinder (Lisippo a.O. 230ff.) und der Alexander Azara, vgl. B. Palma Venetucci (Hrsg.), Uomini illustri dell’antichità I/2 (1992) 187–90 Nr. 1 mit Abb. (B. Cacciotti); A. Stewart, Faces of Power (1993) 165. 423 Abb. 45f.; S. Kansteiner in: M. Kunze (Hrsg.), Alexander der Große. Ausst.-Kat. Stendal 2000, 42f. 318 Vgl. L. Lacroix, Les reproductions de statues sur les monnaies grecques (1949) 322f.; Lisippo, Ausst.Kat. Rom 1995, 50. 319 S. Kansteiner, Herakles (2000) 102–05. 320 Die Verbindung mit Lysipp wurde befürwortet u.a. von A. Furtwängler, Beschreibung der Glyptothek (1900) 242f. Nr. 245, dem auch die Konstituierung des Typus zu verdanken ist. Vgl. Kansteiner, Herakles 78f. 312
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erhalten sind.321 Der Kopf des Herakles ist im Verhältnis zur Gesamthöhe noch kleiner als der des Apoxyomenos, was gut zum Urteil des Plinius (nat. 34,65) passt, demzufolge Lysipp die Köpfe kleiner gebildet habe als andere Bildhauer vor ihm. – Nicht als eine originale Arbeit des Lysipp anzusehen ist die Marmorstatue des Agias in Delphi, in der man immer wieder eine ‚Zweitanfertigung’ einer Bronzestatue des Agias erkannt hat, die als Werk des Lysipp inschriftlich in Pharsalos (Phthiotis) bezeugt ist.322 Geominy hat herausarbeiten können, dass der delphische Agias gemeinsam mit den anderen Statuen des Daochos-Monuments erst in den 280er Jahren realisiert worden sein dürfte.323 Hinsichtlich des ‚Kunstcharakters’ bzw. der ‚Handschrift’ des Lysipp sind den Schriftquellen kaum aussagekräftige Informationen zu entnehmen: Lysipp soll den Doryphoros des Polyklet als seinen Lehrmeister bezeichnet haben (Cicero, Brutus 86,296 = SQ 954). Inwieweit sich dies in seinen Werken niederschlug, entzieht sich nicht zuletzt in Ermangelung des Nachweises von Frühwerken der Beurteilung. Unklar bleibt auch, worin die constantia, elegantia (Plin. nat. 34,66) und veritas (Quintilian = SQ 1296) seiner Skulpturen zum Ausdruck gekommen sein soll. Lit.: G. Schwarz, Der lysippische Kairos, Grazer Beiträge 4, 243–66; A.F. Stewart, AJA 82, 1978, 163–71; S. Altekamp, Boreas 11, 1988, 138–48; K. Moser v. Filseck, Der Apoxyomenos des Lysipp (1988) 151–68; dies., Kairos und Eros (1990) 1–8; LIMC V (1990) 922 s.v. Kairos Nr. 1–6 Taf. 597; P. Moreno (Hrsg.), Lisippo, Ausst.-Kat. Rom 1995, 190–95. 395f.; B. Borg, Der Logos des Mythos (2002) 85–88 Abb. 9–11; U. Schädler in: Zum Verhältnis von Raum und Zeit in der griechischen Kunst, Symposion Frankfurt 2000 (2003) 171–82; C. Maderna in: Bildhauerkunst II (2004) 346–48 Abb. 320; A. Zaccaria Ruggiu, Le forme del tempo (2006) [n.v.]; B. Bäbler – H.G. Nesselrath, Ars et Verba. Die Kunstbeschreibungen des Kallistratos (2006) 67–78. Lehmann/Kansteiner
J. Marcadé, Recueil des signatures de sculpteurs grecs I (1953) 69 Taf. 13,1; Lisippo, Ausst.-Kat. Rom 1995, 57f. mit Abb.; C. Edwards in: O. Palagia (Hrsg.), Personal Styles in Greek Sculpture (1996) 133f. Abb. 71. – Die Länge der langgestreckten Einlassungen für die Fußverzapfung beträgt ca. 18 cm. 322 Vgl. vor allem W. Geominy, Klio 80, 1998, 369–401; ders. in: Sportschau, Ausst.-Kat. Bonn 2004, 224–26. – Zur verschollenen Inschrift: Marcadé a.O. 67v–68; Lisippo a.O. 81. 323 Problematisch bzw. in vielen Fällen sicher irrig sind die vornehmlich von Moreno postulierten Zuweisungen weiterer Bildwerke, u.a. des berühmten sitzenden Boxers aus den Thermen des Caracalla, zum Œuvre des Lysipp, vgl. Lisippo a.O. passim; Künstlerlexikon II, 27–39. 321
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Boïdas
15.
BOÏDAS (Βοΐδας) aus Byzantion (?)
15.1.
Aufstellungsort unbekannt: Statue eines Betenden
Fehlzuweisung: Berlin, SMPK, Antikensammlung Sk 2; von Friedrich II. von Preußen im Jahr 1747 erworben. Bronze. Höhe 1,28 m (Sohle–Scheitel); Kopfhöhe 17,5 cm. Ergänzt sind beide Arme. Fundort: Rhodos (vor 1503). Datierung: 3. Jh. v. Chr.
Die Statue des sog. Betenden Knaben dient in der Ausstellung als Beispiel für eine Fehlzuweisung, die in der archäologischen Forschung aufgrund eines antiken Textes vorgenommen wurde. 15.1.1. Plinius, Naturalis historia 34,73 (= SQ 1521) Im Abschnitt über die griechische Bildhauerkunst im 34. Buch seiner Naturalis historia zählt Plinius d. Ä. (23/24–79 n. Chr.) nach der chronologischen Behandlung der berühmtesten Bildhauer (53–71) weitere weniger bekannte Bildhauer und deren Werke auf (72–84).
Boëdas adorantem (sc. fecit).
Boëdas (sc. schuf) einen Betenden.
Als einer der Söhne und als Schüler des Lysipp (so Plin. nat. 34,66 = SQ 1516) dürfte Boïdas (lat.: Boëdas), der vielleicht in Byzantion ansässig war,324 im mittleren 4. Jh. v. Chr. geboren worden sein. Für die Entstehungszeit der von ihm geschaffenen Statue eines betenden Mannes, der Aufnahme in die Liste berühmter Bronzegießer und ihrer Werke in Buch 34 zufolge sicherlich ein Werk aus Bronze, ergibt sich daher ein ZeitfenVitruv 3, praef. 2 (= SQ 2053): Boëdas (Overbeck: Bedas) Byzantius. – Andere Schriftquellen zu Boïdas/ Boëdas sind nicht bekannt; zum Namen vgl. LGPN II, 89.
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ster, das von etwa 330 bis 280 v. Chr. reicht. In eben dieser Zeit ist – so die communis opinio – die Statue des sog. Betenden Knaben auf Rhodos gegossen worden, so dass sich auch die jüngste Forschung (Künstlerlexikon) noch dazu hat verführen lassen, die Berliner Statue mit dem Werk des Boïdas gleichzusetzen. Dagegen spricht jedoch, dass die Statue einen Knaben im Alter von 9–10 Jahren zeigt, während bei Plinius, der im 34. Buch sehr wohl zwischen Statuen Erwachsener und Statuen von Knaben unterscheidet, keine Spezifizierung auf einen Knaben hinweist.325 Da beide Arme der Bronze aus dem 17. Jh. stammen, ist es außerdem nicht möglich, den Gestus und damit das Thema der Statue sicher zu bestimmen. Beide Oberarme waren zwar auch ursprünglich mit Sicherheit erhoben, so dass ein Gebetsgestus durchaus in Frage kommt;326 denkbar ist aber auch die Zugehörigkeit der Figur zu einer Gruppe,327 aufgrund des geringen Alters eher unwahrscheinlich hingegen die von Stefan Lehmann vertretene Interpretation als „dankende und zugleich frohlockende“ Statue eines Knabensiegers bei den rhodischen Helios-Spielen.328 Gerhard Zimmer hat den Vorschlag gemacht, den „Betenden Knaben“ von Boïdas zu
trennen und im Œuvre des Teisikrates aus Sikyon zu verankern. Durch Plinius (nat. 34,67) ist für Teisikrates, einen Lysippschüler zweiter Generation, die Autorschaft eines Porträts des Demetrios, der im Jahr 305 Rhodos erfolglos belagert hat, bezeugt: dieses sieht man in einer frühkaiserzeitlichen Marmorherme aus der Villa dei Papiri in Herculaneum (Abb.) überliefert,329 die wiederum gewisse Entsprechungen allgemeiner Art (Kopfhaltung) und spezifischer Art (Details der Haarwiedergabe) zur Statue in Berlin zeigt. Die Abweichungen, die zwischen der Herme und Kopfprofilen des Demetrios auf Münzen bestehen, machen aber deutlich, dass die Identifizierung, mithin die Verbindung mit Teisikrates nicht als gesichert angesehen werden kann. Anhand der Herme aus der Villa dei Papiri kann der Bildhauer des Betenden Knaben nicht ermittelt werden. Lit.: R. Kabus-Preißhofen, AA 1988, 679–99; G. Zimmer – N. Hackländer, Der Betende Knabe: Original und Experiment (1997); S. Lehmann, ÖJh 66, 1997, 117–28; Künstlerlexikon I, 121f. s.v. Boidas (W. Müller); B. Andreae, Skulptur des Hellenismus (2001) 59f. Taf. 1f. Lehmann/Kansteiner Vgl. Plin. nat. 34,59 (Knabe mit Tafel); 34,75 (reitende Knaben) etc. Vgl. Kabus-Preißhofen 690f. 327 Vgl. Zimmer 20. 328 Vgl. Kabus-Preißhofen 697. 329 Neapel, Museo Nazionale, Inv. 6149. – Ohne Replik. – Andreae 59f. Taf. 5. 325
326
114
Chares
16.
CHARES (Χάρης) aus Lindos
16.1.
Rhodos, Hafenbereich330 : Kolossalstatue des Helios
Adaption (?) des Kopfes: Rhodos, Archäologisches Museum, Inv. 144. Kalkstein. Kopfhöhe 29–30 cm; Gesichtshöhe 22 cm. – Fundort: Rhodos, unweit des Kastells (1938). Datierung: um 170/150 v. Chr.
Für den gezeigten Kopf lässt sich trotz seines Fundorts keine Abhängigkeit von der Kolossalstatue des Chares wahrscheinlich machen. Er dient in der Ausstellung lediglich der Veranschaulichung der Schwierigkeiten, die der Rekonstruktion des Kolosses bis heute entgegen stehen. 16.1.1. Plinius, Naturalis historia 34,41 (= SQ 1539) Vor dem Abschnitt zu den griechischen Bronzebildnern, aus dem die meisten in diesem Katalog zitierten Plinius-Passagen stammen (49–93), behandelt Plinius im 34. Buch seiner Naturalis historia die Verwendung von Bronze in der Bildenden Kunst nach thematischen Gesichtspunkten (15–48). In den Kapiteln 39–47 zählt er eine Reihe von Kolossalstatuen auf.
Ante omnes autem in admiratione fuit Solis colossus Rhodi, quem fecerat Chares Lindius, Lysippi supra dicti discipulus. LXX cubitorum altitudinis fuit hoc simulacrum, post LXVI annum terrae motu prostratum, sed
Vor allen aber bewunderungswürdig war der Koloss des Sonnengottes (Helios) in Rhodos, den Chares aus Lindos, ein Schüler des oben erwähnten Lysipp, gefertigt hatte. Dieses Bildwerk war
Der Koloss war vermutlich auf dem Kopf der Mole des Kriegshafens aufgestellt, vgl. vor allem Hoepfner 2000, 136–45; zu den Einwänden gegen diese Lokalisierung vgl. Hoepfner 2003, 60.
330
115
Chares
iacens quoque miraculo est. Pauci pollicem eius amplectuntur, maiores sunt digiti quam pleraeque statuae. Vasti specus hiant defractis membris; spectantur intus magnae molis saxa, quorum pondere stabiliverat eum constituens. Duodecim annis tradunt effectum CCC talentis, quae contigerant ex apparatu regis Demetrii relicto morae taedio obsessa Rhodo.
70 Ellen hoch. Es wurde 66 Jahre331 später durch ein Erdbeben umgestürzt, erregt aber auch liegend noch Staunen. Nur wenige können seinen Daumen umfassen, seine Finger sind größer als die meisten Statuen. Weite Hohlräume klaffen in den zerbrochenen Gliedern; innen sieht man schwere Felsbrocken, durch deren Gewicht der Statue beim Aufstellen festen Stand gegeben hatte. Sie soll zwölf Jahre Arbeit (beansprucht) und 300 Talente gekostet haben, die man aus dem Kriegsmaterial des Königs Demetrios erlöst hatte, das er aus Überdruss an der langen Belagerung von Rhodos zurückgelassen hatte.
16.1.2. Strabon 14,2,5 (652) (= SQ 1540) Der augusteische Historiker und Geograph Strabon behandelt in den Büchern 11–14 seiner Geographica Kleinasien. Seine Angaben zum Koloss von Rhodos in der Beschreibung der Insel (14,2,2–10) sind offensichtlich literarischen Quellen entnommen. Strabon gibt die iambische Künstlerinschrift, die in der Anthologia Graeca 16,82 vollständig überliefert ist, verkürzt wieder.332 Ἄριστα δὲ ὅ τε τοῦ Ἡλίου κολοσσός, ὅν φησιν ὁ ποιήσας τὸ ἰαμβεῖον ὅτι ἑπτάκις δέκα Χάρης ἐποίει πηχέων ὁ Λίνδιος. Κεῖται δὲ νῦν ὑπὸ σεισμοῦ πεσὼν περικλασθεὶς ἀπὸ τῶν γονάτων οὐκ ἀνέστησαν δ’ αὐτὸν κατά τι λόγιον. Τοῦτό τε δὴ τῶν ἀναθημάτων κράτιστον (τῶν γοῦν ἑπτὰ θεαμάτων ὁμολογεῖται). •
Das beste ist der Koloss des Helios, von dem der Dichter der iambischen sagt: Chares aus Lindos hat ihn sieben mal zehn (= siebzig) Ellen hoch gemacht. Jetzt liegt er am Boden, von einem Erdbeben umgestürzt und im Kniebereich abgebrochen. Sie haben ihn einer Weissagung folgend nicht wiederaufgerichtet. Dies ist die gewaltigste aller Weihgaben (schließlich wird sie zu den sieben Weltwundern gezählt).
Der Koloss ist wahrscheinlich in den Jahren von 304 bis 293 v. Chr. angefertigt worden und zwar als Weihgeschenk an Helios und gleichzeitig als Siegesmal für die Abwehr des Demetrios, des Sohnes von Antigonos Monophthalmos. Demetrios hatte die Stadt Rhodos Die Zahlenangabe ist in den Handschriften unterschiedlich überliefert: LVI bzw. LXVI. Anth. Gr. 16,82 (= Hebert Q 29): Τὸν ἐν Ῥόδῳ κολοσσὸν ἑπτάκις δέκα / Χάρης ἐποίει πήχεων ὁ Λίνδιος. (Den Koloss von Rhodos, sieben mal zehn / Ellen groß, machte Chares aus Lindos). Die Künstlerinschrift ist ferner bei den byzantinischen Autoren Konstantinos Porphyrogenetos (10. Jh.), de admin. imper. 20f. (= Hebert Q 98) sowie Kedrenos (11./12. Jh.) 1,755 (= Hebert Q 99) überliefert. Darüber hinaus ist in der Anthologia Graeca 6,171 (= Hebert Q 28) ein – sei es fiktives oder authentisches – Weihepigramm erhalten. 331
332
116
Chares
im Jahr 305 v. Chr. vergeblich belagert, was ihm den Beinamen Poliorketes („Belagerer“) einbrachte. In den 66 Jahren zwischen der Fertigstellung und dem Sturz des Kolosses, dessen Höhe 31,50 m (wohl 70 Ellen einschließlich der Strahlen; 100 Fuß ohne Strahlen) betragen haben soll,333 sind weder Beschreibungen verfasst worden, die sich erhalten haben, noch Münzen oder sonstige Bildwerke hergestellt worden, die die Figur zeigen. Nach dem Sturz hat man sich offenbar nicht mehr die Mühe gemacht, anhand von Fragmenten des Kolosses, die zumindest teilweise sichtbar gewesen sein müssen, zum Teil aber auch im Wasser geruht haben dürften, das Aussehen im Kleinformat zu rekonstruieren: anders als im Fall der Tyche von Antiochia (hier Kat. 17.1.) weist nichts darauf hin, dass kleinformatige Modelle des Kolosses hergestellt und reproduziert worden sind. Da auch aus der römischen Kaiserzeit keine groß- oder kleinformatigen Darstellungen erhalten sind, die sich zu einem statuarischen Typus des Helios zusammenschließen, wird man außerdem davon auszugehen haben, dass der Koloss zu Hadrians Zeit nicht wiederaufgerichtet worden ist.334 Die zahlreichen antiken und byzantinischen Schriftquellen, in denen vom Koloss des Chares die Rede ist,335 liefern keine Beschreibung der Figur; ihr Aussehen kann daher allenfalls im Hinblick auf das ikonographische Schema rekonstruiert werden. Petra Matern hält es wegen des Anlasses der Weihung für wahrscheinlich, dass die Figur im Schema des Sol invictus, vermutlich mit rechtem Standbein und erhobenem rechten Arm, wiedergegeben war. Dieses Schema, dem offenbar keine bestimmte Statue zugrunde liegt, wird in der Kaiserzeit von einigen Bronzestatuetten des Helios aufgegriffen, die an ganz unterschiedlichen Orten des römischen Reiches gefunden worden sind und in Details, wie dem Vorhandensein und der Drapierung einer Chlamys, sowie im Standmotiv nicht übereinstimmen. Angesichts der Höhe und der entsprechend großen Oberfläche ist es ausgeschlossen, dass der Koloss vergoldet war.336 Philon aus Byzanz berichtet, dass man den Koloss anhand spezifischer Kennzeichen als Helios hat deuten können:337 als ein solches kommt in erster Linie ein Strahlenkranz in Frage, der das Haar schmückte. Der Bronzegießer Chares hat sich an nicht mehr zu ermittelnder Stelle (an der Basis?) als Schöpfer des Kolosses mit einer Formulierung verewigt, an deren Wortlaut ein Epigramm aus der Anthologia Graeca orientiert ist (s.o.). Der in der Ausstellung gezeigte, als Hochrelief gearbeitete überlebensgroße Kopf gehörte zu einem Medaillon, das Teil einer Architektur, vielleicht eines Tempelgiebels war. Insgesamt 20 Vertiefungen im Haar fungierten z.T. als Dübellöcher für Anstückungen, z.T. als Befestigungslöcher für Strahlen,338 die ihrerseits eine Identifizierung des Dargestellten als Helios erlauben. Die Frisur erinnert an Porträts Alexanders des Großen, die in der Damit korrespondieren die Angaben, die Plinius zur Größe der Finger macht: bei etwa 17-facher Lebensgröße wären als Daumenumfang ca. 85 cm zu erwarten, die von einem 1,70 m großen Menschen allerdings bequem umfasst werden können. 334 Vgl. Hebert 33f. Von einer Wiederaufrichtung des Kolosses berichtet Malalas, Chronographia 11,279 (Hebert Q 69). 335 Hebert Q 28–103. 336 Eine Vergoldung überliefern Konstantinos, SQ 1554, und Gregor von Tours, Hebert Q 38. 337 SQ 1547; Hebert Q 37. Vgl. Matern 158 Anm. 877. 338 In einigen Löchern sind Reste von Eisendübeln stehengeblieben. Hoepfner rekonstruiert sieben Strahlen. 333
Chares
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Mehrzahl auf Lysipp, den Lehrer des Chares, zurückzuführen sind. Chares, der vielleicht ebenfalls ein Porträt Alexanders geschaffen hat,339 mag die Frisur seines kolossalen Helios in ähnlicher Weise gestaltet haben. Ob der für uns unbekannte Bildhauer mit dem hier gezeigten Kopf auf denjenigen des Kolosses Bezug genommen hat, bleibt dahingestellt. Lit. zum Koloss: B. Hebert, Schriftquellen zur hellenistischen Kunst (1989) 16–45 Q 28–103; LIMC V (1990) 1029 s.v. Helios Nr. 334; U. Vedder, NBlArch 16, 1999/2000, 23–40; dies. in: Die Sieben Weltwunder der Antike, Ausst.-Kat. Stendal 2003, 131–49; W. Hoepfner, Der Koloss von Rhodos, AA 2000, 129–53; ders., Der Koloss von Rhodos und die Bauten des Helios (2003); Künstlerlexikon I, 133f. s.v. Chares II (F. Ntantalia); P. Matern, Helios und Sol (2002) 155–62. – Zum Kopf auf Rhodos: G. Neumann, AA 1977, 86–90; B. Andreae, Skulptur des Hellenismus (2001) 164–66 Taf. 139; Matern 166f. 251 Kat. B 46. Kansteiner
Plin. nat. 34,75 (= SQ 1602). Die Handschriften überliefern statt Chares Chaereas; der Name des Chares ist allerdings auch sonst mehrfach entstellt überliefert (Caletus etc.). – An anderer Stelle berichtet Plinius von einem nach Rom verschleppten Kopf einer von Chares geschaffenen Statue, deren Thema nicht bekannt ist (nat. 34,44 = SQ 1555). 339
Eutychides
118
17.
EUTYCHIDES (Εὐτυχίδης) aus Sikyon
17.1.
Antiochia am Orontes: Bronzestatue der Antiochia, sog. Tyche
Freie Marmorwiederholung: Rom, Vatikanische Museen, Inv. 2672. Höhe 90 cm mit Basis. Ergänzt sind der Kopf, der rechte Unterarm (am Abguss nicht) und die linke Hand sowie die Arme des Flussgottes (am Abguss nicht). – Fundort: Rom, antike Villa an der Via Latina (1780). Datierung: 2. Jh. n. Chr.
17.1.1. Pausanias 6,2,6 (= SQ 1730) In seiner Beschreibung der olympischen Siegerstatuen am Anfang des sechsten, in den 70er Jahren des 2. Jhs. n. Chr. entstandenen Buches seiner Perihegese (6,1–18) bemerkt Pausanias (um 115 – um 180 n. Chr.) bei der Erwähnung einer von Eutychides geschaffenen Statue, dass derselbe Künstler für die Syrer am Orontes ein Kultbild der Tyche angefertigt habe. [...] τὸν δὲ Τιμοσθένην Εὐτυχίδης Σικυώνιος παρὰ Λυσίππῳ δεδιδαγμένος· ὁ δὲ Εὐτυχίδης οὗτος καὶ Σύροις τοῖς ἐπὶ Ὀρόντῃ Τύχης ἐποίησεν ἄγαλμα, μεγάλας παρὰ τῶν ἐπιχωρίων ἔχον τιμάς.
[...] den Timosthenes aber (schuf) Eutychides aus Sikyon, der bei Lysipp gelernt hatte. Dieser Eutychides hat auch den Syrern am Orontes ein Kultbild der Tyche gemacht, das bei den Einheimischen in hohen Ehren steht.
17.1.2. Malalas, Chronographia 8,201 (= SQ 1731) Der spätantike Historiker Johannes Malalas, der ca. 490 n. Chr. in Antiochia geboren wurde und zunächst dort, ab ca. 530 n. Chr. in Konstantinopel tätig war, berichtet in seiner aus 18 Büchern bestehenden Weltchronik, die den Zeitraum von der Erschaffung der Welt bis kurz vor dem Tod des Kaisers Justinian I. (565 n. Chr.) umfasst, von der Aufstellung von Tyche-Statuen in Antiochia durch den hellenistischen König und Grün-
Eutychides
119
der Antiochias Seleukos I. (17.1.2.) und den römischen Kaiser Trajan (17.1.3.). Malalas erzählt an beiden Stellen die sicherlich späte, wahrscheinlich unter christlichem Einfluss entstandene Legende von der Opferung eines Mädchens: im Falle des Seleukos heißt dieses Emathia, im Falle Trajans Kalliope. [...] στήσας ἀνδριάντος στήλην χαλκῆν τῆς σφαγιασθείσης κόρης Τύχην τῇ πόλει ὑπεράνω τοῦ ποταμοῦ, εὐθέως ποιήσας αὐτῇ τῇ Τύχῃ θυσίαν.
[…] er (sc. Seleukos I.) ließ eine bronzene Statue340 des geopferten Mädchens (Emathia) als Tyche für die Stadt über dem Fluss (Orontes) (sitzend) aufstellen, und brachte der Tyche sogleich ein Opfer dar.
17.1.3. Malalas, Chronographia 11,276 Καὶ τὸ θέατρον δὲ τῆς αὐτῆς Ἀντιοχείας ἀνεπλήρωσεν ἀτελὲς ὄν, στήσας ἐν αὐτῷ ὑπεράνω τεσσάρων κιόνων ἐν μέσῳ τοῦ νυμφαίου τοῦ προσκηνίου τῆς σφαγιασθείσης ὑπ’ αὐτοῦ κόρης στήλην χαλκῆν κεχρυσωμένην καθημένην ἐπάνω τοῦ Ὀρόντου ποταμοῦ εἰς λόγον τύχης τῆς αὐτῆς πόλεως, στεφομένην ὑπὸ Σελεύκου καὶ Ἀντιόχου βασιλέων.
Und das Theater von Antiochia, das unvollendet war, vervollständigte er (Trajan), indem er in diesem über vier Säulen in der Mitte des Nymphäums des Proskenions eine vergoldete bronzene Statue der von ihm geopferten Jungfrau (Kalliope), die über dem Fluss Orontes sitzt und von den Königen Seleukos (I.) und Antiochos (I.) bekränzt wird, für das Glück derselben Stadt aufstellte.
Als erste und gleichzeitig größte der zahllosen antiken Wiederholungen der Antiochia ist die hier gezeigte Statue im Vatikan von Ennio Quirino Visconti im Jahr 1790 mit der von Pausanias erwähnten Tyche des Eutychides in Verbindung gebracht worden.341 Das Fehlen einer Reihe von Kopien, die in der Größe übereinstimmen, spricht wie etwa im Fall der Athena Parthenos (Kat. 6.2.) dafür, dass es sich beim statuarischen Vorbild um eine deutlich überlebensgroße Statue gehandelt hat, die nur unter größtem Aufwand maßgleich hätte kopiert werden können.342 Besonderer Beliebtheit erfreuten sich in der Antike transportable bronzene Miniaturwiederholungen der Antiochia, die von bestimmten Handwerksbetrieben mit Hilfe von „Reproduktionsmodellen“ (Meyer) in Serie produziert worden sind. Den Einwohnern von Antiochia war die Tyche, die vielleicht einem Erdbeben im 6. Jh. n. Chr. zum Opfer fiel, auch durch Darstellungen auf Münzen präsent, die vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 6. Jh. n. Chr. geprägt worden sind.343 Aus dem zweiten Text des Malalas (17.1.3.) scheint hervorzugehen, dass zur Zeit Trajans im frühen 2. Jh. n. Chr. im Theater von Antiochia zusammen mit Statuen des Seleukos Von Malalas werden die Wörter ἀνδριάς, ἄγαλμα und στήλη gleichbedeutend für „Statue“ verwendet; vgl. B. Hebert, Schriftquellen zur hellenistischen Kunst (1989) 133. Gelegentlich verwendet er auch gleichbedeutend die Ausdrücke στήλη ἀνδριάντος und ἀνδριάς στήλης. 341 Zur Forschungsgeschichte ausführlich Messerschmidt 91–103; vgl. auch Meyer 8–14. 342 Anders Meyer 66 und 176, die keine Anhaltspunkte für kolossales Format sieht, aber nicht ausreichend berücksichtigt, dass es mit Ausnahme der Miniaturwiederholungen eben keine Reihe von maßgleichen Repliken gibt. 343 Meyer 446ff. Kat. M 1–27 Taf. 33f. 340
120
Eutychides
und des Antiochos die Skulptur eines Mädchens mit Namen Kalliope aufgestellt worden ist. Dieses war wie die Antiochia des Eutychides zusammen mit einer Figur des Orontes wiedergegeben und dürfte folglich thematisch und formal der Antiochia entsprochen haben.344 Wolfgang Messerschmidt (114) hat aber darauf hingewiesen, dass mit der Anfertigung und Aufstellung einer Gruppe der „Kalliope“ – tatsächlich wohl eine Statue der Stadtgöttin – und zweier hellenistischer Dynasten in trajanischer Zeit nicht zu rechnen ist (anders Meyer 74). Da an der Existenz der Gruppe kaum zu zweifeln ist, hält er es für denkbar, dass bereits Eutychides zusätzlich zur „Tyche“ eine Gruppe geschaffen hat, die aus den Statuen des Seleukos, des Antiochos und der Stadtgöttin (mit Orontes) bestand. Diese Gruppe wäre, wenn man einen Bezug zu Trajan aufrecht erhalten will, in trajanischer Zeit lediglich restauriert oder umgestellt worden. In der Tat ist es durchaus denkbar, dass Eutychides oder einer seiner Mitarbeiter eine ‚Originalvariante’ der Antiochia angefertigt hat, die gemeinsam mit Statuen des Seleukos und des Antiochos eine Gruppe bildete. In der bildlichen Überlieferung ist diese Gruppe allerdings nicht nachzuweisen.345 Die von Eutychides geschaffene Sitzfigur der Antiochia wird wegen der ausgreifenden Armhaltung des zu ihren Füßen befindlichen Orontes und wegen der anzunehmenden kolossalen Figurengröße aus Bronze bestanden haben (vgl. Meyer 66f.). Den Auftrag für die Anfertigung der Statue haben entweder Seleukos I. Nikator (reg. 311–281 v. Chr.) oder Antiochos I. (reg. 281–61) bald nach der Gründung der Stadt Antiochia am Orontes durch Seleukos im Jahr 300 v. Chr. erteilt. Eine Datierung in die letzten zehn Jahre der Regierungszeit des Antiochos kann ausgeschlossen werden, da Eutychides schwerlich nach 320 v. Chr. von Lysipp (ca. 390 geboren) ausgebildet worden ist und demzufolge kaum noch nach 270 v. Chr. tätig gewesen sein kann.346 Mit einer Datierung in die Jahre nach der Stadtgründung korrespondierte es, dass Plinius die Akme des Eutychides – ohne Begründung – in die 121. Olympiade (296–93 v. Chr.) setzt.347 Folgt man den Ausführungen von Meyer (70f.; 120), so handelte es sich bei der von Eutychides geschaffenen Skulptur nicht, wie der Text des Pausanias erwarten lässt, um die Glücksgöttin Tyche (Fortuna), sondern um die Personifikation der Stadt Antiochia, die erst später als Tyche aufgefasst wurde. Die Antiochia ist die erste Stadtpersonifikation, die eine Mauerkrone trägt (Meyer 163), ein Attribut, welches erst im 4./3. Jh. v. Chr. aus dem Orient in die griechische Kunst übernommen worden ist. Als weitere Attribute der Antiochia sind nach Maßgabe einiger Bronzestatuetten Ähren und Mohn in der rechten Hand anzunehmen.348 Die ausgestellte Wiederholung im Vatikan weicht vor allem in der Wiedergabe von Chiton und Mantel so stark von der für die Rekonstruktion des statuarischen Vorbilds maßgeblichen Überlieferung349 ab, dass Messerschmidt die Abhängigkeit von der Statue des Andere sehen in der Mädchenstatue einen Ersatz für die Statue des Eutychides, vgl. T. Dohrn, Die Tyche von Antiochia (1960) 9; Flashar 243. 345 Nicht auf die Gruppe zu beziehen sind römisch-kaiserzeitliche Gemmen, auf denen die Antiochia zusammen mit einer Figur der Tyche und einer männlichen Figur mit einem Kranz in der Hand zu sehen ist. Meyer 207f. Taf. 30f. führt die Gemmen auf eine weitere statuarische Gruppe („Gruppe X“) zurück. 346 Anders Meyer 81ff. 166ff. 347 Plin. nat. 34,51 = SQ 1513. 348 Vgl. Messerschmidt 109; Meyer 107ff. 349 Maßgeblich sind eine Serie von Bronzestatuetten und eine 47 cm hohe Marmorstatuette in Budapest 344
Eutychides
121
Eutychides in Frage gestellt hat. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass die Figur zu ihren Füßen sicher nicht zufällig in der Schwimmbewegung den Wiederholungen des Orontes entspricht. Die Sitzende im Vatikan war in der Antike trotz ungenauer Gewandwiedergabe aufgrund der ungewöhnlichen Ikonographie zweifelsfrei als Wiederholung der Antiochia zu identifizieren. Über die Gründe, die den kaiserzeitlichen Bildhauer dazu brachten, das Vorbild zu modifizieren, kann nur spekuliert werden. Eutychides steht mit der Antiochia in der Tradition seines Lehrers Lysipp, der vor allem in seiner späten Schaffensphase Kolossalstatuen aus Bronze hergestellt hat (Zeus und Herakles in Tarent). Um eine großformatige Bronzeskulptur hat es sich sicher auch bei der Darstellung des lakonischen Flusses Eurotas gehandelt, die Plinius als bemerkenswerte Arbeit des Eutychides einstuft (Plin. nat. 34,78 = SQ 1532); lebensgroß war dagegen die Bronzestatue des Knabensiegers Timosthenes, die er für das Zeusheiligtum in Olympia geschaffen hat (s. 17.1.1.). Weitere Werke des Eutychides sind nicht bekannt (vgl. Flashar);350 sein Schüler war ein gewisser Kantharos, dem Statuen von Olympiasiegern verdankt werden (SQ 1536f.). Lit. zur ‚Tyche’ von Antiochia: Künstlerlexikon I, 242–45 s.v. Eutychides I (M. Flashar); B. Schmaltz in: Gedenkschrift S. Triantes (2002) 233–40 (zur Hauptansicht der Statue); W. Messerschmidt, Prosopopoiia (2003) 91–119. 184–98 (Liste der Wiederholungen) Abb. 15–18; M. Meyer, Die Personifikation der Stadt Antiocheia, 33. Erg.-H. JdI (2006) 1–390. – Zur Wiederholung im Vatikan: L. Todisco, Scultura Greca del IV secolo (1993) Nr. 316; Meyer 407f. Kat. A 8 Taf. 5. Lehmann/Kansteiner
(Meyer Kat. A 3 Taf. 1). 350 Die Quellen, die Overbeck unter SQ 1533–1535 anführt, nehmen z. T. mit Sicherheit, z. T. wahrscheinlich auf Arbeiten von Namensvettern Bezug.
Boethos
122
18.
BOETHOS (Βοηθός) aus Karchedon/Karthago
18.1.
Aufstellungsort unbekannt, später in Rom: Statue eines Knaben, der eine Gans würgt
Kopie: München, Glyptothek, Inv. 268. Höhe 84 cm ohne Plinthe; Kopfhöhe 19 cm. Marmor; ergänzt der Kopf der Gans und Kleinigkeiten. – Gefunden in der Villa der Quintilier an der Via Appia (1792).351 Datierung: 2. Jh. n. Chr. (?)
18.1.1. Plinius, Naturalis historia 34,84 (= SQ 1597) Im Abschnitt über die griechische Bildhauerkunst im 34. Buch der Naturalis historia kommt Kapitel 84 eine Überleitungsfunktion zu: Während die von Plinius in den Kapiteln 72–83 mit ihren Werken genannten Künstler in weitgehend alphabetischer Reihenfolge aufgezählt werden, erfolgt die Ordnung der im Folgenden (85–93) genannten Künstler unter thematischen Gesichtspunkten. Am Anfang des Kapitels 84 nennt Plinius Bildhauer, von denen die Kämpfe der Attaliden gegen die Galater dargestellt worden sind, und erwähnt dann den „Ganswürger“ des Boethos. Aus der Bemerkung quamquam argento melioris wird deutlich, dass Plinius von der Identität des Künstlers mit dem von ihm in nat. 33,155 erwähnten gleichnamigen Toreuten ausgeht. Bei dem Einschub dürfte es sich ähnlich wie bei dem Hinweis quamquam marmore felicior ideo et clarior fuit (obwohl er in der Marmorbildhauerei eine glücklichere Hand hatte und daher darin berühmter war) in dem Abschnitt über Praxiteles (nat. 34, 69–71) um Urteile des Plinius handeln, mit denen er die Behandlung des jeweiligen Künstlers in dem der Bronze gewidmeten ersten Teil des 34. Buches rechtfertigt. Der Text zwischen den Wörtern infans und anserem ist uneinheitlich bzw. verderbt traIn der Villa der Quintilier, in der noch im Jahr 2005 bedeutende Skulpturenfunde gemacht worden sind (Statue der Niobe), schmückte der Ganswürger ebenso wie eine oder zwei weitere Repliken desselben Originals ein großes Bassin im Garten (Kunze Anm. 823). Bei einer weiteren Replik in Genf (Kunze 143 Nr. 4) ist die Stütze sicher modern, das Stück folglich nicht mit den anderen drei Repliken aus der Villa der Quintilier zu verbinden.
351
Boethos
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diert.352 In den Handschriften finden sich die Überlieferungen eximi(a)e (Codex Florentinus Riccardianus, um 1100; Codex Leidensis Vossianus, 11. Jh.) und sex annis (Codex Bambergensis, 10. Jh.). In den modernen Textausgaben wird in der Regel in infans eximium anserem strangulat (das Kind würgt eine riesige Gans) oder infans amplexando anserem strangulat (das Kind würgt durch Umarmung eine Gans) geändert.353 Beide Lesarten sind allerdings aus den erhaltenen statuarischen Darstellungen des Ganswürgers erschlossen worden und unterliegen daher methodischen Zweifeln.
Boëthi, quamquam argento melioris, infans †eximie† anserem strangulat. Atque ex omnibus, quae rettuli, clarissima quaeque in urbe iam sunt dicata a Vespasiano principe in templo Pacis aliisque eius operibus, violentia Neronis in urbem convecta et in sellariis domus aureae disposita.
Von Boethos , obgleich er in Silberarbeiten besser war, : ein Kind, das eine riesige(?) Gans würgt. Von allen Werken, über die ich berichtet habe, sind die berühmtesten bereits in Rom von Kaiser Vespasian im Tempel des Friedens und in anderen von ihm errichteten Gebäuden geweiht worden; die räuberische Gewalt Neros hatte sie in der Stadt zusammengetragen und auf die Prunkzimmer seiner Domus Aurea verteilt.
Die Verbindung der von Plinius erwähnten Statue mit einer erhaltenen Skulptur findet sich erstmals angedeutet bei Johann Joachim Winckelmann in einem 1755/56 abgefassten Manuskript zu den Antiken und den Gemälden in den römischen Villen und Palazzi: zur damals wie heute im Kapitolinischen Museum befindlichen Statue des ‚Ganswürgers’ exzerpierte Winckelmann ohne Kommentar die obige Textstelle.354 Erhalten sind sieben maßgleiche Kopien, die auf ein lebensgroßes Original aus der zweiten Hälfte des 3. Jhs. v. Chr. zurückgehen, das sicherlich als elterliches Dank- oder Fürbitte-Votiv in einem griechischen Heiligtum aufgestellt war. Von einer Statue ähnlichen Inhalts – von unbekannter Hand – ist in einem der im zweiten Viertel des 3. Jhs. v. Chr. verfassten Mimiamben des Dichters Herondas die Rede.355 Dort würgt der Knabe allerdings keine Gans, sondern eine entenartige ‚Fuchsgans’. [...] ἆ πρὸς Μοιρέων, τὴν χηναλώπεκα ὡς τὸ παιδίον πνίγει· πρὸ τῶν ποδῶν γοῦν εἴ τι μὴ λίθος, τοὔργον ἐρεῖς λαλήσει. Μᾶ, χρόνῳ κοτ’ ὥνθρωποι κἠς τοὺς λίθους ἕξουσι τὴν ζοὴν θεῖναι. […] Bei den Moiren, / die Fuchsgans, wie das kleine Kind sie würgt! / Vor den Füßen, wenn das nicht Stein wäre, / würde man sagen, das Werk wolle lallend Zur Überlieferung s. Kunze 144. Eine Übersicht über die verschiedenen Lesarten der modernen Textausgaben findet sich bei R. König, C. Plinius Secundus d.Ä. Naturkunde. Lateinisch-Deutsch. Buch XXXIV (1989) 221. 354 J.J. Winckelmann, Ville e Palazzi di Roma (2003) 376 (Kommentar zu 134,27). 355 Herondas 4,30–34. Vgl. B. Hebert, Schriftquellen zur hellenistischen Kunst (1989) 49; Kunze 147f. Anm. 819; 149 Anm. 828. 352
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Boethos
sprechen. Nein, die Menschen werden mit der Zeit / noch Leben in die Steine bringen!“ Aus dem Text des Plinius geht nicht eindeutig hervor, ob das Original des Ganswürgers zu den Kunstwerken gehört hat, die während der Regierungszeit des Kaisers Nero, wohl um 66 n. Chr. in der domus aurea Aufstellung fanden. Bernard Andreae nimmt an, dass die drei Kopien aus der Villa der Quintilier im frühen 1. Jh. n. Chr. angefertigt worden sind,356 was bedeuten würde, dass das Original bereits in späthellenistischer Zeit nach Rom verschleppt oder noch an seinem ursprünglichen Aufstellungsort abgeformt und anschließend kopiert worden ist. Die umfangreiche Haarbohrung im Nackenbereich (Kopie in München) und die Aufstellung in der erst im 2. Jh. n. Chr. angelegten Villa der Quintilier sprechen aber durchaus gegen eine frühe Entstehung der Repliken. Kürzlich ist wieder die These vertreten worden, dass das Kind kein Spiel- sondern ein Opfertier würge. Da die Gans als „götter- und speziell horusfeindliches Tier“ gegolten habe, sei im Ganswürger ein ägyptischer Prinz zu sehen, die Ganswürgergruppe mithin als eine Form der „Propagierung des durch kraftvoll-gesunde Kinder gesicherten Fortbestands“ einer königlichen Familie zu verstehen.357 Der Text des Plinius und die überlieferten Kopien des Ganswürgers berechtigen nicht zu so weit reichenden Schlüssen. Die stilkritische Analyse der pyramidal aufgebauten Ganswürgergruppe lässt erwarten, dass die Schaffenszeit des Boethos in die zweite Hälfte des 3. Jhs. fällt (Kunze 145–47). Dies wiederum schließt, anders als in der Forschung in der Regel angenommen (z.B. Künstlerlexikon), eine Identität des von Plinius genannten Künstlers mit einem erst um 165 v. Chr. auf Delos bezeugten Boethos (aus Chalkedon/Kalchedon) aus.358 Dass der Karthager Boethos mit Plinius neben seiner bildhauerischen Tätigkeit auch als Silberschmied bedeutend gewesen sei,359 ist zu Recht in Zweifel gezogen worden (Kunze 264). Plausibel ist die Autorschaft des Boethos hingegen bei einem vergoldeten παιδίον (kleines Kind), welches Pausanias im Heraion von Olympia gesehen hat und als Werk des Karchedoniers Boethos bezeichnet.360 Lit.: B. Andreae, Skulptur des Hellenismus (2001) 158–60 Taf. 134; C. Kunze, Zum Greifen nah (2002) 142–53. 262–64 Abb. 60–66; P. Schollmeyer in: D. Budde et al. (Hrsg.), Kindgötter im Ägypten der griechisch-römischen Zeit, Symposium Mainz 2002 (2003) 283–300; B.S. Ridgway, AJA 110, 2006, 643–48; GK Denkmäler (2007) Nr. 616. – Zur Verschleppung vgl. V.M. Strocka, Neros Statuenraub für die Domus Aurea, in: Neronia VI, Koll. Rom 1999 (2002) 35–45. – Zur Replik in München: D. Damaskos in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 211f. Kat. B62; A. Ricci (Hrsg.), La Villa dei Quintili (1998) 89f. Kat. 20 Taf. 4; Kunze a.O. – Zur Villa der Quintilier und den dort gemachten Funden: Ricci a.O. Lehmann/Kansteiner
Die Datierung in das frühe 1. Jh. n. Chr. basiert auf einer Einschätzung von G. Lippold, Vat. Kat. III 2, 327 zu Nr. 66 (Datierung wegen der Form der Plinthe und der Stütze); tacet Kunze. – Wenige andere Stücke aus der Villa der Quintilier sind sicher in vorneronischer Zeit entstanden, z.B. die Aphrodite Braschi (Ricci Nr. 44). 357 Schollmeyer; ähnlich Ridgway 646f., die im Ganswürger „Dionysos/Harpokrates“ sieht. 358 Zur delischen Basis vgl. J. Marcadé, Recueil des signatures de sculpteurs grecs II (1957) 28. 359 SQ 1597, s. auch Plin. nat. 33,155 (SQ 2167), ferner Cicero, Verres 4,14,32 (SQ 2184) und Appendix Vergiliana, Culex 67. 360 Paus. 5,17,4 = SQ 1596. 356
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Damophon
19.
DAMOPHON (Δαμοφῶν) aus Messene
19.1.
Messene (Peloponnes), Asklepieion: Statuen des Apollon und des Herakles
19.1.1. Pausanias 4,31,10 (= SQ 1559) In dem um 170 n. Chr. verfassten vierten Buch seiner Perihegese behandelt Pausanias (um 115 – um 180 n. Chr.) Messenien. Bei seiner Beschreibung des Asklepiosheiligtums (4,31,10–12) erwähnt er eine Reihe sehenswerter Statuen. Πλεῖστα δέ σφισι καὶ θέας μάλιστα ἀγάλματα ἄξια τοῦ Ἀσκληπιοῦ παρέχεται τὸ ἱερόν· χωρὶς μὲν γὰρ τοῦ θεοῦ καὶ τῶν παίδων ἐστὶν ἀγάλματα, χωρὶς δὲ Ἀπόλλωνος καὶ Μουσῶν καὶ Ἡρακλέους· πόλις τε ἡ Θηβαίων καὶ Ἐπαμινώνδας ὁ Κλεόμμιδος Τύχη τε καὶ Ἄρτεμις Φωσφόρος. Τὰ μὲν δὴ τοῦ λίθου Δαμοφῶντός ἐστιν ἔργα361 – Μεσσήνιον δὲ ὅτι μὴ τοῦτον ἄλλον γε οὐδένα λόγου ποιήσαντα ἀξίως οἶδα ἀγάλματα –, ἡ δὲ εἰκὼν τοῦ Ἐπαμινώνδου ἐκ σιδήρου τέ ἐστι καὶ ἔργον ἄλλου, οὐ τούτου.
Die meisten und sehenswertesten Statuen (agálmata) bei ihnen (sc. den Messeniern) enthält aber das Asklepiosheiligtum. Denn abgesehen von dem Gott (Asklepios) und seinen Kindern362 einerseits und abgesehen von Apollon, den Musen und Herakles andererseits363 gibt es Statuen (agálmata): die Stadt Theben; Epaminondas, den Sohn des Kleommis;364 Tyche und Artemis Phosphoros (die „Lichtbringende“). Die Statuen aus Stein (Marmor) sind Werke des Damophon – und ich weiß von keinem anderen Messenier außer ihm, der nennenswerte Statuen geschaffen hätte –, die Statue (eikón) des Epaminondas aber ist aus Eisen und das Werk eines anderen , nicht seins.
Bei der Lesart Δαμοφῶντός ἐστιν ἔργα handelt es sich um eine Konjektur von J.H.C. Schubart – C. Walz (ed. 1838–39), der die Textausgabe von M.H. Rocha-Pereira (ed. 21989) folgt. In der Haupthandschrift β, dem Exemplar des italienischen Humanisten Niccolò Niccoli (1363–1437), ist τὰ μὲν δὴ τοῦ λίθου Δαμοφῶντος, ὃς εἰργάσατο (Die aus Stein von Damophon, der geschaffen hat.) überliefert. Ferner wurden folgende Konjekturen vorgeschlagen: von E. Clavier (ed. 1814–23) τὰ μὲν δὴ τοῦ λίθου Δαμοφῶν εἰργάσατο (Die aus Stein schuf Damophon), von F. Spiro (ed. 1903) τὰ μὲν δὴ τοῦ λίθου Δαμοφῶν αὐτοῖς εἰργάσατο (Die aus Stein schuf Damophon für sie [die Messenier].). Die Konjektur von Spiro haben auch die Textausgaben von M. Torelli – D. Musti (ed. 1991) und M. Casevitz – J. Auberger (ed. 2005) übernommen. Die Zuweisung der Statuen an Damophon wird durch das textkritische Problem aber nicht berührt. 362 Zu der auf Grundlage des Pausanias-Textes nicht sicher zu beantwortenden Frage, ob nur die beiden Söhne des Asklepios, Machaon und Podaleirios, oder auch seine Tochter Hygieia, deren Verehrung im Asklepieion inschriftlich belegt ist, dargestellt waren, vgl. Müth 186. 363 Die Formulierung χωρὶς μὲν – χωρὶς δέ (abgesehen von … einerseits – abgesehen von … andererseits) deutet darauf hin, dass sowohl die Statuen des Asklepios und seiner Kinder als auch die Statuen des Apollon, der Musen und des Herakles in räumlicher Nähe zueinander standen, dass aber die Statuen des Asklepios und seiner Kinder an einer anderen Stelle aufgestellt waren als die Statuen des Apollon, der Musen und des Herakles. Ähnliche Formulierungen mit χωρὶς μὲν – χωρὶς δέ, in denen χωρίς allerdings nicht wie hier präpositional, sondern adverbial gebraucht ist, benutzt Pausanias auch 2,24,2; 6,23,2 und 9,22,2. 364 Der Vater des Epaminondas heißt üblicherweise Polymnis (vgl. Aelian, var. 2,43; 11,9; Nepos, Epaminondas 1,1). Auch Pausanias nennt ihn an zwei anderen Stellen in seinem Werk so (8,52,4; 9,12,6). Ob die abweichende Namensangabe „Kleommis“ im vierten Buch auf ein Versehen des Perihegeten oder auf die 361
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Damophon
Messene, Asklepieion: Statue des Apollon
Original: Messene, Archäologisches Museum, Inv. 251. Marmor; Kopfhöhe 33 cm (Kinn– Scheitel, am Abguss); ursprüngliche Statuenhöhe etwa 2,40 m; 22 Bohrlöcher für die Anbringung eines Kranzes aus Bronze/vergoldeter Bronze.
Ein 1962 in Messene gefundener Kopf ist von Giorgos Despinis als Teil einer Statue von der Hand des Damophon interpretiert und mit dem Apollon, den Pausanias nebst anderen Statuen dem Damophon zuweist, identifiziert worden.365 Der Kopf gehörte wohl zu einer stehenden Figur. Wenn die Zuweisung eines linken Fußes (Inv. 3041) korrekt ist, stand die Figur auf dem rechten Bein, während der zur Seite gesetzte linke Fuß nur mit Zehen und Ballen den Boden berührte. Im sandalenlosen Fuß hat man außerdem einen Hinweis darauf gesehen, dass Apollon unbekleidet war. Dies ließe sich jedoch nicht gut mit der von Petros Themelis befürworteten Interpretation des Apollon als Anführer der Musen, als Musagetes, vereinbaren, da die wenigen Bildwerke hellenistischer Zeit, die Gruppen von Apollon und den Musen bezeugen,366 einen langgewandeten Apollon mit Kithara als Musagetes zeigen. Abhängig von der anhand des Pausanias-Textes wohl nicht zu entscheidenden Frage, ob der Apollon zur Musengruppe gehört hat, ist die Lokalisierung des Apollon im Asklepios-Heiligtum. Themelis dachte an eine Aufstellung des Apollon und der Musen auf der im Sockelbereich erhaltenen Kreissegmentbasis367 in einem der westlichen Oikoi (Raum „Ξ“), doch dürfte die Größe der Basis (innerer Durchmesser 6,09 m368) für einen deutlich überlebensgroßen Apollon und neun Musen, die als Beifiguren des Apollon schwerlich handschriftliche Überlieferung zurückgeht, lässt sich nicht entscheiden. Gefunden wurde der Kopf im Asklepieion als Teil einer oberhalb des Nordrandes des Asklepieions gelegenen spätrömischen Halle, die unter Verwendung von Statuenfragmenten errichtet worden war. 366 Vgl. LIMC VII (1994) 1002f. s.v. Mousa, Mousai. Erst in der römischen Kaiserzeit finden sich Darstellungen des nackten Musagetes (auf Sarkophagen). 367 Erhalten ist die Steinsockelung für eine Orthostatenbasis, die nicht massiv war, vgl. E.-A. Chlepa, ΤΟ ΑΡΤΕΜΙΣΙΟ ΚΑΙ ΟΙ ΟΙΚΟΙ ... (2001) 82–84 Abb. 62. – W. Fischer-Bossert (International Journal of the Classical Tradition 6, 1999, 266) weist darauf hin, dass die Orthostatenbasis für überlebensgroße und entsprechend schwere Statuen aus Marmor nicht stabil genug gewesen sein dürfte. 368 Vgl. Prakt 1989, 69 Abb. 4; Chlepa a.O. Plan nach S. 80. 365
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unterlebensgroß gewesen sein können,369 kaum ausreichen. Nicht auszugehen ist von weniger als neun Musen, da in statuarischen Gruppen von Musen seit dem 4. Jh. v. Chr. die ursprüngliche Dreizahl zugunsten von neun Figuren aufgegeben worden zu sein scheint; vgl. Kat. 20.1. (Relief des Archelaos). Es bleibt also zu prüfen, ob nicht doch die von Despinis vertretene These, Apollon sei getrennt von den Musen aufgestellt gewesen, richtig ist. Im Zusammenhang damit wird auch zu fragen sein, ob die Statuen des Damophon, die Pausanias im Asklepieion besichtigt hat, tatsächlich ausnahmslos in den westlichen Oikoi des Asklepieions zur Aufstellung gelangt sind. Hält man dies für zutreffend, müssten sich zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Anlage zumindest einige Statuen aufgrund ihrer großen Höhe bereits an ihrem Aufstellungsort befunden haben: „the date of the construction [of the Asklepieion] would depend on the date of Damophon and vice versa.“370 Der Kopf des Apollon wird wie die übrigen messenischen Skulpturen, die dem Damophon zugewiesen worden sind,371 in die Zeit 210–190 v. Chr. datiert. Damophon hat dem Gesicht des Gottes insbesondere durch die Betonung der Kinnpartie eine – ursprünglich durch die einst eingelegten Augen noch forcierte – Expressivität verliehen, die seinen sonstigen Werken in diesem Maße nicht zu eigen ist.
Lit.: G. Despinis, AA 1966, 378–85; P. Themelis in: O. Palagia (Hrsg.), Personal Styles in Greek Sculpture (1996) 160f. Abb. 102f.; S. Müth, Eigene Wege. Topographie und Stadtplan von Messene in spätklassisch-hellenistischer Zeit (2007) 186 Abb. 102.
Zu Statuenfragmenten, die mit der Musengruppe in Verbindung gebracht worden sind, s. Themelis, Personal Styles 161 Abb. 108f. 370 Themelis, Personal Styles 168. – Zu einer Statue, die noch größer war als Apollon und Herakles, gehört ein Kopffragment, das Themelis mit der Artemis Phosphoros identifiziert: Themelis, Personal Styles 165 Abb. 123; Müth 187 mit Abb. 104. 371 Nicht mit Damophon zu verbinden ist eine in Messene gefundene Torsoreplik des Hermes Richelieu, die zu einer römisch-kaiserzeitlichen Porträtstatue mit Schwert gehörte (Themelis, Personal Styles 158. 160 Abb. 100f., mit Deutung als Machaon). Auch der Torso Inv. 249 (Themelis a.O. Abb. 195f.), ein Dionysos (?), wird von Damophon zu trennen sein, da er in Material und Machart dem zuvor genannten Stück entspricht.
369
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Messene, Asklepieion: Statue des Herakles
Original: Messene, Archäologisches Museum, Inv. 3337. Marmor;372 Kopfhöhe 35,5 cm (Kinn–Scheitel, am Abguss); ursprüngliche Statuenhöhe etwa 2,60 m.
Ein 1990 in sekundärer Verwendung in Messene gefundener überlebensgroßer Kopf ist in die Zeit um 200 v. Chr. datiert worden373 und von Themelis mit dem Herakles, den Pausanias nebst anderen Statuen dem Damophon zuweist, identifiziert worden. Die Deutung als Herakles hat Themelis aus zwei der Statue zugewiesenen, aneinander anpassenden Fragmenten abgeleitet, die als Überbleibsel des Löwenfells gedeutet worden sind.374 Die Interpretation als Fell ist allerdings ebenso unsicher wie die Verbindung mit dem Kopf, da die Fragmente ebensowenig wie der Kopf am antiken Aufstellungsort zu Tage getreten sind. Der Kopf lässt Kennzeichen der für Statuen des Herakles sonst charakteristischen kurzlockigen Frisur vermissen. Sollte zu der Statue außerdem das Fragment eines linken Fußes (Inv. 256) gehören,375 hätte die Statue ein für Herakles durchaus untypisches Standmotiv gezeigt, bei dem der zurückgesetzte Spielbeinfuß nur mit dem Ballen den Boden berührt. Sieht man von der Unsicherheit der Deutung ab, so bleibt festzuhalten, dass sich der Kopf anderen Werken, die für Damophon bezeugt sind (hier Kat. 19.2.), stilistisch gut an die Seite stellen lässt, auch wenn die Mimik des Gesichts etwas verhaltener als beispielsweise diejenige des Apollonkopfes wirkt. Da keine Überbleibsel der Statuenbasis nachzuweisen sind und da Pausanias keine präzisen Angaben zum Aufstellungsort liefert, erübrigen sich Spekulationen zur Zuweisung des Herakles zu einem bestimmten Raum im Asklepieion.376 Wohl pentelischer Marmor, vgl. D. Decrouez et al. in: Griechenland in der Kaiserzeit, Koll. Bern 1998 (4. Beih. HASB, 2001) 23 Nr. 4. 373 Vgl. P. Themelis in: K.A. Sheedy (Hrsg.), Archeology in the Peloponnese (1994) 28f.; ders., AntK 36, 1993, vor allem 36–38. 374 Vgl. Themelis in: Sheedy Taf. 11f.; ders., AntK a.O. 33f. Taf. 6. 375 AntK a.O. 27 Nr. 2 Taf. 7,3–4; Personal Styles Abb. 113. 376 Themelis, AntK a.O. 34 schlägt Raum “N 2” auf der Westseite vor, einen Raum, der von der Stoa aus nicht einzusehen war! Auf der Grundlage des Pausanias-Textes darf man immerhin annehmen, dass der Herakles in unmittelbarer räumlicher Nähe zu Apollon und den Musen aufgestellt war. 372
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Lit.: P. Themelis in: O. Palagia (Hrsg.), Personal Styles in Greek Sculpture (1996) 162f. Abb. 111– 13; S. Kansteiner, Herakles (2000) 111; Künstlerlexikon I, 159 s.v. Damophon (Vollkommer); S. Müth, Eigene Wege. Topographie und Stadtplan von Messene in spätklassisch-hellenistischer Zeit (2007) 186f. Abb. 103.
19.2.
Lykosura (Peloponnes), Heiligtum der Despoina: vierfigurige Kultbildgruppe
Original: Köpfe Athen, Nationalmuseum, Inv. 1734–1736. Marmor; Kopfhöhe 63 cm (Demeter), ca. 45 cm (Artemis), ca. 53 cm (Anytos); ursprüngliche Höhe der stehenden Figuren etwa 3,30 und 3,80 m, der sitzenden Demeter über 4,00 m.
19.2.1. Pausanias 8,37,1–5 (= SQ 1564) In dem in den späten 70er Jahren des 2. Jhs. n. Chr. verfassten achten Buch seiner Perihegese behandelt Pausanias Arkadien. Von Megalopolis aus nimmt er den Weg in südwestlicher Richtung am Fluss Alpheios entlang, gelangt nach gut 7 km zur Ortschaft Akakesion und von dort zu dem bei Lykosura gelegenen Heiligtum der Despoina, der Tochter der Demeter. Bei der Göttin dürfte es sich ursprünglich um eine lokale chthonische Gottheit gehandelt haben, die später mit dem eleusinischen Demeter-Kult in Verbindung gebracht wurde. Ἀπὸ δὲ Ἀκακησίου τέσσαρας σταδίους ἀπέχει τὸ ἱερὸν τῆς Δεσποίνης [...] (37,3) Θεῶν δὲ αὐτὰ τὰ ἀγάλματα, Δέσποινα καὶ ἡ Δημήτηρ τε καὶ ὁ θρόνος ἐν ᾧ καθέζονται, καὶ τὸ ὑπόθημα τὸ ὑπὸ τοῖς ποσίν ἐστιν ἑνὸς ὁμοίως λίθου· καὶ οὔτε τῶν ἐπὶ τῇ ἐσθῆτι οὔτε ὁπόσα εἴργασται περὶ τὸν θρόνον οὐδέν ἐστιν ἑτέρου λίθου προσεχὲς σιδήρῳ καὶ κόλλῃ, ἀλλὰ τὰ πάντα ἐστὶν εἷς λίθος. Οὗτος οὐκ ἐσεκομίσθη σφίσιν ὁ λίθος, ἀλλὰ κατὰ ὄψιν ὀνείρατος λέγουσιν
(1) Von Akakesion ist das Heiligtum der Despoina vier Stadien (ca. 0,8 km) entfernt [...] (3) Die Statuen (agálmata) der Göttinnen selber, Despoina und Demeter, und der Thron, auf dem sie sitzen, und der Schemel unter ihren Füßen sind zusammen aus einem Stein ; und auch von den am Gewand, und von allem, was am Thron angebracht ist, ist nichts aus einem anderen Stein mit Eisen(-dübeln) und
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αὐτὸν ἐξευρεῖν ἐντὸς τοῦ περιβόλου τὴν γῆν ὀρύξαντες. Τῶν δὲ ἀγαλμάτων ἐστὶν ἑκατέρου μέγεθος κατὰ τὸ Ἀθήνῃσιν ἄγαλμα μάλιστα τῆς Μητρός• (4) Δαμοφῶντος δὲ καὶ ταῦτα ἔργα. Ἡ μὲν οὖν Δημήτηρ δᾷδα ἐν δεξιᾷ φέρει, τὴν δὲ ἑτέραν χεῖρα ἐπιβέβληκεν ἐπὶ τὴν Δέσποιναν· ἡ δὲ Δέσποινα σκῆπτρόν τε καὶ καλουμένην κίστην ἐπὶ τοῖς γόνασιν ἔχει, τῆς δὲ ἔχεται τῇ δεξιᾷ [κίστης]. Τοῦ θρόνου δὲ ἑκατέρωθεν Ἄρτεμις μὲν παρὰ τὴν Δήμητρα ἕστηκεν ἀμπεχομένη δέρμα ἐλάφου καὶ ἐπὶ τῶν ὤμων φαρέτραν ἔχουσα, ἐν δὲ ταῖς χερσὶ τῇ μὲν λαμπάδα ἔχει, τῇ δὲ δράκοντας δύο. Παρὰ δὲ τὴν Ἄρτεμιν κατάκειται κύων, οἷαι θηρεύειν εἰσὶν ἐπιτήδειοι. (5) Πρὸς δὲ τῆς Δεσποίνης τῷ ἀγάλματι ἕστηκεν Ἄνυτος σχῆμα ὡπλισμένου παρεχόμενος· φασὶ δὲ οἱ περὶ τὸ ἱερὸν τραφῆναι τὴν Δέσποιναν ὑπὸ τοῦ Ἀνύτου, καὶ εἶναι τῶν Τιτάνων καλουμένων καὶ τὸν Ἄνυτον.
(Blei-)verguss zusammengefügt,377 sondern das Ganze ist ein Stein. Dieser Stein wurde nicht hierher geschafft, sondern sie (sc. die Einheimischen)378 erzählen, man habe aufgrund eines Traums die Erde aufgegraben und ihn innerhalb des Bezirks gefunden. Jede der Statuen (agálmata) ist etwa so groß wie die Statue (ágalma) der Meter (Göttermutter) in Athen; (4) von Damophon sind auch379 diese Werke. Demeter hält eine Fackel in der rechten Hand, die andere Hand hat sie auf Despoina gelegt. Despoina hält ein Szepter und die so genannte Kiste auf den Knien, die sie mit der rechten Hand hält. Auf der einen Seite des Throns steht Artemis neben Demeter mit einem Hirschfell bekleidet und einen Köcher auf der Schulter; sie hält in der einen Hand eine Fackel, in der anderen zwei Schlangen. Neben Artemis liegt eine Hündin von der Art, wie sie zum Jagen geeignet sind. (5) Neben der Statue (ágalma) der Despoina steht Anytos in der Gestalt eines Gerüsteten; die Leute beim Heiligtum erzählen, Despoina sei von Anytos aufgezogen worden und auch Anytos sei einer der so genannten Titanen.
Zur Verbindung von steinernen Statuenteilen wurden in der Antike zwei verschiedene Techniken angewandt: einerseits die Verdübelung mit Eisenklammern und Bleiverguss (z.B. Kultbildgruppe von Klaros; vgl. auch Damaskos 203), andererseits die Verleimung mit einer Klebemasse (Anstückung). Die meisten Übersetzungen gehen davon aus, dass Pausanias in der Formulierung προσεχὲς σιδήρῳ καὶ κόλλῃ beide Verbindungstechniken nennt, und übersetzen sinngemäß „mit Eisendübeln oder Klebemasse zusammengefügt“ (vgl. W.H.S. Jones, Pausanias. Description of Greece IV (1961) 85: „fastened […] by iron or cement“; N.D. Papachatzes, Παυσανίας. Ἑλλάδος Περιήγησις IV (1980) 336: „γομφωμένο μὲ σίδερο ἢ κολλημένο“; M. Moggi – M. Osanna, Pausania. Guida della Grecia VIII (2003) 199: „connesso con ferro o con colla“). Zwei Argumente sprechen allerdings eher dafür, dass der Ausdruck προσεχὲς σιδήρῳ καὶ κόλλῃ nur die Technik des Verdübelns mit Bleiverguss meint (so bereits H. Hitzig – H. Blümner, Pausanias. Graeciae Descriptio III [1907] 251): Erstens deutet die Tatsache, dass die Wörter σιδήρῳ und κόλλῃ mit καί (und) verbunden sind, darauf hin, dass Pausanias nicht zwischen zwei verschiedenen Techniken unterscheidet (vgl. bereits J.H.C. Schubart, Jahrbuch für Philologie 1864, 47, der den Text deshalb in ἤ (oder) ändern wollte). Zweitens gebraucht Pausanias an anderer Stelle (10,16,1) das Wort κόλλα eindeutig im Sinne einer metallischen Verbindungsmasse, wenn er bei der Beschreibung der Löttechnik (σιδήρου κόλλησις) das Lot als κόλλα bezeichnet. 378 Da sich Pausanias wenig später in 8,37,5 ausdrücklich auf den Bericht der „Leute beim Heiligtum“ (οἱ περὶ τὸ ἱερὸν), bezieht, sind als Subjekt von λέγουσιν ebenfalls Einheimische anzunehmen und die obige Übersetzung einer unpersönlichen Wiedergabe wie „man sagt“ vorzuziehen. 379 Das Wort καί (auch) in der Bemerkung, dass die Statuen auch Werke des Damophon seien, kann sich nicht auf die unmittelbar zuvor erwähnte Statue der Göttermutter in Athen beziehen, die in der antiken Überlieferung als Werk des Phidias (so Paus. 1,3,5 selbst) oder des Agorakritos (Plin. nat. 36,17) gilt. Wahr377
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In der arkadischen Ortschaft Lykosura ist im ausgehenden 19. Jh. ein Antentempel dorischer Ordnung freigelegt worden, der seiner Lage zufolge mit dem Tempel identifiziert werden kann, den Pausanias im Heiligtum der Despoina beschreibt. Fast die gesamte Breite der Tempelcella nimmt eine in Teilen erhaltene, rund 8,40 m breite Basis ein, die vier kolossalen Marmorstatuen Platz bot: der Artemis, den beiden sitzenden Figuren der Demeter und ihrer Tochter Despoina sowie dem Titanen Anytos.380 Im Abguss zu sehen sind die Köpfe der Artemis, der Demeter und des Anytos, nicht hingegen der Kopf der Despoina, der bislang nicht gefunden worden ist, und die vielen Fragmente der Körper der vier Statuen. Diese sind aus einem lokalen Marmor bzw. Kalkstein gearbeitet und zwar aus etlichen Teilstücken, nicht, wie Pausanias behauptet, aus einem einzigen Block.381 Die Körperbildung wird in der Forschung ohne triftige Gründe als schwächer als die Modellierung der Köpfe beurteilt.382 Da die Zeitstellung des Damophon anhand einer stilkritischen Beurteilung seiner Plastiken kaum zu ermitteln ist, kommt einer 1972 in Messene gefundenen Inschriftensäule besondere Bedeutung zu. In der Inschrift ist die Rede von Ehrungen, die Damophon von sieben Gemeinden, u.a. von Lykosura, zuteil geworden sind. Die in der Inschrift als Zahlungsmittel genannten Tetradrachmen (‚Alexandreier’) sind auf der Peloponnes nach 190 v. Chr. nicht mehr geprägt worden. Da Damophon dem Text zufolge der Gemeinde Lykosura gegenüber auf beträchtliche Honorarforderungen verzichtet, wird er spätestens gegen 190 mit den Arbeiten an der Kultbildgruppe fertig gewesen sein. Die in der Inschrift außerdem bezeugten Ehrungen des Damophon durch etliche andere Gemeinden machen scheinlich verweist Pausanias auf die in 8,30,2 genannten Statuen der Demeter und Kore in Megalopolis zurück, deren Zuweisung an Damophon aufgrund einer Lücke im Pausanias-Text zwar lediglich auf einer Konjektur von I. Bekker (ed. 1826–27) beruht, aber dadurch als relativ sicher gelten kann, dass Pausanias im Folgenden von der lokalen Tradition berichtet, nach der die vor den Götterbildern in Megalopolis aufgestellten Mädchenstatuen die Töchter des Damophon darstellten. 380 Zum Befund vgl. M. Jost, Sanctuaires et cultes d’Arcadie (1985) 174–76; Damaskos 58–60. 381 Vgl. die Äußerung des Plinius zur – erheblich kleineren – Laokoongruppe (nat. 36,37 = SQ 2031). 382 Damaskos 61 Anm. 313. Heikel ist auch die ebenda getroffene Äußerung, die Körper seien im Verhältnis zu den Köpfen zu schlank.
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Damophon
deutlich, dass er im frühen 2. Jh. längst als bedeutender Bildhauer etabliert war.383 Aus der Inschrift geht ferner hervor, dass Damophon auch außerhalb der Peloponnes, auf diversen Inseln, bildhauerisch tätig gewesen ist. Von Pausanias, dem einzigen Autor, der Damophon erwähnt, erfahren wir schließlich noch, dass er in Olympia den Auftrag erhielt, das Kultbild des Zeus von Olympia zu restaurieren (Paus. 4,31,6 = SQ 1557),384 auch wenn er das für den Zeus verwendete Material, Elfenbein mit Goldauflage, für eigene Werke nicht benutzt zu haben scheint. Pausanias bezeugt aber, dass Damophon außer im Umgang mit Stein auch in der Kombination von Holz und Stein, also in der Akrolithtechnik versiert war (SQ 1560. 1562f.). Gegenstand seiner plastischen Schöpfungen waren ausschließlich Götter, Heroen und Personifikationen. Lit.: E. Lévy – J. Marcadé, BCH 96, 1972, 967–1004; D. Damaskos in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 248f.; ders., Untersuchungen zu hellenistischen Kultbildern (1997) 58–70; E. Faulstich, Hellenistische Kultstatuen und ihre Vorbilder (1997) 163–68. 202–09; B. Andreae, Skulptur des Hellenismus (2001) 95f. Taf. 55 (Anytos). Lehmann/Kansteiner
Vgl. P. Themelis, AntK 36, 1993, 34ff.; zur Datierung des Damophon vgl. auch W. Fischer-Bossert, International Journal of the Classical Tradition 6, 1999, 265f.; S. Müth, Eigene Wege (2007) 180–84. 384 Vielleicht im Anschluss an ein Erdbeben, das sich 183 v. Chr. ereignet hat, vgl. Damaskos 47f.
383
133
Archelaos
20.
ARCHELAOS (Ἀρχέλαος) aus Priene
20.1.
Bovillae (an der Via Appia): Weihrelief eines Dichters
Original: London, British Museum, Inv. 2191. Marmor; Höhe 1,15 m; Höhe der stehenden Musen 23 cm; im Abguss ergänzt sind die Köpfe des Dichters, des Apollon sowie von sechs Musen, ferner die beiden oberen Ecken des Reliefs. – Gefunden in einer antiken Villa bei Bovillae an der Via Appia (kurz vor der Mitte des 17. Jhs.). Zweizeilige Signatur in einer tabula ansata unter der Figur des Zeus (im Abguss kaum lesbar).
Ἀρχέλαος Ἀπολλωνίου ἐποίησε Πριηνεύς.
Archelaos, des Apollonios, aus Priene hat es gefertigt.
Das Relief mit der Darstellung des Berges der Musen, des Helikon, ist von Archelaos aus Priene, einem sonst nicht bezeugten Bildhauer, angefertigt worden und stammt aus einer Grabung, die spätestens 1645 in der östlich der Via Appia gelegenen Gemeinde Tor Ser Paolo oder Messer Paoli, Kreis Marino, einsetzte. Die dort befindliche antike Villa wird unterschiedlichen Besitzern zugewiesen: Entgegen der traditionellen Zuweisung an die Familie der Valerii Messallae385 erscheint eher die Annahme gerechtfertigt, dass es sich um die Villa Mamurrana gehandelt hat, die ab der Mitte des 1. Jhs. n. Chr. in kaiserlichen Besitz überging, aber weiterhin das cognomen des ursprünglichen Besitzers Mamurra, eines Ritters aus Formiae (Plin. nat. 36,48) trug.386 Dieser hat in den mithradatischen Kriegen an der Seite des Pompeius (66 v. Chr.) und später auf der Seite Caesars gegen die Lusitaner gekämpft (61 v. Chr.), war sehr vermögend und verschwenderisch, was Catull in etlichen Gedichten anprangert (vgl. 29: impudicus et vorax et aleo), und besaß Plinius zufolge ein prachtvolles Haus auf dem Caelius.387 Vgl. R. Lanciani, BCom 12, 1884, 194–97; G.M. de Rossi, Forma Italiae I/15. Bovillae (1979) 382–87 Nr. 432 (mit Datierung der Anlage der Villa in die zweite Hälfte des 1. Jhs. v. Chr.). 386 Zur Herkunft des Reliefs nun grundlegend: M.G. Granino Cecere, RendLincei s. 9, v. 6, 1995, 380 Anm. 70. 387 Zu Mamurra vgl. F. Della Corte, Personaggi catulliani (21976) 237–43; W.C. McDermott, RhM 126, 1983, 292–307; R.E.A. Palmer, Athenaeum 61, 1983, 343–55; Granino Cecere a.O. 372f.; M. Asper in: T.
385
134
Archelaos
Auf dem Gelände der oben genannten Villa sind – zu unterschiedlichen Zeiten – beachtliche Funde gemacht worden, vor allem 19 „statue”, zu denen außer dem Archelaos-Relief die sog. Apotheose des Claudius (heute im Prado388) zählt. Um 1683 hat man dort außerdem eine von Theodoros signierte Tabula Iliaca (heute Museo Capitolino) gefunden, die in der Regel in das letzte Viertel des 1. Jhs. v. Chr. datiert wird.389 Wie das Relief in den Besitz des Villeninhabers gelangt ist, lässt sich nicht mehr ermitteln: Dass Archelaos es für einen römischen Auftraggeber geschaffen habe, erscheint so gut wie ausgeschlossen.390 Wiederholt wurde daher postuliert, das Relief sei in Kleinasien geschaffen worden391 und zunächst dort verblieben oder sei wegen seines außergewöhnlichen Inhalts nach Alexandria und von dort nach Rom gelangt.392 Die ursprüngliche Funktion ist nicht geklärt: Erwogen wurde eine Deutung als Weihung aus Anlass eines Sieges in einem Dichter-Wettstreit393 oder einfach nur eine Deutung als Anschauungsobjekt für den Unterricht.394 Um die ursprüngliche Bestimmung des Reliefs zu ermitteln, lohnt es sich, eine entfernte Parallele zu betrachten: Aus Thera, das im 3./2. Jh. zum ptolemäischen Herrschaftsgebiet gehörte, stammt die Inschrift der Epikteta, der letzte Wille einer Frau aus gehobenem Kreis. In der Inschrift ist u.a. die Rede von der Einrichtung eines Vereins, der die kultische Verehrung von Musen und Verstorbenen zur Aufgabe hatte, ferner von einem Mouseion, das der Gatte der Epikteta zum Andenken an den Sohn errichten und in dem er ζῷα, wohl Reliefdarstellungen von Musen, sowie Statuen seiner selbst und seines Sohnes aufstellen ließ, sowie von einem Bezirk mit Heroa (Grabdenkmälern).395 Das in die Jahre 210–195 v. Chr. datierte Testament wäre nach der hier vertretenen Datierung (s.u.) ungefähr zeitgleich mit dem Archelaos-Relief entstanden. Auch bei diesem mag ein Zusammenhang zu einem Verstorbenen bestehen, zu einem Wanderdichter, wohl einem Epiker, der vielleicht ebenso wie Homer heroisiert worden ist. Der Wiedergabe auf dem Relief zufolge hat er sicher an einem Wettbewerb teilgenommen, den die Lagiden in Böotien ausgerichtet haben, und war vielleicht bestrebt, in das Mouseion von Alexandria aufgenommen zu werden. Die Bestimmung der Zweitverwendung des Reliefs im römischen Kontext ist unabhängig davon, ob man in der Villa, in der das Relief gefunden wurde,396 diejenige der Valerii Baier – F. Schimann (Hrsg.), Fabrica. Studien zur antiken Literatur und ihrer Rezeption (1997) 67–73. 388 Vgl. S. Schröder, Katalog der antiken Skulpturen des Museo del Prado in Madrid II (2004) 480 zu Kat. 206, der die Villa ohne Kenntnis des Artikels von Granino Cecere mit den Valeriern verbindet. Vgl. ferner E. Polito, Fulgentibus armis (1998) 207–09. 389 Zur ‚Tafel’, auf der im Relief u.a. die Einnahme Trojas dargestellt ist, vgl. A. Sadurska, Les tables iliaques (1964) 24–37; C. Salimbene, BMusRom 16, 2002, 5–33; ferner G. Scafagli, RhM 148/2, 2005, 113–25. – Eine Tabula Iliaca ist interessanterweise auch an anderer Stelle, in einer bei Porcigliano gelegenen Villa, zusammen mit einer Musengruppe, der Statue eines Dichters und einem bärtigen Kopf (Homer?) zu Tage getreten, vgl. R. Neudecker, Die Skulpturenausstattung römischer Villen in Italien (1988) 239 Nr. 69.19–21. 390 Anders B.S. Ridgway, Hellenistic Sculpture I (1995) 257–68, die die Porträtzüge von Chronos und Oikumene zu Unrecht negiert. 391 So D. Pinkwart, Das Relief des Archelaos von Priene und die “Musen des Philiskos” (1965) 42–47. 392 Ein Zusammenhang mit alexandrinischer Kunst konnte außerdem für die sog. Ilischen Tafeln wahrscheinlich gemacht werden, vgl. R. Amedick, JdI 114, 1999, 196–99. 393 So C. Watzinger, 63. BWPr (1903) 23f. und insbesondere Pinkwart a.O. 87. 394 B.S. Ridgway, Hellenistic Sculpture II (2000) 207f. (im Anschluss an E. Voutiras). 395 Vgl. A. Wittenburg, Il testamento di Epikteta (1990) passim (zu den ζῷα: 146). Da ein Mouseion nach dem Tod des ersten Sohnes errichtet wurde, hat man u.a. erwogen, dass dieser dichterisch tätig gewesen sei (Wittenburg 121). 396 Ein Musenrelief als Teil einer Villenausstattung ist auch im arkadischen Eua (Luku; Villa des Herodes
Archelaos
135
Messallae oder die Villa Mamurrana sieht: Marcus Valerius Messalla Corvinus war in der zweiten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. ein vielseitiger Gelehrter;397 Mamurra, ein eruditulus (Catull 57,7), hielt sich für einen anspruchsvollen Intellektuellen, was nicht zuletzt aus einem Zweizeiler des Catull (105) hervorgeht: unter dem Pseudonym Mentula (Schwanz) lässt er Mamurra den Berg der Musen besteigen, die ihn jedoch hinabstoßen,398 was eine köstliche ironische Anspielung auf den Besitz des Musenreliefs darstellen könnte. Da Mamurra zur Gefolgschaft des Pompeius während des Orient-Feldzuges gehört hat, mag er das Relief als Beute aus Kleinasien mitgebracht haben (vgl. Catull 29,18). Die obere Abteilung des Reliefs zeigt auf der Spitze des Musenbergs den sitzenden Zeus, der sich der etwas tiefer postierten Musenmutter Mnemosyne zuwendet. Darunter sieht man in zwei Registern die Musen, die sich nicht zuletzt anhand des Proömions der Theogonie des Hesiod benennen lassen:399 oben sitzt Klio mit Diptychon, daneben stehen zwei Musen mit Schriftrolle und mit kleiner Kithara, also Thaleia und Melpomene (oder umgekehrt), gefolgt von Euterpe und der ganz am Rand befindlichen, tanzenden Terpsichore. Im unteren Register sitzt Erato mit Kithara, neben ihr stehen Urania mit Globus und Polymnia. In der sich anschließenden Grotte ist Apollon mit der Kithara zu erkennen, dem eine Muse, wohl Kalliope, den Papyrus des Dichters präsentiert, dessen Statue daneben vor einem Dreifuß postiert ist. Entgegen der Versuchung, in dieser Figur Homer, Hesiod oder andere namhafte Dichter zu sehen, darf in ihr der Weihende oder der heroisierte, für uns anonyme Verstorbene erkannt werden. Der Dreifuß in seinem Rücken ist wohl als Hinweis auf einen Sieg in einem Dichterwettstreit und der daraus resultierenden Weihung eines Dreifußes in das Musenheiligtum am Helikon zu deuten (vgl. den Dreifuß Hesiods: Paus. 9,31,3).400 Das Register ganz unten zeigt eine allegorische Szene, deren Figuren durch Unterschriften benannt sind: Vor dem Hintergrund einer verhängten Portikus thront Homer, dem eine grundlegende Rolle im System der griechischen paideia zukommt,401 flankiert von Ilias und Odyssee. Hinter ihm stehen die Personifikationen Χρόνος (Zeit) und Οἰκουμένη (Erdkreis), die im Begriff ist, ihn zu bekränzen; vor Homer steht Μῦθος (Mythos), der einem von Ἱστορία (Geschichte) vollzogenen Opfer assistiert. Hinter Ἱστορία befinden sich Ποίησις (Dichtkunst), Τραγῳδία (Tragödie) und Κωμῳδία (Komödie) sowie weitere Personifikationen. Die Datierung des Reliefs ist umstritten: Die Porträtzüge der Oikumene und des Chronos sind zwar durch den Vergleich mit rundplastischen Bildwerken nicht eindeutig zu bestimmen, weisen aber wohl doch auf eine frühere Ansetzung des Reliefs als in die Jahre um 130 v. Chr.402 Von den vielen Benennungen, die vertreten worden Atticus) bezeugt, vgl. jetzt G. Spyropoulos, Η ΕΠΑΥΛΗ ΤΟΥ ΗΡΩΔΗ ΑΤΤΙΚΟΥ ΣΤΗΝ ΕΥΑ (2006) 78–80 Nrt. 16 mit Abb. 397 Vgl. J. Veremans in: P. Defosse (Hrsg.), Hommages à Carl Deroux (2002) 499–501; A. Valvo in: ANRW II.30.3 (1983) 1663–80. 398 „Mentula conatur Pipleium scandere montem;/ Musae furcillis praecipitem eiciunt“. Vgl. S. Goga in: P. Defosse (Hrsg.), Hommages à Carl Deroux (2002) 242f. 399 Vgl. R. Cohon, Boreas 14–15, 1991/92, 70–78. 400 Ein von einem Kranz umgebener Dreifuß erscheint auch auf Münzen aus dem böotischen Orchomenos aus der Zeit Arsinoes IV., vielleicht aus Anlass der Reform lokaler musischer Spiele (Charitesia), vgl. A. Schachter, Cults of Boiotia I (1981) 144. 401 Vgl. F. Kimmel, Gaia 10, 2006, 183f. 402 Um 130 v. Chr.: Pinkwart 63f.; ferner M. Schede, JdI 35, 1920, 69–74. – Eine frühere Datierung wird
136
Archelaos
sind,403 erscheint die als Ptolemaios IV. Philopator (222/221–205/204 v. Chr.) und Arsinoe III. plausibel:404 In Thespiai wurde wohl seit dem 5. Jh. v. Chr. im Musenheiligtum jährlich das Mouseia-Fest gefeiert, zu dem spätestens seit der ersten Hälfte des 3. Jhs. musische Wettbewerbe gehörten, die im letzten Drittel des 3. Jhs. offenbar überregionale Bedeutung erlangten. Epigraphische Zeugnisse belegen gleichzeitig, dass zwischen der böotischen Konföderation und dem ptolemäischen Reich ein Treuepakt bestand, an dem ein Ptolemaios mit seiner ἀδελφή (Schwester) betitelten Frau beteiligt war. An diese wiederum richtete sich die Bitte einer Gesandtschaft aus Thespiai, Preise zur Belohnung von Siegern in diversen Agonen (ἀγῶνες αὐλητῶν καὶ τραγῳδῶν καὶ κωμῳδῶν) zu bewilligen und die alle vier Jahre gefeierten Spiele zu subventionieren.405 Arsinoe III. schließlich dürfte in jenem Kopf mit Polos und Schleier zu erkennen sein, der auf der Vorderseite bronzener, in Thespiai geprägter Münzen erscheint.406 Dort wäre sie als ‚zehnte’ Muse vergöttlicht worden; kaum zufällig erwähnt Pausanias auf dem Helikon eine Statue einer Arsinoe (Paus. 9,31,1). Aus dem Commentarius Oxoniensis zu den Aitien des Kallimachos geht außerdem hervor, dass eine Arsinoe zu den Musen gezählt wurde und dass sich ein Bildnis von ihr in einem nicht genauer lokalisierten Mouseion befand.407 All dies erklärt, dass dieselbe auf dem Archelaos-Relief vor ihrem Gatten postiert ist. Zu der hier vertretenen Datierung des Reliefs passt es, dass Ptolemaios IV. auch ein Homereion errichtet haben soll (Aelian, var. 13,22). Die Wertschätzung der musischen Künste durch die Ptolemäer kommt auch darin zum Ausdruck, dass in Alexandria Spiele zu Ehren der Musen und Apolls abgehalten wurden (Vitruv 7, praef. 4). Die auf dem Archelaos-Relief wiedergegebenen Porträts der Arsinoe und ihres Gatten werden entweder noch zu Lebzeiten oder bald danach entstanden sein, zu einer Zeit, als die Erinnerung an das Paar noch nicht verblasst war, also schwerlich nach 180 v. Chr. Ausgehend vom Archelaos-Relief sowie von der Musenbasis aus Halikarnassos, die in die Zeit um 120 v. Chr. datiert wird, glaubte man, verschiedene statuarische Musengruppen,408 darunter die des Bildhauers Philiskos aus Rhodos, die Plinius in Rom nennt (36,34 = SQ 2207), rekonstruieren zu können.409 Allerdings wird man Archelaos sicher nicht gerecht, wenn man ihm mangelnde Erfindungskraft unterstellt und in ihm einen vertreten von Schneider 183–87 (aufgrund stilistischer Argumente). – Nach Auskunft von K. Hallof stammen die frühesten Belege für die Monophthongisierung des Diphthongs –ωι– (in den Worten τραγῳδία und κωμῳδία) aus dem 2. Jh. v. Chr.: der erste Beleg in den relativ dichten attischen Zeugnissen geht auf das Jahr 168/7 zurück, vgl. L. Threatte, The Grammar of Attic Inscriptions I (1980) 359. 403 Vgl. z.B. H. Kyrieleis, Bildnisse der Ptolemäer (1975) 44 Anm. 167; D. Pinkwart, Das Relief des Archelaos von Priene und die “Musen des Philiskos” (1965) 77. 404 Vgl. Papini 39f. und bereits C. Watzinger, 63. BWPr (1903) 23f.; G. Lippold, RM 33, 1918, 77–80; E. Preuner, Hermes 55, 1920, 419–23. 405 Zu den hier berücksichtigten Inschriften s. M. Holleaux, Études d’épigraphie et d’histoire grecques I (1938) 99–120, und M. Feyel, Contribution à l’épigraphie béotienne (1942) 100–17. – Außerdem überließen Ptolemaios IV. und Arsinoe III. den Thespiern viel Geld für den Musenbezirk. 406 Auf der Rückseite befindet sich eine mit Lorbeer bekränzte Lyra, vgl. A. Schachter, NumChron 1, 1961, 67–70. 407 Zu den thespischen Mouseia s. A. Schachter, Cults of Boiotia II (1986) 163–66; D. Knoepfler, in A. Hurst – A. Schachter (Hrsg.), La montagne des Muses (1996) 141–67; grundlegend S. Barbantani, Lexis 18, 2000, 142–58. 408 Vgl. Pinkwart a.O. 91–158. Zur Musenbasis aus Halikarnassos s. D. Pinkwart, AntPl 6 (1967) 89–93. 409 Zu dieser Frage, die hier nicht behandelt werden kann, vgl. E. La Rocca in: Musa Pensosa 115–21; ders., Künstlerlexikon II, 240–43 s.v. Philiskos; Schneider 179–90 (mit hyperkritischer Interpretation des Plinius-Textes).
Archelaos
137
„Chronisten, der Vorhandenes zusammenstoppelte“, sieht.410 Zu erwarten ist eher, dass er – offenbar ohne statuarische Vorbilder im engen Sinne zu kopieren – auf ikonographische Schemata zurückgegriffen hat, die zu seiner Zeit für Musendarstellungen geläufig waren. Lit.: Löwy Nr. 297; D. Pinkwart, AntPl 4 (1965) 55–65 Taf. 28–35; C. Schneider, Die Musengruppe von Milet (1999) 183–87; B. Andreae, Skulptur des Hellenismus (2001) 177 Taf. 168; Künstlerlexikon II, 543 s.v. Archelaos (Vollkommer); A. Bottini (Hrsg.), Musa pensosa, Ausst.-Kat. Rom 2006, 38–42 mit Abb. (M. Papini); 116 mit Abb. 11f. (E. La Rocca); GK Denkmäler (2007) Nr. 842. – Zur Signatur: Loewy Nr. 297; G. Kaibel, IG XIV (1890) Nr. 1295. Papini
J. Sieveking, RM 32, 1917, 82f. – Auch für das untere Register hat man angenommen, dass Archelaos auf Vorbilder zurückgegriffen habe, vgl. dazu H. von Hesberg, JdI 103, 1988, 333f. (mit dem Hinweis auf ein bei Aelian [var. 13,21 = SQ 1988] überliefertes Gemälde eines gewissen Galaton, das Homer zeigt, der sich erbricht).
410
Agasias
138
21.
AGASIAS (Ἀγασίας) aus Ephesos
21.1.
Antium: Marmorstatue eines Kämpfenden, sog. „Fechter Borghese“
Original: Paris, Louvre, Inv. Ma 527; ehemals Rom, Villa Borghese. Höhe 1,565 m (Sohle– Scheitel, am Abguss); Kopfhöhe 24 cm. Ergänzt sind der rechte Arm und Kleinigkeiten. Gefunden zu Beginn des 17. Jhs. in einer römischen Villa bei Porto d’Anzio. Vierzeilige Signatur auf geglätteter Fläche an der Baumstütze.
Ἀγασίας Δωσιθέου Ἐφέσιος ἐποίει.
Agasias, des Dositheos, aus Ephesos hat gefertigt.
Thema der Darstellung ist ein ursprünglich nur mit Schild und Schwert gerüsteter Kämpfender im Ausfallschritt, der in Ermangelung besonderer Kennzeichen nicht mit einem Heros oder einer historischen Person identifiziert werden kann. Die Haltung des linken Arms und die Blickrichtung geben zu erkennen, dass der Kämpfer es mit einem berittenen Gegner zu tun hat. Dargestellt war der Reiter allerdings nicht: In einer der nicht zuletzt durch die Position der Signatur zu bestimmenden Hauptansichten der Figur (Kunze Abb. 95) wird deutlich, dass Pferd und Reiter so gestanden hätten, dass sie dem Betrachter die Sicht auf den Schwertkämpfer verdeckt hätten. Die Form der Buchstaben der Signatur lässt erwarten, dass Agasias, der Sohn des Dositheos aus Ephesos, in späthellenistischer Zeit, wohl im letzten Viertel des 2. und/oder im ersten Viertel des 1. Jhs. v. Chr. als Bildhauer in Erscheinung getreten ist. Anders als der ungefähr zur gleichen Zeit tätige Bildhauer der Kopie des Diadumenos aus Delos (Kat. 9.4.) hat Agasias offenbar nicht auf ein bestimmtes statuarisches Vorbild zurückgegriffen. Nur in Einzelheiten wie etwa der Haarbildung kommt eine Orientierung am Formenrepertoire der spätklassischen Zeit zum Ausdruck.411 „Die fließenden Körperformen der spätklassischen Erscheinungsform wirken wie festgefroren und sind jetzt trotz aller 411
Besonders ähnlich ist die Haarbildung des Sandalenbinders, vgl. J. Inan, AntPl 22 (1993) 105f. Taf. 39.
Agasias
139
scheinbaren anatomischen Lebensnähe eher mumifiziert.“412 Von einem zweiten Werk des Agasias mit gleichlautender, aber sicher von anderer Hand ausgeführter ‚Signatur’ hat sich in Halos (Thessalien) die Basis erhalten; der Darstellungsinhalt ist nicht bekannt.413
Lit.: M. Hamiaux, Musée du Louvre. Les Sculptures Grecques II (1998) 50–54 Nr. 60; D’après l’antique, Ausst.-Kat. Paris 2000, 150f. 274–95. 391–96; B. Andreae, Skulptur des Hellenismus (2001) 205 Abb. 194; C. Kunze, Zum Greifen nah (2002) 220f. Abb. 95; GK Denkmäler (2007) Nr. 570. – Zur Restaurierung: B. Bourgeois in: History of Restoration of Ancient Stone Sculptures, Symposium Los Angeles 2001 (2003) 153–59. – Zur Inschrift: SQ 2278; Loewy Nr. 292; G. Kaibel, IG XIV (1890) Nr. 1226; J. Marcadé, Recueil des signatures de sculpteurs grecs II (1957) 2v–3; M. Donderer, ÖJh 65, 1996, 100 mit Abb. 13f. Hallof/Kansteiner
412 413
W. Fuchs, Die Skulptur der Griechen (1969) 149. O. Kern, IG IX 2 (1908) Nr. 114; Marcadé 2 Taf. 25,1.
Kerdon
140
22.
KERDON (Μάαρκος Κοσσούτιος Κέρδων)
22.1.
Lanuvium, Villa am Monte Cagnolo: Marmorstatue des Paniskos, Kopie eines Originals aus dem frühen 4. Jh. v. Chr.
Original: London, British Museum Nr. 1667, gefunden von Gavin Hamilton (1774). – Höhe 1,08 m (Sohle–Scheitel); Körperhöhe 33 cm; Kopfhöhe 10,4 cm. Ergänzt sind beide Arme, der linke Fuß und die Plinthe samt dem Vorderteil des rechten Fußes. – Achtzeilige Inschrift auf der Statuenstütze.
Μάαρκος/ Κοσσού/τιος/ Μάαρκου/ ἀπελεύ/θερος/ Κέρδων/ ἐποίει.
M. Cossutius Kerdon, Freigelassener des Markos, fertigte .
Die Buchstabenformen sprechen für eine Datierung ins späte 2. oder frühe 1. Jh. v. Chr.; die Wiedergabe des lateinischen Pränomens Marcus in der Form Μάαρκος ist für das 2. und frühe 1. Jh. v. Chr. üblich, hört aber um 50 v. Chr. auf.414 – Die Signatur steht in etwas knapperer Form (Μάαρκος Κοσσούτιος Κέρδων ἐποίει) auf der Stütze einer weiteren Panstatue aus derselben Villa (British Museum Nr. 1666); beide Inschriften zeigen identische Schriftformen und gehören entgegen anders lautender Einschätzungen sicher in dieselbe Zeit. – Der Bildhauer Kerdon war der griechische Freigelassene eines M. Cossutius, der einen sehr seltenen Gentilnamen trägt. Prominente Träger sind der von Antiochos IV. Epiphanes nach Athen entsandte römische Architekt für das Olympieion sowie zwei Münzmeister der späten Republik; weitere Vertreter sind bekannt aus Athen, Paros und Kos (dort nach einer neuen Inschrift bereits im 1. Jh. v. Chr. als Ausrichter von Gladiatorenspielen). Viele Cossutii hatten mit dem Baugewerbe und dem Skulpturenhandel zu tun. Es ist gut möglich, dass M. Cossutius eine Bildhauerwerkstatt unterhielt, deren griechische Mitarbeiter er durch Freilassung an den Betrieb band, wie etwa auch M. Cossutius Menelaos.415 Die von Kerdon signierte Statue gehört zusammen mit etwa 30 maßgleichen Repliken zu 414 415
L. Threatte, The Grammar of Attic Inscriptions I (1980) 136f. Vgl. Fuchs 63f.; L. Moretti, Inscriptiones Graecae urbis Romae IV (1990) Nr. 1569.
Kerdon
141
einem statuarischen Typus des kindlichen Pan, der nach einer fast vollständig erhaltenen Kopie im Rijksmuseum in Leiden als ‚Leidener Pan’ bezeichnet wird. Das verlorene, wohl aus Bronze gearbeitete Original ist die am häufigsten kopierte antike Panstatue, gleichzeitig die am meisten verbreitete griechische Statue in der Größe eines etwa sechs bis acht Jahre alten Knaben. Obschon die Schriftquellen etliche Statuen des Pan für das 5. und 4. Jh. v. Chr. überliefern,416 wird entgegen der traditionellen Beurteilung des Originals als Werk eines Polykletschülers in der jüngeren Forschung hartnäckig die Ansicht verfochten, dass es sich um eine an den sog. Dresdner Knaben angelehnte Schöpfung späthellenistischer Zeit handele:417 Ein Bildhauer dieser Zeit soll ein älteres Vorbild verkleinert haben, wobei ihm im Zuge der Verkleinerung die Rückseite aus Nachlässigkeit zu muskulös geraten sei. Außerdem habe er durch die Reduktion der Breite der rechten Körperseite die Statik des Kontraposts aufgelöst. Der Kopf weise einen fast gewaltsam geschönten Umriss auf und sei obendrein zu uneinheitlich überliefert,418 um mit einem klassischen Original in Verbindung gebracht werden zu können. Die subjektiven Beobachtungen gipfeln in der These, dass der Pan eine eklektische Schöpfung sei, „die gestalterische Elemente des späten 5. und des 4. Jh. v. Chr. in komplexer Weise miteinander verbindet.“419 Hier und sonst vermisst man Kriterien, die dazu dienen könnten, eine klassizistische Erfindung späthellenistischer Zeit von einer statuarischen Schöpfung aus dem 4. Jh. zu unterscheiden. Vor allem fragt man sich, warum ausgerechnet eine angeblich bildhauerisch minderwertige Skulptur überaus häufig kopiert worden sein soll und warum kein Kopist auf die Idee gekommen ist, das vermeintliche Missverhältnis zwischen Vorder- und Rückseite zu beheben. Eine derartig gedankenlose Vorgehensweise würden diejenigen, die im Pan eine Schöpfung späthellenistischer Zeit sehen, den Bildhauern der Repliken gerade nicht zutrauen. Der Paniskos geht auf ein Bronzeoriginal zurück, dessen Größe von nur 1,08 m genaue Entsprechung findet bei einer Statue, die einvernehmlich einem Bildhauer der Polyklet-Schule zugewiesen wird, dem Narkissos.420 Vor allem Kopie ehem. Konservatorenpalast die Tatsache, dass das Haar im Unterschied zu Werken des 5. Jhs. aus der Stirn nach hinten geführt ist, macht deutlich, dass der Pan als das jüngere von beiden Werken angesehen werden muss. Plausibel erscheint eine Datierung in das erste Viertel des 4. Jhs. – Der in der ersten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. tätige, nur durch eine weitere Statue des Paniskos bezeugte Bildhauer Kerdon gehört damit zu den frühesten namentlich bekannten Bildhauern, die eine Statue Vgl. SQ 927a, SQ 481d, SQ 1186, SQ 1206. – LIMC VIII (1997) 930f. s.v. Pan Nr. 148–51. Vorster 200–202; so auch Marquardt 149–51; Dostert; Fuchs 68; Künstlerlexikon I, 147f. s.v. Cossutius Cerdo (R. Vollkommer). 418 Vgl. dagegen S. Kansteiner, Herakles (2000) 69 Anm. 529. – Die Frisur wird verbindlich überliefert von lockengleichen Repliken ehemals im Konservatorenpalast (Abb.; BrBr Text zu 647 mit Abb.), im Vatikan (Museo Gregoriano Profano Inv. 10293), in London (British Museum Nr. 1667) und in Wilton House. 419 Marquardt 150. 420 Zum Narkissos vgl. D. Kreikenbom in: Bildhauerkunst II, 245f. Abb. 182f. 416
417
142
Kerdon
klassischer Zeit kopiert und signiert haben.421 Sein Paniskos ist ebenso wie die zweite Panstatue von seiner Hand in einem Punkt gegenüber dem Original, das Pan mit Ausnahme der Bocksohren und zweier kleiner Hörner anthropomorph zeigte, verändert: der richtig als herabhängend ergänzte linke Arm (anders Vorster 195) entsprach in seiner Haltung dem rechten Arm des Vorbilds, bei welchem der linke Unterarm angewinkelt war.422 Als Attribut des Originals ist eine in der linken Hand gehaltene Syrinx zu erschließen. Zur Replikenliste des Pan Typus Leiden sind nachzutragen die folgenden acht maßgleichen Körperrepliken: Torso in Chalkis, Museum, Inv. 295 (seit 2004 als Dauerleihgabe in Olympia, Altes Museum); Torso in Cherchel, Museum; Statuenoberteil mit Tierfell in Dresden, Skulpturensammlung, Herrmann Nr. 98 (Umdeutung als Dionysos); Torso in Krakau, Nationalmuseum; Statue in Madrid, Prado E 136 (Umdeutung als Dionysos); Statue mit nicht zugehörigem Kopf in Rom, Palazzo Rospigliosi, Sala del trono; Torso Sotheby’s New York 18.6.91 Nr. 59; Torso Sotheby’s New York 17.12.97 Nr. 117.423 Lit.: BrBr 47; C. Vorster in: H. Beck – P.C. Bol (Hrsg.), Polykletforschungen (1993) 204 Nr. 3 Abb. 9–12 (mit Replikenliste); N. Marquardt, Pan in der hellenistischen und kaiserzeitlichen Plastik (1995) 136–51 (mit Replikenliste); A. Dostert in: Standorte, Ausst.-Kat. Berlin 1995, 423–26; M. Fuchs, In hoc etiam genere Graeciae nihil cedamus (1999) 64–69 Taf. 54. 56. 58 (BM Nr. 1666: Taf. 55. 57. 59). – Zur Inschrift: SQ 2302; Loewy Nr. 376a; G. Kaibel, IG XIV (1890) Nr. 1249a; The Collection of Ancient Greek Inscriptions in the British Museum IV (1916) 217 Nr. 1099a (F.H. Marshall). – Zur Villa am Monte Cagnolo: R. Neudecker, Die Skulpturenausstattung römischer Villen in Italien (1988) 161–64 Nr. 21; S. Ingegneri, Gavin Hamilton a Monte Cagnoletto, in: Daidalos 3, 2001, 259–71 [n. v.]. – Zu den Cossutii: C. Habicht, AvP VIII/3 (1969) 99; E. Rawson, BSR 43, 1975, 36–47. Hallof/Kansteiner
Später tätig sind z.B. Apollonios, Sohn des Archias (Kopfreplik des Doryphoros aus der Villa dei Papiri); Antiphanes aus Paros (Kopie des Hermes Richelieu, Berlin Sk 200) und Kleomenes (sog. Germanicus im statuarischen Typus des Hermes Ludovisi in Paris, Louvre Ma 1207). 422 Vgl. die Repliken in Leiden, in Krakau, in Chalkis und im Vatikan (Museo Gregoriano [Stegansatz] und Museo Chiaramonti [Bildkatalog I/2 Taf. 687]). Variiert ist die Armhaltung des Vorbilds hingegen auch bei einer Statue in Rom (Thermenmuseum, Inv. 52399 – Cat. Museo Nazionale Romano I/1 27 Nr. 27), bei der beide Unterarme angewinkelt waren. 423 Chalkis: E. Sapouna Sakellarake, Chalkis (1995) 90 Abb. 55. – Cherchel: C. Landwehr, Cherchel II (2000) Kat. 131 (ohne Hinweis auf den Typus). – Dresden: K. Knoll, Götter und Menschen, Ausst.-Kat. Dresden (2000) Kat. 7 (ohne Hinweis auf den Typus). – Krakau: T. Mikocki, CSIR Polen III 1 (1994) Nr. 73 Taf. 47 (mit Deutung als Diskophoros). – Madrid: S. Schröder, Katalog der antiken Skulpturen des Museo del Prado in Madrid II (2004) Kat. 179 (mit Deutung als Nachbildung des Dresdner Knaben). – Rom, Palazzo Rospigliosi: B. Andreae (Hrsg.), Index der Antiken Kunst und Architektur (1991) 2517 A2; Matz – Duhn, Bildwerke Nr. 427. 421
143
Apollonios
23.
APOLLONIOS (Ἀπολλώνιος) aus Athen
23.1.
Rom, Quirinal (?): Marmorstatue des sitzenden Philoktet (?), „il Torso“
Original oder Kopie: Rom, Vatikanische Museen, Inv. 1192 (Sala delle Muse, ehemals Cortile del Belvedere). Marmor. Höhe 1,59 m. Fundort: Rom, Quirinal (vor 1432). – Ergänzt ist der rückwärtige Teil des Felssitzes, auf dessen Vorderseite sich die vierzeilige Inschrift befindet.
Ἀπολλώνιος Νέστορος Ἀθηναῖος ἐποίει.
Apollonios, Sohn des Nestor, aus Athen fertigte .
Die nackte männliche Figur, eine der berühmtesten Antiken überhaupt, weist etwa eineinhalbfache Lebensgröße auf424 und sitzt auf einem Felsen, der mit einem Pantherfell bedeckt ist.425 Eine eindringliche Schilderung des ‚Torsos’ findet sich bei Wilhelm Heinse, der sich während eines längeren Rom-Aufenthalts 1782/83 wiederholt mit den Vatikanischen Antiken befasst hat: „Der Torso ist das höchste von einem Ringerkörper; er ruht und sitzt auf seinem Löwenfell. schönrer und vollfleischigerer Kernstärke, und alles in lebendigster Form abgewogen mit dem feinsten Wahrheitsgefühl, findet man nichts mehr übrig von alter Kunst. Er senkt die rechte Seite und hatte wahrscheinlich den linken Arm über den Kopf geschlagen. Das Brustbein ist so zart gehalten und mit sanfter Fettigkeit überzogen, daß man es kaum merkt. Brust und Schultern und Stärke vom Rücken herum sitzen über der schlanken Mitte ganz unüberwindlich und erdrückend. Die Schenkel sind lauter Mark. Alles ist an ihm in Fluß und Bewegung; und doch ists der allersanfteste Contur. Man Hafner 43 rekonstruiert die Gesamthöhe der Figur in aufgerichtetem Zustand mit 2,70 m, Wünsche (1998, 85) mit etwa 2,80 m. Ausschlaggebend ist die Distanz zwischen Pubesrand und Halsgrube, die 57 cm beträgt und in aufgerichteter Position bei etwa 74–78 cm anzusetzen wäre (vgl. den Herakles Typus Lenbach, dessen Körperhöhe 70 cm und dessen Gesamthöhe 2,40 m beträgt). 425 Da man in dem Fell zunächst ein Löwenfell erkannte, ist über mehrere Jahrhunderte hinweg eine Deutung des Torsos als Herakles favorisiert worden, vgl. Wünsche 1993, 23. 424
144
Apollonios
sieht alle Theile und ihre Kraft und Stärke, und doch tritt kein Knochen scharf hervor. Es ist recht das höchste Vermögen in höchster Bescheidenheit und Schönheit. [...] Eine Centnermäßige Kraft von Mannheit, Arsch und Schenkel ein strammer Berg von Fleisch, und das Gewächs zur Brust hinauf Stärke, alles zu erdrücken; und doch schwingen sich die Formen alle in nerviger Fettigkeit zart in einander. [...] Und wer weiß, ob er nicht ein nackend Geschöpf der Lust auf seinen Armen wiegte? Gewiß waren sie angehoben, wie man an der Bewegung und den Stummeln derselben sieht, und an dem Zapfen in dem rechten Schenkel am Knie oben und dem Zapfen im linken auf der äußern Seite am Knie; umsonst sind sie gewiß nicht da, und zu welcher andern Bedeutung? [...] Es ist das höchste Ideal von einem Kernmann so weit die Natur reicht. Schade daß der ganze Arsch hinten fehlt. Der ganze herrliche Rücken beugt sich zum tragen vor und der Hals streckt den Kopf augenscheinlich nach etwas linker Seite. Der Torso bleibt immer der Saul der Kunst, der über alle hervorragt, was individuelle menschliche Kraft und Stärke betrift. Er ist das höchste Ideal von Held, und der zornige und schnellfüßige Achill wird dagegen nur bißig und klein. Hier ist alles so wahr groß und stark, und fühlt sich mächtig ohne Groll zu haben und zu zanken.“426 Unter minutiöser Berücksichtigung des Befundes ist es Giorgos Despinis unlängst gelungen, die bereits von Arvid Andrén und Erika Simon befürwortete Benennung des Torsos als Philoktet durch neue Argumente zu stützen. Von zentraler Bedeutung für die Rekonstruktion der Armhaltung ist der Rest eines großen antiken Stützsteges, der vom rechten Oberschenkel nach oben führte.427 Despinis hat, wie lange vor ihm bereits Bruno Sauer, darauf hingewiesen, dass der Steg keinen Sinn ergibt, wenn man, wie etwa im Zuge der von Himmelmann und Wünsche vertretenen Deutung des Torsos als Aias, davon ausgeht, dass der Ellbogen des rechten Arms auf dem Oberschenkel ruhte. Zu erwarten ist vielmehr, dass der rechte Unterarm so vor den Körper geführt war, dass der Steg über eine Distanz von mindestens 10 cm zum Ellbogen oder Unterarm emporführte. Ein zweiter großer Steg, der von der Außenseite des linken Knies seinen Ausgang nimmt und in den bisherigen Rekonstruktionen nicht in befriedigender Weise erklärt werden konnte,428 führte Despinis zufolge zum Handgelenk des angehobenen linken Arms: Es könnte sich um den unteren Teil des Bogens gehandelt haben, den der Sitzende in der Hand hält, d.h. der Bogen hätte in diesem Fall die Funktion des Steges übernommen.429 Der Kopf war leicht nach links gedreht und angehoben (Despinis 402f.); die Hauptansicht der Statue ist wie beim „Fechter Borghese“ (hier Kat. 21.1.) durch die Position der Signatur vorgegeben. Die Rekonstruktion des Torsos als Bogenschütze, der auf einem Felsen sitzt, spricht für Zitiert nach: Wilhelm Heinse, Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass, hrsg. von M. Bernauer et. al., Bd. I (2003) 747. 767f. – Die Passage ist im Auszug wiedergegeben in Heinses Roman „Ardinghello und die glückseligen Inseln“ (Reclam-Ausgabe 1998) 243. 427 Noch in der Antike ist der Arm abgebrochen. Im Zusammenhang mit der deshalb notwendigen Reparatur wurde der verbliebene Stegrest fast vollständig abgearbeitet und der Steg durch einen in den Oberschenkel eingelassenen, wohl metallenen Zapfen ersetzt, vgl. Despinis 396. 428 Vermutet wurde z.B., dass hier eine in der linken Hand gehaltene Schwertscheide ansetzte. 429 Im Rahmen der wohl in der Spätantike erfolgten Reparatur der gesamten Statue scheint der linke Arm zusätzlich durch einen Zapfen gesichert worden zu sein, der allerdings ungefähr von der Mitte des Oberschenkels seinen Ausgang nahm. In der Rekonstruktion von Despinis wird nicht deutlich, wie der Zapfen, der vom Oberschenkel seitlich wegführte, an den deutlich weiter oben befindlichen Arm herangereicht haben kann, wenn er nicht gebogen war. 426
Apollonios
145
eine Benennung als Philoktet, einen der berühmtesten Bogenschützen der griechischen Mythologie. Er trägt den Bogen des Herakles, ohne den die Eroberung Trojas nicht möglich ist. Auf der Fahrt nach Troja wird der Held jedoch auf Tenedos von einer Schlange gebissen; als die schwärende Wunde unerträglich zu stinken beginnt und die Schmerzensschreie des Kranken die Opferhandlungen stören, wird Philoktet von den Griechen auf der Insel Lemnos ausgesetzt. Jahrelang kann er sich nur mit Hilfe des Bogens, der ihm trotz der schweren Verletzung die Jagd erlaubt, ernähren. Problematisch an der Deutung als Philoktet bleibt der Umstand, dass Apollonios auf die Darstellung der körperlichen Auszehrung Philoktets durch den Schlangenbiss und seine Folgen verzichtet hätte, die vor allem in der nach diesem benannten Tragödie des Sophokles stark betont ist. Wegen der Form der Buchstaben (bemerkenswert ist das ‚kursive’ Omega) gilt seit langem eine Datierung des Torsos in das 1. Jh. v. Chr. als wahrscheinlich. Die stilkritische Analyse des Torsos erlaubt keine genauere Eingrenzung, da der Kopf fehlt, dessen Frisur am ehesten für die Datierung relevant wäre. Nicht abgeschlossen ist die Diskussion darüber, ob Apollonios ein statuarisches Vorbild kopiert hat oder ob der sicher als Einzelfigur konzipierte Philoktet ähnlich wie der Kämpfer von der Hand des Agasias (hier Kat. 21.1.) eine eigenständige Schöpfung ist. Dem Bildhauer Apollonios lassen sich keine weiteren Werke zuweisen: Der berühmte Faustkämpfer im Palazzo Massimo in Rom ist nicht, wie früher vermutet, von Apollonios signiert;430 erst dem 1. Jh. n. Chr. gehört das Fragment von der Marmorverkleidung einer 1902 in Korinth gefundenen Basis (Inv. 251) an, in dessen unvollständiger Signatur „ ...ς Ἀθηναῖος ἐποίει“ man ohne sichere Anhaltspunkte den Namen des Apollonios ergänzt hat.431 Lit.: B. Sauer, Der Torso von Belvedere (1894); A. Andrén, OpArch 7, 1952, 1–45 Taf. 1–5; R. Wünsche, MüJb 44, 1993, 7–46 mit Abb.; N. Himmelmann, AA 1996, 475–83; E. Simon in: Festschrift Hengel (1996) 15–39; R. Wünsche, Der Torso. Ruhm und Rätsel, Ausst.-Kat. München 1998; G. Hafner, ÖJh 68, 1999, 41–57 (mit Deutung als Polyphem); G. Despinis, AttiAcc NazLinc 2004, 393–408; GK Denkmäler (2007) Nr. 573. – Zur Inschrift: SQ 2214; Loewy Nr. 343; G. Kaibel, IG XIV (1890) Nr. 1234; M. Guarducci, Epigrafia greca III (1975) 413f. Nr. 11; L. Moretti, IGUR IV (1990) Nr. 1555. Hallof/Kansteiner
So aber R. Carpenter, MemAmAc 6, 1927, 133–36; Andrén 44f.; richtiggestellt von M. Guarducci, Epigrafia greca I (1967) 503–05. – Zum Faustkämpfer im Palazzo Massimo vgl. W. Geominy in: Sportschau, Ausst.-Kat. Bonn 2004, 103–05 Kat. 27. 431 B.D. Meritt (Hrsg.), Corinth VIII 1 (1931) 54 Nr. 71. – J.H. Kent, Supplementum epigraphicum Graecum 11, 72, ergänzt: [Ἀπολλώνιος Νέστορο]ς Ἀθηναῖος ἐποίει. – Von der Inschrift des Philoktet unterscheiden sich vor allem die Buchstaben Α und Θ. Abweichende Buchstabenformen zeigt ferner eine Inschrift im Museum von Sparta (Ἀπολλώνιος Ἀθηναῖος ἐποίει), vgl. EAA I, 488 s.v. Apollonios Nr. 8; IG V 1 (1913) Nr. 698. 430
Glykon
146
24.
GLYKON (Γλύκων) aus Athen
24.1.
Rom, Thermen des Caracalla: Kolossalstatue des Herakles, sog. Herakles Farnese, Kopie einer Bronzestatue aus der Zeit um 320 v. Chr.
Original: Neapel, Museo Nazionale, Inv. 6001; gefunden um 1540. Marmor. Höhe 2,92 m (ohne Basis). Ergänzt sind der linke Unterarm samt Hand, Teile des Bartes und die Augen sowie Teile des Löwenfells und anderes (vgl. Krull 10f.). – Dreizeilige Inschrift auf dem Felsstück, auf dem die Keule ruht.
Γλύκων Ἀθηναῖος ἐποίει.
Glykon aus Athen fertigte .
Die Haarwiedergabe am Kopf des Herakles und am Skalp des Löwen sprechen dafür, dass der sog. Herakles Farnese während der Regierungszeit des Kaisers Caracalla angefertigt worden ist432 und zur Erstausstattung der gigantischen, in den Jahren um 215 n. Chr. errichteten Thermenanlage in Rom gehört hat. Gemeinsam mit einer Reihe maßgleicher,433 maximal rund 300 Jahre früher entstandener Repliken und zusammen mit zahllosen verkleinerten Wiederholungen geht der von Glykon geschaffene Herakles als römische Kopie auf eine griechische Bronzestatue zurück, die dem durch die Kopien überlieferten Stil zufolge aus dem letzten Viertel des 4. Jhs. v. Chr. stammt. Den Bildhauer des verlorenen Originals glaubte man mit Hilfe eines singulären Zeugnisses ermitteln zu können: eine im Palazzo Pitti in Florenz aufbewahrte Replik des Herakles Farnese ist durch eine Inschrift als „ΛΥΣΙΠΠΟΥ ΕΡΓΟΝ“ ausgewiesen. Auch wenn eine derartige Kennzeichnung einer Kopie prinzipiell denkbar ist,434 geht sie im vorliegenden Fall nicht auf den antiken 432 Vgl. Krull 18f. – Für eine Datierung in die severische Zeit sprechen auch die kursiven Schriftformen; obsolet ist mittlerweile die von G. Lippold, Kopien und Umbildungen (1923) 56–58 und Loewy Nr. 345 vertretene Datierung in die frühe Kaiserzeit. 433 Die Maßgleichheit ist oft – ohne Prüfung – in Zweifel gezogen worden, unter anderem deshalb, weil übersehen wurde, dass bei der späthellenistischen Replik aus dem Schiffsfund von Antikythera der Kopf fehlt (R.M. Schneider in: L. Giuliani, Meisterwerke der antiken Kunst [2005] 149). 434 Vgl. Loewy Nr. 489 (Basis mit der Bezeichnung opus Praxitelis für Original oder Kopie oder angebliche
Glykon
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Bildhauer zurück. Die Tatsache, dass der letzte Buchstabe des ersten Wortes aus Rücksicht auf einen sicher neuzeitlichen Riss im Marmor nach Autopsie435 niemals vollständig ausgeführt worden ist, spricht vielmehr für eine neuzeitliche Anbringung der Inschrift.436 Nicht hilfreich für die Identifizierung des Bildhauers ist außerdem die Nennung eines bronzenen Herakles des Lysipp in dessen Heimatstadt Sikyon, da Pausanias (Paus. 2,9,8 = SQ 1473) nichts zum Motiv dieser Statue mitteilt. Das Original des Herakles Typus Farnese ist dennoch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf der Peloponnes zu lokalisieren, da es auf silbernen Tetradrachmen aus dem frühen 3. Jh. v. Chr., die entweder in Argos, in Korinth oder in Sikyon geprägt worden sein dürften, wiederholt wird.437 Die Zuweisung des Originals an Lysipp stützt sich vornehmlich auf eine von Diethelm Krull (357–69) anhand der maßgleichen Kopien kolossalen Formates vorgenommene stilkritische Analyse. Unlängst ist ein alter Vorschlag wieder aufgegriffen worden, demzufolge die Kopie von der Hand des Glykon in einem Papyrusfragment in Genf438 als Teil einer Bestandsliste der Ausstattung der Thermenanlage Caracallas genannt sei.439 Diese Annahme fußt auf der für Z. 6 des Papyrus in der Erstedition vorgeschlagenen Lesung Herculem G[lycon]is. fụḷ[citur (oder fụḷ[tus) clava]: „den Herakles des Glykon; (er ist) gestützt auf seine Keule“. Eine Revision des Papyrus durch Robert Marichal erwies jedoch nicht nur, dass hier cọl statt fụḷ zu lesen ist, womit die vorangehende Ergänzung G[lycon]is ebenfalls ihre Berechtigung verliert, sondern auch, dass die in der Erstedition vorgeschlagenen Hypothesen über die Beförderung dieser und anderer Skulpturen aus Griechenland nach Rom und deren Aufstellung ebendort auf Fehllesungen und haltlosen Annahmen beruhten.440 Die allgemeine Charakterisierung des Textes als Führers oder Katalogs zu einer Skulpturensammlung bleibt, wenn sich auch angesichts der fragmentarischen Erhaltung des Papyrus und zahlreicher unsicherer Lesungen dessen Natur nicht präzise bestimmen lässt, Arbeit des Praxiteles); vgl. ferner Loewy Nr. 504, einen Hermenschaft in Rom, Vatikanische Museen, Inv. 274 mit der Inschrift Εὐβουλεὺς Πραξιτέλους (wohl Kopie des Eubuleus des Praxiteles, vgl. L. Moretti, IGUR IV [1990] Nr. 1583; LIMC IV, 43 s.v. Eubouleus Nr. 43; GK Denkmäler [2007] Nr. 1320). 435 Nicht zuletzt wegen der hohen Sockelung der Statue ist die Inschrift (L. Moretti, IGUR IV [1990] Nr. 1574) nur selten untersucht worden. Dies gilt erst recht für den Kopf (Inst.-Neg. Rom 35.526), der als antikes Porträt des Commodus angesehen wird, aber modern sein dürfte. – Zur Statue s. Krull 22. 24; Lisippo, Ausst.-Kat. Rom 1995, 243 (mit falscher Angabe zur Statuenhöhe); V. Saladino in: Palazzo Pitti. La Reggia rivelata, Ausst.-Kat. Florenz 2003, 480 Kat. 1. 436 Kansteiner 78 Anm. 594; vgl. auch Saladino a.O. 49. Unmittelbar zu vergleichen ist die Künstlersignatur einer Hüftmantelstatue im Louvre (Ma 883), die von M. Donderer (ÖJh 65, 1996, 102–04) sicher zu recht als modern angesehen wird. Auch dort ist ein Buchstabe am Wortende aus Rücksicht auf einen Riss im Marmor niemals vollständig ausgeführt worden (zur Statue im Louvre s. auch A. Post, Römische Hüftmantelstatuen [2004] 511f. Kat. XVIII 4). 437 Vgl. Lisippo, Ausst.-Kat. Rom 1995, 51 mit Abb.; LIMC IV (1988) 763 s.v. Herakles Nr. 687. 438 P. Gen. lat. 7. – Das fragmentarisch erhaltene Papyrusblatt enthält auf der Vorderseite eine aus dem Arsinoites (Fayum) stammende griechisch geschriebene Liste von Landbesitzern aus dem 2. Jh. n. Chr., die noch nicht publiziert ist, auf der Rückseite in lateinischer Sprache eine katalogartige Aufzählung von Kunstwerken aus dem 2.–3. Jh. n. Chr., die Jules Nicole herausgegeben hat, s. J. Nicole, Un Catalogue d’Œuvres d’art conservées à Rome (1906). 439 So P. Stewart, Statues in Roman Society (2003) 153; vgl. bereits Nicole a.O. 32. 440 R. Marichal, Chartae Latinae Antiquiores I (1954) 11; ders., Les P. Genève lat. 5 et 7, Chronique d’Égypte 30, 1955, 346–60. – Zum Papyrus s. außerdem: B. Keil, Deutsche Literaturzeitung 1906, 2802–05; E.A. Lowe, Codices Latini Antiquiores VII (1956) 885; R. Cavenaile, Corpus Papyrorum Latinarum (1958) 64; M.S. Funghi, P. Gen. inv. 65. Frammento di argomento erotico: narrativa?, Analecta Papyrologica 5, 1993, 5–20, bes. 5–7.
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Glykon
unbestritten. Diese Kunstsammlung dürfte sich in Anbetracht der Herkunft des Papyrus jedoch in Ägypten befunden haben. In jedem Fall gehört Glykon zu den spätesten Bildhauern, die nachweislich ein griechisches ‚opus nobile’ kopiert und signiert haben. Er ist anderweitig nicht bezeugt: drei Inschriften, in denen sich sein Name findet (Loewy Nr. 507–09), werden sicherlich zu Recht als neuzeitlich angesehen. Überliefert ist dagegen durch zwei Bildhauersignaturen ein im 2. Jh. n. Chr. im kleinasiatischen Sagalassos tätiger Glykon aus der Ortschaft Dokimion.441 Lit. zum Herakles Farnese: P. Moreno (Hrsg.), Lisippo, Ausst.-Kat. Rom 1995, 244–47 mit Abb.; J.J. Winckelmann, Ville e Palazzi di Roma (2003) 64. 275; GK Denkmäler (2007) Nr. 457. – Zum statuarischen Typus: D. Krull, Der Herakles vom Typ Farnese (1985); S. Kansteiner, Herakles (2000) 99–102; H.-U. Cain in: A. Corbineau-Hoffmann (Hrsg.), Körper / Sprache (2002) 33–61. – Zur Inschrift: SQ 2230; L. Moretti, Inscriptiones Graecae urbis Romae IV (1990) Nr. 1556. Hallof/Reiter/Kansteiner
441
S. Mägele, IstMitt 55, 2005, 291f. 293–95.
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Appendix 1
Berliner Papyrus mit Kurzkatalogen berühmter Personen, Kunstwerke und Naturdenkmäler (P. Berl. inv. 13044 Rekto Kol. VI 10 – XII) Die ausgestellte Papyrusrolle ist aus Mumienkartonage ausgelöst worden, die im Jahre 1904 bei Ausgrabungen auf einem Gräberfeld in Abusir el-Melek, dem antiken Busiris, von Otto Rubensohn gefunden wurde. Ob der Papyrus an diesem Ort auch beschrieben oder erst für die Wiederverwendung als Kartonage dorthin verbracht worden ist, ursprünglich aber etwa aus Alexandria stammte, ist unklar. Die Rolle enthält drei verschiedenartige literarische Texte, erstens auf der Vorderseite (Rekto) vom Beginn bis zur Mitte der sechsten Kolumne (Z. 9) die Wiedergabe eines Gesprächs Alexanders des Großen mit indischen Philosophen (Gymnosophisten), zweitens unmittelbar anschließend bis zum Ende der Seite Auszüge aus Listen von herausragenden Persönlichkeiten vor allem aus dem Bereich der bildenden Kunst, von Kunstwerken und Naturdenkmälern, und drittens auf der Rückseite (Verso) eine mythologische Erzählung über den Raub der Persephone. Der Schrift nach ist das Rekto um die Wende vom 2. zum 1. Jh. v. Chr. beschrieben worden, das Verso gegen die Mitte des 1. Jhs v. Chr. Der an zweiter Stelle genannte Text ist durch sein hohes Alter von einzigartiger Bedeutung für unsere Kenntnis hellenistischer Kunstwissenschaft: Er enthält durch Überschriften gegliedert zunächst Listen mit Namen für die kulturelle Entwicklung Griechenlands bedeutender Personen, und zwar von Gesetzgebern (Kol. VI 10: Νομοθέται), Malern (Kol. VI 13: Ζωγράφοι), Götterbildnern (Kol. VII 3: Ἀγαλματοποιοί), Menschenbildnern (Kol. VII 6: Ἀνδριαντοπο[ιοί]), Architekten (Kol. VII 10: Ἀρχιτέκτονες) und Ingenieuren (Kol. VIII 1: Μηχανικοί). Zuweilen sind den bloßen Namen anekdotenhafte Erläuterungen hinzugefügt, die die individuellen Leistungen und Werke der Genannten beschreiben. So erfahren wir von dem ansonsten unbekannten Athener Semon, dass er die Kunst der Umrisszeichnung erfunden habe (Kol. VI 14–18; Hebert 128). Eine weitere Neuigkeit gegenüber der überlieferten Literatur ist die Mitteilung, dass die für Xerxes 481/80 v. Chr. errichtete Brücke über den Hellespont von dem Ingenieur Harpalos erbaut wurde (Kol. VIII 8–11). Interessant ist auch die in der Kategorisierung zutagetretende antike Differenzierung zwischen Bildhauern von Götterstatuen (agálmata), zu denen Phidias, Praxiteles und Skopas gezählt werden (Kol. VII 3–5), und den Schöpfern von Menschenbildern (andriántes), unter denen Myron, Lysipp, Polyklet und Phyromachos verzeichnet sind (Kol. VII 6–9). Auf die Kataloge berühmter Männer folgen eine Aufzählung der sieben Weltwunder (Kol. VIII 22: Τὰ Ἑπτὰ Θ̣[εάματα]) und schließlich Listen außergewöhnlicher Naturdenkmäler wie der größten Inseln (Kol. IX 7: [Νῆσοι] μέ[γισ]ται), der höchsten Gebirge (Kol. X 1: Ὄ̣ρη μέγιστα), der größten Ströme (Kol. XI 2: Π̣οταμοὶ οἱ μέγιστοι) und der schönsten Quellen (Kol. XII 5: Κρῆναι κάλλ[ισται]), bevor das Papyrusfragment abbricht. Wegen der Nennung mehrerer Athener in den vorliegenden Katalogen meint die jüngere Forschung eine attizistische Tendenz des Papyrus bzw. seiner Vorlage(n) ausmachen zu können (Hebert 130). Hypothesen über konkrete Werke oder Autoren, aus denen die Listen entnommen sein könnten, bieten sich angesichts der schlechten Überlieferungssituation der hellenistischen Literatur allerdings nicht an.
Appendix 1
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Kol. VII 3–9 ΑΓΑΛΜΑΤΟΠΟΙΟΙ Φειδίας · Πραξιτέλης Σκόπας
Götterbildner Phidias – Praxiteles – Skopas
ΑΝΔΡΙΑΝΤΟΠΟ[ΙΟΙ] Μύρων · Λύσιππος · Πολύκλειτος · Φυ̣ρ̣ό̣μ̣α̣χος
Menschenbildner Myron – Lysipp – Polyklet – Phyromachos
Lit.: H. Diels, Laterculi Alexandrini aus einem Papyrus ptolemäischer Zeit (1904); F. Buecheler in: Berliner Klassikertexte, Heft V: Griechische Dichterfragmente. Erste Hälfte: Epische und elegische Fragmente (1907) 7–18 Nr. 2 (Paraphrase eines Gedichtes über den Raub der Persephone); U. Wilcken, Alexander der Große und die indischen Gymnosophisten, Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften 23 (1923) 150–83; B. Hebert, Tyche 1, 1986, 127–31; E. Salmenkivi, Cartonnage Papyri in Context. New Ptolemaic Documents from Abu Ṣir al-Malaq, Commentationes Humanarum Litterarum 119 (2002) 42–45 (zur Herkunft des Papyrus). Reiter
152
Appendix 2
Overbeck: Leben und Werk Johannes Adolf Overbeck wurde am 27. März 1826 als Sohn einer deutschen Familie in Antwerpen geboren. Zu seinen nächsten Verwandten zählte der berühmte Maler Johann Friedrich Overbeck. 1845 nahm Overbeck das Studium der Fächer Klassische Archäologie und Klassische Philologie an der Universität Bonn auf. Das Bestreben seines Lehrers Friedrich Welcker, die Verbindungen zwischen Kunstwerken und Texten zu erhellen, schlug sich in Overbecks Dissertation aus dem Jahr 1849 nieder, die den Zusammenhang von Beschreibungen im Epos und erhaltenen Monumenten zum Gegenstand hatte. Seine spätere intensive Beschäftigung mit antiker Mythologie hat hier ihren Ausgangspunkt. Nur zwei Jahre später erfolgte Overbecks Habilitation in Bonn. In seinen ersten beiden Publikationen, einem „Katalog des Bonner Museums“ (1851) und den „Kunstarchäologischen Vorlesungen im Anschluß an das akademische Kunstmuseum in Bonn“ (1853), zeigt sich bereits das Interesse am Systematisieren, das für sein weiteres Wirken bestimmend sein sollte. Im Jahr 1853 vollendete Overbeck auch die Monographie „Die Bildwerke zum thebischen und troischen Heldenkreis“, in der er versuchte, die lückenhafte schriftliche Überlieferung der Mythen durch die Analyse der einschlägigen Bildwerke zu komplettieren. Konzipiert war das Werk als Beginn einer ganzen „Gallerie heroischer Bildwerke“, die jedoch über den ersten Teil nicht hinauskam. Overbecks Tätigkeit als Privatdozent in Bonn war nur von kurzer Dauer. Noch 1853 wurde er als außerordentlicher Professor nach Leipzig berufen, wo er 1858 zum ordentlichen Professor ernannt wurde und bis zu seinem Lebensende bleiben sollte. Overbeck hat nur wenige Male klassische Stätten bereist; die in erster Auflage 1856 erschienene Monographie „Pompeii, in seinen Gebäuden, Alterthümern und Kunstwerken dargestellt“ veröffentlichte er, ohne Pompeji aus eigener Anschauung kennen gelernt zu haben. Als ausführliche Gesamtdarstellung wurde seine „Geschichte der griechischen Plastik“ aus dem Jahr 1857 begrüßt, in der er literarische Nachrichten und erhaltene Monumente miteinander zu verknüpfen versuchte. Zwar lag bereits seit 1853 Heinrich Brunns „Geschichte der griechischen Künstler“ vor, doch besaß diese nicht den zusammenfassenden Charakter von Overbecks Werk. Der durch neue Grabungen rasch anwachsenden Menge an antiken Denkmälern trug Overbeck mit mehreren, jeweils erweiterten Folgeauflagen Rechnung, deren vierte 1893 erschien. Die Bedeutung, die er dem philologischen Anteil an der Arbeit des Archäologen beimaß, verdeutlicht ein Zitat aus der Einleitung: „Die schriftlichen Nachrichten der Alten sind die Hauptquelle, die Monumente wesentlich nur
Appendix 2
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als deren Ergänzung zu betrachten.“ Overbeck hat mit jedem seiner Werke auf ein Desiderat der Forschung geantwortet. Das gilt auch für die bis heute maßgebliche Publikation „Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen“ aus dem Jahr 1868, in der er insgesamt 2500 literarische und epigraphische Quellen zu Plastik und Malerei in ein kunstgeschichtliches Raster eingegliedert hat. Den Zweck seiner Standardwerke sah der pragmatische Overbeck vor allem im Gebrauch für Lehre und Studium. Als Hochschuldozent arbeitete er hingebungsvoll, diszipliniert und selbstkritisch, richtete für Studierende einen Lesesaal ein und war sogar der Mitbegründer einer studentischen Krankenkasse. Durch allgemeinverständliche Vorträge genoss der begabte Redner auch über die Grenzen der Universität hinaus große Anerkennung. Besondere Popularität erlangte in Fachkreisen das zum Leipziger Institut gehörende Abguss-Museum, dessen Aufbau Overbeck mit dem Ziel der „Herstellung einer möglichst vollständigen Reihenfolge kunstgeschichtlich charakteristischer, namentlich aber datierbarer Monumente“ energisch vorantrieb. Am Ende des 19. Jahrhunderts umfasste die Sammlung knapp 850 Inventarnummern und war durch zwei Kataloge erschlossen. Im Jahr 1874 formte er aus der „antiquarischen Gesellschaft“ in Leipzig das Archäologische Seminar als feste Universitätseinrichtung mit sechs Mitgliedern, die jedes Semester eine staatliche Prämie erhielten. Seit 1874 war er außerdem Mitglied der Zentraldirektion des Kaiserlichen Archäologischen Institutes in Berlin. Insgesamt veröffentlichte Overbeck neben acht Monographien und einigen kleineren Schriften etwa sechzig Aufsätze und Artikel in diversen archäologischen und philologischen Periodika. Den Gipfel seines wissenschaftlichen Schaffens bildete die „Griechische Kunstmythologie“, in der sich Overbeck erneut, nur in ungleich größerem Ausmaß, der Repräsentation griechischer Götter und ihrer Mythen in der Kunst widmete. Mit finanzieller Unterstützung des Königlich Sächsischen Kultusministeriums konnte er zwischen 1872 und 1887 vier Bände samt voluminösem Atlas herausgeben, in denen er Zeus, Hera, Poseidon, Demeter und Kora sowie Apollon behandelte. Weitere Teile dieses gewaltigen Vorhabens sind nicht mehr erschienen. Zu Overbecks vierzigjährigem Amtsjubiläum 1893 überreichten ihm seine Schüler die „Festschrift für Overbeck“. Zwei Jahre später wurde er emeritiert; sein Nachfolger wurde Franz Studniczka. Während des durch Raumnot bedingten Umzuges der Abguss-Sammlung verstarb Overbeck nach schwerer Krankheit am 8. November 1895. Per Testament hatte er die Vernichtung aller ungedruckten Manuskripte angeordnet, darunter auch einer fast fertigen „Geschichte der griechischen Malerei“. Deterling
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Verzeichnis der Abkürzungen Bildhauerkunst = P.C. Bol (Hrsg.), Die Geschichte der antiken Bildhauerkunst I–II (2002/2004) Furtwängler, Meisterwerke = A. Furtwängler, Meisterwerke der griechischen Plastik (1893) GK Denkmäler (2007) = J.J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, hrsg. von A.H. Borbein, T.W. Gaehtgens, J. Irmscher, M. Kunze. Bd. 2: Katalog der antiken Denkmäler (2007) IG = Inscriptiones Graecae, Bd. I ff., 1873 ff. Künstlerlexikon I–II = R. Vollkommer (Hrsg.), Künstlerlexikon der Antike I–II (2001/2004) LGPN = A Lexicon of Greek Personal Names, hrsg. von P.M. Fraser, E. Matthews u.a., Bd. I ff., 1987 ff. Loewy = E. Loewy, Inschriften griechischer Bildhauer (1885) SQ = J. Overbeck, Die antiken Schriftquellen zur Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen“ (1868)
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Verzeichnis der Abbildungen Kat. 1: Nike des Archermos nach Abguss; Kopf nach Foto des Museums; Inschrift nach Marcadé II Taf. 29 Kat. 2: Kore des Antenor nach Abguss; Inschrift nach Karakasi Taf. 256 unten Kat. 3: Tyrannenmörder nach Abguss; Kopf des Harmodios nach BrBr 328 Kat. 4: Chariten des Sokrates nach Abguss; Köpfe der linken und der mittleren Charis nach Bildkatalog der Skulpturen des Vatikanischen Museums I (1995) Taf. 429 Kat. 5.1: Diskobol des Myron als Rekonstruktion Kat. 5.2: Athena-Marsyas-Gruppe nach Abguss Kat. 6.1: Athena Lemnia nach Abguss; Kopf in Bologna (sog. Kopf Palagi) nach Abguss Kat. 6.2: Varvakion-Statuette und „Minerve au Collier“ (Paris, Louvre, Ma 91) nach Abguss Kat. 6.3: Anakreon nach Abguss; Kopfprofil mit ergänzter Kalotte nach Foto des Museums Kat. 6.4: Amazone als Rekonstruktion; Kopf in Petworth nach Raeder, Petworth Taf. 12,3 u. 11 Kat. 7: Hermes Propylaios aus Pergamon nach Abguss; Herme im Typus Ephesos: Rom, Museo Capitolino, Inv. 397 (nach Willers Abb. 6) Kat. 8.1: Perikles nach Abguss Kat. 8.2: Amazone Sciarra nach Abguss; linkes Kopfprofil nach Foto des Museums Kat. 9.1: Basisoberseite des Kyniskos nach Olympia V Nr. 149; Ephebe Westmacott (London, British Museum Nr. 1754) nach Abguss Kat. 9.2: Doryphoros nach Abguss; Kopf nach E. Berger, Der Entwurf des Künstlers (1992) 223 Abb. 298 Kat. 9.3: Amazone nach Abguss; Kopie in Wörlitz nach Foto FRP 2914/1 Kat. 9.4: Diadumenos nach Abguss; Anadumenos Farnese in London nach R.-T. Speler (Hrsg.), Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff. Kunsthistorisches Journal einer fürstlichen Bildungsreise nach Italien 1765/66 (2001) Abb. 116 Kat. 10: Diskobol des Naukydes nach Abguss; Kopfreplik Museo Nuovo Capitolino nach BrBr 683; Replik Castello di Lanciano nach Inst.Neg. Rom 895VW84 Kat. 11: Eirene des Kephisodot nach Abguss; Preisamphora nach Eschbach Taf. 16,3 Kat. 12: Mänade nach Abguss Kat. 13.1: Apollon Sauroktonos nach Abguss; Kopfprofil nach AntPl 28 Taf. 21a Kat. 13.2: Hermes nach Abguss; Gemälde nach Foto; Rekonstruktion nach Olympia III Taf. 53 Kat. 14.1: Apoxyomenos nach Abguss; Kopfprofil und Profil der Statue nach Fotos des Museums Kat. 14.2: Kairos-Reliefs nach Abguss; Relief in der Ermitage nach Die Antike 11, 1935, Taf. 4 Kat. 15: Betender Knabe nach Abguss; Kopfprofil des Demetrios in Neapel nach Abguss Kat. 16: Kopf in Rhodos nach Abguss Kat. 17: Tyche des Eutychides nach Abguss Kat. 18: Ganswürger nach Abguss Kat. 19.1: Apollon und Herakles des Damophon nach Abguss Kat. 19.2: drei Köpfe der Lykosura-Kultbildgruppe nach Abguss; Rekonstruktionszeichnung nach Stewart, Greek Sculpture Abb. 788 Kat. 20: Archelaos-Relief nach Abguss Kat. 21: Fechter Borghese nach Abguss Kat. 22: Pan des Kerdon nach Abguss; Profil des Kopfes, der früher im Konservatorenpalast aufbewahrt wurde, nach Abb. im Text zu BrBr 647 Kat. 23: Torso des Apollonios nach Abguss Kat. 24: Herakles des Glykon nach Abguss Appendix 1: Foto des Papyrus nach Foto M. Büsing (SMPK) Appendix 2: Porträt Overbecks nach Foto im Universitätsarchiv Leipzig