Tanz in der Literatur: Zum kulturgeschichtlichen und ästhetischen Wandel in der Sattelzeit (1750–1850) 3110759659, 9783110759655, 9783110759815, 9783110759945, 2021945481

Die Sattelzeit, eine höchst dynamische gesellschaftliche Umbruchsphase zwischen 1750 und 1850, bildet sich in verschiede

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German Pages 376 Year 2021

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Einleitung
I Tanz als Seismograph des gesellschaftlichen Wandels
Vorwort
1 „Der ganze Tanzsaal soll mit Schrecken untergehen!“ Der Tanz in Friedrich Wilhelm Zachariaes Der Renommist (1744)
2 „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt“. Die Tanzabfolge in Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774)
3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“. Englische Tänze in Friedrich Schillers Der Tanz (1796/1800)
4 „Unehrlicher, dein Atem befleckt die Königin“. Standesbewusstsein beim Tanz auf Kostümfesten
II Tanz als Kommunikation der Geschlechter
Vorwort
1 „Du hast keine Kleider und Schuhe, und willst tanzen!“ Kleidung als Statussymbol im Märchen der Brüder Grimm Aschenputtel (1812/1857)
2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“. Neubewertung des Tanzes in Achim von Arnims Hollin’s Liebeleben (1801)
3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“. Spiel mit Geschlechterrollen beim Tanz in Dorothea Schlegels Florentin (1801)
4 Realität oder Täuschung? Tanz mit einer Puppe in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (1816)
III Tanz als künstlerische Dimension
Vorwort
1 „Im Kreise herumgedreht“. Wechselspiel des Tanzes in E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla (1821)
2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel. Mignon in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) und Laurence in Florentinische Nächte (1836)
IV Tanz als Spiegel politischer Kritik
Vorwort
1 „Groß als Tänzer“ oder „armer Prahlhans“. Ambiguität im Tanz in Heinrich Heines Atta Troll (1847)
2 Vom „Teufelsweib umtänzelt“. Disziplin und Frivolität des Balletts in Heinrich Heines Der Doktor Faust (1851)
Resümee
Anhang
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Personen- und Werkregister
Tanz-Sachregister
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Tanz in der Literatur: Zum kulturgeschichtlichen und ästhetischen Wandel in der Sattelzeit (1750–1850)
 3110759659, 9783110759655, 9783110759815, 9783110759945, 2021945481

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Weijie Ring Tanz in der Literatur

Hermaea

Germanistische Forschungen Neue Folge

Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller

Band 157

Weijie Ring

Tanz in der Literatur Zum kulturgeschichtlichen und ästhetischen Wandel in der Sattelzeit (1750–1850)

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Elite-Masterstudiengangs „Ethik der Textkulturen“ (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg). 2020 als Dissertationsschrift mit dem Titel Tanz in poetologischer Darstellung vom Sturm und Drang bis zur Spätromantik an der FAU Erlangen-Nürnberg eingereicht.

ISBN 978-3-11-075965-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075981-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-075994-5 ISSN 0440-7164 Library of Congress Control Number: 2021945481 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Für Reinhard

So lautet Wort für Wort der wunderliche Tanz. E. T. A. Hoffmann: „Prinzessin Brambilla“

Vorwort „Dancing is the poetry of the foot.“ John Drydens Satz aus einem Programmheft kam rechtzeitig zur Themenfindung meiner Promotion und ließ mich nicht mehr los. Als tanzbegeisterte Germanistikstudentin wollte ich ohnehin Tanz und Literatur im Zusammenhang erkunden. Dabei wurde ich überrascht, welche gesellschaftliche Bedeutung er für die europäische Kultur hat, für ästhetische Reflexionen, moralische Werte, Umgangsformen, Mode, Liebe- und Geschlechterverständnis, insbesondere für die Literatur. Als ich 2012 an der Beihang Universität in Peking die Gast-Seminare von Prof. Dr. Günter Oesterle besuchte, war ich fasziniert von dem lebendigen Vortrag dieses außergewöhnlichen Professors. Meine Neugier trieb mich in das Land Goethes und Heines und ins 18. und 19. Jahrhundert. Günter Oesterle empfahl mich Prof. Dr. Christine Lubkoll als Gutachterin, die es auf das Angenehmste vermochte, mich zum Studium zahlreicher Künste über die Literatur hinaus anzuregen, mit Schwerpunkt auf die Musik. Beiden Doktoreltern verdanke ich Schätze an Quellen, Sensibilität bei Begriffen und das Verständnis für Zusammenhänge zwischen Geschichte, Ästhetik, Anthropologie und Soziologie. Es waren Beratungen voll geduldiger Leidenschaft. Falls meine Texte schon jetzt nicht unzumutbar sind, verdanke ich das der Unterstützung durch meine „deutsche Mutter“ Jutta Sallaba für den akkuraten Blick einer Deutschlehrerin und meinem Mann Reinhard Ring für sprachliche Logik und Phantasie. Auf die Dankesliste gehören noch die Klassik Stiftung Weimar und das China Scholarship Council für ideelle und finanzielle Unterstützungen, vor allem die entscheidende und manchmal rettende Autorenbetreuung des De Gruyter Verlags. Für die Fehler, die Sie jetzt noch finden, müssen Sie sich leider bei mir „bedanken“. Weijie Ring (geb. Zhao)

https://doi.org/10.1515/9783110759815-202

Inhaltsverzeichnis Vorwort

IX

Abkürzungen Einleitung

XV 1

I Tanz als Seismograph des gesellschaftlichen Wandels 1 1.1 1.2 1.3 1.4 2

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

„Der ganze Tanzsaal soll mit Schrecken untergehen!“ Der Tanz in Friedrich Wilhelm Zachariaes Der Renommist (1744) 33 Das Kulturleben in Jena und Leipzig 37 Die ,Stutzerwelt‘ und ihre Scheinwelt 40 Renommisten und ihre Authentizität 43 Konfrontation zweier Sitten im Tanz 45 „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt“. Die Tanzabfolge in Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) 49 Ball auf dem Land 50 Menuett – Präsentation der Tanzkunst 52 Kontratanz – Anfang eines Missverständnisses 53 Walzer – Liebe und Schwindel 55 Wiederholter Kontratanz – Kontrolle der Gesellschaft 61 „Klopstock!“ – Bindeglied zwischen Tanz und Brief 62 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“. Englische Tänze in Friedrich Schillers Der Tanz (1796/1800) 66 In Linie aufgestellte Tänzer und Raumwege 67 Die Schlangenlinie in der Elegie Der Tanz 72 Tanz – Balance zwischen Pflicht und Freiheit 81 Tanz und Umgang der Menschen in Schillers Der Tanz (1796/1800) 84 Nachhall in Huldigung der Künste (1804) 92 Schlangenlinie in Rodolphe Töpffers Die Geschichte des Monsieur Jabot (1833) 94

XII

4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3

Inhaltsverzeichnis

„Unehrlicher, dein Atem befleckt die Königin“. Standesbewusstsein beim Tanz auf Kostümfesten 98 Höfischer Maskenball – Annäherung an die Unterschicht? 102 Das Standesbewusstsein in drei Versionen in Der Schelm von Bergen 106 Diplomatie – Wilhelm Smets’ Der Schelm von Bergen (1821) 110 Konkurrenz – Karl Simrocks Der Schelm von Bergen (1837) 112 Provokation – Heinrich Heines Der Schelm von Bergen (1846) 115 Fazit 118

II Tanz als Kommunikation der Geschlechter 1

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 2 2.1 2.2 2.3 2.4

3

3.1 3.2

„Du hast keine Kleider und Schuhe, und willst tanzen!“ Kleidung als Statussymbol im Märchen der Brüder Grimm Aschenputtel (1812/1857) 125 Skizze zur Grimm’schen Aschenputtel-Version 129 Kleiderwechsel und veränderte Rollen Aschenputtels 132 Individualisierung bei der Wahl des Partners 137 Der zierliche Fuß 141 Fazit 147 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“. Neubewertung des Tanzes in Achim von Arnims Hollin’s Liebeleben (1801) 148 Tanz im ,Naturraum‘ 149 Plädoyer für die Autonomie des Tanzes 153 Aufwertung des Tanzes in Erzählungen von Schauspielen (1803) 157 Tanz als religiöse Berechtigung in Arnims Owen Tudor (1821) 162 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“. Spiel mit Geschlechterrollen beim Tanz in Dorothea Schlegels Florentin (1801) 168 Dorothea Schlegels ‚Tanz in Männerkleidung‘ 170 Tanz im Wald – Spuren der Selbststimmung 174

XIII

Inhaltsverzeichnis

3.3 3.4 3.5 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Exkurs: Tanzsitten um 1800 181 „Fest an Fest“ – Tanz als Fessel 183 Fazit 187 Realität oder Täuschung? Tanz mit einer Puppe in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) 189 Konstruktion eines Automaten um 1800 191 Nathanaels erster Blick auf Olimpia und der (Augen-)Blick Tanz im ‚Staffellauf‘ der Illusion 199 Tanz der Puppe – eine ominöse Erinnerung 206 Fazit 210

195

III Tanz als künstlerische Dimension 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 2

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

„Im Kreise herumgedreht“. Wechselspiel des Tanzes in E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla (1821) 217 Callots Balli di Sfessania und Hoffmanns Prinzessin Brambilla 219 Erster Tanz – Groteske und Arabeske im Tanz vereint 226 Zweiter Tanz. Probe mit Grenzen 230 Dritter Tanz. Wandlung durch Kreisbewegung 232 „Drehe dich“ – Bedeutung des Kreisens 235 Fazit 241 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel. Mignon in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) und Laurence in Florentinische Nächte (1836) 244 Erste Phase. Mignons Eiertanz und Laurence’ öffentlicher Auftritt 246 Tanz als Mittel zur Kommunikation 251 Im Hintergrund der Bühnentanz um 1800 256 Zweite Phase. Mignons und Laurence’ Mänaden-Tanz 261 Mignons ‚Tanz bis zum Tod‘ und Laurence’ ‚Totentanz‘ 267 Fazit 273

XIV

Inhaltsverzeichnis

IV Tanz als Spiegel politischer Kritik 1 1.1 1.2 1.3 1.4 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

„Groß als Tänzer“ oder „armer Prahlhans“. Ambiguität im Tanz in Heinrich Heines Atta Troll (1847) 279 Atta Trolls Gavotte – Tanz eines ,Liberalen‘? 282 Mummas Cancan – Tanz eines ,lasziven Weibs‘? 287 Paartanz der Bären und Gespenster – ,tolle Arabesken‘ 291 Fazit – Freiheit in der Form 295 Vom „Teufelsweib umtänzelt“. Disziplin und Frivolität des Balletts in Heinrich Heines Der Doktor Faust (1851) 298 Erster Akt. Die „banalsten Pirouette[n]“ und der Tanzaffe 303 Zweiter Akt. Quadrille und Wandel in der Partnerschaft 308 Dritter Akt. Verlogene Tänze und Gültigkeit der Ballett-Ordnung 311 Vierter Akt. Flüchtige Ausgewogenheit und Tanzlust im Exzess 318 Fünfter Akt. Tanzen-lassen und Herumgetanzt-werden 321 Fazit 323

Resümee

327

Anhang Literaturverzeichnis

335

Abbildungsverzeichnis

355

Personen- und Werkregister Tanz-Sachregister

359

357

Abkürzungen DHA FA

KFSA KHM NA

Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr, Düsseldorfer Ausgabe. Hamburg 1973 ff. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, vierzig Bände. Hg. v. Hendrik Birus [u. a.], Frankfurter Ausgabe. Frankfurt am Main 1987 ff. Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler [u. a.]. Paderborn [u. a.] 1967 ff. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart 2010. Schiller, Friedrich: Schillers Werke. Nationalausgabe, 43 Bde. In 55 Teilbänden. Hg. v. Edith Nahler [u. a.]. Weimar 1943 ff.

https://doi.org/10.1515/9783110759815-204

Einleitung Der Zeitraum von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch politische Umbrüche und gesellschaftliche Umstrukturierungen. Die Ständegesellschaft wandelt sich durch das erstarkte Bürgertum und die Einflüsse der Französischen Revolution zur bürgerlich dominierten Gesellschaft und diese strebt nach demokratischen Staatsformen. Sowohl von Gebildeten als auch Angehörigen der Unterschicht wird politisches Engagement im Laufe dieser hundert Jahre zur Herzenssache, beide fühlen sich verantwortlich für die Neugestaltung der Gesellschaft. Zugleich begünstigen die technischen und naturwissenschaftlichen Innovationen sowie die verstärkte Verbreitung von Druckerzeugnissen den Austausch der philosophischen, philologischen und ästhetischen Reflexionen. Da sich vielfältige Veränderungen in der Gesellschaft vollziehen und deren Entwicklung bestimmen, bezeichnet der Historiker Reinhard Koselleck den Zeitraum 1750–1850 als „Sattelzeit“1, eine Metapher auf die Hoch-Zeit der sich wandelnden gesellschaftlichen Hierarchie und Ordnung, an einen geschwungenen Bergsattel erinnernd. Die aufklärerischen Gedanken fordern das für Jahrhunderte bestehende Herrschaftssystem von Monarchie und Aristokratie heraus. Im Zusammentreffen mit einer ökonomischen Krise kommt es zur Französischen Revolution und einem historischen Einschnitt, der gesellschaftliche Veränderungen auch außerhalb Frankreichs vorantreibt. So verliert die Geburt als unabdingbares Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht eines Menschen ihre Bedeutung, zusätzlich wird eine Nobilitierung durch Beruf, Vermögen und soziale Netzwerke möglich. Grenzen zwischen den einzelnen Gesellschaftsschichten werden durchlässig, die gesellschaftliche Pyramide gerät in ihrer Struktur in Bewegung. Somit wird die Entwicklung in allen Bereichen dynamisiert und ein Übergang zu einer funktionalen Ausdifferenzierung kündigt sich an, wie es der Soziologe Niklas Luhmann darlegt.2 Die Ausdifferenzierung schlägt sich zum Beispiel darin nieder, dass gesellschaftliche Teilbereiche wie Wissenschaft, Ökonomie und Politik entstehen.3 Auch Kunst wird ein eigener Teilbereich, der als Muse, Erkenntnis und Gestaltung verstanden wird. Dabei steht Kunst nicht isoliert, sondern kommuniziert mit

1 Koselleck, Reinhart: Einleitung. In: Otto Brunner [u. a.] (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart 1979, S. XV. 2 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 10. Aufl. Frankfurt am Main 2018, S. 733–743. 3 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 743–760. https://doi.org/10.1515/9783110759815-001

2

Einleitung

den anderen Bereichen des politischen, sozialen und ökonomischen Wandels. Unter allen Kunstformen ist dabei der Tanz etwas Besonderes: Tanzbälle gehören zu einer der wichtigsten kulturellen Aktivitäten des 18. und 19. Jahrhunderts, Tanzkunst wird als ästhetisches Phänomen betrachtet. Da die Ständeordnung im Laufe der hundert Jahre immer weniger bedeutet und der höfische Kontext von einem bürgerlichen Kontext abgelöst wird, ändern sich damit die Mechanismen und die Funktionen des Tanzens. Die Änderungen für den Tanz zeigen sich in der Literatur. Dichter und Theoretiker thematisieren in Praxis und Reflexion zunehmend den Tanz und werden seiner Bedeutung gerecht. Tanz wird für Dichter ein kulturelles und ästhetisches Thema, auf das sich die vorliegende Arbeit konzentriert: Der Tanz in der Literatur. Zugleich beginnt sich der Tanz als Kunstform in der Kunsttheorie von seiner alten Rolle als Anhängsel der Musik zu lösen und avanciert zu einer der Poesie benachbarten und gleichwertigen Kunst. Sogar in der Konkurrenz der Kunstformen gewinnt Tanz als „die reinste, die erhabenste der Künste“4 (Clemens Brentano) immer mehr an Bedeutung. Die Neubewertung des Tanzes in der Dichtung sowie die gleichzeitig stattfindende Literarisierung des Bühnentanzes geben den Anstoß für die folgende Fragestellung: Was ist das Besondere an dem Verhältnis der beiden konträren Kunstformen, einer langlebigen und einer flüchtigen? Welche Charakteristika qualifizieren den Tanz in seiner besonderen Bedeutung für die Literatur? Dabei kristallisieren sich vier Aspekte heraus: Inwiefern vermag Tanz soziale Umstände wiederzugeben und gesellschaftliche Entwicklung zu prägen, kollektive Werte und Wünsche spürbar zu machen und somit in der Rolle eines Seismographen für gesellschaftlichen Wandel zu fungieren? In welcher Beziehung stehen Paartänze in ihren verschiedenen Formen und Stilebenen zu Geschlechterbeziehungen und vor allem zur Rolle der Frau? Wie lassen sich Schriftsteller durch den Tanz inspirieren, um eine neue poetische Darstellungsweise zu finden? Bis zu welchem Grad nutzen Schriftsteller Tanz als wortlose Kunst, um Satire und Kritik an der Zensur vorbei zu kommunizieren? Das Interesse der Dichter und Theoretiker am Tanz ab Mitte des 18. Jahrhunderts ist kein isoliertes Phänomen. Zur gleichen Zeit vollzieht sich ein vielschichtiger Wandel des tänzerischen Kulturlebens sowie der Tanzästhetik. Dabei sind

4 So ermutigt Clemens Brentano seine jüngere Schwester Bettina von Arnim zum Tanz: „lieb Kind! – Tanz ist doch edel! – ja gewiß mit die reinste, die erhabenste der Künste! – Denn jede Kunst hat im Geist ihre Apotheose, und Deine heitere Lebensansicht, Deine Gefühle sind tanzende Wendungen nach der lieblichsten Melodie.“ Quelle des Zitats: Brentano, Clemens: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Behrens [u. a.]. Bd. 30. Briefe II, [Bettine von Arnim]: „Clemens Brentano’s Frühlingskranz“ und handschriftlich überlieferte Briefe Brentanos an Bettine. 1800–1803, Stuttgart 1990, S. 195 (Nr. 239).

Einleitung

3

es nicht nur die politischen Veränderungen im Zuge der Französischen Revolution, sondern auch die Ideen der Aufklärung, die sich vom ,Paragone der Künste‘ genannten Rangstreit verschiedener Kunstformen um eine primäre Kunstform verabschiedet haben. Die Diskussion darüber, die ihren Höhepunkt in der Renaissance gefunden hatte, ändert Mitte des 18. Jahrhunderts ihre Richtung. Die Theoretiker und Dichter der Aufklärung richten ihre Aufmerksamkeit auf die gattungsintrinsischen Spezifika jeder einzelnen Kunstform. Damit relativiert und neutralisiert sich die Rivalität der Künste. Stattdessen werden Prozesse der Entdeckung und Unterscheidung, des Austauschs und der Inspiration einzelner Kunstformen in Gang gesetzt. Als direktes Beispiel für den Austausch und gar die Kooperation der Künste dient die Ballettreform, die gegen 1750 von dem französischen Ballettmeister Jean George Noverre angeregt wurde. Mit Noverres Plädoyer für das Narrative im Tanz findet der Bühnentanz durch literaturähnliche Handlung und pantomimische Darstellung zu einer neuen Ausdrucksfähigkeit.5 Als Kunstform wird der Tanz zum gleichberechtigten Partner von Musik und Schauspiel, wenn er sich nicht sogar als selbständige Kunstform präsentiert. Dabei eignet er sich Elemente anderer Künste an. Im Gegenzug beginnt die Dichtkunst, die Tanzkunst auf vielfältige Weise in sich aufzunehmen und mit ihren Mitteln zu bearbeiten. Dabei ist Dichtkunst in der Lage, ihre spezifischen Möglichkeiten zu nutzen und nicht nur den Tanz der Realität literarisch wiederzubeleben, sondern auch Tänze zu entwerfen, die in der Realität nicht existieren. Tanz wird kulturgeschichtlich widersprüchlich aufgenommen. Er ist einerseits eine der ältesten Kunstformen, wird in der Antike mit dionysischem Kult gefeiert, später aber mit der medizinisch nicht abgeklärten Tanzkrankheit, dem Veitstanz, in Zusammenhang gebracht und muss eine christlich-kirchliche Tanzfeindlichkeit aushalten. Die medizinischen und theologischen Vorbehalte können jedoch die Liebe zum Tanz nicht unterdrücken. Der mittelalterliche Veitstanz, der vor allem im Volk verbreitet ist, kann zum Beispiel als Rauschbedürfnis wie als Provokation gegen das Tanzverbot verstanden werden. In der Kulturgeschichte zählt Tanz seit dem Mittelalter zum festen Bestandteil höfischen Lebens und dient unter anderem der Diplomatie unter Fürstentümern oder der Gesundheitsprüfung bei der Partnerwahl. Der dem Tanz anhaftende Zwiespalt führt zu unterschiedlichen und zum Teil konträren Tanzauffassungen. Bei dem Thema ,Tanz in der Literatur‘, mit dem sich diese Arbeit befasst, ist nicht „und“, sondern die scheinbar unbedeutende Präposition ,in‘ akzentuiert.

5 Vgl. Schroedter, Stephanie: Vom „Affect“ zur „Action“. Quellenstudien zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cour bis zum frühen Ballet en Action. Würzburg 2004.

4

Einleitung

Damit wird das Gebiet eingegrenzt.6 Es konzentriert sich auf Tanz, der auf unterschiedliche Art in die Literatur getreten ist. Es unterscheidet sich somit von dem Thema ,Tanz und Literatur‘, bei dem Literatur und Tanz nebeneinander stehen oder eine Einheit bilden können, so wie Bewegung zu Tanzliedern oder Nachzeichnung von Wörtern durch Körperteile. Auch steht das Thema ,Tanz in der Literatur‘ seiner Umkehrung ‚Literatur im Tanz‘ entgegen, das die Aufnahme der Literatur im Tanz beinhaltet, so bei Bühnenstücken und Tanzfiguren, die auf Literatur basieren.7 Das Thema ,Tanz in der Literatur‘ befasst sich mit Tanzepisoden und -stilen und nicht zuletzt mit Tänzern als Künstlerfiguren, die in fiktiven poetologischen Texten dargestellt sowie in theoretischen Schriften der Dichter reflektiert werden. Dabei wird untersucht, wie es Dichtung, getragen von Abstraktion, Reflexion und Vorstellung, unternimmt, Tanz als wortlose, ephemere und dynamische Kunstform festzuhalten und gar (wieder) zu beleben und schöpferisch zu gestalten. Es geht um Abgrenzung, Kooperation und Grenzüberschreitung zwischen verbalem und nonverbalem Ausdruck, Sprache und Tanz. Spätestens wenn er den Tanz beschreibt, legt der Dichter fest, wie er ihn seiner Vorliebe und dem Bedarf seines Werkes entsprechend gestaltet. Allein auf Grundlage dieser Frage könnte das Ergebnis, etwa eine Tanzepisode oder -szene oder auch Tanzlyrik, durch viele Faktoren beeinflusst werden, seien es die damalige kulturelle Konvention, die soziale Kulisse, politische Veränderungen, der Zweck der jeweiligen Dichtung, persönliche Erlebnisse des Dichters oder eine bestimmte Schreibweise, die der Mode der damaligen Zeit entspricht. Das bereichert die Verarbeitung des Themas ,Tanz in der Literatur‘ um viele Facetten. Das Thema ,Tanz in der Literatur‘ hat in der Forschung bereits an Aufmerksamkeit gewonnen, insbesondere seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts.8

6 Die systematische Zuordnung, 1) Tanz und Literatur 2) Literatur im Tanz und 3) Tanz in der Literatur, beruht auf der parallelen Einteilung in „Literatur und Musik“. Vgl. Scher, Steven Paul (Hg.): Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Berlin 1984. Lubkoll, Christine: Musik. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft, 3 Bde. Bd. 1. Stuttgart/Weimar 2013, S. 378–382. 7 Vgl. Bührle, Iris Julia: Literatur und Tanz. Die choreographische Adaptation literarischer Werke in Deutschland und Frankreich vom 18. Jahrhundert bis heute. Würzburg 2014. Wittrock, Eike: Arabesken. Das Ornamentale des Balletts im frühen 19. Jahrhundert. Bielefeld 2017. Diagne, Mariama: Schweres Schweben. Qualitäten der gravitas in Pina Bauschs Orpheus und Eurydike. Bielefeld 2019. 8 Die Nähe des Tanzes zur Literatur, die Intensität, mit der sich Dichter mit dem Tanz befasst haben, ist bereits in früheren Forschungsarbeiten dokumentiert worden. Unter mehreren Büchern zur Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts ist Max von Boehns Der Tanz, in dem der Verfasser sich auf literarische Werke wie Tanzlieder, Dramen und Romanepisoden bezieht, besonders hervorzuheben. Vgl. Boehn, Max von: Der Tanz. Berlin 1925. Auch in Victor Junks

Einleitung

5

Während bisherige Studien dabei den Fokus auf einzelne Autoren9 oder einzelne Aspekte gerichtet haben, wie den Tanz als Motiv,10 die Gestaltung des Tanzes,11 die Wechselbeziehung von Dichtung und Tanz12 oder die Tanzkunst als ästhetisches Modell,13 versucht die vorliegende Arbeit erstmals generell die Bedeutung, Funktion und Gestaltung des Tanzes in der Literatur der Sattelzeit

interdisziplinärer Auseinandersetzung mit dem Tanz als selbstständiger wissenschaftlicher Disziplin wird die Affinität des Tanzes zur Literatur und Sprache herausgestellt. Das Manuskript gelangte erst post mortem zur Drucklegung. Vgl. Junk, Victor: Grundlegung der Tanzwissenschaft. Hg. v. Elisabeth Wamlek-Junk, Hildesheim 1990, S. 61–79, 131–197. Seit den 90er Jahren wird der Stellung und Vielfalt des Tanzes in der Literatur immer mehr Aufmerksamkeit gewidmet, vermutlich deshalb, weil sich zu dieser Zeit die Tanzwissenschaft in Deutschland an Universitäten verbreitete. 9 Vgl. Park, Ock Sook: Der Tanz bei Heinrich Heine, Berlin 2004. Ruprecht, Lucia: Dances of the Self in Heinrich von Kleist, E. T. A. Hoffman and Heinrich Heine. Aldershot [u. a.] 2006. Salmen, Walter: Goethe und der Tanz. Tänze, Bälle, Redouten, Ballette im Leben und Werk, Hildesheim 2006. Busch-Salmen, Gabriele [u. a.] (Hg.): Der Tanz in der Dichtung – Dichter tanzen. Hildesheim [u. a.] 2015. (Terpsichore: tanzhistorische Studien. Bd. 8). 10 Wunderlich, Uli: Der Tanz in den Tod. Totentänze vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Freiburg im Breisgau 2001. Krieger, Irene: Der Tanz der Feen und Elfen. In Opern, Zauberspielen, Balletten und Musikstücken, Romanen, Erzählungen und Gedichten. Herbolzheim 2008. 11 Vgl. Müller-Farguell, Roger W.: Tanz-Figuren. Zur metaphorischen Konstitution von Bewegungen in Texten. Schiller, Kleist, Heine, Nietzsche. München 1995. Hier wird in Hinsicht auf die Gestaltung des Tanzes auch der Begriff ,Step-Text‘ wachgerufen, das Leitwort eines Symposiums zu ,Literatur und Tanz‘ im Jahr 2015, veranstaltet vom Zentrum für Bewegungsforschung der FU Berlin und dem literarischen Colloquium Berlin. Literarische Texte werden für ursprüngliche Bühnenwerke gehalten, die vom Dichter nicht nur geschrieben, sondern ,gesteppt‘ werden. Dabei werden vorwiegend Modelle und Beispiele aus Tanz und Literatur betrachtet, die nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden sind. Beim ,Steptext‘ geht es um die Frage, inwieweit die Literatur fähig ist, Dynamik und Flüchtigkeit des Tanzes darzustellen, das Tänzerische in der Dichtung wiederzugeben. Die Interferenzen beider Kunstformen stehen dabei im Zentrum der Diskussion. Vgl. Geiger, Thomas (Hg.): Step-Text. Literatur und Tanz. Sprache im technischen Zeitalter, Heft 216. Köln [u. a.] 2015. 12 Siehe Matthias Sträßners Forschungsergebnisse, durch die sich Dichter von Tanzreformen inspirieren ließen, darunter am deutlichsten Wieland von Noverre. Vgl. Sträßner, Matthias: Tanzmeister und Dichter. Literatur-Geschichte(n) im Umkreis von Jean Georges Noverre. Berlin 1994. Auch in der Zeitschrift Variations aus dem Jahr 2015 mit dem Leitthema Tanz findet sich eine Fülle von Betrachtungen, welche bei der Auswahl poetologischer Gattungen (S. 41–54), Figurenkonstellation (S. 55–68) und optischem Schreiben (S. 117–128) das Tänzerische in der Literatur sichtbar machen. Vgl. Variations. Literaturzeitschrift der Universität Zürich, Tanz/ Danse/Dance, 23 (2015). 13 Vgl. Brandstetter, Gabriele (Hg.): De figura. Rhetorik-Bewegung-Gestalt. München 2002. Oesterle, Günter: Tanz als „untergeordnete Kunst“ oder als „Zentrum“ und Erneuerer aller Künste. Zu einer kontroversen Konstellation in der Romantik. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 25 (2015), S. 17–40.

6

Einleitung

zu erforschen. Es geht um die Funktionszuschreibung und ästhetische Diskursivierung des Tanzes. Es wird vermutet, dass Tanz in der Literatur nicht nur als Beleg für Kulturgeschichte und Ästhetik dient, sondern diesen darüber hinaus Anstöße gibt und sie beeinflusst. Da der Gesellschaftstanz im 19. Jahrhundert die gesamte Ballkultur belebt und beeinflusst und der Bühnentanz in Opernhäusern zum wichtigen Element zählt, wird Tanz in der Literatur als Spur kulturgeschichtlicher Entwicklungen wahrgenommen. Darüber hinaus wird Tanz als ästhetisches Reflexionsmedium betrachtet, welches in Hinsicht auf gesellschaftliche und politische Zukunftsentwürfe zu poetologischen Experimenten inspiriert. Dabei werden charakteristische Werke, in denen Tanz eine zentrale Rolle spielt, in den Textkorpus aufgenommen. In Einzelanalysen wird versucht, einerseits die Anregung des Tanzes für die Dichtkunst zu erfragen, andererseits eine diachrone ,Kette‘ von Tanzauffassungen, -reflexionen und -rezeptionen sichtbar zu machen, die im Laufe der Zeit in dieser gut 100-jährigen Zeitspanne entstanden ist, um so gewissermaßen eine kleine ,Literaturgeschichte des Tanzes‘ vorzubereiten. Anders als um 1900, als der Tanz vielfältig in die Literatur integriert wird und die Körper- und Bewegungsrevolution einen ästhetischen Durchbruch erlebt und trotz aller Skepsis eine Alternative zur Sprache für den Ausdruck der neuen Zeit bieten wird,14 kann sich der Tanz im 19. Jahrhundert noch nicht vom kulturellen Umfeld, den gesellschaftlichen Normen und der politischen Ordnung lösen. Dennoch dient er in der Sattelzeit als informative Datenbank für Sitten und Gebräuche, Normen und Moden, Anschauungen und Wahrnehmungen und macht die Umbrüche in Soziologie, Mentalität, Ästhetik und Politik sichtbar. Um sich dieser Datenbank zu nähern, bietet sich die Literatur als Hauptquelle an. Um sich mit dem Tanz in der Literatur um 1800 zu befassen, ist der kulturhistorische Prätext ebenso unverzichtbar wie der bühnengeschichtliche. Dieser Arbeit liegen kulturhistorische Studien zugrunde. Neben den geläufigen Tanz-Lexika,15 welche die Entstehungshintergründe, musikalischen Merkmale und Verbreitung der Tänze darlegen, beruft sich diese Studie zusätzlich

14 Vgl. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, 2. erw. Aufl. Freiburg im Breisgau [u. a.] 2013. 15 Die vorliegende Arbeit beruft sich hauptsächlich auf zwei deutschsprachige Tanzlexika. Weil Annette Hartmanns Tanzlexikon in der Anfangsphase dieser Arbeit noch nicht erschienen war, wird stattdessen überwiegend Otto Schneiders Lexikon berücksichtigt. Vgl. Schneider, Otto: Tanzlexikon. Volkstanz, Kulttanz, Gesellschaftstanz, Kunsttanz, Ballett. Tänzer, Tänzerinnen, Choreographen, Tanz- und Ballettkomponisten von den Anfängen bis zur Gegenwart. Unter Mitarb. von Riki Raab, Mainz [u. a.] 1985. Hartmann, Annette und Monika Woitas (Hg.): Das große Tanzlexikon. Personen, Werke, Tanzkulturen, Epochen. Laaber (ab 2020 Lilienthal) 2016.

Einleitung

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noch auf choreographische Untersuchungen über historische Tänze16 sowie Forschungen zum Bewegungsmodell in Bezug auf geschichtlichen Wandel.17 Darüber hinaus dienen musik- und literaturgeschichtliche Studien zum Tanz im 18. und 19. Jahrhundert als wichtige Quelle für Aussagen zu Sitten, Bräuchen und Umgangsformen.18 Die konkrete Herangehensweise an das Thema ,Tanz in der Literatur‘ ist abhängig vom literarischen Stoff. Um sich einer Darstellungskunst des Tanzes durch einen Dichter zu nähern, ist es hilfreich, dass neben den textimmanenten Ansätzen auch historisch nachweisbare Ereignisse in der Mentalitäts- und Kulturgeschichte dazu beitragen, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wieweit ein Dichter das Thema Tanz für eine oder mehrere Intentionen instrumentiert oder seine Schreibweise sich an den Tanz anpassen lässt. Generell gelten für alle Analysen folgende Vorgehensweisen: den Tanz motivisch zu betrachten, seine semiotische, soziologische und ästhetische Funktion in seinem literarischen Kontext zu untersuchen; den Tanz als ästhetische Form zu behandeln und seine Interferenzen mit der Dichtung zu analysieren; den Tanz als anthropologisches Phänomen und als Spiegel des Zeitgeists anzunehmen und sodann zu reflektieren, wie Tänze sich als Experimente auf poetische Bereiche übertragen lassen. In Bezug auf die Textauswahl geben die bisherigen Forschungen in vielerlei literarischen Quellen bereits eine breite Palette für den Tanz vor. Unverzichtbar ist hierfür eine von Gabriele Brandstetter herausgegebene Sammlung von Tänzen aus literarischen Werken, dem Reclam-Buch mit dem Titel nach Carl-Maria

16 Vgl. Taubert, Karl Heinz: Höfische Tänze. Ihre Geschichte und Choreographie. Mainz 1968. Taubert, Karl Heinz: Das Menuett. Geschichte und Choreographie, Tanzbeschreibungen, Notenbeilage, Bilder zu Tanz- und Kulturgeschichte. Zürich 1988. Auch Boisits, Barbara (Hg.): Tanz im Biedermeier. Ausdruck des Lebensgefühls einer Epoche. Symposion Musizierpraxis im Biedermeier, Tanzmusik im ländlichen und städtischen Bereich. Wien 2006. Brunner, Verena: Tanzvergnügen der Mozart-Zeit. Kontratänze. Tanzbeschreibungen, Historisches. Boppard am Rhein 2014. (Tanzen mit Mozart. Bd. 2). 17 Vgl. Nitschke, August: Körper in Bewegung. Gesten, Tänze und Räume im Wandel der Geschichte. Stuttgart 1989. Sorell, Walter: Der Tanz als Spiegel der Zeit. Eine Kulturgeschichte des Tanzes. Mit 203 Abbildungen. Wilhelmshaven [u. a.] 1985. Vgl. Braun, Rudolf und David Gugerli: Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914. München 1993. Fink, Monika: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert. Innsbruck 1996. 18 Vgl. Salmen, Walter: Tanz im 19. Jahrhundert. Werner Bachmann (Hg.): Musikgeschichte in Bildern. Bd. 4. Leipzig 1989. Salmen, Walter und Gabriele Mozart Busch-Salmen (Hg.): Mozart in der Tanzkultur seiner Zeit, Innsbruck 1990. Salmen, Walter: Der Tanzmeister. Geschichte und Profile eines Berufes vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Mit einem Anhang „Der Tanzmeister in der Literatur“. Hildesheim [u. a.] 1997.

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von Webers Klavier-Rondo Aufforderung zum Tanz (1819).19 Diese Sammlung macht deutlich, dass Tanz in allen Literaturgattungen intensive Verwendung findet, und weist zugleich auf noch offene Forschungsfelder hin, in denen die Rolle des Tanzes im Austausch mit Literatur noch ausgelotet werden kann. Die Auswahl in Frage kommender Lektüren wird erleichtert, wenn die entsprechenden Tänze systematisch geordnet werden. Tänze lassen sich je nach Anlass in mehrere Formen einteilen. Zwei Formen werden zum Hauptthema dieser Arbeit: Gesellschaftstänze und Tanzvorführungen. Anhand dieser Einteilung wird Literatur, in der Tanz explizit beschrieben wird, bei der Textauswahl berücksichtigt und anschließend ausgewertet. Insgesamt werden zwölf Einzelanalysen durchgeführt, und jede davon konzentriert sich als Forschungsgegenstand vorwiegend auf Tanzepisoden. Allen ausgewählten literarischen Texten ist gemeinsam, dass der Tanz darin eine zentrale oder außergewöhnliche Rolle spielt. Die Analysen sind chronologisch geordnet, beginnen mit einem Werk der Aufklärung, Justus Friedrich Wilhelm Zachariaes Der Renommist (1744), als Vorspann zur dichterischen Aufmerksamkeit gegenüber dem Tanz. Die Arbeit untersucht dann Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) und Achim von Arnims Hollin’s Liebesleben (1801) bis hin zu E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla (1821), um schließlich mit Heinrich Heines Ballettlibretto Der Doktor Faust (1851) zu enden.20 Die erste Analyse zu Zachariaes Renommist (1744) und die letzte zu Heines Faust (1851) dienen jeweils als Auftakt zur Betrachtung der Aufklärung und als Ausblick auf die Moderne. In Bezug auf die Häufigkeit der Behandlung in der Forschung und die Bekanntheit in der Literaturwelt zeigen sich deutliche Unterschiede. Justus Friedrich Wilhelm Zachariaes Der Renommist (1744) sowie Rodolphe Töpffers Bilderroman Geschichte des Monsieur Jabot (1831) wurden bislang in der Forschung kaum erwähnt, aber beiden Werken ist gemeinsam, dass ein Ball-Erlebnis die zentralen Gedanken prägt.21 Goethes Werther ebenso wie Aschenputtel (1819) der Brüder Grimm haben die Welt erobert, doch inwiefern der Tanz darin einen wichtigen Teil des Handlungsstrangs darstellt, wurde bislang nur am Rande untersucht.

19 Vgl. Brandstetter, Gabriele (Hg.): Aufforderung zum Tanz. Geschichten und Gedichte, Stuttgart 1993. Die in diesem Buch ausgewählten und im Nachwort genannten literarischen Werke haben mich bei der Auswahl der Literatur inspiriert. 20 Eine vollständige Liste der Textauswahl erscheint hier überflüssig, weil die einbezogenen Texte bereits im Inhaltsverzeichnis angekündigt werden. 21 An dieser Stelle danke ich Günter Oesterle, der mir zu dem Vergnügen verhalf, die Werke von Zachariae und Töpffer zu studieren.

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Die vorliegende Arbeit orientiert sich in ihrer Struktur thematisch an verschiedenen Aspekten bzw. Funktionen von Tanzphänomenen und gliedert sich in vier Teile, die jeweils Einzelkapitel zu den ausgewählten Texten enthalten: – Teil I: Tanz als Seismograph des gesellschaftlichen Wandels – Teil II: Tanz als Kommunikationsform der Geschlechter – Teil III: Tanz als künstlerische Dimension – Teil IV: Tanz als Spiegel politischer Kritik An dieser Stelle erscheint eine kurze Inhaltsangebe als Leseorientierung sinnvoll. Im Teil I werden einige Tanzepisoden zu Gesellschaftstänzen betrachtet und anschließend wird versucht, Fragen nach Veränderungen der Umgangsformen oder der Differenz zwischen sozialen Schichten zu beantworten. Nicht zuletzt werden Urteile über Mode und Körperhaltung formuliert. Um diese Problematik zu durchdringen, werden Ereignisse der Kultur-, Politik- und Mentalitätsgeschichte, verbreitete Publikationen über Sittenlehre und Ästhetik-Theorie und zusätzlich Zeitschriften aus der betrachteten Zeit genutzt. Dabei wird zunächst anhand von Zachariaes Satire Der Renommist anschaulich gemacht, inwieweit Tanz in der Lage ist, einen Einblick ins regional bedingte Sitten- und Kulturleben zu ermöglichen. Im darauffolgenden Kapitel, das sich mit Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers befasst, wird das Augenmerk darauf gerichtet, wie Goethe sich hier des Tanzes bedient. Wenn er den Gesellschaftstanz als Thema wählt, wie nutzt er dann die Charaktere einzelner Tänze, um auf die Relation zwischen gesellschaftlichen Normen und Werthers Empfindungen anzuspielen? Goethes Tanzdarstellungen, die anfangs von den Zuständen im Werther geprägt sind, werden vielfältiger, etwa im Faust und finden Anklang im Weimarer Kreis, in dem Tanz auf verschiedene Art und Weise thematisiert wird. Als Kontrast zu Goethe wird im nächsten Schritt Schillers Gedicht Der Tanz behandelt. Hierbei geht es nicht nur um die Frage, wie Schiller die beschriebenen Tanzfiguren im Zusammenhang mit seinen theoretischen Schriften Über die ästhetische Erziehung des Menschen in Hinsicht auf die Schönheitslinie interpretiert, sondern auch darum, inwieweit sich das tänzerische Ästhetik-Ideal auf die Realität des sozialen Umgangs übertragen lässt. Im letzten Kapitel aus dem Teil I werden drei gleichnamige Balladen dreier Autoren mit dem Titel Schelm von Bergen angeführt. Hier wird zum einen bei der Besonderheit des Maskenballs danach gefragt, inwiefern die übliche Hierarchie bei karnevalsähnlichen Maskenbällen aufgehoben wird. Zum anderen wird die zeitliche Relation zwischen der Thematik und der Sichtweise der Autoren herausgestellt: In einem Zeitraum, als der Adel nach dem Wiener Kongress eine gewisse Dominanz im Kulturleben verliert, aber dennoch Machthaber bleibt, wird jeweils die gleiche Thematik beschrieben: Ein Henker

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nimmt am Maskenball der Adligen teil. Das Kapitel zielt auf die Frage ab, wie die adelige Macht und Willkür von verschiedenen Dichtern aufgefasst werden. Grundsätzlich sind die Primärtexte dieser Arbeit chronologisch gegliedert. Eine Ausnahme bildet das erste Kapitel des Teils II, das sich dem Märchen Aschenputtel widmet. Dieser Text beruht auf dem früheren Märchen Cendrillon ou la Petite Pantoufle de verre (1697) von Charles Perrault und hat somit als Volksmärchen bereits eine lange orale Erzähltradition hinter sich. Außerdem dient das Kapitel als Schaltstelle, um aufzuzeigen, wie kollektive gesellschaftliche Werte Geschlechter-Verhältnisse bedingen. Wie wirken sich die von der Gesellschaft bewerteten Tanzrequisiten auf das Liebesglück Aschenputtels aus? Auf welche Weise werden die Tanzkleidung, die Körpergröße und die Füße einer Frauenrolle zugeschrieben? Wie können Tanzrequisiten und -fertigkeit sowie das Aussehen ein Frauenbild neu definieren? Solche Fragen sind nicht nur für das Aschenputtel-Kapitel relevant, sondern begleiten den gesamten Teil II. Die Relation zwischen Darstellungen gesellschaftlicher Normen und der Gestaltung persönlicher Empfindungen wird hier als zentrales Phänomen untersucht. Während der Tanz in Arnims Hollin’s Liebesleben als autonome Kunst betrachtet wird, wird nun untersucht, wie beim Tanz das persönliche Glück mit den gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert wird. Im Kapitel zu Dorothea Schlegels Florentin wird in Ansätzen ein Keim der heutigen GenderFrage beachtet und es wird analysiert, wie Tanz aus weiblicher Feder gestaltet wird. Abschließend wird in die geschlechtliche Kommunikation eine Peripetie eingebaut: Am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns Sandmann wird der Kontrast zwischen einer rein imaginierten Liebe zu einer Tanzpuppe und der folgenden Desillusionierung des Protagonisten behandelt, wobei ein besonderes Augenmerk darauf liegt, wie Hoffmann auf die Industrialisierung reagiert, die zu dieser Zeit ihren Anfang nimmt. Im Teil III und IV wird ein besonderer Wert auf die ästhetische Darstellung und auf die unterschiedlichen Formen der Tanzvorführungen gelegt. Dabei werden nicht nur Tanzpräsentationen betrachtet, die auf der Bühne stattfinden, sondern der Blick wird auch auf andere Schauplätze gerichtet, diejenigen auf der Straße, in der Natur und manchmal lediglich in der Phantasie. Die Interferenzen und der Austausch beider Künste, des Tanzes und der Literatur, werden unter der folgenden Fragestellung diskutiert: Inwieweit stiftet Tanz, eine von Bewegung geprägte Kunst, Dynamik in der Dichtung, und inwieweit passt sich Dichtung an tänzerische Ordnungen an? Konkreter gesagt: Wie veranlasst Tanz den Dichter dazu, die Tanzkunst in einem fiktionalen ,Sprachraum‘ neu zu gestalten, literarische Figuren und somit auch neue Möglichkeiten der Tanz-Deutung zu schaffen? Dabei werden im Teil III Gestaltungsmöglichkeiten der Tanzkünstler unter die Lupe genommen, zunächst in E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla mit

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deren ständigem Rollenwechsel, dann im Vergleich von Goethes Mignon aus Wilhelm Meisters Lehrjahre und Heines Laurence aus Florentinische Nächte. Im Teil IV hingegen wird am Beispiel von Heines Atta Troll und Der Doktor Faust nach der Wirkung neuer Tanz-Ansätze für die Literatur gefragt. In diesem Zusammenhang wird vermutet, dass Heine den Tanz einsetzt, um politische Andeutungen zu machen. Wie ändern sich dabei die Tänze und welche Funktion bekommen sie im literarischen Zusammenhang? Die meisten Gesellschaftstänze legen Wert auf ästhetische Wirkung oder Präsentation der Schönheit. Tanzvorführungen, die zumeist ästhetische Wirkungen beachten, können sich nicht von dem gesellschaftlichen Kontext freimachen. Daher wird im Teil I und II, wenn nötig, auch über ästhetische Aspekte reflektiert, besonders über den Zeitpunkt um 1800, als sämtliche Kunstformen unter den Frühromantikern, wie etwa der Brüder Schlegel, neu reflektiert und geordnet wurden. Im Teil III und IV werden darüber hinaus auch diejenigen kultur- und politikhistorischen Aspekte berücksichtigt, die verstehen helfen können, wie die Autoren zu solchen künstlerischen Auffassungen kommen konnten. Jedes Kapitel mag einzeln für sich stehen. Wenn alle Kapitel eins nach dem anderem betrachtet werden, mögen sie eine Folgekette aufzeigen und eine diachrone Entwicklung der Tänze in der Literatur skizzieren. In der Literatur kann Tanz vielerlei bedeuten: Kontrolle oder Ekstase, Gesundheit oder Krankheit, Präsentation oder Rückzug, Enthüllung oder Täuschung, Erhabenheit oder Lüsternheit, Abgrenzung und Gemeinsamkeit, sogar eine Überwindung der Schichten. Die folgende Arbeit möchte sich dieser literarischen Tanzvielfalt widmen.

Vorüberlegungen: Kulturgeschichtliche und ästhetische Voraussetzungen Indem der Historiker Reinhart Koselleck den Zeitraum von 1750–1850 mit der Metapher Sattelzeit bezeichnet, hat er dabei im Sinn, dass sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts „ein tiefgreifender Bedeutungswandel“22 vollzogen hat. Nicht zuletzt ist damit ein Sprachwandel gemeint: Wörter, die bisher allgemein geläufig waren, verschwinden allmählich aus dem aktiven Wortschatz und werden Bestandteil der Geschichte, wie ,Stand‘ und ,Aristokratie‘. Zugleich entstehen neue Wörter, die auf die Gegenwart und auf künftige Entwicklungen hinweisen, wie ,Bürger‘, ,Besitzer‘ und ,Demokratie‘. Der Sprachwandel bezeugt neue Sach-

22 Koselleck, Reinhart: Einleitung. In: Otto Brunner [u. a.] (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart 1979, S. XV.

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verhalte und neue Mentalitäten und hebt zugleich die Besonderheiten des jeweiligen Zeitraums hervor. Gesellschaftliche Veränderungen, die im Grunde genommen in der Geschichte kontinuierlich stattfinden, werden in dem Zeitraum von 1750–1850, Koselleck zufolge, dank politischer und industrieller Revolutionen beschleunigt und vervielfacht. Darüber hinaus sind diese Entwicklungen von einer neuen Dimension geprägt: Die bisherige gesellschaftliche Hierarchie, die jahrhundertelang durch die Geburt bestimmt wurde und stabil war, wird jetzt durch Leistung, Beruf und Kapital gebildet und kann verändert werden, so dass jemand, der von Geburt her aus einer unteren Schicht stammt, aufgrund eigener Leistung gesellschaftlich aufsteigen kann. Das verunsichert den Adel, der sich bisher die politische Macht mit der Kirche alleine teilte. Um die gesellschaftlichen Umbrüche der Sattelzeit thematisch zu gliedern, nennt Koselleck vier Kriterien: 1) Demokratisierung durch Aushöhlung der ständischen Hierarchie und Dynamik in der Entwicklung des Bürgertums; 2) Verzeitlichung, das Denken in Geschichte, Gegenwart und Zukunft; 3) Ideologisierbarkeit, die in einer abstrakten Betrachtung von Begriffen und Kunstformen zeigt; 4) Politisierung von geschichtsphilosophischen Gedankengängen und Polemik in Anspielungen.23 Die bewegte Zeit ist auch im Tanz spürbar. Da Tanz einerseits zu einer bedeutenden kulturellen Aktivität dieser Zeit gehört und sich andererseits als Kunstform emanzipiert, ist er in der Lage, als ,Augenzeuge‘, manchmal sogar als Motor der Sattelzeit zu fungieren und sowohl gesellschaftliche Veränderungen und ästhetische Reflexionen wiederzugeben, als auch diese seinerseits zu prägen. Im Folgenden wird ein Abriss der Tanzgeschichte anhand der Koselleck’schen Kriterien dargestellt, und zwar unter der Leitfrage, wie die vier Kriterien sich in der Kulturgeschichte des Tanzes und der ästhetischen Diskussion niederschlagen. Es geht im Folgenden besonders um die Aspekte, welche den Wandel der Kulturgeschichte und der ästhetischen Diskussion zum Tanz aufzeigen. Die vier Kriterien dienen als Hinweise zu den Tänzen wie sie in der Literatur auftreten. Die ersten zwei Kriterien, ,Demokratisierung‘ und ,Verzeitlichung‘, werden hier dem kulturgeschichtlichen Aspekt zugeordnet, das dritte und vierte Kriterium, ,Ideologisierbarkeit‘ und ,Politisierung‘, werden unter dem ästhetischen Aspekt des Tanzes

23 Koselleck, Reinhart: Einleitung. In: Otto Brunner [u. a.] (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, S. XV–XVIII.

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erläutert. Dabei wird berücksichtigt, dass sich alle vier Kriterien sowie ihre entsprechenden Tanz-Ereignisse und Tanzauffassungen wechselseitig beeinflussen.

(1) Demokratisierung – Wandel der Tanzbälle und Tanzformen Die Entwicklung des Kapitalismus beschleunigt sich durch die industriellen Revolutionen seit 1750. Dies stärkt die ökonomische Situation des gewerblichen Handels und damit des Bürgertums. Somit steigt der ,dritte Stand‘, das Bürgertum, zunächst finanziell auf, um auch kulturell aufzusteigen, orientiert sich sodann am Adel, der im 18. Jahrhundert noch grundlegende Privilegien genießt. Was den Tanz betrifft, so kommen Tanzbälle auf, bei denen die Konventionen des Adels mit dem neuen Selbstbewusstsein des Bürgertums konfrontiert werden. Der Adel, der noch an der Spitze der ständischen Hierarchie steht, nutzt jede Gelegenheit, um seine herausragende Position zu betonen. Dazu zählen Adelsbälle, auf denen Ausstattung und Einrichtung der Räume, Kleidung und Manieren der Teilnehmer präsentiert werden, so dass sie – um das Wort des Historikers Hans-Ulrich Wehler zu benutzen – die „völlige Exklusivität“24 der Oberschicht unterstreichen. Dies bestätigt 1728 ein Zeitzeuge, der Schriftsteller Julius Bernhard von Rohr: Auf Adelsbällen werden „die Wachen auf das Schärfste beordert“25, um „niemand von dem Pöbel“26 und „keinen, als Standes-Personen nebst Cavaliers und Dames den Eintritt zu verstatten.“27 Gerade weil das Bürgertum in dieser Epoche einen Aufstieg erlebt, bemüht sich der Adel umso mehr, unter sich zu bleiben. Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts lässt sich eine solche Ausschlussprozedur nicht immer durchsetzen, dazu kommt, dass immer mehr Leute aus dem Bürgertum aufgrund ihres Berufs oder Vermögens in den Adelsstand erhoben werden. Das Großbürgertum orientiert sich in Stil und Form an den Traditionen des Adels, pflegt dabei dennoch die neuen bürgerlichen Ideen von Freiheit und Humanität. Oft sind sie in finanzieller Hinsicht und im Hinblick auf ihre Manieren dem Adel sogar überlegen. Gerade vor

24 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, 2. Aufl. München 1989, S. 145. 25 Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der grossen Herren, Leipzig 1990 [1728], S. 821. 26 Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der grossen Herren, S. 821. 27 E Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der grossen Herren, S. 821.

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dem Hintergrund, dass längst nicht jeder Hof der deutschen Kleinstaaten dem Bürgertum offen und freundlich gegenübersteht, sind Adelsbälle mit Gästen aus dem Bürgertum oder dem Volk umso mehr ein Zeichen dafür, dass die unterschiedlichen Stände allmählich beginnen, sich miteinander zu arrangieren.28 Beispielsweise ermöglicht der Weimarer Hof 1798 anlässlich der Neueröffnung des Redouten- und Komödienhauses eine freie und unentgeltliche Zulassung zu den Redouten.29 Das gesellige Vergnügen geht nun über die Ständeschranken hinaus.30 Bälle sind nicht mehr ausschließlich eine Aktivität der Adelskultur, sondern Bestandteil des bürgerlichen Kulturlebens. Es ist nun auch dem Bürgertum möglich, prunkvolle Bälle zu veranstalten und durch Anstellung eines Tanzmeisters modische Tanzschritte zu erlernen,31 um mit dem Adel zu konkurrieren. Solange der Adel kulturell dominant sei, so merkt es Tanzhistoriker Walter Salmen an, seien Bälle weiterhin „ständespezifisch voneinander abgesetzt“32, weil der Adel einen Maßstab für vorzeigbare Bälle kundgebe. Allerdings geht es bei ,ständespe-

28 Die Gleichheit aller Menschen, wie in den während der Französischen Revolution deklarierten Menschen-und Bürgerrechten formuliert, wird längst noch nicht überall akzeptiert. Bälle bleiben noch lange Zeit eine Form der geschlossenen Gesellschaft. Allerdings ist nun der soziale Rang nicht mehr das einzige Kriterium, das darüber entscheidet, ob jemand an einem Ball teilnehmen darf oder nicht, sondern auch der Ruf oder die Vernetzung mit anderen spielt eine wichtige Rolle. So hebt die Prinzessin Luise von Preußen in einem Brief an ihre Schwester Therese zu Mecklenburg vom 19. Juli 1792 hervor, dass etwa der Ruf ein entscheidender Faktor dafür ist, ob man eine Einladung zum Ball erhält: „[A]ber Du mußt zugeben, um dahinzugehen (zum Ball), muß man eingeladen sein, und um eingeladen zu werden, muß man bekannt sein ... “. Quelle des Zitats: Zitiert nach Salmen, Walter: Luise von Preussen. Musik, Tanz und Literatur im Leben einer Königin. Hildesheim 2008, S. 99. 30 Jahre später, 1829, stellt der Tanzmeister Eduard Helmke fest, dass die Privatisierung der Bälle einen gewissen Bekanntenkreis markiert. Somit entspricht die Bedeutung eines Balls immer mehr derjenigen eines privaten Treffens in der Gegenwart: „Zu geschlossenen Bällen dürfen nur Personen eingeladen werden, die zu einander passen.“ Helmke, Eduard: Neue Tanz- und Bildungsschule. Ein gründlicher Leitfaden für Eltern und Lehrer bei der Erziehung der Kinder und für die erwachsene Jugend. Neudr. der Orig.-Ausg. Leipzig 1829, S. 90. 29 Vgl. Busch-Salmen, Gabriele (Hg.): Goethe-Handbuch. Supplemente, in vier Bänden. Bd. 1. Musik und Tanz in den Bühnenwerken. Stuttgart 2008, S. 272. 30 Siehe dazu das Kapitel „Tanz auf Festen“ mit dem Beispiel Schelm von Bergen. 31 Dass Tanzerziehung bei Kindern aus bürgerlichen Familien eingesetzt wird, ist zum Beispiel bei Goethe zu finden, der aus einer Kaufmannsfamilie stammt. So schildert Goethe seine Tanzerziehung in seiner Autobiographie: „Von früher Jugend an hatte mir und meiner Schwester der Vater selbst im Tanzen Unterricht gegeben, [...].“ Zitat aus: FA 14, 424 (Dichtung und Wahrheit, zweiter Teil, neuntes Buch). 32 Salmen, Walter: Luise von Preussen. Musik, Tanz und Literatur im Leben einer Königin, Hildesheim 2008, S. 95.

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zifischen Bällen‘ im Laufe des 19. Jahrhunderts weniger um den Rang, sondern vielmehr um eine kommerzielle Atmosphäre, in der das Bürgertum hofft, durch sein Vermögen dem Adel gleichgestellt zu sein. So berichtet Heinrich Heine am 16. März 1822 über die Hausbälle der Kaufleute und Offiziere: „Alle Bälle der vornehmen Klasse streben, mit mehr oder minderm Glücke, den Hofbällen oder kurfürstlichen Bällen ähnlich zu sein.“33 Im Laufe der kommenden hundert Jahre entwickelt sich die Situation dahingehend, dass der Stand schließlich weniger zählt als das Besitztum – darin zeigt sich der Wandel von einer ständischen zu einer bürgerlichen Gesellschaft. Die Lockerung und Privatisierung des Zutritts zu Tanzbällen bewirkt einen Wettlauf der beliebten Tanzformen.34 Das Menuett, das zweihundert Jahre lang für die französische Hochkultur, aber auch für den Adel, stand, muss nun dem ,Deutschen‘ den Vorrang einräumen, einem aus den Alpen stammenden geselligen Tanz, später als Walzer bezeichnet. Wie alle anderen höfischen Tänze hat sich zwar auch das Menuett, der ,König der Barocktänze‘, aus Tänzen des Volkes entwickelt, es wird aber so hochstilisiert und ästhetisiert, dass es Tanzerziehung durch einen Tanzmeister, mehrmalige Proben und Sinn für Grazie und Eleganz benötigt, um einer höfischen Ästhetik zu genügen. Hingegen wird der ,Deutsche‘, zunächst ausschließlich vom Bürgertum getanzt, beginnt aber um 1800, das Menuett auf dem höfischen Tanzparkett zu verdrängen. Dies führt dazu, dass zahlreiche konventionelle Adelige, frankophile Moralisten35 und nicht zuletzt Tanzmeister, die davon leben, die komplizierten Raumwege beim Menuett zu unterrichten, den Walzer heftig ablehnen.36 Vor diesem Hintergrund kann die Konkurrenz der beiden Tanzformen Menuett und Walzer als Anspielung auf die Konfrontation von Adelsmacht mit der aufstrebenden Kraft des Bürgertums verstanden werden. Darüber hinaus gilt der Walzer aus einem wei-

33 Heine, Heinrich: 2. Brief aus Berlin vom 16. März 1822. In: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, 2. Bd. München 1969, S. 43 f. 34 Ausführliche Erläuterung zum Menuett und Walzer siehe das Kapitel zu Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers und das Kapitel zu Dorothea Schlegels Florentin. 35 Der Kulturhistoriker merkt hier mit Recht an, dass hinter dem Menuett und dem Walzer jeweils das französische und deutsche Nationalbewusstsein stehen. Daher sei der deutsche beziehungsweise österreichische Nationalstolz deutlich gestiegen, als auf dem Wiener Kongress 1815 Walzer getanzt worden sei. Der Walzer wird auf diese Weise zu einem Symbol für Metternichs Triumpf am Verhandlungstisch und die kulturelle Unabhängigkeit von der französischen Hofkultur. Vgl. Sorell, Walter: Der Tanz als Spiegel der Zeit. Eine Kulturgeschichte des Tanzes. Mit 203 Abbildungen. Wilhelmshaven [u. a.] 1985, S. 199. 36 Siehe dazu das Kapitel zu Goethes Werther.

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teren Grund als Tanz des Bürgertums und des 19. Jahrhunderts.37 Der Dreiertakt des Walzers mit seinen Drehungen beflügelt die Dynamik der Tänzer, und dies passt gut zu der beschleunigten Zeitdimension des 19. Jahrhunderts. Außerdem löst sich das Tanzpaar von der Tanzgruppe, kommt in engen Körperkontakt und muss sich nicht entlang eines vorgeschriebenen Weges durch den Raum bewegen. Dadurch begünstigt der Walzer die Entwicklung des Individuums und stellt die Beziehung der Geschlechter vor neue Herausforderungen.

(2) Verzeitlichung – Möglichkeiten der Geschlechterbeziehung Die Ideen der Französischen Revolution treiben Gedankenströmungen für eine offene Zukunft voran. Sie beflügeln nicht nur dazu, den Geist der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für Menschen aus allen Ständen und Nationen zu erkämpfen, sie sehen bei „Brüderlichkeit“ wohl ebenso die Schwestern und verstehen das Motto ,Gleichheit‘ zumindest als Vorlage für beide Geschlechter. Wie kann es aber gelingen, für das weibliche Geschlecht Gleichheit durchzusetzen, wenn Frauen zu dieser Zeit weder einen Beruf ausüben noch vergleichbare Bildungschancen haben wie Männer? Zu diesem Zeitpunkt ist von weiblicher Emanzipation zwar noch keine Rede, aber Veränderungen der Familienstruktur, der Ehe-Modelle und Liebesvorstellungen werden bereits im Verborgenen thematisiert. Die kleinsten Veränderungen können das Geschlechter-Verhältnis dynamisieren und dem weiblichen Geschlecht neben der Mutter- und Hausfrauenrolle neue Möglichkeiten zuschreiben. Die Literatur bietet in diesem Zusammenhang Gelegenheit, Veränderungen der Geschlechterbeziehung entweder begreifbar zu machen oder Modelle aufzuzeigen. Dabei können Paartänze einen Rahmen bilden für die Kooperation und Interaktion der beiden Geschlechter. Wie oben bereits angedeutet wurde, stellen Bälle häufig Situationen dar, in denen sich die Konkurrenz der finanziellen Lage zwischen dem Adel und dem Bürgertum zuspitzt. Es lässt sich feststellen, dass auf Bällen häufig noch verschiedene Werte gegeneinander abgewogen werden. Die höfische Freizügigkeit, wie sie sich zum Beispiel in der Galanterie zeigt, wird Mitte des 18. Jahrhunderts nachgeäfft,38 steht jedoch mit dem Aufstieg des Bürgertums immer mehr dem Entwurf einer Liebesheirat gegenüber, der sich um 1800 als bürgerlicher Wert durchzusetzen versucht.39 Ähnlich wie der äußere Rahmen der Bälle können 37 Vgl. Braun, Rudolf und David Gugerli: Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914. München 1993, S. 166–274. 38 Siehe dazu das Kapitel zu Julius Zachariaes Der Renommist. 39 Siehe das Kapitel zu Dorothea Schlegels Florentin.

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auch Tanzformen und -geschwindigkeit40 die Beziehungen der Tanzenden beeinflussen. Die Dynamik des Tanzpaars bildet einen Nährboden für die Reflexion über die geschlechtliche Beziehung, sei es Freundschaft, Schmeichelei oder Liebe, welche wiederum mit der sich wandelnden Familienstruktur verknüpft werden können. Wenn der Blick vorwiegend auf die Entwicklung der weiblichen Rolle gerichtet wird, ergibt sich eine Besonderheit der Geschlechterbeziehung. Es herrscht der männliche Blick. Im Zeitraum von 1750–1850 wird um ein Vielfaches häufiger beschrieben, wie ein Mann sich beim Tanz in seine Partnerin verliebt und in Schwärmerei für sie gerät, als umgekehrt. Darüber hinaus werden der weibliche Körper und die Tanzkleidung der Frauen genau beobachtet und beschrieben, weil offenbar gerade die äußerliche Erscheinung den weiblichen Reiz besonders hervorhebt.41 Spielt die Frau dementsprechend per se eine passive Rolle und gilt als Objekt der männlichen Vorstellung, wenn sie die Geführte bleibt?42 Auf diese Frage gibt nahezu jede Tanzepisode eine eigene Antwort, aber gerade darin wird der Wettstreit der Geschlechter deutlich erkennbar. Es ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, je nachdem, welchen Tanzpartner oder welche Tanzkleidung die Frauen wählen oder welche Körperteile sie bewusst hervorheben. All dies beeinflusst wesentlich mit, wie die Situation ausgeht. Dass der weibliche Körper als Objekt betrachtet wird, betrifft neben den geselligen Tänzen auch den Bühnentanz. Noch im 17. Jahrhundert war der Bühnentanz eine reine Männersache, und das Ballett stellte hauptsächlich die männliche Kraft zur Schau. Seit Ende des 17. Jahrhunderts können auch Frauen eine professionelle Tanzausbildung absolvieren und Bühnentänzerinnen werden. Von dem Gehalt, das sie im Theater beziehen, können sie allerdings kaum leben und werden zumeist bis ins 19. Jahrhundert hinein Mätressen der Mächtigen und Reichen.43 Da Opernhäuser im Laufe der 100 Jahre zum kulturellen Treffpunkt und

40 Vgl. die Erläuterung zur Polka im Kapitel zu Heinrich Heines Der Doktor Faust. 41 Siehe dazu das Kapitel zu Aschenputtel der Brüder Grimm. 42 Siehe die Auseinandersetzung mit Hoffmanns dramatischer Darstellung einer Tanzpuppe im Kapitel zu Hoffmanns Der Sandmann. 43 So schildert der Kulturhistoriker Gertrude Aretz die miserable finanzielle Lage der Bühnenkünstler und die Abhängigkeit von ihren Mäzenen: „Die Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin war im 18. Jahrhundert noch Freiwild, es sei denn sie war bereits so reich, daß sie selbst wie eine Königin befahl. Aber ehe sie so weit kam, wurde sie nicht anders behandelt wie eine Dirne.“ Im Theater erhalten Tänzerinnen keinen Lohn. Ihre einzige Chance, den Lebensunterhalt zu bestreiten, ist es, durch Tanz die Aufmerksamkeit und Gunst von Aristokraten und reichen Geschäftsleuten zu erlangen. „Die Künstlerinnen auf der Bühne haben in der Gesellschaft einen schlechten Ruf, durften nicht kirchlich begraben werden. Karoline Neuber, die Reformatorin der deutschen Schauspielkunst 1760 bei Dresden starb, untersagte der Pfarrer aufs strengste bei

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kommerziellen Vergnügungsort werden, erreicht der Ballerina-Kult im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt, vertreten durch Tänzerinnen wie Marie Taglioni, Fanny Eißler und Carlotta Grisi.44 Immerhin wird dadurch die Betrachtung des Bühnentanzes auf beide Geschlechter erweitert. Diese Weiterentwicklung regt die Theoretiker ebenfalls zu ästhetischen Reflexionen über die Tanzkunst an.

(3) Ideologisierbarkeit – Tanzkunst als eigenständige Kunstform Seit Beginn der Aufklärung verblasst die alte Hierarchie der Künste. Stattdessen befasst man sich mit Merkmalen und Darstellungsarten einzelner Kunstformen. Die Künste und ihre Verhältnisse zueinander werden nun abstrakt reflektiert, entsprechend dem Koselleck’schen ‚Kollektivsingular‘45, wie aus „Geschichte“ „Geschichte an sich“ wird. Mit der Neuorientierung der Künste gehen die Theoretiker nun analytisch an die einzelnen Künste. Es ist um 1750 das Zeitalter der Lexika und der ästhetischen Schriften. In Frankreich entsteht die Encyclopédie (1751) von Denis Diderot, in Deutschland das Universal-Lexikon (1731–1751) von Johann Heinrich Zedler. Für die Malerei entsteht die kunsttheoretische Schrift The Analysis of Beauty (1753) von William Hogarth, in der Literatur veröffentlicht Lessing seine Schrift Laokoon (1766). Zum Tanz verfasst der französische Tanzmeister Jean George Noverre ästhetisch-theoretische Briefe, Lettres sur la danse et sur les ballets (1760) und plädiert für das Dichterische im Ballett. Jean Georg Noverres Schriften sind für andere Kunsttheoretiker wie Johann Georg Sulzer aber auch wie August Wilhelm Schlegel der Anlass, um über die Ausdrucksmöglichkeit des Tanzes und dessen Verhältnis zu anderen Künsten nachzudenken. Vor dem Abschnitt 4 (Politisierung) wird im Folgenden die ästhetische Grundlage von Noverres Tanzreform und ihr Einfluss auf Sulzer und Schlegel skizziert und diskutiert.

ihrem Begräbnis das Öffnen der Kirchentüren und der Sarg mußte über die Kirchhofsmauer gehoben werden, um ein Plätzchen zu finden.“ Aretz, Gertrude: Die elegante Frau. Eine Sittenschilderung vom Rokoko bis zur Gegenwart. Leipzig/Zürich 1929, S. 59. 44 Siehe das Kapitel zu Heinrich Heines Der Doktor Faust. 45 Koselleck, Reinhart: Einleitung. In: Otto Brunner [u. a.] (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart 1979, S. XVII.

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Jean Georg Noverres Tanzreform Ballett war schon seit der Renaissance, wie bei den Medici in Italien, Bestandteil höfischer Feste. Durch den diplomatischen Austausch der Länder untereinander wurde es später zunehmend in Frankreich populär und entwickelte sich zu einer eigenständigen Aufführungs-Form. Ludwig XIV. der ein großer Tanzliebhaber war, erhob es zu einer hochstilisierten Kunstform. Er begründete 1661 eine Ballettakademie (Académie royale de danse) und stellte männliche und – ein absolutes Novum – weibliche Tänzer ein. Zuvor war die Tanzbühne, wie Theater, den Männern vorbehalten.46 Unter Ludwig XIV. entwickelt sich das Ballett zu einer Kunstform, welche die höfische Ordnung und Grazie zu präsentieren vermag. Allerdings werden hierzu die Bewegungen und Posen definiert, akademisiert sowie standardisiert und sollen sich einer geometrischen Ästhetik unterordnen.47 Zunehmend tritt im Ballett Mitte des 18. Jahrhunderts die Technik in den Vordergrund. Die Individualität der Tänzer wird auf einheitliche ‚pas de bras,‘ und ‚attitude‘ reduziert, die Aufführungen ähneln akrobatischen Gauklereien. Gegen diese Umstände wendet sich Jean Georg Noverre, ein gelernter Tänzer und Kenner des Ballett-Bewegungs-Kanons. Daher verfasst er Briefe über die Tanzkunst (Lettres sur la danse et sur les ballets 1760), in der Hoffnung, das ‚gestellte‘ Ballett mit seinen eintönigen Bewegungen und Melodien durch Natürlichkeit und erzählerische Inhalte zu erneuern.48 In diesen 15 Tanz-Briefen bringt Noverre zwei zentrale Gedanken zum Ausdruck: Erstens: Ein schönes Ballett ist die „Natur selbst“49. Auch die Geschwisterkünste wie Poesie und Malerei oder „der Tanz, sind, oder sollten wenigstens nichts anderes sein, als getreue Abbildungen der schönen Natur.“50 Diese auf-

46 Vgl. Becker-Cantarino, Barbara: Der lange Weg zur Mündigkeit: Frau und Literatur (1500– 1800). Stuttgart 1987. 47 Die fünf Fußpositionen zum Beispiel, welche auch beim Menuett verwendet werden, sind zurückzuführen auf die Systematisierung der guten und schlechten Fußpositionen, die von Pierre Beauchamp, dem Direktor der von Ludwig XIV. gegründeten Ballettakademie, entwickelt wurde. Pierre Beauchamps Schrift über die festgelegten fünf Fußpositionen wird 1700 von Raoul-Auger Feuillet publiziert. Die Füße sind bei allen fünf Fußpositionen auswärts gedreht und die Beine gestreckt. Diese Grundpositionen zeigen jedoch das Unnatürliche des klassischen Balletts, weil ein normaler Mensch nicht in der Lage ist, die Füße aneinanderzustellen und dabei die Fersen um 180 Grad nach außen zu drehen. Vgl. Dahlhaus, Carl und Sieghart Döhring: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Werke, Abbatini-Donizetti. München 1997, S. 212. 48 Tugal, Pierre: Jean-Georges Noverre. Der große Reformator des Balletts. Berlin 1959, S. 42. 49 Tugal, Pierre: Jean-Georges Noverre, S. 42. 50 Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, aus dem Französischen übersetzt. Hamburg/Bremen 1769, S. 36.

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klärerische Einstellung lässt sich als Prinzip der Nachahmung der Natur sehen, wie sie seit Platon und Aristoteles unter dem Begriff ,Mimesis‘ entwickelt wurde. Um die Natur im Tanz wiederzugeben, muss man Noverre zufolge jedoch nicht virtuos sein, im Gegenteil – er stellt sich gegen jederlei Schemenhaftigkeit. Die Tanztechnik bei Noverre sind einer Natürlichkeit untergeordnet und dienen einzig dazu, sich mit dem Körper ausdrücken zu können. Zweitens: Tanz braucht eine Erzählung. So argumentiert Noverre, das Ballett sei „eine Folge von Handlungen, eine Kette von Umständen“51 und eine Menge „von Augenblicken“52. Das Zusammensetzen der Choreographie ähnelt dem Zusammensetzen von Buchstaben zu Wörtern in der Dichtung. So wie die Buchstaben ihrer Reihenfolge entsprechend Wörter, Sätze und daraus schließlich einen schönen Aufsatz bilden, entsteht ein Tanz durch eine Abfolge der Körperbilder und Zusammensetzung von Bewegungsmustern. Noverre wünscht, dass der Handlung des Balletts das Dichterische innewohnen muss: „Eure Ballette müssen Gedichte sein“53, aber die Handlung darf nicht unwillkürlich ausgedacht werden, sondern es müssen „Gedichte [sein], deren Inhalt gut gewählt“54 ist. Nach Noverre muss die Handlung einer Tanzszene fließend, verständlich und logisch sein wie das Narrative einer Dichtung. Die Szenen sollen „untereinander verbunden“55 sein, entsprechend der Struktur eines Dramas, mit Einleitung, Entwicklung der Handlung und Schluss. Hier ist eine Parallele zu Lessings LaokoonTheorie zu finden. Den Tänzern fällt nun die Aufgabe zu, dem Publikum das Dichterische im Ballett nahezubringen. Noverre wünscht, dass die Tänzer das Ballett als mimetische Kunst behandeln und ihren Körper als Ausdrucksmittel verwenden: „Laßt also eure Figuranten und Figurantinnen nicht blos tanzen, sondern durch Tanzen reden und malen“56. Erst indem sie „Dichtung in dem Tanz“57 wiedergeben, beseelen sie diesen. Noverre beweist die Ausdruckskraft des Tanzes, indem er sein Konzept in seinen pantomimischen Balletten umsetzt, etwa in Medea und Jason (1763). Sein Einfluss zeigt sich noch in den nächsten Generationen, etwa in dem Ballettstück La fille mal gardee (1789), das von Jean Dauberval, einem seiner Schüler,

51 52 53 54 55 56 57

Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 36. Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 36. Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 46. Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 46. Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 95. Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 47. Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 43.

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am ‚Ballet de l’opéra‘ choreographiert wurde und bis heute häufig aufgeführt wird. Noverre betont einerseits das Dichterische im Tanz, andererseits aber auch das Tanzverständnis der Dichter. Auch wenn der Dichter, der ‚Urverfasser‘ der Handlung eines Ballettstücks, nur das Gerüst der Geschichte verfasst, muss er dennoch „beurtheilen, ob seine Handlung feurig vorgestellt wird, ob die Gemählde treffend, ob die Pantomimen wahr sind, und ob der Charakter des Tanzes dem Volke der Nation entspricht, welchen er vorstellen soll.“58 An dieser Stelle hält Noverre weder Tanz noch Dichtung für primär oder sekundär, sondern stellt sich vielmehr eine Kooperation der Künstler vor, durch die sich beide Künste gegenseitig harmonisch befruchten. Aufgrund der Herausstellung des Dichterischen in der Bewegung findet Noverre auch Resonanz bei Künstlern anderer Bereiche. So regt er den zu seiner Zeit wirkenden Komponisten Christoph Gluck an, ähnliche Reformen auch in der Musik umzusetzen und dem Inhalt vor der Technik den Vorrang zu geben.59 Umgekehrt findet Noverres Tanzreform auch in der Dichtung Beachtung; die Dichter beginnen, ihr Augenmerk auf den Tanz zu richten. So sind es keine Tanzmeister, die Noverres Briefe ins Deutsche übersetzt haben, sondern der Dichter Gotthold Ephraim Lessing und der Übersetzer Johann Joachim Christoph Bode.60 Dadurch werden Noverres Briefe von zeitgenössischen Literaten gelesen, darunter auch dem Weimarer Dichter Wieland. Er ist sehr angetan von Noverres Bejahung des ,Ballett d’action‘61 und zeigt seine Begeisterung durch Beiträge in Kokos und Kikequetzel und im Teutschen Merkur.62 Darüber hinaus verfasst Wieland selbst ein Libretto mit dem Titel Grazien, das von Noverre zur Ballettaufführung gebracht wird.63 Die Übersetzungsarbeit von Lessing und Bode sowie die Zusammenarbeit zwischen Wieland und Noverre kennzeichnen eine neue Epoche des Ineinandergreifens von Literatur und Tanz. Wie Noverres Tanzreform auf die literarische Welt wirkt, zeigt sich in einem Prozess der Reflexion über das Verhältnis

58 Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, S. 123. 59 Vgl. Dahms, Sibylle: Der konservative Revolutionär. Jean Georges Noverre und die Ballettreform des 18. Jahrhunderts. München 2010. Tugal, Pierre: Jean-Georges Noverre. Der große Reformator des Balletts. Berlin 1959, S. 46. 60 Ralf Stabel zufolge wurde Lessings Übertragung der Tanzbriefe ins Deutsche von seinem Freund Bode übernommen, denn die übersetzten „Briefe über die Tanzkunst“ tauchen zwar in Bodes Werkregister auf, aber nicht in Lessings. Vgl. Stabel, Ralf: Jean Georges Noverre. Briefe über die Tanzkunst. Neu ediert und kommentiert von Ralf Stabel. Leipzig 2010, S. 220. 61 Vgl. Monecke, Wolfgang: Wieland und Horaz. Böhlau 1964, S. 128. 62 Vgl. Sträßner, Matthias: Tanzmeister und Dichter. Literatur-Geschichte(n) im Umkreis von Jean Georges Noverre. Berlin 1994, S. 15 f. 63 Vgl. Sträßner, Matthias: Tanzmeister und Dichter, S. 15.

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zwischen dem Tanz und anderen Künsten, der schließlich in eine Neubewertung der Tanzkunst mündet. Ausschlaggebend dafür sind Johann Georg Sulzer sowie August Wilhelm Schlegel. Johann Georg Sulzers Betonung der ,ästhetischen Kraft‘ Johann Georg Sulzer gehört zu den frühsten Theoretikern, die die Begriffe „Tanz“, „Tanzkunst“ und „Tanzmusik“ als Stichwörter in Lexika aufgenommen haben. Beim Verfassen seiner Enzyklopädie Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771– 1774) setzt sich Sulzer – zeitnah zu Noverres Tanzbriefen – mit Tanz auseinander. Er hält die Tanzkunst für gleichwertig zu anderen Künsten und bezieht sich dabei auf die Entstehung der Künste. Den Tanz betrachtet er als eine der „ältesten Künste“.64 Allerdings datiert Sulzer die Entwicklung der szenischen Tanzkunst – abgesehen einmal von der Antike, mit der er sich wegen mangelnder Quellenlage nur bruchstückhaft befasst hat – auf die Mitte des 18. Jahrhunderts. Davor tauchen Tanzaufführungen entweder „als Zwischenspiele zwischen den Aufzügen“65 in den Opern oder als „ein besonderes Nachspiel“66 von Schauspielen auf, ohne jedoch irgendeine Verbindung zum Inhalt der Oper oder des Schauspiels zu haben. Deshalb benötigt die Tanzkunst, so Sulzer, einen „etwas ernsthaften Gesichtspunkt“67. Einen beispielhaften Aspekt sieht er in den Tanzbriefen Noverres. Sulzer zollt Noverre eine hohe Anerkennung und bezeichnet ihn als „Ballettmeister von wahrem Genie“68, dessen Briefe man „nicht genug empfehlen“69 kann. Er stimmt mit Noverre darin überein, dass der Tanz über ebenso viel Ausdrucksfähigkeit verfügt wie andere Künste. Als wortlose Kunst ist er nach Sulzer fähig, alle Empfindungen „durch Minen, Stellung und Bewegung“70 auszudrücken. Anstatt jedoch, wie Noverre, vom Tanz lediglich Empfindung zu erhoffen, bringt Sulzer darüber hinaus eine Interaktion ins Spiel, das ,Verhältnis zwischen Empfindung und Tanz‘. Empfindung regt Menschen an zu tanzen, wohingegen Tanz jede Empfindung weckt. Insbesondere beim Paartanz enthüllt er die „tiefsit-

64 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. In einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln abgehandelt. Vierter Theil, neue vermehrte Aufl. Leipzig 1787, S. 424. 65 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 422. 66 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 422. 67 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 420. 68 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 423. 69 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 422. 70 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 420.

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zende Zuneigung“71 zwischen zwei miteinander tanzenden Personen. Sulzer unterscheidet sich von Noverre zudem darin, dass Noverre den Dichter als Urheber einer Handlung und den Ballettmeister als ‚Bearbeiter‘ sieht. Der Ballettmeister übersetzt lediglich die Handlung in die körperliche Bewegung. Sulzer stellt den Ballettmeister hingegen auf die gleiche Ebene wie den Dichter, und jener vermag mit dem Dichter „um den Vorzug“72 zu streiten. Sulzer geht noch einen Schritt weiter als Noverre, denn er betrachtet Tanz nicht nur als Bühnenkunst, sondern auch als Mittel zur ästhetischen Erziehung. Denn an „Stärke der ästhetischen Kraft“ kann „keine Kunst die Tanzkunst übertreffen“73. Die Sulzer’sche ‚ästhetische Kraft‘ wohnt in Mimik, Gebärde, Stellung, Dynamik, Charakter und nicht zuletzt im Tanzrhythmus inne und unterscheidet Tanz als ästhetische Aktivität von reiner Leibesübung. Der Rhythmus darf nach Sulzer beim Tanzen nicht fehlen, weil er den Tänzern den klaren Takt vorgibt. Dem Publikum vermittelt der musikalische Rhythmus, „wie der Tanz zu einem Werk des Geschmacks“74 wird. Weiterhin betont er die Affinität des Tanzes zur Musik, jeden Tanz „müsste man [...] mit Musik begleiten“75, und „das Ohr vernimmt alles Metrische weit leichter, als das Auge“76. Sulzer genügt offenbar die Ausdrucksfähigkeit der Tanzkunst und deren Verbundenheit mit Musik nicht; er zielt auf die ästhetische Kraft der Tanzkunst, welche sich erst durch die Ausübung entfalten kann. Der Tanz hat allen anderen Künsten voraus, dass die Ausübung der Tanzkunst „eine weit größere Kraft“77 erhält „als irgendein anderes Werk der Kunst“78, weil der Körper darin als Instrument fungiert. Nur wer selbst tanzt, erlangt edle Empfindungen wie „Standhaftigkeit“, „Mäßigung“79 und wird dadurch erst „die volleste Kraft“80 erspüren. Selbst die Liebe der „Jugend gegen Aeltern“ verspricht er sich vom Tanzen. Neben der körperlichen Ertüchtigung befähigt Tanzen den Menschen dazu, Körperbewusstsein zu entwickeln, feine Empfindungen zu spüren und ästhetischen Sinn zu entwickeln. Dadurch betont er bereits ganz im Geiste der Aufklärung das selbstständige Denken und Tun.

71 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 420. 72 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 424. 73 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 423. 74 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 419. 75 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 419. 76 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 419. 77 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 419. 78 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 419. 79 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 420. 80 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 420.

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August Wilhelm Schlegels Abgrenzung der Tanzkunst Als August Wilhelm Schlegel sich in seinem Vorlesungsheft Die Kunstlehre (1801/1802) mit Noverre und Sulzer auseinandersetzt, zweifelt er an der grenzenlosen Ausdruckskraft des Tanzes. Schlegel klassifiziert dabei verschiedene Tanzformen und stellt die Tanzkunst neben die Skulptur, Architektur, Malerei, Musik und Poesie. Dabei unterteilt er die Künste in zwei Gruppen, nämlich in Raum- und Zeitkunst. Die Tanzkunst ist eine Synthese von Raum- und Zeitkunst, der zugleich Simultaneität (in der Raumkunst) und Sukzession (in der Zeitkunst) innewohnt. Ähnlich wie Sulzer, der den Tanz als ,älteste Kunst‘ betrachtet, bezeichnet Schlegel die Tanzkunst als „Urkunst“81. Er sieht den Tanz als Bestandteil des Lebens der Urvölker an, der eine Multifunktion hat – als pantomimisches Kommunikationsmittel, als Weg der ästhetischen Darstellung, als Motivation für Kriege und als Mittel der Liebeswerbung. Der Tanz gilt Schlegel auch deshalb als „Urkunst“, weil er in der Antike mit Musik und Poesie eine „unzertrennliche Einheit“82 gebildet hat. Aus dieser Einheit haben sich die anderen Künste entwickelt, insbesondere sei Tanz die „ursprünglichste unter allen sichtbar darstellenden Künsten“83 und sogar der Vorfahr der „bildenden Künste“84. Während Sulzer von der Affinität des Tanzes zur Musik spricht, stellt Schlegel dies als Abhängigkeit von der Musik heraus. Trotz des Titels „Urkunst“ stuft Schlegel den Tanz als „untergeordnete Kunst“85 ein, weil er „nie der Musik entraten“86 kann. Während Sulzer der Auffassung ist, dass Musik den Tanzenden den Rhythmus vorgibt, um die ästhetische Kraft sich entfalten zu lassen, schreibt Schlegel der Tanzmusik noch weitere Bedeutungen zu. Musik markiert den Anfang und das Ende des Tanzes, prägt seine Stimmung und verhilft ihm dadurch zu Verständlichkeit. Darüber hinaus betont Schlegel die pantomimische Seite des Tanzes und bezeichnet Verständlichkeit als allerersten Maßstab für die Beurteilung eines Tanzes. Am Beispiel der „griechischen Dramen“87 der Antike beweist Schlegel, dass der Tanz das Ziel verfolgt, dem Publikum „das durch bloße Gebärdensprache Verständliche“88 zu vermitteln. Wenn allerdings das Akrobatische im

81 82 83 84 85 86 87 88

Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 106. Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 230. Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 105. Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 106. Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 222. Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 109. Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 222. Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 222.

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Vordergrund stände und das Pantomimische im Tanz verdrängt würde, wäre dies eine „Verkennung der Grenzen“89. Auch wenn Schlegel das Pantomimische im Tanz in den Mittelpunkt rückt, sieht er eine Spannung im Verhältnis zwischen Körperbewegung und Empfindung. Er zweifelt daran, ob Körperbewegungen tatsächlich grenzenlose Ausdruckskraft besitzen, darin unterscheidet er sich von Noverre und Ausdruck durch den Handlungsaufbau reduziert wird „auf das Heroische, Dramatische, Pittoreske“90. Auch der Behauptung Sulzers, dass Empfindungen entsprechende Körperbewegungen erregen, steht Schlegel kritisch gegenüber. Dafür nennt er als Beispiel mystische Tänze, bei denen man „außer sich sein“ kann. Dass „der Geist hingerissen vom Taumel des Körpers, dieser wiederum von jenem“91 ist, entkoppelt hingegen die Empfindungen von den Körperbewegungen und erzeugt beim Tanz eine Synthese von körperlichem Schwindel und geistiger Illusion.92 Da Schlegel das Verständliche, das Pantomimische im Tanz für unverzichtbar hält, scheint er kein Freund von Gesellschaftstänzen zu sein, die der Geselligkeit einen Rahmen anbieten. Das Menuett in seiner pretiösen „Galanterie“93 sei steif und die englischen und schottischen Tänze hätten zu viel „Rohheit“94, urteilt er. Daher teilt er nicht Sulzers Plädoyer für die Tanzerziehung sowie die eigenständige Ausübung des Tanzes, die als Vorbereitung für die Aufnahme in die gehobene Gesellschaft gilt. Dieser Aufruf sei eine „gänzliche Verkennung“95 der Tanzkunst und ein falscher Versuch, „Moralität in die Tanzkunst zu bringen“96. Noverres direkter Einfluss auf Schriftsteller des 19. Jahrhunderts wird in der vorliegenden Arbeit am Rande verfolgt, aber sein Plädoyer für das Dichterische im Ballett wird als Ansporn genommen, statt die Dichtung im Tanz nun auch

89 Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 222. 90 Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 222. 91 Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 223. 92 Claudia Albert warf die Benennungsfrage zur Bewegung auf, um zu erläutern, dass die Definition hier doppeldeutig ist. Tanz symbolisiert die ursprünglichen und grundlegenden Elemente. Jedoch ist nicht jede Bewegung sprachlich zu definieren. Tanz- wie Sprachegebärden entwerfen „eine basale Modellvorstellung der zu verhandelnden Sache”, die sich jedoch „nicht durch einen wohl definierten Begriff ersetzen“ lässt. Damit meint Schlegel nach Alberts Interpretation, dass die mystischen Tänze beides in sich haben, sowohl Taumel als auch Geist. Vgl. Albert, Claudia: Bild, Symbol, Allegorie, Zeichen. Schlegels Ästhetik der Moderne. In: York-Gothart Mix und Jochen Strobel (Hg.): Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer-romantische Wissenswelten. Berlin 2010, S. 107–123. 93 Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 223. 94 Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 223. 95 Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 224. 96 Schlegel, August Wilhelm: Die Kunstlehre. Stuttgart [u. a.] 1963, S. 224.

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das Tänzerische in der Dichtung spüren zu lassen. Diese Tendenz wird im Laufe des 19. Jahrhunderts dominant, von Goethe, über Achim von Arnim bis E. T. A. Hoffmann und erreicht bei Heinrich Heine eine erweiterte Dimension.

(4) Politisierung – Der Tanz als Mittel politischer Anspielungen Auf den ersten Blick erscheinen Politik und Tanz vollkommen gegensätzlich. Die Diskussionen auf dem Verhandlungstisch einerseits und die körperlichen Interaktionen auf dem Tanzparkett andererseits scheinen zunächst einmal keine Verbindung miteinander zu haben. Sie bilden allerdings seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein spürbares Spannungsfeld. Dieses Spannungsfeld entsteht und vergrößert sich zugleich immer mehr, seitdem Künstler weniger von der Herrschaft abhängig sind und gar die Möglichkeit haben, sich in politische Bestimmungen einzumischen,97 und seitdem den Künsten Autonomie zugestanden wird. Dadurch vermögen die Künste nicht nur das politische System und die gesellschaftliche Ordnung auszudrücken, sondern dienen auch als Raum für Utopien und Zukunftsentwürfe, was nicht selten zur Provokation gegenüber der Politik führt. Nach Kosellecks Interpretation der Zeit von 1750–1850 treibt der „industrielle und soziale Umwandlungsprozess“98 das politische Engagement immer weiter voran. Dies bezeugen einige Wortschöpfungen, die auf den entsprechenden Zeitgeist hinweisen. Das Wortpaar ,Aristokrat – Demokrat‘ im späten 18. Jahrhundert steht dem Paar ,Reaktionär – Revolutionär‘ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber.99 Das letztere Wortpaar weist zum einen auf den

97 Unter diesem Aspekt sind Tänzerinnen, die zugleich Mätressen bedeutender Politiker sind, ein Beispiel für die enge Verbindung zwischen Tanz und Politik. An dieser Stelle sind einige namhafte Tänzerinnen zu nennen: Madeleine Guimard, Mätresse des Prinzen de Subise. Emma Hamilton, Ehefrau des britischen Botschafters Sir William Hamilton. Lola Montez, Geliebte König Ludwigs I. von Bayern. Vgl. Sorell, Walter: Der Tanz als Spiegel der Zeit. Eine Kulturgeschichte des Tanzes. Mit 203 Abbildungen. Wilhelmshaven [u. a.] 1985, S. 181, 230, 279–280. Die enge Verbindung zwischen Tänzern – vor allem Tänzerinnen – und Politikern schildert Heinrich Heine zum Beispiel in seiner Harzreise (1826). Siehe dazu das Kapitel zu Heinrich Heines Florentinische Nächte. 98 Koselleck, Reinhart: Einleitung. In: Otto Brunner [u. a.] (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 1. Stuttgart 1979, S. XVIII. 99 Vgl. Koselleck, Reinhart: Einleitung. In: Otto Brunner [u. a.] (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, S. XVIII.

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Zerfall der ständischen Gesellschaft hin, zum anderen auf politische Bewegungen, die unter zunehmender Beteiligung der Bevölkerung stattfinden.100 Die Vermutung klingt plausibel, dass die gesellschaftliche Position der Tanzenden sowie die beliebten Tanzformen politische Zustände widerspiegeln. Noch in den Tanzepisoden des 18. Jahrhunderts ist es üblich, dass der Erzähler vor allem herausgeputzte Paare aus der Oberschicht beim Tanz bewundert.101 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird die Aufmerksamkeit stattdessen allmählich immer stärker auf das Bürgertum und das Volk gelenkt.102 Auch die Tanzformen können etwas über die Macht der Herrschaft sowie die Stärke des Volks aussagen. Während Heinrich Heine zufolge der Raumweg des Menuetts in der Lage ist, die französische monarchische Ordnung wiederzugeben, sei der Cancan beziehungsweise der parodierte Cancan eine eindeutige Verhöhnung und Provokation der Politik durch das Volk, wodurch der Cancan auf die Liste der Zensur kommt.103 Der Tanz gewinnt in dieser Vormärz-Zeit noch an politischer Bedeutung in der Reaktion des Volkes auf die Entscheidung der Obrigkeiten.

100 Ein literarisches Beispiel wäre Heinrich Heines Satire zum Tanzbären, den er basierend auf Lessings und Gellerts Tanzbär-Fabel zweimal aufgegriffen hat, jeweils in Nordsee (1826) und im Epos Atta Troll (1847). Beim ersten Mal nimmt Heine anhand des Tanzbären den Adel aufs Korn und verspottet dessen Affektiertheit, beim zweiten Mal nimmt er die politisch engagierten Tendenzdichter ins Visier. Die Verlagerung der Kritisierten zeigt eine gewisse Politisierung der Gesellschaft auf. Siehe dazu das Kapitel zu Heines Atta Troll. 101 Zumindest bis 1800 nehmen Tänze der Adeligen und reicher, gebildeter Bürger in der Literatur unter den geselligen Tänzen den meisten Platz ein, von Sophie von La Rochs Sophie von Sternheim (1771) bis zu Dorothea Schlegels Florentin (1800). Das Phänomen schlägt sich auch in der Malerei nieder, etwa in Lancret Nikolas zahlreichen Tanzbildern. 102 Siehe dazu das Kapitel zu E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla (1820). Die Umkehrung der gesellschaftlichen Position – eine Näherin wird zur Prinzessin und ein Schauspieler zum Prinzen – gehört nicht nur zur märchenhaften Gestaltung Hoffmanns, sondern verdeutlicht auch das zunehmende Selbstbewusstsein der mittleren Schichten. Das Interesse an Tänzen im Volk zeigt sich zum Beispiel in Wilhelm Hauffs Das kalte Herz (1827) und Ludwig Tiecks Der junge Tischlermeister (1836) und nimmt mitsamt der Sammlung von Volksliedern und Volksmärchen zu. 103 Siehe dazu das Kapitel zu Heinrich Heines Atta Troll.

I Tanz als Seismograph des gesellschaftlichen Wandels

In der Sattelzeit vollziehen sich ökonomische, technische, soziale und wissenschaftliche Veränderungen mit großer Wucht. Neue Produktionsweisen, die zunehmende Bedeutung der Marktwirtschaft und vor allem aber der Geist der Aufklärung bestärkt das Bürgertum in seinem Selbstbewusstsein. Die Zugehörigkeit zu einem Stand wird nicht mehr nur einzig durch die Geburt bestimmt, sie wird auch durch Qualifizierung oder Vermögen möglich. Innerhalb des gesamten gesellschaftlichen Systems gibt es mehrere Bereiche, die eigenständig werden, wie Ökonomie, Wissenschaft und Kunst.1 Die Zeit wird schnelllebiger, etwa auch durch die verbesserten Transportmöglichkeiten, und damit schnellere Kommunikation durch Post oder Zeitung. Der Briefroman wird nicht zufällig gerade vor dem Hintergrund des Fortschritts der Kommunikationsmöglichkeit eine beliebte literarische Gattung. Die Textanalysen beginnen daher mit Goethes Briefroman Werther und einem fast unbekannten zeitgenössischen Skandalstück von Zachariae. Die Normenkonflikte sowie die Problemfelder zwischen Individuum und Konvention begleiten die sozialgeschichtliche Betrachtung der Tanzepisoden begleiten. Bei der Betrachtung der Tanzepisoden im kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext sind zwei Tanzformen samt ihrem gesellschaftlichen Rahmen nicht wegzudenken – Menuett und Walzer. Als um 1750 das Menuett noch als Ausdruck der höfischen Ordnung den Tanzsaal dominiert, treten bürgerliche Tänze, unter anderem der Deutsche, später Walzer genannt, an dessen Stelle. Der Wechsel der favorisierten Tänze stellt ein Medium par excellence für Umbrüche, Tendenzen und Innovationen dar, unter anderem für eine aufkommende bürgerliche Selbstbehauptung, eine neue sinnlich-natürliche und gar erotische Tanzpraxis.

1 Siehe Luhmanns Systemtheorie in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. https://doi.org/10.1515/9783110759815-002

1 „Der ganze Tanzsaal soll mit Schrecken untergehen!“ Der Tanz in Friedrich Wilhelm Zachariaes Der Renommist (1744) Julius Friedrich Wilhelm Zachariae,1 ein aufklärerischer Schriftsteller und ,Professor für Dichtkunst‘, der Mitte des 18. Jahrhunderts an der Universität Braunschweig lehrte, wurde lange Zeit als „Stiefkind literarhistorischer Forschung“2 betrachtet und seine Werke wurden nur am Rande berücksichtigt. Erst eine Braunschweiger Tagung aus dem Jahr 2018 befasste sich näher mit Zachariä.3 Dabei wurde sein Austausch mit bedeutenden Dichtern wie Gottsched und Lessing, Klopstock und Goethe, ebenso neu diskutiert wie seine Werke und Übersetzungen, nicht zuletzt sein in letzter Zeit zunehmend wieder diskutiertes Werk – Der Renommist, ein scherzhaftes Heldengedicht (1744). Sein bekanntestes Werk ist Zachariaes literarisches Debüt Der Renommist. Er verfasst das Heldengedicht während seines ersten Studiensemesters für Jura in Leipzig.4 Das Werk bekommt gleich die Anerkennung seines Lehrers, Johann Christoph Gottsched, und darf in der von ihm herausgegebenen Monatsschrift Belustigungen des Verstandes und des Witzes erscheinen. Auch Zachariae selbst hat offenbar eine besondere Vorliebe für dieses Werk. Dies wird daran deutlich, dass er – anders als bei seinen üblichen Publikationen – den Text mehrmals bearbeitet und auf dessen Neuausgabe hofft. Eine neue Ausgabe erscheint dann allerdings erst im Jahr 1840, lange nach Zachariaes Tod, versehen mit Theodor Hosemanns Illustrationen.5 Bei dem ,komischen Heldengedicht‘ oder dem komischen Epos – so lautet die Bezeichnung der Mitte des 18. Jahrhunderts neu aufgekommenen beliebten

1 Der Familienname Zachariae wird auch ,Zachariä‘ geschrieben. Die vorliegende Arbeit übernimmt die Schreibweise „Zachariae“, mit Ausnahme von Zitaten und Buchtiteln. 2 Zimmer, Hans: Just Friedrich Wilhelm Zachariae und sein Renommist. Leipzig 1892, S. 1. 3 Siehe dazu den von dem Braunschweiger Literaturwissenschaftler Cord-Friedrich Berghahn herausgegebenen Konferenzband, auf welchen in der vorliegenden Arbeit mehrmals verwiesen wird: Friedrich Wilhelm Zachariä. Studien zu Leben und Werk. Heidelberg 2018. 4 Nachdem Zachariae als Jurastudent in Leipzig immatrikuliert worden ist, beginnt er am Renommisten zu arbeiten. 5 Ingeborg Becker weist darauf hin, vor Hosemann habe Ferdinand Schröder für Den Renommisten 17 Zeichnungen verfertigt, was den Verlegern offenbar dilettantenhaft erschien, so dass Schröders Illustrationen nicht gedruckt wurden. Stattdessen wurden Hosemanns Illustrationen für die bisherigen Renommist Ausgaben verwendet. Vgl. Becker, Ingeborg: Theodor Hosemann (1897–1875). Ansichten des Berliner Biedermeier. Berlin 1981, S. 105–114. https://doi.org/10.1515/9783110759815-003

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1 „Der ganze Tanzsaal soll mit Schrecken untergehen!“

Gattung6 – handelt es sich um eine Parodie „des Epos der Form nach, dem Inhalt nach aber [um eine] komische oder satirische“7 Handlung. Somit fällt das komische Gedicht mit seiner Dissonanz zwischen der Form epischer Heldengeschichten, aber dem Inhalt aus banalen Geschehnissen eines normalen Bürgers aus den üblichen Genres heraus.8 Der pathetische Ton, der sich in Epen findet, ist mit Ironie und Spaß vermischt. Auf diese Weise kennzeichnet das Heldengedicht Zachariae als Pionier einer neuen literarischen Gattung. Für sein komisches Epos – in Anlehnung an die komischen Gedichte des britischen Dichters Alexander Pope – findet er einen ganz eigenen humoristischen und satirischen Schreibstil. Daraufhin findet sein Renommist Anerkennung als das ,erste deutsche komische

6 Die Autoren der französischen und englischen komischen Epopöe im 18. Jahrhundert, unter anderem der Franzose Nicolas Boileau und der Engländer Alexander Pope, haben die deutschen Dichter angeregt, den Stil des ,mock-heroic poem‘, nachgeahmte heroische Epen, auf den deutschen literarischen Markt zu bringen. Boileau hat 1674 La Lutrin auf Französisch verfasst, das ab 1730 von Gottsched übersetzt wurde. Pope veröffentlichte Rape of the Lock 1711 auf Englisch. Die deutsche Übersetzung Popes mit dem deutschen Titel „Lockenraub“ durch Frau Gottsched entstand 1744. Hier ist anzumerken, dass es schon vor Zachariae einige deutsche komische Epopöen gab. Nennenswert ist Johann Christoph Rosts komische Epopöe Die Tänzerin (1741). Zur Gattung des komischen Heldengedichts siehe Hans Zimmers Ausführung und die als Standardwerk geltende Studie Ulrich Broichs. Vgl. Zimmer, Hans: Just Friedrich Wilhelm Zachariae und sein Renommist. Leipzig 1892, S. 37–43. Broich, Ulrich: Studien zum komischen Epos. Ein Beitrag zur Deutung, Typologie und Geschichte des komischen Epos im englischen Klassizismus. 1680–1800. Tübingen 1968. Die Gattung komischen Gedichte tragen zugleich den Namen „komisches Epos“. Vgl. Petzet, Erich: Die deutschen Nachahmungen des Popeschen „Lockenraubes“. Ein Beitrag zur Geschichte des komischen Epos in Deutschland. In: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte, 4 (1891), S. 409–433, hier S. 409–411. 7 Mit dieser knappen, aber triftigen Zusammenfassung definiert der Historiker Georg Gottfried Gervinus Zachariaes „komische Epopöe“. Gervinus, Georg Gottfried: Historische Schriften. Bd. 5. Geschichte der deutschen Dichtung IV. Leipzig 1840, S. 109. 8 Wie beliebt komische Gedichte als Gattung waren – so waren die Werke von Alexander Pope in Deutschland sehr willkommen und wurden oft rezipiert, belegt Anett Lüttken anhand von Herders Beobachtung der Nachahmungs-Welle in Deutschland. Dabei bedauert Herder offenbar nicht, dass eine gewisse deutsche Originalität fehlt, sondern zeigt Verständnis für die deutsche offene Haltung: „Der poetische Himmel Britanniens hat mich erschreckt. Wo sind unsre Shakespare, unsre Swifts, Addisons, Fieldings, Sterne? […] Kurz, wir kamen zu spät. Und weil wir so spät kamen, ahmten wir nach: denn wir fanden viel Vortreffliches nachzuahmen.“ Zit. nach Lüttken, Anett: „An artful sneer should appear through the whole work“ – Facetten des humoristischen Schreibens im Werk Zachariäs. In: Cord-Friedrich Berghahn [u. a.] (Hg.): Justus Friedrich Wilhelm Zachariä. Studien zu Leben und Werk. Heidelberg 2018, S. 139–162, hier S. 147. Siehe auch Burkhard Moennighoffs Auflistung der komischen Epen, die zeitgleich mit Zachariaes Renommisten entstanden sind und ähnlich wie Der Renommist scherzhaft und satirisch

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Gedicht‘9 und wird somit zu einem Meilenstein der Literaturgeschichte.10 Inhaltlich wird das Werk hauptsächlich als Abbild des Sittenlebens der Universitätsstädte Jena und Leipzig geschätzt. Goethe prophezeit dem Renommisten eine langlebige Bedeutung für die Sittengeschichte: „Zachariä’s ,Renommist‘ wird immer ein schätzbares Dokument bleiben, woraus die damalige Lebens- und Sinnesart dem Rezipienten anschaulich hervortritt“11. Goethes Einschätzung, Zachariae protokolliere das Kulturleben wie ein Historiker, wird von den meisten nachfolgenden Rezipienten bis in die heutige Zeit übernommen. So schreibt zum Beispiel Herbert Frenzel in den 1970er Jahren in Daten deutscher Dichtung, Zachariaes Renommist sei ein „Wertvolles Dokument aus dem Universitätsleben und Kulturbild der galanten sächsischen Verfeinerung.“12 Er pointiert dabei, dass Zachariae sich auf die Zielgruppe Studenten konzentriert und dabei eine Universitätslandschaft malt, insbesondere das Bild den Charakter des Leipziger Rokoko-Kavaliers gegenüber dem Jenaer ,Renommisten‘ ins Bild setzt. Zachariae bezeichnet den Helden seines komischen Gedichts als ‚Renommisten‘, einem Synonym für „Prahlhans“ und „Aufschneider“. Er schreibt diesem Begriff noch weitere Konnotationen zu: Rohheit, Wildheit und ungepflegtes Aussehen, ganz im Gegensatz zum Begriff ,Stutzer‘, denn dieser achtet beson-

eingefärbt sind. Vgl. Moennighoff, Burkhard: Intertextualität im scherzhaften Epos des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1991, S. 57. 9 Otto Bessenrodt stellt zum 200. Geburtstag Zachariaes heraus, dass Zachariaes Der Renommist ein „literarisches Ereignis“ in das Jahr 1744 hineinbrachte: „Eine im deutschen Schrifttum wohl bereits bekannte, aber keineswegs anerkannte Dichtungsgattung wurde eingeführt, das scherzhafte Heldengedicht. Franzosen und Engländer hatten dergleichen schon längst. […] Hier erschien nun mit einem Mal ein Zeit- und Sittenbild.“ Bessenrodt, Otto: Friedrich Wilhelm Zachariä. Zur zweihundertjährigen Wiederkehr des Geburtstages des thüringischen Dichters. Gotha 1926, S. 5 f. 10 Franz Muncker, der ein Buch zum Umfeld Zachariaes herausgegeben hat, stimmt Zimmer zu, indem er den Renommisten als das ,erste erfolgreiche komische Heldengedicht‘ preist. Muncker, Franz: Bremer Beiträge. Bd. 2. Rabener, Cramer, Schlegel, Zachariä. Berlin 1889, S. 184. Auch Hans Zimmer, der 1892 in Leipzig zu Zachariae promovierte, stimmt Muncker zu, dass die literaturgeschichtliche Bedeutung des Renommisten größer als dessen poetologischer Wert sei. Zachariae bewirkt für die Gattung des komischen Heldengedichts einen Wandel von Tier- zu Menschenmotiven. Somit ist es in komischen Epopöen nicht mehr üblich, dass Tiere typisch für das Lächerliche stehen. Vgl. Zimmer, Hans: Just Friedrich Wilhelm Zachariae und sein Renommist. Leipzig 1892, S. 40–48. 11 FA 14, 277. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil. Sechstes Buch. Goethe lernt Zachariae 1767 kennen, als dieser zur Ostermesse nach Leipzig fuhr. Nach dessen Abreise widmet Goethe Zachariae gleich ein Gedicht, siehe Ode an Herrn Professor Zachariae (gedruckt 1777) (FA 1, 65). 12 Frenzel, Herbert und Elisabeth: Daten deutscher Dichtung, chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Von den Anfängen bis zur Romantik. 11. Aufl. Köln 1975, S. 169.

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ders auf seine Erscheinung, seine Frisur und Kleidung sowie auf ein höfliches und repräsentatives Benehmen.13 Anhand des Begriffspaars, Renommist und Stutzer, stellt Zachariae einen Vertreter der Jenaer Studenten den Leipziger Stutzern gegenüber. Der Renommist Raufbold – dessen Name ans Raufen erinnert – randaliert auf einem Ball in Leipzig und tritt zusammen mit seinen ehemaligen Jenaer Mitstudenten provokativ auf, um die damalige sich am französischen Vorbild orientierende Leipziger Mode zu kritisieren. Die Leipziger Gesellschaft versucht vergebens, Raufbold durch den Reiz einer schönen Frau, Selinde, zur Welt der Stutzer zu bekehren. Allerdings, als Raufbold wie ein Stutzer gekleidet und Selinde gegenüber erste Versuche von Galanterie zeigt, wird ihm statt ihres Interesses nur ihr Spott zuteil. Voller Enttäuschung sucht er seine Traumfrau auf einem primitiven Weg zu erobern, indem er seinen Nebenbuhler zum Duell fordert. Er verliert und muss Leipzig verlassen – seine Barbarei erweist sich als der Feinheit und Geschicktheit der Leipziger Stutzer unterlegen. Der Held scheitert in der Stutzerwelt – und somit fällt „der Name Renommist“ „in ew’ge Schande“14, so heißt es im Schlusssatz des Epos. Zachariae hebt in diesem Heldengedicht durch die Gegenüberstellung der Leipziger Normen, für die die Göttin Galanterie und ihr Gefolge stehen, und des ungezügelten „Abnormen“ in Jena, vertreten durch Raufbold, den gesellschaftlichen Kontrast hervor.15 Dies darf allerdings nicht so verstanden werden, als

13 Als der Pädagoge und Autor Werner Klose einen Artikel zum Thema „Bart- und Haarmode in verschiedenen Zeiten“ verfasst, verweist er auf Zachariaes Renommisten und auf das Begriffspaar „Renommist“ und „Stutzer“: „Im 17. Jahrhundert teilten sich die Haarlager der akademischen Jugend in ,Stutzer‘ und ,Renommisten‘. Die Stutzer kamen aus adligen und großbürgerlichen Häusern und gaben an Universitäten wie Göttingen und besonders Leipzig den Ton an. […] Im Gegenlager der studentischen ,Stutzer‘ ließen die grobschlächtigen ,Renommisten‘ die Mähnen und die Bärte um so wilder wachsen. Sie beherrschten als militante Rauhbeine die Universitäten Halle, Jena und besonders Gießen […].“ Klose vergleicht die Konfrontation zwischen den Renommisten und den Stutzern mit einem Klassenkampf zwischen adeligen sowie großbürgerlichen Familien und kleinbürgerlicher oder bäuerlicher Herkunft, keineswegs jedoch mit einer Rivalität der beiden Universitätsstädte. Quelle des Zitats: Klose, Werner: Die Frisur macht ruhiger. Eine Geschichte des laugen Haares. Funktionen des Bartes. In: Die Zeit am 24.10.1969. (Nr. 43). URL. https://www.zeit.de/1969/43/die-frisur-macht-ruhiger/komplettansicht (20.07.2021). 14 Zachariä, Friedrich Wilhelm: Der Renommist. Ein scherzhaftes Heldengedicht. Mit Federzeichnungen von Theodor Hosemann. Leipzig 1989, S. 80. 15 In seiner Interpretation des Textes meinte Becker, Zachariae greife den barocken Typ „Grobianus“ für die Darstellung des Studentenlebens mit all seinen Gegensätzen auf. Becker meint, der elegante Stutzer Sylvan sei eine Verkörperung von Zachariaes idealen Werten. Raufbold sei hingegen für Zachariae ein heroisches Kriegerideal, aber ebenfalls spöttisch dargestellt. Vgl. Becker, In-

1.1 Das Kulturleben in Jena und Leipzig

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ob er das Leipziger Kultivierte als Überlegenheit ansehen und den Jenaer Studenten eine moralische Lehre erteilen würde, ganz im Gegenteil. Besonders in der Ball-Episode aus dem zweiten Gesang verzichtet Zachariae nicht darauf, den pathetischen und epischen Ton auf eine satirische und gar saloppe Ebene zu verlagern. Durch Komik gelingt es ihm, die einzelnen Figuren so zu gestalten, dass diese in ihrem Auftreten zwiespältig erscheinen. Die Welt der Stutzer wird lächerlich gemacht, indem Zachariae sie in einem Umfeld zeigt, welches von Falschheit und oberflächlicher Schönheit geprägt ist. Die Renommisten gewinnen demgegenüber Authentizität durch ihr raues, aber unverfälschtes Auftreten. Er lässt jeder Gruppe ihre Diskrepanz und lässt seine Komik sowohl der Polarität der beiden Gruppen als auch der Einheit einer Gruppe innewohnen. Solche inhaltlichen Vorkehrungen, Wendepunkte und Gegenüberstellungen stehen der Form gegenüber, einem einheitlichen Metrum, dem Alexandriner, der dieses Gedicht durchläuft.16 Die Ball-Episode verwendet er als Auslöser für die allererste Konfrontation zwischen den Leipziger Stutzern und Jenaer Renommisten. Darauf basierend entfaltet Zachariae seine Gesellschaftssatire einerseits gegenüber einer inhaltsleeren Galanterie und andererseits gegenüber einer authentischen Barbarei. Dabei vermag die Ball-Episode nicht nur einen kulturhistorischen Blick auf das Tanzleben zu liefern, etwa Tanzordnung, -mode, -requisiten und die Bedeutung des Tanzes als kulturelle Aktivität für das Alltagsleben, sondern sie dient Zachariae auch als Möglichkeit, die andere Seite der Medaille zu betrachten und die Realität durch seine Satire zu enthüllen. Im Folgenden wird die Ball-Episode unter der Fragestellung betrachtet, wie Tanz die besondere ,Lebens- und Sinnesart‘ der damaligen Zeit wahrnehmbar macht und inwiefern die gesellschaftlichen Normen in tänzerischer Atmosphäre nachklingen.

1.1 Das Kulturleben in Jena und Leipzig Bereits kurz vor Zachariaes Studienzeit ist der Unterschied zwischen den beiden Universitätsstädten so stark spürbar, dass sein künftiger Lehrer, Johann Christoph Gottsched, es für nötig hält, ihn zu dokumentieren. So schreibt Gottsched in Die vernünftigen Tadlerinnen (1725): „Ein schwarzes eisernes Gefäß ist das

geborg: Theodor Hosemann (1897–1875). Ansichten des Berliner Biedermeier. Berlin 1981, S. 111. Auch Florack, Ruth: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in Deutscher und Französischer Literatur. Stuttgart [u. a.] 2001, S. 137, 324. 16 Vgl. Moennighoff, Burkhard: Intertextualität im scherzhaften Epos des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1991, S. 41. (Palaestra: Untersuchungen zur europäischen Literatur).

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Kennzeichen eines Jenensers […] ein kleiner Galanteriedegen dagegen ist das Kennzeichen eines Leipzigers“.17 Mit den Bildern von zwei Metallgegenständen veranschaulicht Gottsched zum einen den groben Jenaer Charakter, und zwar durch das Bild eines schweren ,eisernem Gefäß‘ und zum anderen die feine und kultivierte Leipziger Lebensart, in der das Fechten mit leichten und polierten Degen als sportliche Disziplin verbreitet ist. Somit weist Gottsched darauf hin, dass Leipzig kulturelle Aktivitäten anbietet, wozu Jena vermutlich nicht in der Lage ist.18 Leipzig, eine Handels- und Studentenstadt, ist im 18. Jahrhundert eine florierende und kulturelle Stadt.19 Dank ihres kommerziellen Aufschwungs sind Zeitungs- und Buchverlagswesen hochentwickelt, so dass die Bürger über aktuelle Trends und Mode gut informiert sind. Dort sind Kompetenzen wie das Beherrschen von Fremdsprachen sowie gute Manieren erwünscht, damit sich Geschäfts- und Gesprächspartner wiederum einer gepflegten Etikette bedienen können. Einige Daten könnten hier aussagekräftig in Bezug auf die Anforderungen des kulturellen Lebens sein: Im Adressbuch Leipzigs 1721 sind dreizehn französische, drei italienische und drei englische Sprachlehrer, zwei Ballmeister sowie zwei Bereiter eingetragen, die damals in Leipzig tätig sind. Zugleich sind an der Universität Leipzig sogar Hofmeister angestellt, damit die Studenten bereits in jungen Jahren durch eine sittliche Erziehung zum eleganten Benehmen gezähmt werden.20 Zachariae selbst hielt sich nicht über einen längeren Zeitraum in Jena auf. Seine Grundannahme, Jenaer Studenten hätten rohe Manieren und seien bei weitem nicht mit den Leipzigern vergleichbar, basiert zum größten Teil auf den mündlichen Erzählungen seines Onkels. Er registriert dabei, wie unterschiedlich und kontrastvoll die Städte sich in kultureller Hinsicht entwickeln. Dazu wählt er die Figur Raufbold, um den Unterschied zwischen Jena und Leipzig zu charakterisieren, an einigen Stellen vermutlich in übertriebener Form. Einige handfeste Daten können als Belege für Zachariaes Übertreibung dienen. 1) Jena 17 Gottsched, Johann Christoph: Die vernünftigen Tadlerinnen. Hamburg 1748, S. 206. 18 Siehe Max Bauers Vergleich zwischen Leipzig und Jena im 18. Jahrhundert am Beispiel von Gottscheds Die vernünftigen Tadlerinnen und Zachariaes Der Renommist. Bauer, Max: Sittengeschichte des deutschen Studententums. Nachdr. der Ausg. Dresden 1926. Schernfeld 1991, S. 190–203. 19 Um 1700 hatte Leipzig noch 20.000 Einwohner, um 1750 betrug die Einwohnerzahl bereits 30.000. Die rasante Zunahme der Bevölkerungszahl war das Resultat des wirtschaftlichen Reizes, den Leipzig damals ausübte. Preisendörfer, Bruno: Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit. Köln 2019, S. 124. 20 Vgl. Brandsch, Juliane und Andreas Herzog (Hg.): Das literarische Leipzig. Kulturhistorisches Mosaik einer Buchstadt. Leipzig 1995, S. 78.

1.1 Das Kulturleben in Jena und Leipzig

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hatte als eine der 28 Universitätsstädte Deutschlands um 1750 eine vergleichbare Anzahl an Studenten wie Leipzig und verfügte ebenfalls über einen angestellten Tanzmeister. Einer dieser Tanzmeister war Louis Bonin, welcher die französische Tanzkultur durch seine Tätigkeit am Weimar-Eisenacher Hof bekannt machte,21 dann folgte Johann Blankenberg, der als Universitäts-Tanzmeister registriert wurde.22 2) Selbstverständlich sind nicht alle Jenaer Studenten ganz so wild und roh wie der Renommist aus Zachariaes Feder. Das passt zumindest nicht zu der Perückenpflicht, die offenbar allgemein eingehalten wurde.23 3) Zachariae notiert den Unterschied zwischen der Wirtschaft und dem Bildungsstand in der Großstadt Leipzig, in der sogar ein Wirt fremdsprachige Sprüche beherrschte, und der kleinen Stadt Jena, wo ein solcher Fall nirgends zu beobachten war. Insgesamt mag der Jenaer Charakter vom derben Ton geprägt gewesen sein, der Leipziger hingegen von feiner Art.24 Ob Zachariae durch den Kontrast der bei21 Schroedter, Stephanie: Vom „Affect“ zur „Action“. Quellenstudien zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cour bis zum frühen Ballet en Action. Würzburg 2004, S. 62. 22 Dazu Edmund Kelters Erläuterung zu 26 Jenaer Stammbuchblättern, die vermutlich 1740 entstanden sind im Zusammenhang und Vergleich zu Zachariaes Renommisten. Er pointiert die Tanzlust der Jenaer Studenten und ihre Lernmöglichkeit beim Tanzmeister, mit einem Stammbuchblatt als Beleg, in welchem Tanzstunden dokumentiert sind. Kelter, Edmund: Jenaer Studentenleben zur Zeit des Renommisten von Zachariae. Nach Stammbuchbildern aus dem Besitze des Hamburgischen Museums für Kunst und Gewerbe. Hamburg 1908, S. 16, 35, 38. 23 Edmund Kelter macht den wirtschaftlichen Unterschied zwischen Jena und Leipzig insbesondere in dem Kapitel „Besuch Leipzigs“ deutlich, wobei sich dieser Besuch auf die Studenten bezieht. Vgl. Kelter, Edmund: Jenaer Studentenleben zur Zeit des Renommisten von Zachariae, S. 54 f. 24 Das Jenaer Studentenleben des 18. Jahrhunderts war offenbar geprägt von Sauf- und Rauflust, wie es in einigen biographischen Berichten dargestellt wird, nachzulesen in der zeitnah (1752) publizierten Autobiographie des Frühaufklärers Johann Christian Edelmanns. Darin verwendet er bereits den Begriff „Renommist“ und verbindet „den Renommisten“ mit rauer Fechtlust, wie sie in Jena verbreitet war: „Ich habe alle Eilf dergleichen unglückliche Exempel, Zeit meines Daseyns erlebet, und zwar von lauten Erzfechtern oder sogenannten Renommisten, die alle von weit ungeübten über den Haufen gestochen, und […] beraubet wurden. […] Wenn es also nach dem Sprichwort geht, wer von Jena kommt ungeschlagen, der hat von Glück zu sagen, habe ich […] wirklich Glück zu sagen.“ Quelle des Zitats: Edelmann, Johann Christian: Selbstbiographie. Geschrieben 1752. Hg. v. Carl Rudolph Wilhelm Klose. Berlin 1849, S. 38 f. Johann Christian Edelmanns Eindruck von der Jenaer Rohheit scheint weder eine Ausnahme noch ein flüchtiges Dokument zu sein. Als Edmund Kelter das Jenaer Studentenleben vergegenwärtigt, greift er auf eine Autographie des Schriftstellers Friedrich Christian Laukhard (1757–1822) zurück, in der der gleiche Eindruck beschrieben wird. Anders als Edelmann rechtfertigt allerdings Friedrich Christian Laukhard die Jenaer Rohheit: „Der Ton der Jenenser behagte mir sehr: Er war bloß durch mehrere Roheit von dem der Gießer unterschieden. Der Jenenser kannte – wenigstens damals – keine Komplimente: feine Sitten heißen Petitmäterei, und ein derber Ton gehörte zum rechten Komment. Dabei war der Jenenser nicht beleidigend, grob oder impertinent. Viel-

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den Städte eine Geographie der Charaktere verschiedener Städte entwirft, ohne diese zu beurteilen, ist anhand des Heldengedichts zu diskutieren.

1.2 Die ,Stutzerwelt‘ und ihre Scheinwelt Zachariae positioniert in dem „längsten Saal der Stadt“ (18), der „nicht weit vom Markt“ (18) entfernt liegt, einen Ball. Es lässt sich leicht assoziieren, dass der Ballsaal aufgrund seiner Größe und seiner zentralen Lage als eines der wichtigsten und vielbesuchten Tanzlokale gilt. Auch die Ausstattung hinterlässt durch ein „Stolzes Dach“ (18) und eine „Langgestreckte Fensterreihe“, volle Wände mit „Kunst und Pracht“ (18) zunächst einen glänzenden Eindruck. Der Ball dauert bis zu der „Morgenröte Blick“ (17). Somit dokumentiert Zachariae hier, dass ein Ball im 18. Jahrhundert abends beginnen kann und bis zum nächsten Morgen dauert.25 Auf diesem Ball verkehren Besucher, die zur „junge[n] Stutzerwelt“ (18) gehören, welche großen Wert auf die Wirkung ihres Auftritts legt, was allerdings nicht dem Narzissmus, sondern der „süße[n] Lust“ (18) geschuldet ist. Zachariae deutet mit Spott an, wie der Tanz aufgrund seiner berauschenden Wirkung die Menschen dazu bringt, neue Liebesbeziehungen anzuknüpfen. Treue Liebe tritt hier zurück, manche „Braut“ (18) verliert hier „den Kranz“ (18), „manches schöne Kind“ wird „vom sanften Triebe“ (19) besiegt. Bei genauer Betrachtung fallen allerdings Widersprüche auf, und die Pracht des Saals sowie die äußeren Erscheinungen der Ballteilnehmer erweisen sich als fraglich und täuschend. Die Säulen im Tanzsaal sind zwar Nachahmungen des

mehr zeigte sich viel Trauliches und Dienstfertiges in seinem Betragen. Ich habe hernach den viel feinern Ton in Göttungen und den superfeinen Leipziger kennen gelernt. Da lobe ich mir denn doch meinen jenischen.“ Zit. nach: Kelter, Edmund: Jenaer Studentenleben zur Zeit des Renommisten von Zachariae. Nach Stammbuchbildern aus dem Besitze des Hamburgischen Museums für Kunst und Gewerbe. Hamburg 1908, S. 13. 25 Zu Zachariaes Zeit, zumindest bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, ist es üblich, dass ein Ball eine ganze Nacht dauert. Dies findet seine Bestätigung häufig in Briefen und Tagebüchern – zum Beispiel in einem Bericht vom Wetzlarer Ballerlebnis Goethes – Archetyp für den Roman Die Leiden des jungen Werthers. Dort schreibt der Mitbesucher, Goethes Freund Johann Christian Kestner, in seinem Tagebuch: „Man hatte sich abends mit der Kutsche oder zu Pferd dorthin begeben und kehrte am nächsten Morgen wieder zurück.“ Zit. nach Gloël, Heinrich: Goethes Wetzlarer Zeit. Bilder aus der Reichskammergerichts- und Wertherstadt, Nachdr. der Ausg. Wetzlar 1999 [Berlin 1911], S. 173. Diese Sitte ist noch im 19. Jahrhundert erhalten und zum Beispiel in E. T. A. Hoffmanns Tagebuch vom 01.02.1813 festgehalten: „Abends auf den Ball bis 4½ Uhr“. Quelle des Zitats: Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 1. Frühe Prosa, Briefe, Tagebücher, Libretti, Juristische Schrift. Werke 1794–1813. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt am Main 2003, S. 446.

1.2 Die ,Stutzerwelt‘ und ihre Scheinwelt

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griechischen Stils, jedoch sind sie statt aus Marmor mit preiswertem „grobem Sandstein“ (21) bezogen und können somit den Blick „angenehm“ (18) täuschen. Die mindere Qualität hinter all dem Glanz wird weiterhin bei dem „Götterapparat“ deutlich, unter anderem der Göttin Galanterie, welche die „alte deutsche Welt fein und gesittet macht“ (21). Somit wählt Zachariae die Göttin Galanterie zur ,Königin‘ des Balls, und zwar nicht nur, um die Einflüsse der Galanterie, der höflichen Manieren zu betonen, sondern mit dem aus dem Französischen stammenden Wort ,galant‘ weist er auch auf die hohe Bedeutung des ,Galantseins‘ in Leipziger Geselligkeiten hin. Hier sind abermals Die vernünftigen Tadlerinnen (1725) zu nennen, in denen Gottsched seinen Spott über das offensichtliche Modewort ,galant‘ nicht verhehlt: Man hört unter uns nicht nur von galanten Mannspersonen und galanten Frauenzimmern; sondern von galanten Hunden, Pferden, Katzen und Affen. [...] In der Küche und Wirthschaft höret man oft von einem galanten Ragout, Fricasse, Hammel- und Kälberbraten.26

Zachariae karikiert amouröse, manchmal auch außereheliche Erlebnisse. Er enthüllt den pejorativen Nebensinn der Galanterie, welche als Thema häufig in galanter Dichtung um 1700 vorkommt, als moralisch anstößig.27 Er lässt die Göttin Galanterie „mit Lieb’ und Treu und Frauentugend“ (21) spielen und die Lust in den Vordergrund treten. Auch ihr Tanzrequisit, einen Fächer, enthüllt Zachariae als Instrument des Flirts. Die Göttin Galanterie antwortet mit einem Faltfächer auf ihre Anbeter und deren Aufforderung zum Tanz „zum Tod und Leben“ (21). Ein solcher Fächer, ursprünglich aus China stammend, hat europäische Höfe im Laufe des 17. Jahrhunderts erobert.28 Die höfischen Damen zeigen mit diesem Requisit für Geselligkeit ihre Ab- oder Zuneigung, insbesondere anhand verschiedener Möglichkeiten der Handhabung wie Fächeröffnung, -schließung und der Art des Haltens.29 Eine solche ,codierte‘ Fächersprache wird im Laufe des 18. Jahrhun-

26 Gottsched, Johann Christoph: Die vernünftigen Tadlerinnen. Hamburg 1748, S. 79. 27 „Galante Dichtung“. In: Metzler Lexikon Literatur. Begründet von Günther und Irmgard Schweikle. Hg. v. Dieter Burdorf [u. a.], 3. Aufl. Stuttgart 2007, S. 260. 28 Däberitz, Ute und Lutz Ebhardt: Sonnenfächer und Luftwedel. Die Fächersammlung Herzog Augusts von Sachsen-Gotha-Altenburg. Gotha 2007, S. 10. 29 Es ist durchaus möglich, dass die französische Kultur Eingang in das bürgerliche Leben Leipzigs findet, erstens aufgrund der Stadt Leipzig als einer der bedeutendsten Handelsmetropolen, zweitens aufgrund zunehmender Nobilitierung finanzkräftiger Leipziger Bürger. Vgl. Ignasiak, Detlef: Nachwort. In: Friedrich Wilhelm Zachariä. Der Renommist. Ein scherzhaftes Heldengedicht mit Federzeichnungen von Theodor Hosemann. Leipzig 1989, S. 82 f.

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derts in Deutschland Mode, und häufig wird ein Tanzkurs von einem Kurs für die Fächersprache begleitet.30 Parallel zur Göttin Galanterie gestaltet Zachariae auch ihr Gefolge mit satirischem Ton, insbesondere bei der Mode. Die Moden aus jeder Stadt werden hier durch Nymphen verkörpert, die der Göttin Galanterie folgend in den Tanzsaal treten. Zachariae verwendet hier weiterhin die wörtliche Bedeutung der ,Mode‘ Stil in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Ort, um auf die Kleidungskultur verschiedener Städte anzuspielen. Er stuft die Leipziger Mode zu einer stetigen „Nachahmerin“ (22) herab, „französisch halb, halb deutsch“ (22). Damit ironisiert er die Konfrontation zwischen dem galanten und dem vornehmen Französischen und dem unzivilisierten Deutschen, die in Leipzig stattfindet. Aus dieser Konfrontation ist kein neuer schöpferischer Stil entstanden, sondern vielmehr „eine Pythia von den Provinzialen“ (22), berauscht in der scheinbaren 30 Wie verbreitet das Erlernen einer Fächersprache unter Studenten war, kann ein Auszug aus dem 1790 verlegten Buch Versuch einer Menschenlehre, sich selbst und andere Leute kennen zu lernen bezeugen. Dort, in der 14. Lehre, erzählt eine Mutter, dass ihr Sohn gegen Geld das Fächermachen und die Fächersprache lernt. Sie berichtet, dass ihr Sohn „der Fächermacherin für fünfmonatliche Lehre 8 Louisdors bezahlt, ohne was er ihr extra für die Zubehörde ausgelegt hat. Und, was wird ihn wohl die Fächersprache, die er auch bey ihr gelernt hatte, gekostet haben? Von dieser finde ich nichts im Konto, und er sagt doch, daß er auf sie viel Geld verwendet habe. Ich wollte sie von ihm reden hören. Er gab mir aber zu verstehen, daß ich solche zu fassen, oder lernen zu können zu alt wäre, indem es eine Gedankensprache sey, und das verstände ich nicht.“ Das Beispiel beweist, dass eine kollektive Fächersprache in der Generation der Mutter nicht existiert, sondern erst gegen Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommt. Darüber hinaus sei die Fächersprache eine „Gedankensprache“, die der Sohn nicht mit Worten zu übersetzen vermag. Quelle des Zitats: Anonym: Versuch einer Menschenlehre, sich selbst und andere Leute kennen zu lernen. Dargestellt in einer Reihe historisch-moralisch-satyrischer Gespräche zur Belehrung und Unterhaltung von I. T. A. und O. 2. Aufl. zweiyter Theil. Kempten 1802, S. 53 f. Dadurch, dass das Erwerben der Fächer sowie das Erlernen der Fächersprache eine Kostenfrage darstellt, kann die ,Fächersprache‘ ebenfalls als Geheimcode eines inklusiven Kreises angesehen werden. Dies findet seinen literarischen Beweis sogar noch bis Ende des 19. Jahrhunderts, am Beispiel eines Lustspiels namens Fächersprache aus der Feder des Wiener Librettisten Leo Stein, welches „die Gegenwart“ einer „deutschen Stadt“ zeigt. Darin unterrichtet die Salondame Amelie ihre Kammerzofe Lotte in einigen Beispielen, wie eine Frau mit einem Fächer „kokettiert“. Dabei definiert sie die Fächersprache als vereinbarten Code, den man entschlüsseln kann: „Siehst Du, man nimmt dieses unscheinbare Ding in die Hand macht es zum Werkzeug jener Gedanken und Gefühle, die man nicht in Worten verrathen will. Ein ganzes A. B. C. steckt darin, man muß es nur zu lesen und zu sprechen versteh’n. […] Ich ergriff den Fächer und öffnete ihn. (Thut es). So, dann hob ich ihn langsam und hielt ihn vor dem Gesicht. Die Augen blieben über dem Fächer. (Thut es.) So. Das heißt: ,Ich beobachte Dich.‘ […] Dann öffnete ich ihn halb und lehnte ihn an die Herzseite. Das bedeutet: ,Du gefällst mir‘.“ Quelle des Zitats: Stein, Leo: Fächersprache. Lustspiel in einem Aufzuge. Berlin 1891, S. 5. (Dieses Lustspiel feierte seine Premiere 1891 im Theater Josefstadt).

1.3 Renommisten und ihre Authentizität

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Eleganz mit ländlichem Ton. Am Beispiel der Leipziger Mode ironisiert Zachariae, dass ihre Haube halboffen bleibt und „aus dem Gesicht flieht“ (23), ihre „Perlenschnur“ (23) bloß „schön von Wachs gemacht wird“ (23), und der Blumenbusch, künstlich aus Seide hergestellt, ihre Brust in falscher „Frühlingspracht“ (23) zeigt. Es fehlt der Leipziger Mode an Originalität und dem richtigen ästhetischen Sinn, und dadurch wird sie zum Zerrbild der französischen Eleganz. Zachariae begnügt sich jedoch nicht damit, die dilettantenhafte Nachahmung der Leipziger Stutzer bloßzustellen. Er sieht auch ein blindes Nachverfolgen der modischen Strömung, an denen, er „Leipzigs holde Damen“ (23) sich orientieren lässt. An mehreren Stellen erinnert Zachariae den Leser daran, „den Blick“ (18) nicht täuschen zu lassen, sondern die Figuren „mit scharfem Blick“ (26) zu betrachten. Die durch die Ballausstattung sichtbar gemachte Stutzerwelt stellt deren Wohlstand heraus. Damit einher geht jedoch ein widersprüchliches Muster des Benehmens, etwa die dilettantenhafte Nachahmung der französischen Adelskultur, sowie die spielerische und gelegentlich moralisch anstößige Liebe, nicht zuletzt auch eine Verlogenheit im ständigen Zwang sich zu präsentieren. Solche Widersprüche stellt Zachariae besonders beim Götterapparat eine Gruppe von ,Komplimenten‘ (26) heraus, welches vorne „die Schmeichelei im Glücke“ (26) zeigt, aber hinten „die Falschheit und die Tücke“ (26). Hinter dem Glanz des Balls enthüllt er die physische Wirkung des Tanzes und hinter der Präsentation die erotische Komponente: Und manches schönes Kind, besiegt vom sanften Triebe, Hebt die erhitzte Brust und glüht von Tanz und Liebe. (21)

1.3 Renommisten und ihre Authentizität Während der Leser noch in der feierlichen Stimmung des Balls versunken ist, wendet sich Zachariae abrupt den Renommisten zu, deren „plötzliches Geschrei“ (25) durch „Musik und Paukenschall“ (25) gellt. Während Zachariae bei den Leipziger Stutzern noch deren optische Wirkung herausstellt, richtet er nun die Aufmerksamkeit auf die akustische Auffälligkeit der Renommisten.31 31 Zachariae gestaltet im Renommisten an mehreren Stellen akustische Wirkungen, etwa „wenn sich Liebe härmet“ (18), „Wie manches niedre Wort ist an mein Ohr gedrungen!“ (26). Somit verbindet er das Versmaß Alexandriner mit der Musikalität der Wörter. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass Zachariae selbst ein „in der Musik ausübender Kenner“ sei. Quelle des Zitats: Eschenburg, Johann Joachim: Uber des Verfassers Leben und Schriften. In: Hinterlassene Schriften von Friedrich Wilhelm Zachariä. Braunschweig 1781, S. XX. Darüber hinaus wird Zachariaes Musikalität in der Dichtung von Musikern erkannt. Mehrere Gedichte wurden von Telemann ver-

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1 „Der ganze Tanzsaal soll mit Schrecken untergehen!“

Gleich beim Eintritt in den Saal kündigt Raufbold sein Vorhaben an und verwendet dabei Imperative, welche den Zweck seiner Erscheinung hervorheben – Frauen aufzufordern und die ,Stutzer‘ zu vertreiben: Wir sind zwar hier zum Tanz nicht eingeladen, Doch folgt mir alle nach und fordert, so wie ich Das erste Mädchen auf; der Teufel hole mich! Schlägt mir das Mensch es ab, so sollt ihr Wunder sehen, Der ganze Tanzsaal soll mit Schrecken untergehen! (24)

Raufbolds machohafte Aufforderung und die saloppe Wortwahl bei dem Fluch „der Teufel hole mich!“ (24) und „das Mensch“ (24) konturieren seinen Charakter – spontan, unbefangen, aufbrausend, wild und unkultiviert. Seine Verhaltensweise kontrastiert mit derjenigen der Stutzer und bezeugt seinen Trotz, da sich Raufbold bewusst ist, dass der Ball die Stutzerwelt als geschlossene Gesellschaft ansieht und ihn somit ausgrenzt. Umso mehr verspürt er nun den Drang, zu beweisen, dass auch er die Berechtigung hat, ,doch‘ (24) eingeladen zu sein, ,das erste Mädchen‘ als Tanzpartnerin zu haben und seine ,Konkurrenten‘, die Stutzer, zu erschrecken. Um das Ziel zu erreichen, zeigt Raufbold seine barbarische Art und wertet das Ergebnis vermutlich sogar als Erfolg. Bereits bei seiner Ankunft beginnt er, den Verlauf des Balles zu bestimmen, indem er mit seinen Kameraden die Leipziger Stutzer zur Flucht veranlasst. Das wilde „Geschrei von Raufbolds vollen Brüdern“ (23) unterbricht die heitere Stimmung des Balls und verängstigt zugleich die Tanzgruppe. Den Tanzenden entfällt „auf einmal aller Mut“ (24), den ,Göttern‘ ebenso: Die Göttin Galanterie ist verstört „von Furcht“ (24), und die Mode sieht „voll Unmut, Furcht und Angst“ (24) zu Boden. Sogar der Leipziger Schutzgott Lindan, der für Leipzigs Sicherheit kämpft, ist nicht in der Lage, Raufbolds störendes und provozierendes Eindringen in den Saal zu verhindern. Auf einmal ist „der Saal von so viel Schönen leer“; er bekommt zwar kein Mädchen, aber er triumphiert über sein „Siegeszeichen“ (25): „Schnupftuch, Blumenstrauß und halbzerrissne(n) Streifen“ (25), halb zerfetzte Manschetten und Schleifen. All diese Tanzrequisiten weisen darauf hin, mit welcher Eile und in welchem Gedränge die Stutzer fliehen. Raufbold und seine Kameraden sind zwar ,Gäste‘ und zudem nur zu viert, aber sie vermögen allein mit ihrem Geschrei und dem stürmischen Auftritt die

tont und sein zweites komische Epos wurde als Singspiel verarbeitet. Vgl. Urchueguia, Cristine: Zachariäs Schnupftuch als komisches Singspiel: Chronik eines Fiskos, mit einem Seitenblick auf die braunschweigische Theaterbühne. Poetzsch, Ute: Telemanns Vertonungen von Dichtungen Friedrich Wilhelm Zachariaes. (beide Aufsätze) In: Cord-Friedrich Berghahn [u. a.] (Hg.): Justus Friedrich Wilhelm Zachariä. Studien zu Leben und Werk. Heidelberg 2018, S. 269–306, S. 369–380.

1.4 Konfrontation zweier Sitten im Tanz

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Gastgeber zu ,entmachten‘. Als „Raufbold und sein Heer“ (25) die ,Gastgeber‘ des Balls werden, tanzen sie triumphierend „mit sich selbst“ (25) Dieser Triumph hat zwar mit dem ursprünglichen Zwecke nichts mehr gemein, lässt sie sich jedoch mit ausgelassener Freude austoben. Raufbolds Eindringen in den Leipziger Tanzsaal mit ,Geschrei‘ kann als Parodie eines heroisch-militärischen Kampfes betrachtet werden. Das zeigt sich auch in der Metrik. Der durchgängige Alexandriner im Renommisten erinnert sprachrhythmisch an tragisch-heroische epische Vorlagen, kontrastiert mit seinem seriösen Rahmen jedoch erstens mit einem alltäglichen, gar banalen Abenteuer, und zweitens mit einer brachialen Raub-Tat als ,Heldentat‘. Der Widerspruch zwischen der Form und dem Inhalt bildet eine ,Fallhöhe‘ zum Helden entsprechend der üblichen Erwartung. Der sprachlich wohlklingend vermittelte Heroismus bildet den Hintergrund für Raufbolds Einbruch in den Tanzsaal und beweist Zachariaes Geschick zur Distanz und Karikatur seinem Helden gegenüber.

1.4 Konfrontation zweier Sitten im Tanz Zachariae lässt nicht ohne Grund die Renommisten und die Stutzer im Ballsaal in direkter Konfrontation aufeinandertreffen. In dieser Szene verdichtet sich der Konflikt zwischen den beiden Grundeinstellungen. Sprachlich lässt er seiner Phantasie freien Lauf, um den Konflikt durch die Beschreibung von Körperreaktionen und Körperbewegungen aussagekräftig zu gestalten. Der Kontrast zwischen dem Draufgängertum der Renommisten und der Ängstlichkeit der Stutzer gipfelt (den Rezipienten) in einer dramatischen Flucht-Bewegung. Den Moment, in dem der Gast Raufbold zum Gastgeber wird, stellt der Berliner Karikaturist Theodor Hosemann dar (Abb. 1), als er 1840 den Renommisten illustriert.32

32 Die 1840er Ausgabe des Renommisten ist hier nennenswert, weil sie neben hinzugefügten Illustrationen als erste selbstständige Ausgabe gilt, die nicht in einer Zeitschrift oder Sammlung von Zachariäs sämtlichen Schriften erschien. Darüber hinaus spielt der Herausgeber dem Leser einen Streich, indem er unter dem Pseudonym des bereits knapp 70 Jahre zuvor verstorbenen „Justus Zachariä“ ein Vorwort in Knittelversen schreibt, um sich durch Paarreime dem poetischen Stil Zachariaes anzuschließen. Dort würdigt der Herausgeber den Illustrator Theodor Hosemann und sieht dessen stilistische Ähnlichkeit mit dem britischen Karikaturisten William Hogarth auf einer künstlerischen Ebene. So könnte das Missverständnis entstanden sein, der verstorbene Autor selbst habe Hosemanns Illustration anerkannt. Darüber hinaus ordnet der Herausgeber Hosemanns Illustration Worte im sarkastischen und schalkhaften Stil zu: „Mit attischer Feinheit scharf gemessen, / Ist auch das Kleinste nicht d’rin vergessen. / Sarkastisch lebendig spiegelt sich ab, / Was kaum der Dichter andeutend gab.“ Diese lobenden Worte stellen die künstlerische Leistung Hosemanns heraus und enthalten zugleich die Erkenntnis, dass der Illustrator

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1 „Der ganze Tanzsaal soll mit Schrecken untergehen!“

Abb. 1: Theodor Hosemanns Illustration zu Zachariaes „Der Renommist“. In: Zachariä, Friedrich Wilhelm: Der Renommist. Ein scherzhaftes Heldengedicht. Leipzig 1989, S. 19.

Hosemann den Dichter Zachariae interpretiert und ,das kaum Andeutende‘ in seiner malerischen Schöpfung offensichtlich darstellt. Quelle des Zitats: Zachariae, Justus Friedrich Wilhelm: Der Renommist. Ein scherzhaftes Heldengedicht. Mit einleitendem Vorworte von Justus Zachariä, mit acht sarkastischen Federzeichnungen von Hosemann. Berlin 1840, S. XII.

1.4 Konfrontation zweier Sitten im Tanz

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In Abb. 1 hält Hosemann den Moment fest, als die Renommisten in den Saal eindringen und die Stutzer verscheuchen. Dabei macht er den Kontrast der Sitten – den zentralen Gedanken im Renommisten, als Bildrahmen anhand der Tanz-Accessoires deutlich. Im unteren Teil des Bildrahmens befinden sich jeweils auf beiden Seiten die kennzeichnenden Requisiten. Links stehen modische Absatzschuhe, eine Perücke sowie bebänderte Schmuckdegen (als Ausstattungen) der Stutzer, rechts hohe Stiefel und blanke Degen, die übliche Bekleidung der Renommisten. Darüber hinaus lässt Hosemann erkennen, dass Zachariae einerseits den Kontrast im Rahmen des Balls als Konflikt zuspitzt und dass andererseits das Ringen um Zuwendung des weiblichen Geschlechtes ein Bindeglied zwischen der Gruppe der Stutzer und derjenigen der Renommisten darstellt. So positioniert er einen Fächer und den Liebesgott Amor in die Mitte, wo die Degen sich berühren, um auf diesen Aspekt zu verweisen. Allerdings kommt auch zum Ausdruck, dass hier im Rahmen des Balls mit zwei ganz unterschiedlichen Formen um Liebe geworben wird: mit der galanten Präsentation durch die Stutzer, die zwar der gesellschaftlichen Norm entspricht, jedoch äußere Fassade ist, sowie mit dem Abnormen, dem unzivilisierten, jedoch authentischen Verhalten der Renommisten. Liebesverlangen wird im Laufe der Handlung zu einem Grund dafür, dass Raufbold einwilligt, sich in die Rolle eines Stutzers zu versetzen, um eine schöne Frau zu beeindrucken. Zachariae lässt keinen Zweifel, dass das Versprechen der Leipziger Stutzer, dass Raufbold nur binnen „zwo Stunden“ (52) „ganz galant“ (52) sein werde, als Ironie zu verstehen ist. Während dieser Zeit tauscht Raufbold seine äußere Erscheinung gegen eine Stutzer-Erscheinung, indem er eine neue Frisur und einen „französisch aufstaffieret[en]“ Hut bekommt und nicht zuletzt „weiße“ (53) Handschuhe, die er vom Geist „Tanz“ (53) erhält. Hier treibt Zachariae den Hohn zum Höhepunkt, indem er die Stutzer in ihrer Überheblichkeit glauben lässt, unter Galanterie seien lediglich eine prachtvolle Erscheinung und ,sittsame‘ französische Floskeln zu verstehen. An Raufbolds ungehobelter Verhaltensweise verändert sich natürlich nichts: „Der neue Stutzer niest, und das Gemach schallt wider.“ (53) Trotz seiner Kostümierung als Stutzer bleibt er ein unzivilisierter Renommist. Zachariae benutzt einen Ball mit seinen dazu gehörenden Requisiten, Mode, kulturvollem Benehmen und Tanzhabitus um die Sitten wiederzugeben. Er gibt sich als Augenzeuge einer Zeit, in der die Leipziger Bürger sich Mitte des 18. Jahrhunderts durch umfangreichen Handel und Gelderwerb die französische Kultur zu eigen machen und Leipzig einen Ruf als ,Klein-Paris‘ genießt. Am Beispiel der Stadt Jena gestaltet er hingegen, wie deren Gesellschaft gleichzeitig eine ,nordische‘ Rohheit innewohnt. In dieser Konfrontation sieht er nicht nur die ,Gefahr‘ eines sich zuspitzenden Konfliktes, sondern verdeutlicht auch die kulturelle Ent-

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1 „Der ganze Tanzsaal soll mit Schrecken untergehen!“

wicklung insbesondere die Veränderung der Sitten. Er beschreibt in zwei Gesängen nach der Ball-Episode, wie die Leipziger Götter Raufbold zu bekehren versuchen. Das heißt jedoch nicht, dass Zachariae die Leipziger Sitten favorisiert. Er entlarvt zwei extreme Verhaltensweisen, die Scheinheiligkeit und die Raubeinigkeit. Die ,eleganten‘ Stutzer karikiert er als oberflächliche Nachahmer der französischen Kultur, die angebliche Authentizität der Renommisten verspottet er in ihrer deutschen barbarischen Rohheit, die sich als ungeeignete Manier für eine kultivierte Gesellschaft erweist. Damit charakterisiert Zachariae die Zeit und differenziert auch innerhalb des Bürgertums. Dabei lässt er aber die Frage offen, in welcher Richtung sich die deutschen Sitten entwickeln.

2 „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt“. Die Tanzabfolge in Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) Während der Tanz bei Zachariae und bei Lenz auktorial erzählt wird, eröffnet Goethe in seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) eine neue Perspektive. Der Protagonist Werther erzählt seinem Freund Wilhelm von seinem Ballerlebnis, bei dem er selbst tanzte. Da Werther seine Emotionen selbst erzählt, entfällt die Distanz durch einen Erzähler.1 Werthers doppelte Identität – als Schreiber und Tänzer zugleich – kennzeichnet ein komplementäres Verhältnis zwischen Dichten und Tanzen. Dadurch wird der Keim des engen Verhältnisses zwischen Literatur und Tanz spürbar.2 Werther widmet dem Ball den längsten all seiner Briefe. In der Ballszene werden drei verschiedene Tanzformen ausgeführt. Dabei ist die Reihenfolge bemerkenswert: Menuett – Kontratanz – Walzer – wiederum Kontratanz. In dieser Entwicklung vom Menuett über den Kontratanz bis hin zum Walzer sieht die Literaturwissenschaftlerin Lucia Ruprecht eine Anpassung an die historische Entwicklung der Tänze.3 Falls diese Aussage zutrifft, ergibt sich jedoch ein Widerspruch, da der Ball nicht mit einem Walzer endet, sondern der Tanz vom Walzer wiederum zum Kontratanz zurückgeführt wird. Daher lässt sich vermuten, dass Goethe – ein Tanzkenner, der zudem häufig selbst tanzt – hier nicht nur die Entstehungszeiten der Tänze anklingen lässt, sondern den Charakter der drei Tänze und deren kulturgeschichtliche Bedeutung nutzt, um auf den Handlungsablauf im Werther hinzudeuten.

1 Vgl. Huber, Martin: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800. Göttingen 2003, S. 116. 2 Vgl. Neumann, Gerhard: „Tanzen muß man sie sehen!” Der Walzer in Goethes Werther. In: Jeschke, Claudia und Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung. Berlin 2000, S. 138–153. Amtstätter, Mark Emanuel: Beseelte Töne. Die Sprache des Körpers und der Dichtung in Klopstocks Eislaufoden. Thübingen 2005, S. 157–162. 3 Wozu Goethe mit Die Leiden des jungen Werthers kulturgeschichtlich beigetragen hat, sei nach Lucia Ruprecht die Reihenfolge der Tänze zu ordnen: Menuett – Kontertanz – Walzer. Die drei Tanzstile werden in der Realität des 18. und 19. Jahrhunderts oft nebeneinander gepflegt. Wie Lucia Ruprecht in ihrer Arbeit dargelegt hat, verdeutlicht Goethe durch die Abfolge der drei Tänze jedoch deren Charakter, der ihre Emotionalität und gesellschaftliche Akzeptanz entsprechend prägt. Vgl. Ruprecht, Lucia: Werthers Walzer. Tanz als kulturelle Kodierung von Liebe und Intimität. In: Goethe-Jahrbuch, 128/2012 (2011), S. 44–59, hier S. 46. https://doi.org/10.1515/9783110759815-004

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2 „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt“

Von dieser Vermutung ausgehend, sind mehrere Fragen lohnenswert. Wie nutzt Goethe die kulturgeschichtliche Seite der Tänze, um auf Werthers Empfindungen sowie auf gesellschaftliche Normen hinzudeuten? Wie setzt er Tanz und Literatur in Beziehung, so wie er Tänzer und Schreiber in der Figur des Werther aufeinander bezieht? Was sagt die Ballszene über die Tanzkultur zu Goethes Zeit aus? Bei dem Versuch, mögliche Antworten auf die obigen Fragen zu finden, müssen die Tänze aus der Ballszene einerseits in ihrem historischen Kontext, andererseits im Zusammenhang mit Goethes persönlichen Tanzerlebnissen betrachtet werden, zumal der Werther auf biographischen Erlebnissen gründet.

2.1 Ball auf dem Land Die Ballszene im Werther ist eine Verflechtung von fiktionaler Dichtung sowie Wahrheit, basierend auf Goethes Tanzerlebnis in einem Jagdhaus (heute eines der zahlreichen Goethe-Häuser) bei Wetzlar am 09.06.1772. Dort lernt Goethe Charlotte Buff kennen, die bereits mit Johann Christian Kestner verlobt ist. Das Ereignis des Balls wird in Kestners Tagebuch erwähnt: Am 09. Juni war ein Ball zu Volpertshausen, einem Dorfe zwei Stunden (à deux lieues) von Wetzlar. 25 Personen nahmen Teil. Man begab sich abends im Wagen und zu Pferde dorthin, und man kehrte am nächsten Morgen zurück.4

Einige Szenen finden sich im Werther wieder: Goethe holt Charlotte Buff zum Ball ab und lernt am Tag nach dem Ball ihre Häuslichkeit kennen.5 Der Ball wird ebenfalls „auf dem Lande“6 in einem „Jagdhause“ (38) veranstaltet.7

4 Dieser Abschnitt wurde in Französisch verfasst und von Gloêl ins Deutsche übersetzt. Zit. nach Gloël, Heinrich: Goethes Wetzlarer Zeit. Bilder aus der Reichskammergerichts- und Wertherstadt, Nachdr. der Ausg. Berlin 1911. Wetzlar 1999, S. 173. 5 Annette Johanna Schneider argumentiert im Hinblick auf Lottes doppelte Rolle in der Häuslichkeit, dass diese Doppeldeutigkeit Werther in eine Schwellensituation bringt, die ihn verwirrt. Einerseits ist sie die große Schwester, andererseits tritt sie aber auch als Mutter auf. Vgl. Schneider, Annette Johanna: Idylle und Tragik im Spätwerk Goethes, Frankfurt am Main 2009, S. 47. 6 FA 8, 25. (Die Leiden des jungen Werthers 1774) Alle Zitate aus Goethes Die Leiden des jungen Werthers werden zur Anschaulichkeit in diesem Kapitel im fließtext mit Seitenzahl in Klammern angegeben, ohne dass die Abkürzung „FA“ und die Bandzahl vorherstehen. Es wird durchgehend die Fassung A (Erstfassung von 1774) berücksichtigt. 7 Die Veranstalterin des Balles, Goethes Großtante Frau Hofrat Susanne Lange, wird in Werther jedoch nicht erwähnt. Vermutlich möchte Goethe die verwandtschaftliche und absichtliche Verkopplung vermeiden, um das Treffen Werthers mit Lotte als ein zufälliges zu gestalten.

2.1 Ball auf dem Land

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Dass der Ball auf dem Lande stattfindet, ist nicht beliebig, sondern verweist auf die Präsentation und Organisation der oberen Schichten bei ihren Vergnügungen. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts – mit dem Denken und Lebensstil des modernen Adels und Bürgertums in der Sattelzeit – ist es in Mode, die in der Natur gelegenen Gartenhäuser als Jagdhaus, Teehaus und Ballhaus als Treffpunkt für Geselligkeiten zu nutzen. Ein Ball im Jagdhaus, isoliert in der Natur, verkörpert die Gedanken zur Harmonie von Mensch und Natur. Es bedeutet zum einen eine Stiländerung der Adeligen von Pracht und Protz hin zu Naturfreundlichkeit und Genügsamkeit, andererseits begünstigt das Streben nach schlichten Gartenhäusern eine Verringerung der Distanz zwischen dem Adel und der Oberschicht des Bürgertums.8 Das Bürgertum als aufstrebende neue Schicht zwischen Adel und Bauern imitiert inzwischen den Adel und hebt sich vom übrigen Volk ab, wie Werther kritisiert, „als glaubten sie [ihren Stand] durch Annäherung zu verlieren“ (18). Wenn ein Ball in einem einsamen, außerhalb der Stadt gelegenen Haus stattfindet, verkündet er dadurch zugleich den gehobenen Status der Teilnehmer. Im Vergleich dazu unterscheiden sich die Vorbereitung und die Ausstattung auf dem Ball deutlich von dem ländlichen Tanz der Bauern, wie Goethe ihn später in Faust I schildert: Der Schäfer putzte sich zum Tanz, Mit bunter Jacke, Band und Kranz, Schmuck war er angezogen. Schon um den Linden Und alles tanzte schon wie toll.9

Der Bauerntanz in Goethes Faust findet im Freien um den Lindenbaum herum statt. Der Ball im Werther wird hingegen in einem Haus veranstaltet, wo Musik im „erleuchteten Saal“ (46) „entgegen schallte“ (46). Die Accessoires der ländlichen Tanzenden – bunte Jacke, Band und Kränze – passen zu dem freudigen bäuerlichen Hintergrund. Hingegen symbolisieren Lottes „Handschuhe und […] Fächer“ (40) als Requisiten die Wertigkeit des Standes. Während der obige Schäfer im Faust am Tanz der Bauern ohne besonderen Aufwand teilnehmen kann, gehört Werthers Empfang „am Schlage“ (46) der Kutsche zu den exklusiven Umgangsnormen für eine bürgerliche Tanzveranstaltung.

8 Siehe dazu Oesterle, Günter: Skizze einer Kulturgeschichte des kleinen Gartenhauses. In: Fischer, Hubertus (Hg.): Reisen in Parks und Gärten. Umrisse einer Rezeptions- und Imaginationsgeschichte. München 2012, S. 65–78, hier S. 69–72. 9 FA 7/1, 52. (Faust I, vor dem Tor. V. 949–953).

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2 „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt“

2.2 Menuett – Präsentation der Tanzkunst Der Ball im Werther beginnt mit einem Menuett, einem streng stilisierten Tanz, der eher ästhetischen Genuss als unmittelbare zwischenmenschliche Gefühle verwirklicht. Wie der Name ,pas menu‘ bereits sagt, tanzt man hier mit kleinen zierlichen Schritten. Dabei geht der Körperkontakt nicht über das Händereichen hinaus. Dabei sollte das Händereichen „nur mit den Fingerspitzen geschehen“10, wobei zusätzlich noch Handschuhe getragen werden. Eine Episode aus Johann Christoph Rosts komischer Geschichte Die Tänzerin (1741) bezeugt, dass Handschuhe hier ein unverzichtbares Requisit sind. Auf einem Ball fällt die Hauptprotagonistin, die schöne Philinde, bei einem Menuett in Ohnmacht. Der Grund dafür klingt heutzutage absurd: Sie ist erschrocken, weil ihr Tanzpartner keine Handschuhe trägt und sie mit bloßen Händen berührt.11 Das Menuett, welches mit Anmut, Würde und Ruhe verbunden ist, findet zu Goethes Zeit seinen Zugang zur europäischen Oberschicht, deren bürgerliche Angehörige sich anfangs in vielem am Adel orientieren und ebenfalls wie Adelige zu präsentieren wissen.12 Blicken wir vier Jahre vor die Veröffentlichung des Werther zurück, so sehen wir, wie die von Goethe verehrte Sophie von La Roche das Menuett in ihrem Briefroman Fräulein von Sternheim (1771) mit einer Präsentation verbindet. Die Anmut beim Menuett zeichnet die Titelfigur aus der Gesellschaft der gehobenen Schicht aus. So erzählt sie ihrer Freundin mit Stolz: Ich fand bei dem Tanzen, daß es nicht für alle vorteilhaft ist, daß der Ball sich mit Menuetten anfängt, weil dieser Tanz so viel Anmut in der Wendung und so viel Nettigkeit des Schritts erfordert, daß es manchen Personen sehr schwer fiel, diesen Gesetzen Genüge zu leisten. Den außerordentlichen Beifall, den ich erhielt, führte mein Herz auf ein zärtliches Andenken meiner teuren Eltern zurück, die unter andern liebreichen Bemühungen für meine Erziehung auf das frühzeitige und öftere Tanzen betrieben.13

La Roche betont hier die Tatsache, dass das Menuett unzählige Übungen und langjährige Tanzerziehung erfordert, was inzwischen auch für das reiche Bürgertum finanziell leistbar ist. Diese hohen Ansprüche an das Menuett finden bei

10 Vgl. Taubert, Karl Heinz: Das Menuett. Geschichte und Choreographie, Tanzbeschreibungen, Notenbeilage, Bilder zu Tanz- und Kulturgeschichte. Zürich 1988, S. 112. 11 Rost, Johann Christoph: Die Tänzerinn. Berlin 1741. 12 Wie Achim Geisenhanslüke anmerkte, ist der höfische Tanz eine nach außen gerichtete Repräsentation, die den individuellen Wunsch verschlingt. Vgl. Geisenhanslüke, Achim: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur, Darmstadt 2012, S. 125. 13 La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim [1771], 5. Aufl. München 2015, S. 150.

2.3 Kontratanz – Anfang eines Missverständnisses

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Goethe Bestätigung. Nach seiner Beobachtung gilt die Hochschätzung des Menuetts nicht nur in Deutschland, sondern im europäischen Raum mit ständischer Gesellschaft. Bereits in Das Römische Carneval aus Italienischen Reise berichtet er, wie die Römer Gesellschaftstänze auch pantomimisch ausführen und Menuett besonders ernst nehmen. Sie betrachten das Menuett als „Kunstwerk“14 mit Genuss und das Tanzpaar wird „dann von der übrigen Gesellschaft in einen Kreis eingeschlossen, bewundert und am Ende“ wird ihm „applaudiert“15. Dass Menuett nicht leicht zu erlernen ist, betont er noch einmal in seiner Vorbereitung auf die zweite italienische Reise, mit der Anmerkung, dass die Tanzenden unzählige Male proben, „eh sie Bälle geben“16. Da das Menuett nur Fingerberührung erlaubt und auf die optische Wirkung eines ,Kunstwerks‘ abzielt, stiftet dieser Tanz höchstens freundlichen Umgang und Bewunderung für die Schönheit der Tanzenden, bestenfalls platonische Liebe. Dies erkennt Goethe nicht nur, sondern lässt in Werther das anfängliche Menuett auch mit der Stimmung der Titelfigur korrespondieren. Das Menuett als Auftakt für den Ball berührt Werther nicht; er fordert „ein Frauenzimmer nach dem andern auf“ (46), als würde er eine Aufgabe ausführen. Dabei ist es ihm auch „ziemlich gleichgültig“ (38), ob Lotte „vergeben“ (38) ist, zumindest noch beim Menuett. Dies ändert sich erst, als andere Tanzformen erfolgen.

2.3 Kontratanz – Anfang eines Missverständnisses Nach dem Menuett wird Kontratanz, auch der englische Tanz genannt, ausgeführt. Lottes Kontratanz mit ihren wechselnden Tanzpartnern liefert einen Eindruck von natürlicher Schönheit. Lottes Auftritt, „so sorglos, so unbefangen“ (46), erfolgt unbewusst und ist frei von Status und Präsentationsabsicht. Ihre Harmonie zwischen Körper, Seele und Umgebung entsteht daraus, dass Werther ihren Tanz von der restlichen Gesellschaft unabhängig sieht. Ihr Tanz schafft eine andere ‚Sphäre‘ (48). So schwindet „alles andere vor ihr“ (48).17 Goethe bezieht den Tanz ganz auf die Empfindungen des Beobachters Werther.

14 FA 15/1, 547. (Das römische Carneval). 15 FA 15/1, 547. 16 FA 15/2, 1010. (Vorbereitung zur zweiten Reise nach Italien. Italienische Kollektaneen 1795–1796). 17 Paul Requadt verwendet den Begriff ,Bei-sich-sein‘, um Werthers Empfindungsveränderung darzulegen. Der Tanz ist hier ein Ausdruck von Bei-sich-sein, der von Lotte nicht gezielt auf Werther abgesendet wird. Lucia Luprecht weist darauf hin, dass Werther selbstvergessener ist als Lotte. Vgl. Requadt, Paul: Goethes „Faust I“. Leitmotivik und Architektur. München

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2 „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt“

Fragwürdig ist allerdings eine Äußerung Lottes über den Tanz: Vor dem Ball behauptet sie, „nichts über’s Tanzen“ (44) zu wissen.18 Ihr angebliches Nicht-Wissen ist jedoch weniger Eingeständnis als kokettes Spiel. Nach Werthers Aufforderung zum zweiten Kontratanz sagt Lotte ihm „den dritten zu“ (46). Außerdem schlägt sie „mit der liebenswürdigsten Freimütigkeit von der Welt“ (46) vor, mit Werther zuerst einen Deutschen, der nach dem Wiener Kongress als Walzer bezeichnet wird, zu tanzen, bevor sie den dritten Kontratanz ausführen. Lotte beherrscht die Tanzsitten und zeigt sich beim Tanz gewandt im Umgang mit ihrem Tanzpartner. Obwohl Lotte die gesellschaftliche Regel kennt, nach der „jedes Paar, das zusammen gehört, beym Deutschen zusammen bleibt“ (46), ist ihre Tanzleidenschaft größer und sie ist bereit, diese Konvention zu durchbrechen. In der Realität ist es allerdings kaum möglich, den Partner zu wechseln, nur um zwischen anderen Tänzen einen Walzer zu tanzen.19 Außerdem verhält sich Lotte diplomatisch – sie bittet Werther um eine Absprache, damit ihr Tänzer und Werthers Tänzerin nicht gekränkt sind: „wenn [S]ie nun mein sein wollen fürs Deutsche, so gehn [S]ie und bitten sich’s von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer Dame gehen.“ (46) Einfach den Partner für einen Walzer zu tauschen, ist bei Lotte nicht vorstellbar. Lottes Vorschlag hat jedoch dramatische Folgen, weil er zu einem Missverständnis bei Werther führt. Obwohl Lotte bereits verlobt ist, möchte sie sich die Freude an Tanzerlebnissen nicht versagen. Für den Walzer sucht sie nach einem Tänzer, der ihrer Tanzfertigkeit entspricht. Aus diesem Grund kommt Werther für sie in Frage. Werther interpretiert ihre Idee dagegen als offene Tür zur Anbahnung einer Liebesbeziehung, um nun mithilfe des intimen Tanzes um Lotte zu werben. Das Missverständnis schaltet seinen Verstand aus und leidenschaftliche Liebe erwacht in ihm. Dies führt zu der folgenschweren Entwicklung. Dieses Missverständnis ist nicht weit entfernt von dem, was Goethe in Wetzlar erlebt hat. Dort tanzt Charlotte Buff mit ihm, und dieses Erlebnis wirkt auf beide unterschiedlich. Der Tanz ist für Buff lediglich eine Beschäftigung, die sie

1972, S. 99. Vgl. Ruprecht, Lucia: Werthers Walzer. Tanz als kulturelle Kodierung von Liebe und Intimität. In: Goethe-Jahrbuch, 128 (2011), S. 44–59, hier S. 57. 18 Lotte betont die therapeutische Bedeutung der Tanzmusik: „ich weiß mir nichts übers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut.“ Später spielt Lotte noch ein Menuett am Klavier, was Werthers Liebe und Verzweiflung entzündet. Thorsten Valk verweist auf Robert Burtons „Anatomy of Melancholy“, um die aufheiternde Wirkung der Tanzmusik als einfache Melodie auf die Leidenden zu erklären. Vgl. Valk, Thorsten: Melancholie im Werk Goethes. Genese, Symptomatik, Therapie. Tübingen 2002, S. 90 f. 19 Vgl. Geisenhanslüke, Achim: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur. Darmstadt 2012, S. 124.

2.4 Walzer – Liebe und Schwindel

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liebt, aber nicht persönlich auf Goethe gerichtet. Unbeabsichtigt bezaubert sie Goethe jedoch derart, dass auch ihr Verlobter Kestner dies bemerkt. Anstatt Eifersucht äußert Kestner jedoch sogar ein wenig Stolz darauf, wie seine Verlobte den jungen Dichter erobert: Er [Goethe] wußte nicht, daß sie nicht mehr frey war […]. Er war den Tag ausgelassen lustig (dieses ist er manchmahl, dagegen zur andern Zeit melancholisch). Lottchen eroberte ihn ganz, um desto mehr, da sie sich keine Mühe darum gab, sondern sich nur dem Vergnügen überließ.20

Tanz kann neue Gefühlswelten aufbrechen. Im Werther erwirkt die Ballszene für Lotte und Werther unterschiedliche Folgen. Lotte verbindet Tanz weiterhin mit Geselligkeit und Fröhlichkeit – wenn sie schlechte Laune hat und dann auf ihrem „verstimmten Klaviere einen Contretanz vortromml[t], so ist alles wieder gut“ (44). Werthers Erinnerungen bekommen dagegen eine zwanghafte Schwere. Er kehrt immer wieder zu dem Tanz-Tag mit Lotte zurück. Je öfter er in Gedanken die Tanzszene wiederholt, desto stärker wird seine Liebe zu Lotte.

2.4 Walzer – Liebe und Schwindel Fasziniert die Anmut des Menuetts Werther, so erregt Lottes Kontratanz seine Bewunderung. Seine Liebe erwacht jedoch beim ,Deutschen‘. Der ,Deutsche‘, nach dem Wiener Kongress auch als Walzer bezeichnet, wird ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer beliebter und beherrscht im gesamten 19. Jahrhundert das Tanzparkett.21 Anders als Menuett oder Kontratanz wird der ,Deutsche‘ (im Folgenden zum besseren Verständnis Walzer genannt) anfangs nicht am Hof,

20 Goethe, Johann Wolfgang von: Goethe, Kestner und Lotte. Briefwechsel und Äußerungen. Hg. v. Eduard Berend. München 1914, S. 109 f. (Kestners Brief an August von Hennings). 21 Die Terminologie zum Walzer ist insoweit verwirrend, da der Walzer oft mit dem Deutschen Tanz oder dem Ländler gleichgesetzt wird. Abgesehen von verschiedenen Quellen wurde der Begriff erst um 1800 in der Literatur gebraucht. Davor wurden das Verb ‚walzen‘ oder das Adjektiv ‚wälzerisch‘ verwendet. Angeblich soll „der deutsche Tanz“ oder der Ländler langsamer und lustiger getanzt worden sein als der Geschwindwalzer, aber die Drehungen stehen bei allen diesen Tänzen im Zentrum. In meiner Interpretation nenne ich Goethes „Deutschen Tanz“ Walzer, weil er darin das Verb „walzen“ verwendet hat. Zur Terminologie Walzer beziehungsweise Deutscher Tanz siehe folgende Aufsätze: Witzmann, Reingard: Zum Phänomen des Wiener Walzers von der Aufklärung zum Biedermeier. In: Thomas Nußbaumer [u. a.] (Hg.): Zur Frühgeschichte des Walzers. Innsbruck 2014, S. 9–32. Busch-Salmen, Gabriele: „Wie Sphären um einander herumrollen“. Dreher, Schleifer, Deutsche und Walzer auf den Tanzböden und in der Literatur vor 1800. In: Thomas Nußbaumer [u. a.] (Hg.): Zur Frühgeschichte des Walzers, S. 33–52.

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sondern vom aufstrebenden Bürgertum getanzt. Wenn er als bürgerliche Kultur die adelige zu verdrängen droht, stellt er für den Adel eine Bedrohung dar. Das Aufkommen des Walzers trifft daher nicht von ungefähr zeitlich auf die Nähe der Französischen Revolution.22 Neben einer politischen Wirkung schreibt der Walzer auch das Körperverhältnis des Tanzpaars neu, das anthropologisch gesehen zuvor kaum in dieser Form zu finden war.23 Beim Walzer sind Körperteile wie Handflächen, Taille, Schulter und Rücken anzufassen, damit sich die Körper der Tanzpaare einander in Brusthöhe annähern. Die Nähe der beiden Körper macht einen großen Unterschied zu den höfischen Tänzen aus, bei denen nur Finger und Hände gereicht werden. Der Walzer vermag durch seine taktilen Reize zu erotischen Empfindungen führen. Dies wird von Dichtern sogleich bemerkt und aufgegriffen. Er wird zum Antrieb des Liebesempfindens, zum Kennzeichen für Sinnlichkeit, welche nun Vorrang vor der Vernunft hat. In Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) geht die Titelfigur das Risiko ein, dass ihr Tanz als Liebesbeziehung missverstanden wird. Als ihr Geliebter, Lord Seymour, sie mit einem Fürsten tanzen sieht, kann er seine Eifersucht kaum aushalten: Aber als er sie um den Leib faßte, an seine Brust drückte, und den sittenlosen, frechen Wirbeltanz der Deutschen mit einer aller Wohlstandsbande zerreißenden Vertraulichkeit an ihrer Seite daherhüpfte – da wurde meine stille Betrübnis in brennenden Zorn verwandelt.24

Seymour kritisiert die Intimität des Walzers, die er mit Sophie teilen soll.25 Somit steht der Walzer nun in enger Relation zum Kunst- und Lebensgefühl des Sturm und Drang, in dem der Tanz häufig eine Metapher darstellt für eine sinnliche

22 Siehe dazu die Wirkung des Walzers auf das 19. Jahrhundert, das „bürgerliche Jahrhundert“, in: Braun, Rudolf und David Gugerli: Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914. München 1993, S. 202–274. 23 Klaus Schneider verfolgt Johann Joachim Winckelmanns Zurückgreifen auf griechische Phantasmen über die Perfektion des Körpers und die Idee der körperlichen Befreiung bedingt durch die Aufenthalte Winckelmanns in Italien. Auf dieser Grundlage verwies Schneider auf die Änderung des Zeitgeschmacks und das Interesse der Autoren am Ende des 18. Jahrhunderts. Vgl. Schneider, Klaus: Natur, Körper, Kleider, Spiel. Johann Joachim Winckelmann. Studien zu Körper und Subjekt im späten 18. Jahrhundert. Würzburg 1994. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften). 24 La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, 5. Aufl. München 2015, S. 202. 25 Der Walzer ist in der Schriftkultur der Empfindsamkeit, um mit Lucia Ruprecht zu sprechen, eine „überführende Intimität“. Vgl. Ruprecht, Lucia: Werthers Walzer. Tanz als kulturelle Kodierung von Liebe und Intimität. In: Goethe-Jahrbuch, 128 (2011), S. 44–59, hier S. 44.

2.4 Walzer – Liebe und Schwindel

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Liebesempfindung, auch bei Goethe, der 1772 scherzhaft die dem Walzer implizite Verkupplung ankündigt: Zum Drehen und Walzen und lustigen Hopp Erkieset sich jeder ein Schätzchen.26

Selbst im Werther macht Goethe darüber scheinbar nebenbei eine Bemerkung. Die verlobte Lotte schlägt Werther vor, einen Walzer zu tanzen, und zwar mit der bereits erwähnten mehrdeutigen Begründung – jedes Paar, „das zusammen gehört“ (46), bleibt „beim Deutschen zusammen“ (46). Die Prophezeiung des Zusammengehörens ruft bei Werther eine Reihe Missverständnisse hervor, vor allem aber den Wunsch, mit Lotte zusammenzugehören. Die besondere Individualität beim Walzer ist nicht nur durch körperliche Nähe bedingt, sondern auch durch die Bewegungsform – jedes Paar bildet eine Einheit und hat dadurch die Freiheit, sich in selbst bestimmter Richtung fortzubewegen. Dies notiert der Tanzmeister Carl Joseph von Feldtenstein wie folgt: „Führung in diesem Tanz [sei] frey und uneingeschränkt. Jeder Tänzer kann seine Tänzerin nach eigenen Gefallen, durch Cirkelwendungen und Touren in Bewegung setzen […].“ 27 Anders als die Grundidee des Menuetts mit bestimmter Vorlage des Raumwegs, entspricht die Grundidee des Walzers dem aufklärerischen Denken – Selbsttun nach eigenem Willen in der künstlerischen Tätigkeit.28 Sich beteiligt und verantwortlich zu fühlen, die geführte Frau in Schwung zu bringen, gehört zum Faszinosum des Walzers. Auch im Werther wartet die Titelfigur solange, bis sich die Freiheit für Bewegungstouren bietet. Werther und Lotte lassen zunächst die nicht so gut Walzer tanzenden Paare „sich austoben“ (48) und warten so lange, bis „die Ungeschicktesten den Plan geräumt“ (48) haben. Erst dann beginnen sie, als eines der zwei Paare auf dem Parkett den Walzer zu tanzen – sich alle Freiheiten nehmend – durch den Raum zu fliegen. Hier vermerkt Goethe das Besondere am Walzer – synchrone Drehungen der Paare. Sie drehen sich,

26 FA 2, 116. (Gedicht. Hochzeitslied). 27 Feldtenstein, Carl Joseph von: Erweiterung der Kunst nach der Chorographie zu tanzen, Tänze zu erfinden, und aufzusetzen, wie auch Anweisung zu verschiedenen National-Tänzen. Als zu Englischen, Deutschen, Schwäbischen, Pohlnischen, Hannak-Masur. Kosak- und Hungarischen nebst einer Anzahl Englischer Tänze. Leipzig 1984 [Braunschweig 1776], S. 99. 28 Vgl. Witzmann, Reingard: Zum Phänomen des Wiener Walzers von der Aufklärung zum Biedermeier. In: Thomas Nußbaumer [u. a.] (Hg.): Zur Frühgeschichte des Walzers. Innsbruck 2014, S. 9–32, hier S. 21.

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2 „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt“

indem sie, sich umarmend, um einen gemeinsamen Schwerpunkt im Bauchbereich kreiseln.29 Solche synchronen Drehungen schaffen eine neue Perspektive auf den Tanz. Goethe benutzt für Werther und Lotte sogar das Bild einer „Sphäre“ (48), sie rollen „wie die Sphären umeinander herum“ (48), alles vergeht „rings umher“ (48). Der Drehtanz löscht die Umgebung aus, das Umfeld scheint beim Walzer für Werther vage zu werden.30 Mit Lotte „herumzufliegen“ (48), lässt ihn rufen: „Ich bin kein Mensch mehr“ (48). Der Walzer zählt – um mit dem Historiker Curt Sachs zu sprechen – als Auslöser für „Taumel, Entmenschung und Verlöschen der Umwelt“31. Die Sinnlichkeit überwältigt die Vernunft – das Gefühl, Lotte besitzen zu wollen, hat Werther ergriffen. Dieses Besitzgefühl hält er wohl für die reine Liebe zu Lotte, indem er behauptet, dass sein Mädchen „nie mit einem andern walzen sollte als mit“ (48) ihm. Diesen Wunsch Werthers bestätigt zumindest ein Leser, der Hessen-Darmstädter Regierungsrat Karl Georg von Zangen. Er sieht den Walzer als einen sündigen Tanz, der zu Werthers unseligem Schicksal führt. Deshalb bezeichnet er den Walzer in Werther auch als einen unanständigen Tanz: Der unglückliche Werther, aus dessen rührenden Briefen sich nun zwar gegen das Schleifen [den Walzer] überhaupt nichts beweisen läßt, muß doch sicher die Unanständigkeit desselben sowohl überhaupt, als in dem besonderen Fall, mit der Geliebten eines Andern tief empfunden haben.32

Der bei Werther mit Liebe verbundene Wille, Lotte für sich allein zu haben, wird gleich nach dem Walzer deutlich, da dem jungen Mann „ein Stich durch’s Herz“ (48) geht, als Lotte die Orangen, die er ihr geschenkt hat, mit der Nachbarin teilt. Die Selbstvergessenheit und das Gefühl des Rausches beim Walzer, mit der Folge, dass Werther „kein Mensch mehr“ (48) ist, beruht nun nicht allein auf seiner Versessenheit auf Lotte,33 sondern auch auf den physischen Auswirkun29 Vgl. Brusatti, Otto und Isabella Sommer: Joseph Lanner. Compositeur, Entertainer & Musikgenie, Wien 2001, S. 21. 30 Vgl. Huber, Martin: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800. Göttingen 2003, S. 116. 31 Sachs, Curt: Eine Weltgeschichte des Tanzes. Mit zweiunddreißig Tafeln. Berlin 1933, S. 290. 32 Zangen, Karl Georg: Etwas über das Walzen, nebst einigen Gedichten und Anhang einiger Oden. Wetzlar 1782, S. 8. 33 Melanie Henkes betrachtet Werthers Empfindung aus soziologischer Perspektive. Diese Empfindung – „Ich war kein Mensch mehr“ – entsteht ohne Filter der Gesellschaft und vollzieht sich in einem außergesellschaftlichen Raum direkt von Herz zu Herz und Seele zu Seele. Daher empfindet Werther bei Lottes Tanz Harmonie, die er in der realen Gesellschaft nicht findet. Nur wenn Lotte in Werthers Welt präsent ist, tritt diese Euphorie auf. Vgl. Henkes, Melanie: Goethes ‚Wer-

2.4 Walzer – Liebe und Schwindel

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gen des Walzers. Diese werden um 1800 zu einem Ausgangspunkt für die Debatte um die Beurteilung und Akzeptanz des Walzers.34 Der Wiener Tanzmeister Johann Friedel setzt sich 1784 kritisch mit den durch das Walzertanzen hervorgerufenen körperlichen Reaktionen auseinander: „Die ganze Unterhaltung [beim Deutschentanzen] besteht in einem beständigen Herumdrehen, das den Kopf“ schwindlig macht und „zuletzt den Menschen seiner Sinne beraubt.“35 Die ständigen Drehungen verursachen beim Tänzer Schwindel, was zu Taumel und gar zur Ekstase führen kann. Zur gleichen Zeit wird Schwindel, resultierend aus der Drehbewegung, unter medizinischen Aspekten diskutiert. Bemerkenswert sind die gegensätzlichen Abhandlungen des jüdischen Berliner Arztes Marcus Herz und des Hallenser Arztes Salomo Jakob Wolf. Herz behauptet in seiner Untersuchung Versuch über den Schwindel (1786), Schwindel sei verursacht durch begrenzte Fähigkeit der Augen, schnell bewegende Bilder zu verarbeiten: Dass der Schwindel mit allen feinen Zufällen beym Herumdrehen des Körpers erfolgt, […] ist eine natürliche Folge der Vorstellungen, welche gewöhnlich das Herumdrehen begleiten, eben so wie die blosse Vorstellung abwesender widriger Dinge wirklichen Ekel und Erbrechen hervorbringt.36

Das Empfinden von Schwindel bei der Kreisbewegung resultiert also nach Marcus Herz aus einem Chaos an Vorstellungen. Beim Drehen wechseln die durch das Auge wahrgenommenen Gegenstände rasant und plötzlich, so dass die erfassbaren Bilder von Gegenständen eine Grenze erreichen. Die Überproduktion von Bildern verursacht dann einen „Qualitätsumschlag vom gesunden zum

ther‘ – Emotionale Entgrenzung im Einheitstaumel der Liebe. In: Sauerwald, Lisanne [u. a.] (Hg.): Emotionale Grenzgänge. Konzeptualisierungen von Liebe, Trauer und Angst in Sprache und Literatur. Würzburg 2011, S. 53–74, hier S. 64 f. Auch Sauerwald, Lisanne (Hg.): Emotionale Grenzgänge. Konzeptualisierungen von Liebe, Trauer und Angst in Sprache und Literatur. Würzburg 2011, S. 53–74, hier S. 64 f. 34 Der Briefverkehr zwischen Rachel Varnhagen von Ense und ihrem Jugendfreund David Veit 1793 handelt von der Auseinandersetzung mit der Empfindung beim Walzer. Dabei beziehen sie sich auf die Diskussion über Goethes Figuren Werther und Lotte und anschließend auf die Frage: „Glauben Sie, daß man den Verstand bei diesem unheilsamen Drehen behält?“ (S. 200). Vgl. Braun, Rudolf und David Gugerli: Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914, München 1993, S. 200–202. 35 Dabei ist jedoch nicht auszuschließen, dass die Tanzmeister auf eine bessere finanzielle Lage hoffen, wenn sie Menuett statt Walzer unterrichten, um dann mehr Stunden unterrichten zu müssen und entsprechend auch mehr zu verdienen. Deswegen bewerten sie den Walzer überwiegend negativ. Friedel, Johann: Galanterie Wiens, auf einer Reise gesammelt, und in Briefen geschildert von einem Berliner. Wien 1784, S. 144. 36 Herz, Marcus: Versuch über den Schwindel. 2. Aufl. Berlin 1791, S. 359.

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kranken Zustand“37. Eine Abhilfe gegen Schwindel wäre, beim Drehen einen Fixier-Punkt zu finden.38 Anders als Herz sieht sein Arzt-Kollege Samolo Wolf Schwindel ausschließlich in heftigen Bewegungen begründet. In seiner Erörterung derer wichtigsten Ursachen der Schwäche unsrer Generation in Hinsicht auf das Walzen (1797): Durch jene gewaltsame Kreisbewegung wird die Anhäufung eines erhitzten scharf gewordenen Bluts in den Gefäßen des Kopfs vergrößert, es entstehen daher Kopfweh, Schwindel, Schlaflosigkeit, mancherley Krämpfe.39

Wolf gibt somit den Gegnern des Walzers Argumentationshilfe und scheint die These der damaligen Moralisten zu bestärken. Seine Abhandlung ist Kronprinzessin Luise Auguste von Preußen gewidmet. Trotzdem hat sie auf ihrer Hochzeit Walzer getanzt, was zum Walzerverbot am preußischen Hof geführt hat.40 Die Ablehnung des Walzers unter moralischem Aspekt dringt nicht nur beim Adel durch, sondern auch beim sich am Adel orientierenden Bürgertum. Adolph Knigge warnt 1788 in seiner Abhandlung Über den Umgang mit Menschen (1790, 3. Aufl.) eindringlich vor der Gefahr, durch Tanz eine irrationale Sicht zu entwickeln: Wenn das Blut in Wallung kommt, so ist die Vernunft nicht mehr Meister der Sinnlichkeit [...] Der Tanz versetzt uns in eine Art von Rausch, in welchem die Gemüter die Verstellung vergessen. – Wohl dem, der nichts zu verbergen hat!41

37 Gu, Yeon Jeong: Transformation des Schwindels. Von der physischen Täuschung zum poetischen Schöpfungsakt bei W. G. Sebald. Münster 2012, S. 29. 38 Dadurch, dass Schwindel nach Herz vom optischem Chaos vorausgesetzt wird, schließt er fälscherweise aus, dass ein Blinder durch Kreisbewegung ebenfalls vom Schwindel befallen wird. Heutzutage zeigt die Neurophysiologie, dass die Sinneszellen im Innenohr, die mit einer Flüssigkeit in Kontakt stehen, den Gleichgewichtssinn beeinflussen. Bei schnellen Drehungen kommt die Flüssigkeit im Ohr ebenfalls in Schwung, hallt einen Moment sogar nach, wenn man dann wieder stillsteht. Die optische Irritation erweist sich als Resultat aus der ,Unruhe‘ im Ohr. Trotzdem könnte Herz’ These für die Technik der Eislaufkunst oder des Balletts inspirierend sein, in Hinsicht auf die Frage, wie man gegen das Schwindelgefühl ankämpft. Starrt man beim Drehen auf einen Punkt, kann man den Kopf ruhig halten und dadurch den Schwindel verringern und gar vermeiden. 39 Wolf, Salomo Jakob: Erörterung derer wichtigsten Ursachen der Schwäche unsrer Generation in Hinsicht auf des Walzen[s]. Deutschlands Söhnen und Töchtern angelegentlichst empfohlen, Halle 1797, S. 27 f. 40 Vgl. Salmen, Walter: Luise von Preussen. Musik, Tanz und Literatur im Leben einer Königin. Hildesheim 2008, S. 78. 41 Knigge, Adolph Freiherr von: Über den Umgang mit Menschen. Hg. v. Gert Ueding. Frankfurt am Main 1977, S. 278. [Erstdruck: Hannover (Schmidt) 1788. Hier nach der 3. erweiterten Aufl. 1790]. In der ersten Auflage (1788) hat Adolf Knigge noch nicht über die Gefühlsebene des Tanzes gesprochen.

2.5 Wiederholter Kontratanz – Kontrolle der Gesellschaft

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Dass das gesellschaftliche Umfeld das Gefühl des Taumels nicht jedem zubilligt, stellt Goethe ebenso bei dem wiederholten Kontratanz dar.

2.5 Wiederholter Kontratanz – Kontrolle der Gesellschaft Nach dem Walzer tanzt Werther in seiner Euphorie mit Lotte einen Kontratanz, der jedoch sein Gemüt bald wieder abkühlen lässt. Beim Kontratanz hat jeder Tanzende zwar auch einen festen Partner, aber es muss Rücksicht auf die Nachbarn in der Reihe genommen werden, damit die gesamten Figurationen in Form einer geschwungenen Acht erhalten bleiben. Noch beim Kontratanz hängt Werther, „weiß Gott mit wie viel Wonne“ (48), an Lottes Arm, als ob er doch einen Walzer tanzen würde. Allerdings werden die beiden von einer älteren Frau gewarnt: Sie „hebt einen drohenden Finger auf, und nennt zweymal den Namen Albert“ (50). Ihr erhobener Finger und die Nennung des Namens Albert bilden eine doppeldeutige Warnung. Einerseits erinnert sie Werther an das, wovor er sich bisher nicht „in Acht“ (38) genommen hat – dass Lotte bereits vergeben und mit Albert verlobt ist. Andererseits deutet sie an, dass Lotte und Werther den englischen Tanz nicht mit dem Walzer gleichsetzen dürfen. Beim Walzer sind sie allein mit sich, aber beim englischen Tanz müssen sie sich der gesamten Reihe der Tanzenden unterwerfen. Dies zeigt, dass der Walzer in der Ausführung einmalig und flüchtig ist, während der englische Tanz von Anfang bis Ende linear ausgeführt wird – die persönliche Euphorie ist kurz, die gesellschaftliche Kontrolle hingegen von Dauer. Goethe nutzt die Figurationen des englischen Tanzes als latente Hinweise auf die Beziehung von Werther und Lotte, die von der Gesellschaft nicht gebilligt wird.42 Gerade in dem Moment, als Werther sich erkundigt, wer Albert sei, müssen Lotte und er sich aufgrund der Tanzformation „scheiden“ (48), wodurch bereits die spätere Dreierbeziehung und deren Ergebnis angedeutet werden.43 Hier kann Kontratanz auch als Wortspiel und damit der Tanz in besonderer Funktion verstanden werden, wenn an die lateinische Herkunft des Wortes ,contra‘ im Sinn von ,gegen‘ oder ,gegenüber‘ gedacht wird. So verweist der Kontratanz auch auf die Gegensätzlichkeit der Wünsche seitens Werther und Lotte. Indem das Paar den Kontratanz als den letzten in der Ball-Episode tanzt, deutet das vermutlich auch auf ihren nicht lösbaren Konflikt hin. Werthers individueller 42 Vgl. Schneider, Annette Johanna: Idylle und Tragik im Spätwerk Goethes. Frankfurt am Main 2009, S. 49. 43 Vgl. Huber, Martin: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800. Göttingen 2003, S. 117.

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2 „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt“

Wunsch hat sich dem englischen Tanz unterzuordnen, der wiederum aus gesellschaftlichen Gebräuchen und Normen entstanden ist und dessen Normen sich die Tanzenden zu fügen haben. Werther selbst beschreibt das mit einer Metapher: „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt wie eine Marionette, und fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere zurück“ (135). Das gesellschaftliche Umfeld Werthers ist durch Normen geprägt. Dies steht Werthers großer Passion und seinen sensiblen Empfindungen entgegen.44 Als Werther und Lotte einen halben Kreis gelaufen sind und sich wiedertreffen, vermischen sich Tanz und gesellschaftlicher Kontext. Lotte gesteht Werther zögernd und nachdenklich, Albert sei ihr Verlobter.45 Nicht nur das Neid-Gefühl, dass „der andre […] kommt und ihm das Mädgen wegnimmt“ (86), lässt nun alles bei Werther „drunter und drüber“ (50) gehen, sondern ihm widerfährt „etwas Schreckliches im Vergnügen“ (50). Der Kodex gesellschaftlicher Normen verbietet ihm, seine Liebe gegenüber der bereits verlobten Frau zu äußern.

2.6 „Klopstock!“ – Bindeglied zwischen Tanz und Brief Noch bevor der englische Tanz zu Ende geht, muss das Tanzen beendet werden, da ein unerwartetes Gewitter aufzieht. Die Reaktion der Tanzgesellschaft ist geprägt einer Panik, in die „mehrere Frauenzimmer ausbrechen“ (50), einige wollen „nach Hause“ (50). Lotte findet unterdessen mit Werther ein neues, nicht weniger rhythmisches Thema als der Tanz. Sie lenkt die Aufmerksamkeit der tanzfreudigen Gesellschaft auf ein ebenso vom Rhythmus geprägtes Zählspiel um. Nachdem das Gewitter vorbei ist, entwickelt sie mit Werther bei der Betrachtung etwas, das die beiden wie ein Geheimcode miteinander verbinden könnte:

44 Melanie Henkes hat in Auseinandersetzung mit dem Zitat über die Marionette auf zwei Räume verwiesen – auf einen Raum der sozialen Existenz und einen Raum der Warmherzigkeit. Werther befindet sich im Raum der Empfindung und passt deswegen nicht in die bürgerliche Gesellschaft. Vgl. Henkes, Melanie: Goethes ‚Werther‘ – Emotionale Entgrenzung im Einheitstaumel der Liebe. In: Sauerwald, Lisanne [u. a.] (Hg.): Emotionale Grenzgänge: Konzeptualisierungen von Liebe, Trauer und Angst in Sprache und Literatur. Würzburg 2011, S. 53–74, hier S. 57 f. 45 Während Julia Bobsin in Lottes Zögern eine offene Frage sieht, spielt Lotte meines Erachtens hier mit ihrer Verlobung. Einerseits ist sie sich bewusst, dass sie vergeben ist, und deshalb sollen ihre Geschwister Werther „Vetter“ nennen, um Gerüchte zu vermeiden. Andererseits tanzt Lotte mit Wonne mit Werther und lässt sich somit auf eine implizite Liebesbeziehung ein. Vgl. Bobsin, Julia: Von der Werther-Krise zur Lucinde-Liebe, Berlin 1994, S. 84.

2.6 „Klopstock!“ – Bindeglied zwischen Tanz und Brief

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[...] sie sah den Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige, und sagte – Klopstock! – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strom von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoss. (52)

Mit „Klopstock“ deutet Goethe Klopstocks Ode Die Frühlingsfeyer (1759) an, in der Klopstock inhaltlich den Donnerschlag als Ausdruck der Erhabenheit und Gegenwart Gottes preist: Und die Gewitterwinde? sie tragen den Donner! Wie sie rauschen! Wie die Wälder durchrauschen! Und nun schweigen sie! Majestätischer Wandeln die Wolken herauf!46 [Meine Hervorhebung, W. R.]

Die inhaltliche Parallele zum Gewitter reicht noch nicht aus, um den Zuruf „Klopstock“ hier wie ein Rätsel anzudeuten. Klopstock unterstreicht in dieser Ode die dramatische Bewegung der Winde und Wolken beim Gewitter stilistisch durch Verben, die eine musikalische und tänzerische Atmosphäre schaffen. Auf ihn greift Goethe zurück und gibt die Bewegung der Natur wieder. Der Regen ,säuselt‘, der Wohlgeruch ,steigt auf‘. Durch die Nennung von Klopstocks Namen ruft Goethe dessen lyrische Konzeption wach – Bewegung in der Poetik zu schaffen. Dies ist in Klopstocks Eislauf-Oden eindeutig zu sehen. Wie Klopstock selbst dazu kommentiert: „[Das] Silbenmaß bildete ich auf dem Eise nach meinen Bewegungen!“47 Er gestaltet den Tanz auf der Eisfläche mit rhythmisch-metrischen Raffinessen in literaturfähiger Form, indem er seine Metren im Gedicht nach dem Rhythmus der körperlichen Bewegung ‚sprechen‘ lässt.48 Dadurch versetzt er die Dichtung, eine unkörperliche Kunst, in die Lage, sich die Ausdrucksformen und Ausdrucksmöglichkeiten der körperlichen Kunst anzueignen.49 Obwohl zu Klopstocks Zeit der Eislauf noch nicht von Musik begleitet

46 Klopstock, Friedrich Gottlieb: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe [Hamburger Klopstock-Ausgabe]. Hg. v. Horst Gronemeyer [u. a.]. Bd. 1. Oden, Text. Berlin [u. a.] 2010, 178. (Eine Ode über die ernstfahten Vergnügungen des Landlebens (1759), später Die Frühlingsfeyer (1798). 47 Klopstock, Friedrich Gottlieb: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe [Hamburger Klopstock-Ausgabe]. Hg. v. Horst Gronemeyer [u. a.]. Bd. 1. Oden, Text. Berlin [u. a.] 2010, S. 282. (Anmerkung zu seiner Ode Braga). 48 Vgl. Hellmuth, Hans-Heinrich: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, Studien und Quellen zur Versgeschichte. München 1973, S. 182–187. 49 Dazu siehe Menninghaus, Winfried: Dichtung als Tanz. Zu Klopstocks Poetik der Wortbewegung“ In: COMPARATIO [Revue Internationale de Littérature Comparée], 2/3 (1991), S. 129–150, hier S. 143.

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2 „Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt“

wird, ragt die Musikalität durch die metrisch-rhythmische Bewegung der Füße und Versfüße heraus.50 Somit begeistert seine Reihe von Eislauf-Oden eine ganze Generation für die winterliche Beschäftigung, darunter auch Goethe.51 Goethe rundet zunächst die Ballszene ab, indem er einen Dichternamen nennt, wie Gerhard Neumann zur Struktur der Tanzszene anmerkt. Nach Neumann beginne der Ball nach der Diskussion über das Lesen auf dem Hinweg und werde durch die Bemerkung zu Klopstocks Ode beendet.52 Warum erregt diese ,Losung‘ bei Werther sofort eine Resonanz? Klopstocks Naturgedicht sowie das Gewitter im Werther beziehen sich auf das Wetter, welches sich autonom ändert, ohne dass gesellschaftliche Normen dabei eine Rolle spielen. Das Wetter tritt insofern in die Verbindung mit dem Tanz, als Werther die freie Bewegung selbstbestimmter Touren beim Walzer mit dem Wetter assoziiert. Er ist versessen auf das Gefühl, das „liebeswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter“ (48), frei von der Tanzgruppe, frei von gesellschaftlichen Normen. Werther und Lotte empfinden eine tiefe Resonanz zur Ungebundenheit des Gewitters. Diese Resonanz wird durch das losungshafte „Klopstock“ (52) verstärkt und bezeugt eine verborgene Intimität.53 Dadurch äußern sie indirekt ihren nicht ausgesprochenen Wunsch, ihren Gefühlen Raum zu schaffen, sie sich entwickeln zu lassen wie Wetter und wie Walzer. Dies lässt sich allerdings in den Grenzen der Geselligkeit schwer durchsetzen. Daneben hat die Nennung des Namens „Klopstock“ noch eine stilistische Funktion. Die dem Wetter innewohnende Änderung sowie die Bewegung in Klopstocks Poesie können nun ein Bindeglied zwischen Werthers Tanz und sei-

50 Vgl. Menninghaus, Winfried: Dichtung als Tanz, S. 141. 51 Der junge Goethe ist ein von Klopstocks Eislauf (1764) Begeisterter. Siehe Goethes Äußerung: „Und fürwahr! diese Kraftäußerung verdiente wohl von Klopstock empfohlen zu werden, die uns mir der frischesten Kindheit in Berührung setzt, den Jüngling seiner Gelenktheit ganz zu genißen aufruft, und ein stockendes Alter abzuwehren geeignet ist.“ FA 14, 569. (Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Dritter Theil. Zwölftes Buch). Vgl. auch Gassner, August: Goethe als Eisläufer. Bern [u. a.] 1990, S. 7–15. 52 Neumann, Gerhard: „Tanzen muß man sie sehen!” Der Walzer in Goethes Werther. In: Jeschke, Claudia und Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.): Bewegung im Blick. Beiträge zu einer theaterwissenschaftlichen Bewegungsforschung. Berlin 2000, S. 138–153, hier S. 140. 53 Hier kann Ijoma Mangolds Erläuterung als einleuchtendes Argument dienen: „Wenn man damals, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, ,Klopstock‘ sagte, sagte man dreierlei. Erstens: Ich bin ein empfindendes Gemüt, empfänglich für die erhabene Schönheit von Gottes Schöpfung. Zweitens: Ich sage mit Emphase ,ich‘, weil meine Seele der subjektive Spiegel der göttlichen Natur ist. Und drittens: Dieses Ich möchte seine Gefühle teilen – entweder in der Liebe oder in der Freundschaft, jedenfalls in einer kommunikativen Intimbeziehung.“ Mangold, Ijoma: Verkannte Genies. F. G. Klopstock. Hört ihr den Donner des Herrn? In: Die Zeit am 22.01.2015. URL. http://www.zeit.de/2015/02/friedrich-gottlieb-klopstock-dichter-lyrik (20.07.2021).

2.6 „Klopstock!“ – Bindeglied zwischen Tanz und Brief

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nem Brief bilden – beides besteht aus Wechsel, aus Sinnlichkeit, aus subjektivem Ausdruck. Damit stellt Goethe eine Bindung zwischen dem Tanz und seinem Briefroman her. Wie am Anfang des Kapitels bereits erwähnt, vereinigt Werther den Tänzer und den Dichter in sich, und zugleich verwirklicht er auch die Empfindsamkeit in Klopstocks Poesie in den Kunstformen Tanz und Brief. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Goethe in der Ballszene im Werther die gesellschaftliche Bedeutung der Tänze mitgestaltet hat. Mit dem Menuett symbolisiert er den hohen sozialen Status der Tanzenden, und mit dem Walzer deutet er auf die Bewegungsfreiheit und im übertragenen Sinn auf eine Liebe, die nicht von der Vorherbestimmung durch das Adelsgeschlecht gemaßregelt ist, die sich wie das Wetter entfalten kann. Mit dem Kontratanz konturiert Goethe den Konflikt zwischen Werthers individuellem Liebes-Wunsch und der kollektiven Konvention, und deutet damit bereits das tragische Schicksal der Titelfigur an. Zugleich nutzt Goethe die Empfindungen, wie sie sich beim Tanz entwickeln zur Gestaltung seiner Dichtung. Die Briefform und der Tanz kooperieren hier mithilfe des Bindeglieds Bewegung im Wetter und Bewegung in Klopstock’scher Poesie. Insofern wird der poetologischen Verwendung des Tanzes eine neue Möglichkeit zugeschrieben – den Tanz nicht nur als Motiv aufzunehmen, sondern einige seiner Elemente in die Dichtung einfließen zu lassen.

3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“. Englische Tänze in Friedrich Schillers Der Tanz (1796/1800) Am 23.02.1793 nimmt Friedrich Schiller die Arbeit an den Kallias-Briefen wieder auf, in denen er seinem Freund Christian Körner seine ästhetischen Überlegungen anvertraut.1 Darin empfiehlt er für einen gepflegten Umgang miteinander: „Schone fremde Freiheit“ zum einen und „zeige selbst Freiheit“2 zum anderen. Für dieses Gesetz gilt der englische Tanz als Vorbild, das Schiller zur Veranschaulichung des Ideals vor Augen führt: Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein paßenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren componierten englischen Tanz. Ein Zuschauer aus der Gallerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste durchkreuzen, und ihre Richtung lebhaft und muthwillig verändern, und doch niemals zusammenstoßen. (NA 26, 216)

Der aus England stammende Tanz, auch country dance, ,anglaise‘ oder deutsch ,Kontratanz‘ genannt, wird gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland ein beliebter Tanz. Beim englischen Tanz stehen die Tanzenden zunächst in zwei Reihen einander gegenüber. Die Tanzschritte sind zwar einfach, aber die Figuren wie Platzwechsel, Umkreisen und Kreuzen sind kompliziert. Der Tanzablauf erfolgt deshalb in einer endlosen Kette: „An einem bestimmten Punkt führt dann jedes Paar eine Tanzfigur aus, wobei es sich mit einem anderen Paar verbindet.“3 Schiller preist den englischen Tanz so hoch, weil er darin eine Harmo-

1 Einige Abschnitte dieses Kapitels, besonders zum Thema Vergleich der beiden Versionen von Schillers Der Tanz, wurden vorab veröffentlicht in: Ring, Weijie: Mehr als eine Formsache Beitrag. Das ästhetisch-soziologische Ideal in Friedrich Schillers Elegie ‚Der Tanz‘ (1796/1800). In: Euphorion, 113 (2019), Ausgabe 2, S. 163–187. 2 Schiller, Friedrich: Schillers Werke. Nationalausgabe, 43 Bde. In 55 Teilbänden. Bd. 26. Briefwechsel. Schillers Briefe. 01.03.1790–17.05.1794. Hg. v. Edith Nahler und Horst Nahler. Weimar 1992, S. 216. (Schillers Brief an Körner vom 23.02.1793). Alle Zitate aus Schillers Schriften werden im Folgenden nach der Nationalausgabe zitiert mit: NA (Bandzahl), (Seitenzahl). Bei wiederholtem Zitat mit Angabe von Band- und Seitenzahl im Fließtext. 3 Kontratanz hat viele Formen. Die englische Form heißt country dance, eine alte Tanzform aus dem 16. Jahrhundert. Gegen Ende des 18. Jahrhundert wird „Contredanse“ als Quadrille (für vier Paare) und Anglaise (für zwei Reihen) verstanden. Dieser aus England stammende Tanz wurde auch als Kontratanz (Contratanz/Kontertanz) oder country dance bezeichnet und war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich und Deutschland populär. Vgl. Schneider, Otto: Tanzlexikon. Volkstanz, Kulttanz, Gesellschaftstanz, Kunsttanz, Ballett. https://doi.org/10.1515/9783110759815-005

3.1 In Linie aufgestellte Tänzer und Raumwege

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nie von Zeit (‚geschickte Fügung‘), Raum (Vielfalt von „Bewegungen“ und „Richtung“) und ästhetischer Wirkung (Anschaulichkeit für den „Zuschauer aus der Gallerie“ (NA 26, 216) sieht. Die mehrfache Harmonie beschränkt sich nicht nur auf die Vielfalt der Bewegung oder auf flüssigen Ablauf, sondern auch auf eine ausgewogene Synthese aus Mannigfaltigkeit und Einheitlichkeit, von einer Gesamteinheit und individueller Freiheit. Die vielfältigen Figuren und die wechselhafte Verknüpfung ‚zum Finden und Verlieren‘ der Paare erzeugen eine facettenreiche Wirkung; das Zusammenhalten des Tanzzuges ergänzt hingegen die Einheit des Ganzen. Die „verwickelten Touren“ (Schrittfolgen) resultieren schließlich aus einem höchst ordentlichen System, sodass die Paare in ihren einzelnen Bewegungselementen „niemals zusammenstoßen“ (NA 26, 216). Erinnert man sich noch an den Tanz in Goethes Werther, gewinnt Lotte Werthers Aufmerksamkeit durch ihre Tanzfertigkeit. Demgegenüber erwähnt Schiller in seinem Brief kein Wort über die Konkretisierung der Tanzenden. Sieht er den idealen Umgang der Menschen allein in den Tanzfiguren des englischen Tanzes und klammert dadurch die Tanzfertigkeiten der Tanzenden aus? Bleibt die Bewunderung Schillers für den englischen Tanz ein theoretischer Gedanke, oder sieht er es als Gelegenheit, diesen Gedanken in die literarische Praxis umzusetzen? Anhand der Analyse von Schillers Elegie Der Tanz (1796/1800), in der er ebenfalls den englischen Tanz schildert, könnte man verfolgen, wie sich Schillers ästhetisch-theoretische Überlegung hinsichtlich der Tanzkunst entwickelt und wie er seine Tanz-Auffassung auf die Realität überträgt.

3.1 In Linie aufgestellte Tänzer und Raumwege Schiller lässt im Kallias-Brief nach seiner Preisung des englischen Tanzes offen, welche körperlichen Bedingungen und welchen ästhetischen Sinn die Tanzenden aufweisen sollen. Er klammert dabei wohl aus, dass die Tanzenden unterschiedlich gut tanzen. Jahrzehnte früher zieht der britische Maler William Hogarth es in Zweifel, dass diverse Tanzfertigkeiten stets einen insgesamt harmonischen Eindruck zu liefern vermögen. Er nimmt mit der Karikatur ironisch den Adel aufs Korn und geht analytisch mit den Körperbildern um. Daraus entsteht der Kupferstich (Abb. 2), den Hogarth als Vorlage für seine ästhetisch-analytische Schrift The Analysis of Beauty (1753) nimmt.

Tänzer, Tänzerinnen, Choreographen, Tanz- und Ballettkomponisten von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mainz [u. a.] 1985, S. 102.

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

Abb. 2: Hogarth, William: The Analysis of Beauty. In: Ders.: Zergliederung der Schönheit. Berlin 1754, Plate II (Ausschnitt).

Der in Abb. 2 den Raum beleuchtende Lüster unterstreicht die festliche und feierliche Stimmung beim Tanz. Unter dem Wappen über dem Erkerfenster und umgeben von den in Reihe hängenden Bildern tanzt eine Gruppe in Reihe den englischen Tanz. Allerdings variieren Bekleidung und Körperhaltung der Tanzenden, sodass die Paare Unterschiede und gar Kontraste aufzeigen. Um die unterschiedlichen Körperhaltungen der Tanzenden zu veranschaulichen und die schönsten herauszustellen, ist er überzeugt, die Handlung und die Stellung „in sehr wenig Linien“4 wiedergegeben zu können. Dadurch reduziert er seine Beobachtung auf den Körperbau und Bewegungshabitus, wie er in „Figur 71“ (Abb. 3) aus „Platte II“ zeigt.

4 Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen. Übers. v. Christlob Mylius. Verbesserter und vermehrter Abdruck. Berlin 1754, S. 78.

3.1 In Linie aufgestellte Tänzer und Raumwege

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Abb. 3: Hogarth, William: The Analysis of Beauty. In: Ders.: Zergliederung der Schönheit. Berlin 1754, Plate II, Figur 71. (Ausschnitt).

Zwei Wellenlinien links in Abb. 3 stehen für das erste Paar. Die anderen Tanzenden, die sich nicht harmonisch in die Linie einfügen, z. B. wegen eines hoch gestellten Ellenbogens (wie die zweite und die vierte Tanzende, der schirmartigen Erscheinung der Dame des nächsten Paares, der steifen Körperstellung (von links aus gesehen der zweite und dritte Mann) und nicht zuletzt wegen der O-Bein-Stellung, erweisen sich als nicht schön im Vergleich zum ersten Paar. Die wellenförmigen Linien sind keine Erfindung Hogarths. Wie Hogarth in der Vorrede in The Analysis of Beauty auf Michelangelo Buonarroti und Giovanni Paolo Lomazzo zurückgreift, lassen sich diese Linien zumindest auf die beiden Renaissancekünstler zurückführen. Als Lomazzo mit Michelangelo von „einerley Sache: nämlich von der Figur“5 redet, nähert er sich mehr als sein Vorgänger Michelangelo der Idee, Figuren nicht mehr statisch, sondern in ihrer Bewegung zu beobachten. So Lomazzo: Wenn eine „Figur sich zu bewegen“ scheint, wird einem „der größte Reiz“ und „die Artigkeit“6 vor Augen geführt. Lomazzo beruft sich auf Naturelemente und sieht die Bewegung der Flamme als die schönste Figur an.7 Auf Lomazzo bezogen, könne die Spitze einer Flamme die Luft teilen und vermag „sich nach ihrer Sphäre empor zu schwingen“8. Dieser betont dabei, dass die Flamme bei ihrer Bewegung den eigenen Kosmos beibehält – so erweitert Lomazzo den Rahmen des Kosmos.9

5 Hagedorn, Christian Ludwig: Betrachtungen über die Mahlerey. Leipzig 1762, S. 847. 6 Hagedorn, Christian Ludwig: Betrachtungen über die Mahlerey, S. 849. 7 Vgl. Cassimatis, Marilena Z.: Zur Kunsttheorie des Malers Giovanni-Paolo Lomazzo (1538– 1600). Frankfurt am Main [u. a.] 1985, S. 60, 72 f. 8 Hagedorn, Christian Ludwig: Betrachtungen über die Mahlerey. Leipzig 1762, S. 850 f. 9 Lomazzo ordnet vier Elemente, vier Temperamente und sieben Farben sieben Planeten zu und versucht, die Kunsttheorie in ein kosmologisches System einzubringen. Dazu besonders ein Auszug aus: Schneider, Norbert: Geschichte der Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Köln [u. a.] 2011, S. 213.

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

Als Hogarth sich mit der Schönheitslinie auseinandersetzt, stellt er am Beispiel der Proportion bei der Malerei fest, ein Gemälde, das in Form einer Flamme aufgebaut sei, wäre das Schönste. Er folgt Lomazzos Gedanken und schreibt den flammenförmigen Linien neue Namen zu. Er entwickelt aus Lomazzos Schönheitsideal der Flamme eine räumlich verwickelte „Schlangenlinie“. Dieser ebenfalls aus der Renaissancekunst, ‚figura serpentine‘, hergeleitete Begriff10 wird bei Hogarth als Synonym dem Flammenförmigen, Pyramidenförmigen gleichgesetzt: Er sieht „das ganze Geheimniß der Kunst“11 in der Schlangenlinie begründet, „allezeit eine Figur pyramidenförmig, schlangenförmig und mit Eins, Zwey und Drey Mannichfaltig zu machen“12. Hogarth sieht die Linie gar dialektisch: Sie sei eine „zugleich auf verschiedene Seiten“ „gerichtete[n] wellenförmige[n] und gewundene Figur“, die Vielfalt und Einheit gleichsam beinhalte.13 Die Mannigfaltigkeit bildet einen Schlüsselbegriff für die Schlangenlinie, auch in Hogarths Betrachtungen zum englischen Tanz. Er betont zunächst die optische Wirkung des englischen Tanzes – die „ganze Figur auf einen Blick“ erscheint wie ein Bild „von der Gallerie“14. Daraufhin bezeichnet er den englischen Tanz als „Schlangentanz“, weil die Körperhaltungen der Tanzenden „von etlichen S“ gekennzeichnet werden, auch weil die Raumwege einigen untereinander „gewebte[n]“ und „gewickelten Schlangenlinie[n]“15 gleichen. Die Raumwege stellt Hogarth in Abb. 4 anschaulich dar. Hogarths Reduzierung des englischen Tanzes auf Raumwege stimmt mit Schillers Betrachtung in den Kallias-Briefen wie „Zuschauer aus der Gallerie“ und „verwickelte Touren“ überein. Schillers Gedanken zur Schlangenlinie könnten gar durch Hogarth angeregt sein. Nachdem Schiller von seinem Freund

10 ‚Figura Serpentinata‘ wird zum ersten Mal wörtlich in Lomazzos Trattato dell’artt della pittura (1584) genannt. Vgl. Larsson, Lars Olof: Von allen Seiten gleich schön. Studien zum Begriff der Vielansichtigkeit in der europäischen Plastik von der Renaissance bis zum Klassizismus. Stockholm 1974, S. 15–17. 11 Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen. Verbesserter und Vermehrter Abdruck. Berlin 1754, S. 3. 12 Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit, S. 3. 13 Anders als Lomazzo unterscheidet Hogarth die wellenförmige „Linie der Schönheit“ und die räumlich gewundene Wellenlinie „Linie des Reizes“. Dem Tierbereich entnimmt Lomazzo das Vergleichsobjekt, die Schlange, die kriecht. Die Art der Bewegung ist mit einer Wellenlinie vergleichbar. Vgl. Hagedorn, Christian Ludwig: Betrachtungen über die Mahlerey. Leipzig 1762, S. 801. 14 Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen. Verbesserter und Vermehrter Abdruck. Berlin 1754, S. 88. 15 Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit, S. 88.

3.1 In Linie aufgestellte Tänzer und Raumwege

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Abb. 4: Hogarth, William: The Analysis of Beauty. In: Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit. Berlin 1754. Plate II (Ausschnitt).

Christian Gottfried Körner den Hinweis auf „Hogarth über die Schönheitslinie“ im Brief vom 18.01.1793 bekommen hat, bringt er einen Monat später im Brief an Körner vom 23.02.1793 darüber zum Ausdruck, dass er die Schlangenlinie für das Schönste hält. Seine Begründung, die Schlangenlinie sei „eine Linie die ihre Richtung immer abändert (Mannigfaltigkeit) und immer wieder zu derselben Richtung zurückkehrt (Einheit)“, was mit der Hogarth’schen Überlegung übereinstimmt.16 Hogarth geht davon aus, dass die Linien besseren Gefallen finden werden, wenn die Hand sie „mit der Feder oder mit dem Pinsel zeichnet“17. Schiller geht hingegen direkt zur Praxis über und zeichnet seine Schlangenlinie für tanzende Körper mit einer Feder (Abb. 5). Dazu bemerkt er bescheiden: „Folgende Linie aber ist eine schöne Linie, oder könnte es doch seyn, wenn meine Feder beßer wäre.“ (NA 26, 216) Dies könnte als Anzeichen dafür gelten, dass Schiller Hogarths The Analysis of Beauty gelesen hat.18 Zu dieser Skizze füg16 Da Schiller erst am 24.08.1794 an Wilhelm und Christophine Reinwald nach dem Bestand von Hogarths Buchs in der deutschen Übersetzung (Analyse der Schönheit) fragte, hatte Schiller beim Verfassen des obigen Briefs an Körner vom 23.02.1793 Hogarths Buch vielleicht noch nicht in der Hand gehabt. Es mag sein, dass Schiller vorher bereits von Hogarths Linien der Schönheit gehört hatte, bevor er die Schlangenlinien mit dem englischen Tanz verband. 17 Hogarth: Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen, Vorrede. 18 Ein weiterer Beleg, dass Schiller Hogarth als Vorbild betrachtet, ist Schillers Zeichnung. Als Schiller von Körner finanziell unterstützt wurde und bei ihm fast wie ein Familienmitglied wohnte, hat Schiller mithilfe von Körners Schwager Ludwig Ferdinand Huber ein Geburtstagsgeschenk für Körner vorbereitet. Schillers scherzhafte Zeichnung wurde mit einer Erklärung

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

tenm Schiller hinzu, dass die sich frei bewegende Linie, die sich mit Schwung in eine Richtung bewegt, noch schöner ist als die an starre Regeln gebundene ZickZack förmige Linie. Die Zick-Zack-Linie sei eine Art mathematisch exakt berechnete Linie, die zwar die Vielfältigkeit der Spur zeige, der es aber an der freien Bewegung mangele. Die Schiller’sche Linie folgt dem gleichen Prinzip wie dem der Linie beim englischen Tanz, die Vielfältigkeit der Kurve beruht auf der einheitlichen Bewegungsrichtung. Die wechselhaften und konstanten Elemente bilden im Grunde genommen eine Einheitlichkeit.

Abb. 5: Schiller, Friedrich: Zeichnung der Schlangenlinie im Brief an Körner. In: Ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe. Bd. 26, S. 216.

3.2 Die Schlangenlinie in der Elegie Der Tanz Einige Jahre später nach den Kallias-Briefen greift Schiller das Thema des englischen Tanzes in seiner lyrischen Praxis wieder auf. 1795 schreibt er die erste Fassung der Elegie Der Tanz. An einige Freunde versendet, erfährt der Text sofort in diesem Kreis eine intensive Würdigung. Johann Gottfried Herder schreibt, „Der Tanz sei das schönste unter allen“ (NA 35, 274).19 von den an ihn gesendeten Gedichten Schillers; Wilhelm von Humboldt findet das Gedicht „meisterhaft gelungen“ (NA 35, 288).20 Darüber hinaus gibt er Schiller Ratschläge zur Verbesserung des Metrums, die dieser vor der Veröffentlichung des Gedichts gründlich berücksichtig hat.21 Schiller wünscht ursprünglich, das Ge-

Huberts dazu versehen. Das Titelblatt haben Schiller mit „Hogarth“ und Ludwig Ferdinand Huber mit „Winckelmann“ signiert. Die spielerische Art des Blattes wird durch die Pseudonyme unterstrichen. Schillers naive und unbearbeitete Zeichnung für Körner ist natürlich nicht mit dem Kunstwerk Hogarths vergleichbar. Vgl. Friedrich Schiller: Der Lachende Tragiker. Humoristische Bilder. Hg. v. Ludwig Ferdinand Huber. Stuttgart 1986. [Original 1862], Titelblatt. 19 Herders Brief an Schiller vom 05.08.1795. 20 Humboldts Brief an Schiller vom 18.08.1795. 21 Die erste Fassung, die Schiller 1796 veröffentlicht, ist bereits eine überarbeitete Fassung, die Humboldts Ratschlägen folgt. An drei Stellen hat Humboldt Vorschläge unterbreitet: 1)

3.2 Die Schlangenlinie in der Elegie Der Tanz

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dicht mit dessen Vertonung gleichzeitig publizieren zu lassen, um das Thema Tanz musikalisch zum Ausdruck zu bringen und die Musik Gestalt werden zu lassen. Der Komponist Johann Friedrich Reichardt lehnt jedoch aufgrund der metrisch bedingten Schwierigkeiten eine Vertonung des Gedichts ab.22 Körners Vertonung dagegen wird von Schiller als dilettantenhaft abgetan.23 Die erste Fassung des Gedichts wird schließlich 1796 separat ohne Noten im Musen Almanach gedruckt. Schillers Briefverkehr mit Körner, Herder und Humboldt während der komplexen Genese des Gedichts Der Tanz markiert, dass die Beschäftigung mit dem Tanz nicht allein Goethe und Schiller betrifft, sondern auch den Weimarer Kreis.24 Schiller wird durch den Gedankenaustausch motiviert, den Tanz neu aufzufassen. Er nimmt knapp vier Jahre später die erste Fassung wieder zur Hand.25 1800 wird die zweite Fassung im ersten Teil seiner sorgsam zusammenDer 11. Vers begann ursprünglich mit zweimal „jetzt“. Diese Wiederholung fand Humboldt zu hart. 2) Zum 17. Vers wünscht er einen anderen Einschnitt. 3) Im 4. und 5. Vers ist es die Reihenfolge, zuerst Pentameter und dann Hexameter, die Humboldt aufgrund der Regel zum Silbenmaß stört. 22 Schiller bittet zuerst Johann Friedrich Reichardt um die Vertonung von Der Tanz (Vgl. Schillers Brief an Reichardt vom 03.08.1795). Reichardt schlägt ihm diese Bitte ab, weil die Darstellung der Mannigfaltigkeit im Gedicht schwer in eine musikalische Einheitlichkeit umgesetzt werden könne (vgl. Reichardts Brief an Schiller vom 26.08.1795). Vgl. dazu auch Salmen, Walter: Anmerkungen zu einem Brief Schillers an den ‚vortrefflichen Freund‘ Johann Friedrich Reichardt. In: Siegrid Düll (Hg.): Götterfunken. Friedrich Schiller zwischen Antike und Moderne. Bd. 2. Begegnungen mit Schiller. Hildesheim [u. a.] 2007, S. 79–92. 23 Nach Reichardts Ablehnung bittet Schiller Körner um die Vertonung (Vgl. Schillers Brief vom 31.08.1795 an Körner). Durch Schillers Briefwechsel ist zu verfolgen, wie Körner das Gedicht Der Tanz trotz der Herausforderung nicht zueinander passender Versmaße für Orchester komponiert (vgl. Körners Brief an Schiller vom 09.09.1795). Die fertige Komposition wird an Herder geschickt und von diesem kritisiert (vgl. Herders Brief an Schiller vom 30.09.1795). Im Jahre 1795 wird die Komposition gedruckt und als Probedruck an Schiller gesendet (vgl. Michaelis’ Brief an Schiller vom 25.11.1795 und 27.07.1796). Die Komposition geht jedoch zuletzt verloren. Vgl. Seifert, Wolfgang: Christian Gottfried Körner. Ein Musikästhetiker der deutschen Klassik. Regenburg 1960, S. 37. 24 Es wäre eine eigene Studie wert, wie Körner und Humboldt zum Beispiel in diesem Ideenaustausch mit Schiller ihre eigenen Tanzauffassungen entwickelt haben. Körner wird von Schiller im Kontext der Kallias-Briefe ermutigt, Abhandlungen über die Bedeutung des Tanzes für die Zeitschrift Horen zu verfassen. Allerdings wurde dieser Text erst 1808 in dem von Kleist herausgegebenen Phöbus veröffentlicht. Zur gleichen Zeit berichtet Humboldt Schiller in einem Brief ausführlich von einer berühmten „Tänzerin aus Wien“, Maria Medina Viganò. Schiller teilt seine Begeisterung. (Vgl. Wilhelm von Humboldts Brief an Schiller vom 12.01.1796. In: NA 36/1, 80). 25 Vgl. Körners Brief an Schiller vom 09.09.1795 (NA 35, 329 f.), in dem Körner Schiller die Komposition zuschickt. Dabei erwähnt Körner einige Stellen, die ihm zu steif vorkommen und

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

gestellten Gedichtsammlung publiziert. Diese zweite Fassung steht außerdem in der Liste der in Schillers letzten zwei Lebensjahren geplanten Prachtausgabe.26 Die zweite Fassung erhält zwar keinen so großen Beifall wie die erste, sie erfreut sich aber erst bei den nächsten Generationen einer größeren Beliebtheit. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedauert der Tanzhistoriker Rudolph Voß, die gegenwärtige Tanzkultur vermöge Schillers idealtypischen Entwurf für den Tanz kaum zu verwirklichen. Dabei zitiert er die zweite Fassung von Schillers Der Tanz und lässt den Leser sich den idealen Tanz dadurch vorstellen: „Die Tanzenden mögen […] in so schöner anmuthiger Weise und im Takte tanzen, wie Schiller uns dort den Rundtanz reizend beschreibt.“27 In der heutigen Forschung wird die zweite Fassung häufiger zitiert und behandelt als die erste.28 In Der Tanz setzt Schiller seine philosophischen Überlegungen in die Poesie um. Zudem gestaltet Schiller nicht zufällig das Gedicht in einer bis in die Antike zurückzuverfolgenden Form der Dichtung – der Elegie. Wie Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) anmerkt, darf die distanzierte Trauer einer Elegie „nur aus einer, durch das Ideal erweckten, Begeisterung fließen“

bei denen das Schwunghafte der erwünschten Tanzmusik fehle. „Sieh“ mit folgendem Komma (V.1) erscheint ihm zu steif. Außerdem werde mit „Verwirrt durcheinander“ (V.13) der Daktylus nicht betont, weil die Silbe ‚wirrt‘ in „Verwirrt“ nicht weich genug klinge. Schiller hat Körners Anregungen, wie die zweite Fassung erkennen lässt, aufgenommen. 26 Auf das Angebot des Leipziger Verlegers Crusius, eine Prachtausgabe herauszugeben, reagiert Schiller erfreut: „Eine Prachtausgabe der Gedichte wird mir echt angenehm seyn.“ (NA 32, 21), Schillers Brief an Crusius vom 10.03.1803) Diese Prachtausgabe erscheint erst nach Schillers Tod. Ihr Inhaltsverzeichnis lässt erkennen, dass Schiller offenbar eine Vorliebe für das Gedicht Der Tanz hatte. Das Gedicht Die Macht des Gesangs, das mit der ersten Fassung von Der Tanz zusammen 1796 erschienen war und auch im Freundeskreis Schillers hochgepriesen wurde, wird von Schiller nicht in die Prachtausgabe aufgenommen. 27 Voß, Rudolph: Ueber den heutigen gesellschaftlichen Tanz und das Ballett. Nebst einem Auszug aus Lessing’s Übersetzung der Briefe Noverre’s über die Tanzkunst. Weimar 1862, S. 18. 28 Folgende Arbeiten zur Analyse beziehen sich zum Beispiel auf die spätere Fassung: Sträßner, Matthias: Tanzmeister und Dichter. Literatur-Geschichte (n) im Umkreis von Jean Georges Noverre. Berlin 1994. Röhnert, Jan: Die Anatomie der Bewegung. Das Spiel der Ideen und Bilder in Schillers ‚Der Tanz‘. In: Uni-Journal Jena. Sonderausgabe Friedrich Schiller. Jena 2005, S. 34 f. Mainberger, Sabine: Einfach (und) verwickelt. Zu Schillers „Linienästhetik“. Mit einem Exkurs zum Tanz in Hogarths „Analysis of Beauty“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 79 (2005), S. 196–252. Brandstetter, Gabriele: Die andere Bühne der Theatralität. ‚Movere‘ als Figur der Darstellung in Schillers Schriften zur Ästhetik. In: Walter Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 287–304. Busch-Salmen, Gabriele: „Das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des andern“. Schiller und der Tanz. In: Siegrid Düll (Hg.): Götterfunken. Friedrich Schiller zwischen Antike und Moderne. Bd. 2. Begegnungen mit Schiller. Hildesheim [u. a.] 2007, S. 59–78.

3.2 Die Schlangenlinie in der Elegie Der Tanz

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(NA 20, 450).29 Der widersprüchliche Charakter in der elegischen Ausdrucksweise zeigt sich in der inhaltlichen (Distanz zwischen Ideal und Realität) und metrischen Gestaltung (Hexameter und Pentameter).30 Der Tanz, „das treffendste Bild“ für den Umgang der Menschen in Schillers Kallias-Briefen, wird in der Elegie ins Ideale transformiert – Tanz ist hier sowohl ein ästhetisches Phänomen als auch ein soziologisches Ideal. Das Ästhetische, das Schiller bereits in den zitierten Kallias-Briefen in einer für seine späteren Schriften grundlegenden Weise behandelt, ist hier auf die komplexen Touren beim Tanz zu beziehen. Das Soziologische zeigt sich in der Idee, die im Tanz umgesetzt wird – der Übereinstimmung von eigener Freiheit und der des Anderen. Schillers Intention der Elegie liegt wohl darin, darauf zu verweisen, dass der englische Tanz eine gesellschaftliche Utopie darzustellen vermag. Das ästhetisch-soziologische Modell ist in der Realität jedoch nicht zu finden, was Trauer über die Diskrepanz, die zwischen den durch den Tanz vermittelten Idealen und dem realen Leben besteht, hervorruft. Da zwischen Tanz und Poesie aufgrund des rhythmischen Gesetzes eine Affinität besteht, kann die dichterische Sprache ein metaphorisches ästhetischsoziologisches Modell werden.31 Das Zusammenspiel von Versfuß und Worten

29 Zitat aus: Über naive und sentimentalische Dichtung. 30 Claudia Albert liefert in ihrem Buch ein facettenreiches Spektrum der Entwicklungsgeschichte der Elegie mit Beispielen von Dichtern, vgl. Albert, Claudia: „Das schwierige Handwerk des Hoffens.“ Hanns Eislers „Hollywooder Liederbuch“, Stuttgart 1991, S. 26–30. Norbert Oellers begründet mit Blick auf Den Tanz, Schiller habe jenes Metrum der Antike gewählt, weil dieser die Einflüsse der Antike auf seine Zeitgenossen in der poetischen Praxis umsetzen wollte. Mit seiner Aussage beruft sich Oellers auf den 22. Brief aus Schilllers Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen (NA 20, 381), vgl. Oellers, Norbert: Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst, 2. Aufl. Stuttgart 2005, S. 355. Albrecht Riethmüller verknüpft zweifelnd die Bemühung und Nachahmung des Metrums aus der Antike mit dem deutschen Nationaldenken. Vgl. Riethmüller, Albrecht: Friedrich Schiller. ‚Der Tanz‘. Die Harmonie des Rhythmus. In: Ders. (Hg.): Gedichte über Musik. Quellen ästhetischer Einsicht. Laaber 1996, S. 66–90, hier S. 72. Jan Röhnert betrachtet das Metrum in diesem Gedicht als optisch anregend. Durch die Absetzung des Pentameters in jedem Vers in gerader Zahl stimme das schlangenlinienartige Druckbild mit dem An- und Abschwellen der Hexameter und Pentameter überein. Diese natürliche Abstimmung erinnert Röhnert an die physische Systole und Diastole, Vgl. Röhnert, Jan: Die Anatomie der Bewegung, S. 34 f. 31 Alice Stašková hat ihre Gedanken zum Verhältnis von Tanz und Gang, Poesie und Prosa auf vergleichende Weise überzeugend zum Ausdruck gebracht. Tanz erfülle nicht unbedingt äußere Zwecke, Gang habe sich demgegenüber einem äußeren Zweck unterzuordnen. Die Sprache der Poesie habe in der „unabschließbaren Unendlichkeit der Figuren“ ihren Sinn, während die der Prosa auf das Erzählende abziele. Vgl. Stašková, Alice: Nächte der Aufklärung. Studien zur Ästhetik, Ethik und Erkenntnistheorie in „Voyage au bout de la nuit“ von Louis-Ferdinand Céline und „Die Schlafwandler“ von Hermann Broch, Tübingen 2008, S. 252.

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

erzeugt optische und klingende Dynamik.32 Das Spiel mit dem Metrum lässt die Wörter miteinander tanzen, vergleichbar mit einer variantenreichen Choreografie, die die Bewegungen der Tänzer aufeinander abstimmt. Vorausgesetzt ist allerdings die Vereinbarung auf rhythmischer Ebene beim Tanzen der Wörter sowie auch beim Tanz der Menschen. Schillers literarische Thematisierung und Übertragung des Tanzes auf die metrisch-gegliederte Bewegung der Verse in Der Tanz bildet den Ausgangspunkt dafür, den Tanz im Folgenden als einen der Kristallisationspunkte der Schiller’schen Tanzästhetik zu betrachten, und zwar sowohl in den theoretischen Schriften als auch in ihrer Ausgestaltung im Medium der Dichtung. Der enge Zusammenhang zwischen der Schiller’schen Schilderung des Tanzes und der Schlangenlinie als einem Muster dafür wurde in einigen Artikeln dargelegt,33 hingegen wurden die Unterschiede der beiden Fassungen wenig beachtet. Schillers Überarbeitung in der zweiten Fassung aus dem angeblichen Grund, eine rhythmische Verbesserung erreichen zu wollen, besteht nach meiner Vermutung nicht nur in der Veränderung der Form, sondern sie zeigt die Entwicklung und den Stellenwert seiner tanzästhetischen Reflexionen. Einige Verse mit Abweichungen, sind in Tab. 1 aufgelistet. Die erste und zweite Fassung werden mit ‚F1‘ und ‚F2‘ abgekürzt. Die deutlichen Veränderungen hebe ich mit Fettschrift hervor. Die Veränderung der Schiller’schen Tanzästhetik wird deutlich, wenn wir uns bei der Analyse der Elegie Der Tanz insbesondere auf die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen konzentrieren.34

32 Hier sind Bliss Perrys Worte anzumerken, auf Strophenform und deren Metren Rücksicht nehmende Dichtung sei vergleichbar mit ‚Tanz in Fesseln‘: „And few poets, furthermore, will admit that they are really in bondage to their stanzas. They love to dance in these fetters, and even when wearing the same fetters as another poet“. Perry, Bliss: A Study of Poetry. Boston 1920, S. 202. 33 Ich nenne hier ein paar einleuchtende Arbeiten. Müller-Farguell, Roger W.: Tanz-Figuren. Zur metaphorischen Konstitution von Bewegungen in Texten. Schiller, Kleist und Heine Nietzsche. München 1995, S. 76–84. Mainberger, Sabine: Einfach (und) verwickelt. Zu Schillers „Linienästhetik“. Mit einem Exkurs zum Tanz in Hogarths „Analysis of Beauty“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 79 (2005), S. 196–252, hier S. 217–237. Brandstetter, Gabriele: Die andere Bühne der Theatralität. ,Movere‘ als Figur der Darstellung in Schillers Schriften zur Ästhetik. In: Walter Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 165–181, hier S. 171–181. 34 Albrecht Riethmüller weist darauf hin, dass die spätere Fassung von der früheren beträchtlich abweicht. Ein Vergleich der beiden Fassungen, „so reizvoll und aufschlußreich er wäre, müßte gesondert angestellt werden.“ Riethmüller: Friedrich Schiller: Der Tanz, Fußnote 5.

3.2 Die Schlangenlinie in der Elegie Der Tanz

77

Tab. 1: Schillers Tanzästhetik in der ersten und zweiten Fassung Der Tanz. Vers F () (NA , )

F () (NA , )



Sieh, wie sie durch einander in kühnen Schlangen sich winden

Siehe wie schwebenden Schritts im Wellenschwung sich die Paare



Wie mit geflügeltem Schritt schweben auf schlüpfrigem Plan

Drehen, den Boden berührt kaum der geflügelte Fuß



Ist es Elysiums Hain, der den Erstaunten umfängt?

Schlingen im Mondlicht dort Elfen den luftigen Reihn?



Wie, vom Zephir gewiegt, der leichte Rauch durch die Luft schwimmt

Wie, vom Zephir gewiegt, der leichte Rauch in die Luft fließt



Schlüpft ein liebliches Paar dort durch des Tanzes Gewühl

Schwingt sich ein mutiges Paar dort in den dichtesten Reihn



Vor ihm her entsteht seine Bahn, die hinter ihm schwindet

Jetzt, als wollt es mit Macht durchreißen die Kette des Tanzes



Und die Regel doch bleibt, wenn die Gestalten auch fliehen

Und die Ruhe besteht in der bewegten Gestalt



(der Tanz) wälzt in künstlich schlängelnden Bahnen

(der Tanz) schwingt in kühn gewundenen Bahnen

(1) Die Schlangenlinie – Verbindung zur Tierwelt oder zu den Naturelementen? Die Linie der Tanzenden, die sich in F1 „in kühnen Schlangen“ zeigt, wird in F2 durch eine Linie „im Wellenschwung“ ersetzt. Das markiert einen Wendepunkt für Schillers Verständnis von der Schlangenlinie. In F1 bezieht sich Schiller noch auf das zusammengesetzte Substantiv ‚Schlangen-Linie‘. Die Alliteration in „Schritt schweben“ (V.2, F1) porträtiert durch den stimmlosen Frikativ „sch“ eine vorstellbare Schlange, die leise zischelnde Laute erzeugt. Die Wahrnehmung von ,kühnen Schlagen‘ scheint wohl auf die kaum hörbare Fortbewegung einer Schlange zurückzuführen zu sein, was einerseits elegant wirkt, andererseits aber auch für Angriffslust und Kühnheit steht. Die Willkür des Tanzes lässt sich somit direkt mit der eigenwillig erscheinenden Eigenschaft der schlängelnden Bewegung assoziieren. In F2 hingegen greift Schiller mit dem Begriff Wellenschwung auf Naturmotive und kosmologische Elemente zurück. Die Linie des Tanzes wird nun versetzt mit einem Naturphänomen, welches von der Vegetation unabhängig wirkt. Darüber hinaus wird das Verhältnis zwischen den Tanzenden und der Schwerkraft, von dem in F1 nicht die Rede war, nun in F2 besonders auffällig. Statt auf einem ‚schlüpfrigen Plan‘ zu tanzen, „drehen“ sich die Tanzpaare nun auf dem

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

‚Boden‘. Obwohl das lyrische Ich kaum eine Berührung zwischen dem „geflügelten Fuß“ und dem Boden sieht, wirkt die Existenz der Schwerkraft wie eine Voraussetzung für den Tanz. Auch deshalb wirkt der in Vers 3 zum Ausdruck gebrachte Willen zur Überwindung der Schwerkraft stark, indem Schiller die wie eine Hoffnung wirkende Frage formuliert: „Seh’ ich flüchtige Schatten, befreit von der Schwere des Leibes?“ (V.3, F2) Dass es der Anstrengung der Körper bedarf, sich von der Anziehungskraft der Erde zu lösen, hebt Schiller mit der Betonung der „Schwere des Leibes“ im Daktylus hervor. Schiller betont die Spur der Tanzformation in beiden Fassungen, insbesondere deren Richtung, indem er die Bahn der Tanzenden mit leichtem „Rauch“ vergleicht (V.5), welcher im weiten Raum der Luft, „fließt“ oder „schwimmt“. Der Hexameter wird durch „fließt“ und „schwimmt“ mit jeweils männlicher Kadenz beendet, der einzigen Ausnahme hinsichtlich der Kadenz der Hexameterverse im Gedicht. Das lässt darauf schließen, dass Schiller die Linie, besonders deren Weg, ganz bewusst gestaltet hat. In beiden Fassungen vergleicht Schiller die tanzende Bahn mit leichtem „Rauch“ (V.5), wobei die Perspektiven unterschiedlich sind. In F1 ist der Blickwinkel noch vom Boden aus in die Höhe gerichtet. Der Boden und der Luftraum werden getrennt betrachtet, weil der Rauch als etwas wahrgenommen wird, was „durch“ die Luft „schwimmt“ (V.5, F1). Der Bewegungsraum erscheint dadurch unbeschränkt, gar endlos. Der Blickwinkel in F2 erfolgt demgegenüber aus luftiger Höhe. Der Rauch, ein sichtbares Luftelement, „fließt in die Luft“ (V.5, F2) und erreicht somit sein Ziel, mit dem es sich vereinigt. Durch die zielgerichtete aufsteigende Bewegungslinie wird das Erdungsgefühl stärker wahrgenommen. (2) Die Schlangenlinie als Ziel oder Basis? Die Idylle „Elysiums Hain“ (V.4, F1) wird den Elfen, die im „luftigen Reihn“ „schlingen“ (V.4, F2), gegenübergestellt. Die Beschreibung ähnelt hier einer Tanzszene in Goethes Erlkönig (1782): Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein.35

Im Vergleich zu Goethe mystifiziert und romantisiert Schiller das Tänzerische. Das Mondlicht bedingt den nächtlichen Hintergrund.36 Die Elfen sind konkret

35 FA 1, 304. 36 Vgl. Rietmüller, Albrecht: Friedrich Schiller. Der Tanz. Die Harmonie des Rhythmus. In: Albrecht Riethmüller (Hg.): Gedichte über Musik: Quellen ästhetischer Einsicht. Laaber 1996, S. 66–90, hier S. 72.

3.2 Die Schlangenlinie in der Elegie Der Tanz

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vorstellbare mystifizierte Figuren im Vergleich zu den Töchtern des Erlkönigs, die nur das fiebernde Kind wahrnimmt. Statt das Verb ‚tanzen‘ zu verwenden, wie es Goethe tut, beschreibt Schiller die schlangenartig tanzende Linie mit dem Begriff Schlingen. Die in der Luft sich schlingenden Elfen korrespondieren mit der Schwere des Leibes – der Tanz stellt die Balance zwischen dem Luftigen und dem Erdungsgefühl her.37 Vergleicht man die Tanzbahn mit der Schlangenlinie, wird sie in F1 und F2 konträr gestaltet. Die Tanzbahn in F1 wird von den Tanzenden erschaffen. Die Bahn wird von ‚einem lieblichen Tanzpaar‘ angeführt, welches durch „des Tanzes Gewühl“ „schlüpft“ (V. 10, F1). Das Tanzpaar zählt zur Ausnahme in dem ganzen chaotischen Gewühl, zur Quelle, die eine neue Ordnung erschafft. Die Bahn bewegt sich fort mit dem Tanzpaar – „[v]or ihm entsteht seine Bahn, die hinter ihm schwindet“ (V. 11, F1). Die Bahn entsteht, solange das Paar die Führung innehat; die Bahn findet ihr Ende, wenn das Paar seinen Platz verlässt. Ephemer ist die Dauer der Bahn, deren Entstehungs- und Auflösungsprozess sind ewig. Eine saloppe Ausdrucksweise, wie sie bereits für die Beschreibung des Bodens, auf dem sich die Tanzenden bewegen, „auf schlüpfrigem Plan“ (V.2, F1), findet sich hier in „Gewühl“ (V. 10, F1) des Tanzes wieder. Dies gibt dem Rezipienten im Schlussteil eine klare Vorstellung von der Bahn, der die Tanzenden folgen; Die Tanzenden walzen „in künstlich schlängelnden Bahnen“ (V.31, F1). Dabei zielen die Tanzenden darauf ab, aus dem Chaos heraus, der Schlange ähnlich, einen neuen Weg zu schlagen. Während der Tanz in F1 aus dem Chaos nach eigener Regel entsteht, beruht der Tanz in F2 demgegenüber bereits auf der kosmologischen Ordnung. Dem „Wellenschwung“ entsprechend, „[s]chwingt“ sich das einzelne Tanzpaar, in einem gleichmäßigen Auf und Ab mit anderen Personen „in den dichtesten Reihn“ (V.10, F2). Statt ‚durch das Gewühl‘ (F1) zu ‚schlüpfen‘, sich also erst einen Platz zu verschaffen, ist es nun Ziel, ein harmonisches Miteinander aufgrund fließender schwingender Tanzschritte zu erzeugen. Das Tanzpaar dient in F2 nicht als Schöpfer einer Ordnung, sondern als Teilnehmer an einer existie37 Die Schlangenlinie, ,figura serpentina‘, hält Schiller für das Schönste. Mainberger greift auf die Entstehungsgeschichte der Schlangenlinie zurück und verknüpft sie intensiv mit der Kunsttheorie von Lommazo, Hogarth und Lessing. Müller-Farguell verweist im Vergleich der zwei Fassungen darauf, dass Schiller in der ersten Fassung die Schlangenlinie intensiver gestaltet. Brandstetter sieht Schillers Schlangenlinie als Bild für die Autonomie der Bewegung an. Vgl. Mainberger, Sabine: „Einfach (und) verwickelt“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 79 (2005), S. 196–252. Müller-Farguell, Roger W.: Tanz-Figuren. München 1995, hier S. 91. Brandstetter, Gabriele: Die andere Bühne der Theatralität. ,Movere‘ als Figur der Darstellung in Schillers Schriften zur Ästhetik. In: Walter Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 165–181, hier S. 179 f.

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

renden Spielregel, dem ‚dichteste(n) Reihn‘. Der Begriff „dicht“ wiederum zeugt für ein enges Beieinandersein der Tanzenden, was unterschiedlich interpretiert werden kann, zum einen als räumliche Enge, zum anderen als Verbundenheit der Tanzenden zueinander, was auf eine vorhandene Vereinbarung der Tanzenden hinweist. In F2 setzt Schiller durch die metaphorische Sprache, den Tanz in Zusammenhang mit dem Kosmos im astronomischen Sinn. Der in sich „wirbelnde Tanz“ (V.30, F2) schwingt „leuchtende Sonnen in kühn gewundenen Bahnen“ (V.31, F2). Dem personifizierten Tanz ist es möglich, Sonnen in das Weltall zu schwingen, auf Bahnen, die seinen gewundenen Bahnen ähnlich sind. Die Bewegung in Form der Schlangenlinie gilt in F1 noch als zielgerichtete Erfindung, erweist sich in F2 als Resultat aus kosmischen Bewegungen, als Basis für den englischen Tanz. (3) Einheit und Mannigfaltigkeit im Tanz Es geht nun um die Frage, wie das Verhältnis zwischen den Gegensätzen von Einheit und Mannigfaltigkeit aussieht. Hogarth hat sich die Schlangenlinie noch als „einen zarten Drat vorgestellet“. Der Draht ist „um die schöne und mannichfaltige Figur eines Regels gewunden“38. Dies bildet den Grund, warum Schiller den englischen Tanz hochschätzt. In Schillers Der Tanz macht die Freiheit des Einzelnen die Mannigfaltigkeit der Beteiligten aus, während die Gruppenchoreographie eine Einheitlichkeit ergibt – etwa wie die Einheitlichkeit in der Mannigfaltigkeit vor allem die Mannigfaltigkeit in der Einheitlichkeit.39 In F1 bleibt „die Regel“ (V.20, F1) erhalten, auch „wenn die Gestalten fliehn“ (V. 20, F1). Es zeigt sich eine Wechselbeziehung zwischen den tanzenden Figuren und der strengen Regel. In F2 drückt Schiller dies anders aus: „die Ruhe besteht in der bewegten Gestalt“. (V.20, F2) Es ist leicht, an dieser Stelle an Joachim Winckelmanns Metapher für die Bewegung des Meeres zu denken. „So wie die Tiefe des Meers allzeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten“.40 Das heißt, die Mannigfaltigkeit in der Schlangenlinie, vergleichbar mit der Oberfläche des Meers, korrespondiert überall mit der ewigen Regel der Schlangenlinie. Besonders in F2 vergleicht Schiller den Tanz mit der Bewegung

38 Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen. Verbesserter und Vermehrter Abdruck. Berlin 1754, S. 18. 39 Vgl. Kallias-Brief von 23.02.1793. (NA 26, 216). 40 Winckelmann, Johann Joachim: Kleine Schriften und Briefe. Hg. im Auftr. d. Institue für angewandte Kunst, Berlin. Ausw. Einf. u. Anm. v. Wilhelm Senff. Weimar 1960, S. 44. (Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst).

3.3 Tanz – Balance zwischen Pflicht und Freiheit

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des Weltalls.41 Der Tanz „schwingt“ „leuchtende Sonnen“ „in kühn gewundenen Bahnen“ (V. 31, F2). Die Harmonie des Weltalls besteht aus den Bahnen, denen die Gestirne folgen, und ihrer Drehung in Korrespondenz. In der Assoziation des Tanzes mit der Natur und dem Kosmos tendiert Schiller in F2 dazu, die Schlangenlinie mehr als Assoziation mit dem Tier Schlange aufzufassen. Er verknüpft die Schlangenlinie mit der Kosmos-Theorie, mit der Planeten-Bewegung, welches Bild an Lomazzos Theorie von Flammen erinnert, die „sich nach ihrer Sphäre empor“42 schwingen.

3.3 Tanz – Balance zwischen Pflicht und Freiheit Der englische Tanz aus Kallias-Brief, von dem am Anfang dieses Kapitels die Rede war, erweckt Schillers Bewunderung, nicht allein wegen der Vielfältigkeit im Tanz. Schiller setzt seine Beschreibung im selben Brief fort, beim englischen Tanz ist alles so geordnet, daß der eine schon Platz gemacht hat, wenn der andere kommt, alles fügt sich so geschickt und doch wieder so kunstlos ineinander, daß jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen scheint, und doch nie dem anderen in den Weg tritt. Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des anderen.43

Das Geschehen auf der Tanzfläche ist vergleichbar mit dem auf dem Schachbrett. Platzwechsel erfolgen zeitlich nahtlos und räumlich konfliktfrei. Das Besondere in Schillers Beobachtung für den englischen Tanz ist jedoch die ausgewogene Spannung zwischen ‚geschickter Fügung‘ und „kunstlos ineinander“ greifender Figuration. Das diplomatische Verhalten der Tanzenden ist eindeutig – der Wille des Einzelnen wird bewahrt, ohne die Freiheit des anderen zu stören. Da niemand andere aus der Tanzbahn hinausdrängt, scheinen die selbstbestimmten Bewegungen in eigener Freiheit „doch wieder so kunstlos“. Eine „kunstlose“ Formation bedeutet nicht, dass diese ohne künstlerische Fähigkeit gestaltet wird, sondern dass sie vor höchster Kontrolle nur einfach scheint. So können die Tanzenden mit dem Elektron in der Physik verglichen werden, das sich um den Atomkern bewegt, ständig und unauffällig, weil die Regel die Bewegungsmodelle festgelegt und deshalb nicht spürbar ist. Es ist die höchste Ebene der Kunst – die Kunst der Kunstlosen: „Artis est, artem tegere –

41 Düsing, Wolfgang: Kosmos und Natur in Schillers Lyrik. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 13(1969), S. 196–220, hier S. 213. 42 Hagedorn, Christian Ludwig: Betrachtungen über die Mahlerey. Leipzig 1762, S. 850 f. 43 NA 26, S. 216.

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

die höchste Kunst ist, Kunst selbst zu verbergen.“44 Dieser angeblich auf Ovids Liebeskunst (Publius Ovidius Naso: Artig Amazoria. zwischen 1–4. v. Chr.) zurückzuführende lateinische Spruch lautet ursprünglich „Kunst, die versteckt ist, nützt“ (Si latet ars, prodest)45, und steht dort in Zusammenhang mit der Vortäuschung von Liebe.46 Dieser Spruch hat in Hinsicht auf Tanz allerdings eine andere Konnotation. Die höchste Kunst erscheint einfach und leicht, ohne ihre Technik und Kunstfertigkeit spürbar zu machen.47 Hinter der scheinbaren Verwirrung beim englischen Tanz verbirgt sich eine absolute Beherrschung der Kunst und hinter der Leichtigkeit der Darbietung die Überwindung der Phase der Anstrengung. Die „kunstlose“ Bewegung hängt nicht minder mit der Absichtslosigkeit der Künstler zusammen. Bereits Moses Mendelssohn weist in Philosophische Schriften (1761) darauf hin, dass wahre Kunst frei von Zwecken ausgeführt werden kann. Wenn die „Bewegungen des Reizenden natürlich leicht fliessend und sanft auf einander hinweg gleiten, und (sich) ohne Vorsaz und Bewußtseyn zu erkennen geben“, wirken die Bewegungen in Übereinstimmung mit der Seele erst so „kunstlos“48. In Umkehrung – je mehr die Bewegung vom Bewusstsein getragen wird, desto mehr erlangt sie „den Charakter des Gesuchten“49. Mendelssohns Betonung der Naivität und Absichtslosigkeit findet ebenfalls bei Kant Bestätigung. Als Schiller sich damit auseinandersetzt, folgt er den Kant’schen Gedanken zu

44 Krug, Wilhelm Traugott: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. Bd. 1. A bis E. Leipzig 1832, S. 229. 45 Ovidius Naso, Publius: Ars amatoria – Liebeskunst. Nach der Übers. W. Hertzbergs bearb. von Franz Burger. 12. Aufl. München 1976, S. 82 f. 46 Klaus W. Hempfer hat die Entwicklungsgeschichte des angeblichen Spruchs „Ars est celare artem“ dargelegt. Das Zitat bei Ovid stehe, so Hempfer, in einem anderen Zusammenhang – durch Täuschung wird Liebe leichter erlangt. Hempfer, Klaus W.: Rhetorik als Gesellschaftstheorie. Castigliones Il libro del Cortegiano. In: Andreas Kablitz und Ulrich Schulz-Buschhaus (Hg.): Literarhistorische Begegnungen. Tübingen 1993, S. 103–122, hier S. 115 f. 47 Dass die Tanzenden ohne bemerkbare eigene Absicht tanzen, ist auf Aristoteles’ Philosophie über die Rhetorik übertragbar. Vgl. Aristoteles: Rhetorik, III 2,1404b: „Daher ist es erforderlich, die Kunstfertigkeit anzuwenden, ohne daß man es merkt, und die Rede nicht als verfertigt, sondern als natürlich erscheinen zu lassen – dies nämlich macht sie glaubwürdig“. Das sich im Kunstlosen verbergende Kunstvolle hat Hans Magnus Enzensberger in der Strukturanalyse zu Brentanos Lyrik dargelegt. Am Beispiel Brentanos Der Spinnerin Lied (1802) hat Enzensberger auf das Vertauschen von scheinbarer Naivität und Virtuosität hingewiesen. Vgl. Enzensberger, Hans Magnus: Über das dichterische Verfahren in Clemens Brentanos lyrischem Werk. Erlangen 1955, S. 63–66. 48 Mendelssohn, Moses: Moses Mendelssohns Philosophische Schriften, Teil 1, bey Christian Gottlieb Schmieder. Carlsruhe 1780, S. 225 f. 49 Mendelssohn, Moses: Moses Mendelssohns Philosophische Schriften, S. 227.

3.3 Tanz – Balance zwischen Pflicht und Freiheit

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Pflichten und Freiheit. Schiller stellt die Verbindung von Absichtslosigkeit und Autonomie her. Beide machen seine „Vorstellung des Voninnenbestimmtseyns“ (NA 26, 201) aus. Die Absicht der Bewegung geht verschwunden, wenn der äußere Zwang als Pflicht aufgehoben und somit nicht bemerkbar ist. Eindeutig unterscheidet Schiller Zwang und Drang bei der Bewegung. Schiller ist „jeder Tanzmeisterzwang im Gange und in den Stellungen“ (NA 26, 216) zuwider, spricht aber keinesfalls gegen Aneignung von großen Tanzfertigkeiten. Die Autonomie des Tanzes soll nach ihm jedoch auf meisterhafter Beherrschung der Technik, die als freiwilliger Zwang gilt, beruhen, um „kunstlos“ zu wirken. In der Zusammenarbeit mit Goethe an Schemata über Dilettantismus (1799) (Abb. 6) betont Schiller die Wichtigkeit der Tanz-Technik als Vorstufe für einen guten Tänzer. „Man muß es in der Tanzkunst deßwegen zur Meisterschaft bringen“, weil ansonsten „der

Abb. 6: Schiller, Friedrich und Johann Wolfgang Goethe: Schemata über den Dilettantismus, „Tanz“. In: Schiller, Friedrich: Schillers Werke, Nationalausgabe. Bd. 21, Anhang.

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

Dilettantism entweder unsicher und ängstlich macht, also die Freiheit hemmt und den Geist beschränkt, oder weil er eitel macht und dadurch zur Leerheit führt.“50 Die von Schiller gelobte Meisterschaft des Tanzes wird von Dilettanten weder erwartet noch erfüllt. Die negativen Ergebnisse des Erlernens von Tanz unter dem Einfluss des Dilettantismus, wie „Affektation“, „Steifigkeit“, und „Manieriertes Wesen“ tragen alle den Charakter von Förmlichkeit, von Dokumentation, aber keineswegs vom Verständnis für den Tanz. Deshalb kann „Dilettantism […] nur als Eintritt in die Kunst und nie sich selbst nutzen“51. Der Dilettantismus kann daher nur Eingang zur Kunst sein und nicht Kunst an sich.

3.4 Tanz und Umgang der Menschen in Schillers Der Tanz (1796/1800) Schiller verfolgt mit der Elegie wohl die Intention, darauf zu verweisen, dass der englische Tanz eine gesellschaftliche Utopie darzustellen vermag. Die Gedichtform der Elegie porträtiert in diesem Fall bildlich gesehen die tanzenden Paare. Mit 16 Distichen, die jeweils aus Hexametern mit männlicher Kadenz und Pentametern mit weiblicher Kadenz bestehen, gestaltet Schiller einen Rahmen für wechselnde Figuren von Männern und Frauen. Dadurch dass der Anfang der Verse im Pentameter gegenüber dem Anfang der Hexameterverse durch den Zeilensatz nach rechts eingerückt worden ist, ist ein Druckbild entstanden, welches durch die optische Wirkung an die Schlangenlinie denken lässt. So wird wiederum auch die Korrespondenz der Tanzenden zueinander gekennzeichnet.52 (1) Kooperatives oder selbstbestimmendes Paar? Betrachten wir die beiden Fassungen von Schillers Der Tanz, fallen die unterschiedlichen Charaktere der Tanzenden auf. Wenn das Tanzpaar in F1 sich noch im Chaos bemüht, Bahnen zu eröffnen, zeigt das Tanzpaar in F2 beruhend auf einer Ordnung schon die Tendenz zur Individualisierung, indem es so scheint, als ob es „die Kette des Tanzes“ „durchreißen“ (V. 11, F2) wolle. In F2 beruft sich das Paar nicht nur auf die vorhandenen Regeln, sondern sorgt gar durch Veränderung für neue Regeln. Während das Paar in F1 als Einheit zu sehen ist, tendiert das Paar in F2 zu Freiheit und schafft somit Mannigfaltigkeit. Dies ist im 9. und 50 NA 21, Anhang. Schemata über den Dilettantismus. (3) Tanz. (22.05.1799 Jena). 51 NA 21, Anhang. 52 Vgl. Röhnert, Jan: Die Anatomie der Bewegung: das Spiel der Ideen und Bilder in Schillers ‚Der Tanz‘. In: Friedrich Schiller – Spuren in Jena (2005), S. 32–33, hier S. 32.

3.4 Tanz und Umgang der Menschen in Schillers Der Tanz (1796/1800)

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10. Vers am deutlichsten zu sehen. In jeder Fassung versieht Schiller durch die Auswahl des Adjektivs das Paar mit einem ganz speziellen Charakter. Zwei Kategorien – ein liebliches Paar (V.10, F1) und ein mutiges Paar (V.10, F2) – lassen verschiedene Sichtweisen auf das tanzende Paar zu; in F1 kann es als ein sich einordnendes und in F2 als selbstbewusst und selbstbestimmt handelndes Paar gesehen werden. F1 9 Keinen drängend, von keinem gedrängt, mit besonnener Eile, 10 Schlüpft ein liebliches Paar dort durch des Tanzes Gewühl. (NA 1, 228) F2 9 Jetzt, als wollt es mit Macht durchreissen die Kette des Tanzes 10 Schwingt sich ein muthiges Paar dort in den dichtesten Reihn. (NA 2, 299)

Um das Handeln des Paares im Rahmen der anderen Tanzenden zu charakterisieren, unterstreicht Schiller durch die rhythmische Gestaltung in V.9 (F1) die Beschreibung der Figuration. Die aktive Form mit dem Trochäus steht hier der passiven Form mit dem durch einen Auftakt angeführtem Daktylus gegenüber. Die Aufzählung von Verhaltensweisen, getrennt durch das Komma zwischen den Wortgruppen ,Keinen drängend‘ und ,von keinem gedrängt‘ (V.9, F1) markiert die Verwobenheit des Miteinanders im Paartanz. Der erste Versfuß beginnt mit einem Trochäus – der steht mit der aktiven Form ,keinen drängend‘ (V.9, F1) im Einklang, was eine führende Figur und männliche Eigenschaften impliziert. Demgegenüber schließt die passive Form an den unbetonten Auftakt an, ohne Handelnde (,von keinem‘) und Aktivität (,gedrängt‘) (V.9, F1) außer Betracht zu lassen – explizit erscheint eine kooperative geführte Figur und dafür dann als respondierende weibliche Rolle. Die identische Beziehung der Tanzenden untereinander als Paare und der Paare miteinander nutzt Schiller als einen Übergang zur Fokussierung auf ein anonymes Tanzpaar. Der Augenblick, an dem von Schiller das Tanzpaar ins Zentrum der Betrachtung gerückt wird, ist als flüchtig zu empfinden. Das Wort ‚schlüpfen‘ (V.10, F1) assoziiert die Schnelligkeit der Bewegung und die Lebhaftigkeit des hervorspringenden Paares. Vor dem Paar ist der Weg zwar sichtbar, aber die Spuren des Paares verlieren sich mit der geänderten Position beim Tanz. In F2 Schiller setzt einen Zeitpunkt in Vers 9 an, ohne die koordinierte Figuration der Tanzpaare anzudeuten. „Jetzt“ (V.9, F2) ist ein Zeichen dafür, dass auf einen spannenden Szenenwechsel hingedeutet werden soll. Durch die Verwendung des Konjunktivs II wird explizit darauf verwiesen, dass das anonyme Paar, Hauptakteur der folgenden Szene, mit Macht die Kette des Tanzes „durch-

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

reißen“ (V.9) wolle. Somit erscheint das Paar stürmisch und souverän als Mittelpunkt dieser Szene. Das Schwingen des Paares „in den dichtesten Reihn“ (V.10) wird in den anschließenden vollständigen Daktylen unterstrichen. Der räumliche Weg des Tanzpaars bleibt grundsätzlich zwar unverändert in F2, allerdings entsteht dem Paar (ihm) der Weg, was auf Mitwirkende dieser Wegbereitung für das Paar und das Zusammenwirken mit den Anderen verweist. Außerdem wählt Schiller den Trochäus beginnend mit „schnell“ (V.10), um die Aktivität und Führungsrolle des Paares zu betonen. Ebenfalls bezeugen die Verse 21 und 22 mit der Beziehung der Tanzenden zum ‚stillen Gesetz‘, das „der Verwandlung Spiel“ (V. 18, F1/2) steuert, die unterschiedlichen Charaktere der Tanzenden. F1 21 Daß mit Herrscherkühnheit einher der einzelne wandelt, 22 Keiner ihm sklavisch weicht, keiner entgegen ihm stürmt? (NA 1, 228) F2 21 Jeder ein Herrscher, frei, nur dem eigenen Herzen gehorchet 22 Und im eilenden Lauf findet die einzige Bahn? (NA 2, 299)

Der Kerngedanke in Vers 21 und 22 (F1/F2) betrifft das Gesetz zwischen der „eigenen Freiheit“ und „der geschonten Freiheit des andern“ (NA 26, 217). Dabei sind jedoch die Verhältnisse der Tanzenden zum Gesetz konträr. In F1 tritt der einzeln Tanzende kooperativer auf. Die Schonung der Freiheit, dass „[k]einer dem Einzelnen sklavisch weicht“ (V.22, F1) und „keiner entgegen ihm“ (V.22, F1) stürmt, hebt die allgemeine Gültigkeit des Gesetzes hervor. Die Anapher, zwei aufeinander folgende Sätze beginnen mit ,Keiner/keiner‘, kennzeichnet die positive Reaktion der Beherrschten. Die vollständigen Daktylen im Pentameter von Vers 22 erzeugen den Eindruck eines Zusammenwirkens ohne Konflikte. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die Herrschaft des Einzelnen in F2 durch Aktivität und Selbstbewusstsein jedes aus – „jeder ist ein Herrscher“ (V.21, F2), gehorcht seinem eigenen „Herzen“ (V.21); jeder ist „frei“ (V.21) von jeglicher Fremdbestimmung. Dadurch, dass vor und hinter frei jeweils ein Komma steht, wird die Bedeutung der eigenen Freiheit stark betont. Deutlich wird dieses Handeln entsprechend der Eigenbestimmung hinterfragt: Findet der Handelnde „die einzige Bahn?“ (V.22, F2), was auf die Bedeutung von Freiheit aufmerksam macht. Die regelwidrige Pause, bedingt durch die Kommata, verstärkt ebenfalls die Wichtigkeit der freien Selbstbestimmung, die mit der Autonomie des Tanzpaars vergleichbar und durch den temperamentvollen „eilenden Lauf“ (V.22, F2) nachvollziehbar ist. Die Schonung der Freiheit, dass keiner

3.4 Tanz und Umgang der Menschen in Schillers Der Tanz (1796/1800)

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dem Einzelnen „sklavisch weicht“ und „keiner entgegen ihm“ stürmt, hebt die Macht des Gesetzes hervor. Die Anapher, zwei aufeinander folgende Sätze beginnen mit „keiner“, betont die positive Reaktion der Beherrschten. Die vollständigen Daktylen in Vers 22, unterbrochen durch eine Pause, typisch im Pentameter, erzeugen den Eindruck von einem Zusammenwirken ohne Konflikte. (2) Stilles Gesetz – Maß und Rhythmus in der Musik Zur Fokussierung auf die Frage, wer den englischen Tanz dirigiere, stellt Schiller dem Rezipienten zunächst eine rhetorische Frage und gibt dann die Antwort. Erstaunlicherweise wird nicht ein Wort innerhalb der vier Verse V. 23–26 in der späteren Fassung verändert, was zur einzigen Ausnahme im Gedicht zählt – die Wichtigkeit des Inhalts dieser Verse ist deswegen nicht zu übersehen. 23

Willst du es wissen? Es ist des Wohllauts mächtige Gottheit, 24 Die zum geselligen Tanz ordnet den tobenden Sprung, 25 Die, der Nemesis gleich, an des Rhythmus goldenem Zügel 26 Lenkt die brausende Lust, und die gesetzlose zähmt. (NA 1, 228) (NA 2, 299)

Die „des Wohllauts mächtige Gottheit“ (V.23, F1/F2) dirigiert den Tanz. Albrecht Riethmüller hat die Gottheit als metaphorisches Bild für die Musik gedeutet. Damit verbindet er diese mit der Göttin der Eintracht im griechischen Mythos – Harmonia.53 Die Gottheit fungiert hier nicht als Quelle für die harmonische Schöpfung, sondern sie übt eine ähnliche Funktion aus wie die griechische Göttin des gerechten Zorns – Nemesis, die für Ausgleich sorgt.54 Die Gottheit „lenkt an des Rhythmus goldenem Zügel“ (V.25 F1/F2) die Tanzenden, um einen wil-

53 Riethmüller zufolge hat die Harmonie in diesem Gedicht eine weit gefasste Konnotation. Sie beziehe sich nicht nur auf den Wohlklang der Musik, sondern auch auf die Übereinstimmung der Tanzenden, die Balance zwischen Leichtigkeit und Erdung. Harmonie ist vor allem auf das Zusammenspiel von Flüchtigkeit und Ewigkeit des Tanzes sowie die spannungsvolle Handlung (besonders in F2) zu beziehen. Riethmüller kritisiert die Auffassung, dass mit Harmonie ausschließlich Euphorie gemeint sei. Seiner Interpretation entsprechend kommt die tragende Rolle nicht der Musik zu, sondern vielmehr dem Rhythmus, der die körperliche Harmonie betont, vgl. Riethmüller: Friedrich Schiller: Der Tanz, S. 75 f. Oellers vertritt dagegen eine andere Position. Ihm zufolge steht bei Schiller in Der Tanz die Musik im Vordergrund. Schiller schreibt zur gleichen Zeit im Brief an Körner: Die „Musik in ihrer höchsten Veredlung muß Gestalt werden.“ (NA 20, S. 381) Der Tanz diene im Gedicht, so Oellers, einer Realisation der Musik, vgl. Oellers, Norbert: Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst, 2. Aufl. Stuttgart 2005, S. 354. 54 Jürgen Barkhoff verweist auf Herders mythologische Figur der Nemesis als „Göttin des Maßes“, ebenso wie in der Folge Schiller in Der Tanz. Vgl. Barkhoff, Jürgen: Tanz der Körper –

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

den, lustvollen, ekstatischen und gar bacchantischen Tanz zu vermeiden. Sie zähmt mittels Rhythmus das gesetzlose „Gewühl“ (V.10, F1) und das „wilde Gewirr“ (V.13, F2), um „den tobenden Sprung „(V.24, F1/F2) zu einer höheren Kategorie, „zum geselligen Tanz“ (V.24, F1/F2), zu entwickeln.55 Ja, der Rhythmus ist ein Werkzeug zum Regieren, so Schiller: Der Rhythmus leistet bei einer dramatischen Production noch dieses große und bedeutende, daß er, indem er alle Charactere und alle Situationen nach Einem Gesetz behandelt [...] Alles soll sich in dem Geschlechtsbegriff des Poetischen vereinigen, und diesem Gesetz dient der Rhythmus sowohl zum Repraesentanten als zum Werkzeug, da er alles unter Seinem Gesetze begreift.56

Poesie an sich ist nach Schiller eine rhythmische Manifestation, die dem Rhythmus entsprechend aufgebaut wird. Wie am Anfang des Texts von der Affinität zwischen Poesie und Tanz gesprochen wird, sind die Tanzbeschreibungen in Der Tanz vergleichbar mit der Poesie, weil die Tanzenden ebenfalls „des Rhythmus goldenem Zügel“ (V.25, F1/F2) folgen und sodann „der wirbelnde Tanz“ (V.30, F1/F2) durch rhythmische poetische Gestaltung entsteht. Die Poesie ist wiederum ein Tanz, wie Schiller in den Kallias-Briefen – den Vers personalisierend – bemerkt. Eine Versifikation ist schön,57 heißt es dort, wenn jeder Vers seine individuelle Freiheit und Selbstständigkeit wie „Länge und Kürze“ (NA 26, 214) und „Bewegung und seinen Ruhepunkt“ (NA 26, 214) hat und wenn „jeder Reim […] wie gerufen kommt“ (NA 26, 214). Trotz der Unabhängigkeit jedes Verses fällt insgesamt alles so aus, „als wenn es verabredet wäre“ (NA 26, 214). Die tänzerische Beziehung der Verse zueinander, als ob ein stilles Gesetz den Takt vorgäbe, macht die Poesie aus. Das ,Gesetz‘ aus dem obigen Zitat, dem der Rhythmus zur Entfaltung als Phänomen und Mittel – sowohl „zum Repräsentanten als zum Werkzeug“ (NA 29, 160) dient, erscheint im Gedicht Der Tanz als das Wort „Takt“ (V.29, F1/F2). Es kann hier auch gleichbedeutend als Metrum verstanden werden. Metrum ist

Tanz der Sprache. Körper und Text in Friedrich Schillers Gedicht „Der Tanz“. In: Schiller-Jahrbuch 45 (2001), S. 147–163, hier S. 156 f. 55 Janina Knab erwähnt die Beziehung zwischen Sprung und Tanz hinsichtlich der Schlangenlinien. Sie zitiert aus Schillers Brief vom 23.02.1793: Die Natur liebt keinen Sprung, stattdessen werde die Schlangenlinie beim Tanz für die schönste gehalten. Vgl. Knab, Janina: Ästhetik der Anmut. Studien zur ‚Schönheit der Bewegung‘ im 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1996, S. 226–228. 56 NA 29, S. 160 (Schillers Brief an Goethe vom 24.11.1797). 57 Vgl. NA 26, 214 (Schillers Brief an Körner vom 23.02.1793).

3.4 Tanz und Umgang der Menschen in Schillers Der Tanz (1796/1800)

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wiederum das griechische Wort für ,das Maaß in der Poesie‘.58 Im 27. Brief in Über die ästhetische Erziehung der Menschen ordnet Schiller das Wort Takt dem Gesetzgebenden in der Musik zu: „die verworrenen Laute der Empfindung entfalten sich, fangen an dem Takt zu gehorchen und sich zum Gesange zu biegen“. (NA 20, 409) Der Takt in der Musik variiert als Silbenmaß in der Poesie und Schritt beim Tanz, was Schiller im letzten Vers mit dem gesetzgebenden Begriff des „Maaß[es]“ (V.32, F1/F2) hervorkehrt. Schillers Unterscheidung von Takt und Rhythmus liegt historisch zwischen der Erörterung bei René Descartes im Compendium Musicae von 1618,59 und der Takt-Rhythmus-Kontroverse um 1900.60 Das Maaß spielt eine grundlegende Rolle und bildet die Basis für die rhythmische Gestaltung, was aber nicht bedeutet, dass Rhythmus dem „Maaß“ unterworfen ist.61 In der Tat haben die Veränderung von Wortwahl und der Wechsel im Rhythmus Auswirkungen auf das Bild vom Tanz. Dennoch bleibt das „Maaß“ gleich, sowohl das Metrum im Distichon als auch das Gesetz beim Paartanz.62 Nur die Verpflichtung der Tanzenden ist nicht spürbar, weil sie wie die „Schwere des Leibs“ (V.3, F2) aufgehoben ist. Deshalb erscheint das „Maaß“ in der Kunst vergleichbar mit dem „Voninnenbestimmtseyn“ (NA 26, 201) im Sinne der Freiheit – einem Aspekt der goldenen Proportion zwischen „Pflicht und Neigung“. (3) Trauer um fehlendes Maß im Handeln Kann das ausgewogene Maß, wie es im Tanz als Basis für Konfliktlosigkeit beschrieben wird, in das reale Leben übertragen werden? Eine solche Überlegung stellt Schiller in seinen Ausführungen zu einem ästhetischen Staat im 27. Brief 58 „[D]er gelehrige Fuß“ wird von Riethmüller in doppelter Weise verstanden, einerseits „im Sinne des Fußes, der im Tanz schreitet“ und andererseits im Sinne des Metrums, der Versfuß im Gedicht, vgl. Riethmüller: Friedrich Schiller: Der Tanz, S. 73. 59 Descartes, René: Compendium of music. Übers. v. Walter Robert, American Inst. of Musicology, Rome [u. a.] 1961, S. 13–15. (Kapitel: Number of time in sound). 60 Vgl. Lubkoll, Christine: Rhythmus. Zum Konnex von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne um 1900. In: Ders. (Hg.): Das Imaginäre des Fin de siècle. Freiburg im Breisgau 2002, S. 83–110, hier S. 83. 61 Lubkoll, Christine: Rhythmus, S. 4, 10–13. „Die Emanzipation des Rhythmus vom Takt“ (S. 4) ist in diesem Gedicht nicht deutlich zu erkennen, aber die Gegenläufigkeit von „Metrum und Rhythmus“ (S. 16) ist durch die freie Kommasetzung und die regelwidrigen Stellen in Vers 27 (F2) spürbar. 62 Wilhelm Seidel zufolge bilden Rhythmus und Metrum seit der Antike ein Begriffspaar, „Maß“ sei „nie durch den Terminus Rhythmus verdrängt worden“ (S. 292). Im 18. Jahrhundert ist Rhythmus eher ein „Stilmittel, das […] alle Gattungen prägt“ (S. 304), vgl. Seidel, Wilhelm: „Rhythmus“. In: Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karlheinz Barck [u. a.]. Bd. 5. Stuttgart/Weimar 2003, hier S. 292, 304.

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3 Vom „tobenden Sprung“ zum „geselligen Tanz“

in Über die ästhetische Erziehung des Menschen an. Die Hoffnung auf einen solchen Staat scheint Schiller jedoch gering zu sein: Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfniß nach existiert er in jeder feingestimmten Seele; der That nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, [...] wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht, und weder nöthig hat, fremde Freyheit zu kränken, um die seinige zu behaupten. (NA 20, 288)

Schiller ist sich dessen bewusst, dass solch ein Staat zwar von bestimmten Menschen „mit einer feingestimmten Seele“ (NA 20, 288) erträumt wird, allerdings in der Realität nur von einer Elite, „auserlesenen Zirkeln“ (NA 20, 288), gestaltet werden könnte. Die geringe Hoffnung auf die Existenz des oben genannten Staates schlägt sich in den offenen Fragen am Ende der ersten Fassung Der Tanz nieder. Die letzte offene Frage – „Handelnd fliehst du das Maaß, das du im Spiele doch ehrst?“ (V.32, F1) – offenbart noch Hoffnung, aber auch Zweifel, ob sich das Handeln im Leben einer Ordnung unterwerfen könne, die „im Spiele“ (hier beim Tanz) akzeptiert würde, als Ausdruck von Distanziertheit. Die Fragenzeichen verlangsamen das Tempo der Aufnahme der Informationen und bringen den Rezipienten zum Überlegen. In F2 wird der letzte Vers nicht mehr als Frage, sondern als Antwort formuliert. Der veränderte Grundton ist zu erahnen – das lyrische Ich stellt sich diesmal selbst die Frage und gibt die Antwort auch selbst. Die Antwort – „Das du im Spiele doch ehrst, fliehst du im Handeln, das Maaß.“ (V.32, F2) – ist eine klare Verneinung der Gültigkeit des Tanzes für das Zusammenleben der Menschen.63 Das Gesetz, woran man sich sowohl beim Tanz als auch beim Spiel hält, ist beim Handeln im Alltag kaum erfüllbar –so der Tenor des Gedichts.64 Eine leise Ermahnung in F1 und ein rebellischer Aufruf aus Traurigkeit und Enttäuschung heraus sind in F2 als Anliegen am Ende der Elegie wahrzunehmen. Die Satzgliedstellung im letzten Vers wird im Übergang von F1 zu F2 erheblich geändert. Das „Maaß“ (V.32, F2) wird in F2 stärker akzentuiert, indem Schil-

63 Die Interpretationen des letzten Verses gehen meistens in Richtung der Idealisierung oder Antizipation eines politischen Modells. Mit Blick auf die Kunstform Tanz, bringt Schiller hier eine distanzierte Trauer angesichts des realen Lebens zum Ausdruck, in dem das Maß nicht in gleicher Weise wie beim Tanz berücksichtigt wird. 64 Herbert Kraft erläutert mit Bezug auf F2 Grund und Zweck der allegorischen Bedeutung des Tanzes. Die Einheit, die in diesem Gedicht im Tanz wirksam ist, sei in der Wirklichkeit noch nicht hergestellt. Der Zweck der Darstellung sei es, diesem Mangel in der Wirklichkeit abzuhelfen. Die mahnende Bedeutung dieses Gedichts werde durch seine Interpretation erkennbar. Vgl. Kraft, Herbert: Um Schiller betrogen. Pfullingen 1978, 187 f.

3.4 Tanz und Umgang der Menschen in Schillers Der Tanz (1796/1800)

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ler den letzten Vers mit einem Relativsatz beginnt und das Subjekt „das Maaß“, auf das sich das Relativpronomen ‚das‘ zu Beginn des Verses bezieht, zur Rahmung an den Schluss des Verses setzt. Nach der Unterbrechung durch das Komma im letzten Daktylus betont Schiller folglich absichtlich das „Maaß“ in der Satzmelodie als etwas Besonderes. Somit erscheint „das Maaß“ als ‚das letzte Wort‘ der Elegie – „auf dem selbst noch der Nachdruck der Thesis lastend verharrt“.65 Insgesamt kann gesagt werden, dass Schiller mit seiner Arbeit an der Elegie Der Tanz seine Anschauungen zur Tanzästhetik weiterentwickelt und versucht, diese zugleich im Text umzusetzen. Dabei lässt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen den in den Kallias-Briefen geäußerten theoretisch-ästhetischen Überlegungen und der Behandlung des Themas Tanz im Medium der Dichtung feststellen. Der englische Tanz, der aus Sicht Schillers ein ideales Verhältnis der Menschen zueinander lehrt, fungiert als Grundlage für die spätere dichterische Entfaltung dieser Thematik in Der Tanz. Der Kerngedanke, dass im Tanz eine einvernehmliche Balance von Willkür und Ordnung besteht, wird in den beiden Fassungen der Elegie beibehalten. Bei der Übertragung der Tanzästhetik auf die Dichtung nutzt Schiller die Vielfalt gestalterischer Mittel der Lyrik, um eine Harmonie zwischen Inhalt und Form herzustellen. Erstens lässt Schiller die Wörter gewissermaßen ‚tanzen‘. Dies geschieht durch die Rhythmisierung der Sprache und Dynamisierung der beschriebenen Szenerie, die nun besser erlebbar ist. Zweitens lässt die Veränderung der Perspektive die Tanzszene anschaulich werden und setzt sie in Bewegung. Die als Hogarth’sche Schlangenlinien angesehenen Tanzspuren treten nun deutlicher zutage. Verstärkt werden auch die Beziehung des Zuschauers zum Tanzgeschehen und seine Einbeziehung in das Geschehen, was sowohl der Kommunikationsabsicht des lyrischen Ichs entspricht als auch durch die Form der Kommunikation hervorgerufen wird. Auch die Fokussierung auf ein einzelnes Tanzpaar, anstatt den Blick auf die ganze Tanzgruppe zu richten wie in den Kallias-Briefen (NA 26, 216), ist eine der Pointen in der facettenreichen Gestaltung der Elegie. Drittens positioniert sich Schiller zur Problematik hinsichtlich des ,Maaßes‘ eindeutig, welche in den Kallias-Briefen noch nicht durchdacht worden ist. Das Maaß als das stille Gesetz stellt die Schwelle zwischen dem Tanz als Ideal und dem Handeln im realen Leben dar – daraus wiederum entwickeln sich das Spannungsfeld zwischen dem Ideal und der Realität und die distanzierte Trauer in der Elegie.

65 Müller-Farguell, Roger W.: Tanz-Figuren. Zur metaphorischen Konstitution von Bewegungen in Texten. Schiller, Kleist, Heine, Nietzsche. München 1995, S. 97.

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Schillers Veränderungen in der zweiten Fassung beziehen sich nicht nur auf eine Bearbeitung der Form, sondern die Möglichkeiten zur sinnlichen Fassbarkeit werden erweitert und die Auffassung zu dem Verhältnis der Tanzenden zueinander wird dadurch herausgestellt. Die Beschreibung des Tanzes als das ästhetisch-soziologische Modell wird zwar leicht variiert, aber der Kerngedanke hebt das „Maaß“, das Taktvolle des Umgangs, das Ideal des Maßverhaltens, unverändert hervor. Der dem „Maaß“ zuzuordnende Rhythmus vereint, seiner semantischen Bedeutung entsprechend, Poesie und Tanz und führt „trotz ihres innern Unterschiedes schließlich zu Einer Form“ (NA 29, 160).66

3.5 Nachhall in Huldigung der Künste (1804) Als Schiller vom Weimarer Hof beauftragt wurde, ein Gelegenheitsgedicht zur Hochzeit des Weimarer Erbprinzen Friedrich mit der russischen Großfürstin Maria Pawlowna zu widmen, verfasst er Huldigung der Künste (1804).67 Dort lässt er die personifizierten Künste auf die Bühne treten und die Aufgabe übernehmen, das Heimweh der russischen Großfürstin zu stillen. Die Funktion der ästhetischen Erziehung, mit der Schiller sich langjährig befasst hat, klingt hier im Gedicht nach. Unter den sieben Künsten spielt die Tanzkunst eine besondere Rolle, weil sie mehrmals als Bindeglied fungiert, zwischen dem volkstümlichen und ätherisch-göttlichen Raum. Somit koordiniert sie das Gleichmaß verschiedener Künste. Auch folgen Schillers Gedanken zu Pflicht und Freiheit analog den Tanzschritten. Die Handlung beginnt mit einer Tanzszene in der Natur, in der die Landleute einen Orangenbaum einpflanzen, um bei der aus der Ferne kommenden Großfürstin heimatliche Gefühle zu wecken. Sie „tanzen in einem bunten Reihen um den Baum“ (NA 10, 284). Der Tanz um den Baum kann als archaische Verehrung für die Natur angesehen werden.68 Zugleich fungiert dieser Tanz als 66 Schillers Brief an Goethe vom 24.11.1797. (Hier ist Großschreibung von „Einer“ innerhalb des Satzes auch im Original). 67 In der damaligen Modezeitschrift Journal des Luxus und der Moden wird sowohl über die Festlichkeit als auch über Schillers Beitrag berichtet. Anlässlich der Hochzeit sei „Hrn. Hofrath von Schiller die Weihe des Tages zu verdanken“, weil er „in einem sinnreichen-allegorischen Vorspiele Kränze poetischer Immortellen dem Durchlauchtigen Paare reichte“. Zitat aus: Ankunft und feierlicher Einzug des Durchl. Erbprinzen von Sachsen-Weimar und dessen Gemahlin, Kaiserl. Hoheit. In: Journal des Luxus und der Moden, 19 (1804), S. 542–552, hier S. 546. 68 Da die Sonne als Element des Himmels und die Erde den Baum nähren, wird der Baum das Verbindungsglied zwischen drei Ebenen der Welt, dem unterirdischen, irdischen und himmlischen Raum gesehen. Der Baum steht für Fruchtbarkeit und Jugend, sodass ihn die Landleute

3.5 Nachhall in Huldigung der Künste (1804)

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eine Überleitung und transformiert die ländliche Atmosphäre zur göttlichen Welt. Nach diesem fröhlichen Tanz wandelt sich die volkstümliche Musik „in einen edleren Styl“ (NA 10, 284), der Genius und die sieben Künste treten in die Mitte. Während die Landleute fragen, ob sie der Fürstin den Baum als ‚Preis der Natur‘ widmen können, verweist der Genius darauf, dass nur die Künste das höchste Amt haben, das Heimweh der Fürstin zu vertreiben und „ihr eine Welt des Schönen“ (NA 10, 291) darzubieten – die Anbetung der Natur wird somit ersetzt durch die Hochpreisung der Künste. Schiller folgt seiner kunsttheoretischen Vorstellung von der „ästhetischen Erziehung des Menschen“ von wilder Natur zu gezähmter Zivilisation. Nun treten einzelne Künste auf und stellen ihre Charaktere und Funktionen vor. Es ist nicht von ungefähr, dass die Tanzkunst bei der „ästhetischen Erziehung“ mit einer Zimbel auftritt und „das Gleichmaß“ (NA 10, 291) als zentrales Merkmal vorlegt: Die Freude führ’ ich an der Schönheit Zügel, Die gern die zarten Grenzen übertritt; Dem schweren Körper geb’ ich Zephyrs Flügel, Das Gleichmaß leg’ ich in des Tanzes Schritt. Was sich bewegt, lenk’ ich mit meinem Stabe, Die Grazie ist meine schöne Gabe. (NA 10, 290)

Schiller stellt hier – wie im Gedicht Der Tanz – das „Gleichmaß“ als zentralen Begriff für seine Kunsttheorie heraus. Er betont er die Relativierung und die Harmonisierung zwischen dem „schweren Körper“ und leichten „Zephyrs Flügel“ (NA 10, 290). Damit kann er zum einen auf die zum Tanz gehörende Wechselbeziehung zwischen Fersen (Schwere) und Zehen (Leichtigkeit) hindeuten, zum anderen metaphorisch auf Pflicht und Freiheit. Schiller betrachtet Leichtigkeit als Maßstab für einen schönen Tanz. Die Leichtigkeit vermag den „muntern Reigen [zu] schlingen“ (NA 10, 291) und ihn zur Einheit erheben. Aber sie kann nur in einer durch ausgewogene „Freyheit bewegten Gestalt“ (NA 21, 213) sichtbar gemacht werden. Im Gegenteil dazu kann das, „was angestrengt wird“ und durch fremden Zwang bewirkt wird, niemals Leichtigkeit zeigen“ (NA 20, 280)69. Den Schlüssel für die Leichtig-

mit „Freude, Freude, neues Leben“ (NA 10, 284) besingen. Man wird erinnert an den von den Hesperiden behüteten Wunderbaum, den Gaia zu Heras Hochzeit mit Zeus gepflanzt hatte. Der Baum trägt goldene Äpfel, die ewige Jugend bewahren können. Auch an das biblische Motiv vom Baum der Erkenntnis, der Evas und Adams Eintritt in das irdische Leben markiert, lässt sich denken. 69 Zitat aus Schillers Über Anmut und Würde.

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keit enthüllt Schiller anschließend: Es ist schließlich der „Stab“, welcher das „Gleichmaß“ im Tanz ermöglicht, um Grazie „als schönste Gabe“ (NA 10, 290) darbieten zu können. Hier erinnert Schiller mit anderen Worten an die wesentliche Funktion des Maßes, den er im Gedicht Der Tanz herausgestellt hat.

3.6 Schlangenlinie in Rodolphe Töpffers Die Geschichte des Monsieur Jabot (1833) Schiller zieht Hogarths Schlangenlinie nicht nur in ihrer ästhetischen Wirkung heran, sondern auch im Kontext des Gesellschaftslebens. Die Hochschätzung für die Schlangenlinie verbreitet sich über Zeit und geographischen Raum. Als der Schweizer Schriftsteller Rodolphe Töpffer einige komische Bildergeschichten entwirft, wirkt er zugleich als Zeichner. So schafft er eine fortlaufende literarische Handlung in Bildern und kann als einer der ersten Bilderbuch-Autoren gekrönt werden, an dessen Komik-Zeichnungen sich später Wilhelm Busch anlehnen wird. Töpffer stimmt in Essay zur Physiognomie (1845) Hogarths Gedanken zu – Maler können mit ein paar Strichen einen starken und anschaulichen Ausdruck erreichen.70 Vermutlich angeregt von Hogarth’ Karikatur des englischen Tanzes in Analysis of Beauty, verdeutlicht Töpffer bereits früher eine Variante der Schlangenlinie in seiner Zeichnung. Zufällig bringt er die Schlangenlinie – wie Hogarth und Schiller – mit Tanz in Zusammenhang. Er karikiert allerdings so die Gepflogenheit der gesitteten Gesellschaft in seinen komischen Bilderroman Geschichte des Monsieur Jabot (1831). Er zeichnet dort, wie die Titelfigur sich auf einen Ball vorbereitet, sich dort auf dem Ball verhält und dabei Gelächter hervorruft. Auch wenn Töpffer seiner Phantasie keine Grenzen setzt und das Ballerlebnis seiner Figur ins Komische verkehrt, macht er bei der Darstellung der Tanzbahn die Schlangenlinie spürbar. Dabei fällt der schnelle Tanz Galopp besonders auf, wobei die Galoppbahn zwar noch Züge der Schlangenlinie enthält, aber nun ins Humoristische und Groteskkomische gerückt ist. Die Schlangenlinie, das Schiller’sche ästhetische Modell zur Freiheit zwischen dem Einzelnen und der gesamten Ordnung, wird bei Töpffer ins Gegenteil verkehrt. Er zeigt in seiner Zeichnung, wie Monsieur Jabot das adlige Fräulein von Bocage zum Tanz auffordert und sich darum bewirbt, eine Galoppade zu leiten. Gerade als sich die Tanzbahn in Form einer Schlangenlinie fortbewegt, wie im folgenden in Abb. 7 zu sehen ist, gleitet Monsieur Jabot aus – „[w]as Unordnung in die

70 Vgl. Töpffer, Rodolphe: Essay zur Physiognomonie. Siegen 1982, S. 3.

3.6 Schlangenlinie bei Rodolphe Töpffer

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Galoppade bringt.“71 Die ihnen folgenden Tanzpaare stolpern anschließend und fallen wie Dominosteine um. Töpffer schildert augenfällig das Erschrecken und die Verachtung der benachbarten Tanzenden. Die Linienführung des Tanzes entspricht Hogarths wellenförmiger Linienführung, aber der Tanz wird durch das Ausbrechen Monsieur Jabots zu einem peinlichen Geschehnis. Folgt man Schillers Vorstellung würde Monsieur Jabot durch sein Ausrutschen ,die Kette‘ des Tanzes zerstören und damit auch jegliche Harmonie.

Abb. 7: Töpffer, Rodolphe: Zeichnung aus „Geschichte des Monsieur Jabot“. In: Ders.: Komische Bilderromane. Leipzig 1967, S. 19.

Es genügt Töpffer offenbar nicht, nur die Ungeschicklichkeit seiner Titelfigur graphisch darzustellen, um die große Wirkung eines kleinen tölpelhaften Schritts zu demonstrieren. Grenzlose Phantasie beflügelt Töpffers komische Zeichnungen.72 Beim weiteren Tanz lässt er Monsieur Jabot als ,Fremdkörper‘ in der Linie auffällig werden.73

71 Töpffer, Rodolphe: Komische Bilderromane. Leipzig 1967, S. 11. 72 Die folgende Analyse beruht auf Günter Oesterles Erläuterung zum „Groteskkomischen“. Dazu nimmt er ein Beispiel aus Töpffers anderem Bilderroman Monsieur Pencil. Vgl. Oesterle, Günter: Das Groteskkomische. In: Uwe Wirth (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2017, S. 35–42. 73 Vgl. Gallati, Ernst: Rodolphe Töpffer und die deutschsprachige Kultur. Bonn 1976, S. 95.

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Abb. 8: Töpffer, Rodolphe: Zeichnung aus „Geschichte des Monsieur Jabot“. In: Ders.: Komische Bilderromane. Leipzig 1967, S. 24.

Abb. 9: Töpffer, Rodolphe: Zeichnung aus „Geschichte des Monsieur Jabot“. In: Ders.: Komische Bilderromane. Leipzig 1967, S. 24.

3.6 Schlangenlinie bei Rodolphe Töpffer

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Diesmal ist Jabot kein Teilnehmer am Tanz, wird aber von der Tanzbahn gezwungen, am Tanz teilzunehmen. Er steht zunächst auf Zehenspitzen auf einem Stuhl und möchte eine Kerze entfernen. Fast gelingt es ihm, aber sein Stuhl wird plötzlich von der vorbei rauschenden Galoppbahn erwischt. Der Stuhl kippt um und Jabot hängt mit seinem Kragen am Nagel, wie es in Abb. 8 zu erblicken ist. Die Tanzbahn lässt sich von ihm nicht stören und bewegt sich fort, nur Jabot fällt als Außenseiter auf unter den Tanzenden und Beobachtenden. Er wird weiterhin von der Galoppade ,mitgenommen‘. Bei der zweiten Annäherung der Galoppade fällt Jabot durch deren Anstoß herunter. Wie dann in Abb. 9 zu sehen ist, wird er beim dritten Mal, als die Galoppade an ihm vorbeiläuft, an die Wand gedrängt, beim vierten Mal bleibt sein Frack nun an einem Tänzer der Tanzbahn hängen – so wird er ,unfreiwillig‘ in die Galoppade einbezogen. Wie Momentaufnahmen, in denen unterschiedlich lange Zeiträume erfasst werden, stellt Töpffer seine Bilder unterschiedlich groß dar. Töpffers phantasievoller Einfall endet mit Jabots absurden ,Krisenmoment‘. Im Schlussbild der Abb. 9 wird Jabot ein passives ,Objekt‘, welches aufgrund der Schnelligkeit des Galopps von der Galoppbahn herumgeschleudert wird. Monsieur Jabot fällt als Störfaktor (Mitte rechts) der gesamten Galoppbahn, die der Form der Schlangenlinie folgt, auf. Töpffers Spiel mit der Schlangenlinie, einmal mit deren Abbruch, einmal mit dem Einbau eines Störfaktors, stellt eine lustige, drollige Tanzszene dar, die sich in Richtung des Grotesken und Absurden entwickelt. Durch diesen Vergleich wird Schillers Optimierung und Idealisierung des Tanzes von der Realität, wie sie von Töpffer in drastischer und komischer Weise gestaltet wird, ad absurdum geführt: Sowohl die Schönheit der Stellung, die von der mannigfaltigen und einheitlichen Stellung in der Figuration getragen wird, als auch die schöne Linie, geschaffen in der Freiheit und Pflicht zu koordinieren, führen zu einem gelungenen englischen Tanz. Das ,Gleichmaß‘ zwischen Mannigfaltigkeit und Einheit, zwischen Freiheit und Pflicht, welches sich im Tanz findet, generalisiert Schiller als utopisches Modell für den gesellschaftlichen Umgang. Zugleich bietet die Schlangenlinie einen großen Spielraum für die Interpretation. Die Schiller’sche Ästhetisierung und die Karikaturen bei Hogarth und Töpffer ergänzen einander und befruchten sich aber auch gegenseitig.

4 „Unehrlicher, dein Atem befleckt die Königin“. Standesbewusstsein beim Tanz auf Kostümfesten Der Jahresablauf der ,Naturvölker‘ ist durch Feste und Feiern geprägt. Ein Fest, das zugleich ein markanter Bestandteil eines Kalenders ist, verstärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl eines Volkes und infolgedessen auch das Bewusstsein einer Gruppe.1 Die Bedeutung von Festen bezeugt die enge Verbundenheit mit der Tradition der Gemeinschaft und deren Ritual.2 Das Besondere an einem Fest ist dessen Form, die untrennbar mit Trank und Schmaus, Spielen, Musizieren und Tanz verbunden ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Fest bei Naturvölkern oder in der zivilisierten Gesellschaft stattfindet und von welchen Ständen es ausgerichtet wird.3 Trotz der feierlichen Elemente, die alle Feste gemeinsam haben, ist die Art und Weise der Feier unterschiedlich. Der Adel und das Volk beginnen im Absolutismus eigene, sich voneinander unterscheidende Rituale zu pflegen. Der Aufwand, mit dem die Räume geschmückt werden, und die Kleidung der Gäste verraten den Stand der Feiernden ebenso wie die Häufigkeit und Tageszeit der Feste, die sich den verschiedenen Schichten zuordnen lassen. Die oberen Schichten, die dem Stand der Adeligen angehören, müssen keine Arbeit leisten. Um ihre Langweile zu überwinden und Zerstreuung mit Hilfe geselliger Ereignisse zu finden, führen sie nach und nach so viele Feiertage ein, dass sich auf dem höfischen

1 Weinhold, Bianca: Gelegenheitsdichtung in Jenaer und Weimarer Festen. Gebrauchslyrik als Erkenntnisquelle der Festforschung. In: Spannungsreich und freudevoll. Jenaer Festkultur um 1800. Köln [u. a.] 2005, S. 161–182, hier S. 168. 2 Lais Deile hat drei Definitionsbestandteile des Fests benannt: Gemeinschaft, „Bedeutungshaftigkeit“ des Anlasses und Besonderheit der äußeren Form. Der letzte Faktor ist besonders für die Auffächerung der vielfältigen Feiern des Fests essenziell. Vgl. Deile, Lars: Die Sozialgeschichte entlässt ihre Kinder. Ein Orientierungsversuch in der Kulturgeschichtsdebatte. In: Michael Mauer (Hg.): Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik. Köln 2004, S. 1–25, hier S. 7. 3 Michael Mauer erläutert das enge Verhältnis zwischen Feier und Fest. Die Feier verweist demnach auf ein Fest, das Fest wiederum akzentuiert die Feier. Vgl. Mauer, Michael: Allgemeine Festtheorie und Jenaer Festpraxis um 1800. In: Johanna Sänger und Lars Deile (Hg.): Spannungsreich und freudevoll. Jenaer Festkultur um 1800. Köln [u. a.] 2005, S. 208–220, hier S. 210. https://doi.org/10.1515/9783110759815-006

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Kalender schließlich mehr Feiertage finden als normale Werktage.4 Die adeligen Ballhäuser und -säle sind mit unzähligen Kerzen geschmückt, weil Feste zumeist abends stattfinden und bis morgens dauern. Damit unterstreichen die Adligen ihren finanziellen Wohlstand. Adelige Familien geben Festschriften und Huldigungsgedichte in Auftrag, um Reichtum und sozialen Rang zu belegen. Insbesondere ihre Nachkommen sollen diesen Glanz und Ruhm weitergeben.5 Die Unterschicht, zu der auch die Bauern gehören, muss einen Teil der Ernte als Versorgung für den Adel in Form von Steuern abgeben. Da einerseits die Landwirtschaft einen Naturrhythmus verlangt und andererseits künstliches Licht für den niederen Stand eine Kostenfrage ist, feiern die Bauern ihre Feste im Gegensatz zum Adel tagesüber.6 Diese Feste der Unterschicht werden kaum protokolliert, so dass wir heute davon nur wenig Zeugnisse finden. Den verschiedenen Schichten, die auf Festen zugegen sind, lassen sich unterschiedliche Tanzstile zuordnen.7 Der höfische Tanz baut allerdings auf dem Volkstanz auf. Menuett, Gavotte, Gigue und alle anderen Tänze der höfischen Suite lassen sich auf gleichnamige Volkstänze zurückführen. Der Tanzmeister richtet den Volkstanz auf die höfischen Manieren aus. Der Tanz wird stilisiert und unter höfisch-ästhetischem Aspekt kunstvoll choreographiert. Die Grundhaltung ist nach oben gerichtet, der Körper wird für die anmutige Darbietung instrumentalisiert, der Tanz wird als eine bewegende darstellende Kunst verstanden. Außerdem entspricht der Gesellschaftstanz politischen und diplomatischen Konventionen, da er den kooperativen Willen eines Tanzpaars äußern

4 Vgl. Berns, Jörg Jochen: Die Festkultur der deutschen Höfe zwischen 1580 und 1730, 3 (1984), Germanisch-romanische Monatsschrift, S. 295–311, hier S. 298. 5 Offen bleibt dabei die Frage, inwieweit die Festschriften aufgrund einer „positiven Gestaltung“ durch den Schreiber den tatsächlichen Gegebenheiten chronologisch entsprechen, wenn Veranstalter und Schreiber von dem Motiv geleitet werden, durch die Verschriftlichung des Festes einen guten Ruf zu erlangen oder diesen zu bestätigen. Wie Bianca Weinhold darlegt, waren Gelegenheitsdichtungen im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur beliebt, sondern sogar notwendig, zum einen für die Reputation der Festgemeinschaft und zum anderen, um die Ränge der Teilnehmer anzukündigen. Ausschlaggebend ist deshalb, in welchem Ton Schreiber Feste protokollieren. Vgl. Weinhold, Bianca: Gelegenheitsdichtung in Jenaer und Weimarer Festen. Gebrauchslyrik als Erkenntnisquelle der Festforschung. In: Spannungsreich und freudevoll. Jenaer Festkultur um 1800. Köln [u. a.] 2005, S. 161–182, hier S. 169 f. Berns, Ferner Jörg Jochen: Die Festkultur der deutschen Höfe zwischen 1580 und 1730, 3 (1984), Germanisch-romanische Monatsschrift, S. 295–311. 6 Vgl. Schmugge, Ludwig: Feste feiern wie sie fallen. Das Fest als Lebensrhythmus im Mittelalter. In: Paul Hugger [u. a.] (Hg.): Stadt und Fest. Zur Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur. Unterägeri [u. a.] 1987, S. 61–88, hier S. 83. 7 Die Hinweise zum Höfischen Tanz verdanke ich Reinhard Ring aus seinem Studium bei Prof. Karl Heinz Taubert.

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und das Betragen eines Hofs präsentieren soll. Deshalb muss der höfische Tanz mithilfe eines Tanzmeisters erlernt werden, womit allerdings Kosten verbunden sind. Der Volkstanz hingegen ist nicht kunstvoll und bedarf auch keiner Ausbildung. Er drückt das natürliche Gemüt der Menschen auf temperamentvolle und ritualisierte Weise aus. Die große Distanz zwischen dem höfischen Gesellschaftstanz und dem Volkstanz in der Unterschicht markiert einen wesentlichen Standesunterschied, der sich bei festlichen Angelegenheiten sichtbar niederschlägt. Besondere Beachtung verdient der Wandel im Geschmack des Adels und der reichen Städter zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert. Die Idylle kommt in Mode, die Feste in der Natur üben einen besonderen Reiz auf den sich am Hof langweilenden Adel aus. Der Adel beginnt, aus der Enge des Hoflebens auszubrechen und das natürliche und naturverbundene Leben des gemeinen Volkes im Spiel zu erleben. Anlässe wie Frühstück, Gesellschaften, Tanz und Musizieren werden im Freien als etwas Besonderes gestaltet, wie es in Rokoko-Bildern häufig dargestellt wird. Der Wunsch nach Beherrschung der Natur wandelt sich nun zum Bestreben nach Vereinigung und Verschmelzung mit der Natur. Naturmotive in der Architektur, aber etwa auch in der Kleidung kennzeichnen die Natursehnsucht der Oberschichten. Diese Strömung ist keineswegs als Annäherung an das Volk zu verstehen, sondern sie betont den wahren Stand – etwa durch die Verwendung kostbarer Stoffe und eine teure Ausstattung. Ein Bild des französischen Malers Nicolas Lancret (Abb. 10) soll die Thematik einführend darstellen. Lancret hat zahlreiche Bälle und Tänze der Oberschicht im Freien in seiner Bildersprache überliefert. Sein Bild Der Tanz um den Baum (1730) ist eines der seltenen Beispiele, in denen neben den Städtern eine bäuerliche Gruppe dargestellt ist. Am Rand der Stadt tanzt eine galant erscheinende Gruppe einen Reigen um den Baum. Die Landbewohner, die sich im Schatten befinden, schauen der Tanzgruppe zu. Die sitzende barfüßige Bäuerin steht im Kontrast zu der wohlhabenden Oberschicht. Die Zugehörigkeit zu den zwei verschiedenen Schichten wird durch die Bekleidung der Personen verdeutlicht, die zugleich die Kleiderordnung und die Mode des Frührokokos zeigt. Die Damen der Oberschicht tragen Reifröcke, die vorn und hinten abgeflachte ovale Formen bilden; die bis zum Ellbogen reichenden Ärmel sind flügelförmig – die weibliche Figur erscheint betont tailliert. Sie tragen weder Haube noch Perücke, sondern die Haare erscheinen in ihrer natürlichen Farbe und sind mit Schmuck besteckt. Die tanzenden Männer tragen Kniehosen und kragenlose Röcke. Statt Perücken haben sie einen Dreispitz aufgesetzt. Demgegenüber trägt die Gruppe der Bauern lose Kleidung, die ihnen mehr Bewegungsfreiheit ermöglicht. Die Stoffe sind einfarbig und haben keine Verzierungen oder Falten. Während der dargestellte männliche Bauer mit einer Ärmelweste bekleidet ist, tragen die Frauen und Kinder Hauben und T-förmige Kleider mit einer Schürze.

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Abb. 10: Lancret, Nicolai: Der Tanz um den Baum (1730). Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inventarnummer Gal.-Nr. 786.

Der im geschlossenen Kreis stattfindende Reigen verdeutlicht auch durch die Körperstellung eine gravierende Abgrenzung zu den beobachtenden Landbewohnern. Die erwachsenen Bauern, die sich körperlich bei der Arbeit mehr bewegen müssen, befinden sich hier in Ruhestellung. Nur die Bauernkinder versuchen, den Reigen auf eine kindliche Weise nachzuahmen. Hingegen wird die Oberschicht, die keine körperliche Arbeit leistet, zum Träger der körperlichen Bewegungen. Vordergründig wird durch die Tanzgruppe die Tanzästhetik des Ancien Régime vermittelt. Die Köperstellung ist beim Tanzen relativ aufrecht, dominiert von einer schönen S-Linie, die der Hogarth’schen entspricht. Die auswärts gedrehten Füße vertreten die Ästhetik des klassischen Balletts, ebenso die geometrischen Linien und die mechanische Bewegung des Körpers. Der höfische Tanz des 17./18. Jahrhunderts hat das gleiche Bestreben nach Ästhetik. Zu diesem Zweck verwendet er ein Brett in V-Form als Hilfsmittel, um durch Dehnung die Grätschstellung der Füße mit gespreizten Beinen zu erreichen. Die Qual des Körperzwangs

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wird von Carl Wilhelm Heinrich von Lyncker am Weimarer Hof um 1800 folgendermaßen festgehalten: „die meinigen wurden wöchentlich zweimal in ein Brett geklemmt und mit Pflöcken dergestalt zurückgezwungen […]; dasselbe Manöver [des Tanzmeisters] wurde auch mit meiner ältern Schwester gemacht, und verursachte mancherlei Schmerzen.“8 Der gekünstelte Tanzstil bildet einen gewissen Widerspruch zu der Naturkulisse. Die in Abb. 10 aufgezeigte Kluft zwischen Oberschicht und Unterschicht sowie die Distanz zwischen gestaltetem Tanz und Naturverbundenheit sind der Ausgangspunkt für die Fragestellung des folgenden Kapitels. Im vorliegenden Kapitel sollen Begegnungen der verschiedenen Stände beim Tanz sowie die Verkleidung eines Standes auf dem Fest als Forschungsquellen dienen.9 Unter allen anderen Arten von Bällen hat der Maskenball eine besonders feierliche Form, wobei es häufig zur Vermischung der Stände durch die Masken und Teilnehmer kommt. Die sakralen Zeremonien werden durch Verkleidung zu einer anarchistischen Welt umgemünzt. Wenn ein Stand durch Maskierung seine Rolle verändert, ergeben sich daraus eine Reihe von Fragen: Worin zeigt sich das Standesbewusstsein beim Tanz auf dem Fest, wenn die Oberschicht Idylle und natürliche Ästhetik bevorzugt? Bewahrt der Adel seinen Status, auch aus der Sicht der Unterschicht, wenn die Adeligen sich als Bauern verkleiden oder wenn jemand aus der Unterschicht sich als Adeliger verkleidet? Wird die Kluft der Stände überschritten, falls die Unterschicht die gehobene Tanzkunst erlernt? Kann die Macht des Tanzes die politische Macht überwiegen?

4.1 Höfischer Maskenball – Annäherung an die Unterschicht? Der Maskenball steht in der Tradition vorchristlicher Feste. Eine altbabylonische Inschrift bekundet den Gedanken der Gleichheit, der bereits hinter dem Fest im 3. Jahrhundert v. Chr. steht: „Kein Getreide wird an diesen Tagen ge-

8 Lyncker, Carl Wilhelm Heinrich von: Ich diente am Weimarer Hof. Aufzeichnungen aus der Goethezeit. Köln [u. a.] 1997, S. 22. 9 Um die sozialen Schichten hinsichtlich der Tänze auf Festen an literarischen Beispielen einander gegenüberzustellen, wäre eine ausgedehnte Arbeit erforderlich, die eines geographischen und temporalen Rahmens bedarf, da die Varianten der Standesordnung, Sitten und Bräuche innerhalb der deutschen Länder des 18. und 19. Jahrhunderts große Abweichungen voneinander aufweisen. Außerdem sollten in diesem Zusammenhang auch die soziologische Entstehung, die kulturelle Entwicklung, und die religiöse und jahreszeitliche Akzentuierung der jeweiligen Schichten betrachtet werden, die in literarischen Werken sowie der bildenden Kunst festgehalten sind.

4.1 Höfischer Maskenball – Annäherung an die Unterschicht?

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mahlen. Die Sklavin ist der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herrn Seite. Die Mächtige und der Niedere sind gleichgeachtet.“10 Das gleichgestellte und gar umgekehrte Verhältnis von Diener und Herr bildet das charakteristische Motiv im Karneval und auf Maskenbällen. Zu einem Maskenball gehört nicht nur die Gesichtsverhüllung, sondern ebenso eine Verkleidung des ganzen Körpers.11 Die Beziehung zwischen der Maskierung bzw. Verkleidung und ihrem Träger bzw. ihrer Trägerin macht den eigentlichen Reiz der Vermummung aus. Die Maske und das wahre Gesicht darunter, also der Mensch, der sich hinter der Maske verbirgt, pflegen zueinander ein komplementäres Verhältnis – „Sie [die Maske] zeigt, indem sie verbirgt.“12 Die Maske schreibt der Person einen neuen Charakter zu. Aufgrund der Maskierung ist die Mimik kaum noch sichtbar, wodurch auch Emotionen nicht mehr erkennbar sind. Allerdings hebt die Vermummung die unbedeckten Teile des Körpers und des Gesichts hervor, insbesondere die Augen, deren Blick Empfindungen sogar besonders intensiv auszudrücken vermag. Der Spielraum zwischen Maske und Gesicht ermöglicht es den Teilnehmern eines Maskenballs, für eine gewisse Zeit einen anderen gesellschaftlichen Stand vorzutäuschen. Ab dem 17. Jahrhundert finden adelige Kostümfeste Verbreitung, auf denen der Adel mit Freude im Bauern-Habit erscheint.13 Welcher Beliebtheit sich die Verkleidung als Bauer erfreut, beschreibt zum Beispiel der venezianische Schriftsteller Giacomo Casanova in seiner Erinnerung. Im Jahr 1760 besucht er in Bonn den Maskenball des Kölner Kurfürsten Clemens August und bezeichnet den Ball als „sehr nett“14: Wir waren alle als Bauern verkleidet, und die Anzüge wurden aus einer besonderen Garderobe des Fürsten geliefert. […] Bald nachher tanzte man einen gewissen Tanz, wo man bei einer gewissen Tour eine Tänzerin ergreift und sie küßt; ich tat mir keinen Zwang an, sondern küßte meine Schöne feurig, so oft es mir gelang, ihr zu begegnen. Der Bauer-Kurfürst lachte darüber aus vollem Halse, der Bauer-General platzte vor Ärger. […]

10 Fuchs, Peter, Max-Leo Schwering und Klaus Zöller: Kölner Karneval. Seine Geschichte, seine Eigenart, seine Akteure. Greven 1984, S. 14. 11 Ich folge den Definitionen unter Punkt 2) und 3) zum Stickwort „Maske“ in Grimms Wörterbuch. Dort wird die Maske erklärt als „im deutschen die von zeug gefertigte hülle des gesichts, die meist nur über stirn und nase reichte und oft den mund frei liesz“, ebenso wie „auch die gesamte tracht, in welche man sich verkleidet“. In: Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Bd. 12, Sp. 1702. 12 Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form. München 2004, S. 14. 13 Vgl. Dülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit. Dorf und Stadt. 16.– 18. Jahrhundert. München 2005, S. 164 f. 14 Casanova, Giacomo: Geschichte meines Lebens. Casanovas Memoiren, in 12 Bänden. Bd. 6. Hg. v. Günter Albrecht und Heinrich Conrad. München 1984, S. 67.

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Ich verließ in meinem Bauernkleide den Festsaal und bat einen Pagen, mich nach den Gemächern des Grafen Verità zu führen. Dieser lachte laut auf, als er mich in einem solchen Aufzuge sah.15

Die Rangfrage ist also nicht gänzlich vergessen: „Es wäre lächerlich gewesen, andere Kostüme zu wählen, da der Kurfürst sich ebenfalls für Bauernkleidung entschieden hat.“ Neben den „nur vier oder fünf“ Damen aus „der vornehmen Gesellschaft“16 gehören die anderen, die besonders hübsch aussehen, „der Privatgesellschaft des Fürsten an“17. Der Zweck des Balls dient wohl zu allererst der Belustigung des Fürsten, „der sein ganzes Leben lang ein großer Liebhaber des Schönen Geschlechtes“18 ist, weshalb auf dem Ball auch ein Hauch von Zügellosigkeit, Spiel, Koketterie und Lust mitschwingt. Der Tanz mitsamt Kussspiel soll vermutlich der Vorstellung des Adels von bäuerlichen Sitten entsprechen. Er stellt in solch scherzhafter Atmosphäre einen Sonderfall dar und belegt eine erotisierende Befreiung von den Alltagsregeln des Hofs. Die Kleidung der Gäste steht im Kontrast zum Alltag der Adeligen. Die Maskerade ist eine Befreiung vom Alltag. Was im Alltag tabuisiert ist und nur den Unterschichten freisteht, ist hier auch den Adeligen erlaubt.19 Beispielsweise sind die Unanständigkeit sowie Unbefangenheit des Hofes vor der Kulisse des Maskenballs gerechtfertigt. Das Ziel, den Fürsten zu amüsieren, wird offenbar erfüllt: Der Fürst lacht über den Tanz „aus vollem Halse“20, während der General, „ein Bauer von Natur“21, sich beleidigt fühlt. Wie der letzte Abschnitt des Zitats vermittelt, ist Casanova die Verkleidung jedoch nicht gelungen. Er wird als Adeliger erkannt und komisch angeschaut. Erstens ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Bauer aus dem Saal kommt und einen Pagen beauftragt; zweitens kann die Verkleidung die gerade aufgerichtete Körperhaltung und das Benehmen nicht völlig verbergen. Die Komik in der Verkleidung lässt den Pagen in helles Gelächter ausbrechen. Die Verkleidung spiegelt lediglich die Projektion des Adels und dessen Sehnsucht nach einem neuen Refugium wider, dem Leben in der Natur, ohne dass er das Bauernleben richtig kennenlernt. Die Hinwendung zum Bäuerlichen ist verbunden mit der Vorstellung von einem idyllischen Hirtenleben mit ‚Schä-

15 Casanova, Giacomo: Geschichte meines Lebens, S. 67 f. 16 Casanova, Giacomo: Geschichte meines Lebens, S. 67. 17 Casanova, Giacomo: Geschichte meines Lebens, S. 68. 18 Casanova, Giacomo: Geschichte meines Lebens, S. 68. 19 Vgl. Hoffmann, Hans-Joachim: Kleidersprache. Eine Psychologie der Illusionen in Kleidung, Mode und Maskerade. Frankfurt am Main 1985, S. 76 f. 20 Hoffmann, Hans-Joachim: Kleidersprache, S. 68. 21 Hoffmann, Hans-Joachim: Kleidersprache, S. 67.

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ferstündchen‘. Die eigene Identität des Adels wird trotz der Bauerngewänder bewahrt. Die ungekünstelte Schönheit ist für den Adel zwar erstrebenswert, aber nicht die körperliche Landarbeit.22 Ein Beleg dazu ist in La Roches Fräulein von Sternheim (1771) zu finden. Die Adeligen sollen auf einer „Fête auf dem Land, welche die Nachahmung auf den höchsten Grad der Gleichheit“23 darstellt, in Bauernkleidern erscheinen. In der Tat ist bei der Nachahmung von einer Gleichheit der Stände keine Rede. Sophie von Sternheim verkleidet sich als Alpen-Mädchen. Der Seidenstoff des Kleides sowie ihr Körperbau verraten jedoch ihren Adelsstatus: „Ihr Kleid von hellblauem Taft, mit schwarzen Streifen eingefaßt, gab der ohnehin schlanken griechischen Bildung ihres Körpers ein feineres Ansehen und Beweis“24, sodass ihre Wendungen „das neidische Auge der Damen und die begierigen Blicke aller Mannsleute an sich hefteten“25. Ihre „Schönheit und Munterkeit“26 beim Tanzen rufen nach dem nicht leicht zu tanzenden Menuett und dem englischen Tanz Beifall hervor.27 Der „Stolz ihres Oncles und ihrer Tante, der sich schon recht sichtbar“28 zeigt, ist der Beweis, dass die Schönheit des Fräuleins durch die Verkleidung und ihre Anmut zum Kapital für ihre Familie werden. Die gespielten Bauernrollen sind nicht zu identifizieren; vielmehr verteidigen und unterstreichen die Adeligen ihre eigene Rolle in der Realität, indem sie sich in prunkvoller Bauernkleidung und mit graziösen Tänzen vom Volksleben distanzieren.

22 Vgl. Alewyn, Richard: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. Berlin 1985, S. 30–35. 23 La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, 5. Aufl. München 2015, S. 133. 24 La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 133 f. 25 La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 134. 26 La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 134. 27 Anhand der Beurteilung des Tanzes ist deutlich zu erkennen, dass La Roche eher für das aufgeklärten Ancien Régime spricht. Ihre Einstellung zum Menuett äußert sie durch Fräulein von Sternheim: „Dieser Tanz“ erfordert „so viel Anmut in der Wendung und so viel Nettigkeit des Schritts […], daß es manchen Personen sehr schwer fiel, diesen Gesetzen Genüge zu leisten.“ In: La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 150. Hingegen hält sie im Vergleich zum Menuett den deutschen Tanz für rauschhaft, unkontrolliert und unpassend. Mylord Derby vertritt La Roches Meinung, indem er in den englischen Landtänzen eine „schöne Mischung von Fröhlichkeit und Wohlstand rühmte, die der Tänzerin keine Vergessenheit ihrer selbst und dem Tänzer keine willkürliche Freiheit mit ihr erlaubte; wie es bei den deutschen Tänzen gewöhnlich sei.“ In: La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 138. Zum Menuett und ,deutschen Tanz‘ in La Roches Fräulein von Sternheim siehe das Kapitel zum Tanz in Goethes Werther. 28 La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, S. 134.

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4.2 Das Standesbewusstsein in drei Versionen in Der Schelm von Bergen Im 19. Jahrhundert wird die Grenze zwischen dem hohen und dem niederen Stand weiter verschärft. Durch das Erstarken des Bürgertums spitzt sich der Konflikt zwischen dem Adel und dem Volk zusätzlich zu. Das Bürgertum als inzwischen aufgekommener „dritter Stand“, zu dem Professoren, Studenten, Schriftsteller und Ärzte, aber auch Kaufleute, Gastwirte und Fabrikbesitzer gehören, bildet die Mittelschicht. Da es nun auch durch zunehmendes Geldvermögen ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein besitzt, gibt es sich nicht mehr mit der Untertanenrolle zufrieden, sondern strebt stattdessen ein liberales und demokratisches System an, um politischen Einfluss zu nehmen. Das Bürgertum kann seine Interessen in dem in viele kleine Fürstentümer zersplitterten Deutschland allerdings nur langsam durchsetzen. Um 1800 leben noch drei Viertel der deutschen Bevölkerung auf dem Land. Großstädte, die mit Paris, London und Rom vergleichbar wären, existieren zu dieser Zeit in Deutschland noch nicht. Auch das industrielle Zeitalter, in dem Maschinen eine zunehmende Rolle spielen, beginnt in Deutschland erst gegen 1820.29 Zu Anfang des 19. Jahrhunderts strebt das Volk nach einer einheitlichen Nation. Der deutsche Bund, der auf dem Wiener Kongress (1815) gegründet wird, ändert wenig an der Tatsache, dass die Aristokratie nach wie vor an der Spitze der sozialen Pyramide steht. Daher ist es unvermeidbar, dass es nach dem Kongress zu Spannungen zwischen dem Adel und dem gebildeten oder wohlhabenden Bürgertum kommt. Der Adel verteidigt seine Privilegien nun noch mehr als zuvor, denn er fühlt sich von der Französischen Revolution und der darauffolgenden napoleonischen Besetzung bedroht. Besonders die Agrarreform hatte ihn finanziell getroffen. Die Neuaufteilung seines Besitzes und die Neuregelung seines Einflusses schwächen den Adel. Um seinen sozialen Status zu bewahren, gibt es für ihn keine bessere Methode, als sich durch eine noch schärfere Trennlinie vom Bürgertum abzugrenzen. Das Bürgertum sieht sich der Macht der Adeligen untergeordnet und möchte die Machtposition des Adels zu seinen Gunsten einschränken. Teile des Großbür-

29 Egon Friedell vergleicht die Entwicklung Deutschlands mit derjenigen in anderen Ländern: „Während andere schwitzten und rannten, England sich mit Goldbarren und Pfeffersäcken abkeuchte, Amerika anfing, sich in den öden Riesentrust zu verwandeln, der es heute ist, Frankreich zum Irrenhaus und zur Mördergrube wurde, schlief Deutschland einen ehrlichen, gesunden erfrischenden Schlaf.“ Friedell, Egon: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum ersten Weltkrieg, ungekürzte Sonderausgabe in einem Band. Wien 1984, S. 874 f, 960.

4.2 Das Standesbewusstsein in drei Versionen in Der Schelm von Bergen

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gertums streben eigene Adelstitel an, die beispielsweise durch Einheirat in eine Adelsfamilie erworben werden. Teile des Bürgertums hingegen streben stattdessen eine liberale deutsche Nation an, in der die Gleichheit aller gilt. Stimuliert und motiviert von den Revolutionen in Nachbarländern wie Frankreich und Italien, lässt das deutsche Bürgertum seine Stimme mehrmals hören, etwa im Aufstand der ersten Burschenschaft in Jena (1815), auf dem Wartburgfest (1817) und dem Hambacher Fest (1832), im Versuch der Volkserhebung beim Frankfurter Wachensturm (1833) und nicht zuletzt beim Protest der „Göttinger Sieben“ (1837). Allerdings können diese Bewegungen noch nicht viel gegen den Adel ausrichten, denn dafür sind sie nicht radikal und stark genug, zumal die Interessen der Beteiligten zu unterschiedlich sind. Selbst nach der Märzrevolution (1848/49) verändern sich die Machtverhältnisse in Deutschland noch nicht. Stattdessen verstärkt die Restauration von oben den Rückzug ins Private. Im gesamten 19. Jahrhundert beherrscht der Adel zum großen Teil weiterhin Politik, Kultur und Institutionen. Generäle, Offiziere und Beamte stammen zum großen Teil aus adeligen Familien, und auch die Intellektuellen werden teilweise durch die Nobilitierung auf die Seite des Adels gezogen. Obwohl das preußische Offizierskorps seit dem Jahr 1860 auch Bürgern offensteht, besteht es zu dieser Zeit immer noch zu 70 Prozent aus Adeligen.30 Auch das Deutsche Reich wird 1871 von oben her gegründet. Da das Bürgertum begreift, dass es in politischer Hinsicht weniger zu sagen hat als der Adel, zielt es auf eine Bildung ab, die derjenigen der Adeligen entspricht, sofern es sich diese leisten kann, um eine Äquivalenz zu schaffen. Neben der Musik und dem Theater spielt hier auch der Tanz eine wichtige Rolle. Beachtenswert ist, dass das Bürgertum dabei vieles aus dem adeligen Umgangsstil übernimmt. So wird beispielsweise beim Tanzen großer Wert auf die Präsentation gelegt – Benehmens- und Anstandsbücher für den Umgang mit Menschen erfreuen sich im 19. Jahrhundert auf dem Markt großer Beliebtheit. Aufgrund des großen Bedarfs an Tanzerziehung werden zahlreiche Tanzbüchlein herausgegeben, um diese Erziehung auch ärmeren bürgerlichen Familien zugänglich zu machen, denen das nötige Geld fehlt, um eine Tanzschule zu besuchen.31 Zudem werden auch innerhalb des Bürgertums selbst Separierungen und unterschiedliche Interessen deutlich. Das wohlhabende Bürgertum möchte sich von dem ärmeren abheben. Einige Privatbälle werden lediglich für eine geschlossene und elitäre Gesellschaft veranstaltet. In seinem Präsentationswillen unterscheidet sich das Bürgertum nur wenig vom Adel. Besonders deutlich wird dies am Beispiel eines

30 Vgl. Zoll, Ralf (Hg.): Bundeswehr und Gesellschaft. Opladen 1978, S. 254. 31 Vgl. Braun, Rudolf und David Gurgerli: Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914. München 1993, S. 236.

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Tanzschulbesitzers, der für seine Schule ein Klavier anschafft, nicht weil er ein Musikfreund ist, sondern um durch seine Finanzlage das Großbürgertum zu beeindrucken.32 Die Trennlinie zwischen dem Adel und dem Bürgertum bleibt auch nach der Verleihung eines Adelstitels oder der Schließung eine Mischehe aus verschiedenen Ständen sichtbar. Ein Beispiel hierfür findet sich in Bertha von Suttners Schilderung eines Ballerlebnisses. Da ihre Mutter bürgerlich ist, wird Bertha auf ihrem ersten Hofball im Jahr 1843 vernachlässigt: Voll freudiger Erwartung betrat ich den Saal. Voll gekränkter Enttäuschung habe ich ihn verlassen. Nur wenige Tänzer hatte ich gefunden. […] Die hochadeligen Mütter saßen beisammen, meine Mutter saß einsam; die Komtessen standen in Rudeln und schnatterten miteinander – ich kannte keine; beim Souper bildeten sich lustige kleine Gesellschaften, ich war verlassen.33

Die Bewahrung einer reinen adligen Abstammung zeigt die Dünkelhaftigkeit der sogenannten ‚Blaublütigen‘. Wenn Leute aus dem bürgerlichen Stand sich unter den Adel mischen, verstärkt sich dies sogar noch. Gerade daran zeigt sich die zunehmende Unsicherheit des Adels, der sich von dem aufstrebenden Bürgertum, vor allem von dessen Reichtum und Bildungsniveau, bedroht fühlt. Ein Maskenball, auf dem nicht nur der Adel Freude an Verkleidung und Rollenwechsel hat, bietet auch Leuten anderer Schichten Gelegenheit, sich in der Rolle des adeligen Standes auszutesten. Wenn alle maskiert tanzen, wird allerdings die Rangfrage aufgehoben. Falls ein Tanzender jedoch entlarvt wird und sich als Angehöriger eines niederen Standes zu erkennen geben muss, fühlt sich der Adel provoziert. Diese konflikthafte Situation wird in einer von Karl Lyncker gesammelten Sage über die Herkunft des Adelsstamms ,Schelm‘ behandelt, in der es um die Folgen des Maskierens beim Tanz geht. Der Sage nach findet am Hof König Friedrich Barbarossas zu Frankfurt ein Maskenball statt. Die Königin tanzt mit einem als Ritter maskierten Henker, dessen besondere Tanzkünste ihre Zuneigung und Neugier wecken. Nachdem seine wahre Identität offenbart worden ist, will der König den Henker aufgrund dessen Standes, seines als unehrlich bezeichneten Berufs, zum Tod verurteilen. Um die Königin nicht zu entehren, schlägt der Henker dem König vor, ihn zum

32 Vgl. Salmen, Walter: Der Tanzmeister. Geschichte und Profile eines Berufes vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Mit einem Anhang „Der Tanzmeister in der Literatur“. Hildesheim 1997, S. 117. 33 Suttner, Bertha von: Memoiren. Mit 3 Bildnissen der Verfasserin. Stuttgart 1909, S. 63.

4.2 Das Standesbewusstsein in drei Versionen in Der Schelm von Bergen

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Ritter zu schlagen. Der König folgt dem Rat, schlägt den Henker zum Ritter und nennt ihn „Schelm von Bergen“.34 Die Begegnung von Oberschicht und Unterschicht auf dem Maskenball zeigt die willkürliche Seite des Kaiserreichs, aber auch die Kunst der ‚Manieren‘ beim Tanz, um Grenzen dennoch zu überschreiten und dadurch eine Aufstiegschance zu gewinnen. Allerdings kann die Sage historisch nicht belegt werden und ist vermutlich eine Erfindung der Dichtung im 19. Jahrhundert.35 Die Fiktionalität der Sage steht im Zusammenhang mit dem Wort „Schelm“. Im Mittelhochdeutschen wird „Schelm“ als ein Beiname für den Beruf des Henkers benutzt, der als Randfigur niederer Stände beurteilt wird und keine Aufstiegsmöglichkeit hat. Ab dem 17. Jahrhundert wird die negative Bedeutung des Worts abgeschwächt – aus heutiger Sicht wird als „Schelm“ ein Mensch bezeichnet, der jemandem einen Streich spielt, in der Umgangssprache wird er „Spaßvogel“ genannt.36 Auf den als Ritter maskierten Henker treffen beide Bedeutungen von „Schelm“ zu. Diese Sage wird wegen der Begegnung der beiden Gesellschaftsschichten und ihres kuriosen Schlusspunkts in der Lyrik des 19. Jahrhunderts mehrmals in Form einer Ballade bearbeitet.37 Von dreien dieser Bearbeitungen der Sage ist später noch die Rede. Ihre Autoren, Wilhelm Smets, Karl Simrock und

34 Lyncker, Karl: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. [1854] 3. Aufl. Vollständiger, durchgesehener Neusatz bearbeitet und eingerichtet von Michael Holzinger. Berlin 2014, S. 116. 35 Die Herkunft des Adelsgeschlechts Schelm ist im Adels-Lexikon nicht angegeben. In jedem Fall handelt es sich bei „Schelm“ um ein altes, rheinländisches Adelsgeschlecht, welches erst nach 1274 eine Differenzierung in Schelm von Bergen beziehungsweise Schelm von Westerhofen vornimmt. Die Differenzierung des Schelm-Geschlechts erfolgt erst ein Jahrhundert nach der Krönung Friedrichs des Ersten zum römisch-deutschen König im Jahr 1152. Demgegenüber weist Karl Simrock auf den Namen von Scelmo de Bergen hin, der in einer Urkunde aus dem Jahr 1194 erwähnt wird. Die Sage bleibt trotzdem zweifelhaft, wie Simrock nachweist, weil die Vollziehung der Todesurteile vor dem römischen Reich in Frankfurt übertragen wird. Vgl. Kneschke, Ernst Heinrich: Neues allgemeines deutsches Adels-Lexicon. Hildesheim [u. a.] 1973, S. 126 f. Auch Simrock, Karl: Rheinland. Mit 60 Stahlstichen. Wigand, 1847, S. 157. 36 Vgl. Siehe „Schelm“. In: Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. URL. https://www.dwds.de/wb/Schelm. (20.07.2021). 37 Eine frühe Bearbeitung dieser Sage im 19. Jahrhundert in Form der Lyrik ist bereit durch Hölderlins Freund Isaak von Sinclair erfolgt. Der Stoff findet sich in epischer Bearbeitung bei dem Chronisten Johann Nepomuk Vogl und Karl Egon Ebert. Danach hat Schelm von Bergen zuvor das Leben des Königs gerettet. Aus Dankbarkeit hat der König ihn auf dem Ball geadelt. Wilhelm, Friedrich: Über drei Gedichte Heinrich Heines (Belsatzar, Der Hirtenknabe, Schelm von Bergen). In: Bericht. Über das Schuljahr. Königliches Evangelisches Gymnasium zu Ratibor. 1904/05. Beilage, Ratibor 1905, S. 10–24.

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4 „Unehrlicher, dein Atem befleckt die Königin“

Heinrich Heine, sind Studienfreunde in Bonn. Heine als der letzte der drei Autoren, die die Sage in einer Ballade verarbeitet haben, kennt vermutlich die zwei anderen Versionen.38 Allen drei Gedichten ist gemeinsam, dass der Tanz des Henkers mit der Königin nur durch die Maske ermöglicht wird, mit der er die Königin täuscht. Unterschiedlich ist jedoch die Art, wie die drei Autoren ihren ,Henker‘ auf dem Maskenball mit der Oberschicht umgehen lassen. Dies kann zum einen die Spannung zwischen den Ständen oder unterschiedliche Haltungen der Autoren gegenüber dem Standesunterschied verraten. Inhaltlich geht es in allen drei Balladen um den Standesunterschied zwischen dem Adel und einer Person aus dem niedrigsten Stand. Stilistisch haben die Autoren, die alle aus dem Bürgertum stammen, jedoch einen Spielraum, um durch die Konfrontation mit dem Adel auf den Antrieb des Bürgertums und die Abwägung der Machtverhältnisse zwischen dem Adel und den unteren Schichten anzuspielen. Das Verhältnis des Henkers zum Herrscher steht im folgenden Kapitel im Fokus der Betrachtung. Werden die drei Gedichte chronologisch betrachtet, so kann man zu der Vermutung kommen, dass das Selbstbewusstsein des Henkers gegenüber dem Adel zunimmt, während sich umgekehrt die Brüchigkeit des adeligen Selbstbewusstseins verstärkt.

4.2.1 Diplomatie – Wilhelm Smets’ Der Schelm von Bergen (1821) Der Anlass des Maskenballs ist die Krönung des Königs. Wesentliche Elemente des Fests – Licht, Essen, Musik und Tanz – bezeugen den Prunk, Aufwand, die Räumlichkeit und die Stattlichkeit: Fackelschein erhellt das Haus, „als ob’s Tagslicht wär’„39; „Trinkgelag und Schmaus“40, „Trompeten- und Paukenton“41

38 Es ist nicht nachweisbar, ob Heine Sinclairs und Simrocks Version kennt. Allerdings ist es ein mögliches Argument, dass sowohl Heines als auch Sinclairs Version Beschreibungen über das Faschingsfest enthalten. Dass Heine eine Rezension über Smets’ Version schreibt, ist wohl der Grund dafür, dass er Simrocks Fassung liest, bevor er selbst den Stoff verarbeitet. Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verbindung mit dem HeinrichHeine-Institut. Hg. v. Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf Bd. 3. Romanzero. Gedichte, 1853 und 1854. Hamburg 1992, S. 164–166. 39 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen. Köln 1835, S. 31. 40 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 31. 41 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 32.

4.2 Das Standesbewusstsein in drei Versionen in Der Schelm von Bergen

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und walzende Tänze „im weiten Saale“42, die „rasch sich drehen“43, beleben die festliche Stimmung. Das Merkmal der Verkleidung ist nicht zu übersehen – „[B]ei der Kerzen Strahle“44 sind die Masken „viel zu sehen“45. Unter allen Anwesenden fällt der als „Ritter“ verkleidete Mann durch seine Virtuosität auf, was die Königin begeistert: Woran ein schlanker Ritter Tanzt mit der Königin, So leicht, wie Wellengezitter, Durch den dröhnenden Ballsaal hin46.

Der ‚Ritter‘ tritt selbstbewusst auf, indem er die Königin führt, und belegt „drohend“ die Wege im Ballsaal. Sein Tanzstil ist allerdings nicht aufdringlich, sondern seine rhythmische Bewegung, die mit „Wellengezitter“ verglichen wird, entfaltet eine natürliche dynamische Wirkung. Die Königin ist offenbar von der Tanztechnik des fremden Partners überrascht. Sie bezeichnet das Tanzerlebnis mit ihm als Einmaligkeit – „Wen kann solch Tanzen reuen? Den Tänzer fand ich nie!“47 Deshalb tanzt sie mit dem frappanten Tänzer ganz versessen „stets vom Neuen“48. In dem Moment, als sie vor Hitze ‚erglüht‘, sorgt der König sich um sie, weshalb „[d]es Tanzes Wellenspiel“49 abgebrochen werden muss. Nun aber reizt es die Königin, zu erfahren, wer der Ritter in der Realität ist. Sie befiehlt mehrmals von oben herab: „Eu’r Antlitz laßt mich sehn!“50, „Wer bist du, Ritter, sage“51. Die nacheinander stehenden Imperative manifestieren den unmaskierten Status des Königshauses und die Tatsache, dass die Herrschenden über das Leben des Tänzers entscheiden können. Nachdem seine Identität entlarvt und er zum Tod verurteilt wird, werden die Unterwürfigkeit und das Standesbewusstsein des falschen Ritters besonders stark sichtbar. Er betrachtet sein Leben als minderwertiger als die Ehre der Königin. Er fällt dem König „zu Füßen“ und bringt ihn in ein Dilemma:

42 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 32. 43 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 32. 44 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 32. 45 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 32. 46 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 32. 47 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 32. 48 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 32. 49 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 32. 50 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 32. 51 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 33.

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4 „Unehrlicher, dein Atem befleckt die Königin“

„Mag’s gern mit dem Tode büßen, Doch entehrt blieb’ die Königin.“52

Die scheinbare altruistische Haltung des Henkers zeigt seine diplomatische List. Er vergisst nicht, den König mit „Majestät, in Gnaden“ anzureden, um bei ihm einen untertänigen Eindruck zu machen. Als Lösung schlägt er den Ritterschlag vor, damit „der Ritter für sie [Königin] stehet, [u]nd war des Tanzes Werth.“53 Sein Eigeninteresse, das darin besteht, dass ein Ritterschlag ihm das Leben rettet und seinen Status verbessert, lässt er den König nicht merken. Stattdessen spielt er ihm pfiffig vor, ihm helfen zu können, das Gerede im Reich zu vermeiden. Die Maske in dem Gedicht besitzt sowohl eine Trennfunktion als auch eine Verbindungsfunktion.54 Sie trennt am Anfang der Handlung zwei Welten voneinander, die Welt des Volkes und die des Adels. Das heißt, das Verhältnis zwischen Maske (Vermummung) und Gesicht (Entlarvung) ist reversibel.55 Nur mit einer Maske gelingt es dem Henker, mit der Königin zu tanzen, was er in der Realität niemals dürfte. Erst hinter der Maske zeigt man sein ‚wahres Gesicht‘, was im Alltag nicht immer erlaubt ist. Deshalb vermag der Henker hinter der Maske zu tanzen, ohne eine unsichtbare Maske für den Alltag anlegen zu müssen. Seine listige Reaktion rettet ihn aus der Notsituation und leitet die Trennfunktion der Maske auf die Verbindungsebene. Die Maske führt zu einer Verwandlung: Die unehrliche Maske wird eins mit dem ehrlichen Gesicht. Der falsche Ritter wird zu einem echten.

4.2.2 Konkurrenz – Karl Simrocks Der Schelm von Bergen (1837) Der Anlass des Festes besteht hier darin, die Wahl des Königs zu feiern. Die Stimmung der Feier ist auffordernd, aufregend und spannend, indem das lyrische Ich die teilnehmenden Personen aufruft: „[I]hr Masken, schwingt euch froh im Saal.“56 Daraufhin kündigt das lyrische Ich den Tanz an, bei dem es ebenfalls um eine Wahl geht – die Wahl des Tanzpartners:

52 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 34. 53 Smets, Wilhelm: Kleinere epische Dichtungen, S. 34. 54 Vgl. Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. München 2004, S. 47. 55 Vgl. Mezger, Werner: Masken an Fastnacht, Fasching und Karneval. Zur Geschichte und Funktion von Vermummung und Verkleidung während der närrischen Tage. In: Alfred Schäfer und Michael Wimmer (Hg.): Masken und Maskierungen. Opladen 2000, S. 109–136, hier S. 129–131. 56 Simrock, Karl Joseph: Gedichte. Hahn 1844, S. 27.

4.2 Das Standesbewusstsein in drei Versionen in Der Schelm von Bergen

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Zum Tanze lädt’s, zum Tanze! [D]er König fliegt dahin Und mit dem schwarzen Ritter die junge Königin: Wer ist wohl der Beglückte, Den solche[n] Ehre schmückte? Sie wäre Fürsten Hochgewinn57.

Die wiederholte Phrase „zum Tanze“ propagiert eine kämpferische und spannende Atmosphäre. Anders als in einer politischen Wahl geht es hier um die Gunst der Königin, um die der König und der schwarze Ritter kämpfen. Ihre Konkurrenz wird dadurch zugespitzt, dass der König zu seiner Gattin „fliegt“, um sie zu umwerben. Die unbeantwortete Frage, „wer ist wohl der Beglückte“, lässt sich mit einem beginnenden Kampf im Kolosseum assoziieren. Beide Männer reißen sich um die Königin. Letztlich reicht sie dem schwarzen Ritter die Hand, denn „keiner schwebt so frei und leicht“58. Sie trennt die ästhetische Welt von der politischen Macht. Offenbar bevorzugt sie für sich einen virtuosen Tänzer, statt den gerade gekürten König zu ehren. Die Abwägung zwischen Tanz und Politik wird von dem lyrischen Ich als rhetorische Frage aufgeworfen: „Doch ist sie wohl zu tadeln, daß sie den Tänzer kürt?“59 Die Eifersucht des Königs ist gut nachvollziehbar. Als er entdeckt, dass der vermeintliche Ritter in Wirklichkeit ein Scharfrichter ist, zürnt der König und rächt sich an ihm, indem er ihn demütigt: „Unehrlicher, dein Atem befleckt die Königin, Den Frevel wirst du büßen...“60

Das Zitat hebt die Pointe der Geschichte hervor. Der Henker wird als „Unehrlicher“ bezeichnet, weil er nicht zur Unterschicht gehört. Als einer, der, mit Leichen umgeht wie Totengräber, ist er unrein und unehrlich. Daher kommt die radikale berufliche Missachtung zu Stande – sein Atem beflecke sogar die Königin. Dies ist jedoch nur aus der Sicht des Königs. Der Henker wird von Simrock mit einem neuen und mutigen Bewusstsein für seinen Beruf zugeschrieben. Die Forderung des Todes erschreckt den Henker nicht, sondern seine Raffinesse und Wendigkeit verleihen ihm genügend Selbstbewusstsein, um den König zu überreden. Ohne jegliche Demut tritt er selbstbewusst auf, als sei er auf eine Verteidigung längst vorbereitet. Er bringt den König in Verlegenheit, als er auf den Ruf der Königin hinweist: „Was könnt’ es helfen“61, wenn er getötet würde 57 Simrock, Karl Joseph: Gedichte. Hahn 1844, S. 27. 58 Simrock, Karl Joseph: Gedichte. Hahn 1844, S. 27. 59 Simrock, Karl Joseph: Gedichte. Hahn 1844, S. 27. 60 Simrock, Karl Joseph: Gedichte. Hahn 1844, S. 242. 61 Simrock, Karl Joseph: Gedichte. Hahn 1844, S. 242.

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4 „Unehrlicher, dein Atem befleckt die Königin“

und die Königin die Schmach weiterhin ertragen müsste? Es wäre besser, wenn er stattdessen zum Ritter geschlagen würde. Das Standesbewusstsein des Henkers in dieser Version lässt keine Unterwürfigkeit zu, sondern er tritt vielmehr als Befürworter der Gleichheit auf. Der König gibt nun nach, nimmt seinen Rat an und schlägt ihn zum Ritter. Die vorherige Entwürdigung des Königs erscheint lediglich als wirkungslose Bedrohung. Der Autor macht hier den revolutionären, aber keineswegs langlebigen Unterton sichtbar. Gleich nach dem Ritterschlag geht der Tanz mit der Königin weiter, als seien die dramatischen Szenen mit der Identität des Scharfrichters und dem Ritterschlag lediglich eine unwichtige Abschweifung gewesen. Der Scharfrichter, der jetzt ein richtiger Ritter ist, tanzt weiterhin „so frei und leicht“62 wie bisher, mit offenem Visier.63 Der letzte Vers ist eine Text-Referenz zur Wahl der Königin. Der Henker, Scharfrichter im Sein und ‚Ritter‘ im Schein, hat am Anfang gewonnen, weil niemand anders „so frei und leicht“ tanzt wie er. Nun ist er sowohl im Sein als auch im Schein Ritter, tanzt ohne Maske und wird nun auch mit einer anderen Zielgruppe verglichen als zuvor: „Kein Reichsfürst tanzt so frei und leicht“64. Die Abnahme der Maske (hier des Visiers) und der veränderte Status des Scharfrichters stehen dem unveränderten Tanz gegenüber, und unverändert bleibt auch die Überlegenheit des Henkers gegenüber dem König auf der Tanzfläche. Die Pointe des Gedichts ist die Asymmetrie zwischen dem herrschenden König und dem ‚Tanzkönig‘, zwischen dem Adelsprivileg und der Macht, die von den unteren Schichten ausgehen kann. Der Tanz symbolisiert die Prophezeiung, dass die Standesgrenze zerschlagen wird.

62 Simrock, Karl Joseph: Gedichte. Hahn 1844, S. 242. 63 Der Gebrauch von Drahtgazelarven wird hier belegt. Die vermutlich aus einem Sieb entstandene Maske vermag trotz ihrer Durchsichtigkeit die Identität des Scharfrichters zu verbergen, zumal sie zusätzlich noch bemalt wird. Vgl. Mezger, Werner: Masken an Fastnacht, Fasching und Karneval. Zur Geschichte und Funktion von Vermummung und Verkleidung während der närrischen Tage. In: Alfred Schäfer und Michael Wimmer (Hg.): Masken und Maskierungen. Opladen 2000, S. 109–136, hier S. 122. 64 Simrock: Gedichte, S. 242.

4.2 Das Standesbewusstsein in drei Versionen in Der Schelm von Bergen

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4.2.3 Provokation – Heinrich Heines Der Schelm von Bergen (1846) Heines Version weist eine große Abweichung gegenüber der ursprünglichen Sage auf. Der Anlass ist weder die Krönung noch die Wahl des Königs wie in den vorigen genannten Gedichten, sondern ein Faschingsfest, das dem christlichen Fastnachtsspiel entspricht. Der Schauplatz befindet sich in Heines Geburtsstadt – das „Schloß zu Düsseldorf am Rhein“65 ersetzt den Ort Frankfurt aus der Sage. Die Gastgeber sind keine Personen, die die Zentralmacht ausüben wie die Königin und der König, sondern kleinere, regional bezogene Machtinhaber, „eine schöne Herzogin“66 und ‚ein kluger Herzog‘. Der höfische Maskenball wird durch ein volkstümliches Fastnachtsspiel ersetzt. Auch die ehrwürdige Ritterschaft und die Virtuosität des Tanzes stehen in Heines Version nicht im Vordergrund. Stattdessen gestaltet er die Figuren durch reiche Beschreibung ihrer Mimik und Gestik.67 Die Schilderung des Fastnachtsspiels ist reich an Farben. Die Tanzenden erscheinen als die „bunten Gestalten“68 vor einem Hintergrund von ‚flimmernden Kerzen‘. Die Farbigkeit der Bekleidung und die geheimnisvolle Ausschmückung des Raums durch Kerzen stellen einen Gegensatz zur prunkvollen und strengen Konvention der höfischen Bälle dar. Die Anwesenden auf dem Mummenschanz bezeichnet Heine als „Fastnachtsgeckenschaar“69 – ein Hinweis auf die scherzhafte Stimmung der gemischten Tanzgesellschaft. Die Hauptfigur, „die schöne Herzogin“, „lacht laut auf beständig“70. Ihr Verhalten ist hier nicht von den höfischen Normen gekennzeichnet, sondern wird durch die Gelegenheit der Fastnacht davon befreit und durch Unbefangenheit gefärbt. Ihr stetiges Lachen begleitet den Tanz, der somit einen komischen und frevelhaften Unterton erhält. Ihr Tanzpartner ist auch kein Ritter wie in den

65 Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut. Bd. 3. Romanzero. Gedichte, 1853 und 1854. Lyrischer Nachlaß. Hg. v. Manfred Windfuhr. Hamburg 1992, S. 19. 66 Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. 67 Heine kritisiert Wilhelm Smets’ Sprachgebrauch, der dem Inhalt nicht entspreche: „Der Stoff von Theobalds [Pseudonym von Wilhelm Smets] Schelm von Bergen ist wunderschön, fast unübertrefflich; doch der Verfasser ist auf falschem Wege, wenn er den Volkston durch holpernde Verse und Sprachplumpheit nachzuahmen sucht.“ In: Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 3. Romanzero. Gedichte, 1853 und 1854. Lyrischer Nachlaß, 2. Apparat. Hamburg 1992, S. 573. 68 Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 3. Romanzero, 1. Text. Hamburg 1992, S. 19. 69 Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. 70 Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19.

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4 „Unehrlicher, dein Atem befleckt die Königin“

ersten zwei Gedichten, sondern ein junger unerfahrener Mensch, ein „Fant“71, der sich „höfisch und behendig“72 gibt. Das beherrschte Benehmen des jungen Tanzpartners kontrastiert mit dem Übermut der Herzogin. Die Spannung wird im Voraus angedeutet. Allein der Blick des Fants verrät bereits seine provokative Haltung. Er schaut zwar „freudig“ aus seiner Maske, aber sein Auge ist „wie ein blanker Dolch“, der „[h]alb aus der Scheide gezücket“73 ist. Die Augenlöcher der Maske werden mit der Scheide und das Auge selbst mit dem Dolch verglichen. Zwei Paradoxe des maskierten Gesichts sind nicht zu übersehen: 1) Heine verwendet ein pars pro toto, „Maske von schwarzem Samt“74. Die Farbe Schwarz verweist auf Trauer oder auch Bedrohung, während der Stoff der Maske, Samt, an etwas Weiches, Umschmeichelndes denken lässt. 2) Der Fant präsentiert sich mit einer leblosen Maske, aber lebendigen Augen. Die Maske ist uniform und verbirgt die Identität, während die Augen das Individuelle zeigen und Gefühlsregungen widerspiegeln. Die samtene Maske hebt die „stechenden“75 Auge des Fants hervor. Die zuerst nur unterschwellig drohende Gefahr wird nun vom Rezipienten stärker empfunden. In der nächsten Strophe lenkt Heine die Aufmerksamkeit auf die Atmosphäre der Fastnacht, als ob die Unsicherheit wegen der Augenpartie des Fants vernachlässigt werden könnte. Wenn das Tanzpaar (die Herzogin und der Fant) an der ‚Fastnachtsgeckenschar‘ vorüberwalzt, bekommt es schmeichelnden und schwärmerischen Jubel. Die Teilnehmer der Fastnacht werden mit mundartlichen Namensformen der Karnevalsfiguren „Drickes“76 und „Marizzebil“77 benannt. Der Trubel findet seinen Niederschlag in der Onomatopöie wie „Schnarren und Schnalzen“78. Genannt werden die ‚schmetternden Trompeteny‘ und ‚der brummende Brummbaß‘79. Dies deutet auf die unbefangenen und von Rausch geprägten Umgangsformen hin, die zur Fastnacht gehören.

71 72 73 74 75 76 77 78 79

Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19.

4.2 Das Standesbewusstsein in drei Versionen in Der Schelm von Bergen

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Als der Tanz zu Ende geht und gleichzeitig die Musik „verstummet“80, sagt der Tänzer – ähnlich wie im Märchen der Brüder Grimm Aschenputtel (1812): „Ich muß nach Hause gehen“81. Seine Ankündigung ist eine Provokation, die noch mehr Abenteuerlust und Neugier der Herzogin auslöst. Bevor der Fant von dem Fest entschwinden darf, wird er von der Herzogin aufgefordert, sein wahres Gesicht zu zeigen. Der zuvor als „Dividuum“82 auftretende Fant vermag nun nicht mehr, seine Identität mit der Scheinfigur hinter der Maske zu teilen. Nach seiner zweimaligen Weigerung, die Maske abzunehmen, verliert die Herzogin die Geduld. Sie verhält sich trotzig, gewaltsam und machtgewohnt – sie reißt ihm mit „Gewalt“83 seine „Maske vom Antlitz herunter“84. Zugleich verursacht die Herzogin mit eigener Hand die Gefahr – die lustige Stimmung schlägt um in Schrecken. Die Herzogin wird ohnmächtig und kraftlos, „stürzt zu ihrem Gemahl“ 85. Die vorherige Arroganz des Adels erweist sich nun – wie Heine es wohl sarkastisch darstellen will – als Hülle, hinter der sich Machtlosigkeit und Hilflosigkeit verbergen. Nun kommt der „kluge“ 86 Herzog – dies ist ironisch gemeint –, der vorher in der Handlung keine Rolle gespielt hat, ins Spiel. Er beseitigt diese Schmach, ohne darüber nachzudenken, ob er eine solche Situation beruhigen und eine Schande verdecken könnte. Er erspart dem Henker das Todesurteil und macht ihn gleich „ritterzünftig“87, wohl aus Angst, dass jemand erfährt, dass die Herzogin mit einem Henker getanzt habe. Der Tanz wird somit abrupt beendet, ebenso die Geschichte. Nach der Szene des Ritterschlags wechselt Heine das Tempus von Präsens zum Präteritum – „so ward der Henker ein Edelmann“88.Das Präteritum kennzeichnet den Schlussstrich, den der Herzog zieht. Er beendet damit die peinliche Situation durch seine Autorität. Auf diese Weise entlarvt Heine den Dünkel und die Eitelkeit des Adels. Gerade wegen seiner Exklusivität duldet der Adel keine Vermischung mit dem niederen Stand. Damit niemand von dem ‚Fehltritt‘ der Herzogin erfährt, wählt der Herzog das kleinere Übel und akzeptiert den ehrmaligen Henker in den Reihen des Adels. 80 Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. 81 Heine, Heinrich: Romanzero, S. 19. 82 Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. München 2004, S. 14. 83 Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske, S. 14. 84 Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 3. Romanzero, 1. Text. Hamburg 1992, S. 20. 85 Heine, Heinrich: Romanzero, S. 20. 86 Heine, Heinrich: Romanzero, S. 20. 87 Heine, Heinrich: Romanzero, S. 20. 88 Heine, Heinrich: Romanzero, S. 20.

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4 „Unehrlicher, dein Atem befleckt die Königin“

4.3 Fazit Der Soziologe Nobert Elias bezeichnet in Über den Prozess der Zivilisation (1939) zwei Ausbreitungswellen der oberen Macht: Kolonisations- und Assimilationsphase. In der ersten Phase versucht die Oberschicht den niederen Stand zu kolonisieren. In der zweiten ist das untere Volk zwar bereits aufgestiegen, dem Adel aber noch deutlich unterlegen. Sein Standesbewusstsein wird umso stärker, je mehr der Adel sich bedrängt fühlt. 89 In Deutschland bedeutet der Zeitraum zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der Märzrevolution eine unsichere Zeit für die Adeligen. Sie sind mit dem Aufschwung des Bürgertums konfrontiert. Dieses Kapitel über das Standesbewusstsein auf Kostümfesten ist in diesem Zeitraum anzusiedeln. Es handelt konkret von dem Standesbewusstsein des Adels und demjenigen der Unterschicht. Beide befinden sich zusammen auf dem Maskenball. Der Einfluss aus anderen Schichten bewirkt, dass die Oberschicht ihren Geschmack ändert. Der adelige Habitus schwankt zwischen „Natur“ und Etikette, zwischen Tugend und höfischer „Frivolität“.90 Die Widersprüchlichkeit und die Unsicherheit des Adels zeigen dessen Identitätsproblem. Einerseits wird die Exklusivität des Adels gekünstelt betont, andererseits nimmt er mehr Elemente aus dem Volkstümlichen auf, zum Beispiel den Rückzug vom Schloss ins Refugium der Natur und die Verkleidung als Landbewohner. Beim Verkleiden markieren die Adeligen einerseits durch die kostbaren Adaptionen von Bauernkleidungen ihre Standeszugehörigkeit, andererseits genießen sie die Befreiung aus den höfischen Verhaltensregeln auf dem Maskenball. Solche Widersprüche spiegeln die Schwäche des Adels wider – seine Inflexibilität für die Veränderungen der damaligen Zeit. Es erweist sich, dass die Fähigkeit, gut zu tanzen, kein Privileg der Oberschicht darstellt. Während die materielle Präsentation die Unterschiede der Schichten herausstellt, verschmelzen im Tanz die Stände. Am Beispiel der drei Gedichte mit dem Titel Schelm von Bergen wurde gezeigt, wie der Tanz mithilfe einer Maske täuschen und die politische Macht herausfordern kann. Die Maske

89 Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde. Bd. 2. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, um eine Einl. verm. Aufl. Bern [u. a.] 1969, S. 424–433. 90 Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation, S. 429.

4.3 Fazit

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ermöglicht es, die Standesschranken aufzuheben; der Tanz verleiht dem Henker als Vertreter der Unterschicht die Fähigkeit und den Mut, mit der Oberschicht zu spielen. Das dadurch widergespiegelte Selbstbewusstsein der Unterschicht, das sich in den drei Gedichten noch verstärkt, lässt den Aufruhr der Vormärz-Zeit und die Verunsicherung des Adelsstandes erahnen.

II Tanz als Kommunikation der Geschlechter

Die kollektiven größeren Veränderungen finden in einzelnen kleineren Bereichen ihren Nachklang. Tanzbälle bieten nicht nur Gelegenheit, Normen, Mode, Tanzformen und -ordnungen sichtbar zu machen, sondern ermöglichen gesellige Begegnungen und Interaktionen zwischen Mann und Frau. Die Tanzbetrachtungen werden nicht allein vom Blick auf die Sitten beherrscht, sondern betonen den psychologischen Aspekt der Geschlechter-Kommunikation. Dabei markieren einige Fragen die sich wandelnden Reflexionen: Wie gewichtig ist die äußerliche Erscheinung einer Frau, um die Beachtung ihres zukünftigen Mannes zu gewinnen? Wann darf eine Frau die Partnerwahl beim Tanz entscheiden und ist ein Tanz in der Natur außergewöhnlich? Der Wechsel vom Menuett zum Walzer, vom vorzeigbaren Aufführungstanz zum intimen Paartanz, löst eine neue literarische Auffassung von der Betrachtung der Tanzpaare aus. Tanz ist seither nicht mehr trennbar von den durch ihn ausgelösten Emotionen. Auch eine Verbürgerlichung klingt in den Betrachtungen des Paartanzes an: Neue bürgerliche Weiblichkeitsideale werden sichtbar. Somit dient Tanz als Metaphorik für Rollen-Findungen der Frauen, die bereits vor der tatsächlichen Emanzipation erste zarte Versuche erlauben.

https://doi.org/10.1515/9783110759815-007

1 „Du hast keine Kleider und Schuhe, und willst tanzen!“ Kleidung als Statussymbol im Märchen der Brüder Grimm Aschenputtel (1812/1857) Ein Paartanz kann Auslöser für eine Liebesbeziehung werden – gerade in literarischen Texten ist das kein ungewöhnliches Ereignis. Zahlreiche Werke der Weltliteratur wie Die Leiden des jungen Werthers (1774), Madame Bovery (1856) und Anna Karenina (1877) bezeugen die Kraft des berauschenden Tanzes für eine entstehende Liebe. Auf einem Ball wird erprobt, ob eine mögliche Eheschließung in Frage kommt, und somit dient er dem Zweck, eine Ehe anzubahnen. Der Tanz dient also nicht nur dem Vergnügen, sondern stellt eine wohlüberlegte und erzeugte Gelegenheit für die Tanzenden dar, sich ihren künftigen möglichen Partner auszusuchen. Bereits bei dem französischen Tanzmeister Thoinot Arbeau findet diese Funktion des Tanzens Beachtung und wird herausgestellt. So betont Arbeau die pragmatische Funktion einer Tanzausbildung. Ein Schüler Arbeaus namens Capriol, welcher Fechten und Ballspielen gelernt und die Kompetenz zum heiratsfähigen Mann erworben hat, bittet seinen Lehrer um Rat für die Partnersuche. Arbeau schlägt ihm vor, beim Tanzen die Partnerin zu ‚testen‘: Und wenn Sie sich verheirathen wollen, so müssen Sie wissen, daß man die Geliebte durch die gute Haltung, Geschicklichkeit und Grazie im Tanze gewinnt. Mehr noch als dieses, denn man tanzt, um zu erkennen, ob die Liebenden gesund und im Gebrauche ihrer Glieder sind, und am Ende des Tanzes ist es gestattet die Geliebte zu küssen, damit sie gegenseitig riechen können, ob ihr Athem gesund oder übelduftend ist, was man Hammelschulter nennt.1

Ein Ball bietet Gelegenheit für Geselligkeit und Präsentation, zugleich aber auch eine hervorragende Möglichkeit, einen künftigen Ehepartner zu wählen. Wie Arbeau dem jungen Mann rät, lässt sich durch Tanz der gesundheitliche Zustand des Partners oder der Partnerin einschätzen und prüfen, weil dabei eine gute körperliche Ertüchtigung, eine gewisse Beweglichkeit, ein ästhetischer Geschmack, Höflichkeit, Musikalität und ein geistvoller Umgang mit dem Körper zum Ausdruck gebracht werden. Diese Art ‚Prüfung‘ für den künftigen

1 Czerwinski, Albert (Hg.): Die Tänze des XVI. Jahrhunderts und die alte französische Tanzschule vor Einführung der Menuett. Mit dem Portrait Thoinot Arbeau’s, 34 Figuren in Holzschnitt und 72 Notenbeispielen und Tanzmelodien. Nach Jean Tabourot’s Orchésographie. Danzig 1878, S. 22. https://doi.org/10.1515/9783110759815-008

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Partner findet vor den Augen eines genau beobachtenden Publikums statt. Wer mit wem mehr tanzt, welche Gruppe sich mit anderen Teilnehmern des Balls zusammenfindet, gibt bereits einen ersten Hinweis auf eine weitere Annäherung.2 Obwohl das Verhalten auf dem Ball noch nicht ausreicht, um eine Vermählung der Kinder zweier Familien herbeizuführen, ermöglicht der Tanz bereits einen Seitenblick auf den wesentlichen Herkunftshintergrund. Seine Ausführung lässt bereits auf die für eine Heirat in der Oberschicht bedeutendsten Faktoren schließen, nämlich gesellschaftlichen Stand und Wohlstand. Erstens gibt das Tanzen auf einem öffentlichen Ball durch die Kleidung der Tanzenden Auskunft über die finanzielle Lage von deren Familien. Zweitens versteckt sich hinter der Fertigkeit des Tanzes der Rang des Hauses, weil die Kinder durch Tanz- und Sittenunterricht den Umgang auf dem Tanzboden erlernen. Einen Tanz- oder Hofmeister anzustellen, setzt neben der Geldfrage auch einen gewissen Status der Familie voraus. Wenn ein junger Mensch durch sein Verhalten Gelächter hervorruft, wird der Familienruf geschädigt und seine Vermählungsmöglichkeiten eingeschränkt. Damit ein adeliges Kind „an fürstlichen Höfen oder anderen Orten, wenn etwa ein Ball stattfindet, keine Schande einlege und Gelächter erwecke“3, ist es für adelige Familien, die ihren Kindern eine standesgemäße Ehe vermitteln wollen, nicht ratsam, bei der Erziehung an der Ausbildung zum Tanzen-Können zu sparen. Während die standesgemäße Ehe, historisch gesehen, als Garantie einer fortdauernden Reputation und des Wohlstands für ein Adelshaus gilt, ruft eine Mesalliance Konflikte hervor, weil sie zum Verlust der Untadeligkeit und zur Beschädigung des Adelsstandes führen kann. Obwohl die leidenschaftliche Liebe ständische Grenzen zu überschreiten vermag, wird zumindest eine Seite der Mesalliance-Ehe benachteiligt. Frauen, die aus niederen Ständen kommen, werden häufig lediglich als Mätresse oder Favoritin neben der offiziellen Gemahlin akzeptiert. Darunter sind nicht wenige finanziell schlecht gestellte Tänzerinnen Mätresse der Mächtigen oder Reichen. Beispielweise scheiterte die gesellschaftliche Anerkennung der als Lola Montez bekannten irischen Tänzerin Elizabeth Rosanna Gilbert, die wegen ihrer Reize beim Tanz die Liebe König Ludwigs I. gewann, aber letztlich dennoch.4 Eine andere Möglichkeit für jene,

2 Vgl. Diemel, Christa: Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen 1800–1870. Frankfurt am Main 1998, S. 27. 3 Neumann, Franz: Der Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte der Erziehung im achtzehnten Jahrhundert. Halle 1930, S. 94. 4 Vgl. Fuchs, Eduard: Ein vormärzliches Tanz-Idyll. Lola Montez in der Karikatur. Berlin 1904, S. 12 ff.

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die einen höheren Stand haben, wäre der Verzicht auf die adeligen Privilegien. Dies scheint erst in der Moderne üblich, etwa die Abdankung König Eduards VIII. aufgrund seiner Liebschaft mit Wallis Simpson.5 Das Tragische einer Mesalliance vollzieht sich jedoch nicht im Märchen. Stattdessen wird die ,Mesalliance‘ im Märchen, in dem das Wunderbare, das Unmögliche, das Übersinnliche zentral im Widerspruch zur Realität steht, sogar als erstrebenswert angesehen – häufig wird die ,Mesalliance‘ im Märchen gar zu einem berechtigten Tausch umgekehrt, die Schöne mit gutem Herz, die zwar aus der Armut stammt, wird dann aber mit einem Prinzen belohnt. Darüber hinaus sind die Abgrenzungen zum gesellschaftlichen Umfeld bei den Liebenden im Märchen verwischt. Dass eine Königstochter einen Schneider zum Gatten nimmt oder ein Prinz eine Gänsemagd zum Schloss führt, gilt als ein zu erwartendes Märchenende. Ziel und Schluss des Märchens, vor allem des Volksmärchens – behauptet Friedrich Panzer zur Gestaltung des Märchens – sei die Verheiratung des Helden. Die männlichen Helden erringen trotz aller Herausforderungen am Ende die Prinzessin. Die Märchen mit weiblichen Helden geleiten diese gleichfalls durch allerlei Bedrängnisse in den Glückshafen einer königlichen Ehe.6 Eine solche königliche Ehe als Märchenende äußert im Wesentlichen den kollektiven Wunsch des Volkes. Die einfachen Menschen träumen von der Aufnahme in die Oberschicht, vom Abschied von der Armut, doch in der Realität sind die Möglichkeiten dafür gering. Dadurch übt die Mesalliance im Märchen für das einfache Volk einen besonderen Reiz aus, weil sie dessen Hoffnung nach der Aufhebung des Standesdünkels als Wert entspricht. Im Märchen Aschenputtel wird die ‚Mesalliance‘-Thematik in Verbindung mit dem Tanz auf dem Königsball zu einem bemerkenswerten Kapitel ausgestaltet.7 Auf der Handlungsebene ist Aschenputtels Erfahren von Unrecht gattungskonform zum Märchen. Darin nimmt die Überwindung der Konflikte und Schwierigkeit die zentrale Stellung ein. Aschenputtel wird von der Schwiegermutter zuerst als Küchenmagd ausgenutzt. Dann wird ihr die Teilnahme am Ball verweigert. All dies bildet somit eine erforderliche Vorstufe zu der späteren

5 Vgl. Feustel, Elke: Rätselprinzessinnen und schlafende Schönheiten. Typologie und Funktionen der weiblichen Figuren in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Hildesheim 2004, S. 237. 6 Vgl. Feustel, Elke: Rätselprinzessinnen und schlafende Schönheiten, S. 30 f. 7 Der Tanz hat in Grimms Märchen eine facettenreiche Gestaltung – Tanz als Qual (Schneewittchen, Der Jude in Dorn und der liebste Roland). Tanz als Umschreibung des Reizes der Unterwelt und Verbindung zum Jenseits (Die zertanzten Schuhe). Der Zwergentanz als Symbol der großen Magie (Die Geschenke des kleinen Volkes). Tanz als Einstieg in den Glanz einer Welt der Herrschenden (Aschenputtel und Allerleirau).

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fremden glänzenden Tänzerin auf dem Ball und der Einheirat in die königliche Familie. Bemerkenswert ist, dass es in Aschenputtel um die Brautwahl geht, die nicht innerhalb eines abgeschlossenen adligen Kreises stattfindet, sondern auf dem Ball, auf dem die Standesunterschiede aufgehoben sind. Der Tanz mit Aschenputtel und deren Schönheit bringen den Königssohn zur rauschhaften Versessenheit auf seine Tänzerin und zu der Entscheidung, sie als Braut auszuwählen. Die Teilnahme am Ball und der Tanz mit dem Königssohn bieten dem Prinzen in Aschenputtel die einzige Gelegenheit zur Brautwahl. Zugleich fungiert der Tanz für Aschenputtel als Wendepunkt für ihr Elend. Der Tanz führt Aschenputtel schließlich zum Glanz, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen: 1) Die Tanzfähigkeit sowie das Auftreten in prächtigen Kleidern müssten bereits durch die Investition in die Ausbildung und die Requisiten einen ärmeren Haushalt ausgrenzen; so stellt es sich das Publikum auf dem Ball vor. Aschenputtels ansprechende und reiche Ausstattung schlägt sich vor allem in Kleid und Schuhen nieder. Aschenputtel täuscht mit Hilfe des Zaubers den Prinzen. 2) Die Füße gehören beim Tanzen zu den wichtigsten Körperteilen. Sie bewegen sich taktmäßig und bringen den ganzen Körper in eine maßvolle und harmonische Bewegung. Der Schuh, welcher die Größe des Fußes direkt signifiziert, dient zur letzten und ausschlaggebenden Probe, um die richtige Braut zu erkennen. Deshalb gilt die Ehe zwischen der Halbwaise und dem Königssohn als keine strenge Mesalliance, weil die Perspektive verlagert worden ist. Die Frage der Stände ist nicht ausschlaggebend, sondern signifikant für die Heirat sind Aschenputtels kleine schöne Füße, die ebenfalls zu ihrem ,Vermögen‘ zählen. Das Zauberkleid und die silber und gold gestrickten Schuhe sind Aschenputtels wesentliche Hilfsmittel. Während das Kleid aus weichem Stoff besteht, weisen die Schuhe kostbare Stickereien auf und haben eine feste Form – beides ergänzt sich. Nicht nur die äußerliche Erscheinung Aschenputtels bietet ihr die Chance, auserwählt zu werden, sondern durch ihren Kleidungswechsel wird ihre gesamte Erscheinung verändert. Ihre körperlichen Anstrengungen bei der Erledigung häuslicher Arbeiten in der Küche werden nach dem Kleidungswechsel vom schwebenden Tanz im prachtvollen Schloss abgelöst. Beachtenswert ist noch die Verflechtung der äußeren Bedingung und des inneren Wesens. Einerseits verändert der Kleidungswechsel Aschenputtels Identität, andererseits ist der Erwerb der wertvollen Ausstattung nicht durch finanzielles Vermögen, sondern durch ihre Tugend bedingt. Es sind Aschenputtels Tugenden, Liebe, Fleiß und Geduld,

1.1 Skizze zur Grimm’schen Aschenputtel-Version

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die den Zauber hervorrufen. Indem betont wird, dass die innere Schönheit die äußere Ausstrahlung hervorbringt, ist die Thematik des Märchens – die Abwägung der äußeren und der inneren Schönheit bei der Brautwahl – entstanden. Im folgenden Text wird versucht, die symbolische und strukturelle Funktion der Tanz-Kleidung (Kleid und Schuh) in Aschenputtel näher zu betrachten, mit der Frage, inwiefern Aschenputtels Tanz-Kleidung über das GeschlechterVerhältnis oder über die Gleichwertigkeit der Geschlechter etwas aussagt. Dabei werden die Änderungen Grimms der Aschenputtel-Figur in ihrer ersten und letzten Fassung, die von ihnen am Rand gemacht worden sind, berücksichtigt. Zum Schluss erfolgt ein Rekurs auf den Paartanz im gesellschaftlichen Kontext mit der Überlegung: 1) Dass ausgerechnet Kleid und Schuh als Hilfsmittel für Aschenputtels Einstieg gewählt werden, lässt sich vermutlich auf die Volkssitten zurückführen? 2) Wie eng ist die Figur Aschenputtel in der Gestaltung des Märchens mit dem Erziehungsideal des Bürgertums verbunden?

1.1 Skizze zur Grimm’schen Aschenputtel-Version Die Grimm’sche Aschenputtel-Version ist in der Zeit entstanden, als die Brüder Grimm Volksdichtung gesammelt haben. Der Anlass dafür, Volkskunst und Volksdichtung zu sammeln, ist die Beachtung der sogenannten ‚kleinen Kunst‘ mit dem Nachdenken über die deutsche Nation in der Zeit der Romantik. Die Folgen des Befreiungskriegs haben die politische Lage des Bürgertums nicht stabilisiert, sondern vielmehr zur Restauration und damit zu einer Fortsetzung der Kleinstaaterei. Das Bestreben des Bürgertums ist weiterhin auf Nationalbewusstsein und Volksgut gerichtet. So versuchen die Frühromantiker, durch Sammlung der Volkskunst das Selbstbewusstsein der Deutschen unter dem Aspekt einer Einheit zu stärken. Jakob und Wilhelm Grimm sowie Clemens Brentano und Achim von Arnim sammeln und edieren Volksmärchen, -sagen und -lieder. 1807 regt Brentano, ganz im Geist der Romantik, die Brüder Grimm dazu an, ,Volksmärchen‘ zu sammeln.8 Arnim unterstützt sie bei der Veröffentli-

8 Wenn man auf die Identität der Erzähler stößt und ihren gebildeten Status kennt, von denen die Brüder Grimm zumeist ihre Märchenquellen bekommen haben, scheint das Wort „Volksmärchen“ nicht stimmig zu sein, denn Grimms Märchen kommen nicht aus dem einfachen Volk, sondern durch Erzähler aus gebildeter Schicht, die die Märchen ebenfalls gelesen haben, meist in französischen Quellen. Dass Grimms betonen, ihre Märchen entstammen aus dem „einfachen Volk“, ist vermutlich dem Geist der Romantik geschuldet. Vgl. dazu Rölleke, Heinz: Brüder Grimm. Märchen über Märchen. In: Die Zeit am 20.11.2012. URL. https://www.zeit.de/ zeit-geschichte/2012/04/Maerchen-Brueder-Grimm-Urspruenge. (20.07.2021).

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1 „Du hast keine Kleider und Schuhe, und willst tanzen!“

chung der Kinder- und Hausmärchen.9 Wilhelm Grimm redigiert dabei federführend die Märchensammlung konsequent bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1859. Anders als die Kunstmärchen, die um 1800 ebenfalls einen Aufschwung erleben, markieren die Märchen der Brüder Grimm das Einfache und Volksnahe, Spuren der Verschmelzung christlicher Tradition und germanischer Mythen sowie die kollektiven und epischen Wünsche der Völker.10 Außerdem werden darin die pädagogische Werteinstellung der Brüder Grimm sowie das Erziehungsideal der damaligen Zeit sichtbar. Aschenputtel wird seit der ersten Auflage der Kinder- und Hausmärchen (1812) unverändert mit der Nummer 21 aufgeführt. Der frühste Überlieferungsbericht der Brüder Grimm für Aschenputtel stammt aus dem Jahr 1810, als Jacob Grimm die ersten 51 Märchen, also die handschriftliche Urfassung der KHM, mit der folgenden Anmerkung an Clemens Brentano sandte: Lieber Clemens, hierbei erhalten Sie versprochenermaßen alles, was wir von Volksmärchen gesammelt, zu beliebigem Gebrauch. Nachher senden Sie uns wohl gelegentlich die Papiere wieder. Wie Sie sehen, hat der Wilhelm in Marburg wenig bekommen, nur die zwei letzten [Nr. 50 und Nr. 51], worunter doch das vorletzte sehr hübsch und merkwürdig [Meine Hervorhebung, W. R.].11 Die letzten beiden Märchen sind Aschenputtel und Der goldene Vogel. Allerdings bleibt unklar, unter welcher der beiden Nummern Jakob Grimm Aschenputtel vermerkte und welches von beiden „das vorletzte“ Märchen war, das er

9 Wilhelm Grimm dankt Achim von Arnim wörtlich im Brief an Bettina von Arnim wie folgt: „Liebe Bettine, dieses Buch kehrt abermals bei Ihnen ein, wie eine ausgeflogene Taube die Heimat wieder sucht und sich da friedlich sonnt. Vor fünf und zwanzig Jahren hat es Ihnen Arnim zuerst, grün eingebunden mit goldenem Schnitt, unter die Weihnachtsgeschenke gelegt [...] Er war es, der uns, als er in jener Zeit einige Wochen bei uns in Cassel zubrachte, zur Herausgabe angetrieben hatte.“ Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Hg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart 2010, S. 11. Im Folgenden wird „Kinder- und Hausmärchen“ als „KHM“ abgekürzt. 10 Vgl. Oesterle, Günter: Mythen und Mystifikationen oder das Spiel von simulatio und dissimulatio in den ‚Kinder- und Hausmärchen‘ der Brüder Grimm. Märchen. In: Claudia Brinker-von der Heyde [u. a.] (Hg.): Märchen, Mythen und Moderne. 200 Jahre Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Bd. 1. Frankfurt/Bern 2016, S. 155–165, hier S. 159. 11 Jacob Grimms Brief an Clemens Brentano vom 17.10.1810. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1810 und der Erstdruck von 1812. Hg. v. Heinz Rölleke. Cologny-Genève 1975, S. 298.

1.1 Skizze zur Grimm’schen Aschenputtel-Version

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mit den lobenden Worten „hübsch und merkwürdig“ bedachte.12 Brentano hat jene handschriftliche Sammlung nie mehr zurückgeschickt. Das von ihm erhaltene Manuskript der Urversion Aschenputtel ist in seinem Nachlass verschollen.13 Die beiden letzten Märchen wurden von einer ‚Marburger Frau‘ erzählt, deren Identität bis 2016 unbekannt blieb, als Holger Ehrhardt sie schließlich als Elisabeth Schellenberg identifizierte.14 Auf die Marburger originale Version lässt sich kaum zurückgreifen, weil die erste Grimm’sche Druckfassung für Aschenputtel (1812) mehreren Quellen als

12 In dem von Heinz Rölleke herausgegebenen Buch wurde die Urfassung Aschenputtel unter der Nummer 50 vermerkt, hinzugefügt mit dem oben zitierten Kommentar Jacob Grimms. Elke Feustel hielt zwar an dem Datum fest, hatte aber dennoch lediglich die Vermutung, Jacob Grimm habe die Aschenputtel-Erzählung unter der Nummer 50 am 17.10.1810 eingefügt. Holger Ehrhardt stellte fest, dass die Brüder Grimm für Aschenputtel und Der goldene Vogel jeweils literarische Quellen in Madam d’Aulnoys Erzählung Finette Cendron (1698) und Wilhelm Christoph Günthers Märchen Der Treue Fuchs (1787) gefunden hätten. Da beide Märchen nachträglich ergänzt wurden, sei Jakob Grimms Kommentar nicht zu verorten. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1810 und der Erstdruck von 1812. Hg. v. Heinz Rölleke. Cologny-Genève 1975, S. 138. Feustel, Elke: Rätselprinzessinnen und schlafende Schönheiten. Typologie und Funktionen der weiblichen Figuren in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Hildesheim [u. a.] 2004, S. 305. Ehrhardt, Holger: Die Marburger Märchenfrau. Oder Aufhellungen eines „nicht einmal Vermutungen erlaubenden Dunkels“. Kassel [u. a.] 2016, S. 58. 13 Die Märchenhandschriften der Brüder Grimm werden nach Brentanos Tod durch den Abt Ephrem van der Meulen an die Bibliothek des Trappistenklosters Ölenberg im Elsaß gesendet. In der Ölenberg-Ausgabe ist Aschenputtel nicht enthalten. Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Hg. v. Heinz Rölleke. Cologny-Genève 1975, S. 342–345. 14 Aus Wilhelm Grimms Brief ist zu erfahren, dass es ihm nach mehrmals mühehaften Versuchen gelang, die Frau des Hospitalvogts, in dessen Hospital die Erzählerin, ‚die Marburger Frau‘, wohnte, dazu zu bringen, ihm Märchen zu erzählen, die er dann niederschrieb. Holger Ehrhardt hat sich, sich dabei auf Heinz Röllekes und Wilhelm Schoofs Entdeckung der Grimm’schen Briefstellen über die „alte Frau“ in Marburg berufend, an die Kirchenregister und Hospitalregister gewendet und die ‚Marburger Frau‘ identifiziert, und zwar anhand des Hinweises aus Wilhelm Grimms Brief, dass die Marburger Frau eine Verwandte von Frau Creuzerin war, die Grimm kannte. Aufgrund Elisabeth Schellenbergs ärmlicher Lebenssituation und Herkunft sei es eher möglich, dass sie die Märchen mündlich überliefert bekommen hat statt durch eine schriftliche Quelle. Vgl. Ehrhardt, Holger: Die Marburger Märchenfrau. Oder Aufhellungen eines „nicht einmal Vermutungen erlaubenden Dunkels“. Kassel [u. a.] 2016, S. 56. Auch Rölleke, Heinz: Die Marburger Märchenfrau. Zur Herkunft der KHM 21 und 57. In: Fabula 15/1, (1974), S. 87–94. Schoof, Wilhelm: Zur Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen. Hamburg 1959, S. 68–72.

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Ergänzung entlehnt ist.15 Die Handlung und die Charakterisierung der Leitfigur bleiben zum größten Teil den „drei Märchen aus Hessen“16 treu. Die abgeleiteten Relikte sind noch aus den Vorgängerversionen, Giambattista Basiles La gatta cenerentola (1634/36) und Charles Perraults Aschenputtel oder das gläserne Pantöffelchen (Cendrillon ou la Petite Pantoufle de verre) (1697), zu erkennen.17 Vergleicht man die erste Fassung zur Aschenputtel-Fassung mit der aus letzter Hand (1857), sind einige Abweichungen nicht zu übergehen.18 In der letzten Fassung macht sich der Grimm’sche Grundgedanke des Märchenhaften und des Erzieherischen – die Guten werden belohnt und die Bösen werden betraft – bemerkbar.19 Außerdem ist darin der durch die Handlung widergespiegelte enger gewordene Zeitbezug spürbar, die Verbürgerlichung und Individualisierung der sozialen Kulisse andeutend.

1.2 Kleiderwechsel und veränderte Rollen Aschenputtels Das Wechsel-Motiv, wie der Jahreszeit- und Kleidungswechsel, deutet zunächst die Veränderung in Aschenputtels Leben an. Der Tod von Aschenputtels Mutter und die erneute Heirat des Vaters entsprechen dem Jahreswechsel vom Winter

15 Holger Ehrhardt verwies auf die Sagenkonkordanz der Brüder Grimm und stellte die Vermutung an, dass unter dem Motiv „Verschwinden“ die Marburger Version zu erahnen ist: „Aschenputtel kommt dreimal in prächtigen Kleidern auf den Ball u. verschwindet nachts um 12 Uhr, beim drittelmal, wo sie sich beinahe verspätet, verliert sie einen Schuh, woran sie demnächst erkannt wird. Sonst gerade derselbe Gegensatz zwischen Glanz u. Drückender Armuth.“ (Zitat aus: Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Bd. 1. Teil 2. Zusätzliche Texte, Sagenkonkordanz. Stuttgart 2006, Nr. 873, 2, S. 455) In der ersten Version erscheint Aschenputtel nur zweimal auf dem Ball. Außerdem hat sie, anstatt sich zu verspäten, durch den Trick des Prinzen einen Schuh verloren. Vgl. Ehrhardt, Holger: Die Marburger Märchenfrau. Oder Aufhellungen eines „nicht einmal Vermutungen erlaubenden Dunkels“. Kassel [u. a.] 2016, S. 54 f. 16 Vgl. Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Entstehung-Wirkung-Interpretation. Berlin 2008, S. 50. 17 Vgl. Rötzer, Hans Gerd: Märchen. Bamberg 1982, S. 142–144. 18 Von der zweiten (1819) bis zur siebten Fassung (1857) Aschenputtels wurde das Märchen nur wenig redigiert. 19 Isabella Wülfing hat in einer ausführlichen Biographie der Brüder Grimm deren schöpferische und umfangreiche Sammelarbeit aufgeführt. Vgl. Wülfing, Isabella: Alter und Tod in den Grimmschen Märchen und im Kinder- und Jugendbuch, Studien zur Medizin-, Kunst- und Literaturgeschichte. Bd. 11. Herzogenrath 1986, S. 27–30.

1.2 Kleiderwechsel und veränderte Rollen Aschenputtels

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zum Frühling.20 Damit vollzieht sich symbolisch in Aschenputtels Schicksal ebenfalls ein Wandel, aber eher zum Schlechten. Seitdem die Stiefmutter eingeheiratet hat, nehmen sie und ihre Töchter Aschenputtel ihre „schöne[n] Kleider weg“ (132). Das Kleid steht für die Vorzeigbarkeit der Weiblichkeit, aber nun vorwiegend für die häusliche Hierarchie.21 Die Stiefmutter und ihre beiden Töchter verdrängen durch die Aneignung der Kleider Aschenputtel aus deren ursprünglicher Position in der Familie als Tochter eines reichen Mannes. Der Name Aschenputtel kennzeichnet ihre neuen Status – sie wird zu einer Dienerin herabgestuft. Sie muss nun statt eines schönen Kleides „einen alten grauen Kittel“ (132), welcher zugleich ihre weibliche Figur verhüllt,22 und „hölzerne Schuhe“ (132) anziehen, welche ihre Füße ebenfalls dezent machen.23 Durch diese Vorspiegelung eines kindlichen und schutzbedürftigen Mädchens wird Aschenputtels Heiratsfähigkeit negiert. Sie wird daran gehindert, auf dem ,Heiratsmarkt‘ die gleiche äußerliche Kompetenz zu zeigen wie ihre Stiefschwestern. Die Hierarchie im Haus, die durch das Kleid gekennzeichnet ist, entspricht nicht zufällig dem weiblichen Kleidungsstil im 18. und 19. Jahrhundert. Das schmucklose, aus einfachen Materialien gefertigte Kleid kennzeichnet das einfache Volk. Wertvolle Kleidungen sind den hohen Ständen vorbehalten, die entweder durch eine Anstellung mit Gehalt oder durch Einnahme von Steuern und aufgrund ihres Besitzes keine häusliche Arbeit leisten müssen. Die Figur einer Küchenmagd mit einem schmutzigen Kittel spiegelt das Frauenbild von einer Rollenverteilung der Geschlechter vor bürgerlichem und bäuerlichem

20 August Nitschke hat an Beispielen aus Märchen und Mythen untersucht, wie sich das neue Leben einer Märchenfigur nach dem Tod eines Familienangehörigen ändert, und argumentiert, dass die Verhaltensweisen der Menschen sich jahreszeitlichen Phasen anpassen. Vgl. Nitschke, August: Aschenputtel aus der Sicht der historischen Verhaltungsforschung. In: Brackert, Helmut (Hg.): Und wenn sie nicht gestorben sind. Perspektiven auf das Märchen. Frankfurt am Main 1990, S. 71–88, hier S. 76–81. (Auf Seite 71–76 wurde die letzte Fassung des Märchens Aschenputtels 1857 wiedergegeben, aber – bestimmt aus Versehen – die Fassung mit 1812 vermerkt.) 21 Vgl. Lötscher, Christine: Doppelte Maskerade. „Aschenputtel“ und das SchlüsselszenenSpiel in der zeitgenössischen Kinderbuch-Illustration. In: Märchenspiegel. Zeitschrift für internationale Märchenforschung und Märchenpflege, 22 (2011), S. 54–61, hier S. 57. 22 Mit dem „Kittel“ ist das Bild der von Theodor Fontane 1894 geschaffenen Protagonistin Effi Briest aus dem gleichnamigen Roman zu assoziieren. Bevor die siebzehnjährige Effi verheiratet wird, trägt sie statt des damenhaften Korsetts ein „halb kittelartiges Leinwandkleid mit einem Ledergürtel, welcher ihre weiblichen Rundungen kaschiert. Fontane, Theodor: Effi Briest. Hg. v. Christine Hehle. Berlin 1998, S. 6. 23 Vgl. Beit, Hedwig: Symbolik des Märchens, 2 Bde. Bd. 2. Gegensatz und Erneuerung im Märchen, 6. unveränd. Aufl. Bern 1997.

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Hintergrund wider – Frauen arbeiten in der Küche und verlesen Linsen, während Männer auf Wanderschaft oder Handelsreise gehen, um neue Arbeit und Verkaufsgelegenheit zu finden. Aschenputtel entspricht wohl dem Idealbild einer bürgerlich gut erzogenen Frau, teils beeinflusst vom Zeitgeschmack und teils von Grimms Idealvorstellung. Dies zeigt sich vermutlich ebenfalls im Genus-Wandel vom Männlichen zum Weiblichen in der Aschenputtel-Überlieferung, nach der ein Mädchen in der Küche arbeitet.24 Obwohl Aschenputtel nicht aufgrund ihrer eifrigen Küchenarbeit und ergebenen Dienerschaft vom Prinzen auserwählt wird, ist die Intention des Erzählers nicht zu übersehen – die sich mit Aschenputtel identifizierenden Hausfrauen und Bäuerinnen können dadurch Hoffnung schöpfen, dass sie trotz ihres geringen gesellschaftlichen Standes durch fleißige Arbeit Glück erlangen können.25 Die Hierarchie des Hauses in Aschenputtel wird dadurch erschüttert, dass der Prinz alle jungen Frauen einladen will. Seine Einladung ist für Aschenputtel eine Möglichkeit für einen bedeutenden Wandel in ihrem Leben, aber eine Gefahr oder Konkurrenz für die Stiefmutter samt ihren Töchtern. Wie in der Erklärung zum Anlass des Balls erkennbar wird, gilt die Herkunftsfrage nicht als Kriterium dafür, ob eine Frau als Braut akzeptabel ist:

24 Grimms Biographie ist ein zu berücksichtigender Aspekt – die ideale weibliche Rolle für die beiden Brüder ist wohl Häuslichkeit. Während ihre Schwester Lotte sich bis 1823 um den Haushalt gekümmert hat, hat Wilhelm Grimm mit 40 Jahren Dorothea Zimmer geheiratet. Grimms Biograph Stephan Martus kommentiert: „Dass ein Mann, der mit seinem Bruder zusammenlebt, sich zur Heirat entschließt, als die Schwester den Haushalt nicht mehr versorgt; dass die Auserwählte den Namen der Mutter trägt, von der Mutter ihres Mannes zu dessen Schwester und vom Schwager zu[r] Mutter erklärt wird – all dies könnte in die Untiefen der Psychopathologie der bürgerlichen Ehe führen.“ Zit. nach Heine, Matthias: Bei den Grimms musste wenigstens einer heiraten. URL. https://www.welt.de/kultur/article5537988/Bei-denGrimms-musste-wenigstens-einer-heiraten.html (20.07.2021). Außerdem wies Heinz Rölleke auf das männliche Genus der Aschenputtel-Geschichte in der Zeit Luthers hin. Dies erläutert er dadurch, dass Aschenputtel unter dem Einfluss der Erzähler Grimms, die meistens Frauen waren, allmählich zu einem Mädchen geworden ist. Vgl. Rölleke, Heinz: Die Frau in den Märchen der Brüder Grimm. In: Ders. (Hg.): Wo das Wünschen noch geholfen hat. Bonn: Bouvier 1985, S. 220–235, hier S. 224. 25 Da die Märchenerzähler der Grimm’schen Märchen meistens aus dem Bürgertum stammen und für ihren Haushalt arbeiten müssen, könnte Aschenputtel eine Traumfigur darstellen, mit der sie sich ebenfalls identifizieren können (nicht nur die Bäuerinnen) und vom Erlangen des höheren Standes durch Arbeiten träumen können. Vgl. Schoof, Wilhelm: Zur Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen. Hamburg 1959, S. 69 f. Auch Vgl. Nitschke, August: Stabile Verhaltensweisen der Völker in unserer Zeit. Stuttgart 1977, S. 30 f.

1.2 Kleiderwechsel und veränderte Rollen Aschenputtels

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Es begab sich aber, dass der König ein Fest anstellte, das drei Tage dauern sollte, und wozu alle schönen Jungfrauen im Lande eingeladen wurden, damit sich sein Sohn eine Braut aussuchen möchte.26 In diesem Märchen ist wohl ein Zeitalter erfasst, in dem die Eltern für die Vermählung der Kinder sorgen.27 Schönheit und Jungfräulichkeit bilden die wichtigsten Kriterien. Somit haben „alle schönen Jungfrauen im Lande“ (133) gleichermaßen Gelegenheit, an dem ‚Brautwettbewerb‘ teilzunehmen. Die dekorierende und schmückende Funktion der Frauen in Aschenputtel markiert die finanzielle Abhängigkeit der Frauen von Männern, die in Teilen Deutschlands bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gängig war. Aschenputtels Aufstieg ist von Anfang an ebenfalls eingebettet in einen patriarchalischen Kontext. Obwohl jede Frau „im Lande“ eingeladen ist, zum Ball zu gehen, wird Aschenputtel von ihrer Stiefmutter verboten, den Ball zu besuchen. Es ist zu erahnen, dass die Stiefmutter Aschenputtels Teilnahme unterbindet, um ihren eigenen Töchtern einen Vorteil zu verschaffen. Die Begründung ist versteckt im Motiv des Kleides – „du hast keine Kleider und Schuhe, und willst tanzen!“ (134) Die Ausrede der Stiefmutter wiederholt sich dreimal in leichter Variation. Auch als Aschenputtel die schwierige Aufgabe des Linsenlesens28 erfolgreich erledigt, bleibt die Stiefmutter wortbrüchig und hinterhältig.29 Hingegen hält Aschenputtels verstorbene leibliche Mutter Wort. Solange Aschenputtel „fromm und gut“ (132) bleibt, also der christlichen Tugend folgt, bekommt sie deren Hilfe. Die Entwicklungsgeschichte Aschenputtels von einer Küchenmagd zur Prinzgemahlin ist im Wesentlichen auf eine bestandene Prüfung der Mutter durch Gott zurückzuführen. Diese Aussage wird durch Wilhelm

26 KHM, 133. Alle Zitate aus der gleichen Quelle werden in diesem Kapitel im Fließtext mit Seitenzahl in Klammern angegeben, ohne dass KHM (Kinder- und Hausmärchen) vermerkt wird. 27 Vgl. Kast, Verena: Partnerwahl im Märchen. In: Gisela Völger (Hg.): Die Braut. Geliebt, verkauft, getauscht, geraubt. Zur Rolle der Frau im Kulturvergleich. Köln 1985, S. 384–389, hier S. 387 f. 28 Hedwig von Beit und Hermann Bausinger beobachten bei der Interpretation über die Symbolik des Linsenlesens einen ähnlichen Aspekt. Für Beit bedeutet Linsenlesen, die Ordnung vom Chaos zu trennen. Bausinger sieht die Symbolik als Trennung der Schönheit von der Hässlichkeit. Vgl. Beit, Hedwig: Versuch einer Deutung, 2. verb. Aufl. Bern [u. a.] 1960, S. 729. Bausinger, Hermann: Aschenputtel. Zum Problem der Märchensymbolik. In: Wilhelm Laiblin und Verena Kast (Hg.): Märchenforschung und Tiefenpsychologie, 5. um ein Vorw. erw. Aufl. Darmstadt 1995, S. 284–298, hier S. 220. 29 Vgl. Solms, Wilhelm: Aschenputtel aus philologischer Sicht. In: Märchenspiegel. Zeitschrift für internationale Märchenforschung und Märchenpflege, 22 (2011), S. 5–9, hier S. 7.

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Grimms Vorrede zu KHM (1812) belegt: „Er [Gott] kommt herab auf die Erde und besucht den Reichen und Armen, jenen findet er verdorben, diesen fromm und nach seinen Gesetzen lebend.“30 Da Aschenputtel die Prüfung Gottes bestanden hat, wird sie mit dem wertvollen Kleid belohnt, so wie ihr ihre Mutter vor dem Tod im Namen der göttlichen Allmacht Hilfe versprochen hat.31 Der Zauber erscheint, nachdem Aschenputtel ein Reis32 im Grab der Mutter eingepflanzt hat.33 Dieser aus dem Grab der Mutter wachsende Baum und die darauf sitzenden Vögel sind Kennzeichen für ein Leben in Gottes Reich. Bemerkenswert ist, dass der Baum aus Tränen erwächst, resultierend aus einer vollständigen und schmerzlichen Zuwendung. Die Tränen stehen für die starke Mutter-TochterBindung, welche die Grenze vom Leben zum Tod überwindet. Gegenüber ihrer Trauer scheint die Hilfe, die sie vom Baum bekommt, wie eine erbärmliche Reaktion aus dem Totenreich.34 Für die Hilfe aus dem Jenseits wählen die Brüder

30 Grimm, Wilhelm: Vorrede zum KHM 1812, in: Märchen. Hg. v. Hans Gerd Rötzer. Bamberg 1982, S. 7–23, hier S. 13. 31 Elisabeth Frenzel erinnert in Bezug auf das Motiv „Gott auf Erdbesuch“ an das Märchen Die weiße und die schwarze Braut der Brüder Grimm. Darin prüft der wandernde Gott zwei Schwestern, indem er sie nach dem Weg fragt. Die ihm den Weg Weisende wird mit Schönheit belohnt, während die ihm den Weg Verweigernde mit Hässlichkeit bestraft wird. Heinz Rölleke verweist ebenfalls auf das Bild Gottes. Allerdings bewertet er die Grimm’sche Konzeption zur Anrufung Gottes als eine tautologische „vorweg gegebene christlich-sentimentale ‚Überfirnissung‘ des Märcheneingangs“, weil die versprochene Hilfe der Mutter archaisch und selbstverständlich vorstellbar ist. Vgl. „Gott auf Erdbesuch“. In: Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 2008, S. 284. Rölleke, Heinz: Das Bild Gottes in den Märchen der Brüder Grimm. In: Ders. (Hg.): „Wo das Wünschen noch geholfen hat“. Gesammelte Aufsätze zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Bonn 1985, S. 212 f. 32 Hier ist kurz anzumerken, dass Aschenputtel in der ersten Druckfassung den Hinweisen ihrer Mutter folgt, ein Reis zu pflanzen. Ab der zweiten Fassung hat Wilhelm Grimm die Messeszene hinzugefügt. Aschenputtels Wunsch nach einem Reis kontrastiert mit dem Wunsch der Stiefschwester nach schönen Kleidern und Schmuck. Offenbar werden Naturverbundenheit und Bescheidenheit in der Biedermeierzeit als bürgerliche Tugend angesehen. 33 August Nitschke hat überzeugend darauf verwiesen, dass die Hilfe der Mutter in Gestalt des Baums oder der Vögel durch Aschenputtels Initiative erst zustande kommt, weil sie ihren Vater um einen Zweig gebeten hat. Vgl. Nitschke, August: Stabile Verhaltensweisen der Völker in unserer Zeit. Stuttgart 1977, S. 29. 34 Hedwig von Beit erläutert die symbolische Bedeutung des Baums und greift dabei auf die altgermanische Mythologie zurück. Demnach kennzeichnet der Haselnussbaum als Symbol des inneren Wachstums den Kontakt zum Totenreich. Vgl. Beit, Hedwig: Versuch einer Deutung, 2. Aufl. Bern [u. a.] 1960, S. 726.

1.3 Individualisierung bei der Wahl des Partners

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Grimm als Symbol den weißen Vogel und die Tauben für die Boten. Tauben symbolisieren sowohl nach der christlichen Tradition35 als auch für die Grimm’sche Verwendung im Märchen Reinheit und sind Bote Gottes.36 Wilhelm Grimm verweist offenbar in der Vorrede 1812 auf Aschenputtel: Wenn die Helden in Panik geraten, sendet Gott „seine Hilfe, er schickt die Tauben“.37 Die Grenze zwischen Tod und Leben ist in Aschenputtel nicht scharf gezogen. Der Tod von Aschenputtels Mutter ist zugleich eine Wiedergeburt in Form deren magischer Hilfskraft.38 Das von der übernatürlichen mütterlichen Kraft geschenkte Kleid gestattet Aschenputtel, auf dem Königsball zu erscheinen und die Teilnehmer zu täuschen. Niemand erkennt sie außer ihrem Vater, der auch nur ahnt, die gesuchte Tänzerin „sollte Aschenputtel sein“ (136). Nur der Vater, der sein Kind liebt, weiß von der wahren Identität Aschenputtels, nämlich einer Kaufmanntochter und zugleich einer heiratsfähigen Frau, die nach ihrem ursprünglichen Stand nicht arbeiten muss.

1.3 Individualisierung bei der Wahl des Partners Die Wende im Leben Aschenputtels beginnt mit ihrem Kleidungswechsel durch die Kraft der Magie. Nun gelingt es Aschenputtel, trotz des Verbots der Stiefmutter

35 Im Alten Testament taucht Noahs Taube als Heiliger Geist schon in der Schöpfungsgeschichte auf. (1. Mose 8: 8–17). „Taube“. In: Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 21, Sp. 166. 36 Die Grimms müssen beim Redigieren des Handlungsablaufs an die Tauben ihrer Jugendzeit gedacht haben. Der jüngere Bruder Ludwig Grimm erinnert sich an die gemeinsame Freude an den Vögeln: „Eine Hauptfreude war das Aufziehen junger Vögel, wir hatten immer Käfige voll Amseln und Hänflingen, und wir jubelten, wenn wir sie so weit gebracht hatten, daß sie allein fressen konnten. Auch ein paar Tauben hatten wir in unserer Stube, sie hatten ihr Nest unter dem Bett.“ Später hatten die beiden älteren Brüder Grimm in Berlin eine völlig zahme Taube, „die immer im Zimmer war.“ Darüber hinaus hat Wilhelm Grimm in der Vorrede zu Kinder- und Hausmärchen (1812) bei der Aufzählung der hilfsbereiten Tiere betont: „Tauben sind die geliebtesten, hilfsreichsten“ und „reinen, gallenlosen“ Vögel. Grimm, Ludwig Emil: Erinnerungen aus meinem Leben. Mit Briefen von Jacob, Wilhelm, Ferdinand und Ludwig Grimm und anderen Beiträgen zur Familiengeschichte, Nachdr. der Ausg. Leipzig 1913. Hamburg 2013, S. 73. Grimm, Wilhelm: Vorrede zum KHM 1812. In: Hans Gerd Rötzer (Hg.): Märchen. Bamberg 1982, S. 7–23, hier S. 12. 37 Grimm, Wilhelm: Vorrede zum KHM 1812. In: Hans Gerd Rötzer (Hg.): Märchen. Bamberg 1982, S. 7–23, hier S. 7. 38 Vgl. Wülfing, Isabella: Alter und Tod in den Grimm’schen Märchen und im Kinder- und Jugendbuch. Herzogenrath 1986, S. 65.

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auf dem Ball zu erscheinen. Sie zieht „Gold und Silber über sich“ (135/136/137), sodass alle denken, „das müsste eine fremde Königstochter sein“ (135). Ihr Name und ihre Herkunft bleiben ein Rätsel. Die fremde Schönheit ist eine unvergleichliche und magische Erscheinung, die über den alltäglichen Reiz hinausragt und einen ,exotischen‘ Effekt hat, sodass jedermann „über seine [Aschenputtels] Schönheit“ (136) erstaunt ist. Der Gestaltwechsel ist offenbar sehr kontrastreich zu ihrem früheren Aussehen– an Aschenputtel denken die Stiefschwester und die Stiefmutter „gar nicht“ (135). Aschenputtels übermäßige Ausstrahlung macht es legitim, dass der Königssohn sie an die Hand nimmt und nur mit ihr tanzt. Beachtenswert ist die Grimm’sche Überarbeitung an der Tanz-Episode, in der hervorgehoben wird, dass der Königssohn „mit sonst niemand tanzen“ möchte, „dass er ihm [Aschenputtel] die Hand nicht“ loslässt, „und wenn ein anderer“ kommt, „es aufzufordern, sprach er: ‚das ist meine Tänzerin.‘“ (135) Die Privatisierung der Partnerwahl beim Tanz, mit der Behauptung „meine Tänzerin“, ist weder in Perraults noch in Basiles Grimms erster Fassung für Aschenputtel (1812) erwähnt. Die Änderung erfolgt mit der zweiten Fassung (1819). Zu diesem Zeitpunkt liegt der Wiener Kongress (1815) nur wenige Jahre zurück. Eine Nachwirkung ist die Schwärmerei aller Schichten für den Walzer, bei dem eine private Auswahl des Tanzpartners gerechtfertigt ist und der Tanzstil von den geometrischen Schrittfiguren sowie der hierarchischen Reihung befreit wird.39 Es bleibt offen, ob die Brüder Grimm Befürworter des Pioniergeists des Walzers sind, indem sie den Königssohn an drei Tagen Aschenputtel als ausschließlich ihm zugehörige Tänzerin definieren lassen. Zumindest zeigen Grimms ihre „Offenheit für die innovative Lebensart, die hinter dem Modetanz“40 Walzer steht – bürgerliches Selbstbewusstsein, unbefangene Selbstständigkeit, Bewilligung der intimen körperlichen Kommunikation, Zuneigung zu Freiheit und Ekstase, Forderung einer Neugestaltung der Gesellschaftsstruktur.41 Es wird zwar in keiner Fassung erzählt, welche Tänze Aschenputtel mit dem Prinzen getanzt hat. Aber es würde gut passen, wenn in der ersten Fassung eher zum Menuett oder einem höfischen Tanz aufgespielt wird. Ein plausibles Argument lässt sich in der Tanz-Prozedur sehen: Nach der letzten Fassung (1757) lässt der Prinz die Hand Aschenputtels nicht los und lässt es nicht zu, wenn jemand anderes Aschenputtel auffordert. Dies wird beim Menuett nicht geschehen,

39 Vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, in 25 Bänden. Mit 100 signierten Sonderbeiträgen. Bd. 24. Hg. v. Otmar Emminger [u. a.] Mannheim 1979, S. 832. 40 Mazenauer, Beat und Severin Perrig: Wie Dornröschen seine Unschuld gewann. Archäologie der Märchen. München 1998, S. 247. 41 Vgl. Feustel, Elke: Rätselprinzessinnen und schlafende Schönheiten. Hildesheim [u. a.] 2004, S. 323.

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welches eine festgelegte Partnerwahl hat und lediglich Kontakte der Fingerspitzen erlaubt. Indem die Brüder Grimm die Aschenputtel-Version überarbeiten, gewinnt die Titelfigur im Verlauf der Arbeit mehr Selbstständigkeit. Die Introvertiertheit Aschenputtels, alias ein hilfloses Küchenmädchen in der ersten Fassung, verwandelt sich in der letzten Fassung zu einer wohlüberlegten und souveränen Handelnden. In der ersten Fassung des Aschenputtels haben die Brüder Grimm noch die Warnung der Patin aus Perraults Fassung übernommen: Statt der Patin übermitteln nun jedoch die Tauben Aschenputtel die Warnung: „Komm vor Mitternacht wieder“42, ansonsten verliert der Zauber seine Kraft. Die kalkulierte und begrenzte Zeit, in der der Zauber wirkt, erzeugt eine gewisse Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden.43 In der letzten Fassung des KHM hingegen wird die vorher begrenzte Zeit in eine unbeschränkte Zeitspanne umgeschrieben. Nun wird auch Aschenputtel mit ihrer außergewöhnlichen Handlungsfähigkeit hinzugefügt, mit der sie aus eigener Initiative den Baum um hochwertige Kleider bittet und dann von sich aus dem Ball früher entkommt, vermutlich, um die Neugier des Königssohns absichtlich zu provozieren. Da ihre Anwesenheit flüchtig wie der Tanz ist, bleibt ihre Identität rätselhaft. Darum verlangt es den Königssohn vehement danach, die Identität der fremden Königstochter zu erfahren, diese jedoch will sie verbergen.44 Gegenüber Aschenputtel wird ihr künftiger Bräutigam als vorurteilsfreier Adliger und späterer Herrscher dargestellt. Er muss bereits an den ersten beiden Tagen die Lebensumstände der Familie kennengelernt haben, wenn er Aschenputtel nach Hause folgt und sie entwischen lässt. Eine daraus resultierende Gefahr für das politische Gefüge seines Reiches und den gesellschaftlichen Konflikt durch eine nicht standesgemäße Ehe ist für ihn offenbar kein Bedenken wert– die freie Partnerwahl aufgrund eigener Vorliebe treibt hier Keime. Aschenputtels glänzender Auftritt auf dem Ball, den sie ihrem prachtvollen Kleid und den Schuhen verdankt, steigert sich jeden Tag. Die Steigerung symbolisiert die Verwandlungsstufen beim Aufstieg, mit denen sich Aschenputtel

42 Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Cologny-Genève 1975, S. 305. 43 Vgl. Lunin, Vincent: Kleid und Verkleidung. Bern 1954, S. 22. 44 In Grimms Märchen Rumpelstilzchen zu finden. Darin findet sich das Gegenteil davon: Rumpelstilzchen plaudert beim Freudentanz seinen Namen aus und verrät so seine Identität. Vgl. Betz, Otto: Wer nicht tanzt, weiß nicht, was sich begibt. In: Margarete Möckel (Hg.): Spiel, Tanz und Märchen. Regensburg 1995, S. 143–160, hier S. 151 f.

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immer mehr der Rolle der Braut nähert.45 Zugleich nimmt die Neugier des Königssohns zu. Da Aschenputtel am ersten und zweiten Abend rechtzeitig verschwindet, ist der Königssohn am dritten Abend beharrlicher, die Identität seiner Tänzerin zu erfahren. Er lässt die Treppe „mit Pech bestreichen“ (137), sodass Aschenputtels Schuh hängenbleibt. Dieser Tat, mit den Stichwörtern ,Treppe‘ und ,Pech‘ können mehrere symbolische Bedeutungen zugeschrieben werden. Die Treppe kann auf die Änderung des sozialen Status’ Aschenputtels hindeuten. Sie geht die Treppe hinauf zum Tanzen und erscheint als fremde Prinzessin; wenn sie die Treppe hinuntergeht, lässt sie zugleich den hochangesehenen Status als die einzige Auserwählte des Prinzen zurück und kehrt zur Küchenmagd zurück.46 Demgegenüber hat das Pech wörtlich zwei Bedeutungen – klebrige Masse und unglückliche Fügung. Gerade durch diesen schmutzigen, klebrigen Untergrund wird der Wert von Aschenputtels kostbarem Schuh hervorgehoben. Der Gegensatz zwischen „Glanz“ (Schuh) und „drückender Armuth“47 sowie Unglück (Pech) trifft auf Aschenputtels Lebenszustand zu. Der von Aschenputtel auf der Treppe hinterlassene Schuh ist die letzte Spur einer Zauberhilfe und zugleich auch das einzige Beweisstück, das auf sie verweisen kann. Obwohl der Schuh beim Gesamtbild der Tänzerin im Vergleich zum Kleid nicht auffallend ist, fungiert gerade er als der wichtigste zurückgelassene Gegenstand der schönen Tänzerin. Wie Hermann Bausinger anmerkte, steht das Kleid für den Schein, während der Schuh die eigene unverwechselbare Persönlichkeit kennzeichnet.48 Das entspricht der Grimm’schen Beschreibung für die Stiefschwestern, die „schön und weiß von Angesicht“ (134) sind, also schöne Kleider besitzen, aber „garstig und schwarz von Herzen“ (134)49 – so wird ihre Gier nach Reichtum mittels der Selbstzerstörung ‚ihrer schönen Füße‘ signalisiert.

45 Vgl. Betz, Otto: Wer nicht tanzt, weiß nicht, was sich begibt, S. 158. 46 Vgl. Huth, Otto: Das Sonnen-, Mond- und Sternenkleid. In: Margarete Möckel (Hg.): Spiel, Tanz und Märchen. Regensburg 1995, S. 151–160, hier S. 155. 47 Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Bd. 1. Teil 2. Zusätzliche Texte, Sagenkonkordanz. Stuttgart 2006, S. 455. 48 Vgl. Bausinger, Hermann: Aschenputtel. Zum Problem der Märchensymbolik. In: Wilhelm Laiblin und Verena Kast (Hg.): Märchenforschung und Tiefenpsychologie, 5. um ein Vorw. erw. Aufl. Darmstadt 1995, S. 284–298, hier S. 281. 49 Wilhelm Grimm verwendet in der Vorrede zu KHM 1812 den gleichen Kontrast zwischen weißer und schwarzer Farbe bei Tieren, um diese symbolisch zwischen Guten und Bösen zu trennen: „Die guten, Hilfe bringenden Geister sind fast immer weiße Vögel und werden sie genannt: die reinen, gallenlosen Tauben; die bösen aber und Unheil verkündenden sind schwarze Raben.“ Grimm, Wilhelm: Vorrede zum KHM 1812. In: Hans Gerd Rötzer (Hg.): Märchen. Bamberg 1982, S. 7–23, hier S. 12.

1.4 Der zierliche Fuß

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1.4 Der zierliche Fuß Fuß und Schuh werden häufig verbunden, vor allem wenn es um Bewegungen geht. Das Schuhmotiv in Grimms Märchen hängt nicht selten mit den Füßen, beziehungsweise mit Tanz zusammen, bei dem ja die Füße eine Hauptrolle spielen. Während Schuhe für äußere Bedingungen, aber auch für Einengung stehen können, können Füße beziehungsweise Tanz mit Hilfe der Füße den inneren Willen und die Freiheit der Person bedeuten. Anders als alle anderen Tanzrequisiten sind Schuhe zumeist unverzichtbar, allein schon deshalb, weil sie die Füße schützen. Schuh und Fuß stehen allerdings sowohl in abhängiger als auch in grenzüberschreitender und sogar zerstörerischer Beziehung. Der Tanz in Schuhen kennzeichnet eine gewisse Zivilisation. In Aschenputtel wird der Schuh, dort Pantoffel genannt, als Instrument zur Feststellung der Identität gebraucht. Viel häufiger kommt es in Grimm’schen Märchen jedoch vor, dass ein von Tanzwut und Veitstanz abgeleiteter Tanz stattfindet. In diesem Fall ist der Tanz kein Genuss, sondern eine Art von außen gesteuerter Qual. Das berühmteste Beispiel ist die Strafe der Stiefmutter in Schneewittchen – sie muss „in die rot glühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde“ (267) fällt.50 Den heißen Schuhen wird eine zerstörende Rolle zugeschrieben. In Grimms Die zertanzten Schuhe spielen die Schuhe eine Gefahr bringende Rolle des Jenseits. Aufgrund der Frequenz und Intensität des Tanzes mit den Prinzen aus dem dämonischen Reich entstehen „Löcher in den Sohlen“51, und dadurch verlieren die Schuhe ihre Schutzfunktion. Hier symbolisiert der Schuh eine Fremdkontrolle und -bestimmung – dasselbe Symbol verwendet der außerhalb der deutschen Dichtung stehende dänische Schriftsteller Andersen in seinem Kunstmärchen Die roten Schuhe. In Aschenputtel hat die Titelfigur auffallend zierliche Füße – der in die Hände des Königssohns gefallene Pantoffel ist „klein und zierlich und ganz golden“ (137). Der goldene Pantoffel ist signifikant für die Verbindung mit der goldenen Krone, die dem König gehört – ein Hinweis auf die künftige Zugehörigkeit Aschenputtels zum Königreich.52 Die durch die Schuhgröße zu erahnende Kind50 Otto Betz hat neben der Funktion des Tanzes als Strafe noch festgestellt, dass Musik auch die äußere Zwangsrolle spielt. Dabei erinnert er an das Märchen Grimms „Der Jude im Dorn“, in dem die Fiedel als Zauberinstrument den freien Willen verhindert. Vgl. Betz, Otto: Wer nicht tanzt, weiß nicht, was sich begibt. In: Margarete Möckel (Hg.): Spiel, Tanz und Märchen. Regensburg 1995, S. 155 f. 51 KHM, 208. 52 Die Brüder Grimm zitieren von Goethe: „pantoffel, goldene haft, alles zum putz der Venus gehörig“. Daraufhin erklären sie die Verbindung des Pantoffels zur goldenen Krone, „im sinne von kronleuchter aus gold“. In: „golden“. In: Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 8, Sp. 727.

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1 „Du hast keine Kleider und Schuhe, und willst tanzen!“

lichkeit und Zerbrechlichkeit, die das Motiv der Kindfrau symbolisiert, spielt auch auf das Frauenideal vor dem patriarchalischen Hintergrund an. Der heldenhafte Prinz rettet die schwache und zierliche Schönheit. Nun beginnt die Handlung mit einer weiteren Prüfung, nachdem die Frau mit Erfolg die Aufmerksamkeit des Helden gewonnen hat. Eine schwierige Aufgabe entfällt auf den Prinzen. Er soll die richtige Braut anhand des Schuhs herausfinden und identifizieren.53 Mit der Schuhprobe, welche auf den spezifischen Körperaufbau schließen lässt, sucht der Prinz nach seiner Tänzerin.54 An dieser Stelle könnten die Brüder Grimm auf den im Volk gängigen Brauch der Schuhanprobe bei der Verlobung zurückgegriffen haben. Die Schuhprobe geht auf eine altdeutsche Sitte beim Verlöbnis zurück, wie Jacob Grimm in Deutsche Rechtsalterthümer (1828) bewiesen hat: „Der bräutigam bring ihn der braut; sobald sie ihn an den fuß gelegt hat, wird sie als seiner gewählt unterworfen betrachtet.“55 Die Besitzergreifung von der Jungfrau durch den zukünftigen Bräutigam nach dem Schuhanziehen kennzeichnet den Rollenwechsel der Frau, vom Mädchen zur jemandem zugehörigen Gattin. Aschenputtel bekommt vom Königssohn Eigentum und Reichtum geschenkt, aber sie wird zugleich von ihm in Besitz genommen.56 Beim Anprobieren der Schuhe ist die Zehe der ersten Schwester zu lang, die Ferse der zweiten Schwester ist für den Schuh zu groß. Dabei ist an die Pathognomik zu denken, die sich im 18. Jahrhundert von der Physiognomik unterscheidet. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts wurde eine methodische Debatte geführt, um das Körper-Seelen-Verhältnis zu analysieren, nämlich über die Pathognomik oder Physiognomik. Anders als die von Lavater vertretende Physiognomik-

53 Wie Max Lüthi die Struktur des Märchens analytisch betrachtet, beginnt das Märchen mit einer Notlage als Ausgangspunkt, folgt dann aber häufig einem Zweier- und Dreierrhythmus. Die Helden werden nach dem ersten Erfolg mit einer neuen Herausforderung konfrontiert. Vgl. Lüthi, Max: Die Erschließung des Idealtyps. In: Hans Gerd Rötzer (Hg.): Märchen. Bamberg 1982, S. 45. 54 Vergleichbare Gegenstände, um auf das Körpermaß zu schließen, sind Armband, Handschuhe und Ring, anhand derer die Brüder Grimm das Thema „Prüfung der Königsbraut“ adressieren. Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe in Einzelbänden. Bd. 1, Teil 2. Zusätzliche Texte, Sagenkonkordanz. Stuttgart 2006, S. 272. 55 Jacob Grimm hat an Beispielen nachgewiesen, dass sich ursprünglich der Bräutigam selbst „entschuht“ und seine Schuhe der Braut anzieht, und später war es gebräuchlich, dass der Bräutigam neue Schuhe mitbrachte. Grimm, Jacob: Deutsche Rechtsalterthümer von Jacob Grimm. Göttingen 1828, S. 155. 56 Vgl. Feustel, Elke: Rätselprinzessinnen und schlafende Schönheiten. Hildesheim [u. a.] 2004, S. 326.

1.4 Der zierliche Fuß

143

Theorie nimmt Lichtenberg das Pathognomische als Ausgangspunkt, um darauf basierend über das Physiognomische zu diskutieren. Zur Pathognomik gehört nicht nur das Aussehen der Körperteile und des Gesichts, sondern auch Gangart, Kleidung und Benehmen.57 – Zur bekanntesten Reflexion darüber zählt Balzacs Gang-Theorie. Obwohl Lavater und Lichtenberg verschiedene Verfahrensweisen haben, sind sie sich jedoch einig, dass Tugend Schönheit schafft, während Laster Hässlichkeit verursacht.58 Im 19. Jahrhundert befassen sich Wissenschaftler und Schriftsteller intensiver mit Bewegungsmodellen, was etwa in Balzacs Theorie des Gehens (1833) und in seiner Anlehnung an Lavater in Die menschliche Komödie (1842) deutlich wird – Bewegung könne semiotisch analysiert werden.59 In Aschenputtel könnten die unausgeglichene Bewegung der beiden Stiefschwestern nach der Verstümmlung der Füße und die harmonische Bewegung Aschenputtels ebenfalls semiotisch betrachtet werden als Spiegel ihrer Seelenbilder. Was in Perraults und Basils Schuhprobe-Episode nicht vorkommt, ist die Grimm’sche zu pathologischen Problemen führende Selbstschädigung der Stiefschwestern bei der Schuhanprobe. Die Worte der Stiefmutter – „als Königin brauchst du nicht mehr zu gehen“ (137/138) – spiegeln die Gehkultur wider, die vor allem im 18. Jahrhundert weit verbreitet und mit der sozialen Zuschreibung verbunden ist.60 Wer in der sozialen Hierarchie nach oben gekommen ist, muss

57 Vgl. Mautner, Franz Heinrich: Lichtenberg. Geschichte seines Geistes. Berlin 1968, S. 182. 58 Vgl. Arburg, Hans-Georg: Kunst-Wissenschaft um 1800. Studien zu Georg Christoph Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren. Göttingen 1998, S. 102. 59 Zur Physiognomik des Gehens siehe Mayer, Andreas: Wissenschaft vom Gehen. Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2013. 60 Hier ist Karl Philipp Moritz’ Reisebericht aus seiner Englandreise 1782 zu zitieren – Wer „eine weite Reise zu Fuße täte, würde für einen Bettler oder Spitzbuben gehalten“. Zitat aus: Moritz, Karl Philipp: Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782. In: Werke in zwei Bänden. Bd. 2. Frankfurt am Main 1997, S. 340. Zu der gleichen Zeit findet eine Gegenbewegung statt, in der Rousseau als Wortführer und Vertreter galt, von der die ästhetischen Naturerlebnisse durch Gehen und Wandern angepriesen wurden. (Siehe Rousseaus Formulierung in Bekenntnisse: „Nie habe ich so viel gedacht, nie bin ich mir meines Daseins, meines Lebens so bewusst, nie, wenn ich so sagen darf, so ganz Ich gewesen, wie auf denen, die ich allein und zu Fuß gemacht habe. Im Gange liegt etwas, das meine Gedanken weckt und belebt; Verharre ich auf der Stelle, so bin ich fast nicht im Stande zu denken. Mein Körper muss in Bewegung sein, damit mein Geist in ihn hineintritt.“ Rousseaus Plädoyer für die körperliche Bewegung, um den Geist in Bewegung zu bringen, beeinflusst die Dichtung der Klassik und Romantik, sodass das Wander-Motiv eine positive Rezeption zur Folge hat. Zum Thema ‚Gehen und Fahren‘ des 18. und 19. Jahrhunderts sind zum Beispiel zwei einschlägige Werke der Literatur zu nennen. Mayer, Andreas: Wissenschaft vom Gehen. Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2013, S. 17–49.

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1 „Du hast keine Kleider und Schuhe, und willst tanzen!“

oder kann nicht mehr gehen.61 Die Stiefschwestern versuchen, innerhalb der passiven weiblichen Schranken das mögliche Glück anzuvisieren, indem sie ihre Füße verstümmeln, um in den Schuh hineinzupassen. Mit dem Gedanken, ihre Füße zu ‚verkleinern‘, die Zehe oder die Ferse abzuhacken, ruinieren die Stiefschwestern zugleich ihre Fähigkeit zu tanzen. Gerade Zehen und Ferse haben ja bei der tänzerischen Bewegung gegenüber der Schwerkraft eine polare und zugleich sich ergänzende Funktion. Zehen sind beweglich, erlauben es dem Menschen, sich nach oben zu schwingen, zu balancieren, sich in schneller Geschwindigkeit zu drehen, oder die Schritte mit Leichtigkeit zu wechseln. Hingegen ist die Ferse fest und stabil, hilft dem Menschen, die Erdung wiederzufinden und im Rhythmus zu stampfen. Beide Fußteile tragen gemeinsam zur wechselhaften, rhythmischen, dynamischen und harmonischen Bewegung bei, in der das Körpergewicht sich steigend und fallend verändert.62 Sodann erfolgt für Aschenputtel und ihre beiden Stiefschwestern ein Rollentausch in der häuslichen Hierarchie. Auf ihrer Hochzeit wird Aschenputtel nicht von ihrem Mann, dem Königssohn, sondern von ihren Stiefschwestern zur Kirche geführt. Die Stiefschwestern haben sich ihre Füße bereits selbst verstümmelt, sodass sie neben Aschenputtel herhinken müssen. Außerdem werden ihnen beim Kirchgang von den Tauben zur Strafe die Augen ausgepickt. Die so verkrüppelten Schwestern bilden nun einen Kontrast zu der ehemaligen Küchenmagd Aschenputtel, die in voller Schönheit strahlt.63 Im Gegensatz zu ihren Stiefschwestern ziert Aschenputtel ein schmaler und kleiner Fuß, dessen

Wehap, Wolfgang: Gehkultur. Mobilität und Fortschritt seit der Industrialisierung aus fußläufiger Sicht. Frankfurt am Main 1997, S. 221–248. 61 Vgl. Wehap, Wolfgang: Gehkultur. Mobilität und Fortschritt seit der Industrialisierung aus fußläufiger Sicht. Frankfurt am Main 1997, S. 35. 62 Vgl. Schmucker, Angelika: Aschenputtel. Aus anthropologischer Sicht. In: Märchenspiegel. Zeitschrift für internationale Märchenforschung und Märchenpflege, 22 (2011), S. 10–14, hier S. 13. 63 Auf den erzieherischen Zweck durch die Brüder Grimm beim Verfassen des Märchens macht Bernd Dolle aufmerksam. In der Vorrede in KHM (1812) heißt es dort, „in diesen Eigenschaften aber ist es gegründet, wenn sich so leicht aus diesen Märchen eine gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwarte ergiebt.“ Es erklärt sich aus diesem Grund, dass der Märcheninhalt bis 1857 gezielter pädagogisch überarbeitet wird. In der ersten gedruckten Fassung Aschenputtel (1812) werden die Stiefschwestern nicht bestraft. Wie Wilhelm Grimm andeutet: „Eben so furchtbar auch die Strafe.“ In: Grimm, Wilhelm: Vorrede zum KHM 1812. In: Hans Gerd Rötzer (Hg.): Märchen. Bamberg 1982, S. 7–23, hier S. 18. Vgl. Dolle, Bernd: Märchen und Erziehung. Versuch einer historischen Skizze zur didaktischen Verwendung Grimm’scher Märchen (am Beispiel Aschenputtel). In: Helmut Brackert (Hg.): Und wenn sie nicht gestorben sind. Perspektiven auf das Märchen. Frankfurt am Main 1990, S. 165–192.

1.4 Der zierliche Fuß

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Zehen und Ferse auf wohltemperierte Weise ausgebildet sind. Solch ein zierlicher Fuß entspricht dem Schönheitsideal als Zeichen für Grazie und gar Zerbrechlichkeit.64 Aschenputtels Reiz für den Prinzen entsteht nicht nur aus den Ball-Abenden, sondern auch durch ihren kleinen Schuh, den kleinen Fuß. Dass der kleine Fuß für Zierlichkeit und Weiblichkeit steht, ist keine Erfindung der Brüder Grimm. Bereits in Charles Perraults Fassung Aschenputtel oder das gläserne Pantöffelchen (1697) ist der Prinz in großer Liebe entbrannt „zu der schönen Dame“65, „der das kleine Pantöffelchen“ gehört.66 Dasselbe Motiv übernimmt dann Christoph Martin Wieland, als er französische Märchen parodiert und Die Geschichte des Prinzen Biribinker (1764) verfasst. Dort verliebt sich der Prinz Biribinker in das Milchmädchen und darauf gleich noch in mehrere Feen nacheinander. Zum Schluss gilt seine angeblich „ewige und unbegrenzte“67 Begeisterung einer „schönen Unsichtbaren“68, nämlich der Sylphide Salamandrin. Allerdings ist für den Prinz Biribinker alles an ihr unsichtbar, mit Ausnahme eines ihrer Füße. Sie hat den „artigsten kleinen Fuß, der je gewesen ist“69. Der schöne Fuß regt Biribinker an, ihn anzufassen und die damit verbundenen anderen Körperteile zu bewundern. Der kleine, zierliche Fuß ist Kennzeichen für Grazie und 64 Die Zierlichkeit des Fußes als Schönheitsideal findet sich ebenfalls in der chinesischen Geschichte. Da eine Hofdame des 10. Jahrhunderts durch ihre natürlichen Füße besondere Zuneigung vom Kaiser bekam, ahmten die anderen Frauen deren Größe der Füße auf weit verbreitete und brutale Weise nach. Daraus entstand die Tradition des Lotosfußes, die bis Anfang des 20. Jahrhundert gebräuchlich war. Die Mädchen bekamen vor ihrer Pubertät eine schmerzhafte Behandlung durch ihre Mütter, indem die kindlichen Füße mit Bändern gebunden wurden, um ihr weiteres Wachstum zu verhindern. Oft wurden die Zehen unter die Fußsohle gebunden, womit es den Frauen lebenslang nicht mehr möglich war, schnell zu laufen oder schmerzfrei zu gehen. Diese Tradition hatte im 18. und 19. Jahrhundert außer der Wirkung, zierlich zu sein, noch eine weitere Konnotation. Die gefesselten Füße der Frauen bedeuteten für Männer Tugend, weil die Frauen sie nicht einfach verlassen konnten. Der besondere Gang und die Hilflosigkeit, bedingt durch die Prozedur, bewirkten Empathie durch die Männer. Die Schuhprobe auf der Hochzeit, die ebenfalls auf die Tradition zurückgreift, die Mädchenfüße einzubinden, ist bis heute zum Teil in China noch gebräuchlich. Vor dem 20. Jahrhundert durfte die zukünftige Braut nicht aus dem Haus gehen, um den Bräutigam kennenzulernen. Die Verlobung fand statt, sobald der zukünftige Bräutigam mit der Schuhgröße der Braut einverstanden war. Bei der Hochzeit heute nimmt der Bräutigam die Schuhe der Größe entsprechend mit und zieht sie der Braut an, um zu testen, ob sie die richtige Braut ist. 65 Perrault, Charles: Die Feenmärchen. Nacherzählt von Moritz Hartmann. Darmstadt 2012, S. 87. 66 Perrault, Charles: Die Feenmärchen, S. 87. 67 Wieland, Martin: Geschichte des Prinzen Biribinker. Berlin 1959, S. 151. 68 Wieland, Martin: Geschichte des Prinzen Biribinker, S. 143. 69 Wieland, Martin: Geschichte des Prinzen Biribinker, S. 142.

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1 „Du hast keine Kleider und Schuhe, und willst tanzen!“

erotischen Reiz. Er weckt Begierde, Neugier, wie es in Abb. 11 zu Prinz Biribinker angedeutet wird.

Abb. 11: Bernhard, Nast: Illustration zu Wielands „Die Geschichte des Prinzen Biribinker“. In: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Prinzen Biribinker. Berlin 1959, S. 143.

Nicht nur im Märchen, auch in der Realität des 18. und 19. Jahrhunderts wird Zierlichkeit mit einer idealen Weiblichkeit gleichgesetzt. Für den Adel präsentiert das Zierliche weibliche Schwachheit und Hilflosigkeit, die Liebe und Mitleid von Männern leicht erwecken, auch den Status des Nicht-arbeiten-Müssens. Solcher Zwang zur Zierlichkeit findet zum Beispiel Bestätigung in einem Bericht, in dem die Fürstin von Hohenlohe-Bartenstein von einer Finger-Formung erzählt: [...] ich habe nicht nur immer Handschuhe getragen, sondern mußte auch beim Schlafen ein Mieder anlegen, um mir die schlanke Taille zu erhalten, und bekam auf jeden Finger einen silbernen Fingerhut, damit meine Hand durch schmale Fingerspitzen verschönert wurde.70

Diese Art Schönheit wurde lediglich durch gefühlloses Zurechtbiegen und gewaltsame Zucht erreicht. Im Märchen ist Schönheit allerdings anders bedingt – wer arbeitet und wer Tugend besitzt, dem wird Schönheit geschenkt. Gemeinsam ist Märchen und Realität, dass weibliche Figuren nach einer reizvollen, schönen Ausstrahlung streben, um auf dem Heiratsmarkt mehr wert zu sein, was bis heute noch teilweise zutrifft.

70 Fugger, Fürstin Nora: Im Glanz der Kaiserzeit. Wien 1989, S. 54.

1.5 Fazit

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1.5 Fazit Das bis heute zu einem der weltbekanntesten Märchen gehörende Aschenputtel bringt die Gedanken zum Ausdruck, dass Tugenden wie Gutherzigkeit, Fleiß und Liebe sozialen Aufstieg, aber auch Lebensglück ermöglichen. Dies zählte bei den Brüdern Grimm auch als Ziel der Pädagogik, war allerdings nicht direkter Anlass für Aschenputtels Eheglück. Der nach außen wirkende Auftritt einer Frau wird hier stark betont. Die Rolle der Frau ist es, optisches Objekt zu sein. Aschenputtels sozialer Status durchläuft vier Phasen, was sich im Wechsel ihrer Kleider und Schuhe zeigt, aber nicht in der Veränderung ihres Charakters. 1) Durch den Verlust ihre Kleider wird Aschenputtel zur Dienerin herabgewürdigt. 2) Durch die herbeigezauberten Kleider und Schuhe wird Aschenputtels Teilnahme am Ball ermöglicht. Zusätzlich erwirbt sie sich dadurch die Zuneigung des Königssohns. 3) Durch den Verlust eines Schuhs auf der Treppe kehrt sich ihre Rolle wieder um. Nun wartet sie auf die Rettung durch den Königssohn, der die verleugnete Tochter als seine Tänzerin wiedererkennt. 4) Durch den wiedererlangten goldenen Schuh wird sie als die richtige Braut im Königreich legitimiert. Die beiden unverzichtbaren Ballrequisiten werden symbolisiert durch die weibliche äußere Anmut (Kleid) und die innere Tugend (Schuh), die damals für den weiblichen kollektiven Wert fundamental sind. Die Verbindung der beiden Seiten von Schönheit macht den Aufstieg zur höheren Hierarchie möglich. Die Auswahl des Tanzpartners beruht auf Aschenputtels strahlender Ausstattung, aber die Auswahl der Braut beruht auf ihren Füßen – ihrer ehrlichen Art, ihrer Frömmigkeit und ihrem gutem Herzen, worauf die Brüder Grimm abzielen. Zweifelhaft ist jedoch, inwiefern ein Maßstab für äußere Schönheit und innere Tugend vorgeschrieben wird und inwiefern die individuellen Züge zur Zeit der Grimms erlaubt sind. Beim Vergleich verschiedener Aschenputtel-Fassungen, die von Grimms redigiert wurden, kommt eine positive Zeitdiagnose für einen impliziten Individualismus zum Ausdruck. Die letzte Fassung von Aschenputtel zeigt gewisse Spuren vom selbstbestimmten Handeln: Aschenputtel kalkuliert selbst die Zeit und verlässt den Ball rechtzeitig. Demgegenüber zeigt der Prinz Mut in der Liebesbeziehung, Aschenputtel als ,seine Tänzerin‘ zu bezeichnen, ohne ihre Identität zu erfahren. Die Tendenz zu weiblicher Selbstbestimmung und zu individualisierter Liebe beginnt sich hier zu entfalten, auch unter dem Aspekt gesehen, dass dieses Märchen angeblich aus dem ,einfachen Volk‘ stammt.

2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“. Neubewertung des Tanzes in Achim von Arnims Hollin’s Liebeleben (1801) Nachdem Achim von Arnim 1801 sein siebensemestriges Chemie- und Physikstudium in Halle und Göttingen abgeschlossen hat, geht er seinem Interesse für die Wissenschaft und seiner Leidenschaft für Literatur nach. Dies bestätigt Arnim ein Jahr später selbst: „Ich hatte wohl tausendmal mit der Poesie Buhlschaft getrieben“1. Noch als Student schreibt er seinen Erstlingsroman Hollin’s Liebeleben. Die Leidenschaft für die Poesie zugleich, das Interesse an der Naturwissenschaft, lässt Arnim an der Titelfigur Hollin gut erkennen. Als sein Roman 1802 in Druck geht, unternimmt Arnim eine Bildungsreise quer durch Europa.2 Die Theatererlebnisse, die er auf dieser Reise gewinnt, und auch die Gespräche mit Schriftstellern wie Ludwig Tieck, Friedrich Schlegel und dem Komponisten Johann Friedrich Reichardt bewegen ihn dazu, sich neben der Beschäftigung mit der Literatur zugleich allgemein den Künsten zuzuwenden und ästhetische Fragen zu vertiefen. So schreibt er während der Reise an seinen Freund Clemens Brentano: Es ist mir jezt ernster geworden mit der Poesie, ich habe ihren Syrenenklang gehört, aus ihrem Becher getrunken den süssen Lethe, ich tanze nun unaufhaltsam wie es das unendlige Schicksal will, gut oder schlecht, meinen Reihen herunter.3

Arnim stellt sich seinen Lebensweg metaphorisch als Reigentanz vor, der von Abwechslung, Dynamik und Ungewissheit, aber auch von Dauerhaftigkeit ge-

1 Arnim, Ludwig Achim von: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe (Weimarer Arnim-Ausgabe). Bd. 30. Briefwechsel 1788–1801. Hg. v. Heinz Härtl. Tübingen 2000, S. 181. (Nr. 172. Arnims Brief an Stephan August Winkelmann in Göttingen vom 17.04.1802). 2 Ingrid Oesterle hat sich in ihrem Artikel „Arnim und Paris“ am Anfang im Kontext der Arnim’schen Erlebnisse intensiv mit den beiden Begriffen „Bildungsreise“und „Kavaliertour“ auseinandergesetzt. Oesterle, Ingrid: Achim von Arnim und Paris. Zum Typus seiner Reise, Briefe und Theaterberichterstattung. In: Heinz Härtl und Hartwig Schulz (Hg.): „Die Erfahrung anderer Länder“. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Berlin [u. a.] 1994, S. 39–62, hier S. 39–41. 3 Arnim, Ludwig Achim von: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe (Weimarer Arnim-Ausgabe). Bd. 31. Briefwechsel 1802–1804. Tübingen 2004, S. 44. (Nr. 299. Arnims Brief an Clemens Brentano in Marburg vom 17.04.1802). https://doi.org/10.1515/9783110759815-009

2.1 Tanz im ,Naturraum‘

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prägt ist. Er tendiert zu einem dionysischen Dichter, der ‚nun unaufhaltsam‘ seinem Lebensreihen folgt.4 Tanz nimmt in Arnims Werken einen wichtigen Raum ein. In Hollin’s Liebeleben (1801) stellt er Tanz als Vereinigung mit der Natur dar. In Ariel’s Offenbarung (1804) legt Arnim die Titelfigur Ariel als Tänzer an, in kursiv Kronenwächter (1817) weist er auf den bacchantischen Charakter einiger Tänze hin. Seine theoretischen Schriften Erzählungen von Schauspielen (1803) und Von Volksliedern (1805) tragen zum Verständnis der Tanzkunst um 1800 bei, vor allem deren Position unter den Kunstformen. Seine Tanz-Erkenntnisse und -Auffassungen variieren von Werk zu Werk, und es ist auffällig, wie unterschiedlich Arnim Tanz auffasst und einschätzt. Um die verschiedenen Auffassungen in Arnims Tanz-Dichtungen herauszuarbeiten, werden im Folgenden die Tanz-Abschnitte in seinem Roman Hollin’s Liebeleben mitsamt den Erzählungen von Schauspielen und Owen Tudor unter die Lupe genommen, und zwar mit drei Schwerpunkten: Wie positioniert Arnim seine Tanz-Deutung jeweils in drei Werken? 2) Wie setzt er sich mit dem Verhältnis des Tanzes zu anderen Künsten auseinander? 3) In welchem Verhältnis steht Arnims Tanzauffassung zu den Positionen anderer Theoretiker, deren Tanz-Einstellungen in den Vorüberlegungen erwähnt wurden, Noverre, Sulzer und A. W. Schlegel?

2.1 Tanz im ,Naturraum‘ Arnim lässt, wenn auch unfreiwillig, in Hollin’s Liebeleben einiges von Goethes Werther nachklingen.5 Die Handlung entfaltet sich in einem Werther ähnlichen Konflikt – die persönliche Liebesbeziehung vermag sich nicht von den gesellschaftlichen Normen zu lösen. Sogar Arnim selbst erkennt, dass er Goethe nachahmt, bis hin zur Gestaltung der Handlung: „Der verdammte Werther und meine falsche Verehrung der Göthischen Formen hat mich damals verführt, das Beste aus dem Hollin wegzuschneiden.“6 Ähnlich wie im Werther verliebt sich die Titelfigur Hollin in Maria, die sich gerade im Prozess des Erwachsenwerdens

4 Vgl. Vordtriede, Werner: Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und Werk. Berlin 1971, S. 273. 5 Vgl. Vordtriede, Werner: Deutsche Dichter der Romantik, S. 39. 6 Arnim, Ludwig Achim von: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe (Weimarer Arnim-Ausgabe). Bd. 31. Briefwechsel 1802–1804. Tübingen 2004, S. 138. (Nr. 267, Arnims Brief an August Stephan Winkelmann in Göttingen vom 08.11.1802).

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2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“

befindet und bereits ,versprochen‘ wurde.7 Als Hollin scheitert, begeht er Suizid. Sein Freitod versursacht indirekt auch den Tod seiner Geliebten und des ungeborenen Kindes. Die beiden Liebenden werden kurz vor Hollins Tod vermählt, und zwar entgegen der ‚bürgerlichen Gesetze‘8, und danach von dem gemeinsamen Freund außerhalb des Kirchhofs begraben. Die individualisierte Jugendliebe, die sich an der Freiheit orientiert, scheitert am Ende doch an der religiösen und gesellschaftlichen Konvention. Diese Liebe kann nur außerhalb der Gesellschaft und deren Normen verwirklicht werden.9 Eine weitere Ähnlichkeit zum Werther besteht darin, dass die Tanz-Aktivität ausschlaggebend für die Entstehung und die Entwicklung der Liebesbeziehung zwischen der Titelfigur Hollin und dessen Geliebter Maria ist. Hollin ,walzt‘ mit Maria, was an Werthers Tanz mit Lotte bei Goethe erinnert.10 Allerdings versetzt Arnim den Tanz vom ,Ball auf dem Land‘ bei Goethe ganz in die freie Natur. Der von Hollin erlebte Tanz manifestiert seine Naturverbundenheit, Selbstständigkeit und seine Verbindung zur Gefühlswelt. Er steht im Kontrast zu einem seiner früheren Tanzerlebnisse, in dem die Abhängigkeit des Tanzes von der Musik und in dem der Präsentationszweck erkennbar waren. Damit teilt Arnim den Tanz zwei Räumen zu, dem Raum der Naturfreiheit und dem Raum der gesellschaftlichen Schranken. Die Verteilung auf zwei Räume, die im Tanz spürbar gemacht wird, findet im Roman mehrere Parallelen. Der Raum der Naturfreiheit steht für seinen

7 Vgl. Andermatt, Michael: Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk. Bern [u. a.] 1996, S. 164. 8 Arnim, Achim von: Werke in sechs Bänden. Bd. 1. Hollin’s Liebeleben, Gräfin Dolores. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1989, S. 88. Alle Zitate aus der gleichen Quelle aus Hollin’s Liebeleben werden in Klammern mit „Hollin“ in Kursiv und Seitenzahl angegeben. 9 Vgl. Reinhardt-Becker, Elke: Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit. Frankfurt am Main [u. a.] 2005, S. 167, 174. 10 Während Goethe als einer der ersten Dichter den Walzertanz in der Dichtung festgehalten hat, ist das Walzermotiv zum Zeitpunkt um 1800 im bürgerlichen Leben nichts Neues mehr. In Darmstadt wird bereits 1773 vom Walzer berichtet, noch ein Jahr vor der Verbreitung der Walzer-Beschreibung durch Goethes Werther (1774). Nach Goethes Werther gewinnt der Walzer oder „der Deutsche“ einen festen Platz als gängiger Tanz in der Dichtung, etwa in Schillers Wallenstein (1799) (Achter Auftritt „Bergknappen treten auf und spielen einen Walzer, erst langsam und dann immer geschwinder.“) (NA 8, 29) und Jean Pauls Titan (1800) (Endlich schwenkte sich [...] die rosabackige Physikussin in die Stube [...] mit einer scheckigen HalsSchürze – in einem roten Ballkleide, dem die Walzer die Farbe ausgezogen, die sie ihr aufgelegt – und mit einem durchbrochnen Putzfächer.“) (Paul, Jean: Jean Pauls sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. 1. Abteilung. Bd. 8. Hg. v. Eduard Berend. Weimar 1933, S. 146). Vgl. Eichberg, Henning: Leistung, Spannung, Geschwindigkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./19. Jahrhunderts. Stuttgart 1978, S. 120.

2.1 Tanz im ,Naturraum‘

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freien Willen, für seine Gefühlswelt. Arnim macht hier spürbar, wie sich die Gefühlswelt von derjenigen im Sturm und Drang unterscheidet und in eine romantische Weltsicht vordringt. So wird zu Beginn des Romans gesagt, dass die Ferne mehr reizt als die Gegenwart: „Schmerz und Freude, Sehnsucht und Hoffnung bezwingt, wie ein gewaltiger Tanz, die schöne Wirklichkeit des Lebens.“ (Hollin, 12) Der Raum des gesellschaftlichen Kodex’ hingegen wird durch Konvention und Vernunft gekennzeichnet. Während Hollin in der Natur sein Glück findet, leidet er unter der gesellschaftlichen Ordnung der Stadt. Mit der Figur Hollin gibt Arnim somit einen Impuls, um zwischen persönlichem Wunsch und gesellschaftlicher Erwartung abzuwägen.11 Der Auftakt für die Tanzszene ist zufällig und spontan. Als Hollin sich heimlich in Maria verliebt und erkennt, dass er kaum Chancen hat, möchte er sich zurückziehen, indem er allein zu einer Harzreise aufbricht. Die Reise verschafft Hollin allerdings keine Befreiung – im Gegenteil, als er im Harz zufällig Maria mit ihrer Familie trifft, vertieft sich seine Zuneigung noch. Marias Grazie blüht in der Natur umso mehr auf. Als Maria auf dem Brocken Tee kocht, entwickelt sie bei der „einfachen Handlung des täglichen Lebens unzählbare reizende Bewegungen und Stellungen“ (Hollin, 35), die Hollin „nie gesehen, nie geahndet“

11 Eine ähnliche Raumverteilung liegt in der Abwägung zwischen Dichtung und Naturforschung vor. Arnims Entwurf für Hollins Geschichte besteht aus Briefen, kurzen Schilderungen im Erzählstil. Hollins Hang zur Natur, zum Kosmos und zur Freiheit zeichnet sich im Kern der Dichtung ab. Solche Charaktere basieren auf einem biographischen Gerüst eines von Arnim verehrten Naturforschers, Horace Benedikt, dessen Biographie Arnim am Ende des Romans anfügt. Der Schweizer Naturwissenschaftler Horace Benedikt von Saussure gilt nicht nur als Vorbild für die zeitgenössischen Wissenschaftler, sondern sein Leben hat auch einen ähnlichen Ausgangspunkt wie Hollins, nimmt aber ein anderes Ende. Sowohl Hollin als auch Saussure werden zuerst von dem Vater der Geliebten abgewiesen. Während Hollin sich für den Studienabbruch und den Selbstmord entscheidet, wählt Saussure den Weg zu weiterer Forschung und zum Abwarten. Hollin und Maria vereinigen sich erst im Tod, wohingegen sich Saussure nach zweijährigem Abwarten schließlich doch mit seiner Geliebten vermählen kann. Darüber hinaus weichen die fachlichen Interessen der beiden voneinander ab. Hollins Zuwendung zu den Künsten ist deutlich zu erkennen: „da traten Philosophie und Poesie herbei, und Wissenschaft und Leben war verschwunden ... “ (Hollin, 15) Hingegen ist Saussure ein namhafter Meteorologe, der sein Leben der naturwissenschaftlichen Forschung gewidmet hat. Die poetologische Konzeption (auf der Seite Hollins) und die epistemologische Fragestellung (auf der Seite Saussures) stehen im konkurrierenden Verhältnis zueinander. Vgl. Specht, Benjamin: Fiktionen von der Einheit des Wissens. Achim von Arnims Meteorologie-Projekt und „Hollin’s Liebeleben“ (1802) im Kontext der frühromantischen „Enzyklopädistik“. In: KulturPoetik. Journal for cultural poetics, 9 (2009), S. 23–44, hier S. 13.

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2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“

(Hollin, 35) hat. Der Schauplatz dabei, der Berg Brocken, symbolisiert durch seine Höhe und seine Nähe zur Sonne Hollins Anbetung von Maria.12 Gleich danach wechselt der Schauplatz zu einem Kontrast, indem Hollin und Maria sich in die Bielshöhle begeben, wo nur wenig natürliches Licht herrscht. Dort, in der Dunkelheit und der geborgenen Atmosphäre, bewundern die beiden die Natur, wobei sie unterschiedliche Ansichten haben. Hollin sieht seine Vorstellung von christlichen Symbolen in den Formen der Tropfsteine bestätigt und betrachtet die Steine als Zeichen „der toten Natur“ (Hollin, 44). Deshalb versucht Maria, ihm von der Altensteiner Höhle zu erzählen, und um ihn zu überzeugen, schildert sie die Tropfsteine als Beispiel einer „dauernden Naturwirkung“ (Hollin, 44). Die lebhafte Schilderung Marias hat eine synästhetische Wirkung. Beim Zuhören hat Hollin die Illusion, die akustische Wirkung des Wasserstroms wahrzunehmen und die Vielfalt des Lichtspiels durch einen „bunten Lampenschimmer“ (Hollin, 44) zu sehen. Die Erzählung Marias wird ihm dadurch visuell erlebbar: „ich sah das alles, wie sie [Maria] es erzählte“ (Hollin, 44). Die Synästhesie löst motorische Impulse aus, indem Hollin Maria hier spontan zum Tanzen bringt: Alles berauscht mich, ich ergriff sie, wir walzten unwillkürlich in dem dunkeln Gewölbe und wie sie zwischen meinen Händen wogte und mein Fuß verächtlich die niedre Erde von sich stieß, wie harmlos war mir, wie leicht in der drückenden Tiefe, wie licht in dem Dunkel: – Es soll nie nach der Musik getanzt werden. (44)

Ohne Intension, ohne Ritual, ohne Requisite, ohne Musik wird hier getanzt. Man tanzt aus Bewegungslust, nicht der Musik oder des Anlasses wegen. Arnim benutzt vier kurze Sätze, um dadurch eine rhythmische Wirkung des Tanzes hervorzuheben. Alle beginnen mit „wie“. Wie die anderen drei, beginnt auch der erste mit „wie“ und leitet die Interaktion zwischen dem Paar ein. Maria ,wiegt‘ sich – wie die Bewegung der Welle – zwischen seinen Händen. Sein Glücksgefühl, die Geliebte im Arm zu haben und mit ihr zusammen zu tanzen, macht Hollin „wie harmlos“. Der Tanz schafft ihm eine ätherische Atmosphäre und in der Folge Illusionen, als verschwände die Schwerkraft. Die Tiefe der

12 Vgl. Ulfert Ricklefs, der auf mehrere Schauplätze auf Hollins Harzreise und deren Bedeutung verweist. Beispielsweise kennzeichnet Goslar das poetische Mittelalter mit Ritterwesen, der Brocken steht für Höhe, Sonne und Schöpfung, während die Bielshöhle Tiefe, Nacht und das Organ der Lebenskraft symbolisiert. Der Höhepunkt der Liebeshandlung hat seinen Schauplatz im Tal der Roßtrappe, der als paradiesischer Ort für die Vereinigung und das Lebenszentrum steht. Die Walpurgisnacht in der Waldhütte deutet auf die ewige Glut der höheren Phantasie hin. Ricklefs, Ulfert: Kunstthematik und Diskurskritik. Das poetische Werk des jungen Arnim und die eschatologische Wirklichkeit der „Kronenwächter“. Tübingen 1990, S. 14.

2.2 Plädoyer für die Autonomie des Tanzes

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Höhle wirkt nicht bedrohlich, sondern ist „wie leicht“, „wie licht im Dunkel“. Aus Dunkelheit wird Helle, die Nacht wird zum Tag. Der Tanz verwandelt die ‚tote Natur‘ in etwas Lebendiges. Hollins Empfindungen werden ins Überirdische gehoben, obwohl er sich noch im unterirdischen Raum befindet. Sein Gefühl beim Tanzen mit Maria ist ein derartig hohes Glück, dass kein sonstiges Erdenglück damit zu vergleichen ist.

2.2 Plädoyer für die Autonomie des Tanzes Hollins Tanz mit Maria ist betörend, ähnlich dem Tanz in Goethes Werther, aber anders als Goethe lässt Arnim seinen Hollin zugleich über den Tanz reflektieren. Hollin empfindet zum Schluss des Tanzes, „wie licht in dem Dunkel“, als ob die Höhle in Helle erstrahlt – dies bezieht sich auf eine psychische Glücksempfindung, zugleich auf einen geistigen Zustand, der von neuen Gedanken erhellt wird. Nun folgt ein Gedankenstrich und das Resultat aus Hollins Reflexion über seinen Tanz: „– Es sollte nie nach der Musik getanzt werden“ (Hollin, 45), sondern „nach der inneren Freudigkeit“ (Hollin, 45). Die Befreiung des Tanzes von der Musik stellt den Tanz nun als eigenständige Körperkunst dar, die die ,innere Freudigkeit‘ nach außen zu bringen vermag. Der Tanz in der Höhle veranlasst Hollin, seine früheren Tanzerlebnisse, in denen der Tanz weder von der Musik noch vom Präsentationszwang befreit war, neu zu reflektieren und den Zweck des Tanzes neu zu definieren. Dazu plädiert Hollin gegen alle Tänze, die nur der Anstrengung oder der Musik wegen ausgeführt werden: „mehr nützt doch nicht die Dienstbarkeit der Musik, die tausendfach wiedertönende Melodie“ (Hollin, 45). Wenn die Tanzenden sich der Musik unterwerfen, anstatt auf ihre eigene Empfindung zu hören, kann dies dazu führen, dass sie die ursprüngliche Bedeutung der Tanzkunst – Tanz aus innerem Bedürfnis – vernachlässigen. Steuert die Musik die Körperbewegung, sind die Menschen gezwungen, solange zu tanzen, bis sie „den perlenden Schweiß“ (Hollin, 45) und „das schlagende Herzblut“(Hollin, 45) auspressen. In einem solchem Fall ähnelt die Musik einem Zwang von außen, der nicht auf die körperlichen Zustände hört, sondern den Körper zum Sklaven der Melodie macht. Hetzt die Musik die Tanzbewegung, so Hollin, dann beschäftigt man sich mit körperlicher Anstrengung und verpasst dabei „alles Schöne des Mädchens, allen Reiz der Bewegung“ (Hollin, 45). Hollins Kritik am Tanzen wegen dessen sportlicher Wirkung wird schärfer und konkreter, als er sich auf einen Ball bei seinem Vetter besinnt. Der Vetter fordert alle Gäste auf, zu tanzen, mit dem Gedanken, dass ein Ball zur körperlichen Erschöpfung führen soll: „denkt ihr denn, daß ihr hier seid, euch zu amüsieren?“ (Hollin, 45) Daraufhin begründet der Vetter seine Aufforderung – es sei erst erfüllend, wenn

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2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“

der Tanz sich „in schwerfällige Arbeit“ (Hollin, 45) wandele. Auf diesen vergangenen Ball zurückblickend, wird Hollin „gallsüchtig“ (Hollin, 45), um diese Art ,ermordende Freude‘ (Hollin, 45) zu ertragen. Hier unterstellt Arnim durch Hollin, die Tanzkunst sei entweder lediglich eine den Menschen entgegenkommende Reaktion auf die Musik oder sei zur Sportart instrumentalisiert. Dann wäre die Tanzkunst eine von fremden Elementen bestimmte Kunst, keine selbstständige.13 Hollins Auffassung, dass man nicht nach der Musik tanzen soll, zielt auf eine Wertung der Tanzkunst als autonome Kunst ab. Es geht dabei darum, den geselligen Tanz von äußeren Zwängen durch Kleidung, Musik und räumlicher Ausstattung zu befreien. Damit nimmt Arnim Gedanken zur Zivilisationskritik vorweg, wie sie sich Ende des 19. Jahrhunderts deutlicher in reformerischen Strömungen und ungezwungeneren Formen des Gesellschaftstanzes realisieren werden. Nach ,innerer Freudigkeit zu tanzen‘, gilt hier als Wunschbild und zugleich Prophezeiung – der gesellige Tanz hat die Tendenz, sich in mehreren Variationen zu entfalten, mehr Selbsterfindung zu zeigen, was die Tanzrichtungen, Geschwindigkeit und Figuren betrifft. Der Bühnentanz löst sich ebenfalls von regelkonformen Bewegungen und hat die Möglichkeit, Bewegungen zu kreieren und sich zum Ausdruckstanz zu entwickeln, der später in Werken Heinrich Heines, Friedrich Nietzsches, Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes bemerkbar ist.14 Hollin empfindet das überirdische Glück beim Tanz in der Höhle, in der weder der Takt der Musik noch der Drang zur Erschöpfung die Tanzenden ‚zügelt‘. Der Tanz in der Natur, welchem der Naturrhythmus innewohnt, grenzt zugleich von der üblichen Gesellschaft ab. Dadurch werden zwei Räume geschaffen. Der Tanz in der Höhle steht für die „heilige Freiheit“ (Hollin, 31), für den Raum der Liebe nach eigenem Willen, während der Ball in Hollins Erlebnis von konventionellen Werten geprägt ist und einem Raum voller gesellschaftlichen Normen entspricht. Der erste Raum, in dem die individuellen Wünsche sich entfalten können, befindet sich in der Natur, in Marias Gesangs- und Tanzkünsten, nicht zuletzt in einem schwer definierbaren Jenseits. Die Momente in der Natur, 13 Vgl. Büttner, Urs: Arnims Kritik an Rousseaus Rollenkonzept in „Hollin’s Liebeleben“ als Anfänger einer „sozial“-bewussten Denkweise. In: Neue Zeitung für Einsiedler. Mitteilungen der Internationalen Arnim-Gesellschaft, 6/7 (2006), S. 7–19. 14 Hier sind einige Forschungsarbeiten über den Tanz zu den oben genannten Schriftstellern zu nennen. Kramer-Lauff, Dietgard: Tanz und Tänzerisches in Rilkes Lyrik. München 1969. Müller-Farguell, Roger W.: Tanz-Figuren. Zur metaphorischen Konstitution von Bewegungen in Texten. Schiller, Kleist, Heine, Nietzsche. München 1995. Ruprecht, Lucia: Dances of the Self in Heinrich von Kleist, E. T. A. Hoffman and Heinrich Heine. Aldershot [u. a.] 2006. Liu, Yongqiang: Schriftkritik und Bewegungslust: Sprache und Tanz bei Hugo von Hofmannsthal. Würzburg 2013.

2.2 Plädoyer für die Autonomie des Tanzes

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die Hollin mit Maria zusammen verbringt, sind für ihn unübertrefflich. Die Figur Maria gleicht einer aus Hollins Sicht göttlichen Frau. Ihr Blick, die Augensprache, lässt Hollin Schönheiten entdecken. „Durch ihren Blick sah ich tausend Schönheiten umher aufgeschlossen, die mir ohne sie ewig verborgen geblieben wären.“ (Hollin, 34). Hollins frühere und allgemeine Verachtung für Frauen ist „verschwunden“ (Hollin, 50), seitdem er Marias Schönheit zu bewundern gelernt hat. Im Vergleich mit Marias göttlicher Schönheit sieht Hollin in anderen Frauen (wie der Gräfin Irene, der Schauspielerin Hermine, Polenis Tochter Bettine) nur ihren Schatten und in seinem vergangenen Leben nur noch Kitsch und Trivialität. Sein früheres Leben ohne Maria ist ihm nun verhasst und erscheint ihm sinnlos: „Was ist mein ganzes Leben gegen diese Augenblicke, wie öde, unbeseelt und traurig!“ (Hollin, 46) Hollins Anbetung Marias überträgt sich auch auf die Künste. Die Kunstformen, die von Maria ausgeübt werden, sind nach Hollins Eindruck in der Lage, sogar die Natur zu überwältigen. Neben dem Tanz mit Hollin ist Marias Gesang ebenfalls übersinnlich. Auf dem Brocken singt sie „aus Haydn’s Schöpfung“ (Hollin, 40). Die Natur erliegt der Kraft ihrer Stimme: „der Fels schien sich aufzubewegen durch die Kraft des heiligen Gesanges ... “ (Hollin, 40) Diese spezielle Gabe wird besonders herausgestellt, als Hollin Maria mit seinen anderen Freunden vergleicht, die ebenfalls auf der BrockenReise versuchen, auf die Natur einzuwirken. Während Marias Stimme die Natur rührt, ignoriert die Natur die dichterische Schöpfung des Freundes Lopez. An dem gleichen Ort, wo Maria gesungen hat, werden seine Blätter mit Gedichten von dem „starken Morgenwind“ (Hollin, 42) auf eine lächerliche Weise verweht. Der Raum der Liebe kennt weder bürgerliche Konventionen noch die Grenze zwischen Leben und Tod. Nach Hollins Standpunkt geht in diesem Naturraum „kein Leben unter“ (Hollin, 31). Das Sterben sei bloß eine Übergangsphase für das weitere Leben in der Freiheit. Todesangst sei „der eigentliche Abscheu der Natur“ (Hollin, 31). Die Beschönigung des Todes und gar die Sehnsucht danach wiederholen sich bei Hollin mehrmals: „Nur im Tode ist Freiheit und jeder Tod ist für die Freiheit.“ (Hollin, 61) Seine Hoffnung, Maria zu heiraten und mit ihr zusammenzuleben, bezieht sich zwar auf den gesellschaftlichen Raum, doch sein Wunsch nach einer ewigen Vereinigung verbleibt im Raum der Liebe – Hollin möchte im Tod die Ewigkeit der Liebe zu Maria weiterführen, würde dafür gar Marias Leben opfern. Er bittet seinen Freund Odoardo: „Bruder, wenn Du lebst und ich sterbe, sie [Maria] soll mit mir begraben werden!“ (Hollin, 33) Im zweiten Raum, dem Raum gesellschaftlicher Normen, findet Hollin keinerlei Resonanz. Er verabscheut das Leben in „schwüler Stadtluft“ (Hollin, 31). Ihn schaudert vor der „Welt des Sprechens ohne Denkkraft, des freudenleeren

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2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“

Scherzes, der Formen inhaltleere Form“ (Hollin, 52).15 Die Vorbereitungspose beim Tanz Hollins mit Maria zeigt sich jedoch als Unterwerfung gegenüber dem gesellschaftlichen Verhalten und spiegelt damit das damalige Geschlechterverhältnis wider. Der Mann übernimmt beim Tanzen die „Regie“16. Seine Bestimmtheit verkörpert sich darin, dass nur der Mann den ersten Schritt der Aufforderung zum Tanz unternehmen darf. Diese Regel findet sich auch in Friedrich von Hardenbergs (Novalis’) zeitnah geschriebenem Roman Heinrich von Ofterdingen (1802): „Heinrich und Mathilde wurden rot [...] Er bot ihr schweigend seine Hand; sie gab ihm die ihrige, und sie mischten sich in die Reihe der walzenden Paare.“17 Die Rollenverteilung der Geschlechter bleibt im Walzer, im Tanz der bürgerlichen Freiheit, unverändert – die führende Rolle des Mannes. 18 Dies entspricht ebenfalls der Arbeitsteilung der Geschlechter im 19. Jahrhundert. Während Männer die Verantwortung für die Versorgung der Familie tragen, haben die Frauen eine passive ‚wartende‘ Rolle im Haus. Vor der Heirat werden sie von Männern umworben, aber eine Umkehrung gibt es nicht. Um Maria offiziell mit einem Heiratsantrag zu konfrontieren, muss Hollin zuerst die bürgerlichen Werte erfüllen. Da Marias Vater allein auf „Würde, Ansehen, Geld“ (Hollin, 74) achtet, bricht er sein Studium ab und geht in die Hauptstadt, um für seine berufliche „Beförderung zu sorgen“ (Hollin, 51). Dafür muss er „die kalte seelenlose Welt der höheren Stände“ (Hollin, 52) ertragen. Hingegen bleibt Maria die ganze Zeit bei ihren Eltern und wartet auf ihr Glück oder Unglück, dessen Erfüllung nicht in ihrer Hand liegt. Maria toleriert ihren schwierigen Zustand und kann ihre Situation nicht aktiv ändern. Ihr Ehewunsch unterwirft sich der Autorität der Eltern. Ihr Vater hat „sie aber schon früh dem Sohne eines Universitätsfreundes versprochen“ (Hollin, 71). Eine arrangierte Ehe der Tochter fungiert als Mittel, die Beziehungen zwischen zwei Familien zu festigen. Marias Mutter, die sich vermutlich selbst nicht aktiv für ihre Ehe entscheiden konnte, gönnt ihrer Tochter ebenfalls keine Ehe aus freier Entscheidung. Sie wacht „unerbittlich strenge über diesen Befehl“ (Hollin, 76) und damit über Marias Verheiratung und verbietet ihr den Briefwechsel mit ‚allen Männern‘. Maria selbst leidet unter dem, was ihr vorgeschrieben

15 Vgl. Höfler, Günther A.: Erleben und Wissen. Zur Doppelgestalt der Liebe in Achim von Arnims Briefroman „Hollin’s Liebeleben“. In: Gideon Stiening und Robert Vellusig (Hg.): Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Studien. Berlin 2012, S. 261–277. 16 Narloch, Sabine: Text und Tanz. Literarische Intermedialität in der Dichtung der Mloda Polska. Frankfurt am Main und New York 2006, S. 19. 17 Hardenbergs, Friedrich von [Novalis]: Das dichterische Werk. Tagebücher und Briefe. Darmstadt 1999, S. 318. 18 Vgl. Frevert, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit. Frankfurt am Main 1986, S. 22.

2.3 Aufwertung des Tanzes in Erzählungen von Schauspielen (1803)

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ist und was die Gesellschaft von ihr erwartet. Sie darf einerseits ihre Verlobung nicht zurückziehen und muss andererseits ihre Liebe zu Hollin geheim halten, bis er vom Tod bedroht wird. Zwischen den intensiven Freiheitserlebnissen in der Natur und im Tanz und den gesellschaftlichen Zwängen herrscht eine Tragik, wie sie in der Literatur des Sturm und Drang und der Frühromantik nicht selten bearbeitet wurde. Geprägt ist diese Tragik von absoluten Idealen und der Ohnmacht gegenüber der gesellschaftlichen Realität. Hollins Tod ist ein Wechsel vom zweiten Raum zum ersten und damit zugleich eine Erfüllung seines Wunsches nach Natur, nach Freiheit und nach dem absoluten Ideal, in dem die Liebe nicht nach klischeehaften Kriterien bewertet wird. Er begeht Suizid (oder Freitod), indem er Kunst und Leben miteinander vermischt. In einem Theater spielt Hollin die Rolle des Mortimer aus einem zeitgenössischen Drama, Schillers Maria Stuart, das im Juni 1800 in Weimar uraufgeführt wird. In Schillers Theaterstück ruiniert sich Mortimer aus Enttäuschung und Verzweiflung. Als Hollin auf der Bühne steht, identifiziert er sich mit Mortimer und tötet sich mit einem Dolch, um sich zu befreien, mit den Worten: ,Das Leben ist mir längst verhasst!‘ Um seine Idee für die Hollin-Figur erkennbar zu machen, zitiert Arnim aus Schillers Kunstwerk. Hollins Ideal, nämlich die Liebe in der Freiheit, wird nicht im Leben verwirklicht, sondern nur in der Kunst.19 Darunter ist Tanzkunst etwas Überweltliches, das Natur und Leben ins Ewige leitet. Diese Botschaft sendet Arnim in Hollins letztem Zettel an Maria, der in der Schreibmappe entdeckt wird, die bedeutende private und intime Schriftstücke enthält. Hollin erinnert sich hier an den gemeinsamen Walzer mit seiner Geliebten. Obwohl der Frühling, in dem die beiden getanzt haben, vorüber ist, obwohl die Natur nicht mehr den Walzer begleitet, vergeht der Tanz nicht wie die Frühlingsblumen: „Noch in eben dem Tanze bebt, pocht mein Herz bei dem leisesten Anhauche Deiner Erinnerung, sein Frühling ist nicht entschwunden, nicht seine Blüten.“ (Hollin, 78) Der auf das Ewige zielende Charakter des Tanzes wird in Arnims theoretischen Schriften und späteren Erzählungen über die Tanzthematik realisiert.

2.3 Aufwertung des Tanzes in Erzählungen von Schauspielen (1803) Während Arnims Aufenthalt in Paris trifft er sich mit Reichardt, dem KomponistenFreund, den er bereits in Halle kennengelernt hat und der ihm wie ein Pate zur

19 Vgl. Ricklefs, Ulfert: Kunstthematik und Diskurskritik. Tübingen 1990, S. 16.

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2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“

Seite steht. Die zahlreichen Theater-, Opern- und Ballettbesuche, die er zusammen mit Reichardt unternommen hat, sowie das obligatorische Erlernen der europäischen Tänze, das zu einer Kavalierreise gehört, verstärken Arnims Beschäftigung mit dem Tanz.20 Mit Euphorie berichtet er Brentano vom Tanz in Paris: „Der Tanz ist schön schön schön – aber er könnte doch schöner sein“21. Zur gleichen Zeit hält er seine intensive Beschäftigung mit der Tanzkunst und dem Tanzleben in Frankreich schriftlich fest. Auf Friedrich Schlegels Angebot, dass Arnim einen sachlichen Text über den Zustand des französischen Theaters für Schlegels neu herausgegebene Zeitschrift Europa schreiben solle, verfasst Arnim einen Essay in Form einer Gesprächserzählung und Lyrik.22 Hierbei verdeutlichter Brentano, dass es in der Schrift Erzählungen von Schauspielen um den Tanz als Leitmotiv geht – „über die Tanzkunst ist da manches gesagt“23. Der Text beginnt zwar mit der Diskussion von fünf Personen, die entweder mit dem poetischen Schaffen (der Schreiber und der Erzähler) oder mit der Rezeption (der Weltfreund, der Kranke und der Gesunde) in Verbindung stehen, endet aber mit einem Monolog des Erzählers über Tanz und mit den Gedichten über fünf auf den Pariser Bühnen aktiv tätige zeitgenössische Tänzer (Clotilde-Augustine Malfleuroy, Pierre-Gabriel Gardel, Angiolo Maria Gasparo Vestris und Louis-Antoine Duport).24 20 Vgl. Salmen, Walter: „ ... Denn der Tanz ist die höchste aller Erscheinungen“ (Ludwig Achim von Arnim): Dichter auf dem Tanzboden. In: Der Tanz in der Dichtung – Dichter tanzen. Hildesheim 2015, S. 9–29, hier S. 24. 21 Arnim, Ludwig Achim von: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe (Weimarer Arnim-Ausgabe). Bd. 31. Briefwechsel 1802–1804. Hg. v. Heinz Härtl. Tübingen 2004, S. 181. (Arnims Brief an Clemens Brentano vom 26.01.1803. Nr. 281). 22 Die Hintergründe und die Wirkung des Schaffens von Erzählungen von Schauspielen hat Roswitha Burwick in dem Artikel Arnims Erzählungen von Schauspielen ausführlich erläutert. Sie richtet ein Augenmerk auf Arnims Erzählstil in diesem theoretischen Text. Nach Friedrich Schlegels Erwartung sollte die Schrift lediglich „interessante Facta“ mitteilen, aber sie hat die Arnim’sche Dichtungskonzeption enthüllt. Es handelt sich nicht um einen rein sachlichen Text, der die Umstände des französischen Theaters wiedergibt, sondern es geht um die Diskussion von verschiedenen Parteien über die Kunst. Vgl. Burwick, Roswitha: Arnims „Erzählungen von Schauspielen“. In: Heinz Härtl und Hartwig Schulz (Hg.): „Die Erfahrung anderer Länder“. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Berlin [u. a.] 1994, S. 63–80. 23 Arnim, Ludwig Achim von: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe (Weimarer Arnim-Ausgabe). Bd. 31. Briefwechsel 1802–1804. Hg. v. Heinz Härtl. Tübingen 2004, S. 231. (Arnims Brief an Clemens Brentano vom 05.05.1803, Nr. 298). 24 Siehe Günter Oesterles Erläuterung dazu, wie Arnim die Lyrik mit dem grotesken Insektentanz und mit den Tanzarten der vier zeitgenössischen Tänzer in Verbindung setzt. Vgl. Oesterle, Günter: Tanz als „untergeordnete Kunst“ oder als „Zentrum“ und Erneuerer aller Künste. Zu einer kontroversen Konstellation in der Romantik. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft, 25 (2015), S. 17–40, hier S. 29–33.

2.3 Aufwertung des Tanzes in Erzählungen von Schauspielen (1803)

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Die Erzählungen von Schauspielen sind bei Arnim weiter von seiner Einstellung geprägt, die jeweils auf die Position des Tanzes im Ideal und in der Realität gerichtet ist, wie er das in Hollin’s Liebeleben zugrunde gelegt hat. Arnim nennt die Tanzkunst „die höchste aller Erscheinungen“25. Keine andere Kunst „scheint so geeignet, der Mittelpunkt aller übrigen zu werden“ „als der Tanz“ (Erzählungen, 156). Nur im Tanz ist es möglich, dass alle Kunstformen eine Einheit bilden26 und er „alle Künste neu zu dem Dienste des Ewigen einigt“ (Erzählungen, 157).27 Um die besondere Position des Tanzes zu betonen, veranschaulicht Arnim die Zusammengehörigkeit der Künste. Während er Musik und Gesang zur Klang kunst zählt, Malerei als Schaukunst gelten lässt und Liebeskunst als Verbindung von Ton und Ausdruck sieht, sieht er alle Elemente jeder Kunstform im Tanz: Es „lösen sich schon in ihm [dem Tanz] manche Rätsel andrer Künste und Wissenschaften, insbesondre der Metrick mit ihren Geheimnissen [in der Dichtung] und die wunderbaren Klangfiguren finden bei genauerer Ansicht ihre Wirklichkeit in den Figuren mancher Tänze.“ (Erzählungen, 159 f) Während Noverre noch behauptet, dass ein Tanz erst zum Tanz wird, wenn er etwas Erzählerisches an sich hat und sich dem dichterischen Prinzip unterwirft, vertritt Arnim die gegenteilige Auffassung – das Lyrische in der Dichtung wird erst durch den Tanz veranschaulicht. Im Tanz löst sich die Frage nach der Metrik, weil die Schritte so verschieden sind, lang und kurz, betont durch das Körpergewicht und unbetont durch das Spielbein. Basierend auf dieser gemeinsamen Rhythmusregel ist die Lyrik ein ,Tanz der Wörter‘ beziehungsweise ,Tanz der Versfüße‘, während der Tanz eine Aktivität des Körpers und besonders der Füße ist. Klopstock und Schiller haben dies bereits in ihrer Dichtung praktiziert und herausgestellt. Anders als August Wilhelm Schlegel, der eine Musikbegleitung für Tanz notwendig hält,28 markiert die Musik nach Arnim weder Anfang noch Ende des Tanzes, sondern der

25 Arnim, Achim von: Erzählungen von Schauspielen. In: Werke in sechs Bänden. Bd. 6. Schriften. Hg. v. Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss. Frankfurt am Main 1992, S. 159 f. Die folgenden Zitate aus der Quelle Erzählungen von Schauspielen) werden im Fließtext mit der Anmerkung „Erzählung“ in Kursiv, Komma und Seitenzahl angegeben. 26 Vgl. Ricklefs, Ulfert: Kunstthematik und Diskurskritik. Tübingen 1990, S. 67. 27 Ingrid Oesterle macht in diesem Artikel einen bemerkenswerten Vergleich zwischen der Arnim’schen und Friedrich Schlegel’schen Tanzverfassung. Während Arnim dem Tanz unter allen Künsten die höchste Stelle einräumt, ist er bei Schlegel nur eine untergeordnete Kunst, die zur Vergnügungs- und Unterhaltungskultur gehört. Oesterle, Ingrid, Achim von Arnim und Paris. Zum Typus seiner Reise, Briefe und Theaterberichterstattung. In: Heinz Härtl und Hartwig Schulz (Hg.): „Die Erfahrung anderer Länder“. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim und Bettina von Arnim. Berlin [u. a.] 1994, S. 39–62, hier S. 55, 58. 28 Siehe dazu die Diskussion über August Wilhelm Schlegels Tanz-Einstellung im Kapitel „Vorüberlegungen“.

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2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“

Tanz nimmt die aktive Rolle ein – erst durch Tanz wird Musik ‚sichtbar‘ gemacht und auf die visuelle Ebene gehoben. Zur Veranschaulichung dieses Tanz-Phänomens nimmt Armin sogar die Physik zur Hilfe. Die Bewegung der verschiedenen Körperteile, die beim Tanz schwingen, überträgt Arnim auf die Chladnische Klangfigur, also auf die physikalische Ebene. 29 Die Bewegung der verschiedenen Körperteile, die beim Tanz schwingen, überträgt Arnim auf die physikalische Ebene. Er, der frühere Physikstudent, bezeichnet die Musikbegleitung keineswegs als bloßen „Taktschläger“ (Erzählungen, 160), sondern erwartet vom Musizieren eine optische Bewegung durch die Vibration, die die Töne hervorrufen. Dabei wird die Gestaltung der Musik im Tanz nicht kodiert, aber sie findet das Adäquate zu den Tanzbewegungen. Deshalb ist leicht zu erklären, warum die Tanzfiguren den verschiedenen Völkern dabei helfen, sich die Melodie zu merken. So bestätigt Arnim in seinem Essay Von Volksliedern, der als das sogenannte ‚Vorwort‘30 in Des Knaben Wunderhorn gilt: „Tanz, das einfachste Symbol der Verbindung und Aneignung“31, immer ist er mit der „Volksmusik verbunden [...] Die Melodie bleibt ihnen durch den Tanz, nur wo ihnen der Tanz fehlt, da singen sie ... “ 32 Das im Gehirn verankerte und abrufbare Körpergedächtnis beim Bewegen ist in der Lage, den sich Be29 Siehe Günter Oesterles Erläuterung zu Ernst Florenz Friedrich Chladnis’ Experiment und dessen Wirkung auf das poetologische Feld. Das Experiment Chladnis nutzt einen Geigenbogen, der an einer mit Pulver bestreuten Metallscheibe befestigt wird. Schwingt der Geigenbogen, so entstehen Figuren. Das Experiment, so Oesterle, ist „für Romantiker zum kosmischen Zeichen eines die gesamte Natur durchwaltenden Rhythmus“ geworden. Vgl. Oesterle, Günter: Tanz als „untergeordnete Kunst“ oder als „Zentrum“ und Erneuerer aller Künste. Zu einer kontroversen Konstellation in der Romantik. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft, 25 (2015), S. 17–40, hier S. 28 f. 30 Arnims Aufsatz „Von Volksliedern“ wird zuerst in von Reichardt herausgegebener Berlinische Musikalische Zeitung publiziert. Danach wird der Artikel in den ersten Band von „Des Knaben Wunderhorn“ aufgenommen. Im strengen Sinne handelt es sich dabei nicht um ein Vorwort, sondern höchstens um eine Arnim’sche Zeitklage über die verschiedenen Antagonismen, die sowohl die Auswahl der alten Lieder als auch die Begriffsabgrenzung wie Volkslieder anbelangen. Ein weiterer Grund ist Arnims Abscheu gegenüber einem Vorwort: „Vorreden und Nachreden möchte ich nicht gern, es ist mir das Ekelhafteste in unserer Literatur das viele Schreiben über die Dinge, welches den Dingen Platz nimmt, lieber ein paar Lieder mehr und etwas Gesichtspunkte weniger.“ Vgl. Schlechter, Armin: Zwischen Politik, Philologie und Dichtung. Editorische Positionen Arnims und Brentanos und die Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Forum für die Erforschung von Romantik und Vormärz, 24/25 (2012), S. 83–98. 31 Arnim, Achim von: Von Volksliedern (1805). In: Arnim, Achim von: Werke in sechs Bänden. Bd. 6. Schriften. Hg. v. Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss. Frankfurt am Main 1992, S. 175. 32 Arnim, Achim von: Von Volksliedern (1805), S. 175.

2.3 Aufwertung des Tanzes in Erzählungen von Schauspielen (1803)

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wegenden später wieder an die Stellung, Position und Musik erinnern zu lassen. 33 Der Dynamik der Flüchtigkeit des Tanzes entspricht das Gewoge der Melodie, die Anschaulichkeit des Tanzes resultiert aus einer Reihung der zahlreichen Bewegungs-Bilder. Nun entwirft Arnim die Zwar-Aber-Diagnose für den Tanz – zwar steht die Tanzkunst für ihn im Mittelpunkt aller Künste, aber in der Tat wird „[k]eine Kunst“ „mit so durchgreifendem Unverstande gemißbraucht, als der Tanz“ (Erzählungen, 157), sowohl in Frankreich als auch in andern Ländern, „ungeachtet es“ (Erzählungen, 157) in Frankreich „die eigentliche lebende Kunst genannt werden kann“ (Erzählungen, 157). Daraufhin schildert Arnim seinen Eindruck von der Tanzkultur in Frankreich. Dort wird die Tanzkunst allerseits vom Volk gepflegt. Auf der Bühne dagegen hat die Tanzkunst lediglich eine dekorierende Randposition für die Oper inne. Nach Arnim ist dies durchaus beabsichtigt und taucht als „Sklaverei unter Nebenabsichten, (in) ihre(r) Herabwürdigung“ (Erzählungen, 150) auf, „bald zur politischen, bald zur wissenschaftlich moralischen Schule“. (Erzählungen, 151) Den Bühnentanz als Zweck beobachtet bereits Sulzer, der die Tanzkunst aber nicht lediglich als Mittel zur Zerstreuung ansehen möchte und einen ernsthaften Umgang mit Tanz erhofft. Auch wenn Theoretiker und Schriftsteller in ihrer Betrachtung die Autonomie des Tanzes auf dem Papier realisieren, ändert sich die Lage auf der Bühne in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbar wenig. Jahrzehnte später noch wird das von Heinrich Heine bemerkt, was ihn veranlasst, in seiner Novelle Florentinische Nächte eine „Revoluzion in der Tanzkunst“ (DHA 5, 230), durch die der Tanz sich von Schemata und Absichten befreien soll, als schwer erfüllbaren Wunsch anzunehmen. Auch gesellige Tänze in Frankreich sind nach Arnim nicht frei vom Darstellungszweck. Der Tanz wird auf Bällen zwar als „lebendige Kunst“ (Erzählungen, 150) gefeiert, ist aber fern vom Eigengenuss. Jeder tanzt nicht für sich allein, sondern auch für andere – jeder möchte „kunstmäßig tanzen“ (Erzählungen, 157), nicht nur um seiner selbst willen, sondern um seinen mit Überlegung ausgesuchten Mittänzer und das Publikum zu beeindrucken. Da der Tanz in Frankreich die Selbstpräsentation und die Wirkung auf die Umgebung involviert, ist der Gesellschaftstanz nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern er verwandelt sich zum Etikett für eine bestimmte geschloss-

33 Vgl. Siegmund, Gerald: Das Gedächtnis des Körpers in der Bewegung. In: Leopold Klepacki und Eckart Liebau (Hg.): Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzens. Münster [u. a.] 2008, S. 29–44.

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2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“

ene Gruppe. Aufgrund dieser geschlossenen Gruppe ist ein Mangel „am Überblick“ (Erzählungen, 159) über die verschiedenen Nationaltänze und Charaktertänze entstanden, weshalb die Tanzkunst „gleich lebend in Frankreich wie in keinem anderen Lande, doch zu keiner sehr bedeutenden Höhe“ (Erzählungen, 159) gestiegen ist. Die Gestaltung der Charaktertänze sowie der individuellen Tänze ist lediglich aus Projektion und Phantasie entwickelt worden. Als einige der wenigen vorbildhaften Beispiele nennt Arnim die Ballettstücke wie Pas de Terpyschore und Dansomanie, denen es, wie er meint, nicht an Individualität fehle. Im ersten Schritt der Annäherung an charaktervolles und individuelles Tanzen, so Arnim, muss man die Phase überwinden, in der man „zu sehr mit den Füßen“ (Erzählungen, 161) tanzt. Stattdessen soll man die Tänze „mit dem ganzen Körper, als ein Kunstganzes“ ausführen. (Erzählungen, 161) Erst dann vermögen die Menschen wieder „alle Kunst in sich aufzunehmen, also ein liebendes Kunstwerk zu werden“ (Erzählungen, 162). Es ist ein Aufruf des Erzählers, dass sich der „Keim des Wissens und der Kunst“ (Erzählungen, 163) verbreiten muss, damit die Kunst durch Wissenschaft geweckt wird. Sodann ist Tanz fähig, die Kunst trotz der „immer kälter“ (Erzählungen, 164) gewordenen Welt zu durchglühen. Mit der Hoffnung und Zuversicht des Erzählers, dass eine blühende Zeit der Tänze entsteht, setzt er voraus, dass die Tanzkunst eine rettende Rolle für die Vereinigung von Kunst, Natur und Wissenschaft spielt.

2.4 Tanz als religiöse Berechtigung in Arnims Owen Tudor (1821) Während Arnim in Hollin’s Liebeleben für die Unabhängigkeit des Tanzes von der Musik plädiert, in Erzählungen von Schauspielen die Autonomie des Tanzes herausstellt und die Tanzkunst in den Mittelpunkt aller Künste stellt, verteidigt er in seiner Erzählung Owen Tudor den Tanz in der Kirche. Bereits der erste Satz in Owen Tudor. Eine Reisegeschichte (1821) verweist auf die Tanzsucht als Volkskrankheit im Mittelalter, anhand des modischen Ballettstücks Dansomanie. „Die Tanzwut (Dansomanie), das himmlische neue Ballett, hielt nach der langweiligen Oper bis tief in die Nacht hinein ... “ 34 Die französische Oper von Etienne Méhul mit einem Ballett von Pierre Gardel La Dansomanie wird 34 Arnim, Achim von: Owen Tudor. In: Achim von Arnim: Werke in sechs Bänden. Bd. 4. Sämtliche Erzählungen 1818–1830. Hg. v. Renate Moering. Frankfurt am Main 1992, S. 148. Die folgenden Zitate aus der gleichen Quelle, Owen Tudor, werden in Klammern mit „Owen“ in Kursiv und Seitenzahl im Fließtext angegeben.

2.4 Tanz als religiöse Berechtigung in Arnims Owen Tudor (1821)

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am 14. Juni 1800 uraufgeführt. Arnim hat sie 1802 in Wien angeschaut und dazu eine Handlungsskizze für dieses mimische und gestische Ballett mit dem Titel Annociata geschrieben. 35 1803 rühmt er das Ballett wiederum in Erzählungen von Schauspielen. Das Ballett ist „das Ganze“, also eine „Sammlung verschiedener individueller Tänze“ (Erzählungen, 160), in denen „Geschichte und Charaktere ganz Nebensache“ (Erzählungen, 160) sind. In dem Ballett Dansomanie wird zum ersten Mal der Walzer auf der Bühne eingesetzt – und zwar als Symbol der Tanzwut.36 Bei der sogenannten Tanzwut, die im Mittelalter als Seuche angesehen wird, ist der Körper gezwungen, unkontrolliert zu zucken. Aufgrund der stürmischen Begeisterung für den Walzer in Europa wird der Begriff „Tanzwut“ um 1800 wieder geläufig. Obwohl es in Wien noch keinen Fachbegriff für den beschleunigten ‚Wiener Walzer‘ gibt, wird zum Beispiel Franz Schubert als Komponist des Walzers – oder nach alter Bezeichnung noch „des deutschen Tanzes“ – auf dem Tanzboden enthusiastisch gefeiert. Die Ablehnung des Walzers ist ebenso stark wie dessen Befürwortung. Zur walzerfeindlichen Gruppe gehören meistens Pädagogen und Ärzte. Ihre Meinungen zum Walzer sind negativ, weil in ihm nicht nur harmlose Tanzbegeisterung gesehen wird, sondern eine Krankheits- und sogar Todesgefahr. Beispielsweise vertont Franz Schubert 1828 ein Gelegenheitsgedicht, in dem es um die Genesung eines Mädchens von übermäßigem Walzen geht. Der Verfasser des Gedichts, Kolumban Schnitzer von Meerau, widmet sein Gedicht Der Tanz einer leidenschaftlichen Tänzerin, der 14-jährigen Tochter der Familie Rieseweter.37 Darin warnt Meerau vor den Folgen der ‚Tanzwut‘: Es redet und träumet die Jugend so viel, von Tanzen, Galoppen, Gelagen, auf einmal erreicht sie ein trügliches Ziel, da hört man sie seufzen und klagen. Bald schmerzet der Hals, und bald schmerzet die Brust, verschwunden ist alle die himmlische Lust, „Nur diesmal noch kehr’ mir Gesundheit zurück!" so flehet vom Himmel der hoffende Blick!38

35 Riley, Helene: Frühromantische Tendenzen bei Ludwig Achim von Arnim. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, (1980), S. 277–284. 36 Vgl. die Anmerkung zum Tänzer und Choreographen Pierre Gardel. Humboldt, Wilhelm Freiherr von: Wilhelm von Humboldts Briefe an Christian Gottfried Körner. Hg. v. Albert Leitzmann. Berlin 1940, S. 116. 37 Vgl. Hellborn, Heinrich Kreissle von: Franz Schubert. Wien 1865, S. 374. 38 Zitiert nach Dieckmann, Friedrich: Franz Schubert. Eine Annäherung. Frankfurt am Main 1996, S. 176.

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2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“

Die geduldige und väterliche Redeweise ist dabei weniger abschreckend als eine andere aus pädagogischem Grund fabelartig erzählte Belehrung. Der Pfarrer Franz Xaver Geiger warnt die jungen Leute, indem er die Gefahren aufzählt, die seiner Meinung nach aus dem wilden Tanzen resultieren: Die jungen Leute treiben es zum öftern gar zu weit, bringen einen großen Theil der Nacht damit zu, werden ganz naß vom Schweiße, setzen das Blut in heftige Wallung [...] machen sich auf ihre ganze Lebenszeit krank, oder sterben frühzeitig dahin.39

Arnim, der Tanzfreudige, reagiert auf die – allerdings nicht belegbare40 – Auffassung, der Walzer sei eine Krankheits- und Todesursache, mit der Beschreibung religiöser Tanzfreude in Owen Tudor. Die Rahmenerzählung, eine Kutschfahrt nach Wallis41, thematisiert die religiöse Berechtigung des Tanzes und widerspricht dem christlichen Tanz-Vorbehalt. Die Reisenden fahren mit der Kutsche nach Wallis, um dort den Tanz einer religiösen Gruppe mitzuerleben. Die Binnenerzählung, eine von einer Mitreisenden erzählte Tanz-Geschichte über die historische Figur Owen Tudor, ist in die Schilderung der Kutschfahrt eingebettet. Die Binnenerzählung wird mehrmals durch die Rahmenerzählung unterbrochen, weil die Orte, an denen Owen Tudor gelebt hat, auf der Fahrtroute liegen. Allerdings ist die gesamte Handlung stetig in Bewegung – die Reisenden werden durch die Kutsche fortbewegt oder sie befinden sich zumindest in geistiger Tanz-Bewegung, wenn sie die Tanzgeschichte über Owen Tudor hören.42 Die Rahmenerzählung beginnt mit einer Debatte über die Berechtigung des Tanzes im Gottesdienst. Diese Debatte spiegelt das Tanzverbot wider, das vom 15. bis zum 18. Jahrhundert in Kirchen geläufig war.43 Demnach soll der Gottes-

39 Geiger, Franz Xaver: Neuestes Sitten- und Beyspielbuch für Bürger und Landmann. 2. Aufl. München 1804, S. 256–265, hier S. 256. (Siebzehntes Hauptstück. Nr. 3. Von den öffentlichen Ergötzungen.) 40 Vgl. Alzheimer-Haller, Heidrun: Handbuch zur narrativen Volksaufklärung. Moralische Geschichten 1780–1848. Berlin 2004, S. 304. 41 Wallis oder Walis ist eine veraltete Schreibweise für Wales. 42 Solche körperliche oder geistige Beweglichkeit kennzeichnet das häufig verwendete Reise-Motiv der Romantik. Vgl. dazu Vordtriede, Werner: Deutsche Dichter der Romantik. Berlin 1971, S. 336. 43 Das Tanzverbot, das vom 15. bis 19. Jahrhundert in verschiedenen Schriften erwähnt wird, geht von der Kirche aus. Der Grund für dieses Verbot hängt mit der sogenannten „Teufelskunst“ zusammen. Bereits in einem Erziehungsbuch, mit dem Namen St. Pantaleon-Erla, Taidingsrechte und Freiheiten des Erlaklosters (1640–1684) registriert, wird gefordert, „es sollen auch die eltern ihr erwachsene sohn und döchter bößer in ehrlicher zucht und zuer forcht gottes halten und nit auf leichtförtige tänz, spilplätz und in die wierthsheußer laufen laßen, damit alles übels leben, loße leichtförtigkeit, gottslästern und alle unzucht bei ihnen abgestölt

2.4 Tanz als religiöse Berechtigung in Arnims Owen Tudor (1821)

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dient nicht mit Sinnlichkeit verbunden sein, weil der Ernst der Betrachtung Gottes nicht durch Tanz oder Musik „betäubt“ (Owen, 151) werden darf. Die Diskussion in der Kutsche beginnt mit dem Reisegrund eines Mitfahrenden, eines Presbyterianers, der angibt, er fahre „bloß des Tanzes wegen nach Wallis“ (Owen, 149), um zu versuchen, jenen Religionstanz zu verhindern. Die von ihm als „Religionssekte“ (Owen, 149) bezeichnete Religionsgruppe, die „bei den Leuten Jumpers“ heißt, drückt „durch Tanz ihre Begeisterung in der Kirche“ (Owen, 149) aus. Der Presbyterianer vertritt eine theologische konservative Haltung – die Art, die Verehrung Gottes durch ekstatischen Tanz zu äußern, ist für ihn eher eine Gotteslästerung. Auch die Musik, die „in der Orgel verherrlicht“ (Owen, 151) wird, assoziiert er mit Teufelsmusik. Die Tanzmotive in der Bibel ignoriert er – „Davids Beispiel44 gehe uns nichts an“ (Owen, 152), die Verehrung des Königs David durch Tanz blendet er aus. Er versucht seinen Nachbarn zu überzeugen und beruft sich dabei auf Argumente, die auf den Sitten der Antike beruhen, wonach man in dieser Phase bereits auf religiösen Feierlichkeiten andächtig getanzt habe. Die Reaktion des Presbyterianers ist pessimistisch: „Wer ist dabei gewesen [...] den Dichtern brauchen wir nicht zu glauben, sie mußten sich offiziell das Beste dabei denken.“ (Owen, 151) Seine Kritik an Dichtung unterstreicht er mit dem Hinweis auf die Huldigungsschriften, an deren Wahrheitsgehalt Zweifel geboten scheine. Die Diskussion wird durch die Binnenerzählung unterbrochen, indem eine Walliserin, die angeblich auch aus Tudors Familie stammt, die Geschichte von Owen Tudor erzählt. Die Titelfigur Owen Tudor ist eine historische Figur, ein walisischer Soldat und Höfling, der die Witwe des englischen Königs Heinrich V. geheiratet hat. In Arnims Erzählung hat Owen Tudor durch seinen Tanz die Gunst der Prinzessin gewonnen und wird letztlich dadurch selbst zum König gekrönt. Er als „ein Freund aller Leibesübungen“ (Owen, 156) bekommt die Order, als Page der Prinzessin am Hof Englands zu arbeiten. Die Prinzessin Katharine verliebt sich in ihn, weil er „einmal für den besten Tänzer“ (Owen, 161) gilt. Owen Tudors Tanz weckt somit die Liebe der Prinzessin zu

werden, wie dan auch hierinen der gnedigen obrigkeit etc. wüll und mainung geschiecht.“ Zitiert nach Panzer, Marianne: Tanz und Recht. Frankfurt am Main 1938, S. 13. 44 In der Bibel gibt es tanzfreundliche und tanzfeindliche Episoden. Der Tanz von König David als Beispiel der Tanzfreundlichkeit drückt die feierliche Stimmung und die berechtigte Andacht zu Gott aus. Im 2. Buch Samuel 6, 12–16 tanzt David „mit aller Macht vor dem Herrn“, um die Rückkehr des Herrn nach Jerusalem zu feiern. Vgl. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift. Altes und Neues Testament. Doctor Martin Luthers Uebersetzung nach Joh. Fr. v. Meyer nochmals aus dem Grundtext berichtigt von Rudolf Stier. 4. Aufl. Mit Beigabe der Apokryphen. Bielefeld/Leipzig 1872, S. 325.

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2 „Es soll nie nach der Musik getanzt werden“

ihm, sodass beide gemeinsam alle Herausforderungen bestehen. Auch der Standesunterschied der Liebenden und der staatliche Konflikt zwischen dem verfeindeten England und Wallis werden überbrückt. So meint ein Mithörer der Binnengeschichte, die Art des Tanzes der Jumper, die nun zum Gottesdienst tanzen, möge „wohl noch von dem Owen Tudor stammen, der durch Tanzen sein Glück gemacht“ (Owen, 184) habe. Die Binnenerzählung der Walliserin ist zugleich ein Plädoyer für das Tanzrecht im christlichen Glauben. Owen Tudors Geschichte veranlasst einen jungen Mitreisenden, auf die Kritik des Presbyterianers wegen der Unsittlichkeit des Tanzes während des Gottesdienstes einzugehen und für das Tanzrecht zu kämpfen – Tanz ist eine Art „lebendiger Tätigkeit“, „die alles Leben durchdringt und heiligt“ (Owen, 184). Tanz vereinigt Körper und Geist – tanzt jemand nicht, ist er ein Ruhender, der sich „bald in irgendeiner Art mit sich entzweit“ fühlt. (Owen, 184). Deshalb ist Tanz keinesfalls eine schändliche Tätigkeit auf einem „gotteslästerlichen Gottesdienst“ (Owen, 184), sondern er führt einen zur „Einheit von Allem“, die „den Menschen über die Zerrissenheit und Verworrenheit der Welt trösten kann“. (Owen, 185) Das Argument ist der Schlüssel, um die gesamte Erzählung zu verstehen: „[W]arum sollte nicht diese Kunst [Tanzkunst], wie die Musik und Malerei eine heilsame Anregung zu dem [alles, was zu Gott führt], geben, was doch höher steht, als alle Künste.“ (Owen, 185) Der Tanz der Jumper auf dem Gottesdienst bestätigt die Meinung des jungen Reisenden. Dichtung, Musik und Tanz ist die Form, in der die Jumper ihre Andacht abhalten, ohne irgendeinen schändlichen Eindruck zu erwecken. Das Aufsagen eines christlichen Spruchs und das Singen im Chor dienen als Auftakt für den Tanz, der trotz aller Störungen fortgesetzt wird. Die Gemeinde stand in guter Ordnung um die Kanzel, welche von dem ersten bestiegen wurde, dem ein Spruch, wie eine Eingebung zugekommen; die ganze Gemeinde wiederholte letztern in einer Art Chor. Nach ihm trat ein Andrer auf; der Chor wurde lebhafter. Schon beim dritten Spruche bewegten sich alle in heftigem Takte. Jeder ergriff seine Nachbarn, faßte ihre Hände. Bald zu zweien, bald zu dreien sprangen sie empor nach allen Kräften, und zu bedeutender Höhe. (Owen, 185)

Bei diesem Tanz sind keine Partner und auch nicht die Anzahl der Tanzenden festgelegt. Alle Mitreisenden werden durch den Tanz in ihrem Verhalten beeinflusst, auch der Presbyterianer. Er nutzt den Tanz aus, um der Walliserin die Flucht vor der Polizei zu ermöglichen. Sich in den Tanz einzumischen, davor schreckt auch die Staatsmacht zurück. Sie heiratet ihren Bräutigam – entsprechend der Binnenerzählung findet mit dieser Ehe auch die Rahmenhandlung ein märchenhaftes Ende. In seinem Glückwunsch zeigt der Erzähler, wie die Kraft des Tanzes für die Ewigkeit bewahrt zu werden vermag: „[W]enn der Tod euch

2.4 Tanz als religiöse Berechtigung in Arnims Owen Tudor (1821)

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trennen will, schickt ihn wie den Constabel in das Tanzhaus der Jumper[s]!“ (Owen, 188) Er stellt den Tanz der Jumper heraus, der alle am Tanz Beteiligten mitreißt und sogar dem Tod Grenzen setzt. Aus den drei Werken Arnims kann eine Schlussfolgerung gezogen werden. Der Dichter betrachtet Tanz als Gelegenheit für einen emotionalen Austausch zwischen den Geschlechtern, wie es in Hollin’s Liebeleben dargestellt wird. Indem Arnim Tanz poetisch darstellt, entfaltet er zugleich seine ästhetisch-theoretischen Gedanken. Wie Noverre, Sulzer und A. W. Schlegel reflektiert er über die Tanzkunst, aber auf umfassendere Weise hinsichtlich der Beziehung zwischen Tanz und Musik oder Tanz im Vergleich mit anderen Künsten, nicht zuletzt im Verhältnis von Tanz und Religion. Sein zentraler Gedanke, Tanz sei eine autonome Kunst, begründet er damit, dass man nicht ausschließlich nach der Vorgabe des Taktes, nicht um der Kunstfertigkeit oder der körperlichen Übung willen tanzen soll, sondern des Tanzes wegen. Sein ästhetisch-theoretischer Umgang überschreitet die wertfreie Analyse. In seiner Tanz-Wertung tendiert er zum Subjektiven. Dies zeigt sich in Arnims Würdigung des Tanzes in Kronenwächter. „[D]ie lebendigste, mannigfaltigste aller Künste, der Mittelpunkt aller, die lebendige Malerei, Bildnerei, in der nach dem Sinne der Freude und Leidenschaft wechselnde Musikbewegung sich gestaltet, die hochherrliche Tanzkunst“45 vereinigt alle Künste; sie bringt die Emotion des Lebens und den Ausdruck der Kunst zusammen. Damit zeigt sich Achim von Arnim in seinem Überschwang und Misstrauen gegenüber rationaler Sachlichkeit als typischer Vertreter der Romantik.

45 Arnim, Achim von: Die Kronenwächter. In: Werke in sechs Bänden. Bd. 2. Die Kronenwächter. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1989, S. 159.

3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“. Spiel mit Geschlechterrollen beim Tanz in Dorothea Schlegels Florentin (1801) In Dorothea Schlegels Roman Florentin (1801) steht eine signifikante Tanzepisode im Zentrum der Erzählung, die sich während Julianes Ausflug mit der Titelfigur Florentin und ihrem Verlobten Eduard ereignet.1 Es ist Julianes erstes Abenteuer, bei dem sie, als Knabe verkleidet, allein mit zwei Männern unterwegs und ohne elterlichen Schutz ist.2 Während des Ausflugs spielt Florentin spontan vor einer Naturkulisse Gitarre, sodass Eduard seine Verlobte Juliane spontan zum Tanz auffordert. Zum ersten Mal tanzt Juliane auf dem Gras statt im gepflegten Tanzsaal. Trotz des Knabenkostüms kann sie ihre weiblichen Züge nicht verbergen. Es ist für sie als adelige Frau eine doppelte Grenzüberschreitung – das Verlassen des gepflegten gesellschaftlichen Rahmens und seiner behüteten Weiblichkeit und das Einlassen auf die Natur. Beides ist nur möglich, weil sie durch ihre männliche Kleidung geschützt ist. Ein Tanz in freier Natur unter Missachtung weiblicher Etikette – welche Bedeutung hat dies zu Beginn des 19. Jahrhunderts? Über Julianes Tanz im Wald scheint sich ein neuartiges Geschlechterverhältnis anzubahnen und den Ausgangspunkt für das folgende Kapitel zu bilden. Wie alle adeligen Töchter der damaligen Zeit, ist Juliane streng eingebunden in die Sitten und Zwänge ihres Standes, weshalb es ihr nahezu unmöglich scheint, hier auszubrechen. Obgleich sie sich während des Ausflugs von gesellschaftlichen Etiketten und Normen befreit, kommt sie weiterhin ihrer Teilnahmepflicht an zahlreichen Festen in Tanzsälen nach, die von ihrer Mutter Eleonore organisiert werden. Die außergewöhnliche Tanzepisode im Wald wirft einerseits aufgrund der Verkleidung

1 Der vorliegende Text folgt der Nennungsweise der Reclam-Ausgabe von Florentin: Dorothea Schlegel: Florentin. Hg. v. Wolfgang Nehring. Stuttgart 1993. Dorothea Schlegel heißt 1801 noch Veit. Sie ist zu dem Zeitpunkt Lebensgefährtin des Frühromantikers Friedrich Schlegel, den sie erst 1804 heiratet. Da sie später mit dem Namen Dorothea Schlegel in die Literaturgeschichte eingegangen ist, wird dieser im Folgenden angegeben. Die wenigen Studien zum Roman Florentin zeigen Unterschiede bei der Namensnennung der Autorin, mehrheitlich sind sie mit dem Autoren-Namen Dorothea Schlegel registriert. 2 In Liesl Allinghams Studie vergleicht sie Julianes Position, den plötzlichen Wechsel vom Mädchen zur verheirateten Frau, mit anderen weiblichen literarischen Figuren. Vgl. Allingham, Liesl: Revolutionizing domesticity. Potentialities of female self-definition in Dorothea Schlegel’s “Florentin” (1801). In: Women in German Yearbook. Feminist Studies in German Literature and Culture 27 (2011), S. 1–30. https://doi.org/10.1515/9783110759815-010

3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“

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Julianes als Mann die Frage auf, ob und wie sie damit ihre Geschlechterrolle sprengt. Andererseits stellt sich die Frage, ob die häufig stattfindenden Feste ihr Freude bereiten oder lediglich oberflächlicher Unterhaltung und Zerstreuung dienen. Zugleich zeigen sich um 1800 in der Gesellschaft erste Anzeichen dafür, dass Frauen beginnen, die Grenzen gesellschaftlicher Normen in Frage zu stellen. Weibliche Autorenschaft zählt dazu. Dorothea Schlegel hat den Roman jedoch anonym veröffentlicht und ihr damals noch Lebensgefährte Friedrich Schlegel hat ihn herausgeben.3 Davon versprachen sie und der Verlag sich eine bessere Akzeptanz. Es lässt sich fragen, ob sie mit Julianes ,Tanzen in Männerkleidung‘ implizit ihren Wunsch nach einem unkonventionellen Weg weiblicher Unabhängigkeit ausdrückt. Im Folgenden wird an diesem Tanz untersucht, in-

3 Dorothea Schlegels Florentin stellt keine bloße Imitation von F. Schlegels ein Jahr zuvor erschienener Lucinde dar, sondern sie geht auf seine romantische Universalkonzeption ein. Am Beispiel eines Vergleichs der Texte Florentin und Lucinde zeigt sich bei Dorothea Schlegel durchaus ein eigenständiges Dichtungskonzept. Dorothea Schlegels Florentin (1801) kann als Antwort auf Friedrich Schlegels Lucinde (1800) betrachtet werden. Julius aus Lucinde bei Friedrich Schlegel und die Titelfigur Florentin bei Dorothea Schlegel sind beide Maler und haben mehrere Liebesbeziehungen zu weiblichen Figuren. Während das Männliche und das Weibliche in Lucinde ineinandergreifen und sich so Friedrich Schlegels romantisches Schreibkonzept widerspiegelt, wird Florentin nicht als androgyne Figur angelegt. Hier wird als Beispiel auf ein Zitat aus Lucinde verwiesen, das Friedrich Schlegels romantisches Schreibkonzept für Androgynie verdeutlicht. So definiert Julius im Brief das Paar-Verhältnis zu Lucinde als Einheit: [Julius an Lucinde]: „Weißt du was mir am meisten klar dadurch geworden ist? – Zuerst, daß ich Dich vergöttre, und daß es gut ist, daß ich so thue. Wir beyde sind eins und nur dadurch wird der Mensch zu einem und ganz er selbst, wenn er sich auch als Mittelpunkt des Ganzen und Geist der Welt anschaut und dichtet.“ (In: KFSA 5, S. 71). In Lucinde entwickelt sich Julius und verwirklicht sich durch die Liebe. Hingegen verlässt Florentin in Dorothea Schlegels Roman die Familie. Während Julius durch die Beziehung zu Frauen zu einer Androgynie-Figur wird, verfügt Florentin über keinen androgynen Charakter. Dieser hat zwar Liebesbeziehungen zu einigen Frauen, aber die Männerfiguren haben mehr Einfluss auf seine Entwicklung. Sowohl in Bezug auf seine Herkunft als auch auf seine Zukunft fehlt ihm die Möglichkeit, eine Gesamtpersönlichkeit mit klarer Identität zu entfalten. Deshalb erscheint D. Schlegels Florentin als vehemente Einrede gegen F. Schlegels androgyne Verschmelzungstheorie, die sich in Lucinde niederschlägt. Vgl. Park, Hee-Kyung: Romantische Liebe! Romantische Liebe? Dorothea Schlegels ‚Florentin‘ und Friedrich Schlegels ‚Lucinde‘ als Liebesdiskurs. In: Goethe-Yǒngu 14 (2002), S. 211–230, hier S. 139. Zur Reaktion Dorothea Schlegels auf Friedrich Schlegels Lucinde bzw. zur progressiven Universaltheorie der Frühromantik sind folgende Studien nennenswert. Stephan, Inge: Weibliche und männliche Autorschaft. In: Inge Stephan (Hg.): Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln 2004, S. 233–250, hier S. 236–240. Johnson, Laurie: Dorothea Veit’s “Florentin” and the early romantic model of alterity. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, 1 (2005), S. 33–62, hier S. 43–52.

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3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“

wiefern sich hier ein latentes erwachendes Selbstbewusstsein zum einen in der Figur Juliane, zum anderen bei der Autorin Dorothea Schlegel erkennen lässt, und wie dies mit den Vergnügungen der Adelsfamilien in der Zeit nach der Französischen Revolution zusammenhängt.

3.1 Dorothea Schlegels ‚Tanz in Männerkleidung‘ Dorothea Schlegel wird bei ihrer schriftstellerischen Tätigkeit auf vielfältige Weise von ihrem Mann Friedrich unterstützt. Eine Art der Unterstützung besteht darin, dass sie unter seinem Namen veröffentlichen und damit bildungsgeschichtliche Nachteile für Autorinnen umgehen kann. Die Vorurteile über die Grenzen der Bildung der Frauen um 1800 spiegeln sich in Jean-Jacques Rousseaus Emile oder über die Erziehung (1762) wider: Für einen Mann von Bildung, schickt es sich nicht, eine Frau ohne Bildung zu heiraten [...]. Aber mir wäre ein einfaches und grobschlächtig erzogenes Mädchen hundertmal lieber als ein Blaustrumpf und Schöngeist, der in meinem Haus einen literarischen Gerichtshof einrichtet und sich zur Präsidentin macht. [...] Wenn es nur vernünftige Männer auf der Welt gäbe, so bliebe jedes gelehrte Mädchen ihr Leben lang alte Jungfer.4

Nach diesem restriktiven Bildungsideal sollen Frauen neben der Hausarbeit durchaus auch Bücher lesen, allerdings nur in kontrollierten Grenzen. Zeigt eine Frau eine Tendenz zur Belesenheit oder der geistigen Überlegenheit ihrem Mann gegenüber, kann sie als sogenannter Blaustrumpf ihren Mann in dessen Stellung als Hausherr in der Familie verunsichern. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Frauen mit höherem Bildungsniveau, vor allem mit Schreiberfahrung, in der damaligen Gesellschaft weniger beliebt sind als diejenigen von geringerem Intellekt. Die Letzteren dürfen sogar gerne etwas Naivität ausstrahlen. Aufgrund dieser tradierten Vorstellungen gerät eine Publikation aus der Hand einer Frau ins Gerede, weil die Schriftstellerei zumeist ausschließlich als Männersache angesehen wird.5 Deshalb publizieren die meisten schreibenden Frauen der Goethe-Zeit noch vorsorglich unter dem Namen ihres Ehemanns oder anonym.

4 Rousseau, Jean Jaques: Emil oder Über die Erziehung, 13. Aufl. Hg. v. Ludwig Schmidts. Stuttgart 2003, S. 447. 5 Vgl. Stephan, Inge: Weibliche und männliche Autorschaft. Zum ‚Florentin‘ von Dorothea Schlegel und zur ‚Lucinde‘ von Friedrich Schlegel. In: Inge Stephan (Hg.): Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln 2004, S. 233– 250, hier S. 234.

3.1 Dorothea Schlegels ‚Tanz in Männerkleidung‘

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Die Publikationsgeschichte des Romans Florentin (1801), offiziell und ohne Autornennung herausgegeben von Friedrich Schlegel, spiegelt dieses Phänomen wider. Als allerdings bekannt wurde, dass Dorothea Schlegel die Autorin des Romans ist, fühlten sich viele Leser irritiert und provoziert. Von der Reaktion berichtet Dorothea Schlegel in einem späteren Brief an Clemens Brentano: So wird jetzt, wie uns gesagt wird, in ganz Jena behauptet, den „Florentin“ hätte ich, ich gemacht! Und weil man nun so davon überzeugt ist, so schimpft man eben darum ganz unbarmherzig darauf. Einige Leute, die nach der Anzeige glaubten, er müsse von Friedrich selbst sein, lobten ihn schon vorher, die jetzt ihr Lob zurücknehmen.6

Die heftigen Reaktionen hängen wohl mit der Angst und Unsicherheit der Männer zusammen, weil wieder eine schreibende Frau auf dem literarischen Markt mit ihnen zu konkurrieren versucht und ihnen ihr Publikations-Privileg streitig macht. Dabei wollte Schlegel mit ihrem Schreiben vermutlich gar nicht mit anderen konkurrieren, sondern versuchte an erster Stelle, die notorische Finanznot ihres zukünftigen Ehemannes zu verringern. Nach dem Erscheinen von Lucinde (1800) und der Beendigung der Zeitschrift Athenäum (1788–1800) ist Friedrich Schlegel in eine schöpferische und finanzielle Krise geraten. Um die gemeinsame Not zu lindern, wollte Dorothea Schlegel mit ihrer ersten Dichtung zum Broterwerb beitragen. Hiermit stellte sie sich also keineswegs als Anhängsel ihres Partners, sondern als verantwortungsvolle Gefährtin dar und reflektierte diese Rolle auch: Wolle mich nur das Glück so weit begünstigen, das ich noch einige Jahre lang meinen Freund [Friedrich Schlegel] unterstützen könne, so wäre ich gewiß geborgen! […] wie kann man von einem Künstler verlangen, daß er mit jeder Messe ein Kunstwerk liefere, damit er zu leben habe? [...] Was ich thun kann, liegt in diesen Gränzen; ihm Ruhe schaffen und selbst in Demuth als Handwerkerin Brod schaffen, bis er es kann. Und dazu bin ich redlich entschlossen.7

Einerseits geht es hier um einen finanziellen Beitrag zur gemeinsamen Existenz, andererseits zeigt der Inhalt ihres Romans, wie intensiv D. Schlegel sich mit der weiblichen Rolle in der Gesellschaft auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung macht sie auch in Florentin spürbar, da sie den Roman mit durchaus autobiographischen Zügen versieht. Als Vorlage für ihre Titelfigur Florentin bezieht sie sich auf ihren früheren Liebhaber Eduard d’Alton. Zwei Briefstellen belegen die Gemeinsamkeit zwischen dem realen d’Alton und der literarischen Figur.

6 Dorothea Schlegels Brief an Clemens Brentano vom 27.02.1801. Schlegel, Dorothea: Dorothea von Schlegel, geb. Mendelssohn, und deren Söhne Johannes und Philipp Veit, Briefwechsel. Hg. v. Johann Michael Raich. 2 Bde. Bd. 1. Mainz 1881, S. 20. 7 Dorothea Schlegels Brief an Friedrich Schleiermacher vom 14.02.1800. In: KFSA 25, S. 63.

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3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“

1) Friedrich Schlegel erzählt seiner Schwägerin im Frühjahr 1799 von einem Besuch bei Eduard d’Alton: Er [Eduard d’Alton] ist es sehr und auch liebenswürdig. Uebrigens aber was man einen Aventurier nennt. […] [E]r ist von denen, die nie Geduld haben bis ans Ende klug zu seyn. Er ist nun oft nach America […]. Indessen lange wird er wohl nirgens bleiben.8

Es ist kein Zufall, dass Schlegel ihre Titelfigur als einen Reisenden gestaltet. Der Roman Florentin endet mit dem Satz: „Florentin war nirgends zu finden“9, der sich in ähnlicher Form auch in Friedrich Schlegels Brief findet: „lange wird er wohl nirgends bleiben“10. Der Lebensstil Eduard d’Altons, das Immer-Unterwegs-Sein, übernimmt D. Schlegel für ihre Figur Florentin, um das zentrale Thema der Romantik, das Reisen, herauszustellen. Das Reisen entspricht in seiner Flüchtigkeit einem Spiel mit den Rollen und dem Überwinden von Konventionen in Dorotheas Schlegels Leben. 2) Dorothea Schlegel lässt d’Altons Zuneigung zu ihr im Roman nachhallen. 1801 spottet ihre Schwägerin Caroline Schlegel im Brief an ihren Gatten August Wilhelm Schlegel über die Liebesbeziehung D. Schlegels. Besonders lächerlich findet es C. Schlegel, was sie auch mit einer gewissen Herablassung äußert, dass D. Schlegels Liebesbeziehung ausgerechnet durch C. Schlegels Tochter entlarvt wird: Eduard ist der Liebhaber, den Mad. Veit [Dorothea Schlegel] vor einigen Jahren hatte, das Urbild vom Florentin, dessen Portrait sie besaß und dessen Geschichte sie Augusten [Caroline Schlegels Tochter] so überflüssig erzählte. Sie wurde nachher etwas dafür bestraft – jene Zeilen11, die Florentin Julianen zurückläßt, hatte ihr dieser Eduard geschrieben, und da sie mir das Manuscript vorlas, erkannte Auguste sie sogleich.12

Die Liebe d’Altons zu D. Schlegel findet als diejenige von Florentin zu Juliane in den Roman Widerhall. Florentin, im Roman ein adeliger Vagabund, lässt eine

8 Friedrich Schlegels Brief an Caroline Schlegel vom Spätmärz 1799 (ohne Datum). In: KFSA 24, S. 252. 9 Dorothea Schlegel: Florentin. Ein Roman. Hg. v. Wolfgang Nehring. Stuttgart 1993, S. 191. Alle Zitate aus Dorothea Schlegels Florentin werden fortan im Fließtext in Klammern mit Seitenzahl vermerkt. 10 KFSA 24, S. 252. 11 Die Zeilen Florentins an Juliane stammen nach Caroline Schlegel aus einem Billet, welches Eduard d’Alton an Dorothea Schlegel geschrieben hat: „[W]er Sie sieht, wird Sie kennen; wer Sie kennt, muß Sie lieben; wer Sie liebt, kann nie aufhören. Bleiben Sie glücklich!“ Zitat aus: Schlegel, Dorothea: Florentin, S. 156. 12 Caroline Schlegels Brief an A. W. Schlegel vom 06.07.1801. In: Briefe aus der Frühromantik. Hg. v. Georg Waitz und Erich Schmidt. 2 Bde. Bd. 2. Leipzig 1913, S. 185. Auch in: KFSA 25, (Kommentar), S. 593.

3.1 Dorothea Schlegels ‚Tanz in Männerkleidung‘

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Seelenverwandtschaft mit D. Schlegel in ihrer Suche nach Identität vermuten. Als gebildete Frau mit intellektuellem Familienhintergrund sucht D. Schlegel ihren Platz in der Gesellschaft. Dabei spürt sie, wie stark ihr Lebensweg von der Männerwelt bestimmt ist. Sie unterscheidet sich von den zeitgenössischen schreibenden Frauen sowohl aufgrund ihrer jüdischen Herkunft, mit der sie sich in einer christlich dominierten Gesellschaft behaupten muss, als auch wegen ihrer zwei Ehen und der daraus resultierenden Namensänderungen. 13 Auch ihr religiöser Glaube geht Umwege vom Judentum zum evangelischen und katholischen Christentum.14 Diese Frage nach den Erwartungen ihres Umfelds prägen ihren Lebensweg. Von der Suche nach Zugehörigkeit wird auch die Gestaltung der Titelfigur Florentin als „eine Waise und ein Fremdling auf Erden“ (150) vorangetrieben.15 Durch ihn bringt Schlegel die von ihr geteilte „Diaspora des ewigen Juden“16 zum Ausdruck – sie lebt in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld mit moralischen Anforderungen, denen sie nur schwer entkommen kann. Ihre Sehnsucht nach anerkannter Zugehörigkeit und Identität macht sie zum zentralen Thema des Romans.

13 Nachdem sie „endlich von Veit geschieden“ ist, fühlt sich Dorothea Schlegel befreit „von einer langen Sklaverei“ (Dorothea Schlegel Brief an ihren Freund, den schwedischen Diplomaten Gustav von Brinckmann, vom 02.02.1799. In: KFSA 24, S. 223). Eine Scheidung, vor allem wenn sie von einer Frau ausgeht, ist damals noch ein ungewöhnliches und gar sensationelles Ereignis. Dass sie noch einige Jahre in feuriger und romantischer Liebe mit F. Schlegel zusammenlebt, ohne verheiratet zu sein, zählt ebenfalls zu den Skandalen in der damaligen Zeit. Hier ist Dorothea Schlegels Biographie nennenswert. Stern, Carola: „Ich möchte mir Flügel wünschen“. Das Leben der Dorothea Schlegel. Hamburg 1990. Körner, Irmela (Hg.): Frauenreisen nach Italien. Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts beschreiben das Land ihrer Sehnsucht. Wien 2005, S. 51–70. 14 Dorothea Schlegel heiratet Friedrich Schlegel in einer evangelischen Kirche, womit sie sich vom Judentum distanziert. 1809 wird sie allerdings zu einer frommen katholischen Gläubigen. 15 Während alle Familienmitglieder des Grafen Schwarzenberg über eine nachweisbare Herkunft und damit Identität verfügen, ist weder der Familienname noch die Herkunft Florentins bekannt. Sein Identitätsmakel betrifft sowohl seine Herkunft und seinen Namen als auch sein Geschlecht. Seine jugendliche Männlichkeit und die überwältigende Weiblichkeit Clementines und deren Musik erschweren Florentins Selbstfindung noch mehr. Vgl. Hoff, Dagmar: Irrungen und Wirrungen. Konversion und Geschlecht in Dorothea Schlegels „Florentin“. In: Joachim Pfeiffer (Hg.): Widersprüche geschlechtlicher Identität. Würzburg 1998, S. 181–192. 16 Brandstädter, Heike und Katharina Jeorgakopulos: Dorothea Schlegel, Florentin. Lektüre eines vergessenen Textes. Hamburg 2001, S. 69.

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3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“

3.2 Tanz im Wald – Spuren der Selbststimmung In Florentin bilden sich in literarisch transformierter Form Anzeichen von D. Schlegels Identitätssuche ab – wie einige Studien erkannt haben17 – aber auch indirekt in Juliane. Juliane testet die Grenze der Geschlechter aus, indem sie ihren Körper vom Reifrock befreit, der Gesellschaft und ihren Konventionen temporär den Rücken kehrt und in der Natur tanzt. Dadurch gerät sie in einen inneren Konflikt: Sie strebt zwar nach mehr Selbstständigkeit, fühlt sich aber dennoch an die von ihr gesprengten Konventionen gebunden. Dieser Konflikt kommt in Schlegels Darstellung der Tanz-Episode zur Sprache und lädt dazu ein, an der Figur Juliane der Frage nachzugehen, inwieweit bei der Autorin in dieser Schrift bereits feministisches Gedankengut aufkeimt. Sieht man sich die Episode genauer an, so wird deutlich, dass Florentin bereits im ersten Augenblick von Juliane hingerissen ist. Da Juliane, eine Grafentochter, bereits durch familiäres Arrangement mit Eduard verlobt ist, beschränkt sich Florentin darauf, ihre Schönheit und seine Neigung nur in einem Lied auszudrücken. Er singt es in Art eines Monologes, setzt die gepriesene weibliche Schönheit in Bezug zur Natur und kann auf diese Weise nicht nur den unwiderstehlichen erotischen Reiz der Schönen preisen, sondern auch einen verdeckten Besitzanspruch artikulieren: Das Mädchen im leichten Gewand Tanzet den bunten Reihen […] Du blickst dein Verlangen Ihr tief in das Herz, […] Lilien und Rosen, Blüten und Knospen, Alles ist dein. (27)

Der tanzende Körper erscheint Florentin als Naturwerk und weckt durch das verschleiernde leichte Gewand sein Begehren. Julianes Körperteile besingt Florentin als einen entzückenden Strauß voller Lilien und Rosen – eine ebenso romantische wie erotische Vorstellung. Die Blumen konnotieren den Frühling als Symbol des Erwachens und der sinnlichen und lustvollen natürlichen Liebe.

17 Vgl. Hoff, Dagmar: Irrungen und Wirrungen. Konversion und Geschlecht in Dorothea Schlegels „Florentin“. In: Joachim Pfeiffer (Hg.): Widersprüche geschlechtlicher Identität. Würzburg 1998, S. 181–192.

3.2 Tanz im Wald – Spuren der Selbststimmung

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Je intensiver Julianes Schönheit hier beschrieben wird, desto tragischer wirkt Florentins nicht direkt ausgesprochene Liebe. Zugleich aber beansprucht er im Lied auch ihren Besitz – „Alles ist dein“ und imaginiert in der lyrischen Fiktion ihre Zustimmung: „Sie hat Dich verstanden / Und teilet die Glut“ (27). Was hier zunächst nur in der lyrischen Imagination evoziert wird, überträgt D. Schlegel in ihrer Darstellung der Tanzepisode in die narrative Handlung. Juliane erscheint für den Ausflug als ein „leichtfüßige[r] schalkhafte[r] Knabe im Walde“ (152) und trägt einen „geliehenen Wams und kurzen Rock“ (152). Sie geht zwar wie Florentin und Eduard zu Fuß – Anklänge an die Rousseau’schen Naturspaziergänge – aber D. Schlegels Anmerkung lässt sich nicht übergehen: „Da Juliane gut zu Pferde saß, und oft in Männertracht ausreitet, so war sie ihrer nicht ungewohnt, sie ging so leicht und ungezwungen daher, als hätte sie nie eine andere Kleidung getragen“. (44) In welcher Positur Juliane ansonsten auf dem Pferd sitzt, wird im Roman nicht beschrieben, jedenfalls ist ihr sowohl das Reiten als auch das Kleiden in Männertracht offensichtlich nicht fremd. Die Männerkleidung wird ihr beim Reiten ermöglicht haben, wie Männer rittlings zu sitzen, anstatt den für Frauen üblichen Seitensitz zu wählen.18 Der Herrensitz ist in einigen Reiterporträts auch bei Damen dokumentiert und geht mit besonderen Privilegien einher.19 Zu der Frage, ob der Herrensitz bei einer Dame gegen den Anstand verstößt, scheint in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts jedoch kein Regel-

18 Vgl. Wegner, Bärbel und Helga Steinmaier: Von Frauen und Pferden. Zur Geschichte einer besonderen Beziehung. Königstein/Taunus 1998, S. 161. Um 1800 tauchen Diskussionen über Reitkleidung und -positur für Frauen auf. Dabei wird mehr Wert auf die gesundheitlichen Aspekte gelegt und für den Herrensitz plädiert. Der Stallmeister und Reitlehrer Johann Gottfried Prizelius resümiert in seiner Schrift: „Es ist also der Sitz der Mannspersonen der schönste und bequemste, welchen ich meinen schönen Leserinnen empfehle, und aus Ueberzeugung empfehlen muß“. Dass Frauen allerdings überwiegend im Seitensitz reiten, sei der Wunsch der Männer, so Prilius: „Wie mancher Ehemann wünschet seine geliebte Ehegattin neben sich an der Seite zu Pferde zu sehen“. Quelle des Zitats: Johann Gottfried Prizelius: Etwas für Liebhaberinnen der Reiterey. Leipzig 1777, S. 4, 20. Prizelius, Johann Gottfried: Etwas für Liebhaberinnen der Reiterey. Leipzig 1777, S. 4, 20. 19 Unter den Reiterporträts von adeligen Frauen des 18. und 19. Jahrhunderts fallen vor allem einige Bilder der Herrscherinnen von absolutistischen Höfen auf, welche sich sowohl in Männerkleidung als auch im Herrensitz porträtieren lassen, etwa wie Maria Amalia von Sachsen, (Francesco Liani: „Ritratto equestre di Maria Amalia di Sassonia“, 1755. In: Nationalmuseum Capodimonte, Neapel, Inv-Nr. OA 7724). Katharina II. (Vigilius Eriksen: „Equestrian Portrait of Catherine the Great“, 1764. In: Hermitage Museum, St. Petersburg, Inv.-Nr. ГЭ-4734). Marie-Antoinette von Österreich-Lothringen (Louis-Auguste Brun: „Marie-Antoinette, reine de France à cheval“, 1783. In: Schloss Versailles, Paris, Inv-Nr. MV 5718).

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3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“

werk zu existieren. Ebenso war keine Vorschrift zu finden, nach der Frauen unbedingt im Damensitz, also seitlich auf dem Sattel sitzend, zu reiten haben.20 In Deutschland tauchen um 1800 zwar Diskussionen über Reitkleidung und Sattelformen für Frauen auf, aber die Sitz-Positur der Damen bleibt offenbar immer noch den Reitenden überlassen. Dabei wird mehr Wert auf die gesundheitlichen Aspekte gelegt als auf das elegante, vornehme und sittsame Aussehen. Beispielsweise merken 1797 die Herausgeber des Journals des Luxus und der Moden zu einem Artikel über Damen-Reitkleidung an, dass die Sicherheit beim Reiten nicht zu unterschätzen sei: „Es kommt uns nicht zu hier zu entscheiden, welche von beyden Arten zu reiten für eine Dame besser und gesünder sey. Sicher ist ohnstreitig die Teutsche Art, [rittlings zu reiten], wo man des Pferdes mehr mächtig ist.“21 Zwei Jahre später empfiehlt der Sous-Lieutenant am sächsischen Hof, Seifert von Tennecker, in derselben Zeitschrift seinen Reitliebhaberinnen einen ungarischen Sattel, auf dem man eben auch mit gespreizten Beinen sitzt. Dabei kritisiert er die herrschende Mode, nach der sowohl Männer als auch Frauen auf englische Art seitlings reiten.22 Zurück zu Florentin: Ist Juliane als junger Mann gekleidet, so dient ihr dies als erster Schritt zu körperlicher Befreiung. Diese steigert sich noch, als sie in Männerkleidung ohne Reifrock tanzt. Zu diesem Tanz kommt es spontan während ihrer Rast mit Florentin und Eduard im Wald. Dazu nimmt Florentin ebenso spontan seine Gitarre und spielt einen Tanz. Juliane und Eduard lassen sich von der Musik motivieren und drehen sich „in schnellen Kreisen“ (44). Nur auf den ersten Blick führen hier zwei Männer einen schnellen Tanz aus. Julianes Tanz im Männerkostüm unterscheidet sich von einem Maskentanz, in dem die Identität der Tanzenden geheim bleibt, denn ihr durch die Kleidung vorgetäuschter Geschlechtswechsel ist allen Anwesenden bekannt und bedeutet lediglich ein Spiel mit Geschlechterrollen. Zudem zielt ihr Tanz nur auf die eigene Freude ab – er findet jenseits der Gesellschaft in der Natur statt und kann daher keine gesellschaftliche Anstandsregel direkt verletzen. Hat eine derart zarte Auflehnung

20 Der Stallmeister und Reitlehrer Johann Gottfried Prizelius resümiert in seiner Schrift: „Es ist also der Sitz der Mannspersonen der schönst und bequemste, welchen ich meinen schönen Leserinnen empfehle, und aus Ueberzeugung empfehlen muß.“ Es sei der Wunsch der Männer, so Prilius, Frauen seitens eines Pferdes sitzen zu lassen: „Wie mancher Ehemann wünschet seine geliebte Ehegattin neben sich an der Seite zu Pferde zu sehen“. Quelle des Zitats: Prizelius, Johann Gottfried: Etwas für Liebhaberinnen der Reiterey. Leipzig 1777, S. 4, 20. 21 M. R. v.: Aufforderung und Vorschlag zu einer neuen Reitkleidung für Damen. In: Journal des Luxus und der Moden, Juli 1797, S. 362–368, hier S. 368. 22 Tennecker, S. von: Ueber das Reiten der Damen und die nöthigen Bedürfnisse dazu. In: Journal des Luxus und der Moden, 8 (1799), S. 414–424, hier S. 414–417.

3.2 Tanz im Wald – Spuren der Selbststimmung

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gegen die Sitten überhaupt eine weitergehende Bedeutung? Bleibt Juliane nicht lediglich im Rahmen eines Spiels und unterwirft sich ansonsten artig den Regeln, die die Gesellschaft ihr vorschreibt? Im Vergleich zu den zeitgleich stattfindenden politischen Bemühungen um die Emanzipation der Frau, etwa Olympe de Gouges Forderung nach Frauenrechten,23 Mary Wollstonecrafts Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter,24 Emilie von Berlepschs Anspruch auf ein selbstbestimmtes weibliches Leben25oder auch Theodor Gottlieb von Hippels Forderungen nach Bildungsgleichheit,26mag Julianes Moment der Freiheit marginal erscheinen. Bis hin zu grundlegenden Umwälzungen ist es jedoch noch ein weiter Weg, bei dem auch individuelle Emanzipationsversuche zu späteren und mächtigeren Prozessen beitragen konnten. Um 1800 veranlassten solche Momente weiblicher Selbstreflexion zumindest zahllose Debatten der Intellektuellen über eine neue Geschlechterordnung und ermöglichten ein Nebeneinander von entgegengesetzten Meinungen.27 Jeder Fortschritt kann allerdings auch restaurative Reaktion und entgegengesetzte Gedanken provozieren – und zwar nicht nur aus männlicher Sicht. So versuchte beispielsweise Wilhelmine von Wobeser mit dem Roman Elisa oder das Weib wie es seyn sollte (1795), das traditionelle Frauenbild zu bewahren. Dort verabscheut die Titelfigur „jeden Schein von Gelehrsamkeit“28 und erinnert ihre Zeitgenossinnen an „die getreuen Pflichten des Weibes“29 als höchst

23 Als Olympe de Gouges einsieht, dass nur Männer von der Verfassung Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) profitieren, verfasst sie ein paralleles Gegenstück mit dem Titel Die Rechte der Frau (1791), um geschlechterdifferenziert die Rechte der Frauen, vor allem der unehelichen und armen Frauen, zu deklarieren. Dabei kritisiert sie provokativ die männerzentrische politische Macht. Vgl. Bock, Gisela: Bedeutung und Schicksal der Frauenrechtserklärung. In: Olympe de Gouges. Die Rechte der Frau. Déclaration des droits de la femme. Zweisprachige Neuausgabe, mit einer Einführung von Gisela Bock. München 2018, S. 13–15. 24 Vgl. Wollstonecraft, Mary: A vindication of the rights of woman. With strictures on political and moral subjects. Hg. v. Ulrich H. Hardt. New York 1982. 25 Berlepsch, Emilie von: Ueber einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze. In: Wieland, Christoph Martin (Hg.): Der neue Teutsche Merkur, 2 (1791), S. 63– 102, 113–134, hier S. 100 f. 26 Hippel, Theodor Gottlieb von: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber. Berlin 1792, S. 194. 27 Darüber reflektiert Claudia Honegger in ihrer Studie zur neu definierten Frauenrolle um 1800 besonders ausführlich anhand zahlreicher historischer Beispiele. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750–1850. Frankfurt am Main [u. a.] 1991, S. 13–65. 28 Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter, S. 13. 29 Wobeser, Wilhelmine Karoline von [anonym erschienen]: Elisa oder das Weib wie es seyn sollte. Hg. v. Franz Haas. Wien/Prag 1799, S. 12.

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3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“

erstrebenswerten Ruf einer Frau. Parallel idealisiert Friedrich Schiller sein Frauenbild in Würde der Frauen (1796) lediglich als zufriedene Haushälterin und sorgsame Mutter,30 was Friedrich Schlegel „nicht für aufwärts, sondern abwärts“31 hält. F. Schlegel, ein Befürworter der Frauenemanzipation, träumt in seiner Lucinde von einer Ehe, in der die Frau „zugleich die zärtlichste Geliebte und die beste Gesellschaft wäre und auch eine vollkommene Freundin“32, die mit ihrem Mann „von der ausgelassensten Sinnlichkeit bis zur geistigsten Geistigkeit“33 zusammenlebt.34 Dorothea Schlegel scheint der Entwurf Friedrich Schlegels von der Rolle der Frau zu weit zu gehen. Um eine Antwort auf seine Anschauung zu einer idealen Ehe zu geben, greift sie diese Thematik zwar in Florentin auf, aber letztlich ordnen sich ihre Frauenfiguren weiterhin dem männlichen Geschlecht unter. Nur in Julianes Tanz in der Natur hat D. Schlegel eine Ausnahme gemacht und damit eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Qualität tänzerischen Ausdrucks realisiert. Sich von der Konvention zu befreien, gelingt Juliane jedoch nur partiell und bleibt an die männliche Verkleidung gebunden. Die Rückkehr zur Realität als Frau kommt nach ihrem Tanz und betont ihre nun nicht mehr zu verdeckenden weiblichen Merkmale – die langen, üppigen, gewellten Haare: Juliane, erhitzt vom raschen Tanz, lehnte sich an Eduard, ein sanfter Wind, der hoch in den Wipfeln der jungen Birken rauschte, kühlte ihr das glühende Gesicht, und wehte die

30 In der fünften Strophe zum Beispiel stellt Schiller mit einigen Stichwörtern die weiblichen Tugenden heraus und deutet auf die Arbeitsteilung der Geschlechter hin – Frauen für körperliche und Männer für geistige Arbeit: „Aber zufrieden mit stillerem Ruhme, /Brechen die Frauen des Augenblicks Blume/ Pflegen sie sorgsam mit liebendem Fleiss, / Freier in ihrem gebundenen Wirken / Reicher, als er in des Denkens Bezirken, / Und in der Dichtung unendlichem Kreis.“ In: Schiller, Friedrich: „Würde der Frauen“. In: Musen-Almanach für das Jahr 1796, S. 186–192, hier S. 187. 31 KFSA 2, S. 6. 32 KFSA 5, S. 10. 33 KFSA 5, S. 10. 34 Inwiefern das Ehebild in Friedrich Schlegels Lucinde als emanzipatorisch angesehen wird, ist umstritten. Vgl. dazu Weigel, Sigrid: Wider die romantische Mode. Zur ästhetischen Funktion des Weiblichen in Friedrich Schlegels „Lucinde“. In: Stephan, Inge [u. a.] (Hg.): Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Berlin 1983, S. 67–83. Becker-Cantarino, Barbara: ‚Feminismus‘ und ‚Emanzipation‘? Zum Geschlechterdiskurs der deutschen Romantik am Beispiel der Lucinde und ihrer Rezeption. In: Hartwig Schultz (Hg.): Salons der Romantik, Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Berlin [u. a.] 1997, S. 21–44. Daiber, Jürgen: „Schlimm, dass bei uns nur die Wahl zwischen Ehe und Einsamkeit ist“. Romantische Konzepte der Paarbeziehung am Beispiel von Friedrich Schlegels „Lucinde“. In: Thomas Marinec (Hg.): Familie und Identität in der deutschen Literatur. Frankfurt am Main 2009, S. 79–90.

3.2 Tanz im Wald – Spuren der Selbststimmung

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Locken zurück, die in der Bewegung durch ihre eigne Schwere sich von der Nadel losgemacht hatten, und nun bis tief auf die Hüften herabfielen. (45)

Die gelösten Haare verdecken teilweise Julianes Jägerkleidung und umrahmen ihren weiblichen Körper. Sie wird mit ihren Haaren und ihrer Anmut von den beiden Männern wieder nur in ihrer repräsentativen und dekorativen Schönheit wahrgenommen, ja im männlichen Blick kommt ihr feminines Wesen durch ihre Verkleidung sogar noch stärker zum Tragen. Julianes unfrisierte Natürlichkeit, die herabhängenden Haare samt ihrem ,glühenden Gesicht‘ (45) nimmt Eduard als unwiderstehlichen Reiz wahr. Fasziniert und betört von solch natürlicher Schönheit, wagt er eine erotische Annäherung und verrät seine Ungeduld wie auch seine sexuellen Wünsche. Eduard verlor sich ganz im Anschaun ihrer Schönheit, und die Töne der Guitarre, die dazu gesungenen Worte drangen in sein Innerstes. Er drückte Julianen mit Heftigkeit an seine Brust […]. (45)

In diesem Moment singt Florentin wiederum zur Gitarre. Sein Lied mit einer Liebesaussage und der Sehnsucht nach der Geliebten endet mit folgenden Worten: „Für mich ist nirgends Ruh, als wo sie weilt.“ (45) Eduards wollüstiger Drang ist durch Julianes weibliche Züge nach dem Tanz ausgelöst und sodann durch Florentins Gesang noch verstärkt worden. Dabei bleibt Juliane lediglich ein passives Objekt voller rätselhafter Widersprüche: Sie „erschrak“ (45) durch Eduards Erregung, weicht ihm aus, reicht ihm dann aber „beruhigend die Hand, die er mit Küssen“ (45) bedeckt. Julianes Entwicklung wird schließlich durch ihre Abhängigkeit von den Eltern gebremst. Solch ein Ausflug ist keine Selbstverständigkeit für das Frauenzimmer – Nach einigen Verhandlungen erlauben die Eltern höchstens, „Juliane auf ein paar Stunden der Förmlichkeit zu entziehen“ (43). Zugleich wird Julianes Reifeprozess auch durch ihre Abhängigkeit von den Eltern gebremst. Sie kann bei diesem ersten Abenteuer ihre Bindung an die Eltern nicht aufgeben und nimmt deshalb „mit schwerem Herzen von ihren Eltern Abschied“ (43); sie bittet sogar ihren Verlobten Eduard ‚unablässig‘ (151), nach der Hochzeit „noch einige Jahre“ (151) bei den Eltern zu bleiben, weil Juliane, „die Kleine“ (151), sich „nicht entschließen“ (151) kann, gleich nach der Heirat eine selbstständige Frau zu sein. Der Ausflug in der Natur bleibt als Ausnahmezustand, als ,locus amoenus‘ mit „Frühling“, „Vögel[n]“, „Blüten“, „Bäume[n]“ (44) zurück: »Vergangenheit und Zukunft war ihren Gedanken fern, der Wille des Augenblicks war ihnen Gesetz« (44). Die Pointe ist hier, dass Dorothea Schlegel diesen Akt der als ›Tanz im Gras‹ inszenierten Befreiung von Konventionen als temporär episodische Möglichkeit skizziert. Erst im Nachhinein bekommt sie im Zusammenhang mit dem großen gesellschaftlichen Wandel nach der Französischen Revolution eine andere Bedeutung und Einordnung.

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Ein ähnlicher Versuch, als Frau unabhängig und eigenständig wie ein Mann zu sein, schlägt sich auch in der veränderten Arbeitsverteilung von Julianes Eltern nieder. Obwohl Eleonore noch in der Tradition des 18. Jahrhunderts ins „Haus und die innere Ökonomie“ (22) gehört, betont sie dabei jedoch den Charakter einer Selbstverwirklichung. Außerdem zeigt ihr Gatte Graf Schwarzenberg, anders als die „deutschen Väter“ (22) der älteren Generation, seine Bereitschaft, „manche häusliche Sorge [zu] übernehmen“ (22). Die Grenzen zwischen männlicher und weiblicher Arbeit, zwischen sozialem Netz und privatem Haushalt, beginnen im Haus Schwarzenberg bereits zu fließen.35 Frauen unterwerfen sich ihren Ehemännern nicht mehr unwidersprochen, wobei die Hierarchie der Geschlechter noch immer ausgeprägt ist. Eleonore bleibt Untergebene in der patriarchalischen Familienstruktur, aber sie bleibt das freiwillig – so ehrt sie „mit wahrer Religiosität […] das Gemüt ihres Gemahls und alles, was ihm heilig ist.“ (31) Ihre Persönlichkeit ist von der Autorin durchaus mit einigen Klischees für Weiblichkeit versehen. Dazu gehört ihre übertrieben fürsorgliche und mütterliche Reaktion während des Unwetters, als Juliane nicht im Schloss übernachten kann und Eleonore „bei jedem starken Blitz ohnmächtig“ (130) wird. Dorothea Schlegel ist ebenfalls weit davon entfernt, an eine wirkliche Gleichwertigkeit der Geschlechter zu glauben. Der Unterwürfigkeit der Frauen, verklärt als deren geistige Kooperation und gar Fügsamkeit, stimmt sie in ihrem Tagebuch zu: „In einer schönen Ehe ist es notwendig, daß die Frau gerade so viel Verstand besitze, um den des Mannes zu verstehen; was darüber ist, ist von Übel“36. Damit fällt sie hinter das ideal der Ehe Friedrich Schlegels zurück, versucht Ehefrau und zugleich Freundin zu sein, aber an eine gegenseitige Achtung vor allem auf Augenhöhe ist noch nicht zu denken.

35 Die sich im Wandel befindende Rollenverteilung der Geschlechter bei Eleonore und Graf Schwarzenberg ist um 1800 kein Einzelfall. Die Zeitgenossin von Dorothea Schlegel, Margarete Merkel, Frau aus einer kaufmännischen Familie, die sich zur Bildungsbürgerin entwickelt hat, hat ein erfüllendes und kooperatives Verhältnis zu ihrem Mann und ist auch stolz auf ihre Leistung in häuslicher Arbeit und Verwaltung. Margarete Merkel pflegt den Verkehr mit gebildeten Frauen der damaligen Zeit, etwa mit Dorothea Schlegels langjähriger Freundin Caroline Paulus, daher ist ein gegenseitiger Einfluss auf den Lebensstil als Frau durchaus möglich. Mit diesem Beispiel setzt sich Rebekka Habermas ausführlich auseinander. Vgl. Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850). Göttingen 2000, S. 69–92. 36 Wieneke, Ernst (Hg.): Caroline und Dorothea Schlegel in Briefen. Repr. der Orig.-Ausg. [Weimar 1914.] Bremen 2011, S. 352. (Nr. 217. „Aus Dorotheas Tagebuch“).

3.3 Exkurs: Tanzsitten um 1800

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In diesem konventionellen Kontext und in der konfliktvollen Übergangszeit scheint Julianes Tanz umso wertvoller. Obgleich Juliane nicht als emanzipierte Frau betrachtet werden kann, schafft sie doch ein Bewusstsein für die sich andeutenden Entwicklungen in ihrer Zeit. So kann man ihren Tanz als Anzeichen weiblicher Befreiung von den gängigen Normen, oder mindestens als spielerischen Moment und dem Austesten von Konventionen deuten. Noch vor einer wirklichen Befreiung von Konventionen im Leben der Frauen, kann der Tanz, hier zu D. Schlegels Zeit, einen Spielraum bieten, zumindest körperliche und emotionale Wünsche zum Ausdruck zu bringen und eine neue Verhaltensweise zu erproben. Dafür ist ein kurzer Blick auf die Kulturgeschichte des Tanzes hilfreich.

3.3 Exkurs: Tanzsitten um 1800 Die Szene von Julianes Tanz in der Natur ist im Zusammenhang mit der Entwicklung des Tanzes um 1800 zu verstehen. Deshalb ist Julianes Tanz nicht isoliert zu betrachten, sondern im Kontext der Tanzgeschichte und Tanz-Dichtung. Um diese Zeit wenden sich sowohl der Tanz als auch die Dichtung hin zur äußeren und inneren Natur, zum Wald und zum Ausdruck. Dies steht im Gegensatz zur vergangenen Stilisierung in Zeiten des höfischen Barocks. Da in Florentin nur Paartänze ausgeführt werden, aber kein Bühnentanz, richtet sich hier der Blick auf Bälle, auf Tanzformen und Kostüme. Unter allen geselligen Tänzen ragt der ‚Deutsche‘ ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts heraus und spiegelt die Veränderung des Umgangs wider. Bei diesem Paartanz geht es – anders als bei den anderen geläufigen Tänzen wie Menuett und englischem Tanz – weniger um gesellschaftliche Pflichten als um innere Anteilnahme und um die Beziehung der Partner. Auf diesen Aspekt ist bereits im Kapitel zu Goethes Werther eingegangen worden. Immerhin nehmen sich die Frauen das Recht heraus, die Aufforderung zum Tanz absagen zu dürfen, und unternehmen dadurch erste Schritte, um sich einen Tanzpartner nach ihrem Geschmack auszusuchen. Wie eine Frau in einer Tanzstunde mit ihrem Geliebten umgeht, zeigt eine Redoute-Episode um 1800 aus Johann Rauchensteins spaßigen Geschichtssammlungen Grillen- und Seufzerbuch. Für unsere Zeiten eingerichtet (1784). Dort in einer Redoute fühlt ein Mann, der selbst keinen ‚Deutschen‘ tanzen kann, die ganze Wut gegenüber seiner Tanzpartnerin, welche ihn für einen anderen Tanzpartner verlässt, wenn es zum Deutsch-Tanz kommt. Er leidet und seufzt, wäh-

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3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“

rend er mit ansieht, wie sie auf der Tanzfläche „hüpft und springt“37, zusammen mit einem „hirnlose[n] Springer“38, wie ihr all’ dies Ungemach doch lieber ist, als meine Gesellschaft. Sie gestand und betheurte mir ihre Liebe; aber mitten in der Betheurung brach sie ab, und hüpfte davon, weil man anfing Deutsch zu geigen. Warum hat mir doch Natur und Erziehung versagt, gleich einem Bock herum zu springen. Was gilt’s, wenn die Deutschdudeley zu Ende ist, wenn sie sich müde und matt getobt hat, dann wird sie wiederkommen, und mich ihren Einzigen, (wie sie sagt), beym Arm fassen, um im Erfrischungszimmer sich auf meine Kosten abkühlen.39

Der ‚Deutsche‘, der bei Hofe als ungesittet abgelehnt wurde, findet bald seine Verbreitung und Zustimmung. Weil derselbe Tanz bald von verschiedenen Schichten ausgeführt wird, lockern sich dabei die Standesschranken. Mozart hat das im Finale des ersten Akts seines Don Giovanni (1787), zwei Jahre vor der Französischen Revolution, vorgeführt. Dort tanzen drei soziale Gruppen drei Tänze gleichzeitig neben- und vielleicht bald auch miteinander: Menuett, den englischen Tanz/Kontratanz und den ‚Deutschen‘. Obwohl jeder Tanz noch den entsprechenden Status anzeigt – das Menuett steht für den Adel, der Kontratanz für das Bürgertum, der Deutsche für das Volk, signalisiert das Tanzen der verschiedenen sozialen Gruppen eine Sensation, eine Vorwegnahme zur Überwindung der Abgrenzungen verschiedener Schichten. Ähnliche Schilderungen zum Zusammentanzen von Adeligen und Bauern tauchen auch zeitnah in der Literatur auf. Kurz nach der Französischen Revolution plädiert Wilhelmine Karoline von Wobeser in Elisa, oder wie das Weib seyn soll (1795), für eine freundliche Bindung zu ländlichen Leuten, auch wenn sie hinsichtlich der Geschlechterbeziehung die Hausfrauenrolle als weibliche Hauptaufgabe insistiert und ihre Schreibtätigkeit hinter Anonymität verbirgt. In Elisa beteiligt sich die Titelfigur, die Tochter eines Barons, euphorisch an einem Reihentanz mit Bauern unter den Linden. Ihr Verhalten wird sogleich von einem Adeligen namens Herrmann gepriesen: „Ja, nur mit einer schönen, erhabenen Seele konnte man so, wie Sie, mit den Bäuerinnen tanzen“40. Zum zeitgemäßen Traum von

37 Johann Rauchenstein [Pseudonym: Rathsamhausen]: Grillen- und Seufzerbuch. Für unsere Zeiten eingerichtet, 2 Teile, Teil 1. Wien/Leipzig 1784, S. 40 (Nr. 18: „Seufzer eines Liebhabers, der nicht deutsch tanzen kann, in der Redoute“). 38 Johann Rauchenstein [Pseudonym: Rathsamhausen]: Grillen- und Seufzerbuch, S. 40. 39 Johann Rauchenstein [Pseudonym: Rathsamhausen]: Grillen- und Seufzerbuch, S. 41. 40 Wobeser, Wilhelmine Karoline von: Elisa oder das Weib wie es seyn sollte, S. 25.

3.4 „Fest an Fest“ – Tanz als Fessel

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„Freyheit, Gleichheit unter allen Menschen“41 trägt sie statt mit Worten im Tanz durch von ihr erwünschte „Handlungen“42 bei. Im Tanz beginnen Frauen nicht nur, sich gegen die restaurative politische Macht zu wenden, sondern sie lernen ihr Selbstbewusstsein auch durch Tanzkostüme zu zeigen. Längst hat sich seit dem 18. Jahrhundert die Mode verbreitet, in der Natur zu tanzen, aber ein solcher Auftritt, ohne aufwändigen Putz auf einem Fest, gehört um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert zum neuen Wagnis. Caroline Auguste Fischer bietet in ihrem Erstlingswerk Gustavs Verwirrungen (1801) ein Beispiel dafür. Der Titelheld Gustav befindet sich auf einem Ball in einer Menge „nackte[r] Arme, zur Schau ausgestellte[r] Busen, übermäßig zärtliche[r] Augen“43, wundert sich jedoch, dass die Witwe Sophie, „welche weder schön noch jung und beynahe in ein sehr einfaches graues Kleid verhüllt war“44, zum Zentrum der Ballgesellschaft wird. Ihre äußere Erscheinung kommt nicht an die der aufgeputzten Frauen heran, aber ihre innere Ausstrahlung, ihre „Herzensgüte“45 genügt offenbar, um ihr unschlagbare Beliebtheit zu sichern. Veränderungen des geselligen Tanzes zu D. Schlegels Zeit lassen sich daher in drei Aspekten zusammenfassen: – Einzelne Tanzpaare lösen sich von der Tanzgruppe und bahnen sich ihren eigenen Weg; – Das Zusammentanzen der Adeligen mit Bauern kündigt die Lockerung der Statusunterschiede an; – Die Vereinfachung der Ballkostüme unterstreicht eine Verlagerung von äußerlicher Präsentation zu innerer Anteilnahme. Julianes Tanz in der Natur steht ganz im Zeichen obiger Entwicklung. Er befreit den Tanz aus der Starrheit der Paläste zu einer neuen Geborgenheit und Individualität.

3.4 „Fest an Fest“ – Tanz als Fessel Ein Dreiecksverhältnis, wie es in der deutschen Literatur nicht lange zuvor durch Goethes Die Leiden des jungen Werthers ein Muster der Konstellation bildet,

41 Wobeser, Wilhelmine Karoline von: Elisa oder das Weib wie es seyn sollte, S. 8. 42 Wobeser, Wilhelmine Karoline von: Elisa oder das Weib wie es seyn sollte, S. 8. 43 Fischer, Caroline Auguste: Gustavs Verirrungen. Ein Roman, Nachdr. der Ausg. Leipzig 1801. Hildesheim [u. a.] 1996, S. 62. 44 Fischer, Caroline Auguste: Gustavs Verirrungen, S. 61. 45 Fischer, Caroline Auguste: Gustavs Verirrungen, S. 63.

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3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“

gestaltet auch Schlegel in dem Verhältnis zwischen Florentin und dem verlobten Paar Juliane und Eduard. Florentin, der Dritte im Bund, rechtfertigt seine unbeherrschte Liebe zu Juliane mit folgenden Argumenten: „Nur Barbaren können gefühllos bleiben bei solcher Schönheit! Eure Verabredungen [die Verlobung] sollten mich nicht hindern … “ (26) Gleichwohl folgt Schlegel nicht dem klassischen Muster, nach dem eine Frau zwischen zwei konkurrierenden Männern steht. Obgleich Nebenbuhler, werden Florentin und Eduard dennoch innige Freunde. Die Freundschaft zu Eduard ist einer der Gründe, warum Florentins Liebesbeziehung zu Juliane sich nicht weiterentwickelt. Als ein weiteres Hindernis für Julianes Seitensprung gilt der unüberwindbare Unterschied zwischen der Herkunft Julianes und Florentins, den Florentin selbst resümiert: „Ich spüre selbst so etwas! […] Gräfin Juliane, Erbin eines großen Namens […] im Zirkel der feinen Welt schimmernd, der Anbetung von allen, die sie umgeben, gewohnt, und Florentin, der Arme, Einsame, Ausgestoßner“ (117). Juliane ist unbesorgt in einer Familie aufgewachsen, in welcher, dem Anschein nach, „die Achtung der Eltern für die Rechte ihrer Kinder“ (19) selbstverständlich ist. Hingegen musste Florentin als Kind „unter unaufhörlichem Zwang“ (55) seines „gespensterhaften Aufseher[s]“ (55) leben. Während Juliane auch nach der Eheschließung weiterhin im Elternhaus geschützt bleibt, ist Florentin stetig auf der Flucht vor Enge und Bindung. Bevor er die Liebesheirat mit Juliane in Erwägung zieht, muss er sich erstmals mit dem Lebensstil der Familie Schwarzenberg und deren Konventionen auseinandersetzen. Die Häufigkeit des Tanzes und dessen Zweck zählen zu den ersten Schritten des natur- und freiheitsverbundenen Florentin, um Kompromisse einzugehen. Die Tänze im Familienkreis der Schwarzenbergs vergrößern die Kluft in der Entwicklung Florentins und Julianes, da sie den versteckten Dünkel immer deutlicher sichtbar machen. Die erste latente Konfrontation zwischen Juliane und Florentin, die sich auf den Standesunterschied bezieht, ist in der Tanzszene während des Ausflugs zu spüren. Nach dem Tanz kommt das Gespräch zwischen Juliane (Tanzende) und Florentin (Beobachter) auf die Sehnsucht nach Natur. Das Gespräch weist entgegengesetzte Lebenserfahrungen der beiden auf: „[Juliane]: ‚Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase‘ – [Florentin]: ‚Besser und erfreulicher als auf dem getäfelten Fußboden eurer Säle, das ist gewiß.‘“ (44) Mit der Deixis „eurer Säle“ (44) bezieht sich Florentin offensichtlich auf Julianes Familie. Er erkennt sich einerseits als Gast statt als Familienmitglied der Schwarzenbergs, andererseits zeigt er auch eine gewisse Distanzierung zu der künstlich-dekorativen Gepflegtheit, die er mit dem Bedürfnis nach Präsentation oberflächlicher Fröhlichkeit assoziiert. Auf Julianes Seite jedoch entspricht weder ein Ausflug in die Natur noch ein Barfußtanz auf dem Gras dem gewöhnlichen Lebensstil bei ihr zu Hause. D. Schlegel schmückt das adelige Leben

3.4 „Fest an Fest“ – Tanz als Fessel

185

beim Grafen Schwarzenberg mit Geselligkeiten und Präsentationen aus. Fest folgt auf Fest – diese Feste sind sowohl eine Nachgestaltung des adeligen Alltagslebens aus Sicht des Bürgertums als auch Versuche des Adels, die Unsicherheit, die er nach der Französischen Revolution verspürt, durch Vergnügungen zu überwinden. „Ein Vergnügen reihte sich an das andere; Tanz, Musik, Jagd und Spiel wechselte lustig ab, und in der Einsamkeit suchte jeder nur die Ruhe, um sich auf neue Ergötzlichkeiten vorzubereiten.“ (34) Die stetigen Aktivitäten rauben die Zeit zum Alleinsein. Der fehlende Raum ‚zum Nachdenken‘ und der Mangel an Zeit und Muße verhindern, dass sich die künftige Braut Juliane ihrer Gefühle gegenüber Eduard bewusst werden kann. Juliane muss dem Wunsch ihrer Eltern folgen. Schlegel schafft mit dem Dienstmädchen Betty eine Korrektivfigur zu Juliane, was sich auch in ihrem Tanz ausdrückt. Für Betty ist er kein Weg zur Entfaltung, sondern eine Möglichkeit, sich zu betäuben und zu vergessen. Indem sie in eine Partnerschaft mit Walter einwilligt, handelt sie gegen ihr Gefühl. Eben darauf zielen Eleonores Tanzfeste ab. Hinter den stetigen Tanzgelegenheiten verbergen sich offensichtlich die pragmatischen Interessen der Eltern Julianes. Sie erhoffen nämlich einen reibungslosen Übergang von Julianes Verlobung zur Heirat mit Eduard. Genauer gesagt, diese gewünschte Eheschließung dient der finanziellen Absicherung und dem gesellschaftlichen Ansehen dieser adeligen Familie. Wenn Juliane einen Mann aus dem Bürgertum heiraten würde, ginge ihr und allen folgenden Generationen der Status als Adlige verloren. Damit das Geschlecht der Schwarzenberg seinen adeligen Status beibehält und damit ein gesichertes Auskommen hat, wollen Julianes Eltern ihre Tochter mit einem ebenbürtigen Mann verheiraten – Eduard ist der beste Kandidat. Um zu verhindern, dass er die Verlobung nun zurückzieht oder Juliane die Eheschließung ablehnt, werden die beiden von Julianes Eltern durch allerlei Aktivitäten abgelenkt. So macht Eleonore den Zweck der Feste deutlich: „Wir wollen nun alles aufbieten, um ihn (Eduard) seinen neuen Entschluß nicht bereuen zu lassen. Fest soll sich an Fest ketten, und eine Lust die andere verdrängen.“ (151) Im Grunde hat Eleonore Bedenken, dass Juliane Eduard ausschlägt und gar eine Mesalliance mit einem Vertreter niederen Standes eingeht. Der Standesdünkel der Eltern Julianes, die die Tochter für sich vereinnahmen und ihre Ehe als Zeichen des Rangs ansehen, widerspricht einerseits Florentins Eindruck, dass „die Achtung der Eltern für die Rechte ihrer Kinder“ (19) bei der Familie Schwarzenberg verbreitet sei, und zeigt andererseits die Angst dieser adeligen Familie vor dem Verlust von Privilegien, insbesondere durch die Nachwirkungen der Französischen Revolution. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die unterschiedlichen Einstellungen der Familie Schwarzenberg zur Unterschicht. Dorothea Schlegel stellt das sich verändernde Geschlechter-Verhältnis in Zusammenhang mit dem aristokrati-

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3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“

schen Leben in Mischform von Tradition und Progression dar. Die aufgezeigten Einstellungen der Aristokraten lassen sich in vier Stufen klassifizieren.46 1) Am konservativsten ist der Nachbar der Schwarzenbergs, der Obristwachtmeister,47 der alle Reformen zum Vorteil der Bauern ablehnt, dennoch aber ein gutes Verhältnis zu ihnen sucht. Juliane karikiert ihn als Narren, der gerne andere im Stil des Militärs kommandiert, selbst jedoch kaum mit der Verwaltung seiner Güter zurechtkommt. Er lädt zu Festen ein und lässt seine Töchter mit den Bauern tanzen; er isst mit den Bauern, um die Distanz zu ihnen zu verringern, all dies jedoch aus einem einzigen Grund, nämlich, damit sie seinen „Willen tun“ (136) – dies gelingt ihm jedoch nicht. Deshalb hält er seine Bauern für undankbare „Halunken“ (134). Bei aller Widersprüchlichkeit seines Auftretens entspricht er zumindest der Vorstellung von einem Adeligen, der sich seines Standes bewusst ist. 2) Eleonore ist etwas weniger konservativ und befindet sich in einer widersprüchlichen Lage. Hinsichtlich der Planung für Julianes Hochzeit zögert sie, die Bauern einzuladen. Wie sie vermutet, sind die Bauern nur „als Dekoration für die Vornehmen bestimmt“ (138). Sie erkennt zwar die Kluft zwischen beiden Schichten, sieht jedoch keine Lösung. 3) Graf Schwarzenberg hingegen ist ein Befürworter der idealisierten Gleichwertigkeit. Seine offene Haltung zeigt sich auch darin, dass er den ihm unbekannten Florentin, der sein Leben gerettet hat, zum Dank sofort einlädt, ohne nach dessen Herkunft zu forschen. 4) Noch großzügiger als ihr Bruder ist Clementine. Sie schafft in ihrem Bereich die Hierarchie ab, erbarmt sich des einfachen Volks und stellt ihren Garten als öffentlichen Park mit vielen Hütten allen zur Verfügung. Dadurch liefert D. Schlegel eine Utopie, in der keine Revolution nötig wäre, um das Zusammenleben der unterschiedlichen Schichten zu humanisieren.48 Die unterschiedlichen und zum Teil entgegengesetzten Haltungen der oben genannten adeligen Figuren stehen für teils progressive und teils restaurative Be-

46 Siehe Christine Brantners Studie über die soziologische Auseinandersetzung der adeligen Frauen in Florentin mit Bauernschaften im Landleben. Vgl. Brantner, Christina: Frühromantische Frauengestalten in Dorothea Veits Roman „Florentin“ (1801). In: Michigan Germanic Studies, 1 (1991), S. 51–70, hier S. 54–57. 47 Ein militärischer Rang in der Offiziersklasse im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Obristwachtmeister ist zugleich ein Feldwachtmeister bei der Kompanie, der für das Regiment im Feld sowie die Feldwachen verantwortlich ist. Der Obrist untersteht direkt dem Regimentschef und wird als der den höchsten Rang besitzende Feldwachtmeister anerkannt. 48 Nehring, Wolfgang: „Nachwort“. In: Dorothea Schlegel: Florentin, S. 285–324, hier S. 314.

3.5 Fazit

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strebungen nach der Französischen Revolution. Dorothea Schlegel ist im Grunde ihres Herzens wohl eher eine Befürworterin einer progressiven und demokratischen Zeit, dabei kritisiert sie die sinnlosen Auswirkungen der Machtbefugnisse des hedonistischen und egoistischen Adels. In einem Brief an Rahel Levin Varnhagen macht sie aus ihrer Kritik am Adel keinen Hehl: es ekelt einem, für diese sinnlose Macht, und Reichthum, […] Das Land in dem er [Prinz Heinrich von Preußen] launenhaft genug war einen Pallast zu bauen, ist schlecht, rings herum nichts als tiefer Sand und nur die Wege die er betritt, sind durch Aufwand blühend gemacht. Verdammte Aristokratie! Könnte ich mir nicht erwehren auszurufen.49

3.5 Fazit In Florentin werden dem Tanz zwei Funktionen zugeschrieben, die im Gegensatz zueinander stehen. Obwohl Juliane nur einmal im Freien tanzt, bildet dieser Tanz ein starkes Gegengewicht zu den zahlreichen Amüsement-Veranstaltungen auf dem Grafengut der Schwarzenbergs. Julianes Glücksmoment in der Natur sowie ihre Spiel mit dem Ausbruch aus ihren gesellschaftlichen Zwängen sind auf Dauer zu schwach und zu flüchtig. Nach dem Tanz in der Natur wird Juliane wieder zurückgeworfen in den Alltag eines adeligen Lebens. Dabei zwingen sie die Vorbereitungen und die unzähligen Feste für ihre Hochzeit, das einmalige Tanzerlebnis in der Natur und ohne die einschränkende Frauenkleidung zu verdrängen. Bei der Dominanz des aristokratischen Alltagslebens dient der Tanz wieder allein der Präsentation und Zerstreuung. Für Julianes Eltern muss der Tanz die für Juliane geplante Ehe und damit die Familienverhältnisse garantieren. Obwohl die bürgerliche Autorin Dorothea Schlegel das aristokratische Leben nicht nur aus Büchern kennt, sondern auch durch den Austausch mit den Salongästen ihrer Freundinnen wie Henriette Herz und Rahel Levin Varnhagen,50 muss hier berücksichtigt werden, dass sie das restriktive Leben Julianes, eines adeligen Fräuleins, schließlich aus der bürgerlichen Sicht anlegt.

49 Brendel Veits [Dorothea Schlegels] und Henriette Mendelssohns Brief an Rahel Levin vom 13.09.1792. In: KFSA 23, S. 64. 50 Als Dorothea Schlegel noch in der sie nicht zufriedenstellenden Ehe mit dem Bankier Simon Veit gefangen war, betrachtete sie die Veranstaltungen im Salon ihrer Jugendfreundinnen Henriette Herz und Rahel Levin als Mittelpunkt ihres geistigen Lebens. In deren Salons verkehrten Leute mit verschiedenem Rang, weil Bildungsinteresse und die Vertrautheit mit Literatur und Philosophie mehr zählten als sozialer Status. Vgl. Nehring, Wolfgang: „Nachwort“. In: Dorothea Schlegel: Florentin, S. 285–324, hier S. 290.

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3 „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“

Deshalb könnte D. Schlegel in der eingeschränkten Freiheit Julianes bereits einen Konflikt ins Spiel bringen, mit dem sich ebenso die bürgerlichen Frauen der Frühromantik konfrontiert sehen. Neben ihrer Rolle in der Familie wird ihnen die Rolle der Repräsentantin des Hauses gewährt, aber die um 1800 im Adel geläufige Privilegien werden im Bürgertum noch nicht überall zugestanden.51 Gerade wegen seiner Einmaligkeit und Auffälligkeit darf Julianes Tanz in der Natur nicht unterschätzt werden. Trotz – oder gerade wegen – ihrer Männerkleidung verzaubert sie Eduard mit ihrer Anmut und Natürlichkeit. Der kurze und unscheinbare Tanz in der Natur markiert in der Literaturgeschichte des Tanzes ein einschneidendes Erlebnis, welches weibliche Anmut und Wünsche hervorhebt, auch wenn diese nur über den Auftritt in Tanzsälen an die Gesellschaft herangetragen wird: „Es tanzt sich gut auf dem kurzen Grase“ (44). Juliane bleibt ihrem Verlobten Eduard eine fügsame Partnerin und ihrem Vater Graf von Schwarzenberg eine folgsame Tochter. Julianes widersprüchliche Rolle, einerseits temporär selbstständig, andererseits von Männern abhängig, spiegelt Dorothea Schlegels Position in der männlich dominierten Gesellschaft und in ihrer Paarbeziehung wider. Sie vermag sich nicht ohne Hilfe des Ehemanns als Dichterin zu verwirklichen, geschweige denn ihre Arbeit für den Broterwerb zu nutzen. Statt selbst Schriftstellerin zu werden, hilft Dorothea Schlegel nach ihrem ersten Roman Florentin ihrem Mann hauptsächlich bei den Übersetzungen und Revidierungen. Bis zum Tod wird ihr Name in keiner dieser Publikationen genannt.52 Ihre geplante Fortsetzung des Florentin bleibt zum Schluss ein unerfüllter Wunsch. Umso bedeutender sind die ersten zarten Versuche sich durch individuellem weiblichen Ausdruck den Normen zu entziehen, sowohl im Tanz in Florentin als auch in D. Schlegels Schreiben, in ihrem ,Tanz mit der Feder‘.

51 Vgl. Diemel, Christa: Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen, 1800–1870. Frankfurt am Main 1998, S. 48. 52 Mackenthun, Gerald: Dorothea Schlegel und die Poesie des Lebens. In: Elke Pilz (Hg.): Bedeutende Frauen des 18. Jahrhunderts. Elf biographische Essays. Würzburg 2007, S. 63–83, hier S. 74 f.

4 Realität oder Täuschung? Tanz mit einer Puppe in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) Eine Tanzszene zwischen Menschen und Puppen zu entwerfen, hat E. T. A. Hoffmann wohl schon geplant, seitdem er begonnen hat, an Die Automate (1814) zu arbeiten. In diesem Werk lässt er den Protagonisten Ludwig über das Thema ,Tanz zwischen Menschen und Puppen‘ reflektieren. Ludwig äußert seine Vorstellungen zu solch einem Tanz: Ich kann mir es denken, daß es möglich sein müßte, Figuren vermöge eines im Innern verborgenen Getriebes gar künstlich und behende tanzen zu lassen, auch müßte diese mit Menschen gemeinschaftlich einen Tanz aufführen und sich in allerlei Touren wenden und drehen, so daß der lebendige Tänzer die tote hölzerne Tänzerin faßte und sich mit ihr schwenkte, würdest du den Anblick ohne inneres Grauen eine Minute lang ertragen?1

Ein Mensch tanzt mit einem artifiziellen Menschen, der aus Holz besteht. Statt jedoch Freude zu empfinden, müsste er nach Ludwig ein „inneres Grauen“2 verspüren, denn es würde kaum ein Mensch ertragen, eine so intime Verbindung von Leben und ‚Tod‘ beim Tanz herzustellen, um sich mit ‚einer toten hölzernen Tänzerin‘ im gleichen Rhythmus zu schwingen. Dies wäre nichts anderes als ein Tanz mit einem Gespenst, das in diesem Fall menschenähnlich aussieht. Ludwigs Vorstellung in Die Automate wird zwei Jahre danach in Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1816) zu einem realen Erlebnis des Protagonisten Nathanael. Ohne zu erkennen, dass es sich bei der vermeintlichen schönen Frau um eine Puppe handelt, projiziert Nathanael seine Gefühle auf diese und verliebt sich in sie. Erst als er seine Geliebte heiraten möchte und nun einen Glücksmoment erwartet, entdeckt er plötzlich, dass sie nur ein lebloses Stück Holz ist. Seine Begeisterung, einst durch den Tanz hervorgerufen, schlägt im Nachhinein, wie von Ludwig vorhergesehen, sehr schnell in Grauen um. Welche Ignoranz, mit einer Puppe zu tanzen, ohne es zu merken! Jetzt, mit der schlagartigen Desillusion, packt ihn Erschütterung und Wahnsinn. Schließlich sucht er den Ausweg im Suizid. Hoffmann wählt für den Tanz zwischen Nathanael und Olimpia ein bemerkenswertes Umfeld. Nathanael tanzt mit Olimpia auf einem von deren ‚Vater‘, dem Physikprofessor Spalanzani, veranstalteten Ball. Der Tanz ist nicht nur der erste taktile Kontakt des Menschen Nathanael zu der Automatenpuppe Olimpia,

1 Hoffmann, E. T. A.: Die Automate. In: Die Serapionsbrüder. Hg. v. Wulf und Ursula Segebrecht. Frankfurt am Main 2001, S. 418. 2 Hoffmann, E. T. A.: Die Automate, S. 418. https://doi.org/10.1515/9783110759815-011

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4 Realität oder Täuschung?

sondern sogar die erste räumliche Annäherung der beiden. Vor dem Konzert darf sich niemand in die Nähe Olimpias begeben, Nathanael kann sie nur durch ein Fernrohr aus der Ferne betrachten. Dieses Fernrohr übt die Funktion der Täuschung aus, sodass er eine lebendige Frau sieht. Erst beim Tanz kann Nathanael Olimpia zum ersten Mal aus der Nähe beobachten. Hierbei fällt auf, dass er seine Tanzpartnerin beim Tanzen ohne das Fernrohr, das Hoffmann als ‚Perspektiv‘ bezeichnet, ins Auge fasst. Er hätte mit dem Perspektiv die Gelegenheit gehabt, Olimpia als Puppe zu identifizieren. Statt sie jedoch aufgrund der räumlichen Nähe als Automat zu erkennen, soll sich Nathanaels Liebesempfinden in dieser Geschichte zu irrationaler Anbetung steigern. Da Olimpia als Automat präzise dem Takt folgt, unterwirft sich Nathanael dieser aus seiner Sicht himmlischen Frau. Die Täuschung von Nathanaels Wahrnehmung im Tanz, ebenso wie diejenige, die durch den Gebrauch des Fernglases entsteht, ist in dem folgenden Kapitel ein zentrales Thema. Der Tanz könnte hier der Funktion des Fernglases entsprechen, um die Realität magisch zu verändern. Das Tanzen beeinflusst offensichtlich seine Wahrnehmung – der Tanz überschreitet die Grenze von der realen Welt zur irrealen und erschafft für Nathanael einen nebulösen Raum, in dem seine Wünsche durch Olimpia, in der sich seine Idealvorstellung von einer Frau widerspiegelt, das entsprechende Echo finden. Umso stärker wird Nathanael nun desillusioniert. Als er Olimpia als Puppe erkennt, ist er einerseits enttäuscht; andererseits sieht er seinen Irrtum – voller Verzweiflung – quasi als Schande an für einen Studenten wie ihn, der über eine wissenschaftliche Auffassungsgabe verfügt. Ab jetzt ist er Gefangener seines Wahns. Der einst glückliche Tanz wird nun in seinem Wahn zum makabren ‚Puppentanz‘. Er stößt mehrmals die Worte aus: „Holzpüppchen, dreh dich!“ – Er durchlebt nochmals den Tanz zwischen ihm als Lebendem und einer leblosen Puppe, und sein Grauen hallt nach. Es wird noch schlimmer. Als Nathanael durch das Fernglas seine Verlobte Clara erblickt, identifiziert er sie fälschlich als Puppe. Dafür versucht er sich zu rächen, indem er Claras Körper manipuliert, als ob er eine Puppe steuern würde. Offenbar hat der Automat als Motiv des Automaten bei Hoffmann eine besondere Relevanz. Bevor der Sandmann ausführlicher analysiert wird, sollen zunächst die naturwissenschaftlich-technischen Erzeugnisse in Form von Automaten erläutert werden, die um das Jahr 1800 entwickelt wurden, um das Automatenmotiv im historischen Kontext zu verorten. Danach erfolgt ein Rückblick auf die Begegnung Nathanaels mit Olimpia, wobei wir besonders darauf achten werden, wie Nathanael stufenweise der auf Olimpia projizierten Liebe verfällt und wie der Tanz seine Wahnvorstellung schließlich zum Höhepunkt treibt, während ‚das Perspektiv‘, das Fernrohr, ihn zu einem imaginären skurrilen ‚Puppentanz‘ verleitet. Dass Tanz neben dem Automatenmotiv und dem ,Perspektiv‘ eine bedeutende Rolle

4.1 Konstruktion eines Automaten um 1800

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spielt, findet ebenfalls in Oper- und Ballettstücken nach Der Sandmann Bestätigung, worauf zum Schluss dieses Kapitels eingegangen wird.

4.1 Konstruktion eines Automaten um 1800 Die Automatenpuppe Olimpia in Der Sandmann ist menschenähnlich konstruiert. Dadurch wird sie optisch zu einem vertrauten Wesen und ist technisch sogar in der Lage, sonst nur Menschen mögliche künstlerische Fertigkeiten zu präsentieren. So vermag sie die Gesellschaft zu täuschen. Solche Wirkung einer Automatenpuppe beruht auf einem kulturell-geschichtlichen Hintergrund, als die Automaten-Herstellung ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen Aufschwung erlebt. Die Idee, ein menschenähnliches künstliches Wesen herzustellen, ist ein alter Traum der Technik, der bereits Künstler in der Antike und Renaissance bewegt hat und sich heute in Robotern mit künstlicher Intelligenz wiederfindet. Die Ergebnisse der Bemühungen, künstliche Menschen zu erschaffen, reichen von Statuen der Antike bis zu Robotern mit künstlicher Intelligenz in der Gegenwart. Das Ziel, den Menschen auf unterschiedliche Art abzubilden, beschäftigt nicht nur Künstler, die Statuen erschaffen, und Naturforscher, sondern auch Philosophen, die sich mit dem Unterschied zwischen Tier, Mensch und Maschine befassen. Einige Automatenhersteller wurden zum Beispiel bei ihren Experimenten von dem aufklärerischen Philosophen René Descartes inspiriert. Descartes hat in seinem Discours de la méthode (1637) die Vorstellung entworfen, es sei durchaus möglich, Automaten mit Elementen auszustatten, die mit Muskeln, Nerven und Blutgefäßen zu vergleichen sind, so dass sie sich bewegen können wie Menschen und Tiere. Allerdings Automaten zu konstruieren, die mit menschlicher Vernunft und Reflexion ausgestattet sind und menschliche Interaktionen auf der verbalen Ebene durchführen können, sei hingegen kaum realisierbar. Descartes differenziert hier zwischen Mensch und Tier und auch gefühllosen Automaten. Danach besäßen nur Menschen Sprachfähigkeit und Vernunft, gerade hierin liege der Unterschied zwischen Menschen und Tieren und Maschinen.3

3 So René Descartes in Discours de la méthode: „au lieu que s’il y en avoit qui eussent la ressemblance de nos corps, et imitassent autant nos actions que moralement il seroit possible, nous aurions toujours deux moyens très-certains pour reconnoître qu’elles ne seroient point pour cela de vrais hommes […]. Car, au lieu que la raison est un instrument universel qui peut servir en toutes sortes de rencontres, ces organes ont besoin de quelque particulière disposition pour chaque action particulière; d’où vient qu’il est moralement impossible qu’il y en ait assez de divers en une machine pour la faire agir en toutes les occurrences de la vie de même façon que notre raison nous fait agir.“ In: Descartes, René: Essais philosophiques. Suivis de la

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4 Realität oder Täuschung?

Diese Behauptung veranlasst seine Zeitgenossen sowie spätere Generationen, sie in der Praxis der Automatenherstellung zu überprüfen, um sie entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. Somit erlebt die Automatenherstellung nach Descartes’ Abhandlung im 17. und 18. Jahrhundert ihre Blütezeit. Die meisten Automatenhersteller sind von Beruf Mechaniker, die ihren Automaten Triebfedern einpflanzen, um die Fortschritte der Physik und der Mechanik zu demonstrieren. Stellvertretend sind hier die Automatenhersteller Jacques de Vaucanson und die Schweizer Uhrmacherfamilie Jaquet-Droz (Vater Pierre und Sohn Henri-Louis) nennenswert, weil ihre Automaten im ersten Augenblick vortäuschen können, sie könnten eine menschliche Tätigkeit ersetzen. Vaucanson und sein Nachfolger Jaquet-Droz bauen hauptsächlich Automaten, die 1) anatomisch den menschlichen Proportionen entsprechen, 2) optisch der gesellschaftlichen Mode entsprechend gekleidet sind, 3) Tätigkeiten im künstlerischen Bereich präsentieren. Vaucansons berühmteste Automaten, ein Flötenspieler und eine Tamburinspielerin, haben die Mode der Musikautomaten ausgelöst. Die auf Vaucanson folgende Generation, die Uhrmacher-Familie Jaquet-Droz, beeindruckt nicht nur ihre Vorgänger mit ihren Automaten, sondern präsentiert ihre Ergebnisse auch auf einer Europatour. Ihre Uhren und Automaten finden auch Käufer in Asien, und im Jahr 1785 begeistern sie den chinesischen Kaiser Qianlong mit einem singenden Vogel.4 Wie in Abb. 12 zu sehen, sind die drei bekanntesten Automaten von Jaquet-Droz Darstellungen von Künstlern. Eine Automaten-Musikerin sitzt zwischen zwei anderen Automaten, einem Schriftsteller und einem Maler. Die singende Musikerin darunter könnte ein Vorbild für Olimpia in Der Sandmann sein – deren „Bravour-Arie mit heller, beinahe schneidender Glasglockenstimme“ (38) vermag der Leser sich hier vorzustellen. Hoffmann ist ein großer Liebhaber von Puppen- und Marionettensammlungen. In seinen Schriften präsentiert er sich daher als Kenner. Ein Zeitgenosse Hoffmanns, der dänische Schriftsteller Adam Oehlenschläger, bezeugt Hoffmanns Interesse an Puppen, vor allem auch sein Interesse an Hoffmanns Erzäh-

Metaphysique de Descartes. Hg. v. Louis Haumann. Brüssel 1832, S. 132 f. Allerdings werden solche aufklärerischen Gedanken in der deutschen Romantik neu reflektiert. Die Romantiker suchen in Tieren das Menschenähnliche, bewundern übermenschliche Fähigkeiten der Tiere, gehen nicht mehr von einer Überlegenheit der Menschen aus. Als die Romantiker Tierfiguren gestalten, sehen sie weniger das rivale Verhältnis zwischen Menschen und Tieren. 4 Bei dieser Automatikuhr sagt ein Vogel aus Kupfer die Uhrzeit an, indem er melodisch zwitschert und seine Flügel und seinen Schwanz wie im Flug bewegt. Diese Uhr. die in Form eines Käfigs gestaltet ist, befindet sich heute im Kaiserpalast-Museum Peking. Die aus der Hand Jaque-Droz’ stammende Automatikuhr ist unter dem Namen von dessen Händler, dem britischen Uhrmacher James Cox, registriert. Siehe: Sammlung der ausländischen Uhren im Kaiserpalast-Museum. URL. https://www.dpm.org.cn/collection/clock/232428.html (20.07.2021).

4.1 Konstruktion eines Automaten um 1800

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Abb. 12: Anonym: Jaquet-Droz präsentiert seine Automaten am Hof Louis XV. In: Scientific American, 16.04.1903, Vol. 88, S. 8.

lungen über Puppen, als er diesen ein Jahr später nach dem Erscheinen von Der Sandmann in Berlin besucht: Denk Dir mein Entsetzen, als ich einen kleinen schwarzen Teufel sich über meine Schulter beugen sehe, mit Hörnern an der Stirn und der roten Zunge aus dem Halse. Es war nämlich eine Marionettenpuppe, die Hoffmann gekauft hatte (er hat einen ganzen Schrank voll), und mit der er nun manövrierte, um mich mitten in einer grausigen Geschichte zu erschrecken.5

Trotz seiner Vorliebe für Marionetten steht Hoffmann der technischen Entwicklung von Automaten skeptisch gegenüber. Zu Hoffmanns Zeit gibt es längst zahlreiche Automatenhersteller, die Musikautomaten hergestellt haben, um den großen Bedarf an Belustigung zu erfüllen. Allerdings zweifelt er daran, ob

5 Adam Oehlenschlägers Brief an seine Frau vom 04.09.1817. In: Friedrich Schnapp (Hg.): Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. Eine Sammlung. München 1974, S. 417.

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4 Realität oder Täuschung?

Musik- oder Tanzautomaten in der Lage sind, eine vergleichbare Kunst wie die von Menschen ausgeübte zu liefern.6 Obwohl die Musikautomaten Melodien nach dem Prinzip einer Spieldose wiedergeben, sind sie nicht wie der Mensch in der Lage, durch das Musizieren Gefühle auszudrücken. Hoffmann äußert seine Abneigung gegenüber der künstlichen Musik in Die Automate. Er diagnostiziert das Zeitphänomen und lässt den Physikprofessor „die berühmte Vaucansonsche Maschine“7 kopieren. Hingegen lässt er den Studenten Ludwig das zeitgenössische Streben der Mechaniker nach Automaten, deren musikalische Tätigkeiten den Menschen möglichst nahekommen, missbilligen. Eine „einfache Drehorgel, die im Mechanischen nur das Mechanische bezweckt“ 8 , ist ihm „immer noch lieber, als der Vaucanson’sche Flötenbläser und die Harmonikaspielerin“9. Die Puppen aus der Feder Hoffmanns, meist lebendig wirkende Figuren, die aber durch ihre Künstlichkeit und Starre auf Menschen schauerlich und magisch wirken, sind mit ironischer Couleur versehen. Dieses Phänomen schlägt sich neben in Hoffmanns Der Sandmann noch etwa in Die Gelübde (1817) und Das fremde Kind (1819) nieder. Im Sandmann bewegt sich eine Automatenpuppe auf dem Ball, besucht „mit Glück“ (46) den Teezirkel, sodass „kein Mensch“ (46) merkt, dass statt „der lebendigen Person“ (46) ein Automat in die Gesellschaft ‚einschwärzt‘ (46). Hier ist Hoffmanns Gesellschaftskritik spürbar: Der Umgang miteinander in der Gesellschaft beruht lediglich auf Oberflächlichkeit und äußeren Regeln, sodass niemand Olimpia als Puppe erkennt und Nathanael später als Kranker abgetan wird, der in eine Wahnvorstellung geraten ist.10 6 Hoffmanns Zweifel an Kunst ausübenden Automaten sind bis heute ein wichtiges Thema in der Diskussion über die Grenzen der künstlichen Intelligenz. 7 Hoffmann, E. T. A.: Die Automate. In: Die Serapionsbrüder. Hg. v. Wulf und Ursula Segebrecht. Frankfurt am Main 2001, S. 419. 8 Hoffmann, E. T. A.: Die Automate, S. 419. 9 Hoffmann, E. T. A.: Die Automate, S. 419. 10 Roland Innerhofer und Katharina Rein wiesen beide auf die explizite Kritik Hoffmanns an der bürgerlichen Wohlanständigkeit hin, die ebenso langweilig und starr erscheint wie die Mechanik. Lediglich Nathanael behält noch das warme „poetische Gemüt“, das die gefühlvolle Emotionswelt kennzeichnet. Der sich in der Gesellschaft einsam fühlende Nathanael befindet sich in der gleichen Situation wie Hoffmann. Ein Indiz dafür äußert Hoffmann im Gespräch mit dem Leser: „Mich hat, wie ich es dir, geneigter Leser! Gestehen muß, eigentlich niemand nach der Geschichte des jungen Nathanael gefragt“ (Der Sandmann, 26). Vgl. Innerhofer, Roland: „Da packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen“. Demarkationslinien zwischen Schauerliteratur, Phantastik und Science-Fiction am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns „Sandmann“. In: Clemens Ruthner (Hg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen 2006, S. 119–133, hier S. 124. Rein, Katharina: Angst vor dem Erblinden.

4.2 Nathanaels erster Blick auf Olimpia und der (Augen-)Blick

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4.2 Nathanaels erster Blick auf Olimpia und der (Augen-)Blick Nathanaels erster Blick auf Olimpia könnte der eines Voyeurs sein. Er wird zufällig Nachbar des Professors Spalanzani. Ebenfalls durch Zufall gewahrt er im Treppenhaus bei Spalanzani, dass die Gardine, welche sonst eine Glastür zum Treppenhaus verdeckt, nun einen Spalt geöffnet ist. Seine Neugier treibt ihn, durch den Spalt „durchzublicken“ (25). Er sieht ein „im reinsten Ebenmaß gewachsenes, herrlich gekleidetes Frauenzimmer“ (25), nämlich Olimpia, und erfährt, dass sie angeblich die Tochter des Professors Spalanzani sei. Nathanaels heimlicher Blick entspricht der brennenden Neugier, mit der er die Identität des ‚Sandmanns‘ und dessen Unternehmen mit dem seines eigenen (Nathanaels) Vaters erfahren möchte. Auf ähnliche Weise hat Nathanael als Kind heimlich durch eine Gardine geschaut, „den Kopf lauschend hervorgestreckt“ (16). Zwischen dem Belauschen in der Kindheit und demjenigen im Erwachsenenalter gibt es allerdings einige entscheidende Unterschiede. 1) In der Kindheit hat Nathanael beim Belauschen erfahren, der ‚Sandmann‘ sei der unfreundliche Advokat Coppelius, mit dem sein Vater heimlich alchemistische Versuche betrieben hat. Hingegen bekommt der erwachsene Nathanael bei der zweiten Belauschung Spalanzanis keine Information über den Hintergrund des ‚Frauenzimmers‘. 2) Während Nathanael beim ersten Belauschen wildes Entsetzen erfasst hat, ihn „Menschengesichter […] ohne Augen“ (17) schockiert haben, bewirkt das Frauenzimmer Olimpia als der Gegenstand der zweiten Belauschungsszene nichts von alledem. Nathanael sieht nun, ohne irgendwelche Folgen zu erwarten, ‚das Ergebnis der alchemistischen Versuche‘. Einzig Olimpias Augen fallen ihm auf, denn sie haben „etwas Starres […]“, als ob sie keine „Sehkraft“ (25) hätten. Die Augen wirken auf ihn „unheimlich“ (25). Das Hervorheben von Olimpias Augen kann als Motiv bewertet werden, das sogenannte Augenmotiv, das als Leitmotiv die gesamte Erzählung durchzieht. Es weist einerseits auf Nathanaels Kindheitstrauma durch den Verlust seiner Augen auf magische Weise hin und deutet andererseits die heimliche Verbindung zwischen Olimpia und Nathanael an – Coppelius hat Nathanaels Augen auf magische Weise gestohlen und verwendet sie nun für seine Puppe Olimpia. Die verschiedenartigen Augen der Protagonisten dienen sowohl als Deutung für ihren Charakter als auch für die Konstellation der Figuren, die sich grob jeweils in eine Gruppe mit Aggressivität und mit Passivität unterteilen lassen.

Die Bestrafung der Onanie in E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. In: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Literatur im Dialog, 14 (2010), S. 7–10, hier S. 8.

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Gruppe mit Aggressivität Coppelius/Coppola und Spalanzani gehören zu der aggressiven Gruppe. Sie führen zusammen mit alchemistischen und mechanistischen Versuchen zugleich ein ‚Experiment‘ durch, um herauszufinden, ob sich die Gesellschaft durch eine leblose Puppe täuschen lässt. Um Nathanael zu verlocken, der Liebe zu Olimpia zu verfallen, sind die Augen der drei Figuren dieser Gruppe in ihrer Voraussagefunktion wichtig. 1) Coppelius besitzt „ein paar grünliche Katzenaugen“ (15), die „stechend hervorfunkeln“ (15), und graue Augenbrauen. Die Farbe seiner Augenbrauen, grau, findet sich in seinem Rock wieder, welcher Unscheinbarkeit und Unheimlichkeit, aber auch undefinierbare Faszination ausstrahlt.11 2) Coppelius’ Doppelgänger Coppola ist nur „anders gekleidet“ (20). Seine Aggressivität wird mittels künstlicher Augen hervorgehoben. Er bietet Nathanael unzählige künstliche Sehhilfen wie Brillen oder Ferngläser an, die Nathanael zum Entsetzen treiben. Statt ‚Fernglas‘ benutzt Hoffmann im Sandmann das Wort ‚Perspektiv‘, das Ähnlichkeit mit dem Wort ‚Perspektive‘ besitzt. Das Wortspiel deutet darauf hin, dass sich eine bestimmte ‚Perspektive‘ ergibt, wenn Nathanael durch das Fernglas schaut. Im Verlauf der Handlung werden Coppelius und Coppola für Nathanael zu unheilschwangeren Figuren, und zwar nicht nur für seine Gefühlswelt, sondern auch für sein Alltagsleben. Coppelius verursacht indirekt den Tod von Nathanaels Vater. Die biedermeierliche Familienidylle, in welcher der Vater abends „wunderbare Geschichten“ (12) erzählt, wird dadurch verdorben. Coppola hingegen zerstört die bürgerliche Liebesbeziehung zwischen Nathanael und Clara. Clara wird anfangs durch Nathanaels falsches Sehen, das durch Coppolas ‚Perspektiv‘, das Fernrohr, verursacht wird, im Vergleich zu Olimpia uninteressant. Hat Coppelius dem kleinen Nathanael die Augen auf magische Weise „gestohlen“ (45), so bekommt der erwachsene Nathanael von Coppola ein Ersatzauge. Dabei handelt es sich jedoch um ein täuschendes Auge (das Perspektiv), durch welches er sich noch mehr von der Wirklichkeit distanziert. 3) Coppelius’/Coppolas ‚Mitarbeiter‘, Spalanzani, hat ein Gesicht mit „kleinen stechenden Augen“ (24). Mit diesem Blick verführt er Nathanael ohne Rücksicht dazu, seine ‚Puppentochter‘ zu lieben. Nathanael ist für ihn nichts weiter als ein Objekt in dem Experiment. Spalanzanis Augen strahlen eine solche Bedrohung aus, dass sich Nathanael ihm dadurch ergeben muss.

11 Vgl. Waldow, Stephanie: Zur Ethik des Phantastischen. E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. In: Moritz Baßler (Hg.): (Be-)richten und Erzählen. Paderborn 2011, S. 109–124, hier S. 118.

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Durch Passivität auffällige Gruppe Der Gruppe hingegen, die ein passives Verhalten zeigt, sind Clara und Olimpia zuzuordnen, obwohl deren Augen im ersten Augenblick im Kontrast zueinanderstehen. Gemeinsam ist ihren Augen aber, dass sie statt erkennbarer Bedrohlichkeit eine Fläche darstellen, entweder zur Widerspiegelung (Clara) oder zur Projektion (Olimpia). 1) Claras Augen sind klar. Der Erzähler vergleich sie „mit einem See, der […] der reichen Landschaft ganzes buntes, heitres Leben spiegelt“12. Sie strahlen etwas Organisches, Kommunikatives aus, das Claras Charakter auszeichnet. Darüber hinaus weist ihr Name phonetisch auf das Adjektiv ‚klar‘ hin und verweist dann wiederum auf Leibniz’ „cognitiv clare“, auf den aufklärerischen Vernunftgedanken und das Vermögen der sachlichen Analyse.13 2) Olimpias Augen sind hingegen trüb. Die Wirkung ihrer Augen, „als schliefe sie mit offenen Augen“, ist nichtssagend (25).14 „Stundenlang“ (43) sieht „sie mit starrem Blick unverwandt dem Geliebten ins Auge“ (43). Da Glasaugen sich nicht bewegen und keine Gefühle haben, eignen sie sich nicht als ‚Fenster der Seele‘. Olimpias Augen vermögen nichts auszudrücken und geben auch nichts vom Charakter preis. Gerade deshalb bieten sie eine willkommene Projektionsfläche. Auf sie projiziert Nathanael sein ideales Frauenbild. Noch erschüttert Nathanaels erster Eindruck von Olimpia kaum seine Treue zu seiner Verlobten Clara. Er behält sie als „holdes Engelbild“ „im Herzen“ (34), 12 Hoffmann, E. T. A.: Sandmann. In: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 3. Nachtstücke. Hg. v. Hartmut Steinecke. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2009, S. 28. Alle Zitate aus der gleichen Ausgabe werden im Fließtext mit Seitenzahl in Klammern vermerkt. 13 Vgl. Košenina, Alexander: Die dunkle Macht in uns: „Der Sandmann“ als medizinische Fallgeschichte. In: Oliver Jahraus (Hg.): Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. Stuttgart 2016, S. 197–211, hier S. 198. 14 Cheng Lin hat sich in ihrer Dissertation intensiv mit dem Puppenmotiv befasst und anhand der Theorie eines japanischen Roboter-Technikers, Masahiro Mori, die Theorie des „unheimlichen Tals“ (des „Uncanny Valley“) begründet, die erklärt, warum manche Puppen auf Menschen unheimlich und grausam wirken. Diese Theorie ist im Jahr 1970 mit der Veröffentlichung des Essays von Mori The Uncanny Valley entstanden. Darin entwarf er einen „Uncanny-ValleyParameter“, welcher erwies, dass die Menschenähnlichkeit der künstlichen Figuren ab einer bestimmten Stufe furchterregend wirkt. Wenn ein künstlicher Mensch den Menschen ähnlich ist, fühlt man sich ihm zu Anfang nahstehend und wohlvertraut. Nimmt die Ähnlichkeit stetig zu, fällt das vertraute Gefühl bei Menschen ab einem bestimmten Grad plötzlich ab. Das Vertrauen in den Androiden verwandelt sich sodann in das Gefühl der Bedrohung, das hier auch Olimpia hervorruft. Vgl. Cheng, Lin: Das Unheimliche der Puppe in der deutschen Literatur um 1800 und um 1900. Würzburg 2018, S. 57.

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während ihm Olimpia neben gelegentlicher Bewunderung die meiste Zeit über gleichgültig ist. Ab und zu blickt Nathanael „nach der schönen Bildsäule, das war Alles“ (34). Am Anfang nimmt er Olimpia nur als einen schönen Gegenstand wahr, um seine Neugier zu befriedigen. Seine Empfindung gegenüber Clara und Olimpia verkehren sich in gegenteiliger Richtung, nachdem er von dem Wetterglashändler Coppola ein Perspektiv erworben hat. Der Glashändler Coppola, dessen Name von Hoffmann sicher nicht zufällig gewählt ist und an „Coppo“ in der italienischen Sprache, Augenhöhle, erinnert, erscheint vor Nathanaels Haustür, und zwar ausgerechnet in dem Augenblick, als Nathanael seiner Verlobten einen Brief schreiben will. Da seine Gesichtszüge dem ‚Sandmann‘ Coppelius ähneln, erschrickt Nathanael, und bei Claras therapeutischen Versuchen steigert sich seine Furcht noch. Diesen Zeitpunkt gestaltet Hoffmann als einen unterschwellig angekündeten Wendepunkt. Durch das Perspektiv gelingt es Coppola, den Handel erfolgreich abzuschließen.15 Aufgrund eines technischen Mangels ist es zwar durchaus möglich, dass die Abbildung Olimpias verzogen oder makelhaft ist, aber das Komische liegt darin, dass Nathanaels physisches Sehen durch die künstlichen Linsen des Fernglases nicht verbessert wird, sondern zu einem neuen Problem führt.16 Die Vergrößerung des Bildes durch die Sehhilfe bedeutet zugleich den Verlust von Nathanaels natürlicher Sehfähigkeit, sogar von seiner Auffassungsgabe. Olimpias Gesichtszüge werden ihm durch das Perspektiv nicht nur zum ersten Mal auf magische Weise verändert, sondern ihr Blick bekommt auch etwas Lebendiges. Außerdem werden Clara und Olimpia miteinander vertauscht – was natürlich und was künstlich ist, ist nun austauschbar. Clara als Naturmensch wird von Nathanael als ‚lebloser Automat‘ bezeichnet, weil sie seine Dichtung mit unheimlichem Inhalt für Unsinn hält. Hingegen bannt ihn die Puppe Olimpia mit „unwiderstehlicher Gewalt“ (40). Seitdem er durch das

15 Coppola bietet Nathanael Gläser an, die er mit italienischem Akzent als „sköne Oke“ (schöne Augen) bezeichnet. Darunter sind Brillen, Lorgnetten und Perspektive, die im 18. Jahrhundert bereits als Sehhilfe fungieren. Da solche Gläser im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht durch Fabriken hergestellt werden, haben sie unterschiedliche Qualitäten und bilden die Umgebung unterschiedlich scharf ab. Normalerweise verkauft ein Wetterglashändler, der eigentlich Barometer anbietet und ständig den Wohnort wechselt, auch Brillen. Vgl. Brandes, Peter: Optische Täuschungen. Zur Ordnung von Wissen und NichtWissen in „Der Sandmann“. In: Oliver Jahraus (Hg.): Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. Stuttgart 2016, S. 123–137. 16 Vgl. Calian, Nicole: „Bild – Bildlichkeit, Auge – Perspektiv“ in E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. In: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch. Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft, 12 (2004), S. 37–51, hier S. 43.

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Perspektiv in Olimpia eine lebendige Frau entdeckt, besser gesagt, auf sie projiziert hat, verschwindet das ehemalige „holde Engelbild“ (11) Clara. Stattdessen geht Olimpia als ein „herrlicher Liebesstern“ (40) auf. Ist Olimpia wirklich ein Liebesstern, wie Nathanael schwärmt? Im Gegensatz zum Engelsbild, das bei Tageslicht erscheint, lässt sich der Begriff ‚Liebesstern‘ mit einer nächtlichen Naturszene assoziieren. Diese Assoziation deutet dann die unheimliche Seite Olimpias und deren indirekte Kohärenz zu ihrem ‚Hersteller‘ Coppelius an – Coppelius kommt zu nächtlicher Stunde zu Nathanaels Familie, verursacht bei Nathanael nächtliches Erinnern, das von Erschrecken geprägt ist, und hinterlässt bei ihm eine grausame Erinnerung. Der Grundton des Nächtlichen und Dunklen hat bei Coppelius einen bedrohlichen Klang, wirkt jedoch bei Olimpia entzückend, geheimnisvoll und scheinbar gefahrlos. Diese Bedeutung ‚des Nächtlichen‘ lässt sich in Hoffmanns acht Geschichten in Nachtstücke, in denen Der Sandmann als die allererste steht, feststellen. Da die Nachtzeit dem Mythischen nahesteht, scheinen die Fantasiegeschichten, die in Nachtstücke sonderbare Geschehnisse der Nacht beinhalten, logischerweise eine übernatürliche und nahezu dämonische Färbung zu haben. Auf welche Weise Nathanael von der unheimlichen Macht des Zauberperspektivs gebannt werden kann, wird nicht erklärt. Seine Zuneigung und später entflammte Liebe zu Olimpia stellt sich als das Fantastische, als Nichts-Wissen, Nichts-Begreifen dar, als würde eine höhere und unheimliche Macht ihn beherrschen. Der Zustand Nathanaels, von unsichtbarer Macht gesteuert zu sein, wiederholt sich mehrmals. So beschreibt er seine Verhaltensweise in Briefen: „Wo sie [der Vater und Coppelius] die [grauen Röcke fürs Labor] hernahmen, hatte ich übersehen“ (17); „Selbst weiß ich nicht, wie ich dazu kam, neugierig durchzublicken [und sah Olimpia]“ (25); So berichtet der Erzähler: „[E]r selbst wußte nicht wie es geschah, daß er […] ihre [Olimpias] Hand ergriff.“ (39) Gerade das Unerklärliche evoziert, wie die unheimliche Macht das Kind und den jungen Erwachsenen Nathanael fesselt und manipuliert. Seit der Belauschungsszene in der Kindheit ist er eine von Coppelius, später von Coppola und Spalanzani gewissermaßen an Fäden gezogene ‚Marionette‘, die von Anfang an passiv und willenlos ‚mittanzt‘.

4.3 Tanz im ‚Staffellauf‘ der Illusion Das Perspektiv, welches das Puppenbild Olimpias verbirgt, stört Nathanaels optische Wahrnehmung. Wenn Nathanael sein Perspektiv ablegt, wird dann seine Welt wieder desillusioniert? Warum erkennt er Olimpia beim Tanz immer noch nicht als Puppe, obwohl er kein Perspektiv mehr vor den Augen hat und seine

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Tanzpartnerin aus der Nähe beobachtet? Üben sowohl das Perspektiv als auch der Tanz die Täuschungsfunktion aus? Das Perspektiv und Tanz könnten Nathanaels Wahrnehmung im Wechsel beeinflussen. Erzeugt das Perspektiv ein falsches Abbild, so lässt der Tanz durch den Rausch, den er hervorruft, Nathanaels andere Sinnesorgane verstummen. Wird Nathanaels Empfindung beim Tanz in Zeitlupe betrachtet, wird deutlich, wie der Tanz die Funktion des Perspektivs übernimmt und den Ausschlag dafür gibt, dass Nathanael gegenüber seiner Einbildung wehrlos ist. Es ragen vor allem vier Momente heraus, welche die Steigerung von Nathanaels Liebesdrang zu Olimpia markieren. Während das Perspektiv in den ersten zwei Szenen für die Grundstimmung seines Verlangens nach Olimpia von großer Bedeutung ist, fungiert der Tanz als Katalysator für die letzten zwei Szenen, in denen Nathanael nur noch in seiner Einbildung schwebt. 1) Visueller Moment – Verlangen nach dem Schauen aus der Nähe Das Perspektiv zeigt zwar Olimpias Gesichtszüge in der Nähe, aber ihr gesamtes Körperbild ist nur stückweise zu sehen. Es ist deshalb unbefriedigend, nur das Gesicht statt des ganzen Körpers scharf sehen zu dürfen. Nathanaels „Sehnsucht und glühendes Verlangen“ (37) verstärkt sich. Er brennt darauf, Olimpia im Ganzen sehen zu können. In seinen übersteigerten Vorstellungen wird er zum ‚Geisterseher‘ – in der Realität ist Olimpia zwar nicht in seiner Nähe, dafür aber in seiner Fantasie allgegenwärtig. Sie „schwebte vor ihm her in den Lüften, und trat aus dem Gebüsch, und guckte ihn an mit großen strahlenden Augen, aus dem hellen Bach.“ (37) Die Täuschung durch das Perspektiv löst bei Nathanael einen Zustand der Träumerei aus, indem er sich Olimpia als bildschöne Frau vorstellt. Dabei fehlt ihm – um es einmal soziologisch zu formulieren – jegliche Möglichkeit zu sozialer Interaktion. 2) Auditiver Moment – eingebildetes Liebesecho Um einen interaktiven Vorgang einzuleiten, kann Nathanael es kaum erwarten, „mit hoch-klopfendem Herzen“ (38) zu dem von Spalanzani veranstalteten Fest zu kommen. Dort hat er die erste Gelegenheit, Olimpia ohne räumliche Grenzen wie Fenster und Perspektiv zu begegnen und mit ihr zu ‚kommunizieren‘. Olimpia zeigt ihre Virtuosität beim Singen und Klavierspielen, die Spalanzani mechanisch in ihr erzeugt hat. „Nathanael war ganz entzückt“ (38) davon. Da er in einer hinteren Reihe steht, schaut er mittels des Perspektivs auf Olimpia. Die Täuschung des Perspektivs funktioniert nun wieder. Sein Verlangen bringt ihn dazu, sie zu spüren, als es so scheint, als ob „sie voll Sehnsucht nach ihm“ (38) herübersehen würde. Ihre scheinbare ‚Interaktion‘ und ‚Zuneigung‘, die das Perspektiv Nathanael fälschlich kundtut, führt ihn zum Kontrollverlust und Lie-

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besüberschwang. Er kann „wie von glühenden Ärmen plötzlich erfasst sich nicht mehr halten“ (38) und jubelt laut Olimpias Namen, was die übrige Gesellschaft nicht nachvollziehen kann. Trotzdem ahnt niemand, dass sie ein Automat ist – Das Problem der Verwechslung von Menschen und Androiden betrifft alle Zuschauer. Nathanael unterscheidet sich von den anderen Gästen jedoch darin, dass die Puppe Olimpia ihm durch das Perspektiv belebt und beseelt erscheint.17 Seine optischen Wahrnehmungsstörungen übertragen sich auch auf die auditive Ebene. Olimpias Gesang ohne Emotion oder Ausdruck klingt für ihn wie Himmelstöne. 3) Taktiler Moment – Erwärmen beim Tanz als Schlüsselfaktor „Das Konzert war zu Ende, der Ball fing an.“ (39) Die Solopräsentation hat Olimpia ‚überstanden‘, jetzt wird ihre Interaktionsfähigkeit beim Tanz präsentiert. Der scheue Nathanael, manipuliert von der unheimlichen Macht, fordert sie auf und ergreift ihre Hände. Olimpias ‚eiskalte‘ Hände lassen ihn erzittern. In diesem Moment ist sein Tastsinn noch nicht taub. Die kalten Hände warnen Nathanael eindeutig vor Olimpia, vor diesem unnormalen Wesen. Die um null Grad schwankende Temperatur der Hände lässt sich mit Energielosigkeit, Blässe und sogar Tod assoziieren. Durch die taktile Empfindung fühlt sich Nathanael logischerweise „durchbebt von grausigem Todesfrost“ (39). Dennoch bleibt dies für ihn eine temporäre Wahrnehmung. Seine Wärme wird auf die Hände der Holzpuppe geleitet. Der Vorgang des Erwärmens gleicht der Wirkung eines Stromkreises und der Augenkontakt wirkt wie ein unsichtbarer Leitungsdraht. Er starrt ihr in die Augen, sie strahlt ihm „voll Liebe und Sehnsucht entgegen“ (39), als begännen in ihrer „kalten Hand […] des Lebensblutes Ströme zu glühen“ (39). Kurz nach seinem Entsetzen spürt er dann doch Olimpias ‚Wärme‘, bei der es sich in Wirklichkeit um seine eigene Körpertemperatur handelt. Trotz der Nähe und obwohl das Perspektiv keine Rolle spielt, verkennt Nathanael Olimpias Wesen. Die Puppe Olympia wird entkörpert und auf Nathanaels sinnliche Vorstellung reduziert, in der sein Tastsinn sich neben Gehör und Sehleistung immer mehr von der Realität distanziert. Nathanael „umschlang die schöne Olimpia und durchflog mit ihr die Reihen“ (39). Der Tanzstil verändert das Verhältnis des Tanzpaars. Der enge Körperkontakt durch die sie umschlingenden Arme und die schnelle Geschwindigkeit bringen ihn schnell in einen rauschhaften und nebulösen Zustand. Nathanaels vorherige Geneigtheit zu Olimpias Schönheit, seine Bewunderung

17 Vgl. Tabbert, Thomas: Die erleuchtete Maschine. Künstliche Menschen in E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. Studienausgabe. Hamburg 2006, S. 89.

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ihrer Kunstfertigkeit erhöhen sich nach dem Tanz auf absolute Anbetung, ja, sogar Vergötterung: Er glaubte sonst recht taktmäßig getanzt zu haben, aber an der ganz eignen rhythmischen Festigkeit, womit Olimpia tanzte […], merkte er bald, wie sehr ihm der Takt gemangelt. (39)

Nathanael, der als Mann den Tanz führen sollte, passt sich nun Olimpias Tanzrhythmus an. Olimpia als ‚Frau‘ übernimmt gegen die Regeln die führende Rolle und bringt Nathanael „ordentlich aus der Haltung“ (39). Wie Nathanaels Freund Siegmund später kommentiert, haben Olimpias Tanz und auch ihr Gesang einen „unangenehm richtigen geistlosen“ (42) Takt. Der nach dem präzisen zeitlichen Abstand vorgegebene Takt beinhaltet weder musikalischen Flow noch emotionalen Ausdruck. Olimpias Tanzschritte sind deshalb „sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen Räderwerks bedingt“ (41). Jedoch ist Nathanael der Liebe zu Olimpia derartig verfallen, dass er sich dieser Tanzmaschine unterwirft. Welche verkehrte ästhetische Bewertung! Statt aufgrund ihres taktgenauen und sterilen Tanzes an ihr zu zweifeln, glaubt er lieber an sein eigenes mangelndes Taktgefühl. Darüber hinaus ist Nathanaels Besitzgier so stark wie noch nie, was er allerdings Clara nicht spüren lässt. An dem gesamten Ballabend möchte Nathanael „mit keinem ander[e]n Frauenzimmer mehr tanzen“ (39) als mit Olimpia. Dieses Zitat erinnert an das Märchen Aschenputtel, in dem der Prinz lediglich mit Aschenputtel tanzen möchte. Allerdings ist Nathanaels Besitzgier noch radikaler als die jenes Prinzen, denn er „hätte jeden, der sich Olimpia näherte, um sie aufzufordern, nur gleich ermorden mögen“ (39). Was ihn wundert, ist jedoch, dass Olimpia unbeliebt zu sein scheint. Sie wird nur zweimal von anderen aufgefordert, bleibt aber sitzen. Nur ihm gelingt es, sie immer wieder zum Tanzen „aufzuziehen“ (39). Dieses Wortspiel lässt sich mit einem Bild verknüpfen, in dem ein Mann die Feder einer Puppe aufzieht, damit sich ihre Glieder bewegen. Während die anderen Gäste diesen Paartanz „mit ganz kuriosen Blicken“ (39) verfolgen, wird Nathanael, vernarrt in seine Projektion, zum Außenseiter in der Gesellschaft. Hier stellt Hoffmann heraus, wie eng Paartanz mit einer latenten Liebesbeziehung verbunden ist. Wie ein ins Deutsche übersetztes schwedisches Volkslied besingt, hat der Paartanz das Potenzial, Liebende symbolisch zu verkoppeln: „Zum Tanze, da geht ein Mädel mit güldenem Band, / das schlingt sie dem Liebsten gar fest um die Hand.“18 Hier

18 Carrière, Ludwig und Walther Werckmeister (Hg.): Liederborn. Charlottenburg 1910, S. 141 f. (Nr. 216).

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wirkt der Paartanz besonders skurril, weil keine Interaktion sondern Selbstdialog dieser Liebesbeziehung innewohnt. Gewiss hat Olimpia als Aufziehpuppe weder Bewusstsein noch Vernunft. Dieses wird in der Literatur jedoch unterschiedlich bewertet. In Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater (1810) verfügt das Bild der Puppe, die von Menschen gesteuert ist, über eine positive Konnotation mit Unschuld und Absichtslosigkeit. Während ein Menschentänzer nie ohne Absicht zu tanzen vermag, folgt eine Marionette in der Hand des Puppenspielers beim Tanzen keinem eigenen Zweck, da sie nicht bewusst handeln kann. Aus einem absichtslosen Tanz entsteht nach Kleist das Geniale und Göttliche. Hoffmann versetzt aber die Kleist’sche positiv bewertete Manipulierbarkeit der Puppe in Der Sandmann in eine heikle Situation. Er lässt eine Puppe und einen Menschen zusammen tanzen, sodass der Mensch getäuscht wird und davon ausgeht, die Puppe Olimpia verfüge über das Organische und Menschliche. Die sarkastische Wirkung des Tanzes mit der Puppe erfährt dadurch, dass der Mensch Nathanael, der einer Puppe überlegen ist, nun von der Puppe beim Tanz geführt wird, noch eine zusätzliche Steigerung. Nicht nur was die Tanzschritte anbelangt, ist der Mensch Nathanael eine gefügige ,Marionette‘ Olimpias, sondern er schwärmt auch für die scheinbar kühne, ruhige Frau, eine Puppe, die nicht einmal die Fähigkeit des Denkens besitzt. Nathanaels Tanz mit Olimpia ist ein Auftakt für seine späteren Äußerungen, Offenbarungen und Hingabe. Nach dem Tanz küsst er vor Freude „Olimpias Hand, er neigte sich zu ihrem Munde, eiskalte Lippen begegneten seinen glühenden!“ (40) Das Küssen als Höhepunkt der Emotionalität bringt Nathanael statt Freude wiederum Erschrecken und macht ihm die Kluft zwischen Lebendigem und Leblosem, Leben und Tod deutlich. Dieser nahe und sinnliche Kuss auf Olimpias Lippen entspricht der Berührung ‚ihrer kalten Hände‘. Ihre kalten Lippen warnen Nathanael nochmals. Die Legende von der ‚toten Braut‘, an die Nathanael denkt, scheint eine selbsterfüllende Prophezeiung zu sein, und wirklich – Olimpia zeigt sich als nichts anderes als eine tote Puppe. Nathanael ist berauscht und blind für die Realität. Trotz des zweiten Warnsignals erkennt er Olimpias Wesen nicht. Stattdessen erwärmen seine Lippen die ihrigen und erwecken ‚die Tote‘ zum Leben – „in dem Kuß schienen die Lippen zum Leben zu erwarmen“ (40). Der Belebungsprozess erinnert an die antike Sage, in der sich Pygmalion in eine Statue verliebt und sie zum Leben erweckt. Das Motiv von der toten Geliebten, die ins Leben zurückgerufen wird, variiert in der späteren Literaturepoche um 1800. Während das Motiv im Märchen Schneewittchen (1812) etwas Erfreuliches andeutet, steht es in Goethes Ballade Die Braut von Corinth (1797) für das Schauerliche und Todverheißende. Dort begegnet der Bräutigam seiner toten Braut, die er nicht als Tote erkennt. Er versucht

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sie zu erwärmen, aber er muss dafür sein Leben opfern, weil sie sich nur im Tod vereinigen können. Ein Satz in dieser Ballade kann als Hinweis auf Nathanaels flammende Liebe zu Olimpia dienen: Seine Liebeswut Wärmt ihr starres Blut, Doch es schlagt kein Herz in ihrer Brust.19

Der Tanz fördert normalerweise die Durchblutung, aber Olimpias Körper bleibt kalt. Ihr eiskalter Körper und die Unfähigkeit zur Wahrnehmung stehen in Kontrast zur Liebeswut Nathanaels zu ihr. Obwohl der Tanz Nathanaels Sinne betäubt, sodass er nur noch in seiner Illusion lebt und sich gedanklich mit Olimpia vereinigt, vermag der Tanz nicht die Realität zu verändern, die Kluft zwischen einem verliebten Menschen und einer Puppe ohne Gefühle zu überwinden. Der Tanz weckt seine Lust, sich Olimpia mehr anzunähern, seine Emotionen auf sie zu richten und sich schließlich tiefer seinen Illusionen zu ergeben. 4) Verbaler Moment– Zweifel an der Bedeutsamkeit der Sprache Nathanael erwartet nach dem Tanz nicht nur eine körperliche Interaktion, die er beim Tanz und Küssen von Olimpia gespürt hat, sondern auch ihre wörtliche Liebesbestätigung: „Nur dieses Wort! – Liebst du mich?“ (40) Außer einem programmierten Wort „Ach“ (40) vermag der Automat weder Verneinung noch Bejahung auszudrücken. Dennoch deutet er in seiner Verblendung Olimpias ‚ach‘ als Zustimmung. Nicht nur das – er deutet ihre nichtssagende Einsilbigkeit sogar als Zeichen eines ‚poetischen und tiefgründigen Gemüts‘. Mit der Einwilligung des ‚Vaters‘ Spalanzani darf Nathanael Olimpia besuchen. Er liest ihr seine Dichtung vor, erhält aber keine Beurteilung. Olimpia hört ihm jedoch zu, anders als Clara, die seine Fantasiegeschichten nicht duldet. Olimpia füllt die Lücke, die sich durch Claras Unverständnis gegenüber Nathanael ergibt. Er huldigt ihren wenigen Worten sogar „als echte Hieroglyphe der innern Welt“ (42). Ihre angeblich ‚schwierig entzifferbare Sprache‘ („ach, ach“) hat nun für Nathanael mehr Aussagekraft als lange Sätze. Nathanael fängt an, verbale Kommunikation zu verabscheuen und Olimpias wortlose Ausdrucksweise zu vergöttern: „Was sind Worte – Worte! – Der Blick ihres himmlischen Auges sagt mehr als jede Sprache hienieden.“ (43) In der Skepsis und sogar in der Missachtung gegenüber dem Ausdrucksvermögen der Sprache erweist sich der Zweifel Nathanaels, aber auch des Erzählers. Nathanaels sprach-

19 FA 2, 148.

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liche Interaktion mit Clara führt zur Fehlkommunikation,20 der Ausdruck gelingt eher durch das Darstellende und Malerische.21 Die Ausweglosigkeit der auf Worte basierenden Kommunikation ist ein häufiger Gedanke der Romantik, der im sogenannten Unsagbarkeitstopos manifestiert ist. Die obigen vier Szenen markieren die Steigerung von Nathanaels Emotionalität, aber auch den Vorgang seiner zunehmenden Blindheit und Taubheit gegenüber allen Warnsignalen. Nathanael ist in ein von ihm selbst auf die Puppe Olimpia projiziertes ideales Frauenbild verliebt, das gefühlsvoll, romantisch, duldsam, künstlerisch, passiv und bildschön ist – im Gegensatz zu der analytischen Clara. Die Projektion hängt nicht minder mit Nathanaels tragischer Situation zusammen. Er steht mit seinem ‚poetischen Gemüt‘ allein einer Gesellschaft gegenüber, die aus „kalten prosaischen Menschen“ (42) besteht. Durch Olimpia hört er, was er hören möchte, und fühlt sich deshalb lediglich durch sie verstanden. Daraus ergibt sich ein Paradox – gerade die Puppe Olimpia, eine ‚femme artificielle‘ statt einer ‚femme fatale‘, bringt ihm Glück. Mit der Projektion auf Olimpia blüht Nathanaels Leben auf, wird folgerichtig aber später abrupt enden, als Olimpia zerstört wird und er wieder mit Clara zusammen ist.22

20 Christian Kirchmeier hob den Unterschied der Briefform bei Hoffmann zu der Tradition der Briefform hervor und verwies auf die misslungene Kommunikation. Obwohl die Erzählung in Briefform beginne, die auf die Tradition der Briefformen von Goethes Werther verweise, sei die Kommunikation im Sandmann eine „Fehlkommunikation“. Lothar erhält den an ihn geschriebenen Brief nicht; während Clara auf Nathanaels Brief antwortet, schreibt er „auch heute nicht an sie“ (25), sondern wiederum an ihren Bruder Lothar. Die verklärte und verwickelte Kommunikation bildet die Grundlage dafür, dass Clara, Nathanael und Olimpia ebenfalls keinen binären Austausch erreichen können. Eine ähnliche Fehlkommunikation findet am Ende der Erzählung statt – Clara weist auf den Busch, aber Nathanael holt sein Perspektiv hinaus und schaut zu Clara hin. Vgl. Kirchmeier, Christian: Die Literatur der Gesellschaft und die Gesellschaft der Literatur. „Der Sandmann“ aus der Sicht der Literatursoziologie (Bourdieu, Luhmann). In: Oliver Jahraus (Hg.): Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. Stuttgart 2016, S. 160–176, hier S. 162. 21 Der Vorgang des Erzählens scheitert, wie der Erzähler begründet: „Mir kam keine Rede in den Sinn, die nur im mindestens etwas von dem Farbenglanz des inneren Bildes abzuspiegeln scheint“. Das Erzählen assoziiert er eher mit dem Vorgang des Malens. Die drei Briefe, die der Erzähler von dem Protagonisten Lothar, „gütigst mit[ge]teilt“ (27) bekommen hat, sind „Umriß des Gebildes“ (27). Es ist die Aufgabe des Erzählers, in die Handlung „mehr und mehr Farbe hineinzutragen“ (27). Nicole Calian macht auf die Grenze der Worte durch die Verzweiflung des Erzählers aufmerksam. Die Worte seien tot und das Malerische fülle die Lücke der Unsagbarkeit. Vgl. Calian, Nicole: „Bild – Bildlichkeit, Auge – Perspektiv“ in E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. In: E. T. A. Hoffmann-Jahrbuch. Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft, 12 (2004), S. 37–51, hier S. 43. 22 Vgl. Krech, Annette: Schauererlebnis und Sinngewinn. Wirkungen des Unheimlichen in fünf Meisternovellen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main [u. a.] 1992, S. 55.

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4.4 Tanz der Puppe – eine ominöse Erinnerung Olimpias ‚Reiz‘ in Nathanaels Einbildung lässt ihn die Verlobung mit Clara bald vergessen. Nun möchte er für ewig Olimpias Hand halten. In Erwartung einer fröhlichen Hochzeit ‚rennt‘ er „herüber zu Olimpia“ (44). Gerade in der größten Euphorie rächt sich jedoch seine Unvernunft. Ein Vorfall im Treppenhaus von Olimpias Wohnung ist ein Omen für die kommende Peripetie. Dort vernimmt Nathanael akustisch den Streit zwischen Coppelius und Spalanzani um die Urheberschaft an einem Automaten. Einer hat „die Augen gemacht“ (44), der andere „das Räderwerk“ (44). Da Nathanael den verhassten ‚Sandmann‘ Coppelius hört, „stürzte Nathanael von namenloser Angst ergriffen“ (44) in das Zimmer hinein. Doch er sieht Coppola. Das bestätigt Nathanaels Vermutung, dass Coppola nur ‚ein anders gekleideter Coppelius‘ ist. Professor Spalanzani, der Nathanael zu überreden versucht hatte, zwischen Coppola und Coppelius zu unterscheiden, hat damals offenbar gelogen. Während Spalanzani und Coppelius miteinander rivalisieren, reißen sich beide um eine Frauenfigur aus Holz. Nathanael sieht diese Holzpuppe „zu deutlich“ (45), sodass er „die Figur für Olimpia erkannte“ (44). Ohne das täuschende Perspektiv, ohne den rauschhaften Tanz, erfährt Nathanael endlich die Tatsache, dass Olimpia eine Puppe ist. Der Kampf um die Puppe endet in großem Lärm, was Nathanael noch tiefer erschreckt.23 Coppola entreißt Spalanzani die Holzpuppe und geht die Treppe hinunter.24 Hier hört Nathanael auch nur ‚zu deutlich‘ (45), wie Olimpias herun-

23 Irene Schröder macht auf die akustische Wirkung bei Hoffmann als Auftakt für einen dramatischen Wendepunkt aufmerksam, indem sie auf die erste und die letzte Begegnung zwischen Nathanael und Coppelius/Coppola verweist: Als Kind höre Nathanael den „Sandmann“ Coppelius „die Treppe heraufpoltern“ (Der Sandmann, 12), und einmal werde ihm „jenes dumpfe Treten und Poltern besonders graulich“ (Der Sandmann, 12). Nathanaels letzte Begegnung mit Coppola (Coppelius) wird ebenfalls durchs Hören herbeigeführt – Nathanael hört ihn mit Spalanzani streiten und hört ihn mit der Puppe die Treppe hinuntertreten. Die akustische Signifikanz kündigt die nächtliche und dunkle Kulisse an und deutet bereits auf den ominösen Handlungsverlauf hin. Vgl. Schroeder, Irene: Die Rede vom Farbenglanz des inneren Bildes: Darstellungen abweichender Wahrnehmung und ver-rückten Erlebens anhand von E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“. In: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000, „Zeitenwende. Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Bd. 10. Geschlechterforschung und Literaturwissenschaft. Bern 2003, S. 251–260, hier S. 256. 24 Das Motiv der Treppe, das in der Erzählung Der Sandmann häufig auftaucht, weist eine enge Kohärenz zu Nathanaels Vernehmen des Sandmanns beziehungsweise des für ihn furchterregenden Coppelius auf. Nathanael hört Coppelius nicht nur direkt während seiner Kindheit und bei dessen Streit mit Spalanzani, sondern steht mit ihm auch indirekt durch Treppensteigen in Verbindung. Hier nenne ich zwei markante Stellen. 1) Im Treppenhaus nimmt er Olim-

4.4 Tanz der Puppe – eine ominöse Erinnerung

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terhängende Füße „auf den Stufen hölzern klapperten und dröhnten“ (45). Der Lärm, der dadurch entsteht, dass die Holzbeine die Stufen hinunterpoltern, klingt wie ein Alarmsignal, das Nathanaels ohnehin strapazierten Verstand nun endgültig zur Verzweiflung bringt. Die Reihenfolge der Sinnesreize, wie Nathanael sie wahrnimmt, also vom Hören (des Streits) zum Sehen (des Zankens um Olimpia) und wieder zum Hören (Auftreffen der Holzbeine auf die Stufen) ähnelt der Struktur eines Spuks, der zuerst unbemerkt in der Ferne erscheint, bevor er die Wahrnehmenden durch seine Gestalt erschreckt. Beim Entschwinden ist das Spuk-Bild nicht mehr zu sehen, aber seine skurrilen Laute ängstigen die Beobachter weiterhin. In dem Moment, als die Tatsache ans Tageslicht gelangt, muss Nathanael, wie der Würzburger Literaturwissenschaftler Wolfgang Riedel darlegte, „eine geballte Anagnorisis“25 erfolgreich durchleben und gar überleben. 1) Nathanael muss Olimpia als Holzpuppe, Coppelius und Coppola als Doppelgänger und Spalanzanis Lüge erkennen. 2) Er muss nun einsehen, dass er lediglich ein idealisiertes Frauenbild auf Olimpia projiziert hat. 3) Zugleich erfährt er von Spalanzani, Coppelius habe seine (Nathanaels) Augen für die Herstellung Olimpias gestohlen. 4) Das Unrecht, das Coppelius/Coppola und Spalanzani Nathanael angetan hat, besteht in dem grausamen Plan, der über Jahre ohne Mitgefühl verfolgt wird. Nathanael ist zum Opfer des großen Experiments geworden, das beweisen sollte, dass eine Automatenpuppe das Herz eines Menschen gewinnen kann. Dass Nathanael dies alles auf einmal erfasst, erklärt seinen völligen Kontrollverlust. Daraufhin packt ihn „der Wahnsinn mit glühenden Krallen“ (45). Er stößt eine Art von scheinbar zusammenhanglosem Zauberspruch aus: „Hui – hui – hui – Feuerkreis – Feuerkreis! Dreh dich Feuerkreis – lustig – lustig! – Holzpüppchen hui schön’, Holzpüppchen dreh dich“ (45) Der Feuerkreis als Metapher erinnert

pia, das Ergebnis des Experiments von Coppelius, zum ersten Mal wahr. 2) In dem Moment, als Nathanael auf eine aggressive Art Clara wie eine Puppe manipuliert und dadurch die aggressive Rolle Coppelius’ übernimmt, hört Lothar im Treppenhaus des Turms Claras Angstgeschrei. Kathrin Geltinger erläuterte die Bedeutung der Treppe – die Treppe symbolisiere einen „NichtRaum“, der von Unsicherheit, Unüberschaubarkeit, Verwickelung und stetiger Gefahr geprägt sei. Vgl. Geltinger, Kathrin: Der Sinn im Wahn. “Ver-rücktheit“ in Romantik und Naturalismus. Marburg 2008, S. 51–69, hier S. 59. 25 Riedel, Wolfgang: Um Schiller. Studien zur Literatur- und Ideengeschichte der Sattelzeit. Würzburg 2017, S. 469–501.

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an die alchimistischen Versuche, die Nathanaels Vater und Coppelius betrieben haben und in denen Nathanael in der Kindheit „die glutrote Zange“ (17) schwanken gesehen hat. Das Bild eines Holzpüppchens hingegen ist ein Erzeugnis der Gegenwart, das aus der Zusammenarbeit von Nathanaels ‚Schwiegervater‘ Spalanzani und seinem Fernglas-Händler Coppola stammt. Damit durchschaut Nathanael die mechanischen und alchemistischen Experimentierszenen für eine Holzpuppe. Entsprechend seiner plötzlichen gewonnenen Erkenntnis zeigt er seine Sprachlosigkeit, seine Wut, nun aber ganz und gar im unromantischen Sinn. Er verwandelt sich vom Opfer in einen aggressiven Täter, indem er primitive Gewalt auf Spalanzani ausübt – er versucht, ihn zu würgen. Nachdem Nathanael das perfide und langjährige Experiment durchschaut und sich im Tollhaus beruhigt hat, scheint sein Leben wieder friedlich zu sein. „Das Glück war unterdessen in das Haus eingekehrt“ (47) Sowohl die Protagonisten als auch die Leser erwarten den positiven Ausgang der Geschichte. Gerade in dem Moment, als das Glück perfekt zu sein scheint, findet jedoch die zweite dramatische Wende statt. Obwohl Coppola/Coppelius und Spalanzani fort sind, findet Nathanael durch Zufall ihr hinterlassenes ‚Zauberwerk‘, das Perspektiv, das inzwischen vergessen ist. Clara, die zufällig vor ihm steht, wird nun durch das Fernglas abgebildet. Das Perspektiv besitzt eine Doppelfunktion – zu kombinieren und zu separieren. Während das Perspektiv Olimpia aus der Ferne gesehen ‚vereinheitlicht‘ und ihr scheinbar eine Seele hinzugefügt hat, trennt es Seele und Körper Claras und macht aus ihr einen Automaten.26 Als Clara durch das Perspektiv als bizarres Bild dargestellt wird, wird Nathanaels Erinnerung an Olimpia und deren Zerstörung durch Coppola und Spalanzani wachgerufen. Er schreit wiederum: „Holzpüppchen dreh dich“ (48). Die formelhafte Beschwörung ‚Holzpüppchen dreh dich‘ bietet einen breiten Raum für Interpretationen. In den bisherigen Forschungen gibt es drei Interpretationsrichtungen: 1) Mit dem Ausruf kommt Nathanael auf den Tanzabend mit Olimpia zurück. Das Schlüsselwort „Holzpüppchen“ erinnert ihn daran, dass er mit der leblosen Olimpia den Tanz lebhaft ausgeführt hat.27

26 Vgl. Krech, Annette: Schauererlebnis und Sinngewinn. Frankfurt am Main [u. a.] 1992, S. 54. 27 Vgl. Busch-Salmen, Gabriele: „Exaltierte Stimmung“, „rauschende Gesellschaft“. E. T. A. Hoffmann und der Tanz. In: Gabriele Busch-Salmen (Hg.): Der Tanz in der Dichtung – Dichter tanzen. Hildesheim 2015, S. 99–114, hier S. 101.

4.4 Tanz der Puppe – eine ominöse Erinnerung

209

2)

Dieser Ausruf deutet Nathanaels Selbsterkenntnis an. Er erkennt sich als ein von den Experimentatoren (Coppelius/Coppola und Spalanzani) gesteuertes ‚Holzpüppchen‘.28 3) Durch den Ausruf erlebt Nathanael einen Wechsel vom Opfer zum aggressiv Handelnden. Er wird jetzt der ‚Sandmann‘, hat selbst ein ‚Experiment‘ vor. Er sieht durch das Perspektiv Clara als seine ‚Puppe‘ und manipuliert sie, wie es Coppola mit Olimpia gemacht hat. Am Ende der Erzählung verschmelzen bei Nathanael die Opfer- und Täterrolle, indem er als Opfer vom Turm stürzt, aber die Worte des Täters (Coppola) in dessen radebrechendem Deutsch „Sköne Oke“ hinausschreit.29 Unter den obigen Erläuterungen stellt sich die erste als die schlüssigste dar: Nathanael denke beim Ausruf „Holzpüppchen, dreh dich“ an den Tanz mit Olimpia. Ihr gemeinsamer Tanz markiert den Anfang der Betäubung aller Sinnesorgane, aber auch den Anfang seiner Glücksphase. Allerdings hat der Tanz ohne das Projektionsobjekt Olimpia seine täuschende Wirkung verloren. Sein Tanzerlebnis mit ihr markiert nun ein Verhängnis. Nathanael rächt sich an der Frau, die hinter dem Perspektiv steht, und lässt seine Wut ersatzweise an Clara aus. Die Aussage, dass Nathanaels Tanz mit Olimpia glücksbringend, aber auch unheilschwanger ist, finden wir in einigen musikalischen Inszenierungen bestätigt, zu denen Hoffmanns Der Sandmann als literarische Vorlage dient.30 Jac-

28 Vgl. Geltinger, Kathrin: Im Labyrinth des Wahnsinns – Hoffmanns „Der Sandmann“. In: Kathrin Geltinger: Der Sinn im Wahn. „Ver-rücktheit“ in Romantik und Naturalismus. Marburg 2008, S. 51–69, hier S. 64. 29 Achim Würker ordnet die Figuren in Der Sandmann je nach Handlung in zwei Gruppen (Opfer und Angreifer) ein. Er vertritt die These, Hoffmann spitze im Sandmann das Thema zu, indem die von Nathanaels Mutter und Olimpia vertretene weibliche Rolle als Opfer und passives Objekt behandelt wird, wie eine leblose Puppe ohne Eigenständigkeit. Hier bezieht sich die weibliche Rolle nicht auf das Geschlecht, sondern auf die symbolische Bedeutung. Ein Beispiel: Während in der Familienstruktur der Vater sein Interesse an Experimenten gegenüber der schweigsamen Mutter durchsetzt, nimmt er bei dem Gast Coppelius, den er hoch verehrt, wiederum die (weibliche) Opferrolle ein. Nathanaels Opferrolle verwandelt sich in die von Coppelius vertretene Angreifer-Rolle, als er den Professor Spalanzani zu würgen und seine Verlobte Clara umzubringen versucht. Vgl. Würker, Achim: Worüber uns E. T. A. Hoffmanns „Sandmann“ die Augen öffnet. In: Sigrid Scheifele und Martin Karlson (Hg.): Grenzgänge: Literatur und Unbewußtes, zu H. v. Kleist, E. T. A. Hoffmann, A. Andersch, I. Bachmann und M. Frisch. Würzburg 1999, S. 59–78, hier S. 71. 30 Zu einer der frühesten Bühnenbearbeitung von Der Sandmann zählt auch das von Léo Delibes komponierte Ballett Coppélia ou La Fille aux yeux d’émail (deutsch Coppelia oder Das Mädchen mit den Glasaugen) (1870). Allerdings findet kein Tanz zwischen Franz (Nathanel) und

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4 Realität oder Täuschung?

que von Offenbachs Oper Les contes d’Hoffmann, die 1881 uraufgeführt wurde, zählt wahrscheinlich zu den bekanntesten Beispielen. Im zweiten Akt präsentiert der ‚Vater‘ Spalanzani zuerst eine durch Olimpia intonierte Arie (Les oiseaux dans la charmille), um den Helden Hoffmann (entsprechende Figur zu Nathanael) zu betören, wobei die Arie übrigens mechanisch wirkt und einen sinnlosen Text hat. Hoffmann tanzt wonnevoll mit seiner ‚begabten‘ Tanzpartnerin Olimpia einen Walzer. Nach einigen Tanzschritten versagt Olimpias Feder, die den Mechanismus antreibt, und ihr Tanz gerät in einen rasanten Wirbel, der Hoffmann zur Erschöpfung bringt. Anders als Nathanael im Sandmann, erkennt der Protagonist Hoffmann bereits beim Tanz seine Tanzpartnerin als aufziehbare Tanzmaschine. In Christian Spucks Handlungsballett Der Sandmann (2006 uraufgeführt) tanzt die Figur ,Nathanael‘ mit einem Fernglas auf der Brille mit ,Olimpia‘. Der Ball findet im kalten Laborlicht statt, welches den Forschungszweck Spalanzanis als Kulisse ankündigt. Der Veranstalter Spalanzani präsentiert seine vermeintliche Tochter, um Nathanael zu ihr zu locken. Nach dem ‚Pas de deux‘ mit Olimpia verfällt Nathanael in eine Pose der Anbetung und legt seinen Kopf in ihren Schoß. Wegen mangelnder Körperkontrolle fällt Olimpia mehrmals vom Stuhl. Hier ahnt man ihr Puppenwesen.

4.5 Fazit E. T. A. Hoffmann gestaltet im Sandmann die um 1800 verbreiteten alchemistischen Experimente und mechanische Automaten-Herstellung als magische, unheimliche und fantasievolle Kulisse. Die dunkle Seite der Naturwissenschaft, welcher Hoffmann als Romantiker kritisch gegenübersteht, verlegt er mitten in eine idyllische biedermeierliche Familie. Aus der friedlichen Version des Kindermärchens wird bei Hoffmann eine Schauergeschichte, in der Illusionen, Täuschung, Spuk und Entzauberung dominieren. Die menschliche Sehfähigkeit stellt er einem von Menschen hergestellten Perspektiv, einer Sehhilfe, gegenüber, einen lebendigen Menschen lässt er mit einem Automaten tanzen. Hoffmann setzt sich im Sandmann mit Natürlichkeit und Künstlichkeit beim Sehen (mit Augen oder Sehhilfe) und bei der Bewegung (durch Emotion oder Mechanik) auseinander.

Coppélia (Olimpia) statt, denn Franz’ Geliebte, namens Swanilda, entdeckt vorher, dass Olimpia eine Puppe ist und enthüllt Franz die Wahrheit.

4.5 Fazit

211

Hoffmann verwendet neben dem Motiv des ,Perspektivs‘ auch Tanz in Der Sandmann und gestaltet eine dramatisch wirkende Peripetie – Nathanaels rein imaginierte Liebe zu einer Puppe und dessen Desillusionierung. Während das Perspektiv für Nathanael eine visuelle Fehlabbildung einer Puppe hin zur lebendigen Frau herbeiführt, desensibilisiert der rauschende Tanz mit Olimpia seine Empfindlichkeit auf der taktilen Ebene. Nathanaels Tanz mit dem Automaten Olimpia lässt sich durchaus zwiespältig betrachten. Der die Durchblutung fördernde Tanz betäubt sein Entsetzen beim Körperkontakt mit Olimpias eiskaltem Körper. Diese atemberaubenden Drehungen durch den Tanzsaal werden allerdings zu einer schrecklichen Erinnerung, als Nathanael seine Geliebte als lebloses Puppenwesen erkennt und ihre Zerstückelung mit ansieht. Das Tanzerlebnis erschüttert immer wieder seinen Verstand, verstärkt seinen Hass und seine Wut, aber auch Furcht gegenüber dem unheilbringenden Paar Coppelius und Spalanzani, denn die beiden haben den Tanz Nathanaels mit Olimpia offenbar als Höhepunkt des Experiments geplant. Der Tanz schafft Nathanael zwar eine weitere Projektionsmöglichkeit, lässt das Ereignis aber für ihn zu einem Erlebnis werden, das ihn zum Wahnsinn bringt. Der Tanz versetzt Nathanael also von der Realität in die Irrealität, in weitere Täuschungen. In einem kurzen Exkurs soll nun noch auf den historischen Aspekt des Tanzes im Sandmann eingegangen werden. Als gesellschaftliche Werte der biedermeierlichen Zeit lassen sich im Sandmann zeittypische Verhaltensweisen erkennen. Es wird für den Rezipienten deutlich, auf welche Weise die Gesellschaft auf etwas ihr Fremdes reagiert, das den Regeln nicht entspricht, und wie sich demzufolge der Habitus des Tanzes durch Olimpias Art zu tanzen verändert. Als die Tatsache offenbar wird, dass Olimpia nur eine Puppe ist, reagiert die Gesellschaft empört. Nathanaels Einzelschicksal wandelt sich in eine Sozialproblematik. Um zu beweisen, dass kein Mensch in der Gesellschaft Puppen liebt, müssen Frauen, im absoluten Gegensatz zu Puppen, „etwas taktlos“ (46) singen und tanzen. Lächerlich und grotesk zu tanzen, ist nun der Preis, den die Gesellschaft zahlen muss, um zu beweisen, dass kein Puppentanz ausgeführt wird. Die Reaktion der Gesellschaft, taktlos zu tanzen, ist einerseits ein Zeichen für die Vernachlässigung der ästhetischen Ebene des Tanzes und andererseits eine Demonstration der Individualität und Eigenständigkeit gegenüber dem Gesetz der Gesang- und Tanzkunst, nämlich dem Takt, dem sich die Tanzpuppe mechanisch und ausdruckslos unterwirft. Diese Art der Reaktion beschreibt Hoffmann mit nicht wenig Spott. Die Menschen fühlen sich gezwungen, anders als Puppen zu sein, und verfallen deswegen in das andere Extrem. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Gesellschaft durch die negative Fixierung auf die Mechanik der Puppenbewegung nun im Gegenteil ihre Natürlichkeit verliert. Eine solche, sich auf das Äußerli-

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che fixierende gesellschaftliche Anschauung zeigt nicht erst bei der Reaktion auf Olimpias Puppenwesen die Erstarrung der Gesellschaft, sondern diese wird bereits im Umfeld der Familie Nathanaels angedeutet.31 In Nathanaels Kindheit hat sein Vater „ oft stumm und starr in seinem Lehnstuhl“ (12) gesessen. Seine Haltung ist uns Lesern auch bei Olimpia gegenwärtig – stundenlang sitzt sie einfach da, „ohne sich zu rücken und zu bewegen“ (43). Die Energielosigkeit der Familienkulisse Nathanaels und der ihn umgebenden Gesellschaft kristallisiert sich in einer taktgenau tanzenden Automatenpuppe. Solche Künstlerfiguren-Automaten, „die dem Menschen nicht so wohl nachgebildet sind, als das Menschliche nachäffen“32, vergleicht Ludwig in der Beziehung Die Automate nicht ohne Recht mit den Standbildern „eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens“33. Seine Beurteilung gilt ebenfalls für die mechanische Lebensart der biedermeierlichen Gesellschaft, die den gefühlsbeladenen Nathanael als einen einsamen, obsessiven Außenseiter ausschließt.

31 Vgl. Rosner, Ortwin: Körper und Diskurs. Zur Thematisierung des Unbewussten in der Literatur anhand von E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“. Frankfurt am Main [u. a.] 2006, S. 126. 32 Hoffmann, E. T. A.: Die Automate. In: Die Serapionsbrüder. Hg. v. Wulf und Ursula Segebrecht. Frankfurt am Main 2001, S. 399. 33 Hoffmann, E. T. A.: Die Automate, S. 399.

III Tanz als künstlerische Dimension

Tanz wird in der vorliegenden Arbeit nicht nur als Seismograph des gesellschaftlichen Wandels aufgefasst, sondern auch als Stimulans für die Dichtung, welcher die Darstellungsweise der Poesie zu neuen Wegen herausfordert. Die ästhetischen, kunsttheoretischen Reflexionen, die die Sattelzeit begleiten, indizieren zugleich die Überlegung, wie sich die Relation zwischen Tanz und anderen Künsten entfaltet und wie Tanz nun ein poetisches Konzept beeinflusst.1 Wird Musik benötigt beim Tanz, haben Tanzbewegungen ein poetisches Pendant, wie verbindet wiederum der essentiale Körperteil, Fuß, Tanz und Poesie? Auf solche Fragen sind Dichter wie Klopstock, Schiller und Arnim eingegangen, wie die bereits in den vorigen Kapiteln erwähnt wurde. Seit der Goethe-Zeit ist der Einfluss des Tanzes auf Poesie ein gegenseitiger. Die Themen und die Sprache für das Tänzerische werden erweitert auf Straßentanz und Solotanz, auf die Tanzästhetik von Virtuosem bis zum Tollpatschigen, neue Tanzformen werden phantasievoll entworfen. Somit dienen poetische Innovationen wiederum als Vorbote für die tanzgeschichtliche Entwicklung der Moderne. Aus Reflexionen über Tanz wird nun eine dynamische Wechselbeziehung zwischen Tanz und Poesie.

1 Siehe Kapitel: theoretische Überlegungen. https://doi.org/10.1515/9783110759815-012

1 „Im Kreise herumgedreht“. Wechselspiel des Tanzes in E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla (1821) Anders als bei Tanzszenen in der Literatur üblich, platziert E. T. A. Hoffmann die Schaubühne des Tanzes in Prinzessin Brambilla weder in einem Saal noch in der Natur, sondern in einem ‚Freilufttheater‘, auf der Straße. Diese Konzeption hängt mit der ‚Bildquelle‘ zusammen, die Hoffmann zu dieser Erzählung angeregt hat. Sie stammt aus der Bilderserie Balli di Sfessania (1621) des lothringischen Renaissancemalers Jacques Callot, in der die Figuren auf offener Straße tanzen.1 Dieses Ambiente übernimmt Hoffmann in seiner Erzählung Prinzessin Brambilla. Die Hauptfiguren tanzen improvisiert zum jährlich stattfindenden Karneval, verkleidet mit den Kostümen und Masken der ‚commedia dell’arte‘, der italienischen Stegreifkomödie des 16. Jahrhunderts. Die äußeren Verkleidungen und Vermummungen, die Kostüme und Masken, bewirken schließlich Veränderungen im Inneren der Kostümierten. Die maskierten Tänze locken den Tragödienschauspieler Giglio Fava und die Putzmacherin Giacinta Soardi aus dem Alltag in die Phantasiewelt. Beim Tanz geraten sie in Verwirrung, weil sie ihren Tanzpartner nicht erkennen. Es sind wiederum die Tanzbewegungen, die ihnen helfen, sich wiederzufinden und die Balance zwischen Realität und Phantasie zu halten. Giglio und Giacinta verdanken ihre äußere Veränderung dem Schneidermeister Bescarpi. Schlüpfen die beiden in die Kostüme der commedia dell’arte, so verdoppeln sie sich, ohne sich dessen jedoch bewusst zu sein. Hoffmann lässt seine Figuren die Verwandlung nicht nur spielen, sondern vollziehen. Aus zwei realen Figuren entstehen zwei von ihnen erträumte ideale Kunstfiguren. Eine besondere Raffinesse besteht darin, dass sich ein Teil jeweils in seinen Doppelgänger verwandelt, also Giglio in den äthiopischen Prinzen Cornelio Chiapperi und Giacinta in die Titelfigur Prinzessin Brambilla. Zunächst trennen sich die beiden. Dann läuft Giglio seinem Traumbild Brambilla nach, ohne in ihr Giacinta zu erkennen. Giacinta bildet sich ebenfalls ein, dass Chiapperi ihr

1 ‚Jaque Callot‘ und ‚dessen bildende Kunst‘ zählen zu den nicht zu übersehenden Begriffen der Hoffmanns-Forschung. Vgl. z. B. Schnyder, Peter: „Jaque Callot“ (1814). Brandl-Risi, Bettina: Bild, Gemälde, Zeichnung. In: Christine Lubkoll (Hg.): E. T. A. Hoffmann Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2015, S. 11–13, S. 356–362. Vgl. auch Schmidt, Olaf: „Callots fantastisch karikierte Blätter“. Intermediale Inszenierungen und romantische Kunsttheorie im Werk E. T. A. Hoffmanns. Berlin 2003. https://doi.org/10.1515/9783110759815-013

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1 „Im Kreise herumgedreht“

seine Gunst schenkt, ohne dahinter Giglio zu vermuten. Das ganze Spiel mit der Identität wird von einem ‚Drahtzieher‘ gelenkt, und zwar von Fürst Bastianello, verkleidet als Scharlatan Celionati. Er bringt Giglio und Giancinta dazu, sich äußeren Veränderungen zu unterziehen, ohne davon zu merken. Nach Celionatis Plan erkennen sich die beiden Hauptfiguren gegenseitig als vermeintlicher Prinz und vermeintliche Prinzessin. Dabei werden sie zu Schauspielern der commedia dell’arte mit derem Humor und Phantasie der Welt des Theaters. Giglio und Giacinta, oder Chiapperi und Brambilla, begegnen sich zumeist beim Tanz. Die Tänze bereiten ihnen jedoch mehr Verwirrung als Freude. Zwar tanzen im Grunde immer die Gleichen miteinander, doch lässt dies Hoffmann nur den Leser wissen, nicht aber die Figuren selbst. Unter mehreren Tanzepisoden lassen sich drei herausstellen: – Giglio beobachtet ein Tanzpaar, angeblich Chiapperi und Brambilla, – Giglio tanzt mit Chiapperi, – Giglio tanzt mit einer unbekannten Schönen. Über den dritten Tanz wurde in der bisherigen Literaturforschung am meisten diskutiert. Nach Detlef Kremer ist das Prinzip des letzten Tanzes „Verwirrung und Verweigerung von Identität“2. Nach Gerhard Neumann führt er „zur gänzlichen Identitätsauflösung der beiden Figuren“. Mit ihrer Identitätskrise und -suche der beiden Protagonisten realisiert Hoffmann ein zentrales Thema der Romantik.3 Dieser Tanz geht über die Verwirrung hinaus, die er auslöst. Die Verwirrung im ersten Augenblick ist zugleich der Zugang zur späteren Klarheit. Der Tanz ermöglicht es Giglio und Giacinta, den Entpuppungs-, Reifungs- und Erkennungsprozess zu überstehen. Über die bisherigen Forschungen hinausgehend, lassen sich bereits in den ersten beiden Tänzen die Keime der Veränderung, aber auch eine Annäherung der Doppelidentitäten erkennen. Es ist nicht allein der dritte Tanz, der Giglio und Giacinta verändert und Giglio sogar ‚umerzieht‘, sodass er „tanzend zum [exotischen] Prinzen“4 wird.5 Bereits die ersten beiden 2 Kremer, Detlef: Literarischer Karneval. Groteske Motive in E. T. A. Hoffmanns „Prinzessin Brambilla“. In: Hartmut Steinecke (Hg.): E. T. A. Hoffmann. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2006, S. 171–191. 3 Neumann, Gerhard: „Tanzend zum Prinzen werden … “. Die Herstellung romantischer Identität in E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. In: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. München 2007, S. 11–26. 4 Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 3. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt am Main 1985, S. 870. Alle Zitate aus der gleichen Quelle werden nachfolgend im Fließtext mit Seitenzahl in Klammern angegeben. 5 Mit Recht bezeichnete Gerhard Neumann den einleitenden Tanz als Leitformel für die Erzählung.

1.1 Callots Balli di Sfessania und Hoffmanns Prinzessin Brambilla

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Tänze eröffnen unseren Protagonisten die Welt der Phantasie und Groteske und bringen sie dazu, ihre Körperbewegung aus den festgelegten Posen zu befreien. Nach den beiden ersten Tänzen beginnen sie dann, sich ihren Kunstfiguren Chiapperi und Brambilla anzunähern, bis sie zum Schluss mit ihnen eine Einheit bilden. Aus den bisherigen Überlegungen ergeben sich für die Tanzszenen folgende Fragestellungen: – Inwiefern stimmen die ‚Quellen‘ für Prinzessin Brambilla, Jacques Callots Bilder, mit Hoffmanns Erzählung in Hinsicht auf den Tanz überein? – Wodurch befreit der Tanz die Protagonisten körperlich und wie prägt er sie anschließend geistig? – Wie genau verwandelt Giglio sich im letzten Tanz in Chiapperi, und wie findet er dabei das Gleichgewicht zwischen den Identitäten?

1.1 Callots Balli di Sfessania und Hoffmanns Prinzessin Brambilla Jacques Callots Balli di Sfessania erhielt Hoffmann an seinem vierundvierzigsten Geburtstag (1820) von seinem jüdischen Freund David Ferdinand Koreff (1783– 1851) als Geschenk. Aus dieser Bilderserie mit 24 Blättern wählte er acht Bilder aus und ließ sie durch den deutschen Künstler Carl Friedrich Thiele nachstechen.6 Thieles Bilder erscheinen in allen Ausgaben, jedoch scheint dieser Künstler für Hoffmann keine Rolle zu spielen, so dass er Thiele nicht einmal erwähnt. Er betont lediglich, der Leser dürfe Callots Bilder nicht vernachlässigen. Wie der Titel Balli di Sfessania bereits andeutet, steht der Tanz namens ‚Sfessania‘ im Mittelpunkt.7 Jedes Bild der Balli di Sfessania zeigt zwei paarweise tanzende Figuren in Kostümen der commedia dell’arte, wie in Abb. 14 veranschaulicht wird. Der leicht variierte Hintergrund ähnelt einem Marktplatz, auf dem Zuschauer und andere Straßenkünstler zu sehen sind. Die beiden im Vor6 Die Differenz zwischen Thieles Bearbeitung und Callots Originalbildern wurde in einigen Arbeiten ausführlich und übersichtlich erläutert. Siehe die Anmerkungen in: Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 3. Hg. v. Hartmut Steinecke, Prinzessin Brambilla. Frankfurt am Main 1985, S. 1149 f. Die ovale Plattform in Thieles Bildern, die eigentlich als Theaterbühne fungiert, hat Jörn Steigerwald in seiner Dissertation einleuchtend begründet. Vgl. Steigerwald, Jörn: Die Fantastische Bildlichkeit der Stadt. Zur Begründung der Literarischen Fantastik im Werk E. T. A. Hoffmanns. Würzburg 2001. 7 In einigen Studien trägt die Bildserie Balli di Sfessania sinngemäß übersetzt, den deutschen Namen „Tanz der Verrückten“, der die Akzentuierung auf den Stil des Tanzes verlagert. Siehe zum Beispiel Kremer, Detlef: Romantische Metamorphosen. E. T. A. Hoffmanns Erzählungen. Stuttgart 1993, S. 319 f.

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1 „Im Kreise herumgedreht“

dergrund skizzierten Figuren fallen durch die Verrenkung ihrer Körperteile und durch die Schellen am Unterschenkel auf. Es fehlt nicht an Bizarrerie und Grausamkeit der Tänzer. Nach Callots Biograph, Daniel Ternoi, ähneln die Tänzer sogar zerstückelten Marionetten, deren Glieder regelrecht ‚herumgeschleudert‘ werden.8 Solch ein Tanzstil lässt sich aus den Bewegungsbildern ableiten. Er entspricht vermutlich den auf das 15. Jahrhundert zurückzuführenden Moriskentänzen.9 Die besondere Eigenheit des Moriskentanzes lässt sich an den entsprechenden Tanzfiguren des deutschen Bildhauers Erasmus Grasser im Stadtmuseum München ablesen (Abb. 13), die der Künstler 1480 für die Ausstattung des Festsaals im Tanzhaus (altes Rathaus) geschaffen hat.10 Mit ihren geschwärzten Gesichtern und exotischen Turbanen bezeugen sie die vermutliche afrikanische Herkunft

8 So Daniel Ternois: „Les membres sont jetés dans tous les sens, les corps disloqués, les poignets cassés, les épaules déboîtées, du moins en apparence. Les danseurs ont l’air de pantins désarticulés. Callot plaque du [la] mécanique sur du vivant et provoque le rire. Là encore il s’inspire des pitres de la foire qui, comme les clowns d’aujourd’hui, parvenaient à force d’exercice à se transformer en automates.“ In: Thomas Schröder (Hg.): Jacques Callot. Das Gesamte Werk, 2 Bde. Bd. 1. Handzeichnungen. München 1971, S. 142. 9 In der bisherigen Forschung konnte nicht bewiesen werden, dass Jaque Callot sowie E. T. A. Hoffmann sich eindeutig auf den Moriskentanz beziehen. Allerdings gilt der Moriskentanz als Verkörperung der humoristischen und grotesken Merkmale, die sich in Callots Bildern und Hoffmanns Beschreibung niederschlagen. Der vermutende Verweis auf den Moriskentanz findet sich bereits in Gerhard Neumanns und Donald Postners Studien. Vgl. Neumann, Gerhard: „Tanzend zum Prinzen werden … “. Die Herstellung romantischer Identität in E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. In: Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Gunhild Oberzaucher-Schüller. München 2007, S. 11–26. Vgl. Posner, Donald: Jacques Callot and the Dances Called Sfessania. In: The Art Bulletin, 59 (1977), S. 203–216. Hier werden noch einige historische Belege des Moriskentanzes skizziert: Thomas Eser hat in einem Tagungsbeitrag eine übersichtliche systematische Tabelle erstellt, die einige Berichte um 1500 über den Moriskentanz in Westeuropa, insbesondere in Süddeutschland, erfasst. Der älteste Bericht in seiner Auswahl stammt aus einem Ausstellungskatalog zum Thema Israhel van Meckenem in der staatlichen graphischen Sammlung München. Bereits im Jahr 1462 soll es in Frankfurt Tanzgruppen gegeben haben, die Aufführungen eines Moriskentanzes wünschten. Vgl. Eser, Thomas: Vom Morisk zum Putto? Verbildlichungen „heftiger Bewegtheit“ und höfisch-bürgerliche Affektkontrolle im späten 15. Jahrhundert. In: Iris Lauterbach, Thomas Weidner, und Richard Bauer (Hg.): Die Münchner Moriskentänzer. Repräsentation und Performanz städtischen Selbstverständnisses. München 2013, S. 94–119. 10 Der Bildhauer Erasmus Grasser hat insgesamt 16 Moriskentänzer geschnitten, von denen 10 bis heute erhalten geblieben sind. Die originalen Tanzfiguren kann man im Münchner Stadtmuseum bewundern. Auf der offiziellen Webseite dieses Museums sind alle zehn Moriskentanzfiguren im Großbild zu sehen. URL. https://www.muenchner-stadtmuseum.de/ sammlungen/angewandtekunst/moriskentaenzer.html (20.07.2021).

1.1 Callots Balli di Sfessania und Hoffmanns Prinzessin Brambilla

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dieses Tanzstils.11 Grassers Tanzfiguren vergegenwärtigen den wilden und energievollen Charakter des Moriskentanzes. Der Moriskentanz wird bereits bei Arbeau (1585) erwähnt und bis heute weiter erforscht.12

Abb. 13: Grasser, Erasmus: Moriskentänzer mit Kegelmütze. Stadtmuseum München. Inventarnummer K-Ic/224.

11 In dem „Historischen Lexikon Bayerns“ wurde behauptet, der Ursprung des Moriskentanzes liege „in den maurischen Region Nordwestafrikas“. Siehe „Moriskentanz“, In: Historisches Lexikon Bayerns. URL. https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/ Grasser,_Erasmus:_Moriskent%C3%A4nzer,_1480 (20.07.2021). 12 Trotz seines zeitlichen Abstands und strittigen Ursprungs wird der Moriskentanz in der Wissenschaft lebhaft diskutiert, so beispielsweise in einer Tagung (2009, München) unter anderem unter volkstümlichem, historischem und interkulturellem Aspekt. (Siehe Tagungsschrift: Lauterbach, Iris und Thomas Weidner [u. a.] (Hg.): Die Münchner Moriskentänzer. Repräsentation nd Performanz Städtischen Selbstverständnisses, München 2013). In einer Ausstellung (2018, München) standen Grassers Tanzfiguren, bezogen auf den historischen Kontext, im Mittelpunkt. (Siehe Ausstellungskatalog – Bewegte Zeiten: Der Bildhauer Erasmus Grasser. München 2018). Auch hinsichtlich der Herkunft des Moriskentanzes finden sich neue Forschungsergebnisse. In mehreren Lexika wird übereinstimmend behauptet, der Moriskentanz stamme sowohl von der wörtlichen Etymologie ‚morisco‘, einem spanischen Wort für

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1 „Im Kreise herumgedreht“

Abb. 14: Callot, Jacques: Blatt 19 der Folge „Balli di Sfessania“. ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung, Inventarnummer D 1474.19.

‚maurisch‘, als auch von dem kämpferischen Charakter, abgeleitet vom Begriff Mauren für Bewohner Nordafrikas. Demnach vergegenwärtigt er also den Kampf zwischen Mauren und Christen. (Siehe Schneider, Otto: Tanzlexikon. Volkstanz, Kulttanz, Gesellschaftstanz, Kunsttanz, Ballett. Tänzer, Tänzerinnen, Choreographen, Tanz- und Ballettkomponisten von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mainz [u. a.] 1985, S. 350. Sachs, Curt: Eine Weltgeschichte des Tanzes. Mit zweiunddreißig Tafeln. Berlin 1933, S. 201, 224–229). Diese These wurde in Charlotte Geschwandtners Dissertation (2017) widerlegt. Sie betonte einerseits die Notwendigkeit, zwischen dem Substantiv ‚morisco‘ und dem Adjektiv ‚morisco/a‘ zu unterscheiden. Das Substantiv ‚morisco‘ bezieht sich auf die Herkunftsbeschreibung aus dem Maurischen, was für den Tanz nicht relevant ist. Das Adjektiv morisco/a kennzeichnet hingegen wilde und auffällige Bewegungen. Andererseits sei die Behauptung in den üblichen Lexika, der Moriskentanz vergegenwärtige den Kampf zwischen Christen und Mauren, fraglich. Nach Geschwandtner müsste zum Beispiel 1492 bei der Rückeroberung Granadas gefeiert worden sein, indem ein Moriskentanz ausgeführt wurde. Stattdessen fanden zur Karnevalszeit 1492 in Rom ein Triumphzug und mehrere Stierkämpfe statt, doch von Tanz war keine Rede. Deshalb geht es im Moriskentanz wahrscheinlich lediglich um einen archaischen Kampf um Fruchtbarkeit, welche kulturell und religiös unabhängig sein sollte. Vgl. Geschwandtner, Charlotte: Moresca. Vielfalt und Konstanten einer Tanzpraxis zwischen 15. und frühem 17. Jahrhundert. Leipzig 2017.

1.1 Callots Balli di Sfessania und Hoffmanns Prinzessin Brambilla

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Eine Frage bleibt noch offen: Warum verweist der Titel von Callots Bildern auf den Tanz ‚Sfessania‘, obwohl er den Moriskentanz darstellt? Dazu hat Donald Postner in der Arbeit Jacques Callot and the Dances called Sfessania die These aufgestellt, dass der Moriskentanz zu Callots Zeit in Neapel als „Sfessania“ bezeichnet wird. Er erlaube, so Postner, einen großen Raum für Improvisation und Assoziation mit lokalen Sitten und selbstverständlich auch Namen, die sich an Dialekte anpassen.13 Obwohl Grasser und Callot sich in ihren Kunstwerken auf den gleichen Tanz beziehen, sind große Abweichungen augenfällig. Sie lassen sich auf den zeitlichen Abstand von über einem Jahrhundert und den geographischen Unterschied zurückführen. Grassers Moriskentänzer zeigen ihre Bewegungsfähigkeiten einzeln und unmaskiert. Ihre virtuose Körperbeherrschung beim Tanz erinnert an Akrobatik.14 Callots Tanzfiguren tragen Masken der ,commedia dell’arte‘. Unter 41 Tanzfiguren mit eigenem Namen befinden sich 28 bewaffnete und fast nackte Soldatenfiguren, wie etwa im ‚Capitano-Typus‘ der commedia dell’arte. Die Soldatenfiguren tanzen und kämpfen zugleich. Ihre Waffen beschränken sich nicht nur auf Schwerter, sondern sie verwenden skurrilerweise sogar Klistiere und Musikinstrumente, ein Zeichen für Callots derben Humor.15 Übrig bleiben 13 Diener (Zani) und 5 Damenfiguren, welche weite und freie Kleidung tragen und kultivierte Bewegungen ausführen.16

13 Vgl. Posner, Donald: Jacques Callot and the Dances Called Sfessania. In: The Art Bulletin, 59 (1977), S. 203–216, hier S. 204 f. 14 In der Akrobatik geht es vornehmlich um den Sport, darum, höchstmögliche physische Leistungen zu erreichen, während beim Tanz die Ästhetik im Vordergrund steht. Über den Unterschied zwischen Tanz und Sport hat sich der Hamburger Ballettchoreograph in einer Kolumne unter folgenden Aspekten geäußert: Beim Sport zählen der Höhepunkt sowie höchste Leistung und Technik. Der Sport besitzt objektive Kriterien wie Tempo und Höhe. Im Alltag des Tanzes ist hingegen die Durchschnittsleistung entscheidend, damit eine Aufführung erfolgreich wird. Außerdem nehmen Subjektivität, Individualität, Kreativität, Emotionalität und Ausdruck, beruhend auf Technik, einen wichtigen Platz ein. Vgl. Neumeier, John: Denk ich an Sport. „Die Seele mit dem Körper ausdrücken“. Aufgezeichnet von Michael Eder. In: Frankfurter Allgemeine, Sonntagszeitung am 06.01.2019, Sport, S. 36. Ich danke Günter Oesterle für diesen Hinweis. 15 In Bild 22 stößt ein Kämpfer mit einem übermäßig langen Klistier in die Richtung des Anus seines Gegners. 16 Sowohl die Minderzahl von Zani- und Damenfiguren als auch das Fehlen von Figuren wie ‚Dottore‘ und ‚Pantalon‘, die in der commedia dell’arte für die Rolle des Liebhabers oder Vaters notwendig sind, belegen die Behauptung Donald Posners, es handele sich in Balli di Sfessania nicht um eine Theatergruppe, wie man durch die Maskierung vermuten könnte. Wie Posner schildert, ist es außerdem unwahrscheinlich, dass eine Tanzgruppe, die aus gut 40 Figuren besteht, in anderen Schriften oder Kunstwerken nicht erwähnt wurde. Daher kommt Postner

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1 „Im Kreise herumgedreht“

Als Hoffmann 1820 die Geburtstagsgabe entgegennimmt, ist er längst ein Verehrer Callots. Bereits in den dem Meister gewidmeten Fantasiestücke[n] (1814/15) drückt er seine grenzenlose Bewunderung für Callots Kunstwerke aus. Diesmal ist er ausnahmslos entzückt von Callots Balli di Sfessania. Er schreibt zu Callots Bildern eine Geschichte, die zu Prinzessin Brambilla wird, und übernimmt die Kostüme der Figuren Callots für seine literarische Phantasie. Auch Callots Verknüpfung zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen, wobei die Tanzmasken mit ihren ausdrucksstarken Nasen an Vogelschnäbel oder verlängerte Hakennasen erinnern, überträgt Hoffmann auf die literarische Ebene. Den clownesken, dramatischen und spielerischen Tanz von Callot erschafft er ebenfalls mit Worten neu. In einem fast beiläufig erwähnten Affentanz deutet er mit seiner phantasievollen Sprache auf Callot hin. Am ersten Tag des Karnevals tanzen „einige in den zartesten Farben geschmackvoll gekleidete Affen“ (780) wie Menschen, „mit sprechender Mimik in den Hinterbeinen“ (780). Ihre in pantomimischer Pose dargestellten Hinterbeine bringen die Gaukelei sowie die Balz zum Ausdruck. Sie suchen nämlich „im Koboltschießen ihres Gleichen“ (780) – anhand dieser menschenähnlichen Tiere ironisiert Hoffmann die Obszönität der Menschen.17 Hoffmann liebt die Groteske und die körperliche Befreiung im Tanz der Balli di Sfessania und schätzt Callots kunstvolle Darstellung, scheut jedoch offensichtlich allzu große Direktheit. Das wird durch seine Auswahl der Bilder deutlich. Die 28 Soldatenfiguren werden von Callot jeweils zu zweit auf 14 Blättern in tierischer Manier kämpfend gezeigt. Sie bewegen sich am wildesten, am ehesten wie Moriskentänzer, und demonstrieren mit ihrem erigierten Penis Skurrilität, Ungeniertheit und Obszönität.18 Daher kommen diese Figuren für

zu der Vermutung, dass Callot eine Tanzgruppe aus Neapel gesehen hat und sich in seiner Schöpfung andere Namen dazu ausdenkt. 17 Hier ist Christa-Maria Beardsleys Studie über Hoffmanns Verknüpfung zwischen dem Charakter der Tiere und dem Verhalten der Menschen erwähnenswert. Beardsley, Christa-Maria: E. T. A. Hoffmanns Tierfiguren im Kontext der Romantik. Die poetisch-ästhetische und die gesellschaftliche Funktion der Tiere bei Hoffmann und in der Romantik. Bonn 1985, S. 130–134. 18 Die Blätter in Callots Balli di Sfessania, auf denen Soldatenfiguren zu sehen sind, sind Nr. 2, 4, 6, 7, 10,11, 13, 14, 15, 16, 18, 19, 20 und 22. Die Nummerierung in „Bali di Sfessania“ stammt nicht von Callot, sondern wurde von einem Kunsthändler, Jacque Fagnani, erst im frühen 18. Jahrhundert vorgenommen. Quelle der Bilderserie Balli di Sfessania: E. T. A. Hoffmann, sämtliche Werke. Bd. 3. Nachtstücke: Werke 1816–1820. Prinzessin Brambilla. Hg. v. Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht. Frankfurt am Main 1985. Zum Hintergrund der Nummerierung der Bilder siehe Donald, Posner: Jacques Callot and the Dances Called Sfessania. In: The Art Bulletin. A Quarterly Publ. by the College Art Association of America, 59 (1977), S. 203–216, hier S. 215.

1.1 Callots Balli di Sfessania und Hoffmanns Prinzessin Brambilla

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Hoffmann nicht in die engere Auswahl. Seine Orientierung in Bezug auf die literarische Umsetzung zeigt sich in seinem Auftrag an Thiele. Die Figuren in Thieles nachgestochenen Bildern agieren zurückhaltend. Diese Stil-Veränderung zeitigt die Keuschheit des Biedermeiers.19 Die von Hoffmann ausgewählten acht Bilder aus Balli sind dabei nicht nur Inspirationsblätter oder Illustration. Vielmehr bestimmen sie bereits im Voraus die Struktur der Prinzessin Brambilla. „Versiegt plötzlich die Quelle“ (912) aus Callots Blättern, so beendet der Autor entsprechend die Erzählung. In jedem Kapitel findet der Leser einen Abschnitt, der einem Bild Callots/Thieles entspricht.20 Die Priorität der Bild- und Textmedien scheint sich umgekehrt zu derjenigen der üblichen Bild-Text-Beziehung zu verhalten.21 Hier illustriert nicht das Bild den Text, sondern der Text erzählt vielmehr eine Geschichte zum Bild. Hoffmann geht in seinem Text über eine bloße Bildbeschreibung hinaus; er schafft eine ganz eigenständige Erzählung voller Phantasie und Tiefsinn.22 Während Callot die Masken verwendet, um dem Tanz die Farbe der commedia dell’arte zu verleihen, nutzt Hoffmann den Tanz selbst, seine Flüchtigkeit und Dynamik zur Identitätsverwirrung, Rollenspaltung und anschließend wieder zur Neuorientierung seiner Figuren. Die Wirkung der Bilder ist trotz des bildmächtigen Textes unverzichtbar. Im Vorwort zu Prinzessin Brambilla fordert E. T. A. Hoffmann den Leser auf, „die Basis des Ganzen, nämlich Callot’s fantastisch karikierte Blätter nicht aus dem Auge“ (769) zu verlieren, da Callots Bilder den Leser „aus dem engen Kreis[e] gewöhnlicher Alltäglichkeit“ (790) locken und ihn zu Willkür, Regellosigkeit

19 Keuschheit wird in der Biedermeierzeit positiv bewertet. Der Literaturhistoriker Friedrich Sengle rekapituliert die biedermeierlichen Tugenden: „Tief gesunken ist auch der biedermeierliche Tugendwortschatz von gesinnungstüchtig mit positiver Bedeutung über ehrbar, keusch und tugendhaft bis zu bieder“. Zitat aus: Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Bd. 1. Stuttgart 1971, S. 446. 20 Mit der einzigen Ausnahme, dass der letzte Tanz im sechsten Kapitel beschrieben wird, aber als fünftes Bild für eine Art Ausblendung steht. 21 Das wechselhafte Verhältnis der Medien, Bild und Text, wurde zum Beispiel in der Tagung zum Thema „Schrift im Bild“ intensiv debattiert, veranschaulicht und erläutert. Vgl. Gibhardt, Boris und Johannes Grave (Hg.): Schrift im Bild. Rezeptionsästhetische Perspektiven auf TextBild-Relationen in den Künsten. Hannover 2018. 22 In Bezug auf das Verhältnis zwischen Callots Balli di Sfessania und Hoffmanns „Prinzessin Brambilla“ folge ich den Gedanken des Literaturwissenschaftlers Lothar Pikulik. Er sieht die Bilder als Chiffre einer verschlüsselten Bilderschrift, zu der Hoffmann zweihundert Jahre später eine Bildergeschichte ersinnt. Vgl. Pikulik, Lothar: Die Hieroglyphenschrift von Gebärde, Maske, Spiel. E. T. A. Hoffmann, Jacques Callot und die Commedia dell’arte. In: Sandro M. Moraldo. (Hg.): Das Land der Sehnsucht. E. T. A. Hoffmann und Italien. Heidelberg 2002, S. 145– 157, hier S. 157.

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1 „Im Kreise herumgedreht“

und Außergewöhnlichkeit leiten. Neben Bild und Text kommt noch eine weitere Kunst hinzu, denn auf Musik übertragen, entspricht dieses launische Zusammenspiel einem Capriccio. Hoffmann setzt diese musikalische Gattung literarisch um. Er vereint im Tanz nicht nur Anmut und Komik, sondern lässt auch insgesamt fünf Künste – Literatur, Malerei, Musik, Theater/commedia dell’arte und Tanz – zu Wort kommen.

1.2 Erster Tanz – Groteske und Arabeske im Tanz vereint Der erste Tanz der Prinzessin Brambilla findet sich im dritten Kapitel. Giglio wandelt zu jenem Zeitpunkt auf dem Corso, der zentralen Straße Roms, und sucht vergeblich nach seinem Traumbild. Dass Hoffmann den Schauplatz auf diese römische Straße verlegt, ist einerseits in Callots Bildern und andererseits in der Karnevals-Tradition begründet. Aber Hoffmann könnte sich damit auch gegen die Dominanz der offiziellen Tanzkultur wenden, die seit dem Mittelalter immer mehr von Opernhäusern, Ballsaal und Salon getragen wird, was die Verbindung zum Ursprung, der eigentlichen ,Quelle‘, dem Tanz im Freien, hat abreißen lassen. Hier in Prinzessin Brambilla beweist Hoffmann, dass Tänze weniger vom Ambiente und Interieur abhängen, als dass sie von den Tänzern selbst bestimmt werden. In diesem Fall hebt sich der phantasievoll gestaltete Tanz vom Alltag einer römischen Straße ab. Giglio nimmt zunächst eine Zuschauer-Position ein, als ihm ein tanzendes Paar auffällt: Ein possierlicher Kerl, bis auf die geringste Kleinigkeit gekleidet, wie Giglio, ja was Größe, Stellung u.s. betrifft, sein zweites Ich, tanzte nämlich Chitarre spielend, mit einem sehr zierlichen gekleideten Frauenzimmer welche Castagnetten schlug […], wenn er das Mädchen betrachtete. Er glaubte nie so viel Anmut und Schönheit gesehen zu haben […]. Dem Giglio wollte eine Ahnung aufsteigen, wer die Tänzerin sein könne, als eine Maske neben ihm sprach: „das ist die Prinzessin Brambilla, welche mit ihrem Geliebten, dem assyrischen Prinzen, Cornelio Chiapperi, tanzt!“ (828)

Für diese Szene sind Callots Blätter von entscheidender Bedeutung. Der ländliche Tanz bei Callot, den das Landmädchen Riciulina und der Bauer Metzetin ausführen, verliert bei Hoffmann seinen volkstümlichen Charakter.23 Hoffmann

23 Hier lässt sich nochmals bestätigen, dass Hoffmann sich trotz Thieles Neubearbeitung an Callots Bilder anlehnt, zumindest im Hinblick auf die Beschreibung der äußerlichen Ausstattung. Betrachten wir lediglich die Tänzerin in Callots und Thieles Version, so sind die Abweichungen unschwer zu erkennen. Während Riciulina mit der linken Hand, Arm und Finger sind angewinkelt, eindeutig Kastagnetten schlägt, ein typisches Instrument in Südspanien und Neapel, hat Prinzessin Brambilla im Bild kein rhythmusgebendes Instrument in der rechten

1.2 Erster Tanz – Groteske und Arabeske im Tanz vereint

227

verwandelt ihn in einen Tanz der zwei ‚Adeligen‘, Prinzessin Brambilla und Prinz Chiapperi. Gerade dieser Tanz ist voller Widersprüche und Magie. Zunächst ist die Identität der Tanzenden zu diskutieren.24 Begegnen sich Chiapperi und Brambilla wirklich bereits am Anfang? Oder möchte Hoffmann seinen Leser bewusst verwirren und berichtet das fiktive Geschehen so, als handle es sich um eine Tatsache?25 Die Tanzenden sind ja angeblich Brambilla und Chiapperi. Diese Information teilt der maskierte Sprecher, wohl Celionati, jedoch nur Giglio mit. Außerdem bezeichnet ja nur er die Tanzenden als Brambilla und Chiapperi. Stimmt die Identität der beiden Tänzer, dann hätten sich die beiden bereits zu diesem Zeitpunkt gefunden und die Geschichte wäre schon zu Ende. Hier intendiert Celionati wohl, Giglio den Namen seines Doppelgängers einzugeben und ihn so dazu zu bringen, über sich und sein zweites Ego zu reflektieren. Darüber hinaus hat dieser Tanz viel Märchenhaftes. Giglio wird mit sich selbst in Gestalt seines Doppelgängers Chiapperi konfrontiert. „Der Anblick seines tanzenden Ichs“ (828) ‚versteinert‘ (828) ihn. Noch merkwürdiger ist Giglios Verhalten danach – anstatt mehr über die Gründe für seine Verdopplung beziehungsweise über seinen Doppelgänger erfahren zu wollen, schiebt er diese Frage zur Seite und ergibt sich der Schönheit Brambillas. Die Akzeptanz von Giglios zweitem Ich erscheint überraschenderweise wie eine natürliche Konse-

Hand. Stattdessen ist diese Hand wie zum Schwur erhoben. Während Riciulina die wilde „Ausgelassenheit des Tanzes“ (828) durch ihre leichte schwingende Bekleidung ausstrahlt und dabei den Körper in eine S-Linie verdreht, ist Prinzessin Brambilla geprägt von geometrischer Artigkeit und Erhabenheit. 24 Es wird hier angemerkt, welche Möglichkeit es gibt, Paartänze auszuführen. Alle drei Tänze in Prinzessin Brambilla finden ihre Entsprechung in drei Bildern von Callot. Callots 24 Stiche zeigen jeweils Paartänze. Nur fünf darunter, die auch von E. T. A. Hoffmann aufgenommen worden sind, stellen Mann und Frau als Tanzpartner dar. Die Tanzenden sind zweifelsohne Giglio und Giacinta und deren Doppelgänger Chiapperi und Brambilla. Mathematisch gesehen, gibt es sechs Möglichkeiten, aus diesen vier Figuren zwei Tanzpaare zu bilden. Da Callot kein Bild von Tänzen zwischen Frau und Frau geliefert und Hoffmann entsprechend keine Begegnung zwischen Giacinta und Brambilla ermöglicht hat, ist ein Tanz zwischen diesen beiden ausgeschlossen. Die zweite Tanzszene zwischen Mann und Mann eröffnet nur eine einzige Möglichkeit für einen Tanz, der von Giglio und Chiapperi ausgeführt werden kann. Die übrigen Kombinationsmöglichkeiten (Giglio mit Brambilla, Chiapperi mit Giacinta, Giglio mit Giacinta und Brambilla mit Chiapperi) deuten auf die Tanzenden hin, die den ersten und den dritten Tanz ausführen – obwohl sie letztendlich dasselbe Paar sind. 25 Ein ähnliches Verwirrungsspiel findet sich in der Behauptung Beatrices, die arme Putzmacherin Giacinta sei ins Gefängnis geworfen worden, weil sie beim Nähen des Kleides einen Fehler gemacht habe. Als Giglio sie aus der Gefangenschaft retten möchte, erblickt er sie jedoch auf dem Balkon in Bescarpis Haus.

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1 „Im Kreise herumgedreht“

quenz. Wenn sein zweites Ich mit der Prinzessin tanzen darf, ist der Weg zur Prinzessin auch für Giglio nun nicht mehr unmöglich – er muss nur seinen Nebenbuhler, alias sein neues Ich, Chiapperi, besiegen. Während Giglio, das alte Ich, noch der Welt der Tragödie verhaftet bleibt, setzt das neue Ich, Chiapperi, einen Fuß in die Welt der Komödie, der ‚Possierlichkeit‘ (828) und „Skurrilität“ (828). Giglios gespaltene Duplizität offenbart den Konflikt zwischen der Steifheit seiner tragischen Heldenrolle und der Possierlichkeit seiner komischen Prinzenrolle. Sein Geist muss sich für einen der beiden Leiber entscheiden. Er prophezeit bereits, obwohl „ganz willenlos“, den Ausgang seiner Doppelexistenz – nur ein Giglio darf den Kampf überleben, „denn noch kämpfe ich um den Sieg!“ (810) Giglio ist von dem Tanzpaar gefesselt, weil er einerseits seinen Doppelgänger Chiapperi zum ersten Mal kennenlernt und ihm andererseits der Tanz selbst ins Auge fällt. Das augenfällige Tanzpaar wird in Abb. 15 andeutungsweise gezeigt. Chiapperi tanzt wie ein ‚Komödiant‘, kreuzt seine Beine stark und hebt ein Bein hoch, lässt aber das Becken nach unten sinken. Seine Körperstellung erinnert an einen Moriskentänzer. Hingegen tanzt Brambilla trotz ihrer wilden Bewegung mit Anmut, Eleganz und Erhabenheit. Der eine drückt das Spaßige und Possierliche aus, während die andere das Regelgerechte und Graziöse ausführt. Wir werfen noch ein Augenmerk auf Brambillas „Anmut und Schönheit“ (828) beim Tanz. Mit zwei gewichtigen Begriffen der Bewegungslehre, Anmut und Schönheit, schlägt Hoffmann eine Brücke zwischen seiner Erzählung und Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater (1810). Dort tanzen die Marionetten „mit einer Ruhe, Leichtigkeit und Anmut“26 ohne Schwerpunkt und Bewusstsein.27 Während Kleist die Grenze der menschlichen Grazie pointiert, fügt Hoffmann hier mit der Gegenüberstellung von Anmut und Possierlichkeit einen neuen Gesichtspunkt hinzu, unter welchem sich die Grenze der menschlichen Schönheits-Empfindung überwinden lässt. Diese Konstellation des Zusammentanzens ist in literarischen Tanzszenen einmalig. Widersprüchlicher kann dieser Tanz nicht sein. Was soll ausgedrückt werden? Wir versuchen ihn jeweils aus soziologischer und ästhetischer Sicht zu betrachten. Unter soziologischem Aspekt betrachtet, lässt er sich mit der Kluft

26 Kleist, Heinrich von: Kleists Werke in zwei Bänden. Ausgew. u. eingel. v. Helmut Brandt. 6. Aufl. Bd. 1. Berlin/Weimar 1976, S. 316. 27 Auch das Stichwort ‚Schwerpunkt‘ verwendet Hoffmann bewusst. Im dritten Tanz der Prinzessin Brambilla verlagert der Tänzer ‚er‘ seinen Schwerpunkt auf seine linke Fußspitze. Damit erinnert Hoffmann den Leser an die Diskussion über den „Schwerpunkt der Bewegung“ beziehungsweise über das Bewusstsein der Tanzenden bei Kleist. Quelle des Zitats: Kleist, Heinrich von: Kleists Werke in zwei Bänden. Bd. 1, S. 316.

1.2 Erster Tanz – Groteske und Arabeske im Tanz vereint

Abb. 15: Thiele, Carl Friedrich: Illustration zu E. T. A. Hoffmanns „Prinzessin Brambilla“. In: Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 3, Bildteil IX.

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in der Tanzkultur zwischen dem eleganten höfischen Tanz und dem ausgelassenen Tanz der Bauern einordnen. Unter ästhetischem Aspekt hingegen erregt der Tanz besonderes Aufsehen. Dem Kontrast zwischen Chiapperis Willkür und Brambillas Eleganz entspricht die Gegenüberstellung der Kunstformen Groteske und Arabeske.28 Die Groteske enthält den sprunghaften, kreativen, neu kombinierbaren Charakter und entwickelt sich in Richtung des Monströsen und des Hässlichen. Ihre jüngere Schwester, die Arabeske, verbindet hingegen die Sprünge, zügelt das Wilde und ist ein Inbegriff des Feenhaften und Schönen. Chiapperi verkörpert die Groteske und Brambilla die Arabeske. Die Zusammenstellung der beiden Tanzstile reizt jeden „zum Lachen“ (828). Dieser Paartanz erschließt Giglio eine neue Empfindung: dies aus den widersprechendsten Elementen gemischte Gefühl war es, in dem jene Begeisterung einer fremden unnennbaren Lust, […] auflebte im eigenen Innern. (828)

Hoffmann zielt auf die Lust zur Veränderung ab. Giglios fremde Lust entsteht eben aus der fruchtbaren Dissonanz zwischen dem Grotesken und dem Arabesken, zwischen Brechung und Einschränkung. Nur diese Lust vermag ihn aus seiner steifen Pose herauszulocken, ihn wie Chiapperi zum Mittanzen aufzufordern. Somit wagt Giglio es zum ersten Mal, ins Groteske zu schreiten und wie ein Clown „Faxen“ (826) zu machen.

1.3 Zweiter Tanz. Probe mit Grenzen Vom Beobachter wird Giglio nun zum Mittänzer. Seine ihm bisher fremde Lust sowie seine Maske, hinter der er geheim bleibt, ermutigen ihn, ausgelassen zu tanzen. Er tanzt gegen sein zweites Ich und diesem gegenüber, genauer gesagt, sein altes Ich kämpft im Tanz mit dem neuen Ich. Wiederum wie in einem Märchen findet hier ein flüchtiger und magischer Rollenwechsel statt – Giglio hält „sich augenblicklich selbst für […] Chiapperi“ (831). Er verwandelt sich plötzlich von einem Tragödienschauspieler in einen exotischen, ‚possierlichen‘ (828) Prinzen. Sein altes Ich (der Tragödienschauspieler Giglio) ist „mit einem breiten

28 Zu dem Verhältnis zwischen Arabeske und Groteske hat Günter Oesterle mehrere Schriften veröffentlicht. Siehe Oesterle, Günter: Arabeske, Groteske, Karikatur. In: Christine Lubkoll (Hg.): E. T. A. Hoffmann Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2015, S. 339–344. Oesterle, Günter: Von der Peripherie ins Zentrum. Der Aufstieg der Arabeske zur prosaischen, poetischen und intermedialen Reflexionsfigur um 1800. In: Werner Busch, Petra Maisak und Sabine Weisheit (Hg.): Verwandlung der Welt. Die romantische Arabeske. Petersberg 2013, S. 29–36.

1.3 Zweiter Tanz. Probe mit Grenzen

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hölzernen Schwert“ (827) bewaffnet, während das neue Ich (Prinz-Giglio, der sich ja für Chiapperi hält) die Gitarre des Prinzen Chiapperi und dessen komplette Bekleidung ‚übernimmt‘. Wenn der neue Giglio tanzt, folgt ihm sein altes Ich wie ein Schüler dem Meister. Nur die Requisiten – das Schwert als klassische Waffe und die Gitarre als Musikinstrument – markieren den Unterschied. Je wilder Giglios neues Ich tanzt und je stärker er die „Saiten der Chitarre“ (831) schlägt, umso heftiger schlägt sein altes Ich, ebenso „tanzend und springend“ (831), mit dem Schwert „Streiche nach ihm durch die Luft“ (831). Das neue Ich Giglios besinnt sich und begreift den Kampf: „mein verdammtes Ich will mir zu Leibe mit gefährlicher Waffe, aber ich spiele und tanze es zu Tod und dann bin ich erst ich, und die Prinzessin ist mein!“ (831) Er versucht, das alte Ich durch Musik und Tanz zu verdrängen. Noch ist Giglios altes Ich überlegen – das Schwert, das der TragödienSchauspieler Giglio in der Hand hält, trifft die Gitarre „so hart, daß sie in tausend Stücke zerspringt und Giglio rücklings über sehr unsanft zu Boden fiel“. (832) Der Sturz beendet diesen Tanz-Kampf und macht auch Giglios Verwandlung rückgängig. Er fällt wieder in die Rolle des tragischen Helden zurück. Der Sturz entlarvt Giglios Identität, weil er dabei seine Maske verloren hat. Der Tanzrausch verschwindet, und sein wiederkehrender Verstand macht ihm klar, dass ausgerechnet er als Tragödienschauspieler dem Publikum „ein groteskes Schauspiel“ (832) geliefert hat. Dafür schämt er sich und „eilt nach Hause“ (832). Auch wenn die Tatsache, zum ersten Mal wie Chiapperi als Komödiant zu tanzen, dem eitlen Giglio, seinem alten Ich, Kummer bereitet, erzielt er durch Zufall mit dem Tanz großen Erfolg. „[H]undert Stimmen riefen: Bravo, bravissimmo, Signor Giglio!“ (832) Dieser Jubel steht im Kontrast zu der für Giglio unerträglichen Kritik im zweiten Kapitel, er sei „nur eine leblose Puppe“, die einem jungen „närrisch bunte[n] Haushahn“ (798) gleiche.29 Erst durch den wilden Tanz gelingt es ihm, sich von seiner marionettenhaften Seite zu verabschieden. Was er als Tragödienschauspieler vergebens versucht, gelingt ihm hier als amüsanter Tänzer. Durch diese unkontrollierte Tanzpraxis lernt er, sich zum ersten Mal lebendig auszudrücken.30 Es ist der Tanz, der ihn lehrt, sich als Schauspie-

29 Giglios marionettenhafte Seite wird ihm komplett ‚ausgetrieben‘, als er seinem Gegner Chiapperi beim Duell unterliegt und danach seine Leiche in Form einer Pappfigur hinterlässt. Die nun von Giglio entkoppelte Pappfigur kennzeichnet seinen früheren Auftritt als leblose Puppe mit inhaltsleerem Pathos auf der Bühne. Vgl. Ringel, Stefan: Von eitlen Schauspielern, adligen Marktschreiern und strickenden Prinzessinnen. Komisches Erzählen am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns „Prinzessin Brambilla“. Mainz 2003, S. 111. 30 Vgl. Steigerwald, Jörn: Die fantastische Bildlichkeit der Stadt. Zur Begründung der literarischen Fantastik im Werk E. T. A. Hoffmanns. Würzburg 2001, S. 155.

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1 „Im Kreise herumgedreht“

ler nicht „in der Gestalt“ (909) darzustellen, sondern die Motive der Gestalt „durch unser innerstes Wesen bedingt“ (909) auszudrücken. Hoffmann stellt hier die einmalige Rolle des Tanzes heraus. Der Tanz befähigt Giglio, seine eigene Identität mit all ihrer Eitelkeit zu verlassen, um ganz und gar die eines anderen anzunehmen.31

1.4 Dritter Tanz. Wandlung durch Kreisbewegung Um sich Brambilla zu präsentieren, erwirbt Giglio beim Schneidermeister Bescarpi einen Prinzen-Anzug. Der Anzug gehört Chiapperi, in den Giglio sich noch nicht ganz verwandelt hat. Der bunte, schicke Anzug veranlasst leider seine Gefangennahme, in der Giglio sich aber als „berühmter tragischer Held, der weiße Mohr“ (867) behauptet. Seine bittere Gefangenschaft ist ihm eine Lehre. Er schlüpft wieder in Kostüme der commedia dell’arte und erscheint auf dem Corso. Die Kostüme der commedia dell’arte dienen als Schlüssel zur Phantasiewelt und als Zugang zum Tanz. Wie die ersten beiden Tänze, setzt auch der dritte Giglios Kostümierung voraus. Als Giglio wieder in der Kleidung der commedia dell’arte erscheint, fordert ihn eine „unbekannte Schöne“, Giacinta oder Brambilla, zum Tanz auf. Anders als der erste Tanz, der das Zusammenspiel von Groteske und Arabeske markiert, auch anders als der zweite Tanz, der den Kampf der zwei Ichs von Giglio manifestiert, ist der dritte Tanz verbunden mit einem durch Drehung verursachten Rausch, Schwindel und Chaos. Gerade wegen des Schwindel-Tanzes beginnt auch Giglios Suche nach dem Gleichgewicht, nach dem Verstand. So kündigt Hoffmann in der Einleitung zum sechsten Kapitel an: „Wie einer tanzend zum Prinzen wurde“ (870). Der dritte Tanz führt zur gefestigten Metamorphose, zur neuen Identität. Anstatt sich nur beim Tanz temporär für Chiapperi zu halten, verwandelt sich Giglio diesmal grundlegend in Chiapperi, so als ob für diesen Giglio nun unbekannt wäre. Die Verdopplung, die in den ersten

31 In „Seltsame Leiden eines Theater-Direktors“ plädiert Hoffmann für die sich vergessende Darstellungsart: Die Ausübung der Schauspielkunst „ist bedingt durch das Zur-Schau-Tragen der Person, wie es schon das Wort, Schauspiel – Schauspieler, andeutet. Nun ist aber wohl zu beachten, daß eben das Zur-Schau-Tragen der eigenen individuellen Person gerade der gröbste Fehler des Schauspielers ist. Dem wahren darstellenden Künstler muß die besondere geistige Kraft innwohnen, sich die von dem Dichter gegebene Person, beseelt und lebendig gefärbt, das heißt, mit allen innern Motiven, die die äußere Erscheinung in Sprache, Gang, Gebärde bedingen, vorzustellen.“ (Hoffmann, E. T. A.: sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 3. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt am Main 1985, S. 435).

1.4 Dritter Tanz. Wandlung durch Kreisbewegung

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beiden Tänzen unverändert bleibt, markiert im dritten Tanz den Anfang zur Metamorphose und zur späteren Vereinigung der Doppelidentitäten. Dieser Tanz wird unter folgenden Aspekten betrachtet: 1) Wie wird der Tanz strukturiert? 2) Wovon handelt der Tanz? 3) Von wem wird der Tanz dirigiert? 1) Giglios und Giacintas Verdopplungs- und Vereinigungsprozess bestimmt die Struktur des dritten Tanzes. Nach Gerhard Neumann beginnt dieser Tanz wie ein Ballettstück, mit einem pas de deux, ausgeführt von Giglio und einer unbekannten Schönen. Daraufhin folgt eine Zwischenphase des ‚pas de quatre‘ von vier anonymen Figuren: sie, er, sowie von Tamburin und Schwert, die hier die Rolle eines weiteren Paares annehmen. Wiederum mit einem pas de deux, getanzt von Chiapperi und Giacinta, endet der Tanz. 32 Es lässt sich ohne Schwierigkeit zusam menreimen, dass das Tamburin der unbekannten Schönen gehört und das Schwert Giglios Tanzrequisit ist. Die drei Phasen innerhalb des Tanzes verkörpern die kreuzförmige Figurenkonstellation von Giglio/Chiapperi und Giacinta/Brambilla. Die ursprünglich zwei Protagonisten Giglio und Giacinta verdoppeln sich in vier. Entsprechend tragen die Tanzenden im dritten Tanz keine konkreten Namen, was zugleich auf die Austauschbarkeit der Doppelidentitäten hinweist. Nach der Verdopplung beteiligen sich die Phantasiefiguren Brambilla und Chiapperi an der weiteren Handlung, die hier mit der Rolle der Tanzrequisiten vergleichbar ist. Sie gelten in der von Celionati erzählten Geschichte als lebendige Figuren, sind aber in der Realität „weiter gar nichts, als eine Illusion“ (899). Die chiastische Struktur, die Neuordnung der Paarbeziehung – Giglio läuft Brambilla nach, Giacinta träumt von Chiapperi – ist auch beim dritten Tanz zu spüren. ‚Er‘ spricht das für das Weibliche stehende Tamburin an, wohingegen ,sie‘ das Schwert für das Männliche akzeptiert. Am Ende des Tanzes werden die vier Tanzenden auf zwei reduziert, was das glückliche Märchenende der Erzählung Prinzessin Brambilla ermöglicht – Giacinta und Giglio erkennen ihre Spiegelbilder als Brambilla und Chiapperi und heiraten im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte ohne Komplikationen.33

32 Gerhard Neumanns triftige Strukturanalyse hinsichtlich dieses „apersonalen“ Tanzes ist nennenswert. Vgl. Neumann, Gerhard: „Tanzend zum Prinzen werden … “. Die Herstellung romantischer Identität in E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. In: Gunhild OberzaucherSchüller (Hg.): Bühnentanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. München 2007, S. 11–26. 33 Die beiden Tanzrequisiten deuten durch ihre Metaphorik auf die erotische Bedeutung des Tanzes sowie die Liebesbeziehung als zentrales Thema in Prinzessin Brambilla hin.

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1 „Im Kreise herumgedreht“

2) Der Tanz läuft „Wort für Wort“ ab. Es geht beim Tanz um eine Debatte in Gesprächsform zwischen zwei entgegengesetzten Tanzauffassungen, die ,sie‘ und ‚er‘ jeweils vertreten. Wird dem Rausch bei der Drehbewegung gefolgt und ein Stillstand, der ‚frozen moment‘, gesucht? Die Diskussion über das Gleichgewicht zwischen Rausch und Verstand rückt in den Vordergrund. Das Prinzip, trotz Drehungen das Gleichgewicht zu finden, lässt sich an einem Spielzeug veranschaulichen: dem Kreisel. Je schneller sich ein Kreisel dreht, desto mehr lässt er einen Stillstand vermuten. Ein drehender Kreisel erzeugt das Spannungsfeld zwischen der Oberfläche und dem Beibehalten des Gleichgewichts im Inneren des Objekts. Dieses Spannungsfeld findet sich in den unterschiedlichen Tanzauffassungen durch die Personen, ,sie‘ und ,er‘, wieder. ,Sie‘ zeichnet sich aus durch ewige Drehungen beim Tanz und Bewegungen, die uns heute an die tanzenden Derwische erinnern. ,Sie‘ hetzt ,ihn‘, sich stärker zu drehen, und vergnügt sich dabei, wenn „alles vorüberflieht“ (870). Der Tanz sollte weder „Ruhe“ noch „Halt“ beinhalten, damit ‚die Lust nach der Lust jagt‘ (870) und nicht durch einen Stillstand ‚Langweile‘ (870) aufkommt. Aufgrund der Drehungen, die Schwindel verursachen, hält sie es für unmöglich und zugleich unnötig, „im Tanz einen recht verständigen Verstand“ (870) zu behalten. Der Verstand ist vergleichbar mit einer Blume, „festgewurzelt in den Boden“ (870). ,Sie‘ erklärt das Gegenteil des Zustands, in dem der Verstand dominiert, auch mit einem Vergleich. Wenn ein Käfer einem „um den Kopf schwirrt und sumset“ (870) und das Getöse den klaren Gedanken zerstückelt, ergibt man sich dem Rausch. Ihrem Plädoyer nach kreuzen sich beim Tanz Wahn und Ästhetik– eine Art Dionysos-Tanz prägt die Philosophie des Loslassens, wobei Identitäten durch Drehungen undeutlich werden.34 Aus ebendiesem Drehtanz entstehen die Verneblung sowie die Austauschbarkeit der Figuren. Ihr Tanzpartner ,er‘ legt hingegen großen Wert auf den Verstand und bildet mit seiner Position den Kontrapunkt dazu. „Du nennst das närrischen Leichtsinn; aber das ist eben der Verstand, von dem du nichts hältst, unerachtet man ohne denselben nichts versteht und auch das Aequilibrium, das zu manchen Dingen nütze!“ (871) Das Schwert, das Symbol für den Verstand, mit dem er balanciert und sein Körpergewicht der ‚linken Fußspitze anvertraut‘ (871), verwendet ,er‘ zu dem Zweck, das Äquilibrium zu erreichen. Damit gibt er ein Bild

34 Vgl. Jürgens, Christian: Das Theater der Bilder. Ästhetische Modelle und literarische Konzepte in den Texten E. T. A. Hoffmanns. Heidelberg 2003, S. 111.

1.5 „Drehe dich“ – Bedeutung des Kreisens

235

wieder, bei dem er einem Seiltänzer mit Balancestange ähnelt. Leider ist ,er‘ kein geübter Seiltänzer; das Tanzen in Kreisen mit ihr betört schließlich doch seine Sinne und bewirkt, dass er die Balancestange fallenlässt. „Der fatale Schwindel“ beim Tanz bringt ihn zum Sturz. ,Er‘ kehrt zurück zur Realität. Entsprechend Hoffmanns Konzeption muss der Tanz sogar unerwartet beendet werden, denn ansonsten würde der Verstand einer Kreisbewegung folgen und ,er‘ und ,sie‘ würden sich frühzeitig erkennen, noch bevor sich bei Giglio und Giacinta der Entwicklungs- und Reifeprozess vollzieht. 3) Zu klären bleibt noch, wer den Tanz leitet. Tamburin und Schwert verdeutlichen ihre Funktion, indem sie die Interaktion der beiden Tanzenden beim ‚pas de deux‘ unterbrechen. Die Tanzrequisiten betonen „Ton und Takt“, damit ,sie‘ und ,er‘ überhaupt den Gesetzen des Tanzes folgen können. Die hier personifizierten Gegenstände, das Tamburin und das Schwert, dürfen keinesfalls in den Hintergrund der Betrachtung rücken, im Gegenteil – sie leiten den letzten Tanz und bringen ihn mit der Musik in Einklang.35 Der Kunst wird eine eigene Macht zugewiesen. Dies ist eine besondere Form der Autonomie, nämlich die beherrschende. Die Tanzkunst dirigiert die Menschen von der Metaebene aus und bringt sie zum richtigen Zeitpunkt dazu, sich zu bewegen. Das artifizielle und autonome Merkmal der Kunst in der Romantik wird bei Hoffmann nur noch verstärkt und findet so Bestätigung.36 Allein der ‚pas de deux‘-Teil bildet keine Harmonie, sondern führt aufgrund der Uneinigkeit zwischen den Tanzenden zum Konflikt. Erst der Einsatz der Tanzrequisiten, die Tanzkunst verkörpernd, zügelt die Tanzenden wieder und führt sie zur Harmonie.

1.5 „Drehe dich“ – Bedeutung des Kreisens Die Tanzauffassung, die ,sie‘ vertritt – „Keine Ruhe, kein Halt!“ (870) führt dazu, dass die vier Tanzenden sich im dritten Tanz beschleunigt bis zur Erschöpfung drehen. Der Drehtanz setzt sich in Form „der Strudel wilder Lust“ (870) fort und reißt letztendlich den Verstand des Tänzers mit sich fort. Das

35 E. T. A. Hoffmann verwendet ‚Ton und Takt‘ als das wesentliche Element der Musik häufig in einem gemeinsamen Kontext. 36 Vgl. Kremer, Detlef: Romantische Metamorphosen. E. T. A. Hoffmanns Erzählungen. Stuttgart [u. a.] 1993, S. 294.

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1 „Im Kreise herumgedreht“

Augenmerk ist auf das Kreis-Motiv gerichtet: Es hinterlässt beim Tanz bereits seine Spuren, als sich Giglio am Ende des zweiten Kapitels dem „springenden und tanzenden Haufen“ (811) zugesellt. Er vergleicht die Tanzenden mit sich ständig bewegenden Massen: „Rühre dich, rühre dich, toller Spuk!“ (811) In diesem Moment wird er auch von einem Alten „erfaßt, im Kreise herumgedreht“ (811) und „Brüderchen“ (811) genannt. Der Alte ist niemand anders als Chiapperi, der bei der ersten Begegnung mit Giglio als Pantalon-Pulcinell (789) und beim Duell mit diesem als Capitan-Pantalon (878) auftritt.37 Als Giglio sich mit seinem ‚Brüderchen‘ im Kreis dreht, gerät er zugleich in einen Zustand von Verwirrung und Täuschung. Nicht nur Giglio tanzt im Kreis, sondern auch die Damen aus den Maskenzügen vollführen ihre Tätigkeiten im Kreis. Im Palast Pistoja, zu dem die Maskenzüge gezogen sind, sitzen hundert Damen „rings umher im geschlossenen Halbkreis“ (856) und machen „sehr emsig Filet“ (856), nämlich ‚kunstvolle Handarbeit‘. Als Chiapperi und Brambilla sich gefunden haben, stehen die Damen „im Kreise rings umher“ (903), häkeln aber nicht mehr Filet. Dass die Tätigkeit für das Schweben, Spinnen und Netzhäkeln hier endet, weist synchron darauf hin, dass auch die Geschichte beendet wird, dass die Verstrickung der Beziehung zwischen Giglio und Giacinta nun aufgelöst wird. Die Art, wie die Damen mit ihrer Nadel umgehen, wird geleitet von dem Schneidermeister mit seiner Wundernadel. Seine Nadel symbolisiert Hoffmanns Schreibwerkzeug, mit dem er die Handlung konstruiert und die Figurenkonstellation im Sinne von verflochtenen Fäden gestaltet. Die Handlung wird fortgesetzt mit wiederkehrenden Szenen des Filethäkelns, die den Schreibprozess verbildlichen. Im Kreis sitzend verflechten also die Damen die Handlung im Namen von Bescarpi und letztendlich von Hoffmann. Die ‚Worte‘ als Produkt des Filethäkelns zeigen im ersten Augenblick keine geradlinige Logik, sondern stellen ein ‚Figurenkarussell‘ im Nachlaufspiel von Giglio und Giacinta und sogar ein unverständliches Sprachchaos dar.38 37 Dieser Unterschied der Maskierung ist entweder auf die Tendenz Giglios/Chiapperis zu einem Kampfcharakter zurückzuführen, der das alte Giglio-Ich besiegt, oder zeigt an, dass auch Hoffmann allmählich den Überblick verliert. 38 Indem die Maskenzüge, dirigiert von der Alten Ruffiamonte, den Titelnamen buchstabieren, bezeugen sie das Sprachchaos:“Kurri-pire-ksi-li-i i i“ und „Bram-bure-bil-bal- Ala monsa Kikiburra-son-ton!“ (781) Das Chaos der Worte, welches eine Dissonanz des Klangs erzeugt, ordnet Gerhard Neumann dem notwendigen Element des Capriccios zu. Anhand des Beispiels aus Carl Maria von Webers Musikstück überzeugte Neumann mit der These, dass im Capriccio eine Mischung von Dissonanz und Konsonanz gleichzeitig vernehmbar sei. Hoffmann setzt hier den Charakter des Capriccios durch seine Wortschöpfung, die aber nicht willkürlich ist, in der Literatur um. Neumann, Gerhard: Zeichnung, Erzählung, Musik. E. T. A. Hoffmanns

1.5 „Drehe dich“ – Bedeutung des Kreisens

237

Wenn das ,Filetmachen‘ die Fortsetzung der Handlung und Hoffmanns Schreibtätigkeit symbolisiert, kann Tanz dafür als Katalysator für die Dynamik dienen, indem Tanz die Worte im übertragenen Sinn in kreisförmige Bewegung führt. Zustimmend kommentiert eine Außenseiter-Figur der Prinzessin Brambilla, der deutsche Maler Reinhold, den Verlauf des Karnevals: Mich will es dünken, als hetzte das bunte Maskenspiel eines tollen märchenhaftes Spaßes allerlei Gestalten in immer schnelleren und schnelleren Kreisen [Meine Hervorhebung, W. R.] dermaßen durcheinander, daß man sie gar nicht mehr zu erkennen, gar nicht mehr zu unterscheiden vermag. (898)

Nicht nur die Protagonisten verirren sich in dem Maskenspiel, sondern auch der Leser benötigt häufig Orientierung.39 Die Schwierigkeit, die Hoffmann für seine Leser sieht, hat er bereits in seinem Arbeitsprozess an Prinzessin Brambilla bedacht. Er verwirrt den Leser vom ersten Augenblick an durch das launenhafte, phantasievolle und sprunghafte Capriccio, zeigt jedoch zugleich einen Ausweg aus diesem Labyrinth auf. Dabei verwendet er wiederum den Begriff ‚Kreis‘. Um den verwirrenden Text entschlüsseln zu können, musst „du, sehr geliebter Leser […] dich aus dem engen Kreise gewöhnlicher Alltäglichkeit“ (791) begeben. Sicherheitshalber ermahnt er den Leser noch einmal, den Kreis der Realität zu verlassen, um von der Metaebene aus seine kreisenden Figuren zu verstehen. Dabei markiert Hoffmann den geringen topographischen Unterschied zwischen der Realität in Rom und der Fantasiewelt: In einem kleinen Kreise, den man mit wenigen hundert Schritten durchmißt, liegt alles hübsch beisammen: der Corso, der Palast Pistoja, der Café greco usw. und, den geringen Sprung nach dem Lande Urdargarten abgerechnet, bleibt es immer bei jenem kleinen, leicht zu durchwandelnden Kreise [Meine Hervorhebung, W. R.]. (886)

Der Sprung in die Fantasiewelt hilft dem Leser, aus dem Kreis der Alltäglichkeit auszusteigen. Somit erwirbt jener einen ,Königsblick‘, womit er zugleich einen Überblick über das „bunte Maskenspiel“ (898) hat. Erst dann erkennt der Leser die Kreisbewegung als ein omnipräsentes Phänomen, welches das menschliche

Intermediales Projekt in der Erzählung „Prinzessin Brambilla“. In: Günter Schnitzler (Hg.): Wort und Ton. Freiburg [u. a.] 2011, S. 207–241, hier S. 219. 39 Man denkt hier natürlich an Heinrich Heines bekannte Begeisterung für Prinzessin Brambilla, die er zwei Wochen vor Hoffmanns Tod geäußert hat. Sein hohes Lob für Hoffmanns Prinzessin Brambilla sendet er an einen der ‚Serapionsbrüder‘, Julius Eduard Hitzig: „Prinzessin Brambilla ist eine gar köstliche Schöne, und wem diese durch ihre Wunderlichkeit nicht den Kopf schwindlig macht, der hat gar keinen Kopf. Hoffmann ist ganz original … “ (Briefe aus Berlin, 3. Brief, 7. Juni 1822. Zitat aus: Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 2. München 1969, S. 66).

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1 „Im Kreise herumgedreht“

Dasein bedingt. Die hochgepriesene Bedeutung des ‚Kreises‘ lässt Hoffmann durch seine halb-literarische und halb-autobiographische Figur Kreisler hervorheben. Auf philosophische Weise erklärt dieser seinen Namen in Lebens-Ansichten des Katers Murr (1819): Sie können nicht wegkommen von dem Worte Kreis, und der Himmel gebe, daß Sie dann gleich an die wunderbaren Kreise denken mögen, in denen sich unser ganzes Sein bewegt…40

Das menschliche Dasein ist nach Kreisler umgeben von kreisförmigen Bewegungen: die Kreisbewegungen im Kosmos, der Kreislauf der Jahreszeiten, der kreisende Wechsel zwischen Tag und Nacht, Geburt und Tod etc.41 Wie in Hoffmanns Rede von „Ebbe und Flut“ (850), erlebt Giglio hier eine sich im Kreis drehende Verwandlung in Chiapperi, die sich ebenfalls als Aufstieg und Rückfall vollzieht, verbunden mit Freude und Frust. Die kreisende Bewegung stellt nicht nur einen organischen Bezug zwischen zwei entgegengesetzten Polen dar, sondern bedeutet im weiteren Sinne auch ständige Veränderung, wobei sich deren Start- und Endpunkt treffen. Auch diese Erkenntnis müssen Giacinta und Giglio am Ende der Geschichte gewinnen – die Gegensätze haben eine diffuse Grenze. Brambilla und Chiapperi sind ihre ‚Endpunkte‘, aber zugleich auch identisch mit ihrem eigenen Ich, mit ihrem ‚Startpunkt‘. An dieser Stelle kann das chinesische Yin-Yang-Symbol (Abb. 16) als Assoziation mit Giglios gespaltener Duplizität eingeführt werden. Positioniert man den einen und den anderen jeweils im Yin-Yang-Symbol, Giglio zum Yin und Chiapperi zum Yang, so ist die Beziehung der Gegensätze zwischen dem Tragödienschauspieler und dem Komödien-Prinzen eindeutig. Wie die Beziehung zwischen Yin und Yang eine wechselhafte und wandelbare Beziehung darstellt, so sind auch die beiden Figuren austauschbar. In seinem Traum spielt Giglio bereits die Rolle des Prinzen Taer, die Hauptrolle in Gozzis Komödie Il mostro turchino, die Giglio in den Bereich der Komödien versetzt. Er ist von Anfang an nicht ausschließlich auf die tragische Darstellung fixiert. Auch der Prinz Chiapperi, der zwar „oftmals“ als „Capitan Pantalon Brighella“ (877) auftritt, überwindet nicht seine melancholische Seite. Trotz des Sieges im Duell tendiert er zu einem „traurigen Prinzen“ (900) und fühlt sich verzweifelt wegen „so oft schnöder Täuschung“ (899). Der Kerngedanke der Verwandlung Giglios, die 40 Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke. Bd. 5. Lebens-Ansichten des Katers Murr, Werke 1820–1821. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt am Main 1992, S. 76. 41 Die Beschäftigung mit der Kreisbewegung als philosophisches Thema ist keine Seltenheit in der Literatur. Dabei ist an Erich Kästners Gedichtzyklus Die dreizehn Monate zu denken.

1.5 „Drehe dich“ – Bedeutung des Kreisens

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Abb. 16: Das chinesische Yin-Yang-Symbol. Taoistisches Symbol. In: Wing, R. L.: Das Arbeitsbuch zum I Ging. Düsseldorf 1980, S. 12.

sich im dritten Tanz vollzieht, drückt den Sinn aus, in die Urdar-Quelle zu blicken. Es geht also nicht um die Vernichtung des Doppelgängers, sondern darum, die „Faxen des Doppelgängers“ (826) als Spiegelbild der eigenen „Faxen“ (826) zu verstehen. Diese Erkenntnis führt zu Weisheit und Humor. Der Blick in die Urdarquelle befähigt den Menschen zum Humor. Um die Erkenntnis der Urdarquelle zu erwerben, muss Giglio über seinen Schatten springen. Allein die Verwandlung in den Prinzen reicht dafür noch nicht aus. ‚Sie‘ und ,er‘ halten sich nach dem Tanz für Prinzessin und Prinz, haben allerdings ihre frühere Liebesbeziehung als Giacinta und Giglio vergessen.42 Als verwandelter Prinz weiß Giglio nicht mehr, dass er zuvor ein armer Schauspieler war. Jahrzehnte zuvor hat Herder nach seiner biologischen Beobachtung darüber philosophiert, wie es wäre, ausschließlich in der Gegenwart zu leben, ohne die Vergangenheit wahrzunehmen:

42 Bei der Erkennung der Geliebten versagen ‚sie und er‘, niemand anders als Giacinta und Giglio. Die in die ‚tanzende Prinzessin‘ (873) verwandelte Giacinta scheint ebenfalls eine Wiedergeburt durch den Tanz zu erleben – die gemeinsame Vergangenheit mit ihrem ehemaligen Geliebten vergisst sie offenbar im Gespräch mit ihrer ,Alten‘ Beatrice: „Erinnert Ihr wohl eines geckenhaften Komödianten, […] eines gewissen Giglio Fava?“ (881).

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1 „Im Kreise herumgedreht“

Sah ein Schmetterling die Raupe schleichen, Und erhob sich fröhlich, argwohnfrei, Dass er Raupe selbst gewesen sei.43

Die Verwandlung einer Raupe in einen Schmetterling wiederholt sich, wenn ein Schmetterling seine Eier ablegt, aus denen dann wieder eine Raupe entsteht. Die Verwandlung schließt einen Kreis, allerdings vermögen weder Schmetterling noch Raupe darüber nachzudenken. Giglio und Giacinta müssen jedoch ihre Verwandlung in Prinzen und Prinzessin erfassen. Das Verhältnis zwischen dem Schmetterling und der Raupe entspricht zwei verschiedenen Entwicklungsphasen ein und desselben Wesens. Hingegen sind Giglio und Chiapperi krasse Gegensätze innerhalb einer Phase. Das Magische und Reizvolle zeigt sich bei Hoffmann darin, dass diese Gegensätze im Tanz zur gleichen Zeit sichtbar werden und eine höhere Einheit bilden, die mit der des Yin-Yang-Symbols vergleichbar ist. Die schwarze Farbe kann dabei in die weiße übergehen sowie auch die weiße in die schwarze. Hoffmann hat offenbar eine Vorliebe dafür, das Kreis-Motiv wiederholt zu benutzen, allerdings mit variierenden Deutungen. Dabei ist an die Kreisel-Figur in Hoffmanns Der Sandmann (1816) zu denken, wo die Hauptfigur Nathanael wiederholt „Holzpüppchen dreh dich“, „Feuerkreis dreh dich“44 ausruft. Allerdings nutzt Hoffmann das gemeinsame Kreis-Motiv in beiden Lektüren unterschiedlich. Im Sandmann lebt Nathanael ausschließlich in seiner Phantasiewelt und fühlt sich von der bürgerlichen Realität nicht verstanden. Die Unlösbarkeit des Konflikts zwischen seinem poetischen Gemüt und seiner prosaischen Umgebung löst seinen Wahnsinn aus und führt zu dem dramatischen Ende. Er ist der Bewegung der mechanischen Puppe ausgeliefert, metaphorisch gesehen der gefühlskalten Industrie-Gesellschaft, er wird von ihr in einen hypnotischen Zustand versetzt, der zur Illusion, Verwirrung und schließlich in den Wahnsinn führt. Die Drehbewegung der Puppe wird zum Fluch, dem Nathanael erliegt. In Prinzessin Brambilla hingegen scheint der Drehtanz als Weg zur Erkenntnis zu dienen. Dabei ist nicht allein der dritte Tanz gemeint, sondern die wiederholten Tanz-Begebenheiten. Giglio und Giacinta bietet der Tanz eine Möglichkeit, Chiapperi und Brambilla in der Phantasie zu begegnen und diese in die Realität

43 Herder, Johann Gottfried von: Sämtliche Werke in vierzig Bänden. Zur schönen Literatur und Kunst. Bd. 13. Stuttgart/Tübingen 1861, S. 41. 44 Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 3. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt am Main 1985, S. 48–49.

1.6 Fazit

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zu integrieren. Sie empfinden so die beiden fremdartigen Rollen als ein erweitertes Ich. Daraus lernen sie es zu akzeptieren. Es geht beim Tanz in Prinzessin Brambilla nicht darum, die Dissonanz zu verdrängen, sondern darum, eine Art Harmonie einer Dissonanz zu erschaffen. Auf vergleichbare Weise wohnen die von Hoffmann virtuos konstituierten Gesetze auch diesem launenhaften Capriccio inne. 45 Aufgrund seiner Lebhaftigkeit, Dynamik und einer nicht festgeschriebenen Codierung liefert der Tanz ein Beispiel dafür, wie Multiplizität und Simplizität der Figuren miteinander harmonisieren und aus Dissonanz Konsonanz entsteht.

1.6 Fazit Zum Abschluss stellen sich noch einige einfache Fragen. Können die drei Tänze in Prinzessin Brambilla durch andere Formen der Auseinandersetzung wie z. B. einen Zweikampf oder ein Wettspiel ersetzt werden? Weshalb treffen die Gegensätze, die sich vom Charakter her ergänzenden Doppelidentitäten, ausgerechnet im Tanz aufeinander? Lässt sich die innere Balance nur in der heftigen Drehbewegung bemerken, aber nicht im Stillstand? 1) Die ästhetische Konstellation zwischen Groteske und Arabeske im Tanz: Hier noch einmal ein Rückblick auf den ersten Tanz, auf das auffällige Tanzpaar Chiapperi und Brambilla. Die Dissonanz der beiden indiziert die besondere Stellung zwischen Groteske und Arabeske. Die groteske Bewegung des Tänzers einerseits und die arabeske, graziöse Körperstellung der Tänzerin andererseits bieten Giglio als Beobachter eine neue Bewegungsmöglichkeit dar, die ihm vorher aufgrund der festgelegten Posen nicht vertraut war. Besonders Chiapperis grotesker Tanz und seine „Grimassen“ (811) veranlassen Giglio zum ersten Mal, Emotionen sichtbar nach außen zu tragen und die Gliedmaßen dem Empfinden entsprechend zu bewegen. 2) Der lebendige Ausdruck im grotesken Tanz: Im zweiten Tanz bewegt sich Giglio ebenso ‚possierlich‘ (828) wie Chiapperi. Beiläufig erlernt er einen lebendigen Körperausdruck, mit dem er seine innere Welt nach außen trägt. Nur mit diesem lebendigen Ausdruck gelingt es ihm, das Publikum nicht nur oberflächlich zu amüsieren, sondern auch innerlich zu bewegen. Das Einsetzen des Körpers beim Tanz zählt zur Vorstufe für Giglios geistige Veränderung. Über den Tanz findet

45 Vgl. Oesterle, Günter: Das Capriccio in der Literatur. In: Ekkehard Mai und Joachim Rees (Hg.): Das „Capriccio“ als Kunstprinzip. Mailand 1996, S. 187–190.

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Giglio zu einer Ausdruckskraft, die ihm als Schauspieler zugutekommen wird. Der Tanz ist somit ein unfehlbarer Weg, auf dem Schauspieler körperliche Empfindung und Körperausdruck kennenlernen.46 3) Das Gleichgewicht gerade im Wirbeltanz: Der dritte Tanz erleichtert Giglios Verwandlung, indem die Kreisbewegung die Gegensätze fließend macht, als ob er und Chiapperi gleichzeitig in der Mitte ständen. Wie das oben erwähnte Bild vom Kreisel scheinen die Identitäten beim Drehtanz ständig zu wechseln, aber im Grunde genommen tanzt immer dieselbe Person. Die Verwandlung zwischen tragischem Helden und Prinzen erscheint mühelos und wiederholbar. Hier erscheint eine weitere Überlegung lohnenswert. Der ständige Rollenwechsel in Verbindung mit den Drehungen kann als metaphorisches Bild für die gerade beginnende Industrialisierung mit Dampfmaschine, Eisenbahn und Fabrikarbeit verstanden werden. Der Fortschritt führt zum Wandel des Lebensstils und der Lebensgeschwindigkeit aller. Könnte Hoffmann mit dem Wirbeltanz eine Metapher für die gestiegene Geschwindigkeit geschaffen haben, die auf die diffuse Identität der Menschen in solch umwälzenden Zeiten hindeutet? In Prinzessin Brambilla fungiert der Tanz letztendlich als Heilmittel, das die Krise in Giglios und Giacintas Liebesgeschichte aufhebt und ihre Traumfiguren auf der Theaterbühne lebendig werden lässt.47 Erstens macht der Tanz Giglio und Giacinta mit ihren Doppelgängern vertraut. Während der Drehungen schwanken sie zwischen den Rollen Chiapperi und Brambilla und ihrem eigenen Ich, wodurch es ihnen möglich wird, ihre Doppelgänger zu erkennen. Zweitens verhilft das ‚Aequilibrium‘, das Gleichgewicht, den Tanzenden beim Tanz dazu, sich temporär vom Schwindel und aus der Verwirrung zu lösen und sich dabei auf die Auflösung der Verwirrungskrise vorzubereiten. Beim Tanz gelangen

46 Heute bildet der Tanz für Schauspielstudierende überall ein wichtiges Mittel zur Entwicklung ihrer Ausdrucksfähigkeit. 47 Henriett Linder bezeichnete die Erzählung Prinzessin Brambilla als eine Heilungsgeschichte, in der Giglio/Chiapperi für die Krankheit mit der Bezeichnung chronischer Dualismus, eine Erfindung E. T. A. Hoffmanns, eine Therapiemittel zur Selbstheilung suche und finde. Die Heilmethode sei eine das Unernstes – die Urdarquelle behebt den Konflikt, der durch das verkehrte Sehen, das Symptom des chronischen Dualismus’, entsteht. Vgl. Lindner, Henriett: „Schnöde Kunststücke gefallener Geister“. E. T. A. Hoffmanns Werk im Kontext der zeitgenössischen Seelenkunde. Würzburg 2001.

1.6 Fazit

243

sie für einen Moment, um mit Heide Eilert zu sprechen, in eine „Gleichgewichtslage zwischen Traumexzentrik und Faktizität“48. Obwohl diese ‚Gleichgewichtslage‘ nicht gerade Stabilität garantiert, setzt sie die Unterscheidung sowie die Balancierung zwischen der phantastischen und realen Welt mithilfe eines Blicks in den Urdarsee voraus. Hoffmann lässt mehrere Kunstformen in diesem literarischen Capriccio zusammenspielen. Der Tanz in Prinzessin Brambilla hat somit neben der Musikbegleitung in der Handlung noch mehrere Medienträger auf der Erzählebene. Er existiert zuerst in Callots Bildern und erlebt dann einen Ergänzungs- und Interpretationsvorgang bei Hoffmann. Dabei wird der Tanz zu einer eigenen Kraft. Als Generator bringt er das Zusammenspiel der Kunstformen in Schwung, wobei in ihm zwar noch Bewegungen, aber zugleich auch Pause sowie Stillstand herrschen. So hält der Tanz für sich selbst eine Balance zwischen Drehung und Stillstand, zwischen Phantasie und Realität, zwischen Verwirrung und philosophischer Einsicht, wozu Hoffmann seine Protagonisten in Prinzessin Brambilla befähigt hat.

48 Vgl. Eilert, Heide: Theater in der Erzählkunst. Eine Studie zum Werk E. T. A. Hoffmanns. Tübingen/ Berlin 1977, S. 135.

2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel. Mignon in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) und Laurence in Florentinische Nächte (1836) Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) nennt Heine „das beste Muster eines Romans“1. Er ist vor Heines Geburt erschienen. Das Erscheinen von Heines Florentinische Nächte (1836), einem Novellenzyklus, kann dagegen der bereits 1832 verstorbene Goethe nicht mehr erleben.2 In beiden Werken ragt jeweils eine Figur als Tänzerin heraus, Mignon bei Goethe und Laurence bei Heine. Zwischen der Entstehungszeit der literarischen Figuren liegt knapp ein halbes Jahrhundert: Mignon, eine androgyne3 und virtuose Akrobatin, gestaltet Goethe, als er nach seiner Italienreise seine Tätigkeit als Direktor für das Weimarer Hoftheater annimmt. Laurence, als eine ungeschulte und natürliche Tänzerin, entwirft Heine, als er sein Exilleben in Paris beginnt und die preußische Zensur ihm jegliche politisch provozierende Schriften verbietet. Die konträren Lebensbedingungen der beiden Autoren sowie deren Dichtungsstile zeigen sich in der unterschiedlichen Gestaltung ihrer ‚Tänzerin-Figuren‘. Erstaunlich und bemerkenswert sind jedoch die Parallelen zwischen Mignon und Laurence – beide sind ursprünglich Straßenkünstlerinnen, beide ziehen sich von der Öffentlichkeit ins Private zurück. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Heine mit seiner Laurence auf Goethes Mignon verweisen will, zumal er sich bereits in Reise von München nach Genua

1 Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 8/1. (Die romantische Schule. Drittes Buch), S. 227. Alle Zitate aus der gleichen Quelle werden mit ‚DHA‘, plus Band- und Seitenzahl in Klammern im Fließtext vermerkt. 2 Zu Heines präzis durchgedachter Komposition für eine novellistische Form und Thematik in Florentinische Nächte, siehe. Milke, Christine: Der Tod und das novellistische Erzählen. Heinrich Heines „Florentinische Nächte“. In: Heine-Jahrbuch, 41 (2002), S. 54–82, hier S. 54–74. 3 Mignon ist eine der vielen Antonomasie-Figuren in Wilhelm Meisters Lehrjahre. Goethe verwendet das Motiv des Geschlechtswechsels, die von Wilhelm genannte „Mannweiblichkeit“ (FA 9, 378), so Uwe Steiner, bereits bei der heldenhaften Figur Chloriden aus Tassos „Das befreite Jerusalem“ (FA 9, 377), den Wilhelm in der Kindheit oft liest. Auch Natalie bezeichnet Goethe als „die schöne Amazone“ (FA 9, 589) und Therese als „eine wahre Amazone“ (FA 9, 816). Bei der ersten Begegnung zwischen Wilhelm und Natalie trägt sie übrigens auch einen Männer-Mantel. Die Verwendung der Antonomasie-Figuren als Frauen-Figuren führt allerdings nicht zur Identitätskrise, sondern kennzeichnet vermutlich Goethes rebellische Stimmung gegen die konventionelle Rollenverteilung. Vgl. Steiner, Uwe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Bernd Witte (Hg.): Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 3. Prosaschriften. Stuttgart [u. a.] 1997, S. 113–152, hier S. 122. https://doi.org/10.1515/9783110759815-014

2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

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(1830) mit diesem Stoff auseinandergesetzt hat. Dort greift Heine allerdings den Prototyp der musikalischen Mignon-Figur auf, lässt ein italienisches zerbrechliches Mädchen aus „ein[em] wunderliche[n] Trio“ (DHA 7/1, 48) Harfe spielen.4 Dabei arbeitet er noch nicht den Aspekt heraus, Mignon als geborene Tänzerin zu sehen. Deshalb stellt sich die Frage: Inwiefern kann man Laurence als Variation der Mignon-Figur assoziieren? Ein allgemeiner intertextueller Vergleich der Florentinischen Nächte zu Wilhelm Meisters Lehrjahre verdient eine eigene Untersuchung. Hier in diesem Kapitel werden Mignon und Laurence in ihrer unterschiedlichen Charakteristik als Tänzerinnen erörtert. Das Ziel des vorliegenden Kapitels liegt darin, – die literarischen Darstellungen der beiden Figuren zu vergleichen, – ihre historische Aktualität und Anspielung des Tanzes zu erkunden, – das Verhältnis der Sprache zur Tanzdynamik aufzuzeigen. Ein Schlüsselwort verbindet beide Tänzerinnen trotz des zeitlichen und geographischen Abstandes – das ‚Rätselhafte‘. Das Wort Rätsel lässt einen an Seltsamkeit, Undurchschaubarkeit und Komplexität denken. Dies lässt sich besonders an der Körperlichkeit der beiden Tänzerinnen bemerken. Dem ersten Eindruck nach ist Mignons Bewegungshabitus „etwas sonderbares“ zu eigen (FA 9, 463); Laurence’ Tanz ist voller „rätselhafte[r] Bewegungen“ (DHA 5, 232). Bei näherer Betrachtung fordert das Rätsel eine Lösung. Die Figuren treiben ihre Betrachter dazu an, sich mit dem Geheimnisvollen auseinanderzusetzen und die Denkaufgabe zu lösen.5 Gerade im Tanz, in der beruflichen Ausübung Mignons und Laurence’, können ihre rätselhaften Züge am ehesten aufbrechen. Somit eröffnet der Tanz einen Zugang, ihre Charakterzüge und ihre jeweilige Aussage zu deuten. Das breite Spektrum der Tanzstile von Mignon und Laurence veranlasst mich, ihre Tänze in zwei verschiedenen Phasen zu betrachten. Während Mignon zwei Tänze mit zeitlichem Abstand aufführt, einen Eiertanz und einen ‚Mänaden‘-Tanz, zeigt Laurence immerzu den gleichen Tanz mit örtlicher Veränderung, im Straßenmilieu in London und einige Zeit später in ihrem Schlafzimmer in Paris. Mignons Eiertanz und Laurence’ Londoner Tanz ordne ich der ersten Phase zu, in der Mignon und Laurence, noch als Mädchen, entweder die Aufmerksamkeit ihres Beobachters (Wilhelm/Maximilian) durch Tanzen erwerben oder ihren Lebensunterhalt verdienen. Zur zweiten Phase gehören Mignons Mänaden-Tanz und Laurence’ Pa-

4 Vgl. Hoffmeister, Gerhart: Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. New York [u. a.] 1993, S. 238. 5 Vgl. Neumann, Gerhard: Lesbarkeit des Gesichts. Heines „Florentinische Nächte“. In: Sigrid Weigel (Hg.): Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen. München 2013, S. 201–215, hier S. 215.

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riser Tanz, weil diese beiden Tänze deutlich erwachsene und bacchantische Züge tragen. Mignon führt ihren Mänaden-Tanz in einer Schauspieler-Tischgesellschaft vor, in der sich auch Maximilian befindet. Hingegen tanzt Laurence im Pariser Schlafzimmer vor ihrem einzigen Zuschauer Wilhelm. Der Effekt des Rätselhaften entsteht möglich einerseits durch die Zusammensetzung der nicht zueinander passenden Charakterzüge, andererseits durch die fluiden Grenzen der Zeit und des Raums. Für eine Gegenüberstellung ihrer Tänze sind hier einige Ansatzpunkte und Stichwörter aufgelistet. – Das Naturtalent und die technische Virtuosität der Tänzerinnen, – Reziprozität zwischen dem Tanzstil und der Erzähltechnik, – das Balancieren zwischen bacchantischer Ausgelassenheit und bedrohlichem Grauen. Dabei wird in Hinsicht auf Mignons Virtuosität im Folgenden ein Exkurs über den Eiertanz geführt, zum Thema Laurence’ Tanz wird das Spannungsfeld zwischen Tanz und Tod diskutiert.

2.1 Erste Phase. Mignons Eiertanz und Laurence’ öffentlicher Auftritt Die Tänze von Mignon und Laurence sind nicht den geläufigen Tanzarten um 1800 zuzuordnen. Einzig Mignons erster Tanz verfügt über einen klaren Namen, Eiertanz. Begriffsgeschichtlich ist „Eiertanz“ als spezifischer Tanz zu Goethes Zeit kaum in Nachschlagewerken zu finden,6 wohl aber sind Eierspiele eine verwandte körperliche Aktivität. Eierspiele sind als Ostergebräuche in der holländischen Malerei des 16/17. Jahrhunderts dokumentiert, wie durch das in Abb. 17 erfasste Gemälde.7 In diesem ,Geschicklichkeit-Tanz‘ gilt es, mit den Füßen ein Ei in eine dafür schräg nach unten gestellte Schüssel zu manövrieren, ohne das Ei zu beschädigen. 6 Siehe Gabriele Brandstetters Studie über die Etymologie des Eiertanzes. Neben der Auflistung von möglichen Einträgen zu Eiertanz in Lexika, insbesondere Lexika zu Goethes Zeit, machte Brandstetter die Abweichungen zwischen Mignons anmutigem und blinden Eiertanz und in Bildern auftauchende volkstümliche Eierspiele auf jahreszeitlichen Festen deutlich. Vgl. Brandstetter, Gabriele: Mignons Eiertanz. Goethes Auftrittsszene im theater- und tanzgeschichtlichen Kontext. In: Walter Hettche und Rolf Selbmann (Hg.): Goethe und die Musik. Würzburg 2012, S. 67–92, hier S. 68–70. 7 Dazu eine Bildersammlung des Eiertanzes im Zeitraum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert: „The Egg Dance“. From Peasant Village to Political Caricature. In: The public doman review. URL. https://publicdomainreview.org/collections/the-egg-dance-from-peasant-village-to-politi cal-caricature/ (20.07.2021).

2.1 Erste Phase. Mignons Eiertanz und Laurence’ öffentlicher Auftritt

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Abb. 17: Saftleven, Cornelis: The egg dance. Nationalmuseum Warschau, mit dem polnischen Titel „Taniec z jajkiec“, Inventarnummer M.Ob.496 MNW.

Mignons Eiertanz findet auf einer kunstvolleren Ebene als das Volksspiel statt und hat schon den Charakter eines Kunsttanzes. Die Choreographie, die Musik sowie das ‚Bühnenbild‘ mit Teppich und Kerzen gestaltet sie bewusst im Voraus. Mignon wagt nicht nur das riskante Spiel mit verbundenen Augen, sondern wird sogar ästhetischen Ansprüchen gerecht. Goethe zieht dabei eine klare Trennungslinie zwischen Mignons künstlerisch-virtuosen Tanz und dem volkstümlichen Eierspiel.8 Er betont den Abstand zwischen Meisterschaft und Dilettantismus, welcher ihn zeitgleich beschäftigt.9

8 Zum Begriff Virtuosentum, welches sich auf die fast übermenschliche und unmögliche technische Fertigkeit beim Darstellen der Künste bezieht, siehe einschlägiger Artikel: Brandstetter, Gabriele: Virtuoses Gesamtkunstwerk? Steigerung, Exzess und Unterbietung in der Ästhetik der „Ballets Russes“. In: Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Genie,Virtuose, Dilettant. Würzburg 2011, S. 179–198. 9 Im Mai 1799 arbeiteten Goethe und Schiller intensiv an der Überlegung, welche Vorteile und Nachteile das Wirken der Dilettanten für die Künste bringen könnten. Die acht Schemata in

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In der Tanzgeschichte finden sich einige parallele Ereignisse, welche mit der Virtuosität des Tanzes von Mignon zusammenhängen könnten. Gerade in den Jahren zwischen Goethes Niederschrift von Wilhelm Meisters theatralischer Sendung (1777–1785) und den Lehrjahren (1795/96) tauchen in den USA Zeitungsberichte über Mignons Eiertanz ähnelnde Tanz-Performances auf: 1) 1788 wurde in Philadelphia berichtet – der italienische Balance-Meister Sieur Carli „will […] dance over a dozen of Eggs, blind-folded“10. „Sieur Carli having performed in the most popular cities in Europe, and some parts of America.“11 Es steht noch offen, ob Goethe vom Sieur Carlis Eiertanz gehört hat und diesen als Vorbild für Mignons Eiertanz entwirft. 2) Ein Jahr später – der Hornpipe-Tänzer John Durang „will dance a Hornpipe on 13 Eggs, blindfolded, without breaking one.“12 Zurück zu Mignon. Bei der ersten Begegnung kann Wilhelm schnell das Vertrauen Mignons gewinnen. Sie erfolgt im Milieu einer Straßenkünstler-Gesellschaft.13 Nachdem Wilhelm der Seiltänzergesellschaft für Mignon ein Auslösegeld gezahlt hat, nimmt sie eine emotionale Bindung zu ihrem Wohltäter auf und will „dienen“ (FA 9, 459). Erst jetzt in dieser privaten häuslichen Sphäre zeigt sich Mignon in ihrer Rolle als Tänzerin und kündigt ihren Tanz unerwartet bei Wilhelm an. So muss der Leser Wilhelm als einzigem Zuschauer folgen, mit ihm die Treppen hinaufgehen und in sein abgeschiedenes und intimes Zimmer eintreten, um Mignons Tanz mit beobachten zu können.

sieben Künsten als Resultat der Zusammenarbeit kommen innerhalb von zwei Wochen in einer tabellenähnlichen Form zustande. Dem Gesamtschema folgen einzelne Schemata für sieben Künste (Poesie, Zeichnen/Malen und Skulptur, Musik, Tanz, Architektur, Gartenkunst und Theater/Schauspiel). Siehe FA 18, 739–786. (Über den Dilettantismus). Vgl. mein Kapitel zum Schillers Gedicht Der Tanz. 10 Anonym: The celebrated Italian Balance Master. In: The Independent Gazetteer (Philadelphia, Pennsylvania), 26.01.1788, S. 3. Es steht noch offen, ob Goethe vom Sieur Carlis Eiertanz gehört hat, bevor er Mignons Eiertanz entwirft. 11 Anonym: The celebrated Italian Balance Master. In: The Independent Gazetteer (Philadelphia, Pennsylvania), 26.01.1788, S. 3. 12 Anonym: Harmony-hall. Tomorro Evening will be presented … In: The Pennsylvania Packet (Philadelphia, Pennsylcania), 06.11.1789, S. 3. 13 Mignon, „ein junges Geschöpf“ (FA 9, 443) mit „langen, schwarzen Haaren“ (FA 9, 444), trägt „lange Beinkleider mit Puffen“ (FA 9, 444). Laurence, „ein etwa fünfzehnjähriges junges Mädchen“ (DHA 5, 228), deren „Haare glänzend schwarz um die Schläfe gewunden“ (DHA 5, 228) sind, trägt „weit, ebenfalls blau gestreifte Pantalons“ (DHA 5, 228). Die schwarze Haarfarbe verleiht beiden eine südländische Exotik. Die weiten Hosen negieren ihre weiblichen Konturen, kündigen zugleich ihren Tanzstil auch an – Man kann davon ausgehen, dass damit ein Kontrast zum Ballett im Theaterhaus sichtbar gemacht werden soll.

2.1 Erste Phase. Mignons Eiertanz und Laurence’ öffentlicher Auftritt

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Mignons Eiertanz darf aber nicht insofern missverstanden werden, als ob er ein äquivalenter Wert im Gegenzug zu ihrem Lösegeld sei.14 Sie unterscheidet sehr genau zwischen Kunst und kommerziellem Austausch. Sie bietet zum Beispiel dem Violine-Spieler für seine Musikbegleitung „etwas Geld“ (FA 9, 470) an. Hingegen revanchiert sie sich bei Wilhelm mit ihrer Kunst, aber nicht nur das. In ihrem Tanz deutet sie die Bereitschaft zu amouröser Hingabe an. Dies verrät schon die Musik, die Rhythmen und Klänge des spanischen Paartanzes Fandango. Sie steigern sich in Geschwindigkeit und Temperament derart, dass der zunächst maßvolle Tanz sich zur stürmischen Hetz- und Verfolgungsjagd wandelt.15 In Goethes ‚Ur-Meister‘, Wilhelm Meisters theatralische Sendung, wurde der Fandango noch nicht erwähnt.16 Die Benennung der Musik erfolgt erst in Lehrjahren und trägt das Attribut „der bekannte Fandango“ (FA 9, 470), womit Goethe den Leser als Kenner ansprechen möchte. Das Fehlen eines Hinweises, warum Mignon diese Musik verwendet, spielt auf ihre Liebe zu Wilhelm an, welche sie aber wegen des heiklen Themas Kindfrau nicht auszusprechen mag. Goethe differenziert in Mignons Eiertanz-Episode unterschiedliche Zeiten. Mignons Vorkehrungen zum Tanz widmet er eine detaillierte und zeitdehnende Schilderung. Der eigentliche Beginn ihres Tanzes wird dagegen knapp und zeitraffend auf den Punkt gebracht. Sobald Mignon den Hausmusiker ins Zimmer ruft, „verband [sie] sich die Augen, gab das Zeichen und fing […] ihre Bewegung an“ (FA 9, 469), ohne musikalisches Vorspiel oder Vorbereitungsgeste. Ihre Sorgfalt und Geduld beim Ausmessen und Aufbau des ‚Bühnenbildes‘ kontrastieren mit Kühnheit und reifem Können. Durch die verbundenen Augen ist zwar ihre visuelle Wahrnehmung ausgeblendet, ihr Raumsinn ist dagegen erstaunlicherweise voll erhalten. Darin liegt ihre kinästhetische Meisterschaft – Mignon zeigt absolute Körperbeherrschung, Raumwahrnehmung, -orientierung

14 Nach Achim Aurnhammer gleiche das Lösegeld funktional einer Eintrittskarte für den Eiertanz. Vgl. Aurnhammer, Achim: Bitextuelle Choreographie. Mignons Eiertanz mit Wilhelm als Zuschauer. In: Achim Aurnhammer und Günter Schnitzler (Hg.): Der Tanz in den Künsten 1770–1914. Freiburg [u. a.] 2009, S. 171–187. 15 Augenscheinlich wird Fandango trotz der erotischen und archaischen Färbung häufig ohne körperliche Berührung, also ohne Erregung des Tastsinns, getanzt. Wenn dieser Tanz erotisch bezeichnet werden soll, trägt eher das Accelerando wesentlich dazu bei. Vgl. Schneider, Otto. Tanzlexikon. Mainz [u. a.] 1985, S. 156. Sachs, Curt: Eine Weltgeschichte des Tanzes. Berlin 1933, S. 68. 16 In Wilhelm Meisters theatralische Sendung stand noch: Mignon hat „sich seit einiger Zeit viele Mühe gegeben, ihm [Musikus] den Tanz vorzusingen, bis er ihn habe spielen können.“ (FA 9, 192) Den Satz hat Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahre geändert und den Tanz Fandango hinzugefügt: Mignon hat „sich seit einiger Zeit viele Mühe gegeben, ihm den Tanz, welches der bekannte Fandango war, solange vorzusingen, bis er ihn habe spielen können.“ (FA 9, 470).

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

und Raumgedächtnis, selbst ohne visuelle Wahrnehmung. Ihre geschlossenen Augen kennzeichnen ihre Rückkehr in ihre innere Welt, und zwar ihren entschlossenen Rückzug von einer öffentlich agierenden Künstlerin ins Private.17 Laurence’ erster Tanz findet, anders als der von Mignon, in der Öffentlichkeit statt. Maximilian lernt zunächst ihren Tanz und dann die Person kennen. Der Leser erfährt Laurence’ Tanz nicht direkt, sondern auf Umwegen über Maximilians Schilderungen vor der bettlägerigen Kranken Maria. Laurence tritt bei der ersten Begegnung als Mitglied eines grotesken Quartetts auf. Ihre ‚griechische Schönheit‘ steht im Kontrast zu den drei restlichen Mitgliedern des Ensembles – dem egoistischen und altmodischen Zwerg Monsieur Türlütü, der schwarz gekleideten, vermeintlichen ‚Madame Mutter‘ und dem verhöhnten gelehrten Hund, der früher vom Adel verwöhnt wurde.18 Türlütü propagiert Laurence’ Tanz mit seiner Ansage: „Bewundern Sie jetzt den Tanz von Mademoiselle!“ (DHA 5, 230) Ein großer Teppich, vergleichbar mit der ‚Schaubühne‘ Mignons beim Eiertanz, markiert Laurence’ Bühne. Allerdings tanzt Laurence nicht aus eigener Motivation, sondern sie wirkt „mißlaunig“ (DHA 5, 228) und „verdrießlich in sich versunken“ (DHA 5, 230). Sie wird zum Tanz genötigt, damit das Quartett Geld erhält. Dieser Broterwerb bereitet Laurence offenbar kein Vergnügen. Sie ignoriert Türlütüs jubelhafte Ansage und die Zuschauer mit Gleichgültigkeit und Emotionslosigkeit. Mit solcher Unlust steht sie für das selbstbewusste und stolze Künstlertum. Zu dieser Zeit beginnen Künstler sich aus ihrer Abhängigkeit vom Hof allmählich zu lösen, um sich dann auf dem freien Markt anzubieten. Um von ihrer Kunst zu leben, bleibt Laurence nur die Wahl, dem Publikum und ihrem Auftraggeber entgegenzukommen. Ihr missgelauntes Gesicht zeigt ihren Unmut, „durch äußere Bewegungsformen zu amüsiren“ (DHA 5, 231). Ihre solch misanthropische Haltung gegenüber dem Publikum gefährdete aber den Erfolg. Entsprechend wenig Anerkennung erhält sie innerhalb des Quartetts. Türlütü und die schwarz gekleidete Frau quälen die junge Tänzerin und begründen, das Publikum interessiere

17 In Wilhelm Meisters Lehrjahre kennzeichnen die geschlossenen Augen einen typischen Künstler-Charakter, sich in sich zurückzuziehen und auf die innere Empfindung zu hören. Auch in einem Lied des Harfenspielers singt er: „der Sänger drückt die Augen ein, / Und schlug die vollen Töne“ (FA 9, 484). Vgl. Kieß, Martina: Poesie und Prosa. Die Lieder in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“. Frankfurt am Main 1987, S. 117. 18 Wie Heine anhand des Quartetts auf die politische Machtverteilung hindeutet, erörtert Bernd Kortländer. Der Zwerg und der gelehrte Hund vertreten die alte napoleonische Macht, deren Zeit bereits mit einer Niederlage in Waterloo vergangen ist. Madame Mutter, die eigentlich weder die Mutter von Laurence noch eine Witwe ist, stehe für die Gesellschaftsgruppe von „Gauner, Hehler und Zuhälter“. Vgl. Kortländer, Bernd: Nachwort. In: Heinrich Heine, Florentinische Nächte. Stuttgart 2012, S. 99–111, hier S. 108 f.

2.2 Tanz als Mittel zur Kommunikation

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sich „nicht im mindestens“ (DHA 5, 245) für sie, sogar der Hund sei „tausendmal mehr werth“ (DHA 5, 245) als sie mit ihrem „schlechten Tanzen“ (DHA 5, 245). Die Tanzmusik, die Mingnons Tanzqualität mitbestimmt, hat bei Laurence’ Tanz nicht das gleiche Niveau. Türlütü und die ‚Madame Mutter‘ besitzen zwar keinen Kunstsinn, übernehmen aber die musikalische Begleitung für ihren Tanz. Diese Begleitung ist nicht gefällig, sondern auf äußerst unpassende Weise ausdrucksstark. Die „sonderbare“ (DHA 5,230) Musik besteht aus kontrastvoller „Mischung von täppischer Brummigkeit“ (DHA 5, 230) der Trommel und „wollüstigem Gekitzel“ (DHA 5, 230) des Triangels. Türlütüs Triangel kichert „manchmal so hämisch“ (DHA 5, 231); Madam Mutter schlägt „auf ihre große Trommel so zornig“ (DHA 5, 231). Der Kontrast der Tonhöhe und des Klangs bei den beiden Instrumenten erzeugt eine komische und lärmbetonte Wirkung. Sie kann mit der schrillen und humoristischen Guggenmusik in der alemannischen Fastnacht assoziiert werden, in der Piccolo und Basstrommel außergewöhnliche Gegensätze bilden. Während die Musiker der Fastnacht mit der Musik die Geister abschrecken, erschrecken ‚die unbegabten Musiker‘ des Quartetts als Lärm-Erzeuger ihr Publikum. Laurence ist keine geborene Akrobatin wie Mignon. Sie ist „keine große Tänzerinn [sic]“ (DHA 5, 230), wenn man professionelles Ballett als Maßstab nimmt. Sie versteht zwar „nichts von der Tanzkunst“ (DHA 5, 231), wie sie im 18./19. Jahrhundert die bekannten französischen Balletttänzer und -meister wie August Vestris an der Pariser Oper lehren. Jedoch veranlasst sie vielleicht gerade daher eine tanzliterarische und tanzgeschichtliche Sensation – „[S]ie tanzte wie die Natur den Menschen zu tanzen gebietet […] ihr ganzes Wesen war im Einklang mit ihren Pas, nicht bloß ihre Füße, sondern ihr ganzer Leib tanzte, ihr Gesicht tanzte“ (DHA 5, 231). Anders als beim akademisierten Ballett, unterwirft sich ihr Körper beim Tanz nicht den strengen Gesetzen der Lehrmeister, im Gegenteil, der Tanz passt sich dem Körper an. Sie tanzt ihrem Individuum und Charakter entsprechend. Dagegen riskiert Mignon den Konflikt zwischen eigenwilliger Kühnheit und den ‚Fesseln‘ durch die Eier.

2.2 Tanz als Mittel zur Kommunikation Die Sprache, mit der Goethe und Heine die Tänze schildern, ist selbst vom Tanz beeinflusst. Zwar behält Goethe auch bei Mignons Eiertanz die Prosa-Form bei, aber bei aller metrischen und rhythmischen Freiheit verwendet Goethe Bilder aus Musik und Bewegung, wie die ‚poetologischen‘ „Schlage der Castagnetten“ und „Tact und Melodie“ (FA 9, 469). Mignon selbst wird mit einem Takt-Zähler verglichen – sie tanzt „wie ein aufgezogenes Räderwerk“ (FA 9, 469), „ein Uhr-

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

werk“ (FA 9, 469), das im Hintergrund den Takt zählt. Somit wird eine Ambivalenz in Mignons Tanz hervorgehoben: Tanz ist eine ephemere Kunst und lebt vom Augenblick, der durch ein ,Uhrwerk‘ mit Kontinuität und Wiederholbarkeit gekoppelt wird. Die Gemeinsamkeit zwischen Mignon und Shakespeares literarischen Figu19 ren, Maschinen-Menschen zu sein, ist anhand von Wilhelms Shakespeare-Rezeption zu spüren: Seine Menschen scheinen natürliche Menschen zu sein, und sie sind es doch nicht […] als wenn sie Uhren wären […] man kann zugleich das Räder- und Federwerk erkennen, das sie treibt. Diese wenigen Blicke, die ich in Shakespeares Welt gethan, reizen mich mehr als irgendetwas andres, in der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwärts zu thun. (FA 9, 552)

Die menschliche Tätigkeit wirke maschinell und marionettenhaft, so Wilhelm, als ob eine unsichtbare Hand die Shakespeare’schen Figuren sowie Mignon dirigieren würde. Mignon, halb virtuose Tänzerin mit hoher Körperkontrolle, halb marionettenhaft ohne Bewusstsein tanzend, stellt eine besondere Ausprägung einer Schwellenfigur dar. Durch das Mechanische, Marionettenhafte, Übermenschliche, letztendlich das ‚Un-Menschliche‘, wird Mignon zum verfremdenden Rätsel. Ein Normalfall beim Eiertanz wäre, sich vorsichtig zwischen den Eiern zu winden, umständliche Kurven auszuführen, so wie es die heutige Redewendung – ‚einen Eiertanz aufführen‘ – meint, wenn sich jemand durch schwierige Situationen laviert. Dazu bildet Mignons Virtuosität einen deutlichen Kontrast. Sie schreitet „zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder“ (FA 9, 469), zeigt eine „(S)schnelle Wendung“, „Sprünge(n)“ und „weite Schritte“ (FA 9, 469). Goethe verleiht ihrem Tanz eine gewisse Magie. Die Spannung zwischen dem objektiv herausfordernden Spiel und dem subjektiven Können des Menschen steigert sich im Laufe ihres Tanzes. Goethe zeigt dem Leser einerseits das marionettenhafte Wesen Mignons, das von „Tact und Melodie“ (FA 9, 469) bewegt wird. Er bewirkt andererseits auch schon durch seine sprachliche Gestaltung beim Leser ein Gefühl für die tänzerische Dynamik. In drei Abschnitte ist die Eiertanz-Episode gegliedert. Sie werden durch eine Folge von Adjektiven eingeleitet. „Behende, leicht, rasch, genau“ (FA 9, 469); „Unaufhaltsam, wie ein Uhrwerk“ (FA 9, 469); „Streng, scharf, trocken, heftig“ (FA 9, 469). Goethe beherrscht die Kunst, das Tänzerische in Sprache umzusetzen. Mignons Eiertanz ist nicht nur nicht nur ein Bravourstück des Tanzes,

19 Vgl. Thöming, Anja-Rosa und Jürgen C. Thöming: Cornelia Goethes Sehnsucht als Vorbild für Mignon. In: Agnes Holling (Hg.): Identität als Lebensthema. Vechta-Langförden 2007, S. 285–334, hier S. 289.

2.2 Tanz als Mittel zur Kommunikation

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sondern auch der Sprache. Die Adjektivattribute veranschaulichen Mignons Tanzart, die deutlich als variiert beschrieben wird, wie von „leicht“ bis „heftig“.20 Goethe erreicht sprachlich und stilistisch ein erhöhtes Stakkato, indem er die Stilfigur des Asyndetons aneinander, das heißt er reiht vier gleichgeordnete Adjektive ohne Konjunktion einander.21 Damit führt er den Sprachrhythmus dieser Episode mit Mignons Bewegung und dem leidenschaftlichen 2/4 Takt des Fandangos synchron und übereinstimmend fort. Auf der semiotischen Ebene kann das Asyndeton das Abbild des Eiertanzes spiegeln. Die unterschiedlich lang gesprochenen Adjektive stehen für Mignons ‚enge und weite‘ (FA 9, 469) Schritte, während die Kommata als Zäsur mit den fest positionierten Eiern assoziierbar sind.22 Die asyndetischen Reihungen zu Anfang jeden Abschnitts wiederholen sich wie ein musikalisch wiederkehrendes Motiv, welches mit dem beschriebenen Inhalt im Einklang steht. Gibt die Musik dem „losrauschenden Tanz bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß“ (FA 9, 469), gibt sie ihn auch der Sprache und ihrem poetischen Rhythmus. Obwohl sich bei Laurence’ Tanz keine deutliche sprachrhythmische Anpassung findet, trägt die Struktur der Darstellung tänzerische Dynamik. Ihr Tanz wiederholt sich an verschiedenen Stellen und fordert Maximilians Besinnung. Laurence’ Tanz bestimmt sogar Maximilians Tages-Rhythmus in London. Er spitzt „immer die Ohren, ob“ (DHA 5, 232) er mithilfe der skurrilen Musik Laurence ausfindig machen kann. Im Gegensatz zu Mignons Eiertanz wird Laurence’ Tanz ständig reflektiert. Der hier mögliche Begriff ‚Tanz-Gedächtnis‘ lässt sich sowohl bei Mignon als auch bei Laurence, wenn auch mit unterschiedlicher Bedeutung anwenden. Laurence’ Tanz bleibt bei Maximilian als Gedächtnis-Tanz haften: „Mademoiselle Laurence konnte ich nimmermehr vergessen, sie tanzte lange Zeit in meinem Gedächtnisse“ (DHA 5, 233) Und noch mehr – der Tanz entwickelt sich bei Maximilian zur Projektionsfläche. Als er Laurence zum letzten Mal tanzen sieht, kann er die Wirklichkeit und das Traumreich nicht

20 Vgl. Brandstetter, Gabriele: Mignons Eiertanz. Goethes Auftrittsszene im theater- und tanzgeschichtlichen Kontext. In: Walter Hettche und Rolf Selbmann (Hg.): Goethe und die Musik. Würzburg 2012, S. 67–92, hier S. 79 f. 21 „Asyndeton“. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. A–Bib. Tübingen 1992, S. 1154–1156. 22 Martina Kieß hat mit Recht Mignons Eiertanz als bildlichen Vertreter für die Poesie angesehen und deckte den Widerspruch zwischen der anschaulichen Prosa und geheimnisvoller Poesie auf. Mit dem Zitat, Mignon tanzt „mit allen Arten von Schritten, engen und weiten, ja sogar mit Sprüngen […] sich durch die Reihen durch (FA 9, 469)“, begründete sie – die unterschiedlichen Schritte sowie Sprünge sogar durch die Reihen seien assoziierbar mit Versmaß oder Metrum, Versfuß und Zeilensprung; solche lyrischen Merkmale übersetze Goethe in Prosa. Vgl. Kieß, Martina: Poesie und Prosa. Die Lieder in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“. Frankfurt am Main 1987, S. 118–120.

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

mehr voneinander unterscheiden: „War es ein Gebilde meiner Phantasie, oder war es entsetzliche Wirklichkeit, was ich in jener Nacht hörte und sah? Ich weiß es nicht.“ (DHA 5, 248) Der Tanz-Refrain wird so machtvoll, dass er die Grenze des erlebten und vorgestellten Raums verblassen lässt. Die tänzerische Dynamik in beiden Lektüren spiegelt sich nicht nur im Rhythmus der Sätze und in der Struktur der Handlung wider, sondern auch in einer non-verbalen Interaktion zwischen der Tanzenden und dem Beobachter. Mignon führt ihren Tanz mit verbundenen Augen aus. Wilhelm folgt mit seinen Augen „jeder Bewegung der geliebten Kreatur“ (FA 9, 469), „ganz hingerissen“ (FA 9, 469), seine Beobachtung mag einem ‚Augen-Tanz‘ gleichen. Sie tanzt blind, er mit den Augen, dadurch bildet sich in diesem besonderen ‚Paartanz‘ eine ‚intime Kommunikation‘.23 Bei Laurence’ Tanz fällt auf, dass sie die „Zuschauer nicht im mindesten“ (DHA 5, 230) beachtet. Umso bedeutsamer ist, dass sie „seitwärts einen Blick“ (DHA 5, 232) anscheinend „zufällig auf“ (DHA 5, 232) Maximilian wirft. Laurence’ Blick enthüllt ihre Bereitschaft, sich ihm zu nähern, kann aber auch als an Maximilian gerichteten Appell verstanden werden, ihre getanzte Geschichte zu entziffern. Der Solotanz ist sowohl bei Mignon als auch bei Laurence interaktiv, er ermöglicht einen Kommunikationskreis und explizite Liebessignale zwischen Mignon und Wilhelm, zwischen Laurence und Maximilian.24 Gleichwohl gelingt es weder Mignon noch Laurence, mit ihrem Zuschauer alias ‚Tanzpartner‘ eine erfolgreiche Kommunikation in Gang zu setzen. Wilhelm registriert nicht seinen privilegierten Zugang zu Mignons Eiertanz und dessen spezifisches Liebessignal, er begreift deshalb nicht, warum Mignon eine öffentliche Vorführung ihres Eiertanzes ablehnt. Die unerwiderte Kommunikation führt in ihrer dramatischen Konsequenz zu Mignons einseitiger Schwärmerei und ihrem frühen Tod. Ähnlich aussichtslos scheinen auch Maximilians Verbalisierung und Konkretisierung von Laurence’ Tanz, womit Heine übrigens auf seinen prekären Umgang mit der preußischen Zensur hindeutet. Heine, der zeitlebens für demokratische Freiheit und liberale Gedanken kämpft, bedeutet für die preußischen Behörden eine zunehmende Gefahr. Noch während der Fertigstellung der Florentinischen Nächte erhält Heine laut Bun-

23 Vgl. Tunner, Erika: Krisen und Kreativität. Das Rätsel Mignon. In: Raymond Heitz (Hg.): Neue Einblicke in Goethes Erzählwerk. Heidelberg 2010, S. 71–77, hier S. 73. 24 Dass die Tanzenden und ihre Zuschauer einen Kommunikationskreis schließen, bejaht Paul Valéry knapp 150 Jahre später in seiner theoretischen Überlegung Philosophie de la danse (1936): „Cette résonnance, comme toute autre, se communique: une partie de notre plaisir de spectateurs est de se sentir gagnés par les rythmes et virtuellement dansants nous-mêmes!“. Zitat aus: Valery, Paul: Philosophie de la danse. Paris 2015, S. 33.

2.2 Tanz als Mittel zur Kommunikation

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destagsbeschluss von 1835 Publikationsverbot für Deutschland. Als Florentinische Nächte 1836 im Salon III veröffentlicht wurde, klagt Heine dort, er dürfe keineswegs „Ansichten über Religion und Moral“ (DHA 11, 163) ausführen. Nur Andeutungen kann er in seinen Texten verstecken, in der Hoffnung, dass die Zensur sie nicht durchschaut. Heine nimmt deshalb auch den Tanz als Aufbegehren gegen die Obrigkeit wahr, weil die verschiedenen Tanz-Kategorien sich als Möglichkeit für seine politische Anspielungen anbieten.25 Den Tanz in seiner politischen Aussage nutzt Heine bereits in Harzreise (1826). Dort stellt er zum einen heraus, wie eine einzelne Ballettgeste auf die Kollaboration der Politiker nach dem Wiener Kongress hindeuten kann.26 Zum anderen verspottet Heine die vergeblichen Versuche, wie Politiker den Tanz der Tänzer zu beeinflussen versuchen – beispielsweise wie ein Minister sich bemüht, seine Mätresse alias Tänzerin „für sein politisches Systemchen empfänglich zu machen“ (DHA 6, 122). Hinter der satirischen Schilderung der Wechselbeziehung zwischen Politik und Tanz enthüllt Heine nicht zuletzt die Tatsache, dass einerseits Meinungen eher in „Füßen“ (DHA 6, 122) sitzen anstatt sich in Worten auszudrücken, dass andererseits Tänzer sich wegen finanzieller Vorteile von Politikern abhängig machen aber nicht umgekehrt. Das macht somit die Abhängigkeit des Tanzes von der Politik deutlich. Dieser Zusammenhang zwischen Tanz und Politik hat zur Folge, dass nur bestimmte Tänze von der Politik zugelassen werden, aber die unsittlichen keinesfalls. Heine spottet in einem Artikel für die Augsburger Allgemeine Zeitung, wie der populäre Cancan-Tanz vom Pariser Volk bejubelt, aber von der Polizei überwacht wird.27 Da die großen Beinwürfe und Sprünge der Cancan-Tänzerinnen den Gaffern ermöglichen, unter die Röcke zu schauen, wird dieser Tanz als

25 Wie Heine Tanz als politische Anspielung in seinen Werken einsetzt, wird in meinen letzten zwei Kapitel zu Heines Atta Troll und Der Doktor Faust behandelt. 26 Am Beispiel des prominenten Tänzers im Berliner Opernhaus, Michel François Hoguet, listet Heine eine Reihe von Ballettgesten auf und deutet damit auf den politischen Zustand nach dem Wiener Kongress hin: „so z. B. daß er [Hoquet] unser Kabinet meint, wenn er, sehnsüchtig vorgebeugt, mit den Händen weitausgreift, wenn er sich hundertmal auf einem Fuße herumdreht, ohne vom Fleck zu kommen, daß er die kleinen Fürsten im Sinne hat, wenn er wie mit gebundenen Beinen herumtrippelt, daß er das europäische Gleichgewicht bezeichnet, wenn er wie ein Trunkener hin und herschwankt, daß er einen Congreß andeutet, wenn er die gebogenen Arme knäuelartig in einander verschlingt, und endlich, daß er unsern allzugroßen Freund im Osten darstellt, wenn er in allmähliger Entfaltung sich in die Höhe hebt, in dieser Stellung lange ruht, und plötzlich in die erschrecklichsten Sprünge ausbricht.“ (DHA 6, 122). 27 Die polizeiliche Überwachung für Tanz in Zusammenhang mit politischer Zensur der Literatur in der Mitte des 19. Jahrhunderts, spezifisch bei Heine, wird im Kapitel zu Heines Atta Troll ausführlicher behandelt.

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

Sitten verderbend verboten.28 Dieses Cancan-Verbot vergleicht Heine mit der preußischen politischen Zensur für die Schreibkultur, die in ihrer Verklemmtheit genau das Gegenteil erreicht: Meiner Ansicht nach ist es für die Sittlichkeit von keinem großen Nutzen, daß die Regierung mit so vielem Waffengepränge bey dem Tanze des Volks intervenirt; das Verbotene reitzt eben am süßesten, und die raffinirte, nicht selten geistreiche Umgehung der Censur wirkt hier noch verderblicher als erlaubte Brutalität. (DHA 13/1, 157)

In Florentinische Nächte reduziert Maximilian alle Erscheinungen auf ihre „Signatur“ (DHA 5, 231). Damit kann seine eingeschränkte Auffassungsgabe gemeint sein. Maximilians Auffassungsfähigkeit kommt somit der preußischen Zensur nah, die alles auf Gesetze und Paragraphen beschränkt und alle Kunstwerke in Codierungen zerlegt. In der Art, wie Heine Maximilians Eigenschaft angelegt hat, reagiert er auf die Zensur der Obrigkeit. So wie Laurence’ Tanz von Maximilian nicht verstanden wird, hofft Heine, dass sein Text von der Zensurbehörde ebenso nicht verstanden wird.

2.3 Im Hintergrund der Bühnentanz um 1800 Nicht alle Bühnentänze können zu den theatralischen Kunstformen gerechnet werden. Einige stellen den Tanz als eigenständige Bühnenkunst in den Vordergrund. Mignons Eiertanz gehört beispielsweise zu einem „sonderbaren Schauspiel“ (FA 9, 469). Laurence’ Tanz wird mit narrativem Erzählen gleichgesetzt. Inwieweit Tanz zum Schauspiel wird, hängt nicht nur von der Auffassung des Autors ab, sondern auch von der zeitgleichen Entwicklung des Bühnentanzes. An dieser Stelle sollen einige Worte zur Erklärung des Verhältnisses zwischen der Tanzkunst und der pantomimischen Darstellung jeweils um 1790 (Mignons ‚Zeit‘) und 1830 (Laurence’ ‚Zeit‘) dienen. Die beiden Zeitpunkte markieren zwei bedeutende Einschnitte im dominierenden Bühnentanz, im Ballett. Goethe erlebt den Zeitraum um 1790, als die Entwicklung des Tanzes eng mit dem politischen Umbruch durch die Französische Revolution verbunden ist. Beim Gesellschaftstanz bricht der ,Deutsche‘, später Walzer genannt, die Konvention, wie sie im Ancien Régime vorherrschte. Im Bühnentanz beginnt das Ballett, sich vom empirischen Prunk und von der kraftvollen Demonstration der königlichen Macht abzusetzen und sich in der Kunst der Gebärden und Gesten zu entfalten. Der französische Ballettmeister Jean Georges Noverre rebelliert gegen den inhaltsleeren Schau-

28 Musikalisch ist Cancan eine Nachahmung des spanischen Fandangos im schnellen 2/4 Takt. Vgl. „Cancan“. In: Schneider, Otto: Tanzlexikon. Mainz [u. a.] 1985, S. 83.

2.3 Im Hintergrund der Bühnentanz um 1800

257

Tanz und spricht sich für ein ausdrucksvolles Zusammenspiel von Dichtung, Oper und Ballett aus. Obwohl Ballett noch lange Zeit als Unterhaltungsprogramm in der Theaterpause angeboten wird, obgleich Ballett und Oper bis heute noch als getrennte Form erhalten bleiben, sind Noverres Entwürfe zur Tanzkunst zukunftsweisend.29 Bühnentanz sollte auch durch Handlung an Darstellungskraft gewinnen. Seine Leitgedanken werden in Kreisen Europas mit großer Zustimmung aufgenommen. So finden sie sich sogar in Diderots Enzyklopädie (1751), in der dieser die grundlegende Funktion der Dichtung beim Ballett betont.30 1760 ruft Noverre in Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette (Lettres sur la danses et sur les ballets) europaweit dazu auf, sich vom ‚gestellten Ballett‘31 zu verabschieden und stattdessen „Dichtung in dem Tanz wiederzugeben“32, Naturkulisse und Volksgebräuche im Ballett dramaturgisch darzustellen. Noverres Überlegungen werden durch Lessings Übersetzung 1769 auf deutschem Boden ein Anstoß, die pantomimische Seite des Bühnentanzes zu fordern.33 Die Gewichtigkeit der Gebärden betont Goethe in Hinsicht auf Tanz und Schauspiel exemplarisch in seinem Tanzlibretto Pantomimisches Ballett (1782) und seiner Abhandlung Regeln für Schauspieler (1803).34 Zwischen 1782 und 1803 schreibt und bearbeitet Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre. Es ist ein hohes Lob, Mignons Tanz darin als „sonderbares Schauspiel“ (FA 9, 469) aufzufassen, in dem „sich ihr Charakter vorzüglich“ (FA 9, 469) entwickelt. Die Aussage ist klar, Mignons Bewegungsabfolge ähnelt „eine[r] Erzählung“ (FA 9, 485). Sie ‚erzählt‘ von ihrer Persönlichkeit, die sie mit Worten nicht vortragen kann, und alleine mit Gebärden verdeutlicht. Dass die Gebärdensprache mehr Aussagekraft zu

29 Siehe die Erläuterung zum Beginn der ästhetischen Reflexion über die Tanzkunst im Kapitel „Vorüberlegungen.“ 30 So Denis Diderot: „Le ballet doit être un divertissement de chant & de danse, qui amene une action, & qui lui sert de fondement, & cette action doit être galante, intéressante, badine, ou noble suivant la nature des sujets.“ Zita taus : „Ballett“. In: Diderot, Denis: L’encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Nachdr, 3. erw. Aufl. Livourne 1771, S. 42. 31 Tugal, Pierre: Jean-Georges Noverre: Der grosse Reformator des Balletts. Berlin 1959, S. 42. 32 Tugal, Pierre: Jean-Georges Noverre, S. 43. 33 Goethe kennt Noverre bereits durch Wieland. Dieser übernimmt Noverres Ballett direkt in die Dichtung, seine literarischen Werke werden auch von Noverre im Ballett umgesetzt. Auch bei der Übersetzung von Diderots Rameaus Neffe (Le Neveu de Rameau) muss sich Goethe spätestens 1804 mit Noverre auseinandergesetzt haben, weil dessen Pantomime zu einem wesentlichen Diskussionsthema dieses Dialogs gehört. 34 Goethe als Festarrangeur in Weimar bringt sein Pantomimisches Ballett anlässlich einer höfischen Feier am 30.01.1782 auf die Bühne. Vgl. Gabriele Busch-Salmens Eintrag zum ‚pantomimischen Ballett“, in: Goethe Handbuch. Supplemente. Bd. 1. Musik und Tanz in den Bühnenwerken, Hg. v. Gabriele Busch-Salmen [u. a.]. Stuttgart [u. a.] 2008, S. 288–291.

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

besitzen vermag als verbale Rezitationen, stellt Goethe in ähnlicher Weise bei dem Harfenspieler heraus: „wie sehr beschämt dieser Mann manchen Schauspieler […], es lebte mehr Darstellung in seinem Gesang, als in unsern steifen Personen auf der Bühne“ (FA 9, 485). Wie sich die Affinität zwischen Tanz, Pantomime und Schauspiel um 1800 entfaltet, verdient eine eigene Studie unter dem Aspekt der Darstellungstheorie. Man kann jedoch schon ohne sie jetzt feststellen, dass Goethe bereits dafür eintrat, Bühnentanz theatralisch zu gestalten. Ein triftiges Beispiel dazu bietet ein Bericht von einem Ballettauftritt Fanny Elßlers, den Karl Friedrich Zelter Goethe aus Berlin zugeschickt hat. Die Vielseitigkeit der Mimik Eißlers, die nicht nur tanzt, sondern auch spielt, entspricht für Zelter einer ausdrucksreichen instrumentalen Skala: Elßler, die Bajadere, tanzt nicht bloß, sie spielt so vollkommen, […] Das ganze Haus war zufrieden. Das Mädchen hat eine Fronte ringsherum für tausend Augen. Die Teile ihres Gesichts sind ein Farbenklavier, mit bewundernswürdiger Anmut gespielt.35

Auch Heine erwähnt das Tanzvokabular des Körpers, ohne den Begriff ‚Farbenklavier‘ zu verwenden. Laurence’ Bewegungsablauf und -charakter fällt aus dem Rahmen des damaligen Bühnentanzes, denn anstatt nach der Schwerlosigkeit zu streben, betont sie die körperliche ‚Erdung‘. Zur Erdung hat Laurence einen magischen und starken Bezug: Manchmal beugte sich das Mädchen zur Erde, wie mit lauerndem Ohre, als hörte sie eine Stimme, die zu ihr heraufspräche […] sie […] beugte dann wieder das Ohr zur Erde, horchte noch ängstlicher als zuvor […]. (DHA 5, 232)

Als Zuschauer ist Maximilian ein kompetenter Hermeneutiker, der „die Signatur aller Erscheinungen so leicht begreift“ (DHA 5, 231). Er vermag Paganinis Konzert in Bilder zu übertragen. Wenn er die Töne „erklingen hört“, vermag er „auch die adäquate Klangfigur zu sehen“ (DHA 5, 217).36 Er verfügt offenbar

35 Karl Friedrich Zelters Brief an Goethe vom 14.02.1832. In: Max F. Hecker: (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Bd. 3 (1828–1832), Leipzig 1832, S. 553. 36 Musik sichtbar zu machen, indem die Töne visualisiert werden, hat eine zentrale Bedeutung in der romantischen Musikästhetik. Diese Strömung ist der physikalischen Entdeckung der Klangfigur durch Ernst Floren Friedrich Chladni zu verdanken. Im Kapitel zum Tanz in Arnims Hollin’s Liebeleben habe ich die Visualisierung der Musik mit den Chladni’schen Klangfiguren in Zusammenhang gebracht. In Barbara Thums Studie wird Laurence’ Körper, in welchem die Stimme Türlütüs vibriert, ebenfalls als metaphorischer Klangkörper vermutet. Anhand der Resonanz des Klangkörpers wird die unsichtbare oral erzählte Geschichte aus dem Mund Türlütüs in Klangfiguren aufgezeichnet. Die Figuren erscheinen als Laurence’ Gebärden beim Tanz. Vgl. Thums, Barbara: „Ende der Kunstperiode“? Heinrich Heines „Florentinische Nächte“. In: Heine-Jahrbuch, 46 (2007), S. 46–66, hier S. 53, 60.

2.3 Im Hintergrund der Bühnentanz um 1800

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über synästhetische Fähigkeiten. Die Frage, was Laurence’ „getanzte Privatgeschichte“ (DHA 5, 232) wohl „bedeuten mochte“ (DHA 5, 231), versucht Maximilian mit gleicher Wahrnehmungsweise zu lösen und in Laurence Tanz entsprechenden Klangfiguren nachzuspüren.37 Er besinnt sich auf ihren Tanz, auf ihr Tanz-Echo, er verweilt im Nachhinein noch „überall“, „wo Mademoiselle Laurence tanzte“ (DHA 5, 233). Trotzdem misslingt Maximilian eine Konkretisierung ihres Tanzes. Offenbar findet er keine entsprechenden Signaturen für diese Form des Tanzes. Die Ursache seines Scheiterns kann man auf Maximilians Wahrnehmung zurückführen – alles Wahrgenommene übersetzt er in Signaturen. Die programmierbare Technik lässt sich decodieren, darum entschlüsselt er das Virtuosentum bei Paganini. Der natürliche Tanz bleibt für ihn jedoch undefinierbare und rätselhafte Chiffre. Die Unverständlichkeit der Gebärden Laurence’ resultiert vermutlich aus ihrem organischen und avantgardistischen Tanzstil, der zu Heines Zeit noch aus dem Rahmen des damaligen dominierenden Bühnentanzes fällt. Heine, der 1831 nach Paris gezogen ist, ist Augenzeuge einer Weiterentwicklung des Bühnentanzes an der Geburtsstätte des höfischen Balletts Ludwig XIV. In der Pariser Oper um 1800, wo der Ballettmeister Noverre einst tätig war (1775–1781), bleibt die Extension der pantomimischen Verwendungen zwar ein langjähriges Diskussionsthema, aber niemand wollte auf die festgelegten Grundpositionen für Arme und Beine verzichten. Anders als im Ballett des 18. Jahrhunderts stehen nun Ballerinen im Zentrum, denn ihre veränderten Tanzschuhe haben sie ins Rampenlicht gebracht. Die Veränderung ihrer Tanzschuhe mit schmaler gewordenen Schuhsohlen und der geringere Bodenkontakt befriedigt die Sehnsucht der literarischen Romantik nach Leichtigkeit38 und Schwerelosigkeit.39 Die Ballerinen wandeln zwischen dem alltäglichen, ländlichen Milieu und dem verträumten, gespenstischen und mystischen Jenseits, stehen sodann als Ver-

37 Dazu pointiert Gerhard Neumann die Keime der Moderne bei Heine – am Beispiel vom Scheitern Maximilians an seinem semiotischen Versuch verweise Heine auf die Existenz des unlösbaren Rätsels, der Unentzifferbarkeit, anschließend auf die Akzeptanz der offenen Fragen. Vgl. Neumann, Gerhard: Lesbarkeit des Gesichts. In: Sigrid Weigel (Hg.): Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen. München 2013, S. 201–215, hier S. 215. 38 Darunter wird die Tanzfigur Arabeske zur Darstellung von Leichtigkeit, Grazie, Sehnsucht in der Choreographie verwendet. Dazu Eike Wittrocks Erläuterung zu den einzelnen ArabeskeTanzfiguren in Giselle und deren charakteristischen Verbundenheit mit der Titelfigur. Wittrock, Eike: Arabesken. Das Ornamentale des Balletts im frühen 19. Jahrhundert. Bielefeld 2017, S. 175–180. 39 Die Tanzschuhe des romantischen Balletts fungieren auch als Vorläufer für die heutigen Spitzenschuhe, auf denen die Ballerinen auf vollen Spitzen stehen können und ihre Körperlinie vertikal verlängern.

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

mittler zwischen Traumreich und Realität. Die Verkörperung der Transzendenz, der fließenden Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen externer und interner Welt, zwischen Wirklichkeit und Phantasie, wird das Hauptthema des romantischen Balletts.40 Heine ist ein leidenschaftlicher Zuschauer des Balletts, ein Bewunderer von einigen Ballerinen, wie Carlotta Grisi,41 indessen hält er sich mit Kritik an der Steifheit dieser Kunstform nicht zurück. Laurence’ Tanz steht im Gegensatz zum herkömmlichen Ballett. Ihr Bewegungsmuster, ihre Bodenorientiertheit widersprechen dem Ideal der Antigravität und vertikalen Körperhaltung in der klassischen Ballett-Ordnung.42 Laurence’ Beugung zur Erde samt ihrer asymmetrischen Bewegungsabfolge zählt zu den Vorboten des Ausdruckstanzes, der erst im Laufe des Jahrhunderts immer stärker zur Gegenbewegung des klassischen Balletts wird. Der Dichter ahnt nicht, dass eine von ihm erwünschte „ähnliche Revoluzion in der Tanzkunst“ (DHA 5, 230), in der „das klassische System umgestürzt“ (DHA 5, 230) wird, ein halbes Jahrhundert nach seiner Ballettkritik erfolgt. Die bekanntesten Vertreter des Ausdruckstanzes, wie Mary Wigman und Rudolf von Laban, oder später des ‚Modern Dance‘, wie Martha Graham und Doris Humphrey, haben das traditionelle Ballett zwar nicht verdrängt, schaffen jedoch eine Alternative im Bühnentanz.43 Heines Schilderung von Laurence’ Tanz bringt seine oppositionelle Haltung und seinen Vorschlag für ein Gegenkonzept zum Ausdruck. Er stellt die Fähigkeit

40 Am Beispiel von La Sylphide und Giselle erläutert Gabriele Brandstetter die romantische Poetik, das Streben nach Unendlichkeit als Parallele und Inspiration für das romantische Ballett. Der Stilunterschied zwischen dem klassischen und romantischen Ballett wird auch dadurch deutlich: geometrische Darstellung, brillante Meisterschaft und militärische anmutende Männlichkeit für das klassische Ballett einerseits, aber feinere Technik, verborgene Aussage sowie Ballerina-Kult andererseits. Brandstetter, Gabriele: „Geisterreich“. Räume des romantischen Balletts. In: Inka Mülder-Bach und Gerhard Neumann (Hg.): Räume der Romantik. Würzburg 2007, S. 217–238. 41 Heine stellt Carlotta Grisi unter romantischen Ballerinen als „eine Apfelsine unter Kartoffeln“ (DHA 13, 7) heraus. Grisis Vorführung in Giselle, dessen zweiter Akt auf Heines ‚WillisSage‘ aus Die Elementargeister beruht, befriedigt Heines Ansprüche: „Nächst dem glücklichen Stoff, der den Schriften eines deutschen Autors entlehnt, war es zumeist di Carlotta Grisi, die dem Ballet „die Willi“ eine unerhörte Vogue verschaffte. Aber wie köstlich tanzt sie! Wenn man sie sieht, vergißt man, daß Taglioni in Rußland und Elßler in Amerika ist, man vergißt Amerika und Rußland selbst, ja die ganze Erde, und man schwebt mit ihr empor in die hängenden Zaubergärten jenes Geisterreichs, worin sie als Königinn waltet.“ (DHA 13, 7). 42 Eine parallele Darstellung auf der Bühne mag Giselles Wahnsinnstanz sein. Dieser ist geprägt von asymmetrischem Laufen, bewusstlosen Taumeln und endet mit einem Fall. 43 Vgl. Niehaus, Max: Himmel, Hölle und Trikot. Heinrich Heine und das Ballett. München 1959, S. 26.

2.4 Zweite Phase. Mignons und Laurence’ Mänaden-Tanz

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des Tanzes zum Erzählen heraus und behauptet diesen als Ausdruckskunst, als „Worte einer besonderen Sprache, die etwas Besonderes“ (DHA 5, 231) sagt. Hier spürt man noch einmal die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Tanz und Sprache, wie Heine sie in Die Bäder von Lucca (1831) noch deutlicher herausstellt. Dort tanzt Francheska, „während sie sprach, und vielleicht war eben der Tanz ihre eigentliche Sprache“ (DHA 5, 231). Ähnlich birgt Laurence’ Tanz Elemente der Sprache in sich, allerdings nur noch „Fragmente einer uralten verschollenen Pantomime“ (DHA 5, 231). Es gelingt dem Ich-Erzähler in Die Bäder von Lucca, Francheskas Tanz in Sprache wiederzugeben. Dagegen misslingt Maximilian, Laurence’ Tanz aufgrund seines fragmentarischen Charakters in Sprache zu transformieren.

2.4 Zweite Phase. Mignons und Laurence’ Mänaden-Tanz Mignons Mänaden-Tanz auf der Feier zur Theateraufführung Hamlet und Laurence’ Pariser Tanz in ihrem Schlafzimmer bilden die zweite Phase, in der aus den Mädchen erwachsene Frauen geworden sind. Beide Tänze sind zugleich die letzte Darbietung der Tänzerinnen in der Handlung, welche sie nach einem zeitlichen Abstand und einer örtlichen Veränderung vorführen. Was die Schauplätze betrifft, ergibt sich eine umgekehrte Reihenfolge bei beiden Künstlerinnen. Mignon, die ihren Eiertanz privat bei Wilhelm vorführt, improvisiert nun öffentlich bei einer Tischgesellschaft. Laurence, deren Auftritt öffentlich in Londoner Straßen geschieht, tanzt jetzt in ihrem Pariser Zimmer privat vor Maximilian. Der letzte Tanz kennzeichnet die Charaktere der Tänzerinnen, sowie ihre entsprechenden Lebenszustände. Zuerst werfen wir einen Blick auf Mignon. Als Wilhelm mit seiner Schauspielergruppe den Erfolg der Hamlet-Aufführung feiert, erscheint Mignon auf dem festlichen Gastmahl mit dem Tamburin, einem volkstümlichen Instrument,44 und 44 Es ist kein Zufall, dass die beiden volkstümlichen Instrumente bei der Tarantella in Mignons Tänzen ebenfalls ihre Verwendung finden. Beim Eiertanz nimmt Mignon Kastagnetten in die Hände, während sie sich nun mit einem Tamburin begleitet. Tamburin ist zumindest für die damalige ‚klassische‘ musikalische Ausbildung in Goethes Familie und der Oberschichte in Deutschland ungewöhnlich. Autobiographisch gesehen spielt Goethes jüngere Schwester Cornelia Klavier und Laute solide, wohingegen Goethe dem Instrument Tamburin erst während seines zweiten Italien-Aufenthalts seine Aufmerksamkeit widmet. Vgl. Thöming, AnjaRosa und Jürgen C. Thöming: Cornelia Goethes Sehnsucht als Vorbild für Mignon. In: Agnes Holling (Hg.): Identität als Lebensthema. Vechta-Langförden 2007, S. 285–334, hier S. 316. Dass ein Tamburin zu typischen Musikinstrumenten beim italienischen Volkstanz wie der Tarantella gehört, bestätigt Goethe in seiner Italienischen Reise: „Der Tanz, welcher die Taran-

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

beteiligt sich an der Feier. Ihren Tanz begleiten ihre beiden innigen Freunde, Felix schlägt den Triangel, der alte Harfen-Spieler spielt Melodien. In diesem Trio übernimmt Mignon die Tänzerin-Rolle, ein Pendant zu Laurence in deren Quartett. Eine Tänzerin ist für die Schauspielergesellschaft jedoch was Neues – Mignon zeigt ihr Tanz-Können zum ersten Mal in Wilhelms Umkreis. Sie überrascht die Anwesenden, einschließlich Wilhelm, mit ihren wilden Bewegungen: [B]esonders war Mignon ausgelassen, wie man sie niemals gesehen. Sie schlug das Tambourin mit aller möglichen Zierlichkeit und Lebhaftigkeit, indem sie bald mit druckendem Finger auf dem Felle schnell hin und her schnurrte, bald mit dem Rücken der Hand, bald mit den Knöcheln darauf pochte, ja mit abwechselnden Rhythmen das Pergament bald wider die Knie, bald wieder den Kopf schlug, bald schüttelnd die Schellen allein klingen ließ, und so aus dem einfachsten Instrumente gar verschiedene Töne hervorlockte. (FA 9, 694)

Mit jedem Schlag bringt Mignon verschiedene Klänge hervor, indem alle Teile ihres Körpers als Instrumente zum Mitklang kommen und ihr spielerischer Umgang mit dem Tamburin den Betrachtern eine Vielfalt an Körperpositionen vorführt. Dabei kündigt das Wort „bald“ als Taktgeber einer rhetorischen Anapher, Mignons Wechsel der Körperbilder an. In heutigen Tanzbegriffen würde man von ‚Frozen‘-Momenten sprechen. Die Gleichzeitigkeit von Wortklang, dem Klang der Schellentrommel und den Körperpositionen erschafft einen neuartigen intensiven Ausdruck. Trotz ihrer wilden Bewegungen ist Mignon keinesfalls ‚außer sich‘. Sie setzt bestimmte Körperteile wohlüberlegt ins Spiel ein, damit das einfache Instrument ‚gar verschiedene Töne‘ hervorbringt.45 Das heißt, dass trotz ihrer Ausgelassen-

tella genannt wird, ist in Neapel unter den Mädchen der geringen und Mittel-Classe allgemein. Es gehören wenigstens ihrer drei dazu: die eine schlägt das Tamburin und schüttelt von Zeit zu Zeit die Schellen an demselben ohne darauf zu schlagen, die andern beiden mit Castagnetten in den Händen machen die Schritte des Tanzes. […] so können sie sich Stundenlang vergnügen, ohne sich um den Zuschauer zu bekümmern. Dieser Tanz ist nur eine Unterhaltung für Mädchen, kein Knabe rührt ein Tamburin an.“ (FA 15/2, 901 f). 45 Solch ein vielfältiger Umgang mit einem Tamburin ist keine Seltenheit bei literarischen Straßenkünstlerinnen, darunter vor allem Zigeuner-Figuren, sei es die Hoffmann’sche ‚Mignon‘, Emanuela aus Der Zusammenhang der Dinge (1820), welche beim Eiertanz mit einem Tamburin „wunderbar mannigfaltige Töne“ entlockt, sei es Esmeralda in Victor Hugos Der Glöckner von Notre-Dame (Notre Dame de Paris) (1831), welche mit einer baskischen Trommel den Platz des Palastes durchschwebt und „für ein übermenschliches Wesen gehalten“ wird. (Zitat aus: Hugo, Victor: Notre-Dame oder die Liebfrauenkirche zu Paris. Ein historischer Roman. Übers. v. Friedrich Seybold, Stuttgart/Leipzig 1835, S. 61.) Im Bühnentanz gilt die Esmeralda-Variation nach der Uraufführung des Balletts La Esmeralda (1844), beruhend auf Victor Hugos Notre Dame de Paris, als Inbegriff der spanischen Exotik und Kult. Diese Variation erlaubt den Ballerinen einen großen Freiraum, ihr Tamburin in der Hand klingen zu lassen.

2.4 Zweite Phase. Mignons und Laurence’ Mänaden-Tanz

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heit ihre marionettenhafte Seite spürbar bleibt. Dies lässt sich insbesondere während ihrer Tanz-Pause verdeutlichen. Sie stößt mit Felix „die Köpfe dergestalt zusammen und auf die Tischkante, wie es eigentlich nur Holzpuppen aushalten können“ (FA 9, 695). Goethe schafft mit Mignon hier eine Figur voller magischer Energie im Spannungsfeld Puppe-Mensch, halb Puppe, halb Mensch, halb kontrolliert, halb voller Dynamik. In der Fortsetzung ihres Tamburin-Tanzes steigert sie sich in Ekstase, Taumel und Übermut. Als die Schauspieler-Gesellschaft voller Bange Mignon zu beruhigen versucht, sprang sie auf und raste, die Schellentrommel in der Hand, um den Tisch herum. Ihre Haare flogen, und indem sie den Kopf zurück und alle ihre Glieder gleichsam in die Luft warf, schien sie einer Mänade ähnlich, deren wilde und beinah unmögliche Stellungen uns auf alten Monumenten noch oft in Erstaunen setzen. (FA 9, 695)

Anstatt festgelegten Choreographien zu folgen, testet Mignon offensichtlich ihre Grenzen aus und beginnt zu improvisieren. Sie verwandelt sich in eine rasende, unkontrollierte und dämonische mythische Figur, eine Mänade, der Begleiterin des Weingotts Dionysos und dessen Kultanhängerin.46 Mignon verkörpert an dieser Stelle die Einheit der Künste der Antike, indem sie zuerst gleichsam als Tänzerin, Musikerin und Sängerin auftritt, sodann mithilfe ihrer bacchantischen Bewegungen und ‚beinah unmöglichen Stellungen‘ eine mythische Figur des Altertums wieder zum Leben erweckt. Ihr Gesang- und Tanzauftritt erinnert an dionysische Tänze und Chöre, an Dithyramben der griechischen Tragödien, dem Vorbild europäischer Dramen, von Shakespeare bis zum Bürgerlichen Trauerspiel.47 Mignons Mänaden-Tanz wirkt wilder und ausgelassener, anders als ihr kindlicher Eiertanz, reifer und fordernder. Obwohl ihre Haare willkürlich fliegen, obwohl ihre Glieder gleichzeitig in die Luft geworfen werden, darf man nicht übersehen, auf welche Art Goethe sie mit Mänaden vergleicht. Es sind Mignons Körperstellungen, die an Mänaden-Bilder auf Monumenten des Altertums erinnern. Anders als eine sukzessive Tanz-Erzählung, setzt sich ihr Tanz

Zitat zu Hoffmanns Figur Emanuela aus: Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hg. v. Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht. Frankfurt am Main 2001, S. 1057. 46 Die Verwandlung von einer virtuosen Marionette in eine Mänade übernimmt E. T. A. Hoffmann auch in seine Mignon-Figur in Zusammenhänge der Dinge, aber er beschleunigt deren Verwandlungsprozess. Bereits im Eiertanz fliegen Emanuelas „schwarze Locken“ „um ihr Haupt“. Am Ende des wilden Tanzes berührt sie dennoch, „tanzend jedes der Eier, so daß sie zu einem Haufen zusammenrollten; dann aber mit einem mächtigen Schlag auf das Tambourin […], blieb sie plötzlich stehen wie festgezaubert.“. Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hg. v. Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht. Frankfurt am Main 2001, S. 1058. 47 Vgl. Steiner, Uwe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Bd. 3. Prosaschriften. Hg. v. Bernd Witte. Stuttgart [u. a.] 1997, S. 113–152, hier S. 147.

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

als Folge von Körperbildern zusammen. Dabei verliert Mignon selbst in ihren wildesten Momenten nicht ihre marionettenhafte Seite. Laurence’ Tanz trägt ebenfalls Züge einer Mänade. Bereits ihre Tänze in London lassen Maximilian an diese Figur denken: An der gleichen mahnte wohl der Ungestüm, womit die Tänzerinnen ihr Leibchen hin und her schleuderte, und die Wildheit womit sie manchmal ihr Haupt rückwärts warf, in der frevelhaft kühnen Weise jener Bacchantinnen, die wir auf den Reliefs der antiquen Vasen mit Erstaunen betrachten. (DHA 5, 231)

Heine hebt hier einige körperliche Merkmale einer Mänade hervor, die Goethe bereits erwähnt hat – die herabhängenden und wild fliegenden Haare, der zurückgeworfene Kopf und nicht zuletzt das willkürliche Herumschleudern der Glieder. Außerdem scheint Heine Goethe zu folgen. Goethes Behauptung, dass die Mänaden „uns auf den alten Monumenten noch oft in Erstaunen setzen“ (FA 9, 695), findet bei Heine Bestätigung, indem er schildert, wie ,wir‘ die Bacchantinnen ebenfalls „auf Reliefs der antiquen Vasen mit Erstaunen betrachten“ (DHA 5, 231).48 Trotz dieser Zustimmung gestaltet Heine Laurence’ Mänaden-Tanz mit anderer Absicht. Er zielt darauf ab, Laurence’ psychischen Zustand in der Eigenart ihres Tanzes hervortreten zu lassen, insbesondere in ihrer zweiten Phase. Laurence’ Tanz in ihrer zweiten Phase entspricht choreographisch demjenigen der ersten Phase, „ganz wie ehemals“ (DHA 5, 249) in London. Jedoch findet sich in der neuen Version keine hedonistische Ekstase wie bei Mignons Tanz. Laurence’ Tanz wird mit einer geheimen und flüchtigen Liebesaffäre eingeleitet. Obwohl sie verheiratet ist, lädt sie Maximilian in ihr Schlafzimmer ein. Während sie in seinem Arm schläft, fängt sie überraschend an, zu tanzen: „Ein kalter Schauer überfröstelte ihren ganzen Leib, und wie von unerträglichen Schmerzen zuckten ihre holden Glieder.“ (DHA 5, 231) Sie tanzt wie ein Schlafwandler, im Alptraum gefangen. Sie zeigt „dasselbe bacchantische Zurückwerfen des Hauptes“ (DHA 5, 249) wie damals in London, aber ihr Ausdruck signalisiert „etwas grauenhaft Schmerzliche[s]“ (DHA 5, 231). Da sie jetzt noch „im nächtlichen stillen Zimmer“ (DHA 5, 231) ohne Musik oder Licht tanzt, ragt das Schmerzhafte in der Einsamkeit und Dunkelheit besonders heraus. Ihr Mänaden-Tanz

48 Der Mänade-Prototyp wird überwiegend durch den zurückgeworfenen Kopf und die fliegenden Haare gekennzeichnet. Mänaden sind den Mythen nach gefühlsüberladen, irrational aber mächtig beim Handeln und ausgelassen bei der Bewegung. In Euripides Drama Die Bakchen (406 v. Chr.) bedienen sich die Mänaden der Bewegungen gefährlicher Tiere und geraten durch die kopierte Wildheit in die Raserei: Erst liessen sie die Haare niederfallen / auf ihre Schultern, schürzten frisch das Hirschfell, / dem sie zum Schlaf gelöst der Spange Band, / Und gürteten sich die Gescheckten Felle, / mit Schlagen, deren Köpfe züngelten. Euripides: Zwölf Tragödien des Euripides. Übers. v. Hans von Arnim. Bd. 2. Wien 1931, S. 473.

2.4 Zweite Phase. Mignons und Laurence’ Mänaden-Tanz

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wird Sinnbild ihres Gemütes und Schicksals, worauf in den nächsten Abschnitten ausführlicher eingegangen wird. Da Heine Laurence’ verdrießlichen und schmerzhaften Ausdruck in Zusammenhang mit dem pathologischen Befund eines Mänaden-Tanzes bringt, wird hier noch eine Anmerkung benötigt. Wie bereits erwähnt, zählt der zurückgeworfene Kopf zur ausschlaggebenden Körperstellung einer Mänade. In der Abb. 18 auf einer griechischen Vase ist rechts eine Mänade zu sehen, deren linke Hand ein totes Rehkitz und deren rechte Hand ein Schwert halten. Augenfällig ist ihre Kopfhaltung.

Abb. 18: Weinkanne mit dionysischem Treiben aus Apulien. Archäologisches Museum Münster, Inventarnummer 941.

Diese Kopfhaltung in künstlerischer Darstellung beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, kurz nach Heines Tod, im Bereich der Medizin an Aufmerksamkeit zu gewinnen. Der Pariser Neurologe Jean-Martin Charcot registriert den zurückgeworfenen Kopf als Symptom der an Hysterie leidenden Kranken. Charcot hatte Patientinnen des Salpêtrière in Paris, des größten Frauenhospiz’ von Frankreich, untersucht, die zumeist geistig gestört und krank waren, und

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

stellt Hysterie als eigenständige Neurose fest.49 Um die Körperbewegung der Kranken getreu zu dokumentieren, lässt Charcot seine Patientinnen bei deren Anfällen fotografieren. Darauf basierend lässt er seinen Arztkollegen Paul Richter, der zugleich als Graphiker wirkt, die häufig auftretenden Gesten als Bewegungsmodelle der Hysterie-Erkrankten formelhaft erfassen. 1887 veröffentlicht Charcot gemeinsam mit Richter das Buch Les démoniaques dans l’art.50 Darin stellt Charcot einige reflexhafte Bewegungen seiner Patientinnen bei Anfällen heraus, eine davon ist der zurückgeworfene Kopf. Dieses pathologische Phänomen deutet Charcot auch als mythischen Hintergrund der Mänaden-Figur: „Möglicherweise wollte der Künstler sogar genau jenen Moment einfangen“,51 in welchem die hysterischen Frauen bei Anfällen herumtoben. Indem er medizinische Aspekte seiner Krankheitsbilder mit der entsprechenden künstlerischen Darstellung verknüpft, eröffnet Charcot eine neue Möglichkeit, eine Mänade-Figur zu betrachten und zu analysieren. Allerdings sieht Charcot den zurückgeworfenen Kopf mit isoliertem medizinischem Blick, erst Sigmund Freud – der übrigens Charcots Untersuchungen in der Salpêtrière beiwohnt und sich auf ihn beruft – sieht Bewegungen einer Hysterikerin in psychischen Traumata gegründet. Somit führt Freud Hysterie auf traumatische Erinnerung zurück, und verknüpft psychische Belastung mit ungewöhnlicher körperlicher Bewegung. Noch bevor Freud den Kern der Hysterie der Reminiszenz zuschreibt, kann Heine hier vorweggenommen haben, wie Erinnerungen sich bei einer Person verhaften können und auf ihre Bewegung wirken. Von Hysterie ist bei Heine also noch keine Rede. Heine kann weder Charcot noch dessen Entdeckung kennen, ebenfalls unterscheidet er die Gestaltung, der Maximilian-Laurence-Beziehung, von einer Pathologe-Kranke-Beziehung. Charcot blickt hinter der Kamera auf die Bewegungen der Kranken, ohne sich an einer Interaktion zu beteiligen. Hingegen besteht zwischen Maximilian

49 Anzumerken ist, dass Hysterie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hauptsächlich dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben wurde, etwa im Wörterbuch Dictionnaire encyclopédique des sciences médicals, Hysterie als ,weibliches, zur Neurose gewordenes Temperament‘. Vgl. Wörterbuch Dictionnaire encyclopédique des sciences médicals, 106 Bde in 5 Serien. Bd. 4. Serie XV. Paris 1889, S. 331. Der im Folgenden erwähnte Arzt Jean-Martin Charcot gehört zum einen zu den ersten Medizinern, die Hysterie auch als Männerstörung vermutet zu haben. Vgl. Didi-Huberman, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Silvia Henke, Martin Stingelin und Hubert Thüring. München 1997, S. 94 f. 50 Vgl. Karentzos, Alexandra: Kunstgöttinnen. Mythische Weiblichkeit zwischen Historismus und Secessionen. Marburg 2005, S. 87–90. 51 Charcot, Jean Martin und Paul Richer: Die Besessenen in der Kunst, (Les démoniaques dans l’art). Göttingen 1988, S. 39.

2.5 Mignons ‚Tanz bis zum Tod‘ und Laurence’ ‚Totentanz‘

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und Laurence eine Interaktion: Es geht hier um einen Vorgang, Rätsel zu stellen (Laurence), Rätsel semantisch zu deuten (Maximilian) und Rätsel zu lösen (Laurence). Nachdem Laurence das Rätsel wörtlich aufgelöst hat, demonstriert sie ihren Tanz noch einmal. Dabei gerät sie weder in einen taumelhaften Anfall, noch zeigt Maximilian Bereitschaft, ihre Bewegungen als Symptome zu analysieren. Daher wirft Maximilian keinen pathologischen Blick auf Laurence, stattdessen bemerkt er die Wirkung von Laurence’ psychischer Belastung, die sich auf ihren Bewegungsablauf beim Tanz auswirkt – eine Parallele zu dem, was Freud feststellt. Laurence findet im Tanz einen Ausweg, den Schmerz des Kindheitstraumas zu vergegenwärtigen, indem sich bei ihr ein gespaltenes Bewusstsein entwickelt hat, das sie sich teils als verwahrlostes Kind ihrer Vergangenheit, teils als Frau der Gegenwart empfinden lässt. Somit ist ihre psychische Verarbeitung ein aktiver Umgang mit der Vergangenheit, im Gegensatz zu der bettlägerigen und sich passiv verhaltende Maria. Maximilian fungiert zunächst als Rezipient, der diese Bearbeitungsmethode annimmt, wird dann Therapeut, der Laurence’ Schmerz-Erlebnis weitererzählt und Marias Verarbeitung dieses Stoffs veranlasst.

2.5 Mignons ‚Tanz bis zum Tod‘ und Laurence’ ‚Totentanz‘ Tanz kann ein Ausdruck der Freude bedeuten – der Tod steht dazu im Gegensatz, er löscht Energie und Freude aus und beendet das Leben. Die Überwindbarkeit dieser Gegensätze zeigt sich besonders im zweiten Tanz Mignons und Laurence’. Mignons Tanz verursacht indirekt ihren frühen Tod, Laurence’ Tanz verbreitet Todesangst. Steht Tanz mit Tod in Zusammenhang, sind zwei geläufige Motive, ‚der tödliche Tanz‘ und der ‚Totentanz‘, nicht zu übergehen.52 Um die Unterschiede der beiden Tänzerinnen hinsichtlich der Todesthematik herauszustellen, kann es hilfreich sein, die Wechselbeziehung zwischen Tod und Tanz bei Mignon und Laurence zu erforschen und dabei die zusammenhängenden Motive, ‚der tödliche Tanz‘ und ‚der Totentanz‘, im Auge zu behalten. Deshalb seien die beiden Motive zuerst unter begriffs- und literaturgeschichtlichem Aspekt erläutert. Ein Erklärungsversuch für ‚tödlichen Tanz‘ leitet sich aus dem Veitstanz, Chorea Huntington, ab. Die Betroffenen leiden unter krampfartigen Zuckungen und ‚tanzen‘ bis zur Erschöpfung und gar zum Tod. Dieses Phänomen trat besonders im Spätmittelalter auf etwa bei „La fièvre de la danse“, einer mysteriösen

52 Zur Wechselbeziehung zwischen Tanz und Tod am Beispiel mehrerer literarischer Werke siehe. Franz Link (Hg.): Tanz und Tod in Kunst und Literatur. Berlin 1993.

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Epidemie in Straßburg, 1518.53 Die qualvolle Tanzwut ist nicht erst seitdem verwurzelt im Volksaberglauben – Im Volksmärchen werden die Bösen häufig bestraft, indem sie sich zu Tod tanzen.54 Die Variante dieser Tanzkrankheit, Tanz aufgrund eines fremden Zwangs, wird in Sittenbüchern um 1800 als Abschreckungsmittel verwendet. Um das aufkommende Tanzfieber durch den Walzer zu bremsen, weisen Gelehrte darauf hin, wie leicht sich Tanzfreude in Tanzwut umwandeln kann.55 So mahnt ein Arzt namens Johann Evangelist Wetzler 1801 seine zeitgenössischen Tanzliebhaber: „Das übermäßige Tanzen schadet solchen Mädchen“, die sich in einer Nacht für ein Jahr ‚satt‘ tanzen. „Daher ertanzen sich so manche Mädchen die Lungensucht, andere Krankheiten, den Tod.“56 Der Zwiespalt des Tanzes zeigt sich in den Gegensätzen zwischen Körperkontrolle und Sich-gehen-lassen, freudiger Zerstreuung und verwegener Ekstase, gedankenversunkenem Schweben und tödlicher Erschöpfung. ‚Totentanz‘ hingegen bietet eher eine metaphysische Auseinandersetzung mit dem Thema Tod, zuerst vor dem religiösen Hintergrund und sodann in künstlerischer Darstellung.57 Als Motiv der bildenden Kunst mag ‚Totentanz‘ entstanden sein, als die mittelalterliche Kirche Tanz generell als Teufelswerk verdammt. Insbesondere möchte die Kirche ein heidnisches Ritual, zum Gedenken auf Friedhöfen um das Grab zu tanzen, abschaffen. An Friedhofs- und Kirchhofmauern sind deshalb Begegnungen der Menschen mit dem personifizierten Tod bildnerisch gestaltet, mit der Betonung, dass mit dem Tod Rechenschaft für das Verhal-

53 In der Straßburger Ausstellung „1518. La fièvre de la danse“ kommen Schriften und Bilder zu den schlagartigen Tanzausbrüchen in die Öffentlichkeit. Gegen die Ausbreitung erließ die Regierung ein Verbot des Musizierens im Freien. Obgleich der Auslöser strittig und offen bleibt, bezeugt die Reaktion der Regierung die Dominanz der kirchlichen Macht und des christlichen Glaubens. Vgl. Dupeux, Cécile: 1518. La fièvre de la danse, Strasbourg 2018. Halter, Martin: Historische Tanzwu. Der innere Kitzel des Hopsens und Zappelns. In: FAZ, Feuilleton, 18.11.2018. 54 Einige Grimms Märchen belegen die Nähe des übermäßigen Tanzes mit dem Tod. Siehe Der treue Johannes, Schneewittchen, Rumpelstilzchen, Der Liebste Roland, Der Jude im Dorn. 55 In einem unterhaltsamen Buch von Johann Rauchenstein, welches im Kapitel zu Dorothea Schlegels Florentin erwähnt wurde, dokumentiert der Autor „unangenehme Vorfälle“, um die Unzufriedenen zu trösten. Darin befindet sich eine an ‚Seufzern‘ reiche Erzählung eines Liebhabers, der als Publikum dieser vorläufigen Form des Walzers zusieht und dessen körperliche Verausgabung bestätigt. Vgl. Rauchenstein, Johann [Pseudonym: Rathsamhausen]: Grillenund Seufzerbuch. Für unsere Zeiten eingerichtet, 2 Teile, Teil 1. Wien/Leipzig 1784, S. 40 f. 56 Wetzler, Johann Evangelist: Ueber den Einfluß des Tanzes auf die Gesundheit nebst Verhaltensregeln. Landshut 1801, S. 9. 57 Uli Wunderlichs Studie dient als Grundlage für den folgenden Abschnitt. Vgl. Wunderlich, Uli: Der Tanz in den Tod. Totentänze vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Freiburg im Breisgau 2001, S. 6–127.

2.5 Mignons ‚Tanz bis zum Tod‘ und Laurence’ ‚Totentanz‘

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ten während der Lebenszeit gefordert wird. Tanz steht der Frömmigkeit gegenüber, die zum himmlischen Leben nach dem Tod führen soll. Als der Umgang mit dem Tod kritisch wird, insbesondere in der aufklärerischen Philosophie des 18. Jahrhunderts, nimmt die christianisierte und belehrende Bedeutung des Totentanzes allmählich ab. Exemplarisch schwächen Lessing und Herder in ihren gleichnamigen Abhandlungen Was die Alten den Tod gebildet (1769/1786) den Schrecken des Todes deutlich ab. Was sie ermöglicht haben, ist die rationale Sicht, aus der sie die religiös unabhängige Wahrheit des Todes erforschen und anschließend dem Sterben als dem Unvermeidlichen entgegentreten können. Von den strengen dogmatischen Vorgaben der mittelalterlichen Kirche nun vollends befreit, steht der Phantasie und dem kühnen Umgang mit dem Totentanz nun nichts mehr im Wege. ‚Totentanz‘ findet allmählich ab 1800 Eingang in die Karikatur, ins bürgerliche Leben und in literarische Werke mit wohlmeinender gruseliger Färbung. In Sagen und Märchen der Romantik ragen neben Traumreich und Ahnung im Volksgut auch Dunkelheit und Tod heraus. ‚Der Totentanz‘ wendet sich Spukgeschichten zu, in denen Skelette zur Mittenacht ihre Gräber verlassen und Verbindung zu Menschen aufnehmen. Das davon hervorgerufene spaßige Gruseln fungiert als Ermutigung, um die Angst vor Unruhen und vor dem Ende des Lebens zu bekämpfen und zu überwinden. Vor diesem Hintergrund sind Goethes Ballade Der Totentanz (1813)58 und Heines ‚Willis-Sage‘ in Elementargeister (1837) entstanden. Inwiefern verbindet und verkörpert der zweite Tanz Mignons und Laurence’ diese beiden literarischen Motive? Mignons Mänaden-Tanz zeigt ihre bacchantische Seite und dient darüber hinaus noch einem weiteren Zweck. Wie immer ist dieser Tanz ein geplanter. Mignon berauscht sich an ihrem bacchantischen Tanz und fasst dabei Mut zu ihrem „Wagestück“ (FA 9, 903), sich anschließend heimlich in Wilhelms Zimmer zu schleichen. Sie brennt darauf, eine erotische Nacht mit ihm zu verbringen. Sie liebt Wilhelm nicht mehr als Mädchen, sondern als Frau. Als Mignon jedoch beim Praktizieren ihres Plans unterwartet Philine sieht, welche bereits vor ihr in Wilhelms Zimmer schlüpft ist, kippen Mignons gerade im Tanz gesammelter Mut und ihr leidenschaftlicher Liebestraum schlagartig um in Enttäuschung, Eifersucht und „unerhörte Qual“ (FA 9, 904). Bei dieser Peripetie verwandeln sich ihre als Liebestanz konzipierten Bewegungen in einen Veitstanz. Sie leidet eine ganze Nacht „unter entsetzlichen Zuckungen“ (FA 9, 904). Dieser nächtliche ‚Veitstanz‘ löscht ihre Bewegungslust aus. Diese geborene Akrobatin klettert, springt und wird nie mehr tanzen. Ihre innige und heimliche Liebe zu Wilhelm verkraftet keine Nebenbuhlerin. Eifersucht und Enttäuschung

58 FA 2, 136 f.

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führen zu ihrem frühen Tod. Im Moment des Sterbens bäumt sie sich noch einmal auf: „Mignon fuhr auf einmal mit der linken Hand nach dem Herzen, und indem sie den rechten Arm heftig ausstreckte, fiel sie“ (FA 9, 924) tot nieder. Der Mignon eigene Widerspruch zwischen selbstbestimmtem Tanz und fremdbestimmtem Zwang entspricht demjenigen zwischen Leben und Tod, Bewegung und Stillstand. Ihr kunstvoller Tanz als Metaphorik für Lebenskraft und Gesundheit, stellt Goethe mit ihrem unfreiwilligen ‚tödlichen Tanz‘ als Vorzeichen für ihr Kranksein und Sterben. Der Kontrast zwischen Stillstand und Bewegung, der bei Mignon dargestellt ist, wird bei zwei Arten von Figuren in Florentinische Nächte sichtbar. Zur ersten Gruppe gehören leblose und fixierte Frauen, etwa die Marmorstatue für eine antike Göttin im Garten der Großeltern Maximilians, das gemalte Madonna-Bild in einer Kirche zu Köln, die kleine Very, alias das verstorbene Mädchen. Auch die Hauptfigur in der Rahmenhandlung, Maria, der Maximilian seine Reise- und Liebeserlebnisse zur Therapie und Unterhaltung erzählt, ist eine sich unter Bewegungs-und Sprechverbot befindende totkranke Frau. In der zweiten Gruppe steht Laurence, eine lebende Frau ohne Bewegungseinschränkung, als einzige Ausnahme. Diese Aufteilung stimmt allerdings nur teilweise. Laurence trägt auch die Züge anderer Geliebten Maximilians in sich – sie ist „eine Marmorstatue oder ein Gemälde“, „eine Todte oder ein Traum“, „alles dieses zusammen“ (DHA 5, 207).59 Sie trägt nicht nur die Züge fixierter und lebloser Frauen in sich, sondern sie selbst hat eine dramatische Erfahrung mit dem Totenreich gemacht, die sie bis ins Erwachsenenalter prägt und die sie nur im Tanz ausdrücken kann. Tanz bedeutet für Laurence fast niemals Freude, sondern schmerzhafte Reminiszenz und Verarbeitung ihrer traumatischen Herkunftsgeschichte. Als Kind erfährt sie von ihrer Herkunft durch ihren Pflegevater Türlütü. Sie sei vor ihrer Geburt zusammen mit ihrer schwangeren und scheintoten gräflichen Mutter begraben worden. Erst ein Diebstahl ermöglichte Laurence’ Geburt, nach der ihre Mutter gestorben sei. Ihre nahe Verbindung zum Totenreich verursacht lästigen Tratsch, der ihr Trauma noch verschlimmert: „Dieses arme Kind, das begraben 59 In Dagmar Wietersheims Studie vergleicht sie die aneinander gereihten Liebschaften Maximilians mit einem Reigentanz. Den Kettenreigen mit verschiedenen ‚Gesichtern betrachtet Wietersheim im tanzgeschichtlichen Zusammenhang und ordnet jede Geliebte einer Tänzerfigur aus einer bestimmten Epoche zu. Marmorstatue – die griechische Göttin Venus als Terpsichore, Muse für Tanz, die kleine Very – eine ‚Sylphide‘ aus dem romantischen Traumreich, Laurence – eine Mänade aus der Antike und eine ‚Salome‘ im Schlafzimmer, Willis – Gesellschaftsdamen im „Getümmel der Pariser Bälle“ (S. 126). Vgl. Wietersheim, Dagmar: Getanzte Chiffren und pantomimisches Vexierspiel. Zu Heines „Florentinische Nächte“. In: Paolo Chiarini und Walter Hinderer (Hg.): Heinrich Heine. Ein Wegbereiter der Moderne. Würzburg 2009, S. 107–126, hier S. 114–126.

2.5 Mignons ‚Tanz bis zum Tod‘ und Laurence’ ‚Totentanz‘

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gewesen noch ehe es geboren worden, nannte man nun überall das Todtenkind … Ach!“ (DHA 5, 246) Türlütü, der Erzähler und auch Urheber von Laurence’ Herkunftsgeschichte, nutzt diese als Waffe, um Laurence zu ängstigen. Er als Bauchredner kann seine Stimme „so moduliren, daß man glauben müßte, […] das sey die Stimme meiner verstorbenen Mutter“ (DHA 5, 247) Tanz öffnet ihr einen Ausweg, sich von Bangen und schrecklicher Erinnerung zu befreien. Laurence ‚vertanzt‘ Türlütüs Erzählung, ihr getanztes Schicksal versucht wiederum Maximilian seiner Zuhörerin Maria wiederzugeben. Laurence’ Lebensbeginn wird dadurch zur gespensterartigen Auferstehung aus dem Totenreich. Aufgrund der Nähe von Leben und Tod ist sie zur Verkörperung literarischer Vorgängerinnen der toten Bräute aus Heines Elementargeister und Florentinische Nächte geworden. In Florentinischen Nächte heißt es, die sogenannten Willis sind die vor der Hochzeit gestorbenen jungen Frauen, die nachts aus ihren Gräbern steigen und sich „während der Mitternachtsstunde, den wildesten Tänzen überlassen“ (DHA 5, 238). Sie schätzen die nächtlichen Stunden und nutzen diese besonders aus, um ihre unerfüllte Lebens- und Liebeslust nachzuholen und zu befriedigen. Sie „tanzen immer um so tobsüchtiger und ungestümer, je mehr sie fühlen, daß die vergönnte Tanzstunde zu Ende rinnt, und sie wieder hinabsteigen müssen in die Eiskälte des Grabes.“ (DHA 5, 238) Die Erwähnung der Willis in Florentinische Nächte geschieht zu allererst im Kontext, als Maximilian die enorme Tanzfreude und -lust der Pariserinnen der 1830er Jahre veranschaulicht. Um den Vergleich der tanzlustigen Pariserinnen mit den Willis zu veranschaulichen, seien ein paar Worte über Heines Bemerkung zum kulturellen Leben der 1830er Jahre in Paris hinzugefügt. Die Pariser Bürger waren der Feiern zur Julirevolution 1830 und zum Juniaufstand 1832 müde geworden. Statt etwas zu feiern, berauschen und zerstreuen sie sich. Sie möchten sich einerseits ablenken von der Angst vor politischen Unruhen und schwelendem Machtkampf, vor allem von den drohenden Auseinandersetzungen zwischen der restaurativen monarchisch-zentralen Regierung und den revolutionären republikanisch-demokratischen Bürgern. Zu dieser Zeit fördert die Pariser Regierung Tanz als ablenkendes Amüsement für das Volk, damit eine mögliche Revolution verhindert wird.60 „[M] ehr Bälle als jemals“ (DHA 12/1, 116), notiert Heine in Französische Zustände zum Pariser Tanzleben im Winter 1832. Die Anhänger der Regierung „haben ja die Mittel, Bälle zu geben, und da tanzten sie nun, um zu zeigen, daß Frankreich glück60 Babara Kiem geht sogar so weit und bezeichnet Tanz als „Synonym für die irrationale Zirkulationsbewegung des Kapitals“. Kiem, Barbara: Worte einer besonderen Sprache. Heinrich Heines Signatur des Tanzes. In: Gabriele Busch-Salmen (Hg.): Der Tanz in der Dichtung – Dichter tanzen. Hildesheim 2015, S. 123–131, hier S. 125.

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

lich sey; sie tanzten für ihr System, für den Frieden, für die Ruhe Europas“ (DHA 12/1, 117), aber sie tanzen alle „gleichgültig, fast verdrießlich“ (DHA 12/1, 117). Von diesen dichten aber verzerrten Geselligkeiten distanziert sich Heine. Hier wird getanzt, um zu vergessen. Heine ahnt bereits, dass die Tanzlust des Pariser Volkes keineswegs von ungetrübter Lebensfreude geprägt ist, sondern dass Tanz als fröhliche Fassade des Pariser politischen und kulturellen Lebens herhalten soll: „Da dieser Winter der erste war, den ich in Paris zubrachte, so kann ich nicht entscheiden, ob der Karneval dieses Jahr so brillant gewesen, wie die Regierung prahlt, oder ob er so trist aussah, wie die Opposizion klagt.“ (DHA 12/1, 118) Die skurrile Ausbreitung der Tanzlust betrifft auch das machtlose Volk. Die 1832 ausbrechende Choleraepidemie mag ein wichtiger Grund für das ‚Austanzen‘ sein. Das Volk ermutigt sich und verspottet die scheinbar harmlose Krankheit, mit seinem „übermütige[n] Gelächter“, der „lauteste[n] Musik“ und dem lustvollen „Chahut“ (DHA 12/1, 133), dem späteren Cancan. Dabei verdrängt das Volk den bevorstehenden Tod. Laurence tanzt das Schicksal der Willis, ihr Tanz gibt aber auch die Ratlosigkeit der Pariserinnen in solcher Krisenzeit wieder. Als ‚auferstandene Tote‘, eine der Willis, ‚vertanzt‘ Laurence ihr Leid durch ihre zwanghafte Verbundenheit mit dem Totenreich. Als Pariserin bricht sie die codierten Schrittmodelle des Balletts, strebt nach individueller Bewegung, nach einer Freiheit, die sich im Getümmel der politisch gespaltenen Gesellschaft durchsetzen lässt. Ihre getanzte Freiheit erstickt in dem unterdrückenden Ambiente. Sie ist mittlerweile mit „einem bonapartistischen Helden“ (DHA 5, 245) verheiratet, einem stolzen General der Vergangenheit. Auch ihr gemeinsames Schlafzimmer, der Schauplatz des Tanzes, erzählt von vergangenem Glanz. Durch die Heirat ist Laurence gesellschaftlich aufgestiegen und lebenserfahrener geworden, aber ihr Schmerz ist nicht geringer geworden. Ihr jetziger Tanz bereitet Maximilian mehr Grauen als Begeisterung: Laurence stand noch immer und tanzte mit verschlossenen Augen. Dieses Tanzen mit verschlossenen Augen im nächtlich stillen Zimmer gab diesem holden Wesen ein so gespenstisches Aussehen, daß mir sehr unheimlich zu Muthe wurde, daß ich manchmal schauderte, und ich war herzlich froh als sie ihren Tanz beendigt hatte. (DHA 5, 249)

Dieser Solotanz scheint wie eine Reproduktion des Gespenstertanzes der Willis. Laurence’ „todtblasse[s] Antlitz“ (DHA 5, 249) samt ihren geschlossenen Augen beim Tanz verleiht ihr ein gespenstisches Aussehen und erinnert einen an Totenmasken. Hier schlägt Heine eine Brücke zwischen Laurence in der Binnenerzählung, dem tanzenden ‚Totenkind‘, und Maria in der Rahmenerzählung, deren Gesicht im Schlaf aussieht wie „jene Gipsabgüsse, worin wir die Züge der Verstorbenen zu bewahren suchen“ (DHA 5, 222). Laurence’ Tanz in der Einsamkeit

2.6 Fazit

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und Dunkelheit strahlt die fragile Starrheit von Todkranken aus. Dieser Tanz wird so zum Totentanz. Ihre gespenstischen Züge lassen die Grenze zwischen Leben und Tod hervortreten. „Das Unheimliche“ (DHA 5, 250) ihres Tanzes entfacht bei Maximilian eine gewisse ‚Angstlust‘ auf spekulative Phantastik. Er gesteht, dass ihr Pariser Tanz „diesem Weibe einen noch besonderen Reiz“ (DHA 5, 250) zuschreibt und „daß sich meinen Empfindungen eine schauerliche Zärtlichkeit“ (DHA 5, 250) beimischt. Laurence wirkt seltsam, indem sie Gegensätze vereint – „dieses Gespenst mit dem Gesichte eines Engels und dem Leib einer Bajadere“ (DHA 5, 247).61 Sie verkörpert einerseits die Marmor-Statue einer griechischen Göttin aus Maximilians Kindheitserinnerung, andererseits eine spukhafte und unfassbare Wiedergängerin aus dem Jenseits der Willis-Gruppe.

2.6 Fazit In der Gegenüberstellung von Goethes Mignon und Heines Laurence wurde versucht, ausgehend von dem Schlüsselwort des ‚Rätselhaften‘, ihre Tänze unter verschiedenen Aspekten zu betrachten, etwa dem der technischen Fertigkeit, der Beziehung zwischen Tanz und Musik, der Kommunikation mit Zuschauern, der pantomimischen Darstellung und der Nähe des Tanzes zum Tod. Was Mignon und Laurence rätselhafte Züge verleiht, sind nicht zusammenpassende und widersprüchliche Elemente, die jeweils in einer Figur zusammengefasst werden. Mignon überzeugt Wilhelm mit ihrer Virtuosität und dem harmonischen Zusammenspiel von Tanz und Musik, lässt ihn jedoch an den menschlichen Grenzen zweifeln. Sie tanzt als schwer zuzuordnendes Zwischen-Wesen. Beim Eiertanz er-

61 Dabei gehört Laurence nicht allein wegen der Bezeichnung ‚Bajadere‘ zur verführerischen ‚femme fatale‘. Der Begriff der indischen Tempeltänzerin ‚Bajadere‘ ist eine Anspielung auf die Legende, die von der Liebe zwischen einem Heiligen und der irdischen Tänzerin Bajadere handelt. (Dazu auch Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere. Indische Legende. FA 1, 692–695) Heine verteidigt allerdings die Bajadere gegen die ihr zugeschriebene Rolle in der Prostitution und kritisiert zugleich die Pariser Gesellschaft wegen der vorgetäuschten Sittlichkeit und der stattfindenden Verführung: „Da in Indien der Stand einer Bajadere durchaus nicht durch die Sitte filetiert ist, so gilt dort das Drama ‚Vasantasena‘, dessen Heldin ein feiles Freudenmädchen, durchaus nicht für unmoralisch; wagte man es aber einmal, dieses Stück im Théâtre Français aufzuführen, so würde das ganze Parterre über Immoralität schreien, dasselbe Parterre, welches täglich mit Vergnügen die Intrigenstücke betrachtet, deren Heldinnen junge Witwen sind, die am Ende lustig heurathen [sic], statt sich, wie die indische Moral es verlangt, mit ihren verstorbenen Gatten zu verbrennen.“ (DHA 8/1, 152). (Heinrich Heine. Die romantische Schule, Kapitel 3).

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2 Rätselhafte Tänzerin, getanztes Rätsel

scheint sie als Mischwesen zwischen Mensch und Marionette; beim MänadenTanz erinnert sie an eine mythologische Figur. Die in Mignons Tanz auftretenden Widersprüche zeigen sich einmal in ihrer Artistik und zum anderen in ihrer Liebessehnsucht. Nicht zuletzt stehen Mignons virtuose Tänze im Kontrast zu ihren tödlichen Zuckungen. Widersprüche bei Laurence schlagen sich demgegenüber in der Disharmonie zwischen ihrem Dasein und ihrer Umgebung nieder. Als Straßentänzerin innerhalb eines grotesken Ensembles fasziniert sie ihren Zuschauer Maximilian, verdient aber keine Anerkennung der restlichen Mitglieder des Quartetts; als ungeschulte Tänzerin passt sie aufgrund der Bodenhaftung und Natürlichkeit beim Tanz nicht in den Rahmen des dominanten Ballerina-Kults im Bühnentanz; als eine der Willis kann sie ihre Tanzlust in dem politisch restaurativen Pariser Salon und dekadenten Schlafzimmer kaum befriedigen; als ‚Totenkind‘ verwandelt sie die im Tanz verborgene Lebenskraft in Schmerz und traumatische Erinnerung. Als Freiheitstänzerin muss sie ihre rätselhafte Geschichte im Tanz verbergen, damit diese von der Zensur nicht verstümmelt wird. Heine schafft mit seiner Figur Laurence ein Beispiel dafür, wie Künstler um 1830 auf die restaurativen Mächte reagieren. Einige Aspekte wurden bei der bisherigen Gegenüberstellung nicht berücksichtigt, die aber als lohnenswerte Ausblicke anzusehen sind. Interessant wäre eine nähere Betrachtung des Rätselhaften in Hinsicht auf die Forschungen über Phantastik und Widerspruch, in Hinsicht auf die politischen Kulissen zu Goethes und Heines Zeit. Auch eine Untersuchung zur Parallele der Liebesbeziehungen von Mignon und Wilhelm, oder Laurence und Maximilian, gehört in eine eigene Studie. Bei der vorliegenden Betrachtung liegt der Schwerpunkt auf der unterschiedlichen Rätselhaftigkeit – Mignon als Rätsel bezieht sich auf ihre eigenen vielseitigen und widersprüchlichen Züge, Laurence’ rätselhafte Seite wird durch ihren Kontext bedingt, mit dem sie nicht in Einklang steht.

IV Tanz als Spiegel politischer Kritik

Politisierung wird von Koselleck zu einem der vier Merkmale der Sattelzeit gezählt. Der Tanzdiskurs gibt der Politik ebenfalls Stoßrichtungen und fungiert als Sprachrohr für politische Satire und Kritik. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts klingen bei den Tanzepisoden Anspielungen auf Politik an. Eine Ankündigung der sozialgeschichtlichen Veränderung und politischer Unruhe findet sich in Zachariaes Der Renommist durch die Konkurrenz zweier Städte und in Goethes Werther mit seinen gesellschaftlichen Spannungen. Das politische Engagement schlägt sich in der Romantik als das Dunkle, Psychologische und Verträumte nieder, verbunden mit der Suche nach nationaler Identifikation, insbesondere seit der Auflösung des Heiligen römischen Reichs deutscher Nation 1806. Tanz ragt auch als Mittel beißender Persiflage heraus, unter anderem in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann, in dem bürgerliche Ausrichtung des Weiblichkeitsklischees am Beispiel der Tanzpuppe aufs Korn genommen wird. Spätestens in Heines Florentinische Nächte wird anhand der Straßentänzerin Laurence jede gesellschaftliche Konvention gesprengt, was den satirischen Grundton beim späten Heine vorwegnimmt. Im Kontext des Vormärz sind bürgerliche Entwürfe und adelige Relikte verwoben, zugleich kommen Dissonanzen zwischen politischem Engagement und unpolitischer Strömung auf. Auf beides verweist Heine in seinem Epos Atta Troll, indem er unterschiedliche Tanzarten der Tanzbären als Metaphern für Opportunismus, Kollaboration und Stimmung des Volkes nutzt. Im Ballettlibretto wagt Heine, die Verlogenheit der Obrigkeiten zu enthüllen, die gezügelte Konvention des bürgerlichen Tanzes, vor allem die Disziplinierung des Balletts, mit Lüsten und Exzessen aufzudecken. Damit spiegelt sein Werk nicht nur die Politisierung der poetischen Aktivitäten seiner Zeit wider, sondern lässt auch mithilfe seines politisch-satirischen Balletts eine Tanzrevolution der Moderne näher rücken.

https://doi.org/10.1515/9783110759815-015

1 „Groß als Tänzer“ oder „armer Prahlhans“. Ambiguität im Tanz in Heinrich Heines Atta Troll (1847) Als Heine 1826 an der Nordsee kurt, nimmt er die Auswirkungen des Machtwechsels zwischen dem Adelshaus Hannover und Preußen kritisch wahr, um sodann die weltfremde Arroganz und inhaltsleere Lebensart des hannoverschen Adels anzuprangern. Das aufgesetzte Verhalten aus Arroganz beim hannoverischen Adel erinnert ihn an eine Tanzbär-Fabel. Dort entläuft ein Tanzbär seinem „führenden Lehrer“, kehrt in den Wald zurück und prahlt vor seinen Mitbären, „wie das Tanzen eine so gar schwere Kunst sei und wie weit er es darin gebracht habe“ (DHA 6, 156)1. In dem Tanzbären findet Heine eine Allegorie für Selbstüberschätzung, Hochmut und zur Schau gestellte Vornehmheit. Dieselben charakterlichen Züge übernimmt er Jahre später für eine Darstellung des Tanzbären in seiner Dichtung, dem Tierepos Atta Troll, Ein Sommertraum. Er veröffentlicht die Geschichte des „uneleganten“ Tanzbären zuerst 1843 ausgerechnet in der Zeitung für die Elegante Welt und alsdann 1847 als redigierte Buchausgabe. Atta Troll wird zum ironischen Helden, der sich von der Kette befreit und zum Schluss vom lyrischen Ich, dem Bärenjäger, getötet wird. Atta Troll verkörpert nicht nur das Motiv Tanzbär2, das Heine wohl bereits unter anderem von Gellert (1746), Lessing (1759),3 Gottlieb Konrad

1 Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. Manfred Windfuhr, Düsseldorfer Ausgabe. Hamburg 1973, S. 156. (Reisebilder. Zweyter Theil. Die Nordsee. Dritte Abtheilung). Alle Zitate aus der gleichen Ausgabe werden im Fließtext mit „DHA Bandzahl, Seitenzahl“ in Klammern angegeben. 2 In ihren Ausführungen zum ‚Tanzbären‘ als literarische Fabelfigur und dem in der Zirkuswelt häufig auftauchenden Tier hat Sonja Windmüller überzeugend gezeigt, wie eng die Kohärenz zwischen einer ‚Tanzausbildung eines Bären‘ und unnatürlicher, schockierender Tierquälerei in der Realität sich niederschlägt, jedoch wie die Verwandtschaft und gar die Sexualität Menschen und Bären wiederum verbindet. An der Stelle, dass Mumma in Atta Troll ‚cancaniert‘, deutet sie auf eine sexuelle Verbindung zwischen Mumma und dem Bärenführer hin. Vgl. Windmüller, Sonja: An der Nase geführt. Perspektiven auf das Phänomen „Tanzbär“ (und zugleich auch auf den Tanz). In: Volkskundlich-Kulturwissenschaftliche Schriften, (VOKUS), 19 (2009), S. 17–36. 3 Zum Vergleich von Gellerts und Lessings Tanzbär-Fabel siehe Ulrich Breuers ausführliche Erläuterung in: Breuer, Ulrich: Ungeschickt. Eine Fallgeschichte der deutschen Literatur. Paderborn 2021, S. 196–205. (Ab Oktober 2020 auf dem Bücher-Markt verfügbar) . https://doi.org/10.1515/9783110759815-016

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Pfeffel (1789) und aus Grandvilles Zeichnung (1842)4 kennt, sondern liefert auch eine Fülle von Parodien5 sowie Anspielungen auf die damalige aktuelle politische Lage in Deutschland und Frankreich, wirkt nicht zuletzt auf poetologische Diskussionen über Literatur des Vormärz zu politischem Arrangement und ästhetischer Gestaltung.6 Wie Heine in der Vorrede zu Atta Troll ankündigt, entwirft er das Epos als künstlerische Entgegnung auf „absurde Anschuldigungen“ (DHA 4, 9) der „verschiedenfarbigste[n] Feinde“ aus diversen politischen Richtungen, die ihn wegen seiner Schrift Ludwig Börne. Eine Denkschrift (1839) kritisieren und dessen Ruhm auf einen Tiefpunkt sinken lassen.7 Heine erkennt in seiner Denkschrift Börnes politisches und moralisches Engagement für seine Liebe zur Nation durchaus an, verspottet aber dessen mangelnde dichterische Gabe und

4 Mehrere Schriftsteller wie Balzac und Pierre-Jules Hetzel sind beteiligt an dem Sammelband Scènes de la vie privée et publique des animaux (1842) zu den Tiergeschichten, in denen Tiere personifiziert wurden und zum Teil politische und kulturelle Persönlichkeiten vertreten. Darunter befindet sich auch eine Bärengeschichte L’Ours ou Lettre écrite de la Montagne von Louis Baude. Obwohl Heine in seinen Briefen kein Wort zu diesem Sammelband geschrieben hat, erweisen sich mehrere Parallelen als seine Kenntnis darüber, etwa wie Grandvilles drei Illustrationen zum Wohnort, Tanz und Familienleben eines Bären, Gestaltung der Tiere in menschlichen Kostümen und fast aufrechter Haltung sowie die Eitelkeit des Bären. Vgl. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 3. Aufl. Stuttgart 2004, S. 89. 5 Dazu Achim Aurnhammers Untersuchung zu Heines Erzähl-‚Fokalisierung‘, Anknüpfung der beschriebenen Szenen mit der subjektiven Empfindung des lyrischen Ichs, sowie Heines Konzeption für intertextuelle Zitate. Vgl. Aurnhammer, Achim: „Phantastisch zwecklos“. Programm und Praxis der ästhetischen Autonomie in Heinrich Heines „Atta Troll. Ein Sommernachtstraum“ (1843/1847). In: Werner Frick (Hg.): Heinrich Heine. Neue Lektüren. Freiburg 2011, S. 227–253. Auch Janina Schmiedels Dissertation, darunter die Analyse zu strukturellem Aufbau und Kohärenz der Figurenkonstellation. Vgl. Schmiedel, Janina: „Sowohl im Leben wie in der Schriftwelt“. Untersuchungen zu den Versepen und einigen Zeitgedichten Heinrich Heines. Hannover 2013, S. 147–178. 6 Heines politisch-dichterische Auseinandersetzung mit der sogenannten politischen Tendenzdichtung wurde mehrfach diskutiert. Siehe beispielsweise Stephan Heyms Erläuterung zum Begriff ‚Tendenz‘ und den von einigen politischen Schriftstellern des Vormärzes vertretenen radikalen politisch erzwungenen Dichtungszweck beziehungsweise nationalistischen „Phrasenpatriotismus“. Heym, Stefan: Atta Troll. Versuch einer Analyse, (seine Magisterarbeit aus dem Jahr 1936), München 1983, S. 57–84. 7 Die vorwiegend negativen Rückmeldungen der Zeitgenossen Heines zu dessen Ludwig Börne. Eine Denkschrift sind in Sikander Singhs Buch, Heinrich Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen, chronologisch aufgezeigt. Die Enttäuschung hängt auch mit einer durchschnittlich hohen Erwartung an Heines Börne-Buch zusammen, welches eher eine Erinnerungsschrift an den toten Dichter und auch an die von außen erwartete und missverstandene Heine-BörneFreundschaft sein soll (S. 118 f). Vgl. dazu Singh, Sikander: Heinrich Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen. Kommentar 1821 bis 1856. Stuttgart/Weimar 2016, S. 117–137.

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seinen fehlenden ästhetischen Sinn.8 Die Anhänger Börnes, „die Opposition“, dulden das nicht, sie werfen Heine zum einen Opportunismus vor, da er Börne erst gerade nach dessen Tod (1837) kritisiert;9 zum anderen fühlen sie sich als politisch engagierte Dichter selbst angegriffen, wenn sie Heines Spott über ihr patriotisch-republikanisches Vorbild lesen.10 Heine hofft deshalb durch Atta Troll seine Leser zurückzugewinnen. Dabei will er seine Missstimmung nicht verleugnen und nennt die Kritiker ohne Scheu „faule Aepfel“ (DHA 4, 9). Unschwer lassen sich zwischen Atta Troll, dem Tanzbären, und den Tendenzdichtern Parallelenerkennen.11 Sie stellen nach Heine ihre politische Richtung allzu plakativ in den Vordergrund und ignorieren dabei die Eigengesetzlichkeit der Kunst.12 Heine polemisiert gegen die zu Pathos, Tugend und politischer Ideologie verkümmerte Schreibkunst der Tendenzdichter und entwirft sein Epos Atta Troll als Gegenmodell.

8 Hohendahl, Peter Uwe: Heinrich Heine. Europäischer Schriftsteller und Intellektueller. Berlin 2008, S. 168. 9 Vgl. Hohendahl, Peter Uwe: Heinrich Heine, S. 120–125. 10 Vgl. Hohendahl, Peter Uwe: Heinrich Heine, S. 191 f. 11 Über die Parallelen zwischen Tendenzdichtern und Atta Troll wurde häufig und ausführlich dargelegt. Sowohl in älteren Studien, etwa von Giorgio Tonelli (1975) und Winfried Woesler (1978), als auch in neueren Studien wie von Heidi Czirnich (1997) Hans Kruschwitz (2017) sind übereinstimmende Thesen dazu enthalten, dass Heine durch Atta Troll die Tendenzdichter anvisiert. In neueren Forschungen wurde einerseits hinterfragt, warum Heine die Tendenzdichter anhand eines Tieres verhöhnt, aber sie zugleich damit als Helden krönt und ‚Mitleid‘ mit dem Bären hat, (Vgl. Czirnich), andererseits rückte Heines künstlerische Anspielung auf Börnes Kunst- und Politikauffassung ins Zentrum. (Vgl. Kruschwitz) Quellen der oben genannten Literatur: Tonelli, Giorgio: Heinrich Heines politische Philosophie (1830–1845). Hildesheim 1975. Woesler, Winfried: Heines Tanzbär. Histor.-literar. Untersuchungen zum „Atta Troll“, Hamburg 1978. Czirnich, Heidi: Die „temporelle Bärenhaut“. Überlegungen zu den Capita VII und IX aus Heinrich Heines „Atta Troll. Ein Sommernachtstraum“. In: Heine-Jahrbuch, 36 (1997), S. 93–110. Kruschwitz, Hans: Wenn die Sterne in „dem Straßenkot sich spiegln“. Cancan und Liebeswahnsinn in Heines „Atta Troll“. In: Heine-Jahrbuch, 56 (2017), S. 1–20. Anzumerken sind noch zwei neuere Lektüren, die leicht verwirrend sind. 1) Ein Forschungs-Sammelband zum Thema Reflexion über die Entwicklung der Literaturwissenschaft an verschiedenen Institutionen. Dabei gilt „Atta Trolls Tanz“ im Titel als Bild für lebendige Diskussionen und Polemik: Boden, Petra [u. a.] (Hg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Berlin 2015. 2) Eine ‚Meinungsarbeit‘ mit blumigem Titel aus einem Eigenverlag: Gibson, Carl: „Atta Troll“ – Heinrich Heines poetische Zeitkritik: Gesamtinterpretation: geistige Strukturen in Heines vorrevolutionärem Kulturkampf gegen „Tendenzdichtung“, Pseudo-Humanismus, -Nationalismus, Religion und Biedermeier-Heuchelei: Versuch einer ideengeschichtlichen Annäherung. Tauberbischofsheim 2019. 12 Zwischen politischer Stellungnahme und künstlerischer Autonomie, zwischen inhaltlichem Engagement und ästhetischer Darstellung herrscht ganz allgemein ein Spannungsfeld, besonders aber in gesellschaftlich bewegten Zeiten. Vgl. dazu Lubkoll, Christine (Hg.): Politische Literatur. Begriffe, Debatten, Aktualität. Abhandlungen zur Literaturwissenschaft. Stuttgart 2018.

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Atta Troll soll ein ,phantastisches zweckloses‘ (DHA 4, 17) Lied sein, welches nur dessen ,eigener Lust gehorchend‘ fortläuft und die Autonomie der Kunst wiedergibt.13 Heines Ziel ist ein komplexes: Er möchte ästhetische Gestaltung bei inhaltlichem Engagement. Dafür muss er einerseits die einfältige Schreibweise der Tendenzdichter aufdecken und sie in den Tänzen Atta Trolls parodieren und andererseits auch in seiner Gestaltung der Tanzkunst ein ästhetisches Gegenmodell aufzeigen. Inhaltlich tötet der Erzähler den Tanzbären, aber ästhetisch lebt Atta Troll weiter „in dem Lied des Dichters“ (DHA 4, 79). Bemerkenswert ist, wie Heine die Tänze in Atta Troll ebenfalls mit Oppositionen gestaltet und die inhaltlichen und ästhetischen Gegensätze gewissermaßen tanzen lässt. Hierzu bietet sich folgende Gliederung an. 1) Atta Trolls Tanz kann auf die Schreibkunst der Tendenzdichter anspielen. 2) Mummas Tanz ist eine Parodie des Tanzes Atta Trolls, versinnbildlicht somit die kulturellen Spannungen zwischen Alt und Neu im Tanz und steht im Kontext der politischen Unruhe14; 3) Die Tänze der Skelette und Bären im Traum im Traumreich enthalten mehrschichtige Allegorien. Heine gestaltet die drei Tänze bildlich wie ,Medaillen‘, die ihre Kehrseiten verbergen.

1.1 Atta Trolls Gavotte – Tanz eines ,Liberalen‘? Heine wählt als Bild für seine Kollegen, die Tendenzdichter, einen dressierten Bären, der zuerst „denaturiert“15 und abgerichtet wird, sodann seine Kunst

13 Hier beziehe ich mich insbesondere auf Benno von Wieses kurze und prägnante Auseinandersetzung mit Atta Trolls Tanz im Vergleich zur Schreibkunst der Tendenzdichter. Vgl. Wiese, Benno von: Signaturen. Zu Heinrich Heine und seinem Werk. Berlin 1976, S. 90–95. 14 Hier folge ich Hans Kruschwitz’ Gedanken. Er bezieht Heines Bericht über den Pariser Karneval, vom ‚Mummenschanz‘ des Volkes, auf den Namen ‚Mumma‘ zurück. Daher könnte ihr Tanz ebenfalls zweideutig sein. Vgl. Kruschwitz, Hans: Wenn die Sterne in „dem Straßenkot sich spiegeln“. Cancan und Liebeswahnsinn in Heines „Atta Troll“. In: Heine-Jahrbuch, 56 (2017), S. 1–20, hier S. 6. 15 Hier sei Ulrich Breuers Erläuterung zum Paradigmenwechsel der Ungeschicktheit nennenswert. Während die Ungeschicktheit im Grunde genommen, zumeist schicksalhaft und unfreiwillig, von allen Regeln und Normen abweicht, wird die Ungeschicklichkeit dem abgerichteten Bären absichtlich zugeschrieben. So Breuer: „Der Weg von der Natur zur Geschicklichkeit“ beim Tanzbären sei „ein Irrweg“, der Ungeschicklichkeit nicht abbaut, sondern erzeugt. Breuer, Ulrich:

1.1 Atta Trolls Gavotte – Tanz eines ,Liberalen‘?

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aber nur noch aus dem Reflex heraus ausführt.16 Bartolomeo Pinellis Kupferstich mit einem Blick auf das römische Stadtleben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Abb. 19) zeigt die ganze Erniedrigung, mit der ein Tanzbär an der Nase geführt wird.

Abb. 19: Pinelli, Bartolomeo: Ein Tanzbär wird den Römern vorgeführt. Hamburger Kunsthalle, Inventarnummer kb-1863-85-175-7.

Ungeschickt. Eine Fallgeschichte der deutschen Literatur. Paderborn 2021, S. 53 und 194. Zur Ungeschicktheit in Verbindung vorwiegend mit der Literatur des Realismus siehe Oesterle, Günter: Fünf Fallskizzen zum Ungeschickten. In: Christopher Buch [u. a.] (Hg.): Ichtexte. Beiträge zur Philologie des Individuellen. Paderborn 2019, S. 13–20. 16 Tanzbären erlernen die ‚Tanzkunst‘, indem sie auf einem heißen Boden stehen müssen und um die Schmerzen zu lindern ihre Hinterpfoten abwechselnd heben. Dabei wird musiziert und so assoziieren die Bären ihren Schmerz mit der Musik, sodass sie solche Reflexbewegungen später auch ohne den heißen Boden ausführen. Dazu Wolf-Dieter Storls Zitat zu einem mittelalterlichen Holzschnitt zur Tanzbär-Dressur und Sonja Windmüllers detaillierte Ausführung zur internationalen Tanzbären Dressur. Storl, Wolf-Dieter: Der Bär. 2. Aufl. Baden 2005, S. 269 f. Windmüller, Sonja, An der Nase geführt. Perspektiven auf das Phänomen „Tanzbär“ (und zugleich auch auf den Tanz). In: VOKUS, 19 (2009), S. 17–36, hier S. 17–22.

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Heine schont seine Kritiker nicht, sondern beweist sein spöttisches Talent, indem er sie als Tanzbären vorführt, die mit „Kette“ und ,Peitschenhieben‘ (DHA 4, 13) traktiert werden. In Atta Troll führen die Bären ihr Kunststücke auf einem Marktplatz vor, gelegen in einem Badeort, in einer Berglandschaft in den Pyrenäen, die einem „Traumbild“ (DHA 4, 13) gleicht. Auf diesem Platz, wo die Bären tanzen, verschmelzen Natur und Kultur zu einem ‚Traumbild‘. Heine weist zum einen auf das Dilemma hin, einen Bären, ein Wesen der Natur, auf unnatürliche Weise zu dressieren – konträr zu den Tanzbären, die wir aus tierfreundlichen Kinderbüchern kennen.17 Zum anderen verweisen die Stichwörter Natur, Kultur und Traumbild jeweils auf drei Handlungsstränge, die später verdeutlicht werden: 1) Atta Troll als Tier der Natur verwandelt sich in einen aggressiven Menschenhasser, der von einer Revolution gegen die ‚Erzaristokratie‘ träumt. 2) Der Erzähler aus zivilisierter Gesellschaft macht sich als Bärenjäger auf den Weg zu Atta Troll. 3) Heine führt das landschaftliche ,Traumbild‘ fort zu einem „märchenhaften Lied“.18 Damit wird Heine nicht nur dem Untertitel des Epos, dem auf Shakespeare verweisenden ‚Sommernachtstraum‘ gerecht, sondern kündigt auch die Glaubhaftigkeit seines Epos an – als einen ‚Traum‘, ein „Lied“. Atta Troll tanzt mit ‚Grandezza‘ und mit „Anstand“ (DHA 4, 13). Der spöttische Euphemismus dieser Wortwahl macht seinen unbeholfenen und groben Bewegungscharakter noch lächerlicher. Außerdem hat er keine Freude daran, wie ein Zirkuspferd für „schnödes Geld“ (DHA 4, 14) vorgeführt zu werden, er tanzt deshalb aus „Ingrimm“ (DHA 4, 15).19 Dieser Ingrimm gibt ihm die Kraft, sich in einem Moment von der Kette zu befreien und in die Wildnis zurückzukehren. 17 Hier wird auf Ulrich Mihrs Das Tanzbärenmärchen (1984) verwiesen, in dem Mihr die Figuren aus Heines Atta Troll sowie der Bärentanz und Bärenjagd seitens einer Hexe übernimmt und Atta Trolls Abenteuer umschreibt. Zwischen den Bärenführern und den Bären ergibt sich hier ein kollegiales Verhältnis, obwohl Atta Troll auf die gleiche brutale Weise tanzen gelernt hat: „Au, au, au“, rief Atta Troll, „Ach, ich muß tanzen, wenn ich das höre, als wäre der Boden glühend heiß.“ In: Mihr, Ulrich: Das Tanzbärenmärchen. Stuttgart 1984, S. 11. 18 Vgl. dazu Michael Peeraudins Gattungsanalyse von Heine’schen Epos. Dort pointiert Perraudin, dass Heine anhand eines nicht klassischen Hero-Epos, sondern durch ein Anti-Epos seine Satire realisiert, sei es in Atta Troll oder Deutschland. Ein Wintermärchen. Außerdem sieht Perraudin bei den Epen Heines eine Annäherung zu Herder, am Beispiel, dass Heine in Epen zahlreiche Elemente der lyrischen Gedichte, Balladen und Volksdichtung wie Märchen und Mythen montiere. Perraudin, Michael: „Denn Nazionalerinnerungen liegen tiefer in der Menschen Brust [...]“ . „Deutschland. Ein Wintermährchen“, „Atta Troll“ und Heines frühe Überlegungen zum Epos. In: Bernd Füller (Hg.): Von Sommerträumen und Wintermärchen. Bielefeld 2007, S. 205–224, hier S. 206–220. 19 Atta Trolls Tanz-Unlust lässt eine Parallele zu Laurence aus Florentinischen Nächte erkennen, die ‚verdrießlich‘ tanzt und ebenfalls einen Ausweg sucht. Nachdem Troll sich aus der

1.1 Atta Trolls Gavotte – Tanz eines ,Liberalen‘?

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In der Rede, die Heine Atta Troll zu Hause vor seinen Bärenkindern erzählen lässt, spielt er auf die Vereinfachungen durch die Tendenzdichter an. Gemeint ist dabei eine undifferenzierte Gleichmacherei, wie sie der kritische Sozialist Heine mehrmals angeprangert – Atta Troll ignoriert vor dieser „strengen Gleichheit“ die unterschiedlichen Fähigkeiten der Individuen. Mit dem Versprechen „die Schwächeren zu stärken“ (DHA 4, 26), verbindet er die Auffassung, jeder Esel „sei befugt zum höchsten Staatsamt“(DHA 4, 26), während Löwen „mit dem Sack zur Mühle traben“ (DHA 4, 26).20 Damit verkörpert Heine einen realitätsfremden, unreifen Liberalen, der von Freiheit gegenüber allen höheren Instanzen und vom Egalitarismus träumt.21 In Wirklichkeit steht doch dessen Eigennutz an erster Stelle. Gänzlich davon geprägt ist, wie Atta Troll zwar auch fordert, dass „die Juden“ „volles Bürgerrecht genießen“ (DHA 4, 27) sollen, aber er verhängt für sie gleich ein Tanzverbot im Namen der Tanzkunst: „Nur das Tanzen auf den Märkten“ wie von Atta Troll sei den Juden „nicht gestattet“ (DHA 4, 27). Damit wird er als linker Opportunist und Antisemit entlarvt, der die Konkurrenz anderer Tänzer fürchtet. Gerade diese Art Liberalismus, der sich lediglich an der Oberfläche radikal kämpferisch gebärdet, führt in Wirklichkeit zu Unfreiheit und Gefangenschaft in der Anschauung. Dies verrät Atta Troll im Tanz und offenbart es vor allem

Fessel befreit hat und endlich ins Gebirge geflüchtet ist, jammert der Bärenführer über dessen ‚Undank‘. Der Bärenführer begründet, er habe Troll ertüchtigt, sicherte ihm zugleich ein gefahrloses Leben. Nachdem Laurence ins Pariser Leben der Oberschicht eingestiegen ist, bezeichnet ihr Pflegevater Türlütü sie als undankbares Kind. Er habe sie aus dem Grab gerettet und großgezogen, obwohl nicht ganz liebevoll. Nur auf diesem Punkt bezogen hat Troll etwas Gemeinsames mit Laurence. Während Laurence mit Bescheidenheit bekennt, dass sie nichts vom Tanz wisse, hält Atta Troll sich für einen großen Tänzer, der sogar glaubt, dass ihm ‚Tanz-Kennerinnen‘ huldigen. 20 Vgl. dazu die Tiermetapher bei Heine hinsichtlich der Revolution in Joseph Kruses Studie. Während Löwe und Bär häufig bei Heine unter dem Aspekt der Revolution gesehen als positive Tiere dargestellt werden, zählen Pferd, Esel und Rabe hingegen eher in Märchen als pejorativ. Kruse, Joseph A.: Heine und die Französische Revolution. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 41 (1989), S. 325–339, hier S. 334 f. 21 Atta Troll träumt von einer „strenge[n] Gleichheit“ (DHA 4, 26), von Neo-Babouvismus, der sich seit den 1830er Jahren in Paris durch frühsozialistische Gedanken auszeichnet. Heine wendet sich von dieser absoluten Gleichheit ab und stellt solch radikale sozialistische Strömung in Zweifel, erstens weil eine politische Gleichheit für alle Menschen mit verschiedenem Bildungsgrad und Blickwinkel nicht realistisch wird, zweitens fürchtet er sich vor einer Funktionalisierung oder Unterordnung der Künste gegenüber Macht bzw. Missbrauch der Macht durch das Proletariat. Dazu Gille, Klaus F.: Heines „Atta Troll“. „Das letzte freie Waldlied der Romantik“? In: Ders. (Hg.): Konstellationen. Gesammelte Aufsätze zur Literatur der Goethezeit, Berlin 2002, S. 303–328. Auch Zhang, Yushu: Atta Troll und Heines Angst vor dem Kommunismus. In: Ders. (Hg.): Mein Weg zur „Literaturstraße“, Würzburg 2009, S. 253–268, hier S. 259–267.

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durch die von Dressur bedingten Reflexe. Bei seiner Flucht zeigt er sich noch als Wildtier „mit wilden Sprüngen“ (DHA 4, 16), aber die ihm angeborene Naturseite währt nur einen kurzen Moment. In seiner Heimathöhle ist er verwandelt in das widersprüchliche Wesen, zu dem ihn die Dressur gemacht hat und in dem sich Arroganz, leeres Pathos und Feigheit mischen. Er schildert seinen Kindern seine ehemalige Glanzzeit und prahlt mit seiner Kultivierung.22 Als Beweis ,verblüfft‘ er sie mit einem höfischen Tanz des Barocks, der Gavotte, und bemüht sich um Grandezza. Dass Heine einen Tendenzbären die Gavotte tanzen lässt, zeigt seinen ganzen Spott auf beides, sowohl auf das „Ancien Régime“ als auch auf Atta Troll. Auch wenn es Atta Troll nur unzulänglich gelingt, fühlt er in sich die Größe des Adels, ebenso wie ihm umstürzlerische Gedanken leicht über die Lippen kommen. Als Steigerung dieses Widerspruchs akzeptiert er lediglich, was die katholische Kirche akzeptiert – sakrale Tänze, selbst den Tanz des jüdischen Königs David hält er für vorbildhaft. Hingegen duldet er – am Beispiel des frivolen Lächelns erklärt – keineswegs die spielerische Seite der Tanzkunst. Seine Tanzauffassung verweist eher auf den Wunsch eines Konservativen, die Macht von Kirche und Monarchie wiederherzustellen. Heine spielt damit auf die Ambivalenz an zwischen Atta Trolls pathetischer Rede von der Gleichheit für alle und seinem Tanz, der seine Affinität zur Macht verrät. So vertraut Heine seiner Mutter in einem Brief seine Absicht an, Atta Trolls verlogenen Kampf für die liberalen Ideen seiner Zeit zu verspotten23: „Atta Troll [...] mag von einem Emanzipazions-Juden ein bischen [sic] Färbung bekommen haben, doch hatte ich nur die Satyre auf die menschlichen Liberalismus-Ideen überhaupt im Sinne, unter uns gesagt.“ (HSA 22, 50)24 Ähnlich scherzt Heine über leere Versprechungen und bombastische Reden durch eine ‚liberale‘ und ‚revolutionäre‘ Knecht-Figur in seinem Gedicht An einen politischen Dichter (1841): „Der Knecht singt gern ein Freiheitslied / Des Abends in der Schänke/ Das fördert die Verdauungskraft / und würzet die Getränke.“ (DHA 2, 185) 22 Heute könnte man das Vorgehen Atta Trolls mit dem psychologischen Terminus ‚Identifikation mit dem Aggressor‘ kennzeichnen. 23 Hier berufe ich mich auf Sabine Bierwirths These, Atta Trolls Freiheitskampf verhalle ohne Wirkung – eine Anspielung auf Heines pessimistische Haltung gegenüber einer möglichen Durchsetzung der damaligen liberalen Ideen. Vgl. Bierwirth, Sabine: Heines Dichterbilder. Stationen seines ästhetischen Selbstverständnisses. Suttgart/Weimar 2017, S. 303. 24 Das Gegenteil zu Atta Troll sieht Margaret Rose im Caput der wilden Jagd, in der die leitenden Götter formal einen freien Aufzug ausführen, ohne dass sie durch einen Freiheitsaufruf auffallen. Vgl. Rose, Margaret A.: Carnival and „Tendenz“. Satiric Modes in Heine’s „Atta Troll. Ein Sommernachtstraum“. In: AUMLA (Journal of the Australasian Universities Language & Literature Association) 43 (1975), S. 33–49.

1.2 Mummas Cancan – Tanz eines ,lasziven Weibs‘?

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Dass Heine mit Atta Troll eine satirische Figur gestaltet, um eine eindeutige Antwort auf die Frage zum Menschen-Tier-Verhältnis zu geben, darf nicht zum Missverständnis führen. Atta Troll ist hier dem Menschen unterlegen, insbesondere dem Erzähler. Es geht hier jedoch nicht um die Unterlegenheit im Sinne der Aufklärung, nach der das Tier weder der Vernunft noch der Sprache mächtig ist. Hier schreibt Heine dagegen dem Tier menschliches Verhalten zu, ganz im Stil der Romantik.25 Diese Strömung führt zur Bewunderung von Fähigkeiten der Tiere zum einen und auf subjektive Reflexion zum anderen anstatt objektiver Beobachtung. Erinnert sei an den Bären aus Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater, der jeden Fechtstoß seines Menschengegners parieren kann, so wird das übermenschliche Reaktionsvermögen des Kleist’schen Bären bewundert. Für die nachfolgenden Romantiker ist es eine Deutung darauf hin, über welche Fähigkeiten ein Naturwesen verfügt. Heine hingegen gestaltet in Atta Troll kein Tier aus der freien Natur, sondern ein domestiziertes, versklavtes Tier, das sich nun nur noch ungeschickt bewegen kann. Er kritisiert die vorprogrammierte Verhaltensweise des abgerichteten Atta Trolls, deutet damit auf die Schreibart der Tendenzdichter hin, denen durch politische Arrangements Fesseln angelegt werden.

1.2 Mummas Cancan – Tanz eines ,lasziven Weibs‘? Es fällt bei Mummas Tanz auf, dass sie als Gegenfigur zu Atta Troll konzipiert zu sein scheint. Sie lernt, mit der Tatsache zu leben, gefesselt zu tanzen und sich dadurch ihr Futter zu sichern. Trotz der Gefangenschaft nutzt sie jede Gelegenheit, aus dem engen Verhaltenskodex auszubrechen. Sie verspottet Atta Trolls ‚Anstand‘ und Pathetik, indem sie „manchmal cancanier[t]“ (DHA 4, 13). Sie lockt die Zuschauer mit „freche[m] Steißwurf“ (DHA 4, 13) und stellt ihre weiblichen Reize zur Schau. Dabei neckt sie das Publikum mit einem nonchalanten Tanz voller Gleichgültigkeit und Scheinheiligkeit. Während Atta Troll wegen eines vermeintlich von Mumma, in der Tatsache von der Hexe, abgegebenen Lautes erschossen wird, erarbeitet sich Mumma eine Veränderung ihrer Lage und findet einen neuen Partner im Pariser Botanischen Garten. Zur Frage, ob es sich bei ihr wirklich um ein gleichgültiges und gemütsloses Wesen handelt, wie es in einigen Studien vermutet wird,26 mögen ein paar Überlegungen zu Heines Urteil über den Cancan beitragen.

25 Borgards, Roland (Hg.): Tiere. Handliche Bibliothek der Romantik. Bd. 2. Berlin 2019. 26 Zum Beispiel Ock Parks Zuordnung von Mumma: „Die Unbeständigkeit des sakramentalen Lebensbundes und das sittensprengende Moment der neuen Beziehung wird in dem Mumma

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1 „Groß als Tänzer“ oder „armer Prahlhans“

Das Pikante am Cancan sind die hohen Beinwürfe und die Hüftschwünge der Damen mit ihren zur Schau gestellten Unterröcken. Davon berichtet Heine 1842 in einem Artikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Als er darin Cancan definiert, gerät er selbst offenbar in Verlegenheit: „Hier höre ich die Frage: was ist der Cancan? Heiliger Himmel, ich soll für die Allgemeine Zeitung eine Definizion des Cancan[s] geben!“ (DHA 13/1, 157) Daraufhin pointiert er die Nähe des Cancans zur Erotik und dessen problematischen Konflikt mit der Sitten-Kontrolle: Der „Cancan ist ein Tanz, der „nie in ordentlicher Gesellschaft getanzt wird“ (DHA 13/1, 157) und von der Polizei untersagt wird. Wer trotz des Verbots Cancan tanzt, wird „unverzüglich von einem Polizeyagenten ergriffen und zur Tür hinausgeschleppt“ (DHA 13/1, 157). Dazu ist die polizeiliche Bewachung beim Tanzen überhaupt ein „sehr sonderbarer Uebelstand“ (DHA 13/1, 157): Jeder Tanzende „in den öffentlichen Tanzsälen bey jeder Quadrille“ wird geprüft, ob er dem Maßstab der „tanzende[n] Moralität“ (DHA 13/1, 157) entspricht. Heine bringt dies in den Zusammenhang mit dem „Justemilieu“, der machtvollen Strömung der Mäßigung, die Moral, Tugend und Sittsamkeit im kulturellen Leben prägt. Sinnliche und freizügige Tänze wie der Cancan, welche körperliche Nähe verlangen, müssen auf jegliche intime Empfindung und geschlechtliche Beziehung verzichten. Diese Tänze verlieren somit den ästhetischen und emotionalen Reiz. Die Parallele zwischen einerseits dem Verhältnis der Tanzenden zur Überwachung, und andererseits der Beziehung der Bären zum Bärenführer ist offensichtlich. Tanzt ein Bär mit ‚Anstand‘ wie Atta Troll, so wird der Tanz allgemein akzeptiert, auch dann, wenn er nur oberflächlich und dilettantisch ausgeführt wird. Tanzt er jedoch einen erotischen Cancan, so wird er ausgepeitscht, wie dies Mumma widerfährt. Den Umgang des Bärenführers mit seinen Tanzbären setzt Heine in ein Verhältnis zu den Sitten und zur Politik. Während Atta Troll sich zu einem ‚revolutionären Kämpfer‘ hochstilisiert, der in seinem Fanatismus zum Menschenfeind (DHA 4, 27) wird, beugt sich Mumma der Obrigkeit und unterwirft sich ihr dabei spielerisch.27 Ihr Umgang mit der Macht findet eine Parallele zu Heines Interpretation des Cancans. In der Augsburger Allgemeinen Zeitung schildert Heine, wie das Pariser Volk als Überlebensstrategie unter Beobachtung der Sittenpolizei einen ‚Cancan‘ parodiert und sich dabei höchst affektiert gebärdet: Das Volk macht vor den Augen der Polizei mit „lachende[r] Häme“ die „vergnügtesten Sprünge“ (DHA 13/1, 157), mit anderen Worten, „allerley ironische Entrechats und übertreibende Anstandsgesten“ Identität zuweisenden Wort der „Gattin“ Atta Trolls bissig zur Sprache gebracht.“ Zitat aus: Park, Ock Sook: Der Tanz bei Heinrich Heine. Berlin 2004, S. 62. 27 Vgl. Kruschwitz, Hans: Wenn die Sterne in „dem Straßenkot sich spiegeln“. Cancan und Liebeswahnsinn in Heines „Atta Troll“. In: Heine-Jahrbuch, 56 (2017), S. 1–20.

1.2 Mummas Cancan – Tanz eines ,lasziven Weibs‘?

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(DHA 13/1, 157). Dadurch verrät das Volk nicht nur seine „verpönten Gedanken“ (DHA 13/1, 157), die sich gegen die Einschränkung der Freiheit und die ‚zensierten‘ Sitten richten, sondern seine mutige „Verschleyerung“ (DHA 13/1, 157) durch den Cancan erscheint „noch unzüchtiger als die Nacktheit selbst“ (DHA 13/1, 157). Heine schreibt dem Cancan nicht nur einen frechen und dreisten Charakter zu, sondern sieht hinter dessen spielerischem Schein die verborgene Enttäuschung des Volkes. Das, was bislang „als das Edelste und Heiligste im Leben gilt“ (DHA 13/1, 158), was von der Politik versprochen wird, glaubt das Volk nun „nicht mehr wie sonst“ (DHA 13/1, 158). Zwar ist es dem ohnmächtigen Volk verboten, seiner Enttäuschung durch Worte Ausdruck zu verleihen, aber im Tanz kann es seine „trostlose Anschauungsweise“ (DHA 13/1, 158) ausdrücken. Dies ist ein weiteres Beispiel für die besondere Ausdrucksfähigkeit einer nonverbalen Kunst, wie sie der Tanz darstellt. Dadurch wird der Cancan zu einem Tanz mit zwei Gesichtern. Auf den ersten Blick zeigt er scheinbare Unbekümmertheit und hedonistische Laxheit, in Wirklichkeit enthält er jedoch „eine eigentliche Pantomime des Robert-Macairethums“ (DHA 13/1, 158)“. Heine bezieht sich auf die Verbrecherfigur Robert Macaire aus französischen Theaterstücken, die die unglaubwürdigen „Großsprechereyen“ der Obrigkeit entlarvt und das Volk bemitleidet. Heine würdigt Cancan als „getanzte Persiflage“ (DHA 13/1, 158), nicht weil dieser Tanz heroische politische Provokation verkörpert, sondern weil er etwas über die wahren Zustände des Volks aussagt. Er lässt sich als Indiz für den Pessimismus des Volkes verstehen, die aufgegebene Kampflust und die Unlust zum selbstbestimmten Leben. Gerade diese Unlust, zu kämpfen, die sich beim Cancan in fatale Lust am Spiel verwandelt, erfüllt Heine „mit einer unsäglichen Trauer“ (DHA 13/1, 158). Ein ähnlicher Zwiespalt zwischen Sittenlosigkeit und Sittsamkeit, zwischen Verhöhnung der Realität und Enttäuschung von ihr, ist auch bei Mumma zu erkennen. In der ursprünglichen Version des Textes gestaltet Heine sie noch als laszives ,Frauenbild‘, indem er sie „etwas kankanir[en]“ (HSA 26, 48) lässt und die Bewegung „ihres Hintertheils“ (HSA 26, 48) besonders hervorhebt.28 Bei der Änderung erwähnt er den Cancan nicht mehr und weist stattdessen auf eine Adresse hin – „Grand’-Chaumière“ (DHA 4, 13), eines der berühmtesten Pariser Tanzlokale der niederen Klasse. Zu den Tanzlokalen und ihren Gästen gibt Heine selbst keine weiteren Hinweise. Mehr dazu lässt sich in einem anonymen Reisebericht finden. Ein deutscher Berichterstatter vergleicht 1847 in der Zeitschrift Die Grenzboten zwei der berühmtesten Pariser Tanzlokale, Bal Mabille 28 Entsprechend Heinrich Laubes Forderung musste Heine diese Zeile aufgrund ihrer „Frivolität“ (HSA 26, 48) und „Rohheit“ (HSA 26, 48) den Sitten entsprechend umschreiben, damit Atta Troll überhaupt in der Zeitung für die Elegante Welt erscheinen konnte, ohne Aufruhr zu verursachen.

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1 „Groß als Tänzer“ oder „armer Prahlhans“

und oben genanntes Grande Chaumière, miteinander. Dabei hebt er die unterschiedliche gesellschaftliche Position und finanzielle Lage der Gäste hervor: „Nach dem Bal Mabille rollen in ihren Equipagen oder in denen ihrer Geliebten“29 die sogenannten „Loretten“, „die berühmten Löwinnen der Boulevard’s“30 von dannen. Hingegen wandert „in die Chaumière [...] die Grisette“, meistens eine Frau, die häufig körperliche Arbeit verrichtet, wie etwa eine Wäscherin oder Näherin, „zu Fuße an der Seite ihres Studenten.“31 Die Grisette, die ärmer ist als die am Luxus orientierte ‚Lorette‘, unterscheidet sich zugleich auch von einer beruflichen Prostituierten, weil sie mit ihrem Geliebten für eine Zeitlang ein gemeinsames Leben aus Liebe führt. Auch ihr Tanz spiegelt ihren Lebensstil wider. Der Cancan im Chaumière streift „nur graziös [an] das Unanständige“, „ohne je selbst unanständig zu werden“32. Für Heine, der die beiden Tanzlokale kennt, verkörpern sie auch ein Symbol für den sozialen Status seiner Tanzfiguren. In seinem Gedicht Pomare cancaniert die Titelfigur, die „Königin des Tanzes“, im „Garten Mabill“ (DHA 3/29), dagegen entspricht Heines Tanzbärin Mumma aber einer namenlosen Person der unteren Klasse, die sich im Chaumière von der Unterdrückung in ihrem beruflichen Alltag erholt. Sie trägt die Züge einer Grisette, welche die Partner wechselt. Mumma ist von Heine als Sinnbild eines Charakters gezeichnet, der seine Unterdrückung mit großer Leidensfähigkeit hinnimmt und es sich darin so gut wie möglich einrichtet. Heine lässt sie zum Schluss nicht nur ein unbesorgtes Leben im Zoo genießen, sie findet sogar neues Glück mit ihren neuen Geliebten, einem Eisbären. Ihre erstaunliche Anpassungsfähigkeit und ihre Bequemlichkeit deuten auf ein materialistisches Wesen hin. Dabei ist es fraglich, ob Mumma wegen ihres Cancan-ähnlichen Tanzes den Vorwurf von Laszivität, Untreue und Frechheit verdient. Nachdem Atta Troll geflüchtet ist, bleibt sie treu und „flehend“ vor dem wütenden Bärenführer „stehen“ (DHA 4, 13) und erträgt seine sadistischen Schläge als ‚schwarzes Schaf‘, als stellvertretende Buße für die Flucht ihres Gatten. Ihre Machtlosigkeit ist noch „am zärtlich feuchten Glanze ihres Auges“ (DHA 4, 86) zu erkennen. Ihr Schicksal als Sklavin lässt ihr keine Wahl.

29 Anonym (der Name wurde unter ‚A .... d‘ verschleiert), Tagebuch (aus Paris), Ende Mai 1847. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, redigiert von J. Kuranda, sechster Jahrgang, 3 (1847), S. 392–395, hier S. 393. 30 Anonym (der Name wurde unter ‚A .... d‘ verschleiert), Tagebuch (aus Paris), Ende Mai 1847. In: Die Grenzboten, S. 393. 31 Anonym (der Name wurde unter ‚A .... d‘ verschleiert), Tagebuch (aus Paris), Ende Mai 1847. In: Die Grenzboten, S. 394. 32 Anonym (der Name wurde unter ‚A .... d‘ verschleiert), Tagebuch (aus Paris), Ende Mai 1847. In: Die Grenzboten, S. 394.

1.3 Paartanz der Bären und Gespenster – ,tolle Arabesken‘

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Hier ist die Kehrseite des Cancans zu erkennen. Er ist ein Tanz, der nicht aus Freude stattfindet, sondern aus Hoffnungslosigkeit. Da Mumma das ohnmächtige Volk vertritt, ist sie nicht imstande, sich gegen ihr eigenes Schicksal zu wehren, geschweige denn dazu, wie ihr Gatte für die Freiheit der Tiere zu kämpfen. Passend dazu prophezeit Heine 1843 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, dass ein grundlegender Freiheitskampf nicht von einer „Ordonnanz“ (DHA 14/1, 68) markiert wird, sondern „Zeit und Ruhe“ benötigt, bis das Freiheitsgefühl auch in die untere Klasse gelangt: „Die Freyheit, die bisher nur hie und da Mensch geworden, muß auch in die Massen selbst, in die untersten Schichten der Gesellschaft, übergehen und Volk werden“ (DHA 14/1, 68).

1.3 Paartanz der Bären und Gespenster – ,tolle Arabesken‘ Vor der Bärenjagd übernachtet der Erzähler noch bei der Hexe Uraka. In ihrer abgelegenen Hütte in der Natur träumt er von einem burlesken Ball. Anders als die Bärentänze auf dem Marktplatz, auch anders als die Tänze der Kinder und Frauen im Dorf, findet dieser Ball im Bereich des Irrationalen statt, im Traum, in einem gepflegten Tanzsaal. Zeigt dies die Utopie einer besseren Welt, eine Befreiung oder eine Übernahme adeliger Festkultur? Als der Erzähler träumt, erlebt er die Metamorphose der Hexen-Waldhütte in einen „Ballsaal“ (DHA 4, 67), der von Größe, Architektur und Einrichtung her im Kontrast zu der bescheidenen Hütte steht – ein häufig genutztes Märchenmotiv.33 Die räumliche Verwandlung stimmt zum einen mit den surrealistischen Zügen des Traums überein und verweist zum anderen auf den Kontrast zwischen ‚mächtig und ohnmächtig‘, ‚reich und arm‘, auf den Unterschied zwi-

33 Vgl. dazu Heinz Röllekes Erläuterung zur Motivgeschichte und -bedeutung des Hütten-Palast-Kontrasts sowie zur bidirektionalen Verwandlungsmöglichkeit des Hütten-Palast-Verhältnisses. Rölleke, Heinz: Hütten und Paläste in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. In: Märchenforum. Die Zeitschrift für Märchen und Erzählkultur, Nr. 79, Trachselwald 2008, S. 6–9. Hier folge ich zudem den Gedanken von Ingrid Kreutzer in ihrer Studie zum Kunstmärchen Tiecks. Sie verweist auf Tiecks Märchen Der Blonde Eckbert (1797), in dem sich eine statisch-räumliche Verwandlung von einer Hütte in einen Saal vollzieht, wie auch später in Goethes Märchen Die neue Melusine (1812), in der eine Metamorphose zwischen einem Kästchen und einem Palast beschrieben wird. Vgl. Kreuzer, Ingrid: Märchenform und individuelle Geschichte. Zu Text- und Handlungsstrukturen in Werken Ludwig Tiecks zwischen 1790 und 1811. Göttingen 1983, S. 76 f.

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1 „Groß als Tänzer“ oder „armer Prahlhans“

schen geselligem Menschen und Einsiedler.34 Der Ballsaal ist ebenfalls von Prunk und Pracht erfüllt. Er wird „von Säulen hoch getragen / [u]nd erhellt von Girandolen“ (DHA 4, 67). Damit unterstreicht er ausreichend die kultivierte Aura und lässt sich mit der Nobilität der dort verkehrenden Gäste assoziieren. Heine lässt die gewöhnliche Logik nicht zu, sondern lässt sich stattdessen von seinem Ideenreichtum beflügeln. Im Ballsaal verweilen keine weltlichen Adeligen, sondern „wunderliche Gäste“ (DHA 4, 68), Paare von Bären und Skeletten, umhüllt mit weißen Laken. Jeder Bär hat ein Gespenst als Partner. Dabei fällt der Figur-, Bewegungs- und Farbenkontrast zwischen den dicken, plumpen schwarzbraunen Bären und den knochendünnen, flinken und weiß verhüllten Gespenstern ins Auge. Solch eine groteske Konstellation der Paare sowie ihr Erscheinen auf dem Ball der vornehmen Gesellschaft basiert zwar auf der Phantasie des Dichters, spiegelt aber dennoch eine Veränderung der Ballkultur wider. Anders als auf den bisher beschriebenen Bällen, bei denen die Ballordnungen nicht wegzudenken sind – zu denken ist hier an die aufwändigen Ball-Requisiten in Goethes Die Leiden des jungen Werthers, die Kenntnis der Schrittfolgen in Schillers Der Tanz, die Fesseln durch die Standesschranken in Arnims Hollin’s Liebeleben, die Kleiderordnung in Aschenputtel oder den Präsentationszwang des Physikprofessors für seine Puppe in Hoffmanns Der Sandmann – all dies zählt bei Heine nicht mehr als Grund, um die Bären und die Gespenster von der Teilnahme am Ball abzuhalten.35 Bei dem Paartanz von Bären und Gespenstern finden sich nicht, wie bei den anderen Bällen, unzählige Beobachter, sondern er ist durch eine gewisse Intimität und dabei zugleich Lockerheit gekennzeichnet, denn der Erzähler, welcher „ganz allein zum Saal spatzieren“ (DHA 4, 68) geht, ist der einzige Augenzeuge. Er sieht zu, wie die Tanzpaare, anfangs noch ‚aufrecht wandelnd‘ mit „feyerlichen Schritte[n]“ (DHA 4, 68) eintreten. Doch bereits der erste Tanz, ein Walzer, enthüllt den Kontrast in den Tanzfertigkeiten der Gäste. Es wird den Bären „herzlich sauer“ den Gespenstern gegenüber, „Schritt zu halten“ (DHA 4, 68). Aus Unzufriedenheit entpuppen sich die Bären als grobe und randalierende Barbaren. Ihr Schnaufen überdröhnt „fast den Brummbaß“ (DHA 4, 68). Dann treten sie den Gespenstern noch in das – allerdings nicht

34 Heinz Rölleke erinnert hier an den politischen Aufruf Georg Büchners aus der Flugschrift Der Hessische Landbote (1834) – „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ – und daran, dass die Hütten-Palast-Verwandlung so auf politische Weise auf den Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit anspielt. Vgl. Rölleke, Heinz: Hütten und Paläste in den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. In: Märchenforum, S. 6. 35 Dies ist ein Seitenhieb auf die Geschlossenheit der vornehmen Klassen, zu denen nun nicht mehr nur Adelige, sondern auch Persönlichkeiten aus dem Geldbürgertum wie Politiker, Offiziere und Kaufleute gehören.

1.3 Paartanz der Bären und Gespenster – ,tolle Arabesken‘

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mehr vorhandene – Gesäß und reißen ihr Leichentuch herunter. Ihre Unfähigkeit im Umgang mit der Musik, ihre Keckheit und Aufdringlichkeit gegenüber den Gespenstern sprechen für sich. Das Tempo der Tänze akzeleriert vom Walzer bis zur Galoppade, und dementsprechend variieren die Manieren der Tanzenden von burlesk-komisch über grotesk-schauderhaft bis hin zu ungezähmt (Bären) und keck (Gespenster). Der Ablauf des Balls wird, musikalisch gesprochen, zu einer Variation oder gar Improvisation, die auf ‚feierlichen Schritten‘ basiert und diese in Komik verzerrt – eine sich ins Kreative und in Willkür entwickelnde Groteske. Mit dem Höhepunkt, einer schnellen Galoppade endet der Traum, denn „ein ungeschlachter Bär / Trat mir [dem lyrischen Ich] auf die Hühneraugen“ (DHA 4, 69). Damit verwandelt sich der Palast wieder in die Realität der Hexenhütte und die „tollen Arabesken“ (DHA 4, 69) im Traum werden desillusioniert. Der Kontrast von Hütte und Palast und die Konstellation der Tanzpaare scheinen zu mehr als einem possenhaften Einwurf zu dienen. Der Tanz der Bären mit den Gespenstern ist schon in sich voller Doppeldeutigkeit. Ein Paartanz ist normalerweise gekennzeichnet durch Kooperation, Freundschaft und Annäherung. Umso mehr rücken hier die Konflikte der Bären und der Gespenster aufgrund ihrer ungleichzeitigen Schrittfolgen in den Vordergrund. Um welche symbolischen Bilder es sich bei dem Tanz der Bären und Gespenster handelt, lässt sich nur schwer bestimmen. Sie tragen die irrationalen Züge eines Tanzes im Traum. Zur näheren Bestimmung hilft es, wenn die Hintergrundmusik berücksichtigt wird. Am Ballbeginn verweist Heine auf eine Oper seines Landsmanns Giacomo Meyerbeer: Unsichtbare Musikanten Spielten aus Robert-le-Diable Die verruchten Nonnentänze; (DHA 4, 68)

Mit der Erwähnung der „verruchten Nonnentänze“ (DHA 4, 68) ruft Heine das Nonnenballett aus Meyerbeers Robert-le-Diable (Robert der Teufel) (1831) wach, welches in den 1830er Jahren in Paris Furore machte und einen Meilenstein für die Bühnengeschichte markierte.36 Zum ersten Mal wird das Geisterleben nach dem

36 In der Tanzforschung wurde die große Bedeutung des Nonnenballetts für die Bühnengeschichte bereits herausgestellt. Die Beleuchtungstechnik mit dimmbaren Glaslichtern anstatt Kerzen macht das Schauderhafte der ‚Geister‘ in weißen Gewänden sichtbar. Der Tanz der Toten wird somit zum Wegbereiter für das ‚ballet blanc’, indem das Leben post mortem oder Geisterwesen dargestellt und Begegnungen zwischen überirdischen Wesen und Menschen auf die Bühne gebracht werden. Auch die Handlung des romantischen Balletts ist häufig nach irdi-

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1 „Groß als Tänzer“ oder „armer Prahlhans“

Tod auf der Bühne dargestellt: Im dritten Akt beauftragt der Teufel die verstorbenen Nonnen, seinen Sohn Robert zu verführen. Die Nonnen steigen nun aus ihren Gräbern und tanzen, um Robert dazu zu veranlassen, einen Talisman zu stehlen. In Französische Zustände hält Heine den Erfolg dieser Oper in der Wintersaison 1831/32 fest. Anstatt die Nonnen als Motiv für auferstandene Tote zu betrachten,37 sieht Heine sie als „Geister der Convenzion“ (DHA 12/1, 117) an, die mit dem Teufel einen Pakt geschlossen haben und somit zu „revoluzionäre[n] Nonnen“ (DHA 12/1, 117) werden. Heine macht auf diesen Widerspruch aufmerksam, der sich aus der Zusammenarbeit der Nonnen als Vertretung des kirchlichen Glaubens mit dem Teufel ergibt. In der Oper tanzen die Nonnen einen vom Teufel beauftragten Walzer. Diese Ambiguität des Nonnentanzes aus Robert-le-Diable greift Heine in der Ballszene in Atta Troll wieder auf, indem er jene Tanzmusik im Hintergrund erklingen lässt. Insofern könnte Heine die Bären und Gespenster als politische Symbolbilder verwenden. Die Bären verkörpern den blinden liberalen Kampfgeist, den Atta Troll in seiner Rede äußert; die Gespenster, die Skelette mit Totenköpfen, stehen hingegen für die konservativen Mächte. Der Paartanz von zwei entgegengesetzten Mächten wird zwar durch Disharmonie geprägt, symbolisiert aber ebenso einen Zusammenhalt. Sie bleiben füreinander „Tanzgenossen“ (DHA 4, 68) und ‚schlangen sich‘ sogar ,wunderlich um‘ (DHA 4, 69). Dieser Paartanz dient dazu, ein lebhaftes Bild von der Kollaboration verschiedener und entgegengesetzter Mächte zu entwerfen, die mehr Interesse daran haben, sich zu profilieren, als daran, ihre politischen Ideen zu verwirklichen.38 Der Traum der ,tollen Arabesken‘ lässt sich mehr als die ungewöhnliche Konstellation der Tanzenden verstehen. Arabeske meint hier nicht die Pose des klassischen Balletts, meist französisch „Arabesque“ gesprochen, sondern die Art, wie Stoff- und Formenkomposition miteinander verschlungen sind. Die un-

schen und überirdischen Akten strukturiert, beispielsweise in den zweiaktigen Balletten La Sylphide (1832), Giselle (1841) und La Fille Du Diable (1847). Außerdem erzeugt nun die Schwerlosigkeit der Geister Handlungsbedarf und wird für die Tänzer zu einer Herausforderung. Als Marie Taglioni in der Uraufführung des Robert-le-Diable in der Rolle der Oberin Helena auftritt, ist sie wohl die erste Frau, die auf Spitzen tanzt. Dieser Tanz etabliert den Kult der Leichtigkeit bei Ballerinen. Vgl. dazu Diagne, Mariama: Schweres Schweben. Qualitäten der gravitas in Pina Bauschs Orpheus und Eurydike. Bielefeld 2019, S. 150–154. Auch Guest, Ivor: The Romantic Ballet in Paris. Alton 2008, S. 201–209. 37 Unterirdische oder körperlose Wesen werden auf der Bühne ‚inkarniert und sichtbar‘. Dies wird zu einem beliebten Motiv des romantischen Balletts, aber auch in Heines Dichtung in Zusammenhang mit wiederbelebten Toten wie Willis in Elementargeister oder auferstandenen griechischen Göttern in der wilden Jagd in Atta Troll. 38 Vgl. Tonelli, Giorgio: Heinrich Heines politische Philosophie (1830–1845). Hildesheim 1975, S. 124, 133 f, 154. (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie. Bd. 9).

1.4 Fazit – Freiheit in der Form

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gewöhnliche Figurenkonstellation findet sich ebenfalls in der Verflechtung der Erzählebenen wieder. Dieser Traum folgt den „wachenden Phantasmen“, einer realitätstreuen Handlungsebene. Er ist selbst wiederum ein „gesunder, fester Traum“, der sich vom krankhaft-romantischen Traum absetzt. Mit der Verwechslung von Realität und Traum und zugleich der Abwechslung zwischen ihnen verbindet Heine zwei Erzählebenen, die Metaebene (Traum) und die Handlungsebene (Realität), ebenfalls in einer ‚tolle[n] Arabeske‘. Darin fungiert der Tanz in einer „Montagetechnik“39, mit der Heine sowohl in inhaltlicher als auch formaler Hinsicht eine ‚Arabeske‘ erreicht.

1.4 Fazit – Freiheit in der Form Die Tänze in Atta Troll zeigen zwei Seiten einer Medaille mit gegensätzlichen Charakterzügen. Atta Trolls Tanz, der im ersten Augenblick Ernst, Pathetik und Anstand ausstrahlt, deutet zunächst seine Annäherung an das Machtgefüge von Monarchie und Kirche an – ganz im Widerspruch zu Atta Trolls liberalen Ideen, die er später in seiner Rede verkündet. Dadurch karikiert Heine einerseits den Opportunismus, der Atta Troll und einigen Tendenzdichtern innewohnt, und andererseits die unreifen politischen Entwürfe, die sich so gar nicht an der Realität orientieren. Der Figur Mumma schreibt Heine sowohl Sorglosigkeit als auch Untertänigkeit zu. Sie scheint mit ihrem kessen, spielerischen und heiteren Cancan kein Interesse an der Politik zu haben. Die andere Seite dieser Medaille bringt allerdings die Tatsache zum Ausdruck, dass Mumma als Verkörperung der breiten Masse des Volkes und insbesondere der unteren Klasse nicht im Stande ist, für ihr Recht zu kämpfen. Der Cancan dient ihr als Ausweg, um die Enttäuschung von der Politik im verzerrten, anscheinend gleichgültigen Tanz zumindest anzudeuten. Dabei erkennt Heine im Cancan eine besondere Energie. Die Tanzenden verfehlen trotz ihrer Sprachlosigkeit nicht ihre Wirkung. Die Macht ihrer Unangepasstheit und ihrer Bewegungen können als Demonstration derer gedeutet werden, die keine Stimme haben. Wie bei anderen Beispielen zur Kunst in vorrevolutionären Zeiten, die sich nicht immer eindeutig formuliert, trägt auch der Cancan als Funke zu den Protesten der Februar-Revolution 1848 bei. Hingegen präsentiert Heine im Bären-Gespenster-Paartanz im prunkvollen Ballsaal eine ,tolle Arabeske‘ mit seiner Disharmonie zwischen den Gästen und ihrer Umgebung sowie derjenigen unter den Tanzenden. Trotz der Kombination der Tanz-

39 Eicher, Thomas: Heine, Shakespeare und der „Sommernachtstraum“. Intertextuelles zur Traummetapher im „Atta Troll“. In: Heine-Jahrbuch, 33 (1994), S. 9–22, hier S. 18.

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paare, die zum „Schrecken und zum Lachen“ führt, trotz ihrer Zankerei beim Tanz kann nicht übersehen werden, wie Bären und Gespenster in ihrem gemeinsamen Tanz die Vorteile des Luxus (Ballsaal) auskosten. Hier könnte Heine die Kollaboration der Machthaber entlarven, die sie trotz unterschiedlicher politischer Anschauung zusammenhält. Darüber hinaus unterscheidet sich der Bären-Gespenster-Tanz durch seine Position im Traum von den beiden ersten genannten Tänzen in der Realität. Die ‚tolle Arabeske‘ in der Bären-Gespenster-Kombination überträgt sich auf die changierenden Erzählebenen, die sich zwischen freischwebendem Traum und wacher dichterischer Phantasie bewegen. Heines traumhafte Szenerie mit den schwebenden Geistern entspringt durchaus einer romantischen Phantasie, er verleiht der Szene jedoch gleichzeitig einen realsatirischen Bezug. Der Untertitel des Epos, „Ein Sommernachtstraum“, ruft nicht nur die Erinnerung an Shakespeares Komödie A Midsummer Night’s Dream (1595/96) sowie überhaupt an Shakespeare als Vorbild der Romantik hervor, sondern bezieht sich auch auf einen Traum der Moderne und deren Realität. Heine gibt mit seinem Atta Troll eine Antwort auf die Kritiken seiner Zeitgenossen, indem er ein Gegenkonzept zu der sogenannten Tendenzdichtung entwirft. Er spottet, wie „roh, plump und täppisch von der beschränkten Zeitgenossenschaft“ (DHA 4, 11) es sei, dass sie entsprechend ihres Freiheitsgeistes lediglich dazu aufruft, eine „christlich germanischen Nazionalität“ (DHA 4, 10) zu schaffen. Heines Vaterlandsliebe und Freiheitsgeist basieren nicht auf dieser Art Nationalismus, auch nicht auf dumpfer Freiheitsideologie, die er in Atta Trolls Rede ironisiert, sondern auf einer dichterischen Liebe, die sich in Gestaltung und Form zeigen muss. Zeitnah reflektiert Heine in der Augsburger Allgemeinen Zeitung (2.2.1843): Was ist in der Kunst das Höchste? [...] [Es ist] die selbstbewußte Freyheit des Geistes. [...] Ja, dieses Selbstbewußtseyn der Freyheit in der Kunst offenbart sich ganz besonders durch die Behandlung, durch die Form, in keinem Falle durch den Stoff, und wir können im Gegentheil behaupten, daß die Künstler, welche die Freyheit selbst und die Befreyung zu ihrem Stoffe gewählt, gewöhnlich von beschränktem, gefesseltem Geiste, wirklich Unfreye sind. Diese Bemerkung bewährt sich heutigen Tages ganz besonders in der deutschen Dichtkunst, wo wir mit Schrecken sehen, daß die zügellos trotzigsten Freyheitsänger, beim Licht betrachtet, meist nur bornirte Naturen sind, Philister, deren Zopf unter der rothen Mütze hervorlauscht, Eintagsfliegen. (DHA 14/1, 48)

Dabei wird Heine nicht zum Formalisten, wie sie das folgende Jahrhundert um die ‚formalistische Schule‘ hervorbringt. Weder entfremdet er seine poetologische Sprache von der Alltagsrede, noch blendet er die biographischen und historischen Züge aus. Vielmehr betont er die Form aus Sorge um die Entwicklung der Dichtkunst, deren Form vom Inhalt des Vormärz vernachlässigt und deren Ästhetik durch kämpferische Pathetik ersetzt wird. Im Gegensatz zur Tendenzdichtung gönnt sich Heine die dichterische Freiheit, die ihm vorschwebenden

1.4 Fazit – Freiheit in der Form

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„tolle[n] Arabesken“ (DHA 4, 69) als politische Freiheit zu sehen. Dabei erreicht diese dichterische Freiheit einen uneingeschränkten Leserkreis, sogar in „China und Japan“ (DHA 4, 10), wo man sich der deutschen Nation nur bedingt öffnet. Im Gegensatz zu dem „schlecht tanzend[en]“ (DHA 4, 79) Bären Atta Troll wünscht Heine seinem Epos Atta Troll, das „auf vierfüßigen Trochäen / über diese Erde stelz[t]“ (DHA 4, 79), die Ästhetik freier Bewegungsgestaltung.

2 Vom „Teufelsweib umtänzelt“. Disziplin und Frivolität des Balletts in Heinrich Heines Der Doktor Faust (1851) Ende des Jahres 1846 verfasst Heinrich Heine auf Wunsch des britischen Theaterdirektors am Her Majesty’s Theatre, Benjamin Lumley, eine Vorlage für ein Ballett. Zu diesem Zeitpunkt gibt es nur einen provisorischen Titel: „The Legend of Dr. John Faust; a Ballet-Pantomime“,1 aber es ist bereits zu erkennen, dass es sich offensichtlich um eine der bekanntesten deutschen Sagen- und Volksbuchfiguren handelt. Heine verwirklicht damit seinen Traum aus der Studienzeit, ein eigenes Werk über den Fauststoff zu schreiben.2 Er bittet Lumley jedoch, seine Faust-Dichtung bis zur Aufführung geheim zu halten und bis dahin den Helden mit einem anderen Namen anzukündigen.3 Von Anfang an hofft er, dass sein Tanzpoem mit Goethes „größte[m] Meisterwerke“ (DHA 9, 101), der „weltliche [n] Bibel der Deutschen“ (DHA 8/1, 159), verglichen werden kann. Trotz seines kränklichen Zustandes und des Zeitdrucks wagt es Heine, auf dem Gebiet der

1 Lumley, Benjamin: Reminiscences of the opera. London 1864, S. 200. (Heines Brief an Benjamin Lumley vom 27.02.1847). Lumley nimmt vier Briefe Heines aus dem Zeitraum zwischen 1847 und 1852 in seine Memoiren auf und übersetzt sie alle vom Französischen ins Englische. 2 Heine erwähnt in seinen Briefen aus der Zeit zwischen 1824 und 1826 gelegentlich seinen Faust-Plan. Dazu: Heinrich Heine Säkularausgabe (HSA). Hg. v. Klassik Stiftung Weimar und Centre National de la Recherche Scientifique. Bd. 20. Briefwechsel, Brief Nr. 118, Nr. 131, Nr. 152, Nr. 168, Nr. 179. Allerdings weicht das verschollene Faust-Drama des jungen Heine stark von dem seines späteren Ballettszenarios ab. Unverändert bleibt jedoch Heines Absicht einer satirischen Reflexion und humorvoller Parodien, wie in einem Tagebucheintrag von Heines Studienfreund Eduard Wedekind belegt wird. Vgl. Wedekind, Eduard: Studentenleben in der Biedermeierzeit. Ein Tagebuch aus dem Jahre 1824. Göttingen 1984, S. 120, 151 f. Vgl. auch Carl Enders’ Untersuchung zu Heines früherem Faust-Entwurf. Enders, Carl: Heinrich Heines Faustdichtungen. Der Tanz als Deutungs- und Gestaltungsmittel seelischer Erlebnisse. In: Heine-Jahrbuch, 75 (1995), S. 364–392, hier S. 364–368. 3 Heines Vorsicht sowie seine Zuversicht in Bezug auf Originalität und Inhaltstreue seiner Faust-Dichtung erklären sich in einem Brief an Lumley, in welchem er den Titel verkündet: „My brochure ought to be very interesting to those who only know the ‚Faust‘ of Goethe. I shall, therefore, at some future time, publish it in German, but in an amplified form, and accompanied by some learned illustrations, that I may not incur the censure of our erudite Faustologists. Keep the name of my ballet a secret till the last, and in case of necessity, call it ‚Astaroth‘. […] You will be pleased to see the pains I have taken to make people understand that you give the real Faust of the legend.“ Zitat aus: Lumley, Benjamin: Reminiscences of the opera. London 1864, S. 200. (Heines Brief an Benjamin Lumley vom 27.02.1847). https://doi.org/10.1515/9783110759815-017

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‚Faust-Tradition‘4 mit Goethe „zu wetteifern“ (DHA 9, 101) und ihn mit einem Medienwechsel vom Sprechdrama zum Ballett gar zu überbieten.5 Da Heines Ballett-Erstling Die Göttin Diana (geschrieben 02.1846) nicht auf die Bühne kam, weil dieser wegen des ungewöhnlichen Handlungsablaufs offenbar nicht dem Geschmack des britischen Publikums entsprach,6 hofft er umso mehr

4 Seine Zuversicht, auf den Faust-Stoff mit eher philologischem und historischem Bezug zurückgreifen zu können als Goethe, verdankt Heine der Publizistik seiner Zeit, die an Volksdichtungen und -studien orientiert ist. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird das Dichtungs-, Sammelund Forschungsinteresse an Mythologie, Volkstradition, -glauben und -dichtung intensiviert. Allein sein Verleger-Bekannter Johann Scheible hat zwischen 1845 und 1849 zwölf Bände mit dem Titel Das Kloster herausgegeben. Der sich an Volksgut und komischer Dichtung orientierende Schwerpunkt dieser Bände wird im Nebentitel angekündigt: Weltlich und geistlich. Meist aus der ältern deutschen Volks-, Wunder-, Curiositäten- und vorzugsweise komischen Literatur. Zur Kultur- und Sittengeschichte in Wort und Bild. Vier davon (Bd. 2. 3, 5, 11) handeln intensiv von Wiederdruck und Diskussion zu früheren Faustdichtungen. Heine besitzt Band 2, 3 und 5 privat und hat zwischen 1847 und 1850, zeitgleich zu seinem Faust-Libretto Band 2 und 3 ausführlich studiert. Dank der günstigen Recherchebedingungen kann Heine seine Figuren leicht auf diejenigen in verschiedenen Faustbüchern zurückführen, unter anderen auf Johann Spies’ Historia von D. Johann Fausten (1587) und Georg Rudolf Widmanns D. Johann Faustus (1599). Außerdem waren für Heine Puppenspiele auf Märkten eine wichtige Quelle, darunter Karl Simrocks Puppenspiel. Heines Anlehnung an frühere Faust-Dichtungen sowie mythologische Studien seiner Zeit wurde in der Forschung häufig nachgewiesen und diskutiert. Vgl. Kreutzer, Leo: Faust nimmt Tanzunterricht. Und was ist mit Helena? In: Träumen, tanzen, trommeln. Heinrich Heines Zukunft, Frankfurt am Main 1997, S. 103. Zu Heines philologischer Faust-Forschung und Anlehnung an Faustdichtungen siehe Neuhaus-Koch, Ariane: Heines Arbeit am Mythos. Die Quellen des „Doktor Faust“. In: Wilhelm Gössmann und Joseph Kruse (Hg.): Der späte Heine, 1848–1856. Literatur, Politik, Religion. Hamburg 1982, S. 45–57. 5 Bereits vor Heines Tanzpoem war der Faust-Stoff im Ballett oder zumindest in ballettösen Elementen auf der Bühne zu sehen. Beispielsweise wird in Scheibles Kloster auf ein Ballett verwiesen, welches 1731 im Kärtnertortheater zu Wien gespielt wurde. Dazu Johannes Voltes Vergegenwärtigung jener Ballett-Handlung und Konkretisierung des Aufführungsdatums: Voltes, Johannes: Bruchstücke einer Wiener Faust-Komödie 1731. In: Euphorion, 21 (1914), S. 129–136. Zur gleichen Zeit, im 18. Jahrhundert, veranschaulichten tänzerische Elemente, eingebettet in Theaterspiele auf Wanderbühnen sowie Zirkusvorführungen, den Fauststoff dem Publikum durch das Medium der ‚Körperkunst‘. Im 19. Jahrhundert wurden mehrere romantische Ballette aufgeführt, darunter beispielsweise August Bournonvilles Faustballett (1832) und Salvatore Taglionis Ballett (1838). Vgl. dazu Mücke, Georg: Heinrich Heines Beziehungen zum deutschen Mittelalter. Berlin 1908, S. 107. Auch Lillies, Roland: Der Faust auf der Tanzbühne. Das Faustthema in Pantomime und Ballett. München 1968, S. 55–103. 6 Ballettstücke, die auf bekannten Stoffen beruhen, haben im Her Majesty’s Theatre größere Chancen, aufgeführt zu werden. Obwohl Heine in dem Motiv – Liebeskonflikt zwischen Toten und Lebenden, Irdischem und Überirdischem – an das Ballett Die Göttin Diana anschließt, ist die Tannhäuser-Sage, die darin auftaucht, die Liebe eines Ritters zu einer römischen Göttin, dem britischen Publikum nicht unbedingt geläufig. Als Abhilfe sieht Lumey eine „Erläuterung“ entsprechend derjenigen im Doktor Faust, um das Publikum über die Handlung zu infor-

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auf eine Aufführung des Faust-Balletts. Leider hat er auch mit diesem Stück kein Glück.7 Erst post mortem erreicht Heines Doktor Faust die Bühne, zuerst in einem Zirkus (1874)8 und dann im 20. Jahrhundert in den Opernhäusern in Prag (1926), Sydney (1941) und München (1948).9 Eine der bekanntesten Aufführungen ist wohl Werner Egks Abraxas (1948)10, welche aufgrund von Unzüchtigkeit und Verletzung religiöser Gefühle nach einigen Aufführungen verboten wurde. Trotz des geringen Erfolgs in der Tanzwelt kann Heine sein Tanzpoem 1851 zumindest veröffentlichen.11 Das Werk trägt nun den Titel: Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem, nebst kuriosen Berichten über Teufel, Hexen und Dichtkunst.12

mieren. Allerdings kam Heine nicht mehr dazu, eine Erläuterung zur Göttin Diana zu verfassen. Der Grund ist unklar und hängt vermutlich damit zusammen, dass Heines Interesse sich auf Doktor Faust verlagerte, oder mit seinem gesundheitlichen Zustand. Vgl. DHA 9, 633–638. 7 Die Gründe für das Missgeschick mit seinem Ballett listet Heine gleich in der „Einleitenden Bemerkung“ auf, im Druck der deutschen Version: Die Saison sei mit den Auftritten der beliebten schwedischen Sängerin überfrachtet worden, auch der Ballettmeister Jules Perrot halte eine Ballett-Vorlage eines Dichters anstatt eines Tanz-Librettisten für untauglich. Dies ist für Heine offensichtlich eine zynische Bemerkung. Er erhoffte sich dann eine Aufführung 1850 in Wien und Berlin, aber vergebens. Über Heines gescheiterten Plan für die Aufführung in Wien und Berlin mit Hilfe von Heinrich Laube siehe DHA 9, 701–703. 8 Bereits 1874 gelangt Heines Tanzpoem auf die Bühne, obgleich nur teilweise, als Albert Schumann und Siems das Tanzpoem Heines mit Simrocks Volksbuch kombinieren und diese ‚neue‘ Version, „Dr. Faust“, aufführen. Das Programmheft bezeugt, dass sie von Heine inspiriert waren – „Circus Albert Schumann. Doctor Faust, mit theilweiser Benutzung des Heine’schen Tanzpoems […] Berlin 1874.“ Den entsprechenden Theaterzettel bewahrt die AnnaAmalia-Bibliothek in ihrer Faust-Sammlung auf. Schumann, Circus Albert: Doctor Faust. Eine romantisch-phantastische Handlung in 3 Abtheilungen, mit theilweiser Benutzung des Heinrich Heine’schen Tanzpoems gleichen Namens und des Simrock’schen Volksbuches Doctor Faust, mit theilweiser Benutzung des Heine’schen Tanzpoems. Berlin 1874. URL. https://haabdigital.klassik-stiftung.de/viewer/toc/798123028/1/. (20.07.2021). Vgl. dazu auch eine nähere Betrachtung von Robertson, Ritchie: Heinrich Heine. „Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem“. In: Frank Möbus [u. a.] (Hg.): Faust. Annäherung an einen Mythos. Göttingen 1996, S. 113–115. 9 Vgl. dazu David Conways Untersuchung zu drei Aufführungen von Heines Doktor Faust, der einen Vergleich mit der Bühnenwirksamkeit des Heine’schen Szenarios unter kulturgesellschaftlichem, dramaturgischem und bühnenbildlichem Aspekt vornahm. Conway, David: Heinrich Heine’s Faust Ballet Scenario, 1846–1948. In: Lorna Fitzsimmons (Hg.): The Oxford Handbook of Faust in Music. New York 2019, S. 483–503. 10 Carl Enders widmet sich einem ausführlichen Vergleich zwischen Heines Tanzpoem mit Werner Egks Bühnenbearbeitung Abraxas, insbesondere unter dem Aspekt der Charakterisierung der Figuren, der Ausarbeitung der Symbolik sowie der Wirkung der Bühnenbilder und Kostüme. Siehe Enders, Carl: Heinrich Heines Faustdichtungen. Der Tanz als Deutungs- und Gestaltungsmittel seelischer Erlebnisse. In: Heine-Jahrbuch, 75 (1995), S. 364–392, hier S. 381–391. 11 Vgl. DHA 9, 705–709. 12 Lumley, Benjamin: Reminiscences of the opera. London 1864, S. 200.

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Dieser neue Titel verweist darauf, dass sich die Thematik auf das Dämonische und Mythologische verlagert hat. Darüber hinaus legt das Wort ‚Poem‘ im Titel einen Schwerpunkt auf das Literarische, das Heine ungewöhnlich anpreist. Das Tanzpoem sei „ein Gedicht, welches vom Ballet nur die Form hat, sonst aber eine meiner größten und hochpoetischsten Produkzionen ist“,13 so wirbt der Dichter bei seinem Verleger Campe für den Druck des Tanzpoems. Heines Titelgebung ‚Tanzpoem‘ hilft bei der Frage, ob seine Ballett-Vorlage als Libretto, Szenario oder Drama eingeordnet werden soll.14 Die seltene Form „Poem“ schwebt zwischen Lyrik und Prosa. So heißt es in Grimms Wörterbuch, ein Poem sei das „in Prosa aufgedröselte“15 Gedicht. Heine verfasst das Tanzpoem in Prosaform und erwähnt darin zahlreiche Tänze, mit denen der Leser/der Zuschauer Rhythmus assoziiert. Außerdem tritt die verbale Rede, die in Faust-Dramen sonst üblich ist, hier zurück; stattdessen besteht sein Text aus bewegungsbetonten Regieanweisungen und Gestaltungen der Bühnenbilder. In heutiger Sprache ähnelt dies der Audiodeskription von Filmen.16 Somit versetzt Heine sein Tanzpoem in ein Spannungsfeld zwischen reimlosem Erzählen und rhythmischen Tanzschritten. Er verflicht Dicht- und Tanzkunst zu einem neuartigen Gebilde, in dem prosaische Narration auf ihre tänzerische Wirkung hin erprobt wird. Heines Tanzpoem ist sowohl literarisches Kunstwerk als auch Bühnenwerk. Daher berücksichtigt Heine dabei, wie seine Gedanken und Anspielungen durch

13 HSA Bd. 22, S. 257. (Heinrich Heine an Julius Campe vom 20.06.1847, Brief Nr. 1195). 14 Vgl. dazu die verschiedenen Definitionen von Heines Doktor Faust, literaturwissenschaftlich erfasste Definitionen wie „getanzte Tragödie“ bei Hans Henning, „Faustdrama“ bei Gerhard Höhn oder „Faustdichtung“ bei Park Ock Sock, ein aus Opern stammendes „Libretto“ bei Beate I. Allert, ein vom Titel übernommenes „Tanzpoem“ bei Felix Klempp oder ein filmsprachlich orientiertes „Szenario“ bei David Conway. Die vorliegende Arbeit übernimmt Heines „Tanzpoem“ für die Definition seines Doktor Faust. Vgl. Henning, Hans: Faust-Variationen. Beiträge zur Editionsgeschichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. München 1993. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 3. Aufl. Stuttgart 2004. Park, Ock Sook: Der Tanz bei Heinrich Heine. Berlin 2004. Allert, Beate I: Heine’s Doctor Faust, a Ballet Poem. In: Lorna Fitzsimmons (Hg.): Faust adaptations from Marlowe to Aboudoma and Markland. West Lafayette 2016, S. 66–77. Lempp, Felix: Fausts Feste. Chronotopoi des Karnevalesken in Heinrich Heines Tanzpoem ‚Der Doktor Faust‘. In: Heine-Jahrbuch 56 (2017), S. 21–47. Conway, David: Heinrich Heine’s Faust Ballet Scenario, 1846–1948. In: Lorna Fitzsimmons (Hg.): The Oxford Handbook of Faust in Music. New York 2019, S. 483–503. 15 „Poem“. In: Grimm, Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Bd. 13, Sp. 1967. 16 Wird hier der Anfang des ersten Akts als Beispiel genommen, so fallen dabei eine Reihe bewegungsbetonte Verben auf: Faust „sitzt“ zuerst, dann „erhebt“ er sich, „schwankt mit unsicheren Schritten einem Bücherschranke zu“, „öffnet“ dessen Schloss und „schleppt“ das Buch zu seinem Tisch.

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2 Vom „Teufelsweib umtänzelt“

Körperbewegungen der geschulten Balletttänzer begreiflich gemacht werden können und inwieweit seine Schilderung von Räumen, Gegenständen und Transformationen durch die zeitgenössische Bühnentechnik17 umsetzbar ist.18 Ob Heine seinen Faust als Wissenschafts-Gierigen, Zauberer oder Lebemann gestaltet, hängt deshalb auch von der Frage ab, inwiefern Fausts Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit oder wunderlicher schwarzer Magie durch Gesten und Mimik verständlich und bühnenwirksam umgesetzt werden kann. Heine reduziert seinen Faust auf einen Gelehrten, der sich nach sinnlichen Genüssen und Liebesglück sehnt. Fausts abenteuerlicher Weg von einer Geliebten zur anderen zieht sich als roter Faden durch die gesamte Handlung und schließt sich der Liebesthematik zeitgenössischer und damals geläufiger Ballettstücke wie Giselle (1841), Napoli (1842), Ondine (1843) und La Esmeralda (1844) an, die Lumley bereits auf die viktorianische Bühne gebracht hat. Ein Ballett zu schreiben, fordert Heine in vielerlei Hinsicht heraus. Er gehört zwar zu den Dichtern, die nicht selten über den Tanz schreiben, hat aber ein gespanntes Verhältnis zu akademisierten Tanzformen, insbesondere zum damaligen Ballett. Die von äußerlicher Ästhetik geprägten Haltungen, Gesten und die Geometrie der Körperbewegungen und Raumformen erlauben kaum eine Entfaltung der individuellen Charaktere und Emotionen. Somit steht beim akademisierten Ballett eiserne Disziplin statt Bewegungsfreude im Vordergrund, standardisierte Körper statt persönlichen Ausdrucks. Noch in seiner Novelle Florentinische Nächte (1836) träumt Heine davon, dass auch im Ballett ausdrucksorientierte Bewegungen möglich werden: Es wird ihnen [den Franzosen] aber schwer werden eine ähnliche Revoluzion in der Tanzkunst zu vollbringen; es sey denn, daß sie hier wieder, wie in ihrer politischen Revoluzion, zum Terrorismus ihre Zuflucht nehmen und den verstockten Tänzern und Tänzerinnen des (DHA 5, 230) alten Regimes die Beine guillotiniren.19

Sechs Jahre später nimmt er seinen Spott ein wenig zurück. Er kritisiert zwar 1842 in einem Artikel der Allgemeinen Augsburger Zeitung die Keuschheit des französischen Balletts, merkt aber dazu an, dass sich trotz der eingeschränkten Bewegungen in der Mimik auch Lust, Koketterie und Frivolität erblicken lassen:

17 Iris Julia Bührle merkt an, die Bühnentechnik des 19. Jahrhunderts strebe nach großartigen und riskanten Effekten, um das schaulustige und ereignisfreudige Publikum zu faszinieren. Vgl. Bührle, Iris Julia: Literatur und Tanz. Die choreographische Adaptation literarischer Werke in Deutschland und Frankreich vom 18. Jahrhundert bis heute. Würzburg 2014, S. 145. 18 Vgl. Cooper, Gabriele: Tanzende Chiffren. Heines Faust. In: Maske und Kothurn, 32 (1986), S. 41–52, hier S. 43 f. 19 Vgl. dazu mein Kapitel zum Vergleich von zwei Tänzerinnen, Mignon in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre und Laurence in Heines Florentinische Nächte.

2.1 Erster Akt. Die „banalsten Pirouette[n]“ und der Tanzaffe

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In der That, die Form und das Wesen des französischen Ballets ist keusch, aber die Augen der Tänzerinnen machen zu den sittsamsten Pas einen sehr lasterhaften Commentar, und ihr liederliches Lächeln ist in beständigem Widerspruch mit ihren Füßen. (DHA 13/1, 156)

Die Mimik der Tänzerinnen erweckt bei dem religionskritischen Heine die Hoffnung, dass Ballett nicht nur als ‚christianisierte Tanzform‘ (DHA 13/1, 156) wahrgenommen wird, sondern sich darin auch heidnische Sinnlichkeit und Körperfreude oder gar Funken teuflischer Frechheit sichtbar machen lassen. Nun hat er in seinem Tanzpoem Gelegenheit, mit der von ihm gewünschten ‚Revolution der Tanzkunst‘ zumindest auf dem Papier zu beginnen. Kühn gestaltet er den Teufel als spielerische Ballerina und nennt sie Mephistophela, um zu zeigen, dass das Ballett auch Potenzial zu größerer Ausdrucksvielfalt birgt. Er widmet jedem Akt ausführliche Schilderungen der räumlichen Umgebung, Dekorationen und Kleidung der Figuren. Hingegen deutet er nur in aller Kürze an, „wie Tänzer und Tänzerinnen sich gehaben und gebärden sollen“ (DHA 101, 25). Bei den Tanzfiguren und -formen beschränkt er sich fast nur darauf, die Bezeichnungen zu nennen, etwa ,Pirouette‘ und ‚pas-de-deux‘, bis hin zu den geselligen Tänzen wie ‚Quadrille‘, ‚Ronde‘, ‚Menuett‘ und ‚Hochzeitstanz‘. Solche Tänze, denen es an Detailbeschreibung mangelt, bieten einen großen Spielraum für Interpretationen. Wird er hier durch seine mangelhaften Tanzkenntnisse eingeschränkt, oder hält er eine ausführliche Erläuterung für die britischen professionellen Tänzer für überflüssig? Möchte er die Nutzung der Tanzfiguren und -formen selbst mit dem weiteren ‚Erzählen‘ beauftragen? Die Frage, inwiefern Heines ausgewählte Tanzformen eine Aufgabe übernehmen könnten, die die Möglichkeiten der Dichtung sprengt, wird in der folgenden Untersuchung miteinbezogen.

2.1 Erster Akt. Die „banalsten Pirouette[n]“ und der Tanzaffe Der Auftritt Mephistophelas unterstreicht ihre Identität als Tänzerin. Als Faust seine Geisterbeschwörung praktiziert und die höllischen Erscheinungen, etwa Schlange oder Tiger, für ‚nicht gefährlich‘ genug hält, entsteigt Mephistophela der Erde, mit einer bekannten Tanzfigur des Balletts, den „Pirouetten“ (DHA 9, 85), und begleitet von lieblicher Musik.20

20 Der Terminus „Pirouette“ wird im 17. Jahrhundert noch in Zusammenhang mit der Reitkunst oder mit dem Spielzeug Kreisel verwendet und existiert in der Sprache der Tanzmeister nicht. Ab dem 18. Jahrhundert findet er als Tanzfigur Eingang in Tanztraktate und Lexika, zuerst in Frankreich und England, etwas später dann auch in Deutschland. Siehe Eintrag „Pirouette“. In: Nouveau Dictionnaire de l’Académie françoise dedié au Roy. M–Z. Paris 1718, S. 280 f. Auch

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2 Vom „Teufelsweib umtänzelt“

Die Pirouette ist eine Tanzfigur aus der Zirkus- und Ballettwelt, bei der „der Körper auf einem Fuß stehend, mit dreifach angewinkeltem Bein vorbereitet (Hüft-, Knie-, Knöchelgelenk), wie ein Kreisel schnell mehrfach gedreht wird.“21 Sie verlangt von den Tanzenden, ihre senkrechte Körperlinie mit minimaler Gliederbewegung zu halten, mit dem Körper eine feste Haltung einzunehmen und ihn somit auf eine ‚Statue‘ zu reduzieren, um Drehungen zu ermöglichen. Je mehr Pirouetten ein Tänzer dreht, desto mehr nähert er sich der Virtuosität, desto mehr scheint er das menschliche Können zu übersteigen. Nach der obigen Definition Otto Schneiders im Tanzlexikon (1985) ist der menschliche Körper bei der Pirouette mit einem Kreisel vergleichbar, der dem Gesetz der physikalischen Rotation gehorcht. Eine Pirouette erfordert zunächst einen Wechsel von Dynamik/Wirbel und Mechanik/körperlicher Festigkeit; weiterhin lässt die Pirouette vermuten, dem Tänzer oder der Tänzerin seien göttliche Kräfte verliehen worden. Heine erwähnt bereits in Die Bäder von Lucca (1830) Franscheskas Drehungen und ihre Kraft zu solch einer Fertigkeit. Beiläufig dreht sich Franscheska dort beim Sprechen „wohl achtzehnmal auf einem Fuß“ (DHA 7/1, 106)!22 Der plötzliche Stillstand nach den Drehungen kontrastiert die Bewegungen und verstärkt ihre Virtuosität, wie Heine es im Gedicht Pomare (1847) herausstellt.23 Pomares Kontrast von schnellem Wirbel zum plötzlichen Stillstand beweist Tomlinson, Kellom: The Art of dancing, explained by reading and figures. London 1735, S. 90– 98 (Kapitel zur Tanzfigur Pirouette). Ab den 1750er Jahren findet der Begriff „Pirouette“ in deutschsprachigen Büchern Erwähnung, zum Beispiel in Zedlers Lexikon: „Pirouettes, sind auf Tanzböden die mit zierlichem Tempo gemachte zwey, drey oder mehrfachen Umdrehungen auf einem Fusse, und zwar mitten im Tantzen.“ In: Johann Heinrich Zedler (verlegt), Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 28. Pi–Pq. Leipzig/Halle 1741, S. 453. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfreut sich die Pirouette auf der Bühne zunehmender Beliebtheit, was einerseits mit der Erfindung der Spitzenschuhe zusammenhängt, andererseits mit dem Zeitalter der Mechanisierung. Dazu Brandstetter, Gabriele: The Code of Terpsichore. Carlo Blasis’ Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik. In: Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004, S. 49–72, hier S. 64–69. 21 Schneider, Otto: Tanzlexikon. Volkstanz, Kulttanz, Gesellschaftstanz, Kunsttanz, Ballett. Tänzer, Tänzerinnen, Choreographen, Tanz- und Ballettkomponisten von den Anfängen bis zur Gegenwart. Mainz [u. a.] 1985, S. 403. 22 Nur zum Zahlenvergleich: Knapp 200 Jahre nach ‚Franscheskas 18 Pirouetten‘ aus Heines Bade in Lucca gab es 2005 einen Weltrekord von 36 aufeinanderfolgenden Pirouetten, und im Jahr 2013 stellt Sophia Lucia mit 55 Pirouetten einen neuen Weltrekord auf. URL. https://www. guinnessworldrecords.com/world-records/82089-most-consecutive-pirouettes-contemporarydance/ (20.07.2021). 23 So heißt es dort in Pomare, als Heine die Pirouetten der Titelfigur schildert: „Sie tanzt. Wenn sie sich wirbelnd dreht / Auf einem Fuß, und stille steht / Am End mit ausgestreckten Armen, / Mag Gott sich meiner Vernunft erbarmen!“ (DHA 3/1, 30) Bildlich gesehen folgt den

2.1 Erster Akt. Die „banalsten Pirouette[n]“ und der Tanzaffe

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ihre Kunstfertigkeit. Das lässt sich mit anderen Bewegungskünsten vergleichen, wie dem ‚Freeze‘ im Modern Dance oder auch dem Schlussstand nach einer Gymnastikübung. Im Gegensatz dazu ist Mephistophela in Der Doktor Faust zwar mit Professionalität ausgestattet, aber Heine gönnt ihr keine bewundernswerte Positur, sondern versieht ihre Pirouetten mit den Attributen ‚umgaukelnd‘ und ‚banal‘ (DHA 9, 85). Pirouetten, häufig ein Höhepunkt einer Ballerina-Aufführung, werden hier zu Affektiertheit und Kitsch. Heine erweitert mit Mephistophelas Pirouetten die Möglichkeiten der Tanzbühne zu Überhöhungen, Parodien und Karikaturen. Das Besondere an Mephistophelas Pirouetten liegt darin, dass sie damit ein ‚Ballett im Ballett‘ aufführt und dass sie es durch ihre Tanzkunst vermag, Faust zum Teufelspakt zu verleiten. Obwohl sie als „Schöne“ (DHA 9, 85) gilt, entspricht sie nicht Fausts Geschmack. Daher vermag sie ihn zwar nicht mit ihren Reizen zu verführen, verfügt jedoch über die Magie, ihm in einem herbeigezauberten Spiegel die ersehnte Herzogin vorzugaukeln.24 Heine verleiht dem Tanz die entscheidende Macht zur Erreichung des Glücks: Faust ist sich bewusst, dass er die Gunst der

wirbelnden Pirouetten Standfestigkeit, auch ‚Aplomb‘ genannt. Heine ersinnt eine sprachliche Parallele. In den ersten beiden Zeilen heben zwei Enjambements die Gegensätze von ‚dreht‘ und ‚steht‘ hervor. Während das ‚dreht‘ die Poesie in Wirbel versetzt, erscheint das ‚steht‘ wie ein neues Register, das den Handlungsstrang unterbricht – eine Parallele zu Arnims Verszeilen zu Pirouette samt Aplomb des Pariser Balletttänzers August Vestris in Erzählungen von Schauspielen. Die Zeilen von Arnim lauten: „Magneten starren fest nach Norden, Quecksilber läuft von Ort zu Ort, Schnell läuft des Witzes helles Wort, Die Wahrheit ist zur Dauer worden. So schnell des Blitzes Witz und Dauer, Durchstreichst du Luft des Glückes Ball; Doch eilest du wie schöner Schall, Du stehst doch fest in Nachhalls Trauer.“ Sie stammen aus Arnims Gedicht, das er dem Pariser Tänzer Vestris widmet. Das ist eins von sechs Gedichten über Tänzer, die Arnim am Schluss der Erzählungen von Schauspielen verfasste. Darin wird ein Zweiergespräch geführt. Während Magneten und Quecksilber jeweils für Vestris’ feste Achse und schnelle Drehungen stehen, sind ‚Witz‘ und ‚Wahrheit‘ jeweils Metaphern für Handlung und Schlussfolgerung. Dazu Günter Oesterles Erläuterung, insbesondere über das Spannungsfeld von Schnelligkeit der Drehung und schlagartiger Erstattung beim ‚Aplomb‘, sowie zur Doppeldeutigkeit des Tanzes, als dynamisches Zeichen, aber auch als statuenhafter Augenblick. Oesterle, Günter: Tanz als „untergeordnete Kunst“ oder als „Zentrum“ und Erneuerer aller Künste. Zu einer kontroversen Konstellation in der Romantik. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft, 25 (2015), S. 17–40, hier S, 30–32. 24 Hier lässt Heine durch das Spiegelbild einer schönen Frau den Liebeshunger Fausts erwecken, eine Parallele zu Goethes „Hexenküche“ im Faust I, in der Fausts Lust durch seinen Blick in einen Zauberspiegel erweckt wird, in dem er die Gestalt der Helena erblickt. (V. 2429– 2440, 2600) (FA 7/1, 104 f, 111) Daraufhin beginnt Faust sein erstes Liebesabenteuer, und seine Begegnung mit Helena im Faust II findet hier eine vorweggenommene Entsprechung: „Nein! Nein! Du sollst das Muster aller Frauen [Helene] / Nun bald leibhaftig vor dir seh’n, / Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, / Bald Helenen in jedem Weribe.“ (V. 2601–2604) (FA 7/1, 111). Somit

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Herzogin nur zu gewinnen vermag, wenn er durch Mephistophela die Tanzfertigkeit erwirbt. Unter diesem Druck schließt Faust seinen Teufelspakt, dessen Unheil bereits zum Vertrag gehört, „für zeitliche irdische Genüsse, seiner himmlischen Seligkeit“ (DHA 9, 87) zu entsagen. Nicht mit diesem Pakt, sondern mit einer praktischen Vorbereitung und Ausrüstung für Fausts weitere Abenteuer endet der erste Akt. Es genügt Heines Mephistophela offenbar nicht, Faust Jugend zu verleihen und ihn für Frauen attraktiv zu machen wie in Goethes Faust I. Um Faust den ‚sinnlichen Genüssen‘ zugänglich zu machen, um seine Chance bei der Herzogin zu erhöhen, muss er zunächst von seiner „Leib- und Gefühlsaskese“25 befreit werden. Was könnte dafür geeigneter sein als der Tanz?26 Mephistophela gibt Faust Unterricht, „zeigt ihm alle Kunststücke und Handgriffe, oder“ – hier konzipiert Heine ein Wortspiel und betitelt Mephistophelas Unterricht27 – „Fußgriffe des Metiers“ (DHA 9, 90), die ihm einen Eintritt in die Welt der Sinnlichkeit ermöglichen. Ihre Machenschaften werden bei Heine zum Grundtenor des Faust-Teufel-Verhältnisses. Faust ist ein „Objekt weiblicher Manipulation“28 und bleibt das auch. Auf Fausts Weg zum Tänzer scherzt Heine noch ein wenig über das spröde Gelehrtendasein. Je mehr Faust sich um die „zierlich leichten Pas“ (DHA 9, 87) bemüht, desto drolliger und lächerlicher wirkt er. Seine linkischen Bewegungen erzeugen somit die „ergötzlichsten Effekte und Kontraste“ (DHA 9, 87) zu dem Tanz Mephistophelas. Der stolze Doktor muss scheitern und sich dafür schämen, danach wirkt seine Gehorsamkeit gegenüber Mephistophela wie eine natürliche Konsequenz. Erst nach dieser possenhaften Episode der Läuterung verwandelt Mephistophelas Zauberstab Faust in einen virtuosen Tänzer. Heine lässt offen, wie viel Anmut Faust als Tänzer ausstrahlt. Jedenfalls wirkt es wie ein Wunder, wenn Mephistophela, deren Kunstfertigkeit aus ‚banalen Pirouetten‘ besteht, aus Faust einen galanten Tänzer zaubert. Gerade Mephistophelas Pirouetten bieten Heine Gelegenheit für einen Angriff auf das

schließt sich Heine Goethe an, indem er das Spiegelbild ebenfalls für die Erfüllung eines erstrebenswerten Wunsches von Faust instrumentalisiert. 25 DHA 9, 788. 26 Mathias Mayer betont die Historizität von Fausts Wandlung von einem Gelehrten in einen sexuell gierigen Zauberkünstler. Im Grunde verkörpert seine Veränderung eine „reformatorische Befreiung von der Dominanz des Mittelalters und des Katholischen“, die dank des Mediums Tanz ermöglicht wird. Mayer, Mathias: Literatur. In: Thorsten Falk [u. a.] (Hg.): FaustHandbuch. Konstellationen, Diskurse, Medien. Stuttgart 2018, S. 146–153, hier S. 152. 27 Vgl. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk, 3. überarbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart 2004, S. 454. 28 Pietsch, Volker: Postheoismus. In: Thorsten Falk [u. a.] (Hg.): Faust-Handbuch. Konstellationen, Diskurse, Medien. Stuttgart 2018, S. 390–398, hier S. 393.

2.1 Erster Akt. Die „banalsten Pirouette[n]“ und der Tanzaffe

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etablierte Opernhaus. „Der Teufel“ ist „ein großer Tanzkünstler“ (DHA 9, 116), so begründet Heine seine Mephistophela-Gestaltung in der Erläuterung, aber diese Tanzmeisterin ähnelt mehr einem Affen als einem Menschen. Aber nicht nur hier kommt eine Affen-Gestalt vor, sondern sie dient bereits als frühere Gestalt des herbeigezauberten Balletttänzers alias Fausts ,Nebenbuhler‘. Berufstänzer werden als „Tanzaffen“ (DHA 9, 76) verspottet und herabgewürdigt.29 Heine behauptet, „der Tradition treuer geblieben“ (DHA 9, 114) zu sein, als es scheint. Mit der „Tradition“ bezieht er sich erstens auf Friederich Schotus’ Wagner-Buch aus dem Jahr 1595, dem er im 3. Band des von Johann Scheible herausgegebenen Bandes Das Kloster (1846) begegnet ist.30 Zweitens rekurriert Heine auf die Konfrontation des mittelalterlichen Christentums mit Bräuchen des Heidentums, welche eine Umwertung des Tanzes bedingt. In Lutezia verteidigt Heine die Unschuld des Tanzes gegenüber der christlichen Religion: Die „christliche Kirche, die alle Künste in ihren Schooß aufgenommen und benutzt hat“, wusste „dennoch mit der Tanzkunst nichts anzufangen“ (DHA 13/1, 155). Deshalb „verwarf und verdammte“ (DHA 13/1, 155) das Christentum die Tanzkunst einfach, weil sie zu sehr an heidnische Rituale erinnert und dadurch bei dem Volk ein ‚wundersames Tanzsucht und -recht‘ erweckt. Von hier an gehen die Tanzformen zwei getrennte Wege und entfalten sich in 1) sakralen, mäßigen und keuschen Tänzen, die kanalisiert wurden und sogar bei Gottesdiensten vorzeigbar sind, und 2) Tänze von profanem und unzüchtigem Jauchzen, deren „Schutzpatron“ (DHA 13/1, 155) der Teufel ist. Der teuflische Tanz provoziert die dogmatische Kirche und mächtigen Obrigkeiten, „um den Frommen ein Aergerniß zu geben“ (DHA 9, 116). Heine, der ebenfalls 29 Das Motiv vom Tanzaffen hat schon Wilhelm Hauff in dem Märchen Der gute Engländer (1827) benutzt, in dem ein als Engländer maskierter Affe auf Bällen triumphiert und die Anwesenden täuscht. Dort verspottet Hauff die Dummheit und Enge der Gesellschaft, unter die sich der Affe mischt. Die Redewendung ‚sich zum Affen machen‘, nachweisbar seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, würde jedoch eher zu der Festgesellschaft als zu dem Affen selbst passen. 30 In diesem Wagner-Buch verführt der Teufel in Gestalt eines Affen die Titelfigur Christoph Wagner, und sein Gefolge in Gestalt schöner Männer und Frauen sowie Affen und Bären führt ihn in die Irre. Vgl. Schotus, Friedrich: Ander theil D. Johan Fausti Historien, darin beschrieben ist Chtistophori Wageners Fausti gewesenen Discipels auffgerichter Pact mit dem Teuffel so sich genandt Auerhan vnd jhm in eines Affen gestalt erschienen. In: Scheible, Johann (Hg.): Das Kloster. Weltlich und geistlich. Meist aus der ältern deutschen Volks-, Wunder-, Curiositäten-, und vorzugsweise komischen Literatur. Zur Kultur- und Sittengeschichte in Wort und Bild. Bd. 3. 9–12 Zelle. Stuttgart 1846, S. 1–186, hier S. 20, 76. (Das Wagner-Buch, im Kloster abgedruckt, und dessen 1712er Ausgabe wurde vom Herausgeber aufgenommen unter dem Titel Des durch seine Zauber-Kunst bekannten Christoph Wagners Leben und Thaten (1712). Heine zitiert Einige Auszüge aus dem Wagner-Buch in der Erläuterung wörtlich).

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2 Vom „Teufelsweib umtänzelt“

durch seine freche Mephistophela das sonst auf der Bühne dominierende ,keusche‘ Ballett verspottet, fordert die Toleranz der Ballettmeister heraus.

2.2 Zweiter Akt. Quadrille und Wandel in der Partnerschaft Im zweiten Akt beginnt Fausts Abenteuer in der kultivierten absolutistischen Hofgesellschaft. Dieser Akt wird eingeleitet mit einem Schäferspiel. Darin klingt zwar die Sehnsucht nach der Idylle einer Hirtenlandschaft im Geiste Vergils an, letztlich erweist sie sich jedoch als inhaltsleeres Gehäuse. Erwartungsgemäß verfällt Faust der Herzogin, die voller „überschwengliche [r] Passion“ (DHA 9, 88) mit ihm tanzt. Währenddessen fordert Mephistophela den Herzog zum Tanz auf. Auf seine „Graziösitäten“ (DHA 9, 88) reagiert sie mit Zimperlichkeit und Ironie. Die Teufelin betreibt ihre Spielerei, karikiert Emotionen und persifliert Förmlichkeiten. Sie macht sich über die ‚eckige und steifleinene‘ höfische Galanterie des Herzogs lustig und schreckt nicht einmal davor zurück, Fausts Liebe ins Lächerliche zu ziehen. Mephistophelas Parodie provoziert einerseits das Ordnungsgefüge, andererseits entfacht sie bei Faust eine schöpferische und kreative Kraft, um sich von seiner unterdrückten Lust zu befreien. Dieser Doppelpaartanz wird durch Zaubertricks unterbrochen und setzt sich dann mit zunehmender Leidenschaft fort. Dabei lässt Heine seinem Einfallsreichtum und seiner Kritik am Spießertum freien Lauf. Faust entdeckt die andere Seite der Herzogin als Satansbraut alias Hexe, und gleichzeitig beginnt der Herzog, sich zu demaskieren, enthüllt seine Freizügigkeit und entpuppt sich gar als „lüsterner Faun“ (DHA 9, 90). Damit spielt Heine auf die Labilität und Zerbrechlichkeit des Staates an. Dies alles versucht der Herzog jedoch zu verbergen. Er zeigt sich zwar in der Gestalt eines Fauns, eines sexuell ungehemmten Waldgottes, nimmt dies aber nur als sein eigenes verbürgtes Privileg in Anspruch und erlaubt anderen auf keinen Fall Seitensprünge. Als er erkennt, dass Faust die Herzogin anbetet, beendet er abrupt seinen Lust-Tanz und greift sofort zu seinem Machtsymbol, dem Schwert (Dieser Moment wird im linken Bild der Abb. 20 veranschaulicht). Dadurch unterstreicht der Herzog seine Herrschaft und stellt die Ordnung wieder her.31

31 Felix Lempp überzeugt mit seiner Studie davon, dass Michail Bachtins Festtheorie für die Analyse der Figurenkonstellation in Heines Doktor Faust geeignet ist. Die Machtverhältnisse in jedem Akt sind nur aufgrund der karnevalesken Atmosphäre aufgehoben, bleiben im Grunde jedoch kontinuierlich bestehen. Dabei stellt er die Übereinstimmung der beiden Werke heraus, insbesondere dann, wenn die offizielle Kultur/Macht und die Volkskultur einander gegenüberstellt werden, sowie bei der temporären Umkehrung und Aufhebung der Machtverhältnisse.

2.2 Zweiter Akt. Quadrille und Wandel in der Partnerschaft

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Abb. 20: Divèky, József: Illustration zu Heinrich Heines „Der Doktor Faust“. In: Heine, Heinrich: Der Doktor Faust. Frankfurt am Main 1987, S. 26 f.

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass der Doppelpaartanz aufgrund seiner Tanzfiguren und Touren ebenfalls auf das Wechselhafte und auf ständige Veränderungen hindeutet. Heine setzt die Tanzart „Quadrille“ (DHA 9, 90) ein, einen aus dem englischen Kontra-Tanz entwickelten geselligen Tanz, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich verbreitet und sich im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit auf den Tanzlisten europäischer Bälle erfreut. Eine Quadrille wird normalerweise von zwei oder vier Paaren getanzt. Wie der Name bereits andeutet, sind die vier Tänzer dabei quadratförmig aufgestellt. Eine Quadrille ist durch ein ineinandergreifendes Verhältnis der Partner und einen Wechsel der Tanzpaare gekennzeichnet. Man ist also nicht auf seinen Nachbarn als Tanzpartner fixiert, sondern tanzt zeitweise auch Touren mit Personen, die gegenüber oder schräg gegenüberstehen. Deshalb wird Faust sicherlich nicht nur mit der Herzogin, sondern auch mit dem Herzog oder Mephistophela eine Tour ausführen. Allein durch die Wahl des Tanzes trifft Heine bereits eine Aussage. Insofern beschleunigt die ‚Quadrille‘ den Wechsel der Partnerschaft und die lauernden Affären des Herzogspaares jeweils mit Faust und Mephistophela.

Lempp, Felix: Fausts Feste. Chronotopoi des Karnevalesken in Heinrich Heines Tanzpoem „Der Doktor Faust“. In: Heine-Jahrbuch, 56 (2017), S. 21–47.

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Blickt man hingegen auf die geläufigen Ballettstücke der 1840er Jahre, so findet sich häufig der Treueschwur als Thematik. Bricht eine männliche Figur den Liebesschwur, so führt dies einseitig zur Tragik der Frauenfigur, etwa in Giselle. Heine spielt stattdessen mit der Zerbrechlichkeit von Partnerschaften allgemein und wählt zu diesem Zweck eine Quadrille. Darüber hinaus behandelt er auch die Struktur des zweiten Aktes wie eine Quadrille. Zwischen deren A-Teilen (Doppelpaartanz) befinden sich jeweils B-Teile (Zaubertrick) (siehe Tab. 2) mit einem ‚Partnerwechsel‘, dabei verwandelt sich der gesellige Tanz in einen possenhaften und belustigenden Schautanz. Neben der Abwechslung bieten die B-Teile noch Reminiszenzen an die Volksbücher über Faust, in denen die Zauberkunst präsent ist. Faust präsentiert mithilfe des Zauberstabs Mephistophelas seine ‚Schwarze Kunst‘ (DHA 9, 89), indem er Tänzer-Figuren herbeischafft. Zuerst zaubert er die biblische Figur König David herbei. Der König des Volks Israel, der seinem Herrn fast nackt mit einem Freudentanz huldigte, ist ein Archetyp für Hingabe, Gottesfurcht und Frömmigkeit.32 Hier ist er allerdings so bunt wie ein „Kartenkönig“ (DHA 9, 89) angezogen und tanzt dabei „possenhaft vergnügt“ (DHA 9, 89).33 Davids sakrales Tanzritual wird bei Heine in einen profanen Clown-Tanz verwandelt. Eine parallele Umwandlung ist eingebettet in die Wiederholung des B-Teils, Fausts ‚Entzauberung‘. Es geht nun um die Umkehrung des Schönen ins Hässliche, der Leichtigkeit in die Plumpheit. Hier werden die Balletttänzerinnen alias das Gefolge Mephistophelas demaskiert und in die „Ungetüme“ (DHA 9, 89) aus dem ersten Akt zurückverwandelt. Aus dem graziösen Ballett wird nun „die täppischste und barockste Ronde“ (DHA 9, 89) der höllischen Gestalten. Die Parodie des David-Tanzes wird abgerundet durch die ‚Entzauberung‘ der Balletttänzerinnen. Ein ständiger Wechsel zwischen vorgezeigter und hintergründiger Seite passt zur Quadrille als Hauptthema, weltliche und religiöse Autoritäten konfrontieren den Zuschauer mit karnevalesken Streichen, Schmähungen und Lästerungen. Das Spannungsfeld zwischen herrschender Form und rebellischer Kraft zieht sich somit wie ein roter Faden durch A-Teile (Rahmenhandlung) und B-Teile (Binnenhandlung). 32 Altes Testament, Samuel 6: 2–15. 33 Die Belustigung durch diese jüdischen Vortänzer unterscheidet sich von einigen David-Rezeptionen, nach denen der König anscheinend ‚unsittlich‘ und kindlich tanzt, um sich dem Pöbel anzupassen und so seine Gottesfurcht mit Demut und ‚Sich-Herablassen‘ hervorzuheben. Dazu siehe Julia Zimmermann, König Davids Tanz vor der Bundeslade, in der Ikonographie und Literatur des Mittelalters, S. 531–556, auch Walter Salmen: Die Vielzahl der Attribute des musizierenden und „springenden“ David, S. 687–729. Beide Artikel stammen aus: Dietrich Walter (Hg.): König David. Biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt, 19. Kolloquium (2000) der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, SaintPaul 2003. Ich danke Andreas Bernhard für diesen Hinweis.

2.3 Dritter Akt. Verlogene Tänze und Gültigkeit der Ballett-Ordnung

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Tab. 2: Musikalische und tänzerische Ordnung des zweiten Aktes, die einer Quadrille ähnelt. – – – – – – –

Vorspiel: Schäferspiel im Rokokostil A-Teil: Doppelpaartanz – beginnende Leidenschaft (Faust + Herzogin, Mephistophela + Herzog) B-Teil: Fausts ‚Verzauberung‘ – Der biblische König David tanzt in Gestalt eines Kartenkönigs A-Teil: Doppelpaartanz – mittlere Leidenschaft, gleiche Paare (F. + Herzogin; M. + Herzog) B-Teil: Fausts ‚Entzauberung‘ – Die Balletttänzerinnen verwandeln sich zurück in fratzenhafte Ungetüme A-Teil: Doppelpaartanz – gesteigerte Leidenschaft, gleiche Paare (F. + Herzogin; M. + Herzog) Nachspiel: Aggression des Herzogs und Fausts Flucht

2.3 Dritter Akt. Verlogene Tänze und Gültigkeit der Ballett-Ordnung Der dritte Akt zählt zum Höhepunkt des Tanzpoems.34 Während die Tänze anderer Akte einer sukzessiven Reihenfolge gehorchen, verlaufen die Tänze im dritten Akt synchron. Der Schauplatz des dritten Aktes wird von der Hofgesellschaft der Herzogin auf eine nächtliche Bergkuppe verlegt, die an den Brocken im Harz erinnert. Die Bäume „zu beiden Seiten“ (DHA 9, 89) und die „einander überragenden Gebirgshöhen“ (DHA 9, 89) kennzeichnen bildlich eine geschlossene Gesellschaft mit einer Rangordnung vom Satan über die „Notabilitäten der Unterwelt“ (DHA 9, 89) bis zu den Hexen als niederer Schicht. Zur Eröffnung der Satansmesse beteiligen sich alle angekommenen Gäste an einem Ronde-Tanz. Dafür müssen sie zwei Voraussetzungen erfüllen: 1) sie müssen sich im Voraus mit einem Partner verabreden, damit „die Ankömmlinge“ (DHA 9, 91) gleich ihre Buhlen finden und dadurch Chaos sowie Konkurrenz vermeiden. 2) sie müssen sich Satan unterwerfen, der in Gestalt eines schwarzen Bocks mit Menschenantlitz über dem Geschehen thront. Die Gäste, die Heine hier ankommen lässt, sind zumeist Leute, die sich im gewöhnlichen Leben mit ihrem ehrbarsten, christlichsten Wandel nichts zu Schulden kommen lassen. Ihr höllisches Buhlen entlarvt die Verlogenheit ihrer Frömmigkeit. Außerdem sind die

34 Zum einen greift Heine auf die Walpurgisnacht der früheren Hexenliteratur Nikolas Rémis Daemonolatria (1598) und Johannes Praetorius’ Blockes-Berges Verrichtung (1668) zurück. Zum anderen präsentiert er ein Spektakel an Tänzen verschiedener sozialer Schichten.

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meisten Hexen, die hier zu Gast sind, verheiratete Frauen. Sie täuschen ihren Gatten zu Hause auf denkbar plumpste Art, indem sie als ihre Vertretung „ein Scheit Holz“ (DHA 9, 121) an dessen Seite legen. Natürlich möchte sich kein Gast bei seinem Glaubens- und Moralbruch ertappen lassen. Wie kann man seine Identität beim Tanzen, bei diesem riskanten Spiel, verbergen? Auch hierbei findet Heine einen passenden Tanz, nämlich eine ungewöhnliche ‚Ronde‘. Ursprünglich ähnelt eine Ronde dem volkstümlichen Reigen um den Maibaum, bei dem alle Gesichter zum Zentrum des Kreises gerichtet sind, unterbrochen von einigen Drehfiguren. Dadurch ist die Ronde Kennzeichen für eine dörfliche Gemeinschaft. Demgegenüber trägt die Ronde auf der Satansmesse einige entgegengesetzte Merkmale. Die tanzende Gruppe kreist um Satan, das Zentrum, aber auch um den Herrscher im Kreis. Außerdem wird die Anonymität der Gäste vorausgesetzt und durch Vermummungen sowie eine merkwürdige Ausrichtung der Gesichter doppelt geschützt: Die Gäste tanzen mit dem „Gesicht nach außen“ (DHA 9, 91). Somit kann keiner das Gesicht eines anderen sehen oder erkennen, keiner kann den Sittenund Moralbrecher ertappen.35 Diese Choreographie lässt weder Gemeinschaft noch Vertrautheit zu. Während die Ronde kontinuierlich im Hintergrund getanzt wird, verstößt auch der Tanz im Vordergrund gegen Sitten und Glauben. Einige Geistliche des Christentums, sogar die „Großwürdenträger der Kirche“ (DHA 9, 91), partizipieren als Gäste an diesem Fest und knien vor Satan.36 Hier spielt Heine auf die Verstrickung kirchlicher Mächte mit dem Umfeld des Teufels an, ein seit der Historia von Doktor Fausten konstitutives Thema des Fauststoffs. Darüber hinaus kippt ihre leibliche Askese ins andere Extrem – „Viele Mönche und Nonnen“ (DHA 9, 92), welche einem Zölibat unterliegen, lassen hier ihrer verdrängten Lust freien Lauf. Sie sind nun Tanzpaare und wagen im Vordergrund „extravagante Polkasprünge“ (DHA 9, 92). Mit der Polka bringt Heine einen Modetanz ins Spiel, der aus Böhmen

35 Diesen besonderen Tanzstil entlehnt Heine Praetorius’ Dichtung. Es heißt dort in BlockesBerges Verrichtung: „Nach gethanen Reverentz ſahe er/ daß man einen runden Tantz oder Reigen hielte/ doch daß ſie das Angeſicht auß den Reigen kehreten/ alſo daß keines das andere ins Angeſicht ſehen konte/ wie ſonſten in andern gemeinen Tantzen pfleget zu geſchehen/vielleicht auß dieſem Bedencken/ damit keines das Ander ſo leichtlich ins Geſicht faſte/ und es erkennen lerne/ und hernach wann eines auß der Geſpielſchafft von der Obrigkeit gefaͤnglich eingezogen und befraget wuͤrde/ das Andere verrathe und angebe.“ Praetorius, Johannes: Blockes-Berges Verrichtung. Leipzig/Frankfurt am Main 1668, S. 332. Heine übernimmt diesen Tanzstil und begründet dies in einer Erläuterung. Im Szenario betont er nur, dass der Tanz eigentümlich sei – er deute wohl nur an und gehe Kompromisse ein, sodass die Ironie nicht zu sehr auffalle. 36 Die Geistlichen begehen einen Glaubensbruch. Dies fußt ebenfalls auf Praetorius’ BlockBerges Verrichtung.

2.3 Dritter Akt. Verlogene Tänze und Gültigkeit der Ballett-Ordnung

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stammt und gegen 1840 in Europa für Furore sorgt. Bei der Polka in Paris schreibt Heine von ermüdeten „Ohren und Füßen“ (DHA 9, 142) in Lutezia, womit er die rhythmische Wirkung dieses Tanzes auf die Körperwahrnehmung und -bewegung pointiert. Ab 1840 erobert die Polka die Tanzsäle, etwa mit Johann Strauss’ (Sohn) Herzenslust (1844) und Bacchus-Polka (1847). Die Struktur von kurzer Dauer und Reprise lässt sich gut merken und wiedererkennen. Außerdem löst der schnelle Tanz im Zweivierteltakt, der häufig langsam beginnt und dann akzeleriert, einen starken Bewegungsdrang aus und führt zu allgemeiner Heiterkeit. Letztere setzt der Pariser Tanzlehrer Perrot sogar voraus: Bei der Polka „müssen Männer und Frauen Herzen haben, die leidenschaftlich schlagen“37. Um Polka zu tanzen, müssen die oben erwähnten Mönche und Nonnen offensichtlich ihre meditative Ruhe und Keuschheit vergessen. Damit mokiert sich Heine über die Klostermitglieder, die das sonst von ihnen verpönte ,Teufelswerk‘ brauchen, um einmal extreme Sinnlichkeit zu erleben. Während vordergründig die Sünde und hintergründig die Anonymität vertanzt wird, entflieht das frische Liebespaar, Faust und die Herzogin, tanzend der Gesellschaft. Als sie „die Höhe ihres Liebestaumels“ (DHA 9, 91) erreicht haben, „verlieren [sie] sich hinter den Bäumen zur rechten Seite der Szene“ (DHA 9, 91) und sprengen alle Normen. Was zwischen ihnen geschieht, wird zwar verschwiegen, aber Heine hat mit der Formulierung ‚sich verlieren‘ dafür genügend Möglichkeiten angedeutet. Damit begeht die Herzogin einen zweiten Ehebruch: Sie ist neben der Frau des Herzogs, der Braut Satans, nun auch die Geliebte Fausts geworden. Mephistophela zieht Fausts Liebespassion ins Lächerliche, indem sie diese parodiert und dabei auf seine Fleischeslust38 reduziert.39 Gleichzeitig werden weitere Glaubens-, Sitten- und Ehebrüche gezeigt, die die

37 Zit. nach Lorenzen, Rudolf: Rhythmen, die die Welt bewegten. Geschichten zur Tanz- und Unterhaltungsmusik 1800 bis 1950. Berlin 2010, S. 13. 38 Manuel Bauer betrachtet die Wiederbetonung der Fleischeslust als ‚das Typische‘ der Liebesmodelle in der Literaturepoche des Jungen Deutschland und belegt dies am Beispiel von Theodor Mundts Roman Madonna (1835), wo ‚Sexualität zum Erkenntnismedium‘ zählt. Dieses eine Beispiel genügt jedoch nicht, um eine Aussage über das Merkmal der Epoche treffen zu können. Inwieweit die Sexualität in den 1830/40er Jahren emanzipiert und bejaht wird, inwieweit Wollust und Sinnlichkeit allgemein differenziert wird wie bei Heine, insbesondere im moralischen Kontext der bürgerlichen biedermeierlichen Werte und im konfliktreichen politischen Zustand, werden noch weitere Forschungen ergeben müssen. Vgl. Bauer, Manuel: Der literarische FaustMythos. Grundlagen, Geschichte, Gegenwart. Stuttgart 2018, S. 267 f. 39 Anzumerken ist, dass der Junker „in schwarzer, spanischer Manteltracht und mit einer blutrothen Hahnenfeder auf dem Barett“ gekleidet ist, ein Abbild von Goethes Mephistopheles, wie Oskar Walzel feststellt. Walzer, Oskar: Heines Tanzpoem „Der Doktor Faust“, Nachdr. der Ausg. Weimar 1917, 2. Nachdr. Aufl. Hildesheim 1978, S. 45.

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Verlogenheit und Hinterlist der Teilnehmer enthüllen. Aber auch der Reiz des Tanzes und dessen Erotik kommt hier zur Geltung. Der Hexensabbat bringt seine Gäste in einen orgiastischen Rausch, erfordert von ihnen aber dennoch Vorsicht. Einerseits muss man dabei auf seine Anonymität achten und sich andererseits einer strengen Hierarchie unterziehen, wie sie weltlicher und kirchlicher Herrschaft entspricht. Diese Hierarchie macht sich auch im Tanz, der Partnerwahl und dem Tanzstil bemerkbar. Wie Heine in der Erläuterung anmerkt, ist die standesmäßige Ebenbürtigkeit der Hexe und ihres Tanzpartners vorgegeben. Eine ‚Mesalliance‘ dagegen, wie sie in weltlichem Rahmen durchaus geduldet wird, ist in der Satansmesse nicht erlaubt. Heine betont in der Erläuterung die „Disharmonie“ der Gestalt der Teufel. Wenn solche Teufel in ‚Missgestalt‘ tanzen, überträgt sich das Groteske ihres Aussehens auch auf ihre Bewegungen. Ein anschauliches Beispiel, um ihre Außergewöhnlichkeit, Komik und Drolligkeit zu veranschaulichen, könnte die Karikatur eines ‚Esel-Tanzes‘ (Abb. 21) des zeitgenössischen Zeichners Grandvilles Heines aus dem Jahr 1844 bieten.40 Dort tanzt ein Esel in Kavalierskleidung in einem intimen, familiären und biedermeierlichen Ambiente. Beurteilt man den Tanz dieses Esels gemäß Hogarths Kriterien der „Line of beauty“,41 so beherrscht der Esel zwar die aufrechte Haltung, verfehlt jedoch jederlei Ausgewogenheit der Gliedmaßen. Seine Körperlinie entspricht einer Zickzackform, sein Grinsen mit gefletschten Zähnen enthüllt seine dumpfe Teilnahmslosigkeit. So steht er in Kontrast zu den ihn umgebenden geistig zugewandten Beobachtern. Ähnlich dem Esel fehlt den Teufeln der Sinn für graziöse Tanzkunst. Stattdessen haben sie Interesse an billigem Gehabe, Rücksichtslosigkeit und Keckheit, die gegen die Tanzmanieren verstoßen. Als Vortänzer missbraucht Satan einen höfischen Tanz des Ancien Régime, das Menuett. Der Satan tanzt mit seiner „Leibmätresse“ (DHA 9, 120), der Herzogin, in höchster Zweideutigkeit. Obwohl das Thema Tanz in Heines Werken an mehr als hundert Stellen vorkommt, bleibt das Menuett hier die Ausnahme. Zu Heines Zeit verliert es ohnehin allmählich seine frühere Dominanz in Adelskreisen: Wurde das Menuett in Goethes Werther (1774)42 oder in Mozarts Don Giovanni

40 Heine ist ein Augenzeuge der Zeit, in der die Bildsatire, etwa von Daumier und Grandville, zu einem populären Medium wurde. Spätestens in Atta Troll ist Heines Rückgriff auf Grandvilles Karikatur zu erkennen. Vgl. dazu Thomke, Hellmut: Heine und Grandville. In: Heine-Jahrbuch, 17 (1978), S. 126–151. 41 Siehe mein Kapitel zu Schillers Der Tanz. 42 Vgl. dazu mein Kapitel zum Tanz in Goethes Die Leiden des jungen Werthers.

2.3 Dritter Akt. Verlogene Tänze und Gültigkeit der Ballett-Ordnung

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Abb. 21: Grandville: L’amour fait danser les ânes. In: Ders.: Das gesamte Werk. 3. Aufl. Bd. 2. München 1972, S. 1357.

(1787) noch mit Bewunderung getanzt43 und in Helmkes Lehrbuch Neue Tanzund Bildungsschule (1829) noch als Grundlage für das Erlernen weiterer Tänze gelehrt,44 so zählt es im Damen-Conversations-Lexicon (1846) bereits zu den ver-

43 In den 1770er Jahren deutete der junge Mozart an, das Menuett sei ein Tanz, der nicht für jede Person oder jede Schicht verfügbar sei und eine Tanzausbildung oder musikalische Begabung verlange. Darauf macht Rainer Gstrein durch einen Brief Mozarts an dessen Vater aufmerksam. So schrieb Mozart 1777 diesem aus München und berichtete dabei von einem Hochzeitsball: „Gestern war bey uns im Haus eine geistliche Hochzeit […] ich tanzte aber nur vier Menuets […] es war, unter 50 viell [sic] Frauenzimmer, eine einzige welche auf dem Tact tanzte, und diese war mademoiselle Käser“. (Quelle des Zitats: Wilhelm A. Bauer [u. a.] (Hg.): Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, 6 Bde. Bd. 2. Kassel [u.a] 1962, S. 39). Vgl. auch Gstrein, Rainer: Mozarts Tänzer. Menuette. In: Walter Salmen und Gabriele BuschSalmen (Hg.): Mozart in der Tanzkultur seiner Zeit. Innsbruck 1990, S. 183–195. 44 Der Jenaer Tanzmeister Eduard David Helmke heißt alle neuen Tänze willkommen, betont dabei jedoch die zentral gebliebene Rolle des Menuetts: Es „ist ausgemacht, daß wer die Menuet nicht schön tanzt, auch kein großer Tänzer ist und selten einen anderen Tanz schön tan-

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gessenen Tänzen alter Zeiten.45 Dass Heine ausgerechnet das Menuett für den Tanz zwischen Satan und der Herzogin auswählt, geschieht gewiss nicht ohne Grund. Er stellt einige stillose Elemente zusammen, sodass man vermuten kann, ein derartiges Menuett kaschiere nur deren Scheinheiligkeit– und vermutlich auch diejenige der real existierenden Gesellschaft. Diese Bewegungen gilt es näher zu untersuchen. 1) Die Herzogin ist fast nackt, trägt nur am Fuß einen goldenen Schuh als Zeichen der Satansbraut, Satan wird gestaltet als sphinxartige Chimäre, ein großer schwarzer Bock mit einem schwarzen Menschengesicht. 2) Ins Auge fällt der Schwarz-Weiß-Kontrast: Der blanke Körper der Herzogin kontrastiert mit ihrem schwarzen Partner. Dadurch soll ihr prächtiger, barockartiger, „beynahe kolossale[r]“ (DHA 9, 120) Körper in der dunklen Nacht besonders auffallen und dem Publikum zur Schau gestellt werden. Die Schamlosigkeit und Obszönität der Herzogin stehen in scharfem Kontrast zur Würde des noch unter Ludwig XIV. als „Königin der Tänze“46 geltenden Menuetts. 3) Das Tanzpaar gibt sich der Sodomie hin, einer traditionellen Todsünde der christlichen Kirche. Zunächst bildet das Menuett hier ein Paradox. Heine betont sogar die Sittlichkeit Satans. Dieser macht seiner Dame „sonderbare Komplementierungen“ (DHA 9, 92) und führt „langsame gemessene zeremoniöse Pas“ aus (DHA 9, 92). Dieselbe Galanterie verwirft Heine jedoch in der Erläuterung. Dort erklärt er, dass das Paar einen ungehemmten und erotischen Tanz vorführt, der unsittlich und voller Tabus ist. Sogar Heine selbst mag ihn nicht namentlich nennen und verweist auf eine Adresse, „rue Saint-Honoré No. 359“ (DHA 9, 120) in Paris, wo er den Tanz „sehr oft sah“ (DHA 9, 120). Unter dieser Hausnummer fand sich ein großer Saal mit 1200 Plätzen, der ab 1833 für Konzerte und ab 1841 für Bälle genutzt wurde. Dort wurde freizügig Cancan getanzt, wie Heine hier offensichtlich andeutet. Der Satan und die Herzogin heucheln Anstand, indem sie ein vermeintlich gesittetes Menuett

zen kann.“ Helmke, Eduard David: neue Tanz- und Bildungsschule. Ein gründlicher Leitfaden für Eltern und Lehrer bei der Erziehung der Kinder und für die erwachsene Jugend. Leipzig 1829, S. 36. 45 Hier wird ‚ein Trauerlied auf das Menuett gesungen‘: „Mit einem Zauberschlage verschwand die alte Zeit und die alte Welt mit den alten Tänzen, und mit dem alten, guten Menuet“. Zitat aus: Damen-Conversations-Lexicon. 2. Aufl. Bd. 10. Tableaux bis Zwischenact. Hg. v. Carl Herloßsohn. Adorf 1846, S. 25. 46 Zit. nach Schröder-Klaassen, Alice Anna: Tanzdarstellungen in höfischen und bürgerlichen Gesellschaftsszenen. Kiel 2007, S. 53.

2.3 Dritter Akt. Verlogene Tänze und Gültigkeit der Ballett-Ordnung

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tanzen, im Grunde jedoch heimlich die Wollust im Cancan auskosten. Deshalb bezeichnet Heine nicht zufällig den Hexensabbat im Libretto als „Maskenball“ (DHA 9, 90). Dieser ist nunmehr ein geheimer Ort, wo die Gäste ihre im Alltag unterdrückten Genüsse und Lüste frei ausleben dürfen und dabei keine Grenzen kennen.47 Heine deckt damit die Verlogenheit der Gesellschaft auf. Was im Libretto als Maskenball betitelt ist, wird in der Erläuterung demaskiert und politisiert. Damit kritisiert Heine die Obrigkeiten, die angeblich gesittet sind, in Wirklichkeit aber hinter dem Rücken des Volks gegen jede Moral verstoßen. Das Faust-Ballett wird ein politisches Ballett. Das sinnliche Glück bleibt Faust während des Hexensabbates nicht lange gewogen. Seine intime Vereinigung mit der Herzogin ist ihm so „etwas Entsetzliches“ (DHA 9, 92), dass er sich von ihr „mit Widerwillen und Ekel“ (DHA 9, 92) abwendet. Hier ergibt sich eine Parallele zur Walpurgisnacht in Goethes Faust I, in der Faust mit einer jungen Hexe liebäugelt und ihr „zum Tanz lieblich“48 (V. 4177) singt, aber vor dem plötzlich aus ihrer Zunge auftauchenden roten Mäuschen erschrickt und sich angeekelt abwendet.49 (V. 4179) Heine setzt dieses Pseudo-Menuett sehr gezielt ein. Es ist ihm bewusst, dass er das vermeintliche ‚Menuett‘, eigentlich den Cancan, für die Aufführung eines klassischen Ballettensembles schreibt. Im Grunde erfordert das Menuett ein Höchstmaß an Disziplinierung der Bewegung, Perfektionierung der Schönheit, wie das Ballett zu Heines Zeit. Der Tanz Menuett und die Kunstform Ballett dienen als Symbol des Maßes, des Gefüges, der Anordnung und Autorität aus der Zeit des Absolutismus. Wird das Menuett zum Cancan pervertiert, so bewirkt dies einen Widerspruch zwischen dem vorgegebenen und dem tatsächlichen Tanz, dem ‚Rahmentanz‘ und ‚Binnentanz‘. Auch der wildeste Cancan kann aber nicht ganz den Rahmen des Balletts sprengen. Heine nimmt ihn jedoch als Kontrast zum Menuett und klassischen Ballett. Mit dieser Gegensätzlichkeit verweist er auf die umfassende Gültigkeit der Ordnung selbst im Umfeld des Teufels, auf die Vorherrschaft des bühnengerechten Balletts gegenüber unsittlichen Tänzen. Dieses Machtverhältnis findet sich in Heines Verhältnis zur Zensur wieder. Der Rahmen der Zensur behindert und verstümmelt das Tanzpoem trotz dessen belustigenden, phantasie-

47 Hans Hennings Bemerkung ist hier sehr treffend – der asketische Spiritualismus des ersten Akts verkehrt sich vollkommen zum Vulgärsensualismus oder „primitiven Sensualismus“. Henning, Hans: Faust-Variationen. Beiträge zur Editionsgeschichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. München 1993, S. 345. 48 FA 7/1, 178. 49 So Faust: „Ach! Mitten im Gesange sprang / Ein rotes Mäuschen ihr aus dem Munde.“ (FA 7/1, 178).

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2 Vom „Teufelsweib umtänzelt“

reichen Szenarien und dem Publikum entgegenkommenden satirischen Anspielungen, bis es schließlich in deren Sinne für die Bühne tragbar wird.

2.4 Vierter Akt. Flüchtige Ausgewogenheit und Tanzlust im Exzess Nach den Verlogenheiten des 3. Aktes äußert im 4. Akt nun Faust statt Mephistophela seine Wünsche. Der Gelehrte Faust besinnt sich auf seine antike Bildung und projiziert seine Wünsche auf die Ideale der griechischen Mythologie. Auf seinen Wunsch nach Annäherung an die Antike zaubert Mephistophela ihm die schöne Helena hervor. Mit der Idealisierung der Antike verweist Heine zum einen auf den historischen Faust als Vertreter der Gelehrten in der Übergangszeit vom Mittelalter zur Renaissance. Zu dieser Zeit beginnen Gelehrte, Homers Dichtung auf Latein zu lesen, und dadurch die Götter der Antike kennenlernen, darunter die „schönste Frau der Poesie“ (DHA 9, 93), die Zeustochter Helena. Zum anderen kann Heine erst durch die Begegnung des Spiritualisten Faust mit der Sensualistin Helena die eigentliche „Idee der Faustsage“ (DHA 9, 119) realisieren – die Konfrontation einer „realistischen, sensualistischen Lebenslust“ (DHA 9, 110) mit der reflektierenden, „spiritualistisch altkatholische[n] Askese“ (DHA 9, 110). Heine befasst sich schon in den 1830er Jahren intensiv mit den beiden antagonistischen Begriffen Spiritualismus und Sensualismus, insbesondere in seiner Überlegung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834). Dort erklärt er die Bedeutung beider Termini: Ich gebrauche sie [Spiritualismus und Sensualismus] zur Bezeichnung […] beide[r] verschiedenen Denkweisen, wovon die eine den Geist dadurch verherrlichen will, daß sie die Materie zu zerstören strebt, während die andere die natürliche Rechte der Materie gegen die Usurpazionen des Geistes zu vindiziren sucht. (DHA 8/1, 29)

Diese Gegenüberstellung der beiden ‚Denkweisen‘ nimmt Heine in späteren Schriften häufig auf. Allerdings verkündet er mehrmals, dass eine Ausgewogenheit der beiden polaren Lebensformen sich in der Realität kaum ergeben kann, weil ihr Widerstreit „nie ausgekämpft wird“ (DHA 11, 18), wie er in Ludwig Börne. Eine Denkschrift (1840) anführt.50 Im Tanzpoem lässt Heine Faust den Widerstreit

50 Das Gegensatzpaar Spiritualismus – Sensualismus, welches auf einer philosophischen Strömung basiert, unterscheidet sich von dem Begriffspaar Nazarenismus – Hellenismus, welches die religiöse und anthropologische Entwicklung der Menschheit widerspiegelt. Auch der Hellenismus ist nicht mit dem Heine’schen Sensualismus gleichzusetzen, der auch ethnische Reflexion voraussetzt. Vgl. dazu Olaf Hildebrands einleuchtende Studie: Hildebrand, Olaf:

2.4 Vierter Akt. Flüchtige Ausgewogenheit und Tanzlust im Exzess

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von Spiritualismus und Sensualismus als Schwankung zwischen den beiden Denkweisen erleben. Fausts spiritualistische Aura des ersten Aktes löst sich in der Sinnlichkeit des Tanzes auf. Sein Triumph über das körperlose Schäferspiel bestärkt ihn darin, sich ganz dem Sensualismus zu verschreiben. Allerdings erlebt er im dritten Akt einen Vulgärsensualismus, der ganz und gar auf geistige Reflexion verzichtet. Aus den beiden Extremen flüchtend, landet Faust nun auf der durch Harmonie und Heiterkeit beseelten Helena-Insel der Antike. Das Ideal der Klassik und die ausgewogene Schönheit verheißen ihm Glück, aber nur flüchtig. Dies schlägt sich entsprechend in den folgenden Tänzen nieder. Der Schauplatz wird nun von der Bergkuppe des dritten Aktes auf eine Insel des mythologischen Griechenlands, der Heimat Helenas, verlegt. Vom Mittelalter geht es in die Antike; auch diesem liebsten Ideal der Gelehrten des 16. Jahrhunderts tritt Heine ein wenig distanziert gegenüber. Im Helena-Reich steht die ‚Materie‘ im Vordergrund – „Hier ist alles reale plastische Seligkeit“ (DHA 9, 93), der Menschenkörper im Tanz ist umgeben von dinghaften ‚Statuen‘. Der Geist hingegen wird zurückgesetzt. Die Heiterkeit lebt im Hier und Jetzt, „ohne retrospektive Wehmut, ohne ahnende leere Sehnsucht“ (DHA 9, 93). Der Genuss der Gegenwart bedeutet mehr Tat als Reflexion und ist von Vergänglichkeit und Flüchtigkeit geprägt – Merkmale, die auch der Tanzkunst zu eigen sind. Zunächst deutet die Reigenform des hellenischen Chores auf eine hierarchiefreie Gemeinschaft hin. Sodann kennzeichnet der Dreiertanz von Helena, Faust und Mephistophela die Auflösung einer fixierten Partnerschaft und den Aufbau einer Freundschaft. Anschließend, wenn man die Figuren als Symbol verschiedener Lebensformen interpretiert, deutet der Dreiertanz auf das Zusammenspiel von körperbetontem Sensualismus (Helena), katholischem Spiritualismus (Faust) und lustbetontem Sensualismus (Mephistophela) hin. Diese Ausgewogenheit der Gemeinschaft überträgt sich dann auf Einzelne in der Gemeinschaft mit der Harmonie ihrer unfassbaren Gedanken und fassbaren Körper, dem Ideal sokratischer Kalokagathie, dem „mens sana in corpore sano“.51 Diese Einheit von Materie und Geist schafft ein Gleichgewicht zwischen Spiritualismus und Sensualismus. Emanzipation und Versöhnung: Aspekte des Sensualismus im Werk Heinrich Heines unter besonderer Berücksichtigung der „Reisebilder“. Tübingen 2001, S. 293–299. Dieses Kapitel vermeidet es, das Begriffspaar Nazarenismus – Hellenismus zu benutzen, weil Heine in Der Doktor Faust – anders als in Die Göttin Diana – den religiösen Streit und den Wandel des Heidentums zum Christentum nur leicht streift. 51 Besonders die Heiterkeit wird bei Heine nur selten so ungebrochen ausgemalt wie in dieser Szene. Sonst überschattet Heine das Antike-Ideal häufig mit schwermutiger Reminiszenz und elegischer Trauer, etwa bei den versteckten Göttern des Heidentums in Götter im Exil und an der Venus-Marmorstatue des verfallenen Gartens in Florentinische Nächte. Hier lässt er seine Protagonisten hingegen den Moment ausleben. Vgl. Walzel, Oskar: Heines Tanzpoem. Der

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Die Ausgewogenheit zwischen Materie und Geist ist hier jedoch äußerst brüchig. Als der Dreiertanz zu Ende geht, werden die Anwesenden in Zuschauer und Tanzende unterteilt. Faust und Helena setzen sich auf den Thron nieder und nehmen den Platz der Zuschauer ein, während Mephistophela zusammen mit den restlichen Gruppenmitgliedern weiter vortanzt. Hier beginnt sich die Einheit aus Materie und Geist im Übergang zum dramatischen Exzess wieder aufzulösen. Als Mephistophela nun in bacchantischer Manier mit den Jungfrauen tanzt und damit an den Dionysus-Kult erinnert, während die Jünglinge gleichzeitig einen Kriegstanz ausführen, beendet das die Kalokagathie. Statt der Schönheit der Seele verkörpern die Tanzenden nun eine wilde Raserei. Ein Mänadentanz im Gefolge des Dionysos und ein Kriegstanz im Geist der Korybanten reißen Körper und Geist wieder aus der vorherigen Ausgewogenheit heraus. Die „rasenden Mädchen“ „taumeln“ (DHA 9, 94) dahin, ihr Geist wirbelt im Rausch des Tanzes und löst sich vom Körper. Demgegenüber demonstrieren die Jünglinge im aufpeitschenden und hetzenden Tanz ihre maskuline Seite, indem sie den Gegner als Feind anzusehen haben und ihn zerstören wollen – die Tanzszene ist endgültig von Körperfeindlichkeit bestimmt. Die Kluft zwischen Körper und Geist genügt Heine, der auf den Untergang der Antike anspielen möchte, jedoch offenbar noch nicht. Seine Vorstellungskraft sprengt alles Übliche. Er lässt Helenas Insel von der eifersüchtigen Herzogin verwüsten, sodass es Faust angst und bange wird. Das Ungleichgewicht wirkt noch dramatischer, als die auf Helena eifersüchtige Herzogin die Insel aus Rache verwüstet und Fausts friedliche Freude in bange Angst verwandelt. Die tanzenden Körper der Inselbewohner werden entfleischt, bis nur noch Gerippe übrigbleiben, von weißen Laken umhüllt. Durch den Zauber der Herzogin verbleibt von der Heiterkeit nur noch eine Hülle (Leichenlaken) mit leblosem Inhalt (Skeletten) – der körperbetonte klassische Sensualismus verfällt und wird in einen körperlosen Spiritualismus verwandelt. Die Tanzenden sind so abgestumpft, dass sie noch als Skelette die „heitern Tanzposituren“ (DHA 9, 95) fortsetzen, „als wäre gar nichts passiert“ (DHA 9, 95). Hier warnt Heine vor der Gefahr einer Heiterkeit ohne Reflexion, einer Perversion des klassischen Kunstideals – wenn die griechische Heiterkeit zum geistlosen Genuss verkommt, wirkt sie nur noch „schauerlich heiter“

Doktor Faust. Nachdr. der Ausg. Weimar 1917, 2. Nachdr.-Aufl. Hildesheim 1978, S. 36 f. Heines Trauer über das untergegangene Heidentum im Prozess der Christianisierung kann, so Claudia Schmölders, als Relikt von Schillers Die Götter Griechenlandes (1788) betrachtet werden, worin Schiller sich auf die Vertreibung des Heidentums durch das Christentum bezieht. Vgl. Schölders, Claudia: Faust & Helena. Eine deutsch-griechische Faszinationsgeschichte. Berlin 2018, S. 29.

2.5 Fünfter Akt. Tanzen-lassen und Herumgetanzt-werden

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(DHA 9, 19), wie die Willis-Figuren, die Heine mit „toten Bacchantinnen“ (DHA 9, 19) vergleicht. Das Ende des Helena-Aktes lässt vermuten, es handle sich dabei um eine Parodie auf eine Szene aus Goethes Faust II, in der Helena nach Euphorions Tod entschwindet. Beim Goethe’schen Faust verabschiedet sich Helena auf mythische Weise: „Sie umarmt Faust, das Körperliche verschwindet, Kleid und Schleier bleiben ihm in den Armen“.52 (V. 9944) Bei Goethe ist der Schleier Helenas als Bild für die Hülle, aber auch als sinnlich erotisches Symbol zu sehen. Heine verwandelt diesen Schleier in ein ,Leichentuch‘ und die ätherische Aura bei Goethe in einen Tod verheißenden Untergang. Von der Antike verbleibt bei Heine nur die leere Hülle, die nicht mit nachkommenden Ideen gefüllt und wieder zu beleben ist. Damit verfremdet er die Helena-Szene und stellt sich gegen die Ästhetisierung in Goethes Faust II. Anschließend akzentuiert er die ursprüngliche Idee des Faust-Stoffes, den Umgang mit dem sexuellen Trieb, diesem Urinstinkt, der im Verlauf der Geschichte als vom Teufel initiiert angesehen und tabuisiert wird. Es ist daher kein Zufall, dass Heine seinen Fauststoff in einem Ballett verarbeitet. Er provoziert mit der Frage, wie sich jene teuflische Lust, die Faust innewohnt, in einem zivilisierten „corps-de-ballet“ entfalten kann. Auch will Heine mit Goethe konkurrieren, indem er die tänzerische Erotik im Stil des ursprünglichen Faust-Stoffes wiederbelebt. Er erinnert daran, dass der Faust-Stoff ursprünglich vom Puppenspiel einer Wanderbühne aufgegriffen wurde, und deshalb bodenständiger und derber in seiner Gestaltung ist als der philosophisch geprägte Goethe’sche Faust.

2.5 Fünfter Akt. Tanzen-lassen und Herumgetanzt-werden Nach Fausts Abenteuern der vorigen Akte folgen nun Szenen einer scheinbar bürgerlichen Idylle. Der Schauplatz des letzten Aktes wird in eine kleine holländische Stadt verlegt. Dort wird ein gewöhnliches und bodenständiges Schützenfest gezeigt. Daran beteiligen sich Faust und Mephistophela, indem sie in der Rolle der Marktschreier erscheinen. Fausts bisherige Begegnungen mit großen weltlichen, religiösen und historischen Persönlichkeiten ist jetzt reduziert auf einen Kleinstadt-Bürgermeister und auf die Enge des bürgerlichen Lebens. Sämtliche Tänze des fünften Aktes sind massentauglich. Faust schwankt dabei zwischen dem Tanzen-Lassen und Herumgetanzt-Werden. Heine lässt seinen

52 FA 7/1, 384.

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Faust hier als Marktschreier an dem Volksfest teilnehmen.53 Faust wird vom Volk gefeiert, weil er mit ein paar Wundertropfen jedes Leibesübel heilt. Sie nehmen das Leid und bringen einen Überschuss an Körperenergie. Wer die Wundertropfen nimmt, wird ergriffen von „der unbändigsten Tanzlust“ (DHA 9, 96).54 Die ganze Stadt wird magisch erfasst, zum Ärger der tanzfeindlichen christlichen Kirche. Das Volk dreht sich „im tollsten Wirbel“ (DHA 9, 96), im Rausch – ausgerechnet „vor einer Kathedrale“ (DHA 9, 95). Auch die Obrigkeit bildet keine Ausnahme. Der Schützenkönig „hopst“ (DHA 9, 96) mit Mephistophela, der Bürgermeister ‚humpelt‘ (DHA 9, 96) mit seiner Frau. Heine parodiert hier Praetorius’ Blocks-Berges Verrichtung, in der die fromme Stadt Genf aufgrund der teuflischen Zauberkunst tanzt und alle Gläubigen ihre Tugenden und Lehren beseitigen müssen. Insofern erscheint der Zauber des Tanzzwangs als Verhöhnung des Tanzverbots der mittelalterlichen Kirche. Die Macht des Tanzes fungiert als Teufelskunst, mit der man „den Frommen“ verärgert. Allerdings tanzt Faust in dieser Veitstanz-Szene nicht mehr. Er begibt sich gewissermaßen auf eine Meta-Ebene, um den Überblick zu bewahren. Er kostet seine Macht aus, wie er das Volk betören und behexen kann. Auf diese Weise gestaltet Heine hier das klassische Faust-Motiv des Gelehrten, der, einmal von der Magie gefangen genommen, im Machtrausch kein Zurück mehr kennt. Seine letzte Angebetete wird ausgerechnet die Tochter des Bürgermeisters. Faust hat am einfachen Volk Gefallen gefunden – eine Umkehrung zu Goethe, bei dem Faust sich seine Ansprüche zuerst in der Welt des Bürgertums durch eine Bindung zu dem bürgerlichen Gretchen und danach durch eine Verbindung mit der antiken Helena erfüllen will. Hier lässt das bürgerliche Mädchen sich von Fausts Zauberkunst blenden. Das neue Paar tanzt vor der Kirche „sittsam bürgerlichen Hymeneen“ (DHA 9, 97). Hymenäen waren einst die griechischen Hochzeitlieder, abgeleitet vom Gott der Ehe, Hymen. Nun stehen sie für Fesseln aus ‚Sittsamkeit‘, bürgerlichen Normen und katholischem Ambiente. Faust reduziert seinen Ehrgeiz auf das biedermeierliche „Hausglück“ (DHA 9, 97), welches Heine als Selbstbetrug und oberflächlichen Frieden entlarvt, dem die Strafe der Teufelin folgen wird. Fausts Unglück liegt nicht allein darin, dass der Teufel seine Seele erbeutet hat. Heine ergänzt es durch zwei Phänomene.

53 Die Rolle eines Wunderdoktors beziehungsweise Scharlatans kann als Motiv zählen. Ein Wunderdoktor hat bereits, wie in Achim von Arnims Kronenwächter und E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla, den Massen etwas vorgegaukelt und Zaubertricks vorgezeigt. 54 Die Wundertropfen sind vergleichbar mit der Zauberwirkung von Musik, wie dies in zahlreichen Märchen erzählt wird, wie vom Zauberinstrument in Der Jude im Dorn (KHM 110) oder Der wunderliche Spielmann (KHM 8) aus Grimms Märchen, das einen zum Tanzen zwingt.

2.6 Fazit

1)

2)

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Fausts Wankelmütigkeit im Glauben – Im ersten Akt kehrt er mit dem Teufelspakt seinem christlichen Glauben den Rücken, jetzt unterwirft er sich einer kleinbürgerlichen Religiosität.55 Das schwankende Volk – Als Mephistophela das Ende der ‚zeitlichen Genüsse‘ ankündigt und um Faust herumtänzelt,56 tanzen die Massen, die Faust am Anfang des Aktes noch bejubelt haben, nun aber voller Schadenfreude vor dem armen Gelehrten. Das Volk verhält sich charakterlich unbeständig, Faust ist Spielzeug des Teufels geblieben.

2.6 Fazit In Doktor Faust setzt Heine eine Fülle anspruchsvoller und einfacher Tanzformen ein, die sich unterschiedlichen Geistesströmungen zuordnen lassen.57 Im Tanz sieht Heine mehr als bloße Sinnlichkeit; er verkörpert die Gesamtheit dessen, was Menschen bewegt. Die Tanzformen können in zwei Gruppen aufgeteilt werden, in die spiritualistischen und die sensualistischen, ebenso die Konfrontation beider Arten. Dementsprechend finden wir: 1) akademisierte und repräsentative Tanzformen wie die Pirouetten und das Schäferspiel; 2) emotions-, ausdrucks- und kommunikations-betonte Tänze wie Quadrille, Polka und den Tanz der Bacchantinnen.

55 Benno von Wiese schreibt von der „Trivialität einer bürgerlich-christlichen Ordnung“, mit der Faust seine Kompromisse schließt, sein Leben auf die Enge beschränkt und seine lustvolle Begierde stillt. Das sei das Schreckliche und Bedauerliche, nicht Fausts Scheitern vor dem Teufel. Wiese, Benno von: Mephistophela und Faust. Zur Interpretation von Heines Tanzpoem „Der Doktor Faust“. In: Gerald Gillespie [u. a.] (Hg.): Herkommen und Erneuerung. Essays für Oskar Seidlin. Tübingen 1976, S. 225–240, hier S. 239. 56 Indem Heine das Verb „umtänzeln“ benutzt, ruft er die Anfangsszene des ersten Takts wieder wach. Als Mephistophela sich mit Faust bekannt macht, „umtänzelt“ sie ihn ebenfalls. Die spielerische Art Mephistophelas gegenüber Faust, aber auch ihr gezieltes Vorhaben, letztendlich „sich in eine gräßliche Schlange“ zu verwandeln und ihn „mit wilder Umschlingung“ zu erdrosseln, ist im anfänglichen ,Umtänzeln‘ und ,Umwinden‘ bereits angelegt. Die ,wilde Umschlingung‘ Fausts durch die Schlange/Mephistophela könnte auf die Schlussillustration der ersten Ausgabe von Der Doktor Faust hinweisen. Siehe dazu Lubkoll, Christine: „ … Und wär’s ein Augenblick“. Der Sündenfall des Wissens und der Liebeslust in Faustdichtungen, von der „Historia“ bis zu Thomas Manns „Doktor Faustus“. Rheinfelden 1986, S. 225 f. 57 Angela C. Borchert geht sogar so weit, die Tänze in Doktor Faust, basierend auf dem Geschwindigkeitsgrad, in zwei Kategorien zu klassifizieren und sodann in ihren entgegengesetzten Charakteren die Abwägung zwischen der körperlich-pedantischen Vormoderne und der exzentrischen, von Virtuosität geprägten Moderne zu sehen. Bochert, Angela C.: Gebannte Virtuosität. Tanz und Poesie in Heinrich Heines Der Docktor Faust. In: Orbis Litterarum, 6 (2008), S. 464–486, hier S. 475–478.

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2 Vom „Teufelsweib umtänzelt“

Dabei variieren sie je nach Akt, meist den vorigen Tanz kontrastierend und parodierend. Dadurch ergibt sich ein bunter Zusammenhang wie bei dem Blick durch ein Kaleidoskop. Wenn Mephistophela während eines Tanzes Faust parodiert, parodieren beide sich zugleich selbst, wenn sie verschiedene Tänze ausführen und die innere und äußere Wandlung erleben. Heines Faust besteht nicht nur in sich aus variierenden Parodien, sondern er steht gar selbst in einer „Kette von Parodien“58 in der Folge niederer und höherer Faust-Dichtungen, von Puppenspielen bis zu Goethes Meisterwerk. Im vorliegenden Kapitel wurde erläutert, welche Rolle Heine dem Tanz in seinem Tanzpoem zuschreibt und inwieweit der Tanz damit die Möglichkeiten der Dichtung erweitert. Möchte Heine seine politischen Auffassungen hinter Ironie und Spott verbergen, so findet er im Tanz ein vorzügliches Ausdrucksmittel. Die Tanzformen dienen ihm für Anspielungen jeder Art. Es genügt ihm, einen Balletttänzer in einen Affen zu verwandeln, um ein schablonenhaftes Bewegungsmodell im Ballett zu karikieren; mit dem Partnerwechsel der Quadrille deutet er auf die Zerbrechlichkeit der höfischen Ordnung hin; mit einer Hexenronde und einem falschen Menuett entblößt er die Verlogenheit sowie die Verstrickung von kirchlichen mit teuflischen Mächten. In dem Dreiertanz von Helena, Mephistophela und Faust zeigt Heine ein Zusammenspiel des Spiritualismus bei Faust und zwei Varianten des Sensualismus bei Helena und Mephistophela. Er erkennt, wie schwer es dabei ist, eine ideale Situation der Balance zu erreichen. Zunächst lässt er Mephistophela, die sonst beherrschte Bewegungen ausführt, wie eine Bacchantin taumeln. Als der Tanz zum Machtsymbol wird, ist die Balance gänzlich verloren. Das zeigt sich in Mephistophelas triumphierendem Tanz und später, als sie Faust mit Zaubermacht zum Tanzen zwingt. Dieses Tanzpoem ist ein Wagnis gegenüber der Sitten-Obrigkeit, aber auch für die Tanzbühne, welche zu Heines Zeit lediglich Grazie, Disziplin, Leichtigkeit, Ordnung und Hierarchie akzeptiert.59 Sowohl die Tanzformen wie Hexenronde

58 Vgl. Kauffmann, Kai: Literarische Manieren der Übergangszeit. Parodie bei Heine, Keller und Friedrich Theodor Vischer. In: Euphorion, 100 (2006), S. 191–223, hier S. 215. 59 Hier teile ich Iris Julia Bührles Begründung unter dem choreographischen und bühnengeschichtlichen Aspekt: „Tänzerische Fähigkeiten, Leichtigkeit und Grazie galten auf der Ballettbühne seit jeher als Zeichen von Überlegenheit oder gar übernatürlichen Kräften. Lächerliche Charaktere zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie den Kodex des Balletts nicht in vollendeter Form beherrschen.“ Vgl. Bührle, Iris Julia: Literatur und Tanz: die choreographische Adaptation literarischer Werke in Deutschland und Frankreich vom 18. Jahrhundert bis heute. Würzburg 2014, S. 153. Eine Aufführung von Heines Tanzpoem, in dem die Primaballerina Mephistophela ihre spielerische, unernste Teufelsseite herausstellt und sich selbst ironisiert und parodiert, würde Selbstzweifel an der klassischen Form des Balletts und eine gefährliche Leugnung desselben bedeuten, was für keinen geschäftstüchtigen Intendanten vertretbar wäre.

2.6 Fazit

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und Cancan als auch die Kostüme bilden ein Gegenstück zu der Sittsamkeit und märchenhaften Träumerei des Balletts zu Heines Zeit. Jedoch scheint Heine von dem Balletttänzer-Kult und der Schwärmerei durchaus beeinflusst, indem er in jedem Akt eine Position der Autoritäten für die im Zentrum des ‚Corps de Ballet‘ (DHA 9, 79) stehenden Primaballerina und Balletttänzer übriglässt. Auch wenn Heine die erotischsten und wildesten Tanzformen auswählt, um die Liebeswonne Fausts verstärkt zum Ausdruck zu bringen, ahnt er wohl, dass das akademisierte Ballett allein durch seine Form Heines Phantasie mäßigen wird. Darin sieht Heine womöglich ein Spannungsfeld zwischen dem erotischen Liebestanz und dem akademisierten Ballett. Nicht zuletzt bringt Heine die Flüchtigkeit von Fausts Glück in den Tanz ein. Fausts „zeitliche irdische Genüsse“ (DHA 9, 87) sind zeitlich begrenzt, sein Liebesglück endet in jedem Akt mit einer Flucht und markiert den jeweiligen Abschnitt seiner Entwicklung. Seine Genüsse sind dergestalt zeitlich bedingt, dass sie in der ‚Zeitkunst‘ Tanz besonders anschaulich dargestellt werden können. Endet der Tanz, dann endet auch Fausts Freude.

Resümee Was ist geeigneter als die Phantasie der Dichtung, um für den Tanz Worte zu finden? Der Tanz verfügt über eine besondere Ausdruckskraft. Die Dichtung wiederum kann den Tanz nutzen, um sich dessen Plastizität und Sinnlichkeit auf ihre Art anzueignen und so die eigenen Darstellungsmöglichkeiten zu erweitern. In der vorliegenden Arbeit wurden Tanzepisoden in der Literatur nicht als sekundäre Dokumente der realen Tanzgeschichte gesehen, sondern als primäre schöpferische Produktionen zum Thema Tanz. An der Aufgabe, eine flüchtige Kunstform wie den Tanz in der Literatur festzuhalten, reizt Schriftsteller nicht nur das Ausmalen des Tanz-Ambientes, sondern auch, dass sich Elemente des Tanzes in die Dichtkunst selbst einverleiben lassen. In hundert Jahren Tanz in der Literatur der Sattelzeit, lässt sich nicht nur ein Widerhall der welt-, politik- und kulturgeschichtlich tiefgreifenden Veränderungen finden, sondern fließende ästhetische Strömungen zeigen sich auch in sich wandelnden theoretischen Schriften, poetischen Konzeptionen und tänzerischen Vorstellungen. Literatur dokumentiert nicht bloß den Tanz, sondern sie ,kommentiert‘ ihn mit allerlei Variationen der Stilebenen von Pathetik bis zur Komik, von Träumerei bis zur Ironie, von Harmonie bis zum Zusammenspiel der Widersprüche. Ferner nutzt Literatur den Tanz als Mittel zur Zeitdiagnose, Prophezeiung oder Provokation. Mit ihren Facetten an Darstellungsarten sowie den politisierten Funktionszuschreibungen vollzieht sich zugleich der kulturgeschichtliche und ästhetische Wandel im Tanz. Dieser Wandel geschieht nicht mit Umbrüchen, sondern in schleichender Form. Zu Zachariaes Zeit wird er noch vorwiegend als gesellschaftliche Aktivität verstanden. Die Episoden, in denen der Dichter über gesellige Tänze berichtet, stellen zwar keine Abbilder der Realität dar, taugen allerdings durchaus zum Verständnis jener Zeit, in der Tanz der Beobachtung von Manieren, Sitten und Kultiviertheit dient.1 Dies findet ebenso seinen Niederschlag in Goethes Werther, aber dieser entfaltet eine neue Bedeutungsmöglichkeit des Tanzes: Der Tanz ist nun nicht mehr auf seine Geselligkeit reduziert, sondern wird zum Spannungsfeld gesellschaftlich-soziologischer Strömungen

1 Häufig wird nicht der gesellige Tanz an sich, sondern der gesamte Ball als Rahmen einer Episode erzählt. Ebenso stehen nicht die Schilderungen von Tanzschritten und Tanzfiguren im Mittelpunkt, sondern das Ambiente, der Eindruck und der Einfluss des Tanzes auf das Publikum und die Beteiligten. Hier folge ich den Gedanken Gabriele Brandstetters in ihrem Nachwort zur Sammlung der Tanz-Episoden Aufforderung zum Tanz. Vgl. Brandstetter, Gabriele (Hg.): Aufforderung zum Tanz. Geschichten und Gedichte. Stuttgart 1993, S. 403 f. https://doi.org/10.1515/9783110759815-018

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Resümee

und gewandelter individueller Liebessehnsüchte. Ähnliche Konfrontationen zwischen persönlichem Wunsch und gesellschaftlicher Erwartung werden nach dem Werther wiederholt aufgegriffen, etwa in Dorothea Schlegels Florentin und Arnims Hollin’s Liebeleben. Aber die Unterschiede der Schichten sowie die Abgeschlossenheit bestimmter Kreise bleiben bestehen, auch wenn sich die Ständegesellschaft im späten 18. Jahrhundert aufzulösen beginnt. Eine besondere Tanzgelegenheit wird dabei zum Mittel, um die Grenzen verschiedener sozialer Schichten noch vor den politischen Umbrüchen zu überwinden: der Maskenball. Die gesellschaftlichen Spielregeln verlieren ihre Geltung, solange die Tanzenden demaskiert sind und etwas vortäuschen können. Dies gilt nur solange, bis die Maske abgenommen wird und die alte Ordnung wieder sichtbar wird. Das Maskenspiel kann jedoch auch zur Chance für die Untersten werden. Beispielsweise in drei Balladen mit dem Titel Schelm von Bergen verhilft die Tanzfertigkeit einem von der Gesellschaft geächteten Henker, zu Anerkennung und sozialem Aufstieg. Eine ähnliche Begebenheit ereignet sich in dem Volksmärchen Aschenputtel der Brüder Grimm. Der Tanz erweist sich als Zauberkunst, welche zum Schluss gar den Widerspruch zwischen Sein und Schein verschwinden lässt. Zauber und Maskenball entwickeln sich bei Heine so weit, dass sie zur Metapher für verborgene politische Verlogenheit in Doktor Faust werden. Schriftsteller zeigen, wie Tanz in der Lage ist, Sitten, Normen und Werte abzubilden, auf Konflikte hinzuweisen, und nicht zuletzt das Unausgesprochene und Verdeckte der Gesellschaft aufzudecken. Schriftsteller sehen im Tanz jedoch mehr als ein Abbild der gesellschaftlichen Hierarchien, sie entwickeln ein feines Gespür für das Geschlechterverständnis und die Ästhetik beim Gruppen- oder Paartanz. Als La Roche in Fräulein von Sternheim die Vorzeigbarkeit und Anmut beim Menuett preist, als Schiller in seiner Elegie Der Tanz durch den Kontratanz ein Modell für das Ideal menschlichen Umgangs entwirft, finden bereits Walzer, Polka und Galopp stärkere Beachtung. Dem engen Körperkontakt und dem Rausch seiner Drehungen geschuldet, definiert besonders Walzer das Geschlechterverhältnis neu. Auch wenn es sich nicht ausdrücklich um einen Walzer handelt, fehlt es seitdem dem Paartanz, nie an Liebesromantik und erotischem Reiz. Während Aschenputtel noch in einer restriktiven Ordnung gefangen ist, der zufolge Frauen ,Vermögen‘ haben müssen, um die Zuneigung der Männer und die Beachtung der Gesellschaft zu gewinnen, wird in Arnims Hollin’s Liebeleben bereits eine Liebesutopie entwickelt, die sich von Erwartungen an die Geschlechterrollen befreit und sich im Tanz auslebt. Dorothea Schlegel geht im Florentin noch weiter, indem sie den Tanz einer Adeligen zu einem doppelten Wagnis führt, in Männerkleidung und außerhalb der Tanzsaal-Ordnung in freier Natur. E. T. A. Hoffmanns sprengt in Der Sandmann sogar die alten Ordnungen, indem sich ein Student beim Tanz einer Puppe, und damit

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einer perfektionierten illusorischen Frauenrolle unterwirft. Während das Wirkungsfeld der Frauen zu dieser Zeit noch vorwiegend auf die Hausdomäne beschränkt ist, werden sie als literarische Figuren bereits mit Selbstentfaltung, Rollenspiel, Willen und Macht ausgestattet. Tanz als ästhetisches Phänomen wird von gesellschaftlichen Veränderungen mitgenommen. Dies betrifft zunächst seinen Stellenwert. Während der Ballettmeister Noverre Mitte des 18. Jahrhunderts das Narrative im Tanz propagiert und Dichtkunst für die primäre Kunst hält, betrachtet der Kunsttheoretiker Sulzer Tanz- und Dichtkunst sogar als gleichwertig. In der Folge wird Tanz als autonome Kunst bei A. W. Schlegel und Arnim zu einem Medium zur Erweiterung poetischer Möglichkeiten. Tanz gibt Schriftstellern Impulse, durch Tanzstile und Tänzer-Figuren neue literarische Modelle zu schaffen und nicht zuletzt die Dichtung selbst als einen bewegenden Text zu behandeln. Auf diese Weise befruchtet die Tanzkunst die Dichtkunst mit ihren Bewegungsmöglichkeiten und ihrer Dynamik. Die poetischen Entwürfe zur Tanzästhetik beschränken sich nicht auf Anmut und Grazie. Hoffmann macht in Prinzessin Brambilla das Treiben und Drehen zum zentralen Merkmal des Tanzes und lässt seine Erzählstruktur ebenfalls wie einen Tanz wirbeln. Er deutet damit auf einen Prozess neuer Identitätsfindung, aber auch auf einen gesellschaftlichen und ästhetischen Wendepunkt – die Zeit des Pathos und der äußerlichen Pracht in den Theaterhäusern ist vorbei, individualistische Züge und Auftritte auf offener Straße gewinnen an Bedeutung. ,Straßenkünstler‘, die sonst in der Gesellschaft kaum die Gunst einer offiziellen Macht erlangen, werden nun zu zentralen Figuren in der Literatur, etwa Goethes Mignon in Wilhelm Meisters Lehrjahre und Heines Laurence in Florentinische Nächte. Sowohl Goethe als auch Heine erschaffen in ihrer Dichtung Tänzerinnen und Tänzer, um den Charakter literarischer Figuren offenzulegen. Mignon, eine frühreife Frau mit tänzerischer Virtuosität und mythischem Wesen, entspricht nicht den üblichen Theaterdarstellerinnen. Laurence, obwohl keine Virtuosin, fasziniert den Beobachter dennoch durch ihren ganzkörperlichen Tanz. Sie kann als literarische Vorreiterin einer Tanzrevolution gesehen werden, die erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkommt, des modernen Tanzes und des Ausdruckstanzes und sie eröffnet zugleich eine neue Möglichkeit des Tanzes – nämlich ihn als Sprache zu kodieren. Dies wird erst im 20. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit werden. Die gesellschaftlichen Bezüge gehen so weit, dass der Tanz bei Heine zur politischen Allegorie im Vormärz eingesetzt wird. In seinem Epos Atta Troll verwendet Heine die Tanz-Züchtigung als Symbol für einen normenhaften Umgang mit der Kunst und nutzt den unbefangenen Cancan, um konträre politische Meinungen äußern zu können. In seinem Ballett-Libretto Doktor Faust stellt Heine das ,keusche‘ klassische Ballet auf den Kopf und lässt die Teufelin als

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Ballerina auftreten, um Fausts sexuellen Drang zu erwecken. Damit weist er auf einen zentralen Aspekt des Teufelspakts hin, die Liebeslust. Er ruft eine Ballerina als Vermittlerin zur Hölle herbei und unterstellt den Höllenbezug sowohl der Ballerina als auch dem gesamten Ballett. Heine stellt die offizielle Kunst bloß, während er in bodenständigen Tanzlokalen eine geheime Sprache der unteren Schichten erkennt. Hundert Jahre Tanz wird hier mit verschiedenen Facetten vorgestellt, nicht nur in Tanzepisoden berühmter Werke wie in Goethes Werther, Brüder Grimms Aschenputtel, sondern auch in fast unbekannten Texten etwa in Achim von Arnims Owen Tudor oder Rudolph Töpffers Die Geschichte des Monsieur Jabot. Trotz der Vielfalt der Tanzdichtungen, trotz der Abhängigkeit von Gattung, Zeitgeist und Vorliebe der Autoren in jedem Text lässt sich eine Entwicklungslinie der Tänze in der Literatur erkennen. Tanz in der Literatur ordnet sich im 18. Jahrhundert noch eher gesellschaftlichen Konventionen unter, stellt diese im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich in Frage und versucht sie sogar zu durchbrechen. Unter ästhetischem Aspekt betrachtet, setzt sich Tanz im 18. Jahrhundert als autonome Kunst durch. Diese Autonomie bietet im 19. Jahrhundert neue Möglichkeiten, um im Tanz Charaktere literarischer Figuren offenzulegen. Vieles bleibt noch offen. So könnten die theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Tanz über die literarischen Werke hinaus mit ästhetischen Schriften in Beziehung gesetzt werden.2 Es wäre lohnenswert, die Bekanntschaft zwischen Tänzern und Schriftstellern sowie deren Kooperationen und Inspirationen zum Thema einer Studie zu machen, um den Beziehungen zwischen Tanz- und Dichtkunst aus historisch-biographischem Blick näher zu kommen.3 Ferner zeigt sich bei den in dieser Arbeit ausgewählten Tanz-Episoden rückblickend, dass der Gesellschaftstanz, abgehoben vom Volkstanz, vor allem auf die Oberschicht fokussiert ist, während Tanzaufführungen sowohl die Bühnenkunst als auch die Straßenkunst betreffen. Das liegt vermutlich daran, dass Bauerntänze erstens seltener beschrieben wurden und zweitens die meisten Schriftsteller dieser Zeit mit dem Leben der Bauern wenig vertraut sind. Umso 2 Es wäre eine eigene Studie wert, die Noverr’sche pantomimische Herausstellung im Ballett in Bezug auf die virtuose Carlo Blasis’sche erwünschte Balletttechnik in den 1820er Jahren im Zusammenhang mit Hegels Philosophie zur Schönheit von Natur und Kunst zu erläutern. 3 Es kommt nicht selten vor, dass Schriftsteller ihre zeitgenössischen Tänzer zum Star krönen und zur literarischen Hauptfigur machen oder Tänzern Gedichte widmen. Neben Heinrich Heines Pomare, welche in dieser Arbeit erwähnt wurde, könnten zum Beispiel Eichendorffs Gedicht An eine (junge) Tänzerin (1816) oder Uhlands Auf eine Tänzerin (1829) als kaum erforschte Quellen herangezogen werden, um zu verdeutlichen, wie der Tanz im Auge des Publikums Resonanz erzeugt und wie Dichter durch ,Gespräche‘ mit ihren Tänzer-Figuren einen besonderen ,Paartanz‘ ausführen.

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reizvoller scheinen Volksfeste und Bauerntänze für weitere Untersuchungen zu sein.4 Hierzu ein Beispiel: Ludwig Tieck richtet in seinem Der junge Tischlermeister (1836) den Blick darauf, mit welcher Begeisterung und Ekstase das einfache Volk in einem Wirtshaus tanzt. Er schildert die Stimmung und Spontaneität nachdem ein Bergmusikant die Wirtin zum Tanz aufgefordert hat: Komm, Dicke (indem er [der Bergmusikant] die Wirthin unter den Arm faßte); und nun einen Walzer! aber lustig! Sogleich bewegte sich bei betäubender Musik der Wirrwarr aus allen Ecken und drehte sich durch den Umfang des Saales; der fröhliche Herr tanzte mit der Wirthin vor, die Comödianten flogen sich in die Arme, [...] und unter Schreien, Stampfen, Händeklatschen und Gelächter wälzte sich der Tumult immer wilder und wilder; [...] das Springen und die Schnelligkeit des Walzers wurde so heftig, daß sie bald das Tuch vom Kopf verlor, und jetzt mit aufgelöstem Haar einem wilden Gespenste in toller Bewegung [Meine Hervorhebung, W. R.] glich.5

Diese Schilderung ist typisch für Tanz-Dichtung, insbesondere das Temperament bis zur Ekstase. Ekstatische Züge zeichnen sich bereits in Dichtungen Goethes ab am Beispiel seiner Figur Mignon in Wilhelm Meisters Lehrjahre und dem Hexentanz in der Walpurgisnacht aus Faust I (1808). Diese Merkmale treten im Verlauf des 19. Jahrhunderts noch verstärkt auf, etwa bei Achim von Arnim,6

4 Beispiele finden sich etwa in Wilhelm Hauffs Das kalte Herz (1827), wo der Protagonist Peter mit anderen um die sportlichste Ausführung des Tanzes konkurriert: Er tanzt neben dem „Tanzbodenkönig, und sprang dieser drei Schuh hoch, so flog Peter vier“. (Quelle des Zitats: Hauff, Wilhelm: Hauffs Märchen. Vollständige Ausgabe. Mit 42 Illustrationen von Theodor Weber, Theodor Hosemann und Ludwig Burger. Köln 2012, S. 345). 5 Tieck, Ludwig: Schriften in zwölf Bänden. Hg. v. Manfred Frank [u. a.]. Bd. 11: Schriften 1834–1836. Frankfurt am Main 1988, S. 65 f. 6 In Arnims Kronenwächter schildert Arnim, wie sich Rautenstrauch in einer Einsiedelei zurückzieht und eigenwillig bis zur Ekstase tanzt: „Da kam der Einsiedler mit beiden Frauen auf den geräumigen Platz vor der Kapelle, der Rotmantel spielte in der Kapelle so schnell, so schnell, und sie tanzten so wild, so wild, daß ihnen die Kleider stückweise vom Leibe fielen [...] sie hatten sich schon drei Schuh tief in die Erde getanzt, waren ganz nackt und zermagert ... “. In: Arnim, Achim von: Werke in sechs Bänden. Bd. 2. Die Kronenwächter. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1989, S. 552.

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E. T. A. Hoffmann7 oder Heinrich Heine.8 Dabei spielt die sich wandelnde Funktion des Tanzes eine bedeutende Rolle. Nachdem Tanz in der Literatur im 18. Jahrhundert die gesellschaftliche Struktur widerspiegelt und die gesellschaftliche Ordnung beeinflusst hatte, kommt ihm nun im 19. Jahrhundert eine neue Funktion zu – durch Sitten festgelegte Grenzen auszutesten und sie sogar zu überschreiten. Mögliche Ursachen dafür sind das ökonomische Erstarken des Bürgertums und die sich damit veränderten gesellschaftlichen Strukturen und Interessen. Das Streben nach Individualität und der Wunsch nach einer Heirat aus Liebe gehört in diesen Zusammenhang. Was noch in Worten ausgedrückt wird, wird manchmal bereits durch Tanz-Episoden erlebbar gemacht. Die Ekstase im Tanz ist dafür ein Beispiel, manchmal führt es in eine Form des Wahnsinns, zu Widerstand gegen die Ordnung Es führt manchmal aber auch zu Kreativität, zur Schaffung neuer Rollen, zum neuen Ausdruck in Tempo und Individualität. Auf den Zeitraum nach 1850 blickend, bietet der Tanz in der Literatur vermutlich aufgrund der sich annähernden verschiedenen gesellschaftlichen Schichten neue Möglichkeiten für Tänze und Tänzer-Figuren. Tanz und Tänzer aus dem Volk reizen die Schriftsteller in ihrer Originalität und Bodenständigkeit. Warum es speziell im Volkstanz gerne, wie bei Ludwig Tieck, zur Ekstase kommt, warum auch Heinrich Heine von der Tanzekstase erfasst wird – diese Fragen können vorerst noch nicht vollständig geklärt werden, wobei das Studium der nächsten Generation eines Friedrich Nietzsches oder Hugo von Hofmannsthals mit Sicherheit zur weiteren Forschung über Tanz in der Literatur beitragen wird.

7 Siehe das Kapitel zu E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. Auch in seinen Lebens-Ansichten des Katers Murr erzählt Hoffmann davon, wie eine Frau zuerst auf den Tanz besteht und beim Tanz außer sich gerät: Hedwiga „verlangte die Wiederholung, und als der Tanz zum zweiten Mal geendet, bestand sie, des Mahnens der Benzon, die auf ihren Wangen schon die verdächtige Blässe wahrnehmen, nicht achtend, darauf, zum drittenmal den Tanz auszuführen, der ihr nun erst recht gelingen werde. [...] Bei einer der vielen Verschlingungen, die der Tanz gebot, drückte der Prinz die Holde stürmisch an die Brust, aber in demselben Augenblick sank auch Hedwiga entseelt in seinen Armen zusammen.“ Quelle des Zitats: Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. 5. Lebens-Ansichten des Katers Murr. Werke 1820–1821. 8 Siehe das Kapitel zu Heinrich Heines Der Doktor Faust.

Anhang

Literaturverzeichnis Primärliteratur [Anonym] (der Name mit den Ziffern „M. R. v.“): Aufforderung und Vorschlag zu einer neuen Reitkleidung für Damen. In: Journal des Luxus und der Moden, Juli 1797, S. 362–368. [Anonym]: (der Name wurde unter ‚A ... .d‘ verschleiert), Tagebuch (aus Paris), Ende Mai 1847. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, redigiert von J. Kuranda, sechster Jahrgang, 3 (1847), S. 392–395. [Anonym]: Ankunft und feierlicher Einzug des Durchl. Erbprinzen von Sachsen-Weimar und dessen Gemahlin, Kaiserl. Hoheit“ In: Journal des Luxus und der Moden, 19 (1804), S. 542–552. [Anonym]: Harmony-hall. Tomorrow Evening will be presented ... In: The Pennsylvania Packet (Philadelphia, Pennsylcania), 06.11.1789, S. 3. [Anonym]: The celebrated Italian Balance Master. In: The Independent Gazetteer (Philadelphia, Pennsylvania), 26.01.1788, S. 3. [Anonym]: Versuch einer Menschenlehre, sich selbst und andere Leute kennen zu lernen. Dargestellt in einer Reihe historisch-moralisch-satyrischer Gespräche zur Belehrung und Unterhaltung von I. T. A. und O. 2. Aufl. zweiyter Theil. Kempten 1802. Arnim, Achim von: Werke in sechs Bänden. Bd. 1. Hollin’s Liebeleben, Gräfin Dolores. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1989. Arnim, Achim von: Werke in sechs Bänden. Bd. 2. Die Kronenwächter. Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1989. Arnim, Achim von: Werke in sechs Bänden. Bd. 4. Sämtliche Erzählungen 1818–1830. Hg. v. Renate Moering. Frankfurt am Main 1992. Arnim, Achim von: Werke in sechs Bänden. Bd. 6. Schriften. Hg. v. Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss. Frankfurt am Main 1992. Arnim, Ludwig Achim von: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe (Weimarer Arnim-Ausgabe). Bd. 31. Briefwechsel 1802–1804. Tübingen 2004. Arnim, Ludwig Achim von: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe (Weimarer Arnim-Ausgabe). Bd. 30. Briefwechsel 1788–1801. Hg. v. Heinz Härtl. Tübingen 2000. Berlepsch, Emilie von: Ueber einige zum Glück der Ehe nothwendige Eigenschaften und Grundsätze. In: Wieland, Christoph Martin (Hg.): Der neue Teutsche Merkur, 2 (1791), S. 63–102, 113–134. Boehn, Max von: Der Tanz. Berlin 1925. Brentano, Clemens: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Behrens [u. a.]. Bd. 30. Briefe II, [Bettine von Arnim]: „Clemens Brentano’s Frühlingskranz“ und handschriftlich überlieferte Briefe Brentanos an Bettine. 1800–1803. Stuttgart 1990. Callot, Jacques: Das Gesamte Werk, 2 Bde. Hg. v. Thomas Schröder. Bd. 1. Handzeichnungen. München 1971. Casanova, Giacomo: Geschichte meines Lebens. Casanovas Memoiren, in 12 Bänden. Bd. 6. Hg. v. Günter Albrecht und Heinrich Conrad. München 1984. Descartes, René: Essais philosophiques. Suivis de la Metaphysique de Descartes. Hg. v. Louis Haumann. Brüssel 1832.

https://doi.org/10.1515/9783110759815-019

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Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1

Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6

Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11

Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15

Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18

Theodor Hosemanns Illustration zu Zachariaes „Der Renommist“. In: Zachariä, Friedrich Wilhelm: Der Renommist. Ein scherzhaftes Heldengedicht. Leipzig 1989, S. 19 46 Hogarth, William: The Analysis of Beauty. In: Ders.: Zergliederung der Schönheit. Berlin 1754, Plate II (Ausschnitt) 68 Hogarth, William: The Analysis of Beauty. In: Ders.: Zergliederung der Schönheit. Berlin 1754, Plate II, Figur 71. (Ausschnitt) 69 Hogarth, William: The Analysis of Beauty. In: Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit. Berlin 1754. Plate II (Ausschnitt) 71 Schiller, Friedrich: Zeichnung der Schlangenlinie im Brief an Körner. In: Ders.: Schillers Werke, Nationalausgabe. Bd. 26, S. 216 72 Schiller, Friedrich und Johann Wolfgang Goethe: Schemata über den Dilettantismus, „Tanz“. In: Schiller, Friedrich: Schillers Werke, Nationalausgabe. Bd. 21, Anhang 83 Töpffer, Rodolphe: Zeichnung aus „Geschichte des Monsieur Jabot“. In: Ders.: Komische Bilderromane. Leipzig 1967, S. 19 95 Töpffer, Rodolphe: Zeichnung aus „Geschichte des Monsieur Jabot“. In: Ders.: Komische Bilderromane. Leipzig 1967, S. 24 96 Töpffer, Rodolphe: Zeichnung aus „Geschichte des Monsieur Jabot“. In: Ders.: Komische Bilderromane. Leipzig 1967, S. 24 96 Lancret, Nicolai: Der Tanz um den Baum (1730). Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inventarnummer Gal.-Nr. 786 101 Bernhard, Nast: Illustration zu Wielands „Die Geschichte des Prinzen Biribinker“. In: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Prinzen Biribinker. Berlin 1959, S. 143 146 Anonym: Jaquet-Droz präsentiert seine Automaten am Hof Louis XV. In: Scientific American, 16.04.1903, Vol. 88, S. 8 193 Grasser, Erasmus: Moriskentänzer mit Kegelmütze. Stadtmuseum München. Inventarnummer K-Ic/224 221 Callot, Jacques: Blatt 19 der Folge „Balli di Sfessania“. ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung, Inventarnummer D 1474.19 222 Thiele, Carl Friedrich: Illustration zu E. T. A. Hoffmanns „Prinzessin Brambilla“. In: Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 3, Bildteil IX 229 Das chinesische Yin-Yang-Symbol. Taoistisches Symbol. In: Wing, R. L.: Das Arbeitsbuch zum I Ging. Düsseldorf 1980, S. 12 239 Saftleven, Cornelis: The egg dance. Nationalmuseum Warschau, mit dem polnischen Titel „Taniec z jajkiec“, Inventarnummer M.Ob.496 MNW 247 Weinkanne mit dionysischem Treiben aus Apulien. Archäologisches Museum Münster, Inventarnummer 941 265

https://doi.org/10.1515/9783110759815-020

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 19 Pinelli, Bartolomeo: Ein Tanzbär wird den Römern vorgeführt. Hamburger Kunsthalle, Inventarnummer kb-1863-85-175-7 283 Abb. 20 Divèky, József: Illustration zu Heinrich Heines „Der Doktor Faust“. In: Heine, Heinrich: Der Doktor Faust. Frankfurt am Main 1987, S. 26 f 309 Abb. 21 Grandville: L’amour fait danser les ânes. In: Ders.: Das gesamte Werk. 3. Aufl. Bd. 2. München 1972, S. 1357 315

Personen- und Werkregister Andersen, Hans Christian 141 Arbeau, Thoinot 125, 221 Arnim, Achim – Erzählungen von Schauspielen 149, 157–163, 305 – Hollin’s Liebeleben 148–157, 159, 162, 167, 258, 292, 328 – Kronenwächter 167, 322, 331 – Owen Tudor 162–167 Balzac, Honoré 143, 280 Berlepsch, Emilie 177 Boehn, Max 4 Börne, Ludwig 280f Brentano, Clemens 2, 82, 129–131, 148, 158, 160, 171 Callot, Jacques 217, 219–227, 243 Casanova, Giacomo 103f Descartes, René 89, 191f Edelmann, Johann Christian 39 Eichendorff, Joseph 330 Euripides 264 Feldtenstein, Carl Joseph 57 Fischer, Caroline Auguste 183 Fontane, Theodor 133 Friedel, Johann 59 Geiger, Franz Xaver 164 Goethe, Johann Wolfgang – Die Leiden des jungen Werthers 49–65 – Faust 51, 306, 317, 321 – Italienische Reise 53, 261 – Schemata über den Dilettantismus 83f, 247f – Wilhelm Meisters Lehrjahre 244–274 – Wilhelm Meisters theatralische Sendung 249 Gottsched, Johann Christoph 33f, 37f, 41 Gouges, Olympe 177 Grandville 280, 314, 315 https://doi.org/10.1515/9783110759815-021

Grimm, Jakob/Wilhelm 125–148 Grimm, Ludwig Emil 137 Hagedorn, Christian Ludwig 69, 91 Hauff, Wilhelm – Das kalte Herz 27, 331 – Der gute Engländer 307 Heine, Heinrich – Atta Troll 279–297 – Der Doktor Faust 18, 255, 298–325, 329 – Die Bäder von Lucca 261, 304 – Die Harzreise 26, 255 – Die Nordsee 27, 279 – Florentinische Nächte 11, 244–274, 277, 329 – Schelm von Bergen 115–118 – Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland 318 Herder, Johann Gottfried 34, 72f, 87, 239f, 269, 284 Herz, Marcus 59f Hetzel, Pierre-Jules 280 Hippel, Theodor Gottlieb 177 Hoffmann, E. T. A. – Der Sandmann 10, 189–212, 277, 292, 328 – Die Automate 189, 194, 212 – Lebens-Ansichten des Katers Murr 238, 332 – Prinzessin Brambilla 10, 27, 217–243, 329, 332 Hogarth, William 18, 45, 67–72, 79f. 91, 94f, 97, 101, 314 Hugo, Victor 262 Humboldt, Wilhelm 72f, 163 Kleist, Heinrich 73, 203 Klopstock, Friedrich Gottlieb 33, 49, 62–66, 215 Knigge, Adolph 60 Körner, Christian Gottfried 66, 71–73, 87, 163 La Roche, Sophie 52, 56, 105, 328 Laukhard, Friedrich Christian 39

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Personen- und Werkregister

Novalis 156 Noverre, Jean Georges 3, 18–25, 149, 159, 167, 256f, 329

– Huldigung der Künste 92–94 – Kallias oder über die Schönheit (KalliasBriefe) 66f, 72f, 75, 80f, 88, 91 Schlegel, August Wilhelm 18, 22, 24–26, 159, 172 Schlegel, Caroline 172 Schlegel, Dorothea 168–188 Schlegel, Friedrich 148, 158f, 168–173, 178, 180 Schotus, Friedrich 307 Schumann, Circus Albert 300 Simrock, Karl Joseph 109f, 112–114, 299f Smets, Wilhelm 109–112, 115 Stein, Leo 42 Sulzer, Johann Georg 18, 22–25, 161, 329

Oehlenschläger, Adam 192f Ovid 82

Tieck, Ludwig 27, 148, 291, 331f Töpffer, Rodolphe 94–97

Paul, Jean 150 Perrault, Charles 10, 132, 138f, 143, 145 Praetorius, Johannes 311f, 322 Prizelius, Johann Gottfried 176

Valery, Paul 254

Lavater, Johann Caspar 142f Lichtenberg, Georg Christoph 143 Louis, Baude 280 Lumley, Benjamin 298, 300, 302 Luther, Martin 134, 165 Lyncker, Carl Wilhelm Heinrich 101f Lyncker, Karl 108f Mendelssohn, Moses 82 Mihr, Ulrich 284 Moritz, Karl Philipp 143

Rauchenstein, Johann 181f, 268 Rohr, Julius Bernhard 13 Rost, Johann Christoph 34, 52 Rousseau, Jean Jaques 143, 154, 170, 175 Schiller, Friedrich – Anmut und Würde 93 – Der Tanz 66–97

Wedekind, Eduard 298 Wetzler, Johann Evangelist 268 Wieland, Christoph Martin 21, 145, 257 Winckelmann, Johann Joachim 56, 72, 80 Wobeser, Wilhelmine Karoline 177, 182f Wolf, Salomo Jakob 59 Zachariae, Julius Friedrich Wilhelm 8f, 16, 31, 33–49, 278 Zangen, Karl Georg 58

Tanz-Sachregister Anmut 52, 55, 105, 147, 179, 188, 226, 228, 258, 306, 328f

Kreis 53, 62, 101, 178, 225, 236–240, 312 Kreisel 234, 240, 242, 303f

Bacchantin/Mänade 146, 263–266, 320f, 323f Ballerina 18, 260, 274, 303, 305, 324f Ballett 5, 8, 17–23, 25, 60, 101, 158, 162f, 191, 209f, 223, 233, 247f, 249, 251, 255–263, 272, 277, 293f, 298–317, 321, 324f, 329f Beine 19, 69, 101, 159, 176, 207, 224, 228, 248, 255, 259, 288, 302, 304

Leichtigkeit 82, 87, 93, 144, 228, 259, 294, 310, 324

Cancan 27, 255f, 272, 279, 287–291, 325 Deutscher/Walzer 15, 31, 49, 50–61, 64f, 138, 150, 156f, 163, 210, 256f, 268, 293f, 328, 331 Drehungen 16, 55, 57–60, 81, 211, 232, 234, 242f, 304f, 328 Dynamik 16f, 23, 148, 161, 225, 237, 241, 252ff, 263, 304, 329 Eiertanz 246–253 Ekstase 11, 59, 138, 263f, 268, 331f Fächer 41f, 47, 51 Fandango 249, 253 Füße 10, 19, 64, 77f, 89, 101, 128, 133, 140–146, 152, 159, 162, 175, 207, 215, 246, 251, 255, 303f, 313, 316 Galopp 94–97, 163, 293 Gavotte 99, 282–286 Geschwindigkeit 144, 154, 201, 242, 249 Gleichgewicht 60, 232, 234, 242, 255, 319 Grazie 15, 19, 93f, 125, 145, 151, 228, 259, 329

Manieren 99, 109, 293, 327 Maske 9f, 102–118, 176, 217, 223–226, 231, 236f, 272, 317, 328 Menuett 15, 25, 31, 33, 52–55, 65, 99, 105, 123, 138, 181f, 303, 315–317, 324, 328 Moriskentanz 220–223 Paartanz 2, 16, 23, 85, 89, 125, 181, 202, 227, 230, 249, 254, 291–295, 308–311, 328, 330 Pas de deux 210, 233–235, 303 Pirouette 303–307 Polka 17, 312f, 323, 328 Quadrille 66, 288, 308–311, 323f Rausch 60, 116, 200, 232, 234, 314, 320, 322, 328 Rhythmus 23f, 62f, 87–89, 160, 253f, 301 Schlangenlinie 70–72, 76–81, 84, 88, 94–97 Schuhe 47, 125–147, 259, 304, 316, 331 Schwerkraft 77f, 144, 152 Schwindel 25, 55–60, 232, 234f Sprünge 66, 87f, 230, 237, 252f, 255, 288 Starre 60, 194f, 197, 204, 212 273, 305

Handschuhe 47, 51f, 142, 146

Takt 23, 88f, 154, 190, 202, 211, 235, 251 Tanzbär 27, 279–284, 288–290 Tanzmeister 14f, 18, 21, 39, 57, 59, 99, 125, 303, 315 Tanzmusik 22, 24, 54, 74, 251, 294 Tanzwut 141, 162f, 268 Totentanz 267–273

Kleid 105, 128f, 133, 136–140, 147, 183, 321 Kontratanz 49, 53–55, 61–66, 182, 328

Veitstanz 3, 141, 267, 269, 322 Volkstanz 99f, 261, 330f

https://doi.org/10.1515/9783110759815-022