Systemtransformation als evolutorischer Prozess: Wirkungen des Handels auf den Produktionsaufbau am Beispiel der Baltischen Staaten 9783110508727, 9783828201446


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German Pages 266 [280] Year 2000

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Table of contents :
Vorwort
Vorwort des Verfassers
Inhalt
Abbildungen
1. Einleitung
2. Erkenntnistheoretische und Methodologische Grundlagen
3. Institutioneller Wandel und die Politische Dimension der Transformation
4. Die Transformation in den Baltischen Staaten
5. Der Handel und der Aufbau der Produktion im Transformationsprozeß
6. Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
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Systemtransformation als evolutorischer Prozess: Wirkungen des Handels auf den Produktionsaufbau am Beispiel der Baltischen Staaten
 9783110508727, 9783828201446

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Bertram Wiest

Systemtransformation als evolutorischer Prozeß: Wirkungen des Handels auf den Produktionsaufbau am Beispiel der Baltischen Staaten

Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft

Herausgegeben von Prof. Dr. Gernot Gutmann, Köln Dr. Hannelore Hamel, Marburg Prof. Dr. Klemens Pleyert, Köln Prof. Dr. Alfred Schüller, Marburg Prof. Dr. H. Jörg Thieme, Düsseldorf

Unter Mitwirkung von Prof. Prof. Prof. Prof.

Dr. Dr. Dr. Dr.

Dieter Cassel, Duisburg Karl Hans Hartwig, Münster Hans-Günter Krüsselberg, Marburg Ulrich Wagner, Pforzheim

Redaktion: Dr. Hannelore Hamel Band 63: Systemtransformation als evolutorischer Prozeß: Wirkungen des Handels auf den Produktionsaufbau am Beispiel der Baltischen Staaten

®

Lucius & Lucius • Stuttgart • 2000

Systemtransformation als evolutorischer Prozeß Wirkungen des Handels auf den Produktionsaufbau am Beispiel der Baltischen Staaten

Bertram Wiest

©

Lucius & Lucius • Stuttgart • 2000

Anschrift des Autors: Dr. Bertram Wiest Hoerwarthstraße 21 80804 München

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wiest, Bertram Systemtransformation als evolutorischer Prozeß: Wirkungen des Handels auf den Produktionsaufbau am Beispiel der Baltischen Staaten / Bertram Wiest. Stuttgart: Lucius und Lucius, 2000 (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft; Bd. 63) Zugl.:Marburg, Univ., Diss., 1999 ISBN

3-8282-0144-X

0002 deutsche bibliothek 0101 deutsche buecherei

© Lucius & Lucius Verlags-GmbH • Stuttgart • 2000 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: R O S C H - B U C H Druckerei G m b H , 96110 Scheßlitz Printed in Germany

ISBN ISSN

3-8282-0144-X 1432-9220

Vorwort Der Handel hatte in zentral geplanten Volkswirtschaften eine vergleichsweise zu Marktwirtschaften völlig untergeordnete Bedeutung. Mit dem Übergang zu marktwirtschaftlichen Ordnungsbedingungen war in den Baltischen Staaten ein vollständiger Neuaufbau der gesamten Wirtschaftsstruktur verbunden. In der vorliegenden Arbeit wird gezeigt, daß dem Handel in diesem Prozeß die Rolle eines Beschleunigers zukommt, einmal weil sich hier die unternehmerische Initiative schneller entfalten kann, zum anderen weil die von der Nachfrageseite ausgehenden Signal-, Anstoßund Sogwirkungen einen Innovationswettbewerb um nachfragegerechte Sortimente auslösen. Diese Impulse setzen sich über die vorgelagerten Marktstufen in den Produktionsbereich fort und wirken von dort wieder zurück. Im Gegensatz zu dieser Vorstellung von der Entstehung einer marktwirtschaftlichen Produktionsstruktur in den Transformationsländern ist die Auffassung verbreitet, daß die unternehmerische Initiative im Handel Ressourcen beanspruche, die im Interesse eines beschleunigten Neuaufbaus der Produktion bevorzugt für die Industrie, und zwar durch staatliche Regulierung, verwendet werden sollten. Zur Klärung dieser Frage entwickelt der Autor ein differenziertes transformationsökonomisches Handlungsmodell, das geeignet ist, die unterschiedlichen Transformationswege der drei Baltischen Staaten vergleichend zu beurteilen. Dies geschieht unter Einbeziehung der Marktleistungen des Handels im Rahmen einer Wirtschaftsverfassung des Wettbewerbs. So gewinnt der Verfasser einen sektorspezifischen Blickwinkel für den Vergleich der Wirtschaftssysteme und zugleich einen Zugang zu den volkswirtschaftlichen Konsequenzen, die zu beklagen wären, wenn die Marktleistungen des Handels im Transformationsprozeß vom Staat beschränkt würden. Die Arbeit ermöglicht zum einen ein besseres Verständnis der ökonomischen Stellung von Handelsbetrieben in Marktwirtschaften, zum anderen stellt sie einen weiterführenden Beitrag für die Transformations- und vergleichende Systemforschung dar. Sie wurde im Sommer-Semester 1999 vom Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen.

Die Herausgeber und der Verleger der Schriften zu Ordnungsfragen

der

Wirtschaft

haben die traurige Pflicht, den Tod des langjährigen Mitherausgebers, Dr. Klemens Pleyer (em. Professor der Rechte an der Universität zu Köln), anzuzeigen und seiner verdienstvollen Mitwirkung dankbar zu gedenken. Marburg, im September 2000

Die Herausgeber

Vorwort des Verfassers Wie jeder evolutionäre Prozeß war auch das Verfassen dieser Arbeit von Versuch und Irrtum mit unbestimmten Ausgang geprägt. Die hierbei empfundene Freiheit und Intensität der inhaltlichen Auseinandersetzung haben mir während der gesamten Promotionszeit viel Freude bereitet. Meinem Doktorvater Professor Dr. Alfred Schüller von der Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme der Philipps-Universität Marburg danke ich für die Unterstützung und das Vertrauen, mit der er meine Such- und Lernprozesse ausgerichtet und begleitet hat. An der Forschungsstelle bin ich sehr herzlich aufgenommen und vielfach unterstützt worden. Für die Erstellung des Zweitgutachtens danke ich Professor Kerber, dessen Doktorandenseminar mir viele wichtige Impulse gegeben hat. Professor Dr. Viktor Vanberg danke ich für die Möglichkeit, am Doktorandenseminar an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Albert Ludwig-Universität Freiburg teilnehmen zu können. Dank gebührt auch der Volkswagenstiftung, deren finanzielle Unterstützung mir über eineinhalb Jahre die ausschließliche Konzentration auf die Doktorarbeit ermöglicht hat. Persönliche Eindrücke von der Transformation im Baltikum konnte ich während meiner Lehrtätigkeit an der EuroFaculty in Riga im Jahr 1996 sammeln. Professor Dr. Toivo Miljan, Morten Hansen, Mihail Hazans, Slava Dombrowski, Nil Ushakov und allen anderen Mitarbeitern der Eurofaculty bin ich für die Unterstützung bei meinen Recherchen und die vielen schönen Erinnerungen an meine Aufenthalte in den Baltischen Staaten zu Dank verpflichtet. Einen besonderen Anteil am Zustandekommen der Arbeit haben meine damaligen Freiburger Mitbewohner Alex Becker und Petra Tretow. Sie stellten mich immer wieder vom Kopf auf die Füße. Last but not least möchte ich meinen Eltern danken, denen ich diese Arbeit widme. Ihrer Unterstützung durfte ich mich in den letzten dreißig Jahren immer sicher fühlen. Dieses Sicherheitsgefühl gab mir die innere Freiheit und den Antrieb, mich auf neue Erfahrungen einzulassen. Meinem Vater danke ich besonders für die vielen Anregungen und intellektuellen Reibungspunkte, mit denen er meine Schulzeit, das Studium und meine Doktorarbeit begleitet hat.

München, den 16.03.2000

Bertram Wiest

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

VII

Inhalt Abbildungen K A P I T E L 1 : EINLEITUNG

XI 1

1.

Problemstellung

1

2.

Vorgehens weise

6

K A P I T E L 2 : ERKENNTNISTHEORETISCHE UND METHODOLOGISCHE GRUNDLAGEN

10

1.

Die Evolution menschlicher Erkenntnisfähigkeit

10

2.

1.1. Problemstellung und Vorgehensweise 1.2. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie Determiniertes versus selbstbestimmtes Handeln

10 11 15

2.1. Problemstellung und Vorgehensweise

15

2.2. Selbstbewußtes Handeln und K. Poppers Theorie der Wechselwirkung

16

2.2.1. Die drei „Welten" 2.2.2. Menschliches Selbstbewußtsein als Produkt von Welt 3 2.3. Der Monismus des radikalen Behaviourismus 2.3.1. Verstärkungskontingenzen und menschliches Verhalten 2.3.2. Menschliches Selbstbewußtsein im Behaviourismus

16 19 21 21 22

Konsequenzen für das zu verwendende Handlungsmodell

24

3.1. Nutzenmaximierung und satisfizierendes Verhalten

24

3.2. Individuelle Wahlakte, Lernprozesse und die Produktionstheorie des Haushalts

28

3.

KAPITEL 3 :

INSTITUTIONELLER W A N D E L UND DIE POLITISCHE DIMENSION DER TRANSFORMATION

1.

32

Erklärungsmuster institutionellen Wandels

32

1.1. Problemstellung und Vorgehensweise

32

1.2. Singularität und Gestaltbarkeit der Transformation 1.2.1. Von Hayeks antikonstruktivistischer Skeptizismus und die länderspezifische Singularität der Transformation

35

Notwendige und hinreichende Bedingungen für die ordnungspolitische Gestaltbarkeit der Transformation 1.3. Gesellschaftlicher Wandel und die Akkumulation sozialen Kapitals 1.3.1. Institutionen als Bestandteil von Poppers Welt 3 1.3.2. Die Stabilität von Regeln und institutionellen Ordnungen

35

1.2.2.

39 42 42 44

VIII

Bertram Wiest 1.3.2.1. 1.3.2.2.

Prinzipielle Regelbefolgung und Koordinationsprobleme

44

Prinzipielle Regelbefolgung und soziale Dilemmasituationen

46

1.3.2.3.

1.3.3.

Grenzen der „unsichtbaren Hand": Die Notwendigkeit staatlicher Regelsetzung Erklärungsmuster für institutionellen Wandel: die Akkumulation sozialen Kapitals und seine Entwertung

1.4. Folgerungen für die Transformation von Wirtschaftssystemen

2.

49 50 52

1.4.1.

Individuelle Verhaltensanpassungen

52

1.4.2.

Konsequenzen für die Transformationspolitik

54

Ordnungspolitische Anforderungen an die Transformationspolitik

59

2.1. Notwendigkeit einer politischen „Gesamtentscheidung"

59

2.2. Grundelemente der Transformationspolitik

60

KAPITEL 4 : DIE TRANSFORMATION IN DEN BALTISCHEN STAATEN

67

1.

Der Zerfall der Sowjetunion 1.1. Die Vergeblichkeit sowj etischer Reformbemühungen 1.2. Die „singende Revolution" im Baltikum

67 67 69

2.

Die Systemtransformation

73

2.1. Transformationspolitik und baltische Sonderfaktoren

73

2.2. Klassifizierung von Transformationsphasen

76

2.3. Phasenschema des Transformationsprozesses

80

2.3.1. 2.3.2.

2.3.3.

Die Umbruchphase und der Grad an Erwartungsunsicherheit Die Kernphase und der Grad an Erwartungsunsicherheit 2.3.2.1. Transformation des politischen Systems 2.3.2.2. Institutionelle Reformen

80 80 81 84

2.3.2.3. Die Währungsreform Die Lern- und Stabilisierungsphase

86 90

2.3.3.1.

Die Konsolidierung des politischen Systems

90

2.3.3.2.

Die makroökonomische Stabilisierung

95

2.3.3.3. Strukturelle Reformen 2.4. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

100 109

KAPITEL 5 : DER HANDEL UND DER AUFBAU DER PRODUKTION IM TRANSFORMATIONSPROZEß

1.

111

Das Problem: Der Niedergang der sowjetischen Industriestruktur

111

1.1. Problemstellung und Vorgehensweise

111

1.2. Die Entwertimg des Kapitalstocks

112

1.3. Die Politikoptionen: Liberale Ordnungspolitik versus Industriepolitik... 116

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß 2.

Der Referenzpunkt: Der Handel in entwickelten Marktwirtschaften

• IX • 119

2.1. Problemstellung und Vorgehensweise

119

2.2. Die Marktleistungen des Handels: ein Theoriedefizit?

120

2.3. Der Marktprozeß: Wettbewerb als Hypothesentest 2.4. Aktionsparameter des Handels und des direkten Absatzes

126 129

2.5. Verbundeffekte als Wettbewerbsvorteil des Handels 2.5.1. Auswahl-, Bedarfs- und Nachfrageverbund 2.5.2. Die Eignung von Gütern für die Sortimentsbildung

131 131 134

2.6. Wissensvorsprung als Wettbewerbsvorteil des Handels 2.6.1. 2.6.2.

Die Kosten von Sortimentsvariationen im direkten Absatz Sortimentsflexibilität und der Wissensvorsprung des Handels

2.7. Gesamtwirtschaftliche Impulse des Handels 2.7.1. Der Innovationswettbewerb um die Verringerung von Transaktionskosten 2.7.2. Auswirkungen des Innovationswettbewerbs auf die Reagibilität des gesamtwirtschaftlichen Angebots 2.7.2.1.

Handelsbetriebe als „Pförtner" zu den Absatzmärkten

137 137 139 142 142 146 146

2.7.2.2.

3.

Offene Pforten - ausgeprägter Innovationswettbewerb 2.7.2.3. Geschlossene Pforten - schwacher Innovationswettbewerb Der Ausgangspunkt: Der Handel in der Sowjetunion

149 153

3.1. Problemstellung und Vorgehensweise 3.2. Die Unproduktivität des Handels bei Karl Marx

153 154

3.3. Der sozialistische Handel und die sozialistische Binnenhandelsökonomik

157

3.4. Der Handel in der zentralen Wirtschaftsplanung

3.5.

4.

147

160

3.4.1.

Die zentrale Wirtschaftsplanung

160

3.4.2.

Die Organisation des sowjetischen Binnenhandels

161

3.4.3.

Die Funktionen des sowjetischen Binnenhandels

164

Die „Mangelwirtschaft" und der sozialistische Binnenhandel

168

3.5.1. 3.5.2.

Transaktionskosten im sowj etischen Binnenhandel Chronische Mangellage im Handel in der Umbruchphase

168 171

3.5.2.1.

171

Der offizielle Sektor

3.5.2.2. Der inoffizielle Sektor Handel und verarbeitende Industrie im Transformationsprozeß der Baltischen Staaten 4.1. Problemstellung und Vorgehensweise

174 178 178

4.2. Der Handel in der Kernphase

179

X

Bertram Wiest 4.2.1.

Investitionen im Handel und in der verarbeitenden Industrie.... 179

4.2.2.

Handelstypen, Organisationsformen und Sortimente

4.2.3.

Die Entwicklung der Nachfrage, Verschiebungen innerhalb der Warenkörbe Umsatz-, Kosten- und Gewinnentwicklung im Handel und in der verarbeitenden Industrie

188

Wettbewerbsintensität und Angebotsreagibilität im Handel und in der verarbeitenden Industrie

190

4.2.4. 4.2.5.

4.2.5.1.

Die verarbeitende Industrie

4.2.5.2. Der Handel 4.3. Handel und verarbeitende Industrie in der Lern- und Stabilisierungsphase 4.3.1. Investitionen im Handel und der verarbeitenden Industrie

4.3.2.

4.3.4.

185

190 192 194 194

4.3.1.1.

Das Investitionsklima

194

4.3.1.2.

Das Investitionsvolumen

196

4.3.1.3. 4.3.1.4.

Die Struktur der Investitionen Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

200 204

Handelstypen, Organisationsformen und Sortimente 4.3.2.1.

4.3.3.

182

Der Einzelhandel

4.3.2.2. Der Großhandel Die Entwicklung der Nachfrage, Verschiebungen innerhalb der Warenkörbe Umsatz-, Kosten- und Gewinnentwicklung in Handel und verarbeitender Industrie 4.3.4.1. Umsätze im Handel und in der verarbeitenden Industrie

207 212 213 215 215

4.3.4.2. 4.3.5.

Kosten und Gewinnentwicklung im Handel und in der verarbeitenden Industrie Innovationsentwicklung und Struktur in der verarbeitenden Industrie

207

4.3.5.1.

Die Wertschöpfungstiefe der verarbeitenden Industrie

Der Handel und der Innovationswettbewerb in der verarbeitenden Industrie 4.4. Fallbeispiele fur die steigende Wettbewerbsfähigkeit baltischer Industriebetriebe

220 222 222

4.3.5.2.

225 229

K A P I T E L 6 : ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

240

LITERATURVERZEICHNIS

247

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

XI

Abbildungen Abbildung 1: Aufbau der Arbeit nach Stichwörtern des Titels

9

Abbildung 2: Phasenschema des Transformationsprozesses in Estland, Lettland und Litauen Abbildung 3: Inflationsraten in den Baltischen Staaten

79 98

Abbildung 4: Veränderungsraten des Bruttoinlandsproduktes in den Baltischen Staaten (jährliche Prozentveränderungen)

115

Abbildung 5: Die Verringerung der Transaktionskosten durch den Handel

132

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

1

KAPITEL 1: EINLEITUNG

1.

Problemstellung

In den sich nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 neu konstituierenden Nachfolgestaaten beschleunigte sich die seit zwei Jahrzehnten fortschreitende wirtschaftliche Niedergangsdynamik. Vor allem die Menschen in den vergleichsweise stark industrialisierten Baltischen Staaten sahen sich in ihren Erwartungen auf eine sprunghafte Verbesserung der Lebensverhältnisse getäuscht. Die herbeigesehnte nationale Unabhängigkeit wurde von einer Halbierung der industriellen Produktion, einem drastischen Rückgang der jeweiligen Volkseinkommen, einer nun offenen Entwertung der bestehenden Geldvermögen und Einkommen sowie einer sich dramatisch verschlechternden Versorgungslage und sozialer Not weiter Bevölkerungsgruppen begleitet. Sieben Jahre später, im August 1998, ist die Transformation zu einer Marktwirtschaft in Estland, Lettland und Litauen weiter fortgeschritten als in allen übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. So erreichte Estland im Jahr 1998 in dem von der U.S. Heritage Foundation und dem Wall Street Journal zusammengestellten „Index of Economic Freedom" den 18. Platz. Dieser Index bewertet regelmäßig den Grad wirtschaftlicher Freiheiten in 160 Ländern. Lettland kam auf den 61. Rang; Litauen bildet mit dem 72. Platz das Schlußlicht unter den drei Baltischen Staaten.1 Die Umsetzung marktwirtschaftlicher Ordnungsprinzipien trägt Früchte. Alle drei Staaten verzeichnen positive Wachstumsraten. Die Lebensverhältnisse der meisten Menschen haben sich wieder deutlich verbessert. Der Internationale Währungsfonds (IMF 1995, S. 4) sah daher bereits 1995 in den Baltischen Staaten ein Modell für den Übergang von einer Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs zu einer Marktwirtschaft. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung spricht in Anlehnung an die Staaten Südostasiens etwas überschwenglich bereits von den neuen Tigern des Nordens. Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft können mittlerweile als hinreichend gefestigt angesehen werden, was sich in der Einladung Estlands zu den Verhandlungen über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union manifestiert. Lettland und Litauen machen sich Hoffhungen auf einen Quereinstieg in Beitrittsverhandlungen, so daß auch für sie die volle Mitgliedschaft in greifbare Nähe gerückt ist. Aufgrund ihrer Transformationserfolge, den vergleichbaren Startbedingungen und den an der jeweiligen Plazierung im „Index of Economic Freedom" ablesbaren Unterschieden in der verfolgten Transformationspolitik bieten sich die Baltischen Staaten für eine theoretische Analyse des Transformationsprozesses besonders an. Das Thema der Arbeit impliziert, daß sich der Übergang von einer Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs zu einer Marktwirtschaft nicht in Form eines großen qualitativen Sprungs vollzieht. Diese Annahme wird durch die nach acht Jahren in den meisten Nachfolge-

1 2

Siehe The Baltic Times, December 10-16, 1998, S. 12. Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 80 vom 7.4.1997, S. 16.

2

Bertram Wiest

Staaten der Sowjetunion andauernden Transformationsanstrengungen gestützt. In dieser Arbeit wird daher das Ziel verfolgt, die in den Baltischen Staaten in den Jahren 1991 bis 1998 vollzogene Systemtransformation als einen evolutorischen Lernprozeß zu beschreiben, in dem sich marktwirtschaftliche Koordinationsformen durch Experimentierprozesse der Wirtschaftssubjekte herausbildeten. Allgemein-theoretische Aussagen über die Transformation von Wirtschaftssystemen lassen sich nur treffen, wenn ein systematischer Zusammenhang zwischen der jeweils verfolgten Transformationspolitik und der Bereitschaft der Menschen feststellbar ist, mit marktwirtschaftlichen Verhaltensweisen zu experimentieren. Warum haben sich beispielsweise in Estland deutlich früher marktwirtschaftliche Strukturen im Handel und in der verarbeitenden Industrie herausgebildet als in Lettland und Litauen? Wieso kam es zu einem Aufholprozeß Lettlands und Litauens, nachdem diese einzelne, in Estland erfolgreich getestete institutionelle Arrangements übernommen haben? Lassen sich länderübergreifende Erklärungsmuster für die Reaktionen der Wirtschaftssubjekte auf vergleichbare ordnungspolitische Maßnahmen feststellen, dann ist die Transformation theoretisch erfassbar und politisch gestaltbar. Die Abhängigkeit der Transformationsstrategie und des Transformationserfolgs von länder- und kulturspezifischen Faktoren wäre begrenzt. Nicht nur über die Herausbildung marktwirtschaftlicher Koordinationsformen ließen sich allgemeine Aussagen treffen, sondern auch über die konkreten Suchund Lernprozesse in Handel und verarbeitender Industrie, die zum räumlichen, zeitlichen und sachlichen Aufbau der Produktion fuhren. Die seit 1995 in den Baltischen Staaten aufkommende Wachstumsdynamik ist vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise in den Jahren 1991 bis 1993 zu beurteilen. Wodurch wurde der wirtschaftliche Niedergang nach der Auflösung der Sowjetunion hervorgerufen? Die Ressourcenallokation unterlag in der Sowjetunion der zentralen Wirtschaftsplanung, die sich an politisch bestimmten Prioritäten auszurichten hatte. Die zentralen Planungsbehörden versuchten die Konsumgüter, Zwischenprodukte, Investitionsgüter und Rohstoffe durch verdichtete güterwirtschaftliche Planbilanzen in einen Rechnungszusammenhang zu stellen. Die zu Grunde gelegten Verrechnungspreise wichen jedoch systematisch von den Weltmarktpreisen und damit den tatsächlichen Knappheitsverhältnissen ab. Hiervon profitierten vor allem die hochindustrialisierten Sowjetrepubliken wie die Baltischen Staaten. Die eingesetzten Rohstoffe wurden subventioniert, die Halb- und Fertigprodukte vor ausländischer Konkurrenz geschützt. In Weltmarktpreisen gerechnet war die Wertschöpfung in vielen Industriebetrieben negativ. Die Orientierung der relativen Preise für Zwischen- und Endprodukte an den Weltmarktpreisen nach Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit offenbarte den Bruch in der sowjetischen Wirtschaftsrechnung und leitete die Entwertung des bestehenden Kapitalstocks ein. In allen drei Baltischen Staaten kam es zu einer Halbierung der industriellen Produktion. Neben unklaren Eigentumsverhältnissen und politischer Instabilität verhinderten sowohl mangelndes Wissen über nachgefragte Produkte und Produktqualitäten, über Märkte und Wettbewerber, über effizientere Produktions- und Managementverfahren als auch ein Mangel an Kapital eine kurzfristige Anpassung des Kapitalstocks.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

3

Es stellt sich die Frage, wie und unter welchen Bedingungen das für die Anpassung des Kapitalstocks relevante Wissen entsteht. Der von C. von Hirschhausen (1998, S. 1 ff.) herausgegebene Abschlußbericht an die Europäische Kommission über den Transformationsprozeß in den Baltischen Staaten aus dem Jahr 1998 konstatiert ein Versagen des Marktmechanismus in der Hervorbringung und Nutzung von Wissen. Hieraus wird die Notwendigkeit staatlicher Industrie- und Technologiepolitik abgeleitet. Für diese Arbeit ist es von besonderem Interesse, daß die Vergabe von Bankkrediten an den Handel reguliert werden soll, um Ressourcen in den Aufbau der Industrie zu lenken. Die dem Abschlußbericht an die Europäische Kommission zu Grunde liegenden theoretischen Annahmen und die wirtschaftspolitischen Schlußfolgerungen werden in dieser Arbeit kritisch beurteilt. Verfälschen industriepolitische Interventionen des Staates die Preissignale, an denen die Marktakteure ihre Such- und Experimentierprozesse ausrichten, dann kann die Wettbewerbsfähigkeit der entstehenden Strukturen beeinträchtigt werden. Anhand der jeweiligen Tausch- und Wettbewerbsbeziehungen im Handel und in der verarbeitenden Industrie der Baltischen Staaten soll herausgearbeitet werden, daß gerade die Transformationsstaaten auf den „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" im Sinne von Hayeks (1969, S. 249 ff.) angewiesen sind. Ziel dieser Arbeit ist es, am Beispiel der Baltischen Staaten zu zeigen, daß im Transformationsprozeß ein erheblicher Teil des benötigten Wissens für eine effiziente Ressourcenallokation durch den Handel generiert wird. Eine Regulierung der Kreditvergabe der Banken an den Handel hätte demnach kontraproduktive Folgen für den Aufbau wettbewerbsfähiger Strukturen in der verarbeitenden Industrie. Folgende Hypothesen sind zu prüfen: 1. Unternehmerische Initiative bildet sich zuerst im Handel heraus. Zwischen frei disponierenden Betrieben des Einzel-, Groß- und Außenhandels entwickelt sich nach erfolgter außenwirtschaftlicher Öffnung und Freigabe der Preise ein Innovationswettbewerb um nachfragegerechte Sortimente. 2. Die Konsumenten passen ihre subjektiven Theorien über die Eignung verschiedener Waren für die Nutzenproduktion an den erweiterten Handlungsraum an. Diese Theorien werden durch Wettbewerbsprozesse auf den Warenmärkten offengelegt. 3. Handelsbetriebe akkumulieren Wissen über nachgefragte Preis- Leistungskombinationen. Dieses Wissen diffundiert im Marktprozeß über alle Produktionsstufen. Betriebe der verarbeitenden Industrie werden in einen Innovationswettbewerb gestellt. 4. Die Verschiebungen der relativen Preise gemäß der tatsächlichen Knappheiten der Güter ermöglichen in- und ausländischen Unternehmern, die komparativen Vorteile der jeweiligen Transformationsländer zu entdecken. 5. Durch Such- und Experimentierprozesse der Marktakteure gewinnt die Allokation des Kapitals an Effizienz. Ein wettbewerbsfähiger Kapitalstock wird aufgebaut.

3

Vgl. Kapitel 5.1.3.

4

Bertram Wiest

6. Die skizzierten Such- und Lernprozesse setzen die Herausbildung marktkonformer äußerer Institutionen sowie die Stabilisierung der makroökonomischen Rahmenbedingungen voraus. Uber den Handel als Katalysator der verkehrswirtschaftlichen Koordination" (Fleck 1964, S. 273) herrscht sowohl bei westlichen Ökonomen als auch in den Transformationsländern ein weitgehendes Mißverständnis. Zum einen wirken noch immer ideologisch und historisch bestimmte Vorurteile gegen den Handel nach. Zum anderen läßt sich die Wertschöpfung von Handelsbetrieben in das Theoriegebäude des MarxismusLeninismus überhaupt nicht und in die dominierende Gleichgewichtsorientierung der westlichen Volkswirtschaftstheorie nur unter Schwierigkeiten integrieren. Der Marxismus-Leninismus sah im Handel eine parasitäre und unproduktive Klasse, die im Kommunismus durch die freie Warenverteilung abgelöst wird. In der westlichen Volkswirtschaftstheorie gibt es zwar eine „Theorie des Haushalts" und eine auf Produktionsbetriebe abgestellte „Theorie der Unternehmung", aber der Handel findet kaum Beachtung. In die Modelle der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie sind die vom Handel ausgehenden Impulse für die Ressourcenallokation nicht integrierbar, da Gewinnmöglichkeiten im Handel auf das Bestehen von Marktungleichgewichten und Transaktionskosten zurückzuführen sind. Ein allgemeines Gleichgewicht ohne Transaktionskosten schließt die Nachfrage nach Handelsleistungen aus. Demnach bedarf es für das Verständnis der vom Handel ausgehenden Impulse für die Ressourcenallokation in Marktwirtschaften und auch in den Transformationsstaaten eines theoretischen Ansatzes, welcher Tauschhindernisse sowie das unvollständige und fallible Wissen der Wirtschaftssubjekte um Tauschgelegenheiten explizit berücksichtigt. Die historischen und ideologischen Vorurteile gegenüber dem Handel verstellen nicht nur den Blick auf seinen möglichen Beitrag für eine effiziente Ressourcenallokation in den Transformationsländern, sondern auch zum Aufbau einer offenen Gesellschaft. In einer uniformen Welt gibt es keinen Handel. Er setzt die Verschiedenartigkeit der Güter und Güteraustattungen sowie der respektiven Wertschätzungen voraus. Handelsbetriebe sind darauf spezialisiert, diese Verschiedenheit zu entdecken und ihr Wissen durch räumliche und zeitliche Arbitrage gewinnbringend einzusetzen. Handel bedingt somit immer auch den Transfer von Wissen und Informationen über Meinungen, Präferenzen, Lebensweisen, Produktions- und Handelsmethoden der Tauschpartner. Freier Handel und politische, ideologische oder religiöse Enge lassen sich auf Dauer nicht miteinander vereinbaren. So forderte laut Brentano (1923, S. 311) in der europäischen Wirtschaftsgeschichte der freie Handel über Jahrhunderte die Emanzipation der Individuen von kollektiven Bindungen: „In dem Maße, in dem die einzelnen Angehörigen der Gesamtheiten, die jeweils eine Wirtschaftseinheit bilden, unter den Einfluß des Handels gelangen, fangen sie an, sich von deren Gebundenheit freizumachen". Der Handel wirkt somit nicht nur auf die Entstehung integrierter Wirtschaftsgebiete hin,

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

5

sondern auch von verzweigten Kommunikationsnetzen über kulturelle und politische Grenzen hinweg.4 In dem grenzüberschreitenden und systemöffnenden Wirken des Handels ist seit der Antike der primäre Grund für seine geringe gesellschaftliche Akzeptanz in nach außen und innen geschlossenen Gesellschaftsordnungen zu suchen. In einem Umfeld religiöser, ideologischer oder völkischer Enge und Abgrenzung, in dem die Verfolgung individueller materieller Interessen als unheroisch, unmoralisch, unwürdig, kleingeistig und schädlich für das in der Werteordnung dominierende Kollektiv angesehen wird, stellt die unternehmerische Weltoffenheit vieler Kaufleute eine Gefährdung des bestehenden Wertegerüstes dar. So wandten sich nicht nur die mittelalterliche Scholastik, Marx sowie die ihm folgenden Kommunisten, sondern auch der deutsche nationalkonservative Antiliberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zum Dritten Reich gegen das „parasitäre Krämertum" und die vermeintliche Ausbeutung durch den Handel. Das Kollektiv stand über den individuellen Interessen; die unternehmerische Freiheit von Händlern wurde beschränkt. Handelsbetriebe wurden in der Sowjetunion, aber auch zu Zeiten der deutschen Kriegswirtschaft zu Warenverteilern, die dem vermeintlichen Gemeinwohl zu dienen hatten. Vor diesem Hintergrund ist es gerade im Falle der aus der ideologischen Enge der Sowjetunion ausbrechenden Baltischen Staaten von Interesse, welchen Beitrag der „Wandel durch den Handel" zu der Errichtung einer offenen Gesellschaft und einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung zu leisten vermag. Es ist davon auszugehen, daß sich das Interesse an dem Transformationsprozeß der Baltischen Staaten im Zuge der fortschreitenden Annäherung an die Mitgliedschaft in der Europäischen Union in den kommenden Jahren erhöhen wird. Die vorliegende Arbeit ist darauf gerichtet, hierzu einen weiterfuhrenden Beitrag zu leisten.

4

"Der »Prozeß der Zivilisation« war immer - und wird immer mehr - zugleich eine Geschichte der Kommunikation durch den Markt" - von Dohnanyi (1997, S. 138). 5

In geschlossenen Gesellschaften werden die Vorbehalte gegenüber Kaufleuten oftmals mit Verschwörungstheorien gegen ethnische Minderheiten wie die Juden und Armenier im mittelaterlichen Europa oder - wie die Ausschreitungen im Jahr 1997/98 erneut belegen - gegen die Chinesen auf Indonesien verbunden. Diese Minderheiten waren mangels erlaubter Berufsalternativen in der Vergangenheit und aufgrund ihrer ausgeprägten kaufmännischen Findigkeit im Handel überrepräsentiert - vgl. Braudel (1986, S. 162 ff.). 6

Die Vorbehalte sind, unabhängig davon, ob sie von kommunistischer, nationalkonservativer oder nationalsozialsozialistischer Seite vorgebracht wurden, austauschbar. So hat laut einem Lehrbuch der Betriebswirtschaftslehre von Kruse (1942, S. 4) aus dem Dritten Reich die Wirtschaft „... höheren Zwecken des Staates und damit des Volkes zu dienen". Dann ist deijenige „... Handel, welcher in unnötiger Weise die Waren von Hand zu Hand weiterleitet (Kettenhandel) oder unberechtigte Gewinne erzielt, schädlich und kann in einer auf das Gesamtwohl abgestellten Wirtschaft nicht geduldet werden" - ebenda, S . l l .

Bertram Wiest

6

2.

Vorgehensweise

Der Aufbau der Arbeit ergibt sich aus den Stichwörtern des Titels: ,£ystemtransformation als evolutorischer Lernprozeß: Wirkungen des Handels auf den Produktionsaufbau am Beispiel der Baltischen Staaten". Er steckt vier Themengebiete ab (siehe Abbildung 1). Kapitel 2 legt die erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen für die Beschreibung der Systemtransformation als evolutorischen Lernprozeß. Der aus der biologischen Evolutionstheorie übernommene Begriff „Evolution" beschreibt nicht-determinierte, offene, irreversible und schöpferische Entwicklungsprozesse. Die Transformation der Zentralverwaltungswirtschañen sowjetischen Typs zu einer Marktwirtschaft westlicher Prägung soll in dieser Arbeit als ein evolutorischer Prozeß dargestellt werden, in dem bestehendes Wissen entwertet und neues Wissen entdeckt wird. Der evolutorische Charakter sozio-ökonomischer Veränderungsprozesse - wie zum Beispiel die Integration der Baltischen Staaten in die Weltwirtschaft - wird demnach durch die Lernfähigkeit der Wirtschaftssubjekte bestimmt. Sowohl die Herausbildung marktwirtschaftlicher Institutionen und Handlungsweisen als auch der Aufbau wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstrukturen in den Transformationsstaaten werden als wissenschaffende Prozesse beschrieben, die miteinander rückgekoppelt sind. Die Darstellung der Transformation als ein evolutorischer Lernprozeß setzt eine erkenntnistheoretische und methodologische Fundierung voraus. In Kapitel 2. 1. werden die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Arbeit dargelegt. Bezugspunkt ist der „hypothetische Realismus" der Evolutionären Erkenntnistheorie. Hierauf aufbauend werden in Kapitel 2. 2. in Anlehnung an Karl Poppers „Theorie der Wechselwirkung" menschliche Lernprozesse beschrieben. Diese sind von jenen Verhaltenstheorien abzugrenzen, die auf der experimentellen Psychologie beruhen und von einigen Vertretern der „Evolutorischen Ökonomik" sowie der „Neuen Institutionenökonomik" vertreten werden. In Kapitel 2. 3. werden die vorangegangenen Ergebnisse in Form eines Handlungsmodells zusammengeführt und für die weiteren Untersuchungen operationalisierbar gemacht. In Kapitel 3 wird das Themengebiet ,¿Systemtransformation" behandelt. Die Transformation der ehemaligen Zentralverwaltungswirtschañen sowjetischen Typs setzt einen alle Lebensbereiche der Menschen umfassenden institutionellen Wandel voraus. Die Analyse der vom Handel ausgehenden Impulse für die Allokationsentscheidungen der Wirtschaftssubjekte hängt davon ab, ob trotz der Komplexität dieses Übergangs länderübergreifende Erklärungsmuster für die Anpassungsleistungen und Lernprozesse der Wirtschaftssubjekte identifiziert werden können. Nur wenn sich empirisch gehaltvolle Aussagen über den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen institutionellen Arrangements wie beispielsweise dem Wechselkursregime oder der Privatisierungsmethode sowie der individuellen Entscheidungslogik treffen lassen, erschließen sich die Lernprozesse der Wirtschaftssubjekte einer theoretischen Analyse. Es gilt demnach, bestehende Wechselwirkungen zwischen der Transformationspolitik einerseits und der spontanen Herausbildung marktwirtschaftlicher Verhaltensmuster und Institutionen andererseits zu erfassen. In Kapitel 3. 1. wird der Auffassung entgegen getreten, die Transformation sei in jedem Land aufgrund kulturspezifischer Eigenarten ein singulares

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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Ereignis, welches eine länderspezifische Transformationspolitik verlange. Es wird dagegen die Meinung begründet, daß sich die Transformation weder der theoretischen Analyse noch einer Transformationspolitik entzieht, welche sich an dem in Kapitel 3. 2. zu entwickelnden, allgemeinen normativen Anforderungskatalog orientiert. Ziel der Ausfuhrungen ist es, einen Beurteilungsmaßstab für die Analyse des Transformationsprozesses in den Baltischen Staaten zu erarbeiten. Kapitel 4 diskutiert den Verlauf der Transformation in den Baltischen Staaten. In Kapitel 4. 1. wird der Zerfall der Sowjetunion aus Sicht der Baltischen Staaten behandelt. Kapitel 4. 2. befaßt sich mit der Umsetzung und den Auswirkungen der zuvor aufgeführten Anforderungen an die Transformationspolitik in Estland, Lettland und Litauen. Der Transformationsprozeß wird in drei Phasen unterteilt, die durch zu bewältigende Transformationshürden voneinander abgegrenzt werden. Hierdurch soll die Vergleichbarkeit der Transformationsverläufe in den Baltischen Staaten erhöht werden. Die Ausführungen in Kapitel 4 verfolgen zwei Ziele: Zum einen soll die Vorteilhaftigkeit einer möglichst zügigen und konsequenten Transformationspolitik anhand der Baltischen Staaten belegt werden. Zum anderen soll der historische und polit-ökonomische Rahmen für die in Kapitel 5 zu analysierenden phasenspezifischen Impulse des Handels in den Baltischen Staaten bereitgestellt werden. In Kapitel 5 werden die Wirkungen des Handels auf den sachlichen, räumlichen und zeitlichen Aufbau der Produktion herausgearbeitet. Es soll gezeigt werden, daß in Abhängigkeit von der jeweils verfolgten Transformationspolitik und dem vorherrschenden Grad an Erwartungssicherheit durch den Handel Wettbewerbs- und Lernprozesse generiert werden, die den Aufbau international wettbewerbsfähiger Industrien einleiten. Ausgangslage der Betrachtung ist der starke Rückgang der industriellen Produktion in den baltischen Staaten. Kapitel 5. 1. diskutiert die Gründe für den Niedergang der baltischen Industrien und die bestehenden Politikoptionen. Hierbei wird auf die Forderungen nach einer staatlichen Industrie- und Technologiepolitik eingegangen, die eine Beschränkung des Wachstums im Handel zum Ziel hat. Um diese Position widerlegen und die Entwicklungen im Handel und in der verarbeitenden Industrie in den Baltischen Staaten theoretisch erfassen zu können, bedarf es eines Referenzpunktes. Worauf beruht die Nachfrage nach Handelsleistungen und welche gesamtwirtschaftlichen Impulse gehen in Marktwirtschaften vom Handel aus? In Kapitel 5. 2. werden daher die Marktleistungen des Handels in entwickelten Marktwirtschaften herausgearbeitet. Ziel des Kapitels ist es, den Zusammenhang zwischen dem Selektionswettbewerb innerhalb der Sortimente des Handels und der Ausrichtung der verarbeitenden Industrie an der Nachfrage der Endverbraucher zu verdeutlichen. Welche Ausgangsbedingungen im sowjetischen Binnenhandel für die Herausbildung marktwirtschaftlicher Strukturen im Transformationsprozeß herrschten, wird in Kapitel 5. 3. beschrieben. Es soll deutlich werden, daß das Unterbinden von Wettbewerb im Handel eine der Ursachen für den chronischen Mangel an nachgefragten Konsumgütern in der Sowjetunion war. Die Gegenüberstellung des Handels in entwickelten Marktwirtschaften einerseits und Zentralverwaltungswirtschaften sowjetischen Typs andererseits

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eröffnet hierbei einen sektorspezifischen Blickwinkel auf den Vergleich der Wirtschaftssysteme. In Kapitel 5. 4. soll anhand der Entwicklung von Handel und verarbeitender Industrie in den Baltischen Staaten sowie konkreter Fallbeispiele von einzelnen Unternehmen gezeigt werden, daß das für den Aufbau wettbewerbsfähiger Industrien relevante Wissen von den Wirtschaftssubjekten im Marktprozeß entdeckt wird. Im Vordergrund steht die These, daß der Innovationswettbewerb im Handel um nachfragegerechte Sortimente einen Innovationswettbewerb um neue Produkte auf den vorgelagerten Marktstufen in der verarbeitenden Industrie nachzieht. Auf welche Quellen stützt sich die Analyse des Handels im Transformationsprozeß der Baltischen Staaten? Weder die vom Handel ausgehenden Impulse für den Aufbau wettbewerbsfähiger Industrien, noch der Transformationsprozeß in den Baltischen Staaten haben bisher viel Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern auf sich gezogen. Monographien mit einem vergleichbaren Forschungsschwerpunkt standen nicht zur Verfügung. Auf Arbeiten über angrenzende Themengebiete konnte nur in sehr begrenztem Umfang zurückgegriffen werden. Daher basieren viele Einschätzungen der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen auf Berichten baltischer und internationaler Medien, auf Informationen aus dem Internet, auf eigenen Anschauungen während mehrerer Aufenthalte in den Baltischen Staaten sowie auf persönlichen Gesprächen mit Ökonomen und Politikwissenschaftlern, die vor Ort tätig sind. Um die beschriebenen Lern- und Anpassungsprozesse auf der Mikroebene belegen zu können, wurde primär auf Veröffentlichungen der jeweiligen Statistischen Ämter, der Notenbanken und der Wirtschaftsministerien zurückgegriffen. Da die statististischen Ämter selbst sowie ihre Erhebungsmethodik und die Systematik der Datenverarbeitung einen tiefgreifenden Wandel durchliefen, mußten viele Daten auf ihre Plausibilität hin überprüft werden. Dort, wo Widersprüche - zum Beispiel zu den Analysen des Internationalen Währungsfonds - bestehen, wurde dies vermerkt und kritisch diskutiert. Als sehr informativ erwiesen sich die halbjährlichen HWWA-Reporte über den Transformationsprozeß in den Baltischen Staaten, welche von dem HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung-Hamburg veröffentlicht werden. Auch die englischsprachige Wochenzeitung „The Baltic Times" und ihre Vorgänger waren sehr ergiebige Informationsquellen.

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

Abbildung 1: Aufbau der Arbeit nach Stichwörtern des Titels

Kapitel 2 Stichwort: evolutorische Lernprozesse

Kapitel 3 Stichwort; Systemtransformation

Wodurch zeichnen sich evolutorische Lernprozesse aus?

Wie läßt sich die Transformation theoretisch erfassen?

Wie lassen sich evolutorische Lernprozesse in ein ökonomisches Handlungsmodell integrieren?

Gibt es Orientierungspunkte für die Transformationspolitik?

Systemtransformation als evolutorischer Lernprozeß: Wirkungen des Handels auf den Produktionsaufbau am Beispiel der Baltischen Staaten

Kapitel 4 Stichwort: Baltische Staaten Wie verlief die Transformation in Estland, Lettland und Litauen?

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KAPITEL 2: ERKENNTNISTHEORETISCHE GRUNDLAGEN

UND

METHODOLOGISCHE

„Die Probleme der Formung unserer Kultur und ihrer Institutionen sind in letzter Linie eng verwandt mit den Problemen der Entwicklung unseres Denkens und seiner Werkzeuge". F.A. von Hayek (1969, S. 16)

1. 1.1.

Die Evolution menschlicher Erkenntnisfähigkeit Problemstellung und Vorgehensweise

Wirtschaftliches Handeln basiert auf Plänen. Diese drücken Erwartungen über zukünftige Entwicklungen aus, die für die Zielsetzung und -Verfolgung der Wirtschaftssubjekte von Relevanz sind. Die gebildeten Erwartungen sind Ausdruck des subjektiven Wissens der Wirtschaftssubjekte zum Zeitpunkt der Erwartungsbildung. Das Ausmaß, in dem der Mensch die ihn umgebende Umwelt erfassen und richtig deuten kann, hat einen weitreichenden Einfluß auf das wirtschaftliche Handeln. Allen volkswirtschaftlichen Theorien liegen demnach Annahmen über die Korrektheit und den Umfang menschlichen Wissens sowie über den Prozeß des Wissenserwerbes zu Grunde. Es stellt sich die Frage, welche erkenntnistheoretischen Annahmen einer ökonomischen Analyse des Transformationsprozesses zu Grunde zu legen sind. Der Begriff „Erkenntnis" umfaßt hierbei zum einen den Prozeß des Erkennens, zum anderen dessen Ergebnis, das Wissen. Geht man von den erkenntnistheoretischen Prämissen neoklassischer Gleichgewichtsmodelle aus, verfugen die Wirtschaftssubjekte entweder über das vollständige Wissen der für sie relevanten Umwelt oder sie sind in der Lage, es durch den Einsatz von Ressourcen zu erwerben {Albert 1977, S. 185 ff.). Der Erwerb von Wissen unterliegt einem individuellen Optimierungskalkül, Irrtümer und subjektive Wahrnehmungsfehler sind ausgeschlossen. Diese erkenntnistheoretische Position ist dem naiven Realismus zuzuordnen. Lernen besteht in der Absorption von Umweltphänomenen und hat rein induktiven Charakter. Die Transformation von Wirtschaftssystemen müßte sich als ein umfassender qualitativer Sprung beschreiben lassen, der in ein neues Gleichgewicht mündet. Die einzelnen Transformationsmaßnahmen werden sofort verhaltenswirksam. Sowjetische Verhaltensmuster zeigen keinerlei Beharrungsvermögen; Glaubwürdigkeitsprobleme der Transformationspolitik spielen eine untergeordnete Rolle. Warum in den Transformationsländern mit dem „timing" und „sequencing" der Transformationsschritte sowie mit einzelnen institutionellen Arrangements wie beispielsweise der Wahl

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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des Wechselkursregimes oder der Privatisierungsmethode unterschiedliche Erfahrungen gemacht wurden, läßt sich nicht analysieren. Lernprozesse der Wirtschaftssubjekte, in denen das für eine effiziente Allokation der Ressourcen erforderliche Wissen erworben wird, lassen sich nicht abbilden, da dieses bereits vorausgesetzt wird. Um unterschiedliche Transformationsverläufe sowie Lern- und Anpassungsprozesse in den Transformationsstaaten diskutieren zu können, bedarf es der Berücksichtigung der kognitiven Komponente der Willens- und Erwartungsbildung. Sie ermöglicht es, einen Zusammenhang zwischen dem jeweiligen institutionellen Arrangement der einzelnen Transformationsstaaten und der individuellen Entscheidungslogik herzustellen. Allerdings ist es in den Sozialwissenschaften umstritten, welche Annahmen bezüglich des Umfangs und der Natur menschlichen Wissens für das zu verwendende Handlungsmodell zu treffen sind. Daher sollen im folgenden die in dieser Arbeit zu Grunde gelegten erkenntnistheoretischen Prämissen auf Basis der evolutionären Erkenntnistheorie hergeleitet werden. Seit der Antike stellt die Grenze menschlicher Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit ein zentrales Thema der Philosophie dar. Das Spektrum bestehender Theorien läßt sich zwischen die Pole des naiven Realismus und des Idealismus einordnen {Albert 1987, S. 43 ff.): (1.) der naive Realismus geht davon aus, daß die reale Welt und die menschliche Wahrnehmungen von ihr deckungsgleich sind; (2.) der Idealismus beinhaltet die These, daß es keine bewußtseinsunabhängige Außenwelt gibt. Die phänomenale und reale Welt sind nicht zu trennen. Da kein Korrektiv für den Wahrheitsgehalt von Theorien und Hypothesen besteht, ist der Mensch nicht erkenntnisfahig. Zwischen diesen extremen Positionen ist (3.) die evolutionäre Erkenntnistheorie angesiedelt. Deren Erkenntnisobjekt ist zum einen die Evolution der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, zum anderen die Entwicklung menschlicher Erkenntnis in Form abstrakten Wissens, wie sie vor allem von Karl Popper thematisiert wurde. Sie befaßt sich somit sowohl mit der Evolution der menschlichen Kognition, den physiologischen Prozessen, die zur Erkenntnis führen, als auch mit der Erkenntnis selbst als Träger der kulturellen Evolution. Dieser Verbindung von biologischer und kultureller Evolution liegt die These zu Grunde, daß die Anpassung von Organismen an die Umwelt im Zuge von ungerichteten Erbgutvariationen und deren Selektion in der biologischen Evolution Parallelen zum Wissenserwerb des Menschen durch Imagination, Versuch und Irrtum oder wissenschaftliches Forschen aufweist (Campbell 1987, S. 46). 1.2.

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie

Ausgangspunkt der Evolutionären Erkenntnistheorie ist Konrad Lorenz's (1983, S. 95 ff.) kritische Auseinandersetzung mit Kants „apriori". Kant befaßte sich in seiner „Kritik der reinen Vernunft" mit dem Wesen und Ursprung menschlicher Erkenntnis. 7

Kant setzte sich kritisch mit dem von D. Hume und J. Locke vertretenen Empirismus auseinander. Dieser vertritt die Auffassung, daß alle Erkenntnis auf Sinneswahrnehmungen zurückgeht, deren assoziative Verknüpfung eine Folge von Gewohnheit ist. Um diese Gleichsetzung von Erkenntnis und Erfahrung zu widerlegen, ging Kant

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Bertram Wiest

Er unterscheidet zwischen der realen Existenz von Objekten in unserer Umwelt sowie ihrer Erscheinung in Form menschlicher Wahrnehmung. Kant stellte die Frage, ob Erfahrungswissen über unsere Umwelt ohne ein Ordnungsmuster, welches den Sinneswahrnehmungen unterlegt wird, überhaupt möglich sei. Hierbei kommt er zu dem Schluß, daß die menschliche Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt durch feststehende Anschauungsformen von Raum und Zeit sowie durch Denkkategorien bestimmt seien (Kant 1990, S. 66 fF. sowie S. 115 ff.). Diese Anschauungsformen und Denkkategorien haben apriorischen Charakter, da sie nicht der Erfahrung entstammen 9

können, die sie ja erst ermöglichen. Es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen Kants apriorisches Wissen für die menschliche Erkenntnisfähigkeit hat. Da die apriorischen Anschauungsformen und Denkkategorien idealen Charakter haben, ermöglicht die menschliche Wahrnehmung eine nur ideale Abbildung der realen Umwelt. Regelmäßigkeiten und Ordnungsmuster, die der Mensch in seiner Umwelt wahrnimmt, sind Produkte der schöpferischen Aktivität des menschlichen Geistes, der die Sinnesdaten ordnet und interpretiert. „Der Verstand schöpft" somit „seine Gesetze (apriori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor" (Kant 1965, S. 79). K. Lorenz befaßt sich kritisch mit dem apriorischen Charakter der Anschauungsformen und Denkkategorien, indem er die Entstehung und Entwicklung der menschlichen Vernunft und des Gehirns in den Kontext der biologischen Evolutionstheorie setzt. Der Begriff „Evolution" wird im Sinne von Entwicklung angewandt. In seiner Verwendung in der Biologie bezeichnet er eine Veränderung der Organismen in der Generationenfolge.10 Die Selektion von Eigenschaften eines Organismus findet a posteriori statt. Sie der Frage nach, wodurch die Wahrnehmung der Außenwelt und damit die Erfahrung bestimmt sei. 8

9

10

Diese Trennung von außersubjektiver Wirklichkeit und Erscheinung grenzt Kants „transzendentalen Idealismus" von demjenigen Idealismus ab, demzufolge die Außenwelt nicht unabhängig von unserem Bewußtsein existiert. Den Zusammenhang zwischen empirischer Erfahrung und apriori vorhandener Erkenntnis beschreibt Kant (1990, S. 186 b f.) wie folgt: „Wir können uns keinen Gegenstand denken, ohne durch Kategorien, wir können keinen gedachten Gegenstand erkennen, ohne durch Anschauungen, die jenen Begriffen entsprechen. Nun sind alle unsere Anschauungen sinnlich, und diese Erkenntnis, sofern der Gegenstand derselben gegeben ist, ist empirisch. Empirische Erkenntnis aber ist Erfahrung. Folglich ist uns keine Erkenntnis apriori möglich, als lediglich von Gegenständen möglicher Erfahrung. Aber diese Erkenntnis, die bloß auf Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt ist, ist darum nicht alle von der Erfahrung entlehnt, sondern, was sowohl die reinen Anschauungen, als die reinen Verstandesbegriffe betrifft, so sind (sie; Anmerkung B.W.) Elemente der Erkenntnis, die in uns apriori angetroffen werden." Das apriorische Wissen der Menschen wäre somit apriori gültig. Die auf der darwinistischen Selektionstheorie aufbauende moderne synthetische Evolutionstheorie unterscheidet zwischen einer genotypischen und einer phänotypischen Ebene. Der Genotypus - die genetischen Erbanlagen, das Genom - bestimmt die potentiell möglichen Handlungsprogramme und Eigenschaften eines Organismus. Durch ungerichtete Variationen des Genoms können Organismen völlig neuartige Eigenschaften erwerben. Handlungsdispositionen werden in Form des genetischen Codes

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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erfolgt nach gegenwärtiger Angepaßtheit und läßt Kriterien für zukünftige Reproduktionserfolge offen. Evolutorische Veränderungen sind somit nicht zielgerichtet (Mayr 1988, S. 185 ff.). Es werden keine vorab bestimmten spezifischen Eigenschaften erzeugt. Die Umweltbedingungen stehen in Wechselwirkung mit den durch sie selektierten Organismen. Wären sie statisch, so würde in der biologischen Evolution nicht etwas wirklich Neuartiges entstehen, sondern es gäbe nur ein Aufdecken gegebener ökologischer Nischen durch Organismen. Die Evolution wäre ein teleologischer Prozeß, der einem Gleichgewicht entgegenstrebt, in dem alle Nischen durch optimal angepaßte Organismen besetzt sind. Dies ist jedoch nicht der Fall, da Umwelt und Organismen sich gegenseitig affizieren, da für jeden Organismus andere Organismen Teil der ihn umgebenden Umwelt sind. Die Umweltbedingungen stehen also nicht über den durch sie selektierten Organismen, sondern verändern sich in Wechselwirkung mit diesen. Affizieren sich Umwelt und Organismen gegenseitig und treten Variationen des Genoms ungerichtet auf, so ist die biologische Evolution ein nicht determinierter, offener, irreversibler und schöpferischer Prozeß. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie geht von der These aus, daß Gehirn und menschliche Vernunft organisch und in Wechselwirkung mit der natürlichen Umwelt entstanden sind. Um sich dem Selektionsdruck in den ihnen angestammten ökologischen Nischen zu entziehen, testen Organismen auf der „Suche nach einer besseren Welt" das ihnen zur Verfügung stehende Verhaltensrepertoire in ihrer Umwelt. Das Suchen und Experimentieren von Organismen läßt sich als Erwartung beschreiben, bessere Lebensbedingungen zu finden. Popper (1984, S. 253) interpretiert es in diesem Sinne als Hypothesenbildung. Diejenigen Erbgutvariationen erwiesen sich hierbei in dem natürlichen Selektionsprozeß als vorteilhaft, die es Organismen ermöglichten, ihr Such- und Experimentierverhalten so zu steuern, daß falsche Hypothesen nicht zur Eli-

vererbt. Die phänotypische Ebene umfaßt all die Eigenschaften eines Organismus, die sich auf Basis der genetischen Erbanlagen in der jeweiligen Umwelt ausprägen. Über deren Überlebensfähigkeit entscheidet ihre arterhaltende Funktion in Abhängigkeit von der sie umgebenden Umwelt. Aufgrund der Begrenztheit überlebensnotwendiger Ressourcen geht von der Umwelt ein Selektionsdruck aus. An ihre Umwelt besser angepaßte Phänotypen haben gegenüber schlechter angepaßten Organismen einen Selektionsvorteil, der sich in ihrem Überlebens- und Reproduktionserfolg widerspiegelt. Der Grad an Umweltangepaßtheit stellt folglich das Selektionskriterium für Eigenschaften und Handlungsdispositionen von Organismen dar.

ii

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Wächtershäuser (1987, S. 122 ff.) beschreibt, wie Mutationen Protobakterien in die Lage versetzten, durch Photosynthese der Nahrungsknappheit in ihrem angestammten Milieu zu entfliehen. Die Strahlung des Lichtes diente somit der Nahrungsaufnahme. Dies hatte jedoch weitreichende Rückwirkungen auf die Umwelt, da die Entstehung der Photosynthese den Aufbau der Erdatmosphere ermöglichte. Diese wiederum zerstörte und eröffnete Lebensräume und erzwang durch Selektion weitere Anpassungen der Organismen. Popper (1987a, S. 11); diese Sichtweise rückt von der in der traditionellen Evolutionstheorie verbreiteten Ansicht ab, daß Organismen sich ausschließlich reaktiv, das heißt durch Selektion an ihre Umwelt anpassen.

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mination des Organismus führten ( M a y r 1979, S. 264 ff.). Falsche Hypothesen müssen korrigierbar sein. Dies setzt voraus, daß das Verhalten nicht völlig genetisch fixiert ist, sondern daß Organismen aus Erfahrungen, das heißt aus getesteten Hypothesen lernen können. Während Anpassungen des Genoms nur in der Generationenfolge stattfinden, wurde es Organismen durch die Herausbildung von Nervensystemen möglich, Augenblicksinformationen zu verwerten. Die Entwicklung von Wahrnehmungsorganen und Gehirn ermöglichen ein Abtasten der Umwelt, indem Informationen aufgenommen und verarbeitet werden. Je genauer die Auflösung und Interpretation der für das Überleben relevanten Umweltinformationen hierbei ist, desto eher können Organismen Situationen vermeiden, in denen falsche Erwartungen über die in der Umwelt herrschenden Bedingungen zu ihrem Tode führen. Vertreter der Evolutionären

Erkenntnistheorie 14

sehen in der biologischen Evolution

einen erkenntnisschaffenden Prozeß. Sie begründen menschliche Erkenntnisfahigkeit durch die Anpassung der Wahrnehmungsorgane und des Gehirns an eine reale Umwelt. Kants apriorischen Anschauungsformen und Denkkategorien sind somit ein a posteriori der menschlichen Stammesgeschichte. Sie sind nicht apriori gültig, sondern haben hypothetischen Charakter. Es besteht keine Isomorphie zwischen Realität und Wahrnehmung, sondern nur eine überlebensadäquate Erfassimg der jeweils relevanten Umwelt. Der Mensch ist in der Lage, Hypothesen über die ihn umgebende reale Umwelt zu bilden, und durch Versuch- und Irrtums-Verfahren eine Annäherung an die Strukturen der realen Umwelt zu erzielen. Neues Wissen entsteht ausschließlich durch das Erproben und Testen aufgestellter Hypothesen. Das Erfahrungselement in unserem Wissen beschränkt sich lediglich auf die Konfrontation der Hypothesen mit der Wirklichkeit. Der Fortschritt des Wissens besteht demnach „...in der Modifikation, in der Korrektur früheren Wissens" {Popper 1994, S. 41). Grundsätzliche Erkenntnisfahigkeit

Wächtershäuser (1987, S. 121) sieht in dem evolutionären Ursprung der Wahrnehmung „... the transition from long-term problem solving by biological evolution to short-term problem solving by sensory Cognition." '4 Vgl. Lorenz (1988, S. 33 f.); vgl. auch Popper (1987, S. 31 f.) sowie Campbell (1987, S. 46) „Um es grob, aber bildhaft auszudrücken: Der Affe, der keine realistische Wahrnehmung von dem Ast hatte, nach dem er sprang, war bald ein toter Affe - und gehört daher nicht zu unseren Urahnen" - Simpson (1963, S. 84), zitiert nach Vollmer (1990, S. 103). 16

So beschreibt Riedl (1983, S. 161) die apriori-Bedingungen für jeden Erkenntnisgewinn als „... a posteriori Lernprodukte, Anpassungsprodukte, das Ergebnis phylogenetischen Erfahrungsgewinns"; vgl. auch Popper (1987, S. 29 f.). So ist zum Beispiel die menschliche Sehfähigkeit auf einen Ausschnitt des elektromagnetischen Spektrums begrenzt, der von 380 bis 760 Nanometer reicht - vgl. Wächtershauser (1987, S. 122 ff.). In einer fremden Umgebung kann es zu Fehleistungen und Verfälschungen kommen, wie die verzerrte Sehfähigkeit des Menschen unter Wasser aufgrund der von der in Luft verschiedenen Lichtbrechung illustriert.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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des Menschen und der hypothetische Charakter all seines Wissens finden ihren Ausdruck in dem hypothetischen Realismus, wie er von der Evolutionären Erkenntnistheorie vertreten wird. Für die Herleitung eines Handlungsmodells auf Basis des hypothetischen Realismus ist im folgenden darzulegen, wie Menschen Hypothesen aufstellen und neues Wissen erwerben. 2.

Determiniertes versus selbstbestimmtes Handeln

2.1.

Problemstellung und Vorgehensweise

Sind menschliche Lernprozesse durch Umweltreize determiniert oder spiegeln sie Anpassungsleistungen selbstbewußt handelnder Individuen wider? Bestehen Wechselwirkungen zwischen dem Sein und dem Bewußtsein? Von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, ob die zu untersuchenden Lernprozesse in den Transformationsländern auf die bewußte und aktive Suche der Wirtschaftssubjekte nach einer Verbesserung der Lebensumstände zurückfuhrbar sind. Nur wenn rationales und bewußtes Handeln unterstellt werden kann, läßt sich ein Zusammenhang zwischen der Implementierung ordnungskonstituierender marktwirtschaftlicher Institutionen im Transformationsprozeß und der individuellen Entscheidungslogik herstellen. Bewußtes menschliches Handeln und die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Institutionen setzen eine „Theorie der Wechselwirkung" voraus, wie sie von Popper vertreten wird. Der Mensch muß in der Lage sein, kritisierbare Theorien über die ihn umgebende Umwelt zu entwerfen und diese zu testen. Gesellschaftliche Institutionen wie die Sprache und moralische Verhaltensregeln stellen kritisierbare Modelle der relevanten Umwelt dar. Auch der traditionellen Volkswirtschaftstheorie liegt die Annahme zu Grunde, daß der Mensch ein selbstbewußt handelndes Wesen ist, dessen Verhalten aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten von ihm bewußt gesteuert werden kann. Menschliches Denken und Entscheiden sind nicht durch Umweltfaktoren determiniert. Es bestehen Wechselwirkungen zwischen der physischen Welt in und um den Menschen herum sowie seinem Bewußtsein. Der methodologische Individualismus der traditionellen ökonomischen Theorie stellt somit eine dualistische Position dar. Zu einem anderen Handlungsmodell gelangen monistische Theorien menschlichen Verhaltens, welche auf dem behaviouristischen Forschungsprogramm aufbauen. Ziel ist eine verhaltenswissenschaftliche Fundierung menschlichen Handelns auf Basis der experimentellen Psychologie, wie sie bereits von einigen amerikanischen Institutionalisten vertreten wurde ( M e y e r 1978, S. 83 ff.). Regelmäßigkeiten im Verhalten leiten sich aus

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Vgl. Lorenz (1988, S. 18); vgl. auch Popper (1984, S. 38 ff.); auch von Hayek (1976a, S. 3 f., S. 16, S. 82 sowie S. 173) vertritt eine vergleichbare Position, ohne jedoch der evolutionären Erkenntnistheorie zugeschrieben werden zu können. Da weder der Realismus noch der Idealismus einem Falsifizierbarkeitstest unterworfen werden können, ist auch der hypothetische Realismus im Sinne Poppers als ein metaphysisches Postulat aufzufassen.

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internalisierten Gewohnheiten ab. Institutionen sind weder kritisier- noch gestaltbare gesellschaftliche Regeln, sondern unreflektierte und unreflektierbare Routinen. Kognitive Faktoren, die dem individuellen Lernen zu Grunde liegen, werden weitgehend ausgeklammert. Aktive und bewußte Suchprozesse der Wirtschaftssubjekte auf Basis ihres unvollständigen und unsicheren Wissens sind nicht mit dem vertretenen wissenschaftstheoretischen Positivismus vereinbar. Verhaltensänderungen der Wirtschaftssubjekte im Transformationsprozeß müßten durch sich verschiebende und überlappende Verstärkungskontingenzen beschrieben werden. Da monistische Theorien Eingang in die evolutorische Ökonomik fanden und zu völlig anderen Schlußfolgerungen über den Transformationsprozeß und die Vorteilhaftigkeit unterschiedlicher Transformationsstrategien führen, als sie in dieser Arbeit vertreten werden, sollen sie Poppers „Theorie der Wechselwirkung" gegenübergestellt und kritisch diskutiert werden. Hierbei wird stellvertretend für andere Theorien, die auf der experimentellen Psychologie aufbauen, auf den radikalen Behaviourismus zurückgegriffen, da er ein in sich geschlossenes theoretisches Gebäude aufweist und die Grundlage für Fortentwicklungen darstellt, auf die sich beispielsweise Witt (1987, S. 1 ff.) in der evolutorischen Ökonomik beruft. 2.2. 2.2.1.

Selbstbewußtes Handeln und K. Poppers Theorie der Wechselwirkung Die drei „Welten"

K. Popper vertritt eine pluralistische Position, indem er zwischen den drei Ebenen von Sein, Bewußtsein und abstraktem Wissen unterscheidet, die miteinander in Wech19 selwirkung stehen : - Welt 1: Welt 1 umfaßt alle physikalischen Objekte, die natürliche Umwelt des Menschen, von ihm hergestellte oder veränderte Gegenstände sowie die physiologischen Prozesse, die in dem Menschen selbst ablaufen. Sie besteht in materiellen Körpern und Prozessen, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Welt 1 spiegelt Poppers Realismus wider. Es gibt eine reale Welt unabhängig von den menschlichen Sinneswahrnehmungen. - Welt 2: Unter Welt 2 faßt Popper alle bewußten und unbewußten psychischen Zustände des Menschen zusammen. Neben Gefühlen, Motivation und Kreativität beinhaltet Welt 2 das individuelle Wissen des Menschen, welches sich in explizites und implizites Wissen unterteilen läßt. Explizites Wissen ist bewußt abruf- und formulierbar. Es setzt sich aus bewußten Erfahrungen und Wahrnehmungen sowie dem beispielsweise in der Schule und aus Büchern erlernten objektiven Wissen der Welt 3 zusammen. Implizites Wissen - Popper nennt es „implizites Gedächtnis" oder „background knowledge" - umfaßt angeborene und erlernte Verhaltensdispositionen, derer der Mensch sich nicht bewußt ist. Es ermöglicht, wahrgenommene Einzelmerkmale zu kohärenten

" Siehe Popper (1984, S. 160 ff.); siehe auch Popper und Eccles (1984, S. 61 ff.). 20

Siehe Popper und Eccles (1984, S. 580 ff ); siehe auch Popper (1994, S. 134 ff.).

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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Einheiten zu integrieren und damit Regelmäßigkeiten in die Umwelt hineinzulesen. Will man, ausgehend von der Fallibilität und Begrenztheit menschlichen Wissens, Aussagen über soziale Phänomene wie zum Beispiel die Marktkoordination treffen, bedarf es einer Theorie menschlichen Lernens und der mentalen Verarbeitung von Umweltinformationen. Nur wenn diese eine nachprüfbare Systematik aufweisen, läßt sich individuelles Handeln auf Basis von Erfahrungen und subjektiven Theorien über die Umwelt analysieren. Bewußten Denkprozessen liegen Sinneswahrnehmungen zu Grunde, die bereits eine Interpretation eines Vorkommnisses in der Umwelt auf Basis früherer Erfahrungen darstellen. Sinnesqualitäten werden äußeren Objekten hierbei zugeschrieben und leiten sich nicht direkt von diesen ab. Die Sinnesqualitäten sind somit nicht den Objekten eigen, sondern werden durch frühere Erfahrungen in diese hineingelesen. Durch die Existenz von zuvor akkumuliertem Wissen kann der Mensch zwischen den unterschiedlichen Qualitäten der Sinneswahrnehmungen diskriminieren (von Hayek 1976a, S. 167). Das implizite Wissen bildet ein abstraktes Ordnungsmuster - von Hayek bezeichnet es als die „Sinnesordnung" - , welches als Referenz für die Klassifizierung von Sinneswahrnehmungen dient. Wahrgenommene Regelmäßigkeiten in der Umwelt werden innerhalb der Sinnesordnung in Form von Regeln verarbeitet, die verallgemeinernde „wenn..., dann..." Beziehungen widerspiegeln. Unter konkurrierenden Regeln werden diejenigen für die Interpretation von Umweltsituationen herangezogen, denen der höchste Erklärungsgehalt zugeschrieben wird. In Abhängigkeit von gegebenen Problemstellungen modelliert die Sinnesordnung die natürliche und soziale Umwelt. Aus der assoziativen Verknüpfung einzelner „wenn..., dann..." Regeln und der Bildung von Analogien ergeben sich Regel-Cluster, welche als Kategorien bezeichnet werden (Holland et al. 1986, S. 92 ff. sowie 177 ff.). Die gebildeten Kategorien müssen einen hohen Abstraktionsund Allgemeinheitsgrad aufweisen, um den Menschen in die Lage zu versetzen, auf heterogene Einzelereignisse schließen zu können. Die Kategorien stellen demnach

Das Bestreben, eine Verbindung zwischen Gesetzmäßigkeiten der Verarbeitung von Umweltinformationen einerseits und menschlichem Handeln andererseits herzustellen, liegt von Hayeks (1976a, S. 1 ff.) „The Sensory Order" zu Grunde. Nachdem dieses Werk bisher nur geringe Beachtung fand, wird von Hayeks Theorie der Entstehung und Veränderung der Sinnesordnung von neueren Forschungsarbeiten bestätigt - vgl. Holland et al. (1986, S. 1 ff.). 22

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Die Positionen Poppers und auch von Hayeks sind hierbei sehr kantianisch: „The qualities which we attribute to the experienced objects are strictly speaking not properties ofthat object at all, but a set of relations by which our nervous system classifies them or, to put it differently, all we know about the world is of the nature of theories and all „experience" can do is to change these theories" - von Hayek (1976a, S. 143); vgl. auch Kapitel 2.1.2. Hieraus folgert von Hayek (1978, S. 37) the „primacy of the abstract": „... the mind must be able to perform abstract operations in order to be able to perceive particulars, and that this capacity appears long before we can speak of a conscious awareness of particulars". Der Zusammenhang zwischen Abstraktionsgrad der gebildeten Kategorien und deren Anwendbarkeit auf Einzelphänomene ist vergleichbar mit dem em-

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Klassifizierungsmuster dar, die den assoziativen Schluß von einem Einzelereignis auf eine größere Klasse von Ereignissen erlauben. Sie sind Theorien über die relevante Umwelt, die durch Versuch und Irrtum korrigiert werden. Lassen sich neu gebildete Regeln, die bisher unbekannte Umweltphänomene beschreiben, nicht in bestehende Kategorien integrieren, erfolgt eine Reklassifizierung durch Spezialisierung innerhalb der Kategorien oder durch die Bildung neuer Klassifizierungsmuster. Die kognitive Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen läßt sich somit als ein mehrstufiger Prozeß beschreiben, in dem die Komplexität der Umwelt durch miteinander konkurrierende und sich hierarchisch überlagernde Regeln und Kategorien abgebildet wird. Aufbauend auf das implizite Wissen wird auch das explizite Wissen in Form abstrakter Regeln und Kategorien geordnet, die den vorbewußten Klassifizierungsmustern entsprechen. U m Regelmäßigikeiten in die natürliche und soziale Umwelt hineinlesen zu können, werden Einzelereignisse unter allgemeine Regeln subsumiert. Der Prozeß der Klassifizierung und Reklassifizierung bei auftauchenden Widersprüchen, des Aufstellens von Theorien und deren Falsifikation wiederholt sich somit auf höherer Ebene. - Welt 3: Sie umfaßt „...die Welt der Ideen im objektiven Sinne; es ist die Welt der möglichen Gegenstände des Denkens..." ( P o p p e r 1984, S. 160), die „...Erzeugnisse des menschlichen Geistes, wie Erzählungen, erklärende Mythen, Werkzeuge, wissenschaftliche Theorien (wahre wie falsche), wissenschaftliche Probleme, soziale Einrichtungen und Kunstwerke" (Popper und Eccles 1984, S. 64). Die Objekte der Welt 3 können in ihrer materiellen Form - wie zum Beispiel Bücher - der Welt 1 angehören; der in ihnen ausgedrückte Inhalt ist jedoch nicht materiell, sondern in Poppers Welt 3 angesiedelt. Ihr Kern ist die menschliche Sprache. Sprachliche Symbole lösen das Lernen von seiner 25

Objektgebundenheit. Diese Fähigkeit zur Abstraktion ermöglichte erst die Anhäufung von überindividuellem Wissen und dessen Tradierung. Welt 3 setzt sich aus abstrakten Produkten schöpferischer geistiger Aktivität des Menschen zusammen, die in ihrer kon-

pirischen Gehalt wissenschaftlicher Sätze: je weniger spezifiziert die „wenn"-Komponente eines Satzes ist, desto höher ist der empirische Gehalt der schlußfolgernden „dann"-Komponente. 24

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Von Hayek (1976a, S. 107 f.) sieht in der permanenten Reklassifizierung innerhalb der Sinnesordnung durch das zentrale Nervensystem ein Indiz dafür, daß die mentale Rekonstruktion der äußeren Welt sich dieser sukzessive annähert. Dieser Annäherung sind jedoch innerhalb von Welt 2 Grenzen gesetzt. Sie werden durch die begrenzte und unterschiedlich diskriminierende Aufnahme externer Stimuli durch die Sinnesorgane sowie durch Ungenauigkeiten der gebildeten Klassifizierungsmuster bestimmt. Vgl. Lorenz (1988, S. 215); Lorenz (1988, S. 232) sieht dabei die Objekte von Welt 3 als bestimmend für die individuelle Lernprozesse innerhalb von Welt 2 an: „Zu dem „Weltbildapparat", den wir angeborenermaßen mitbringen, kommt ein geistiger, kultureller Überbau, der uns, ganz ähnlich wie die Strukturen angeborener kognitiver Mechanismen, Arbeitshypothesen an die Hand gibt, die richtungsbestimmend fiir unseren weiteren, individuellen Wissenserwerb werden."

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kreten Verwirklichung die menschliche Kultur ausmachen. Welt 3 beinhaltet objektives kollektives Wissen. Welt 3 ist in sich teilweise autonom und zum Teil auch spontan entstanden.2 Aus Fragestellungen und Theorien können sich neue Probleme und Schlußfolgerungen ergeben, die niemand beabsichtigt oder vorhergesehen hat, sondern die entdeckt werden. Popper (1994, S. 30) führt als Beispiel das System natürlicher Zahlen an. Aus diesem System ergeben sich nun neue Fragestellungen wie zum Beispiel die nach der Verteilung und dem Fortlaufen der Primzahlen. Diese Fragestellungen existieren unabhängig von unseren subjektiven Denkprozessen und Bewußtseinszuständen. Sie sind dem System natürlicher Zahlen immanent. Welt 3 beschreibt somit objektiv vorhandenes überindividuelles Wissen, welches in sich teilweise autonom ist. Welt 3 „. transzendiert ihre Schöpfer" {Popper 1984, S. 165). 2.2.2.

Menschliches Selbstbewußtsein als Produkt von Welt 3

Popper hält monistischen Theorien wie dem radikalen Behaviourismus entgegen, daß der Mensch bewußte Erlebnisse hat. Er kann sich als handelndes Subjekt in seiner Umwelt wahrnehmen und über sich reflektieren {Popper und Eccles 1984, S. 91 ff., S. 605 f.). Selbstbewußtsein ist ein Produkt der Wechselwirkungen, die zwischen abstrakten Theorien, Gesetzen der Logik, der Sprache sowie Verhaltensregeln und Tradi-

Aus der Kritisierbarkeit und der grundsätzlichen Fallibilität allen Wissens folgt, daß es ein Regulativ für das objektive Wissen in Welt 3 geben muß. Dies betrifft jedoch nicht Welt 3 als Ganzes, sondern nur den Teil der wissenschaftlichen Theorien, der versucht, eine möglichst wirklichkeitsnahe Aussage über Welt 1 zu machen. Während die Kunst, die Musik, die Mythen und Geschichten aufgrund ihres „metaphysischen" d. h. nicht-wissenschaftlichen Charakters - nicht auf Basis ihrer Wahrheitsnähe kritisierbar sind, bedürfen wissenschaftliche Theorien eines Vergleichs- und Beurteilungskriteriums. Theorien werden zum einen auf logische Konsistenz geprüft, zum anderen auf empirischen Wahrheitsgehalt - siehe Popper (1982, S. 41 ff.). Dies setzt voraus, daß es eine objektive Wahrheit gibt, die durch Theorien angenähert werden kann. Popper vertritt hierbei in Anlehnung an Tarski die Korrespondenztheorie von Aussagen und Fakten - für eine einführende Beschreibung von Tarskis Korrespondenztheorie siehe Popper (1994a, S. 101 ff.) sowie Popper (1984, S. 44 ff.), vgl. auch Popper (1982, S. 219, Fußnote 1). Im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist die Wahrscheinlichkeit jeder Theorie, wahr zu sein, nahe null - siehe Popper (1982, S. 428 ff.). Da der Mensch die Wahrheit nicht kennt, kann er nur die relative Wahrheitsnähe von miteinander konkurrierenden Theorien feststellen. Es lassen sich Aussagen über die wahrscheinliche Wahrheitsnähe einer Theorie im Vergleich zu einer konkurrierenden Theorie treffen. Dieser Vergleich des empirischen Gehalts zweier Theorien ist identisch mit ihrem Falsifizierbarkeitsvergleich - vgl. Popper (1982, S. 85). Am Beispiel der Entstehung der Sprache erläutert Popper (1984, S. 165) den spontanen Charakter eines großen Teils von Welt 3: „Ahnlich wie der Honig wohl von den Bienen ein nicht bewußt geplantes Produkt ist, so ist die menschliche Sprache, und damit ein wesentlicher Teil der Welt 3, ein nicht geplantes Produkt menschlicher Tätigkeiten".

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tionen einerseits und individuellen Denkprozessen und psychischen Zuständen andererseits bestehen. So „...ist die spezifisch menschliche Welt 2 - das volle „Ich-Bewußtsein"- ein Rückkoppelungsprodukt von Welt 3 und besonders des Aufstellens von Theorien" {Popper 1979, S. 277). Selbstbewußtsein impliziert, daß der Mensch zwischen sich und seiner Umwelt trennen kann, wie es im Gebrauch der Personalpronomina deutlich wird, „or to put it in another way, the seif, or the ego, is the result of achieving a view of ourselves from outside, and thus placing ourselves into an objective structure. Such a view is only possible with the help of a descriptive language". Die Sprache ermöglicht die Bildung von abstrakten Theorien und ist damit die Quelle menschlicher Selbstreflektion. Objekte der Welt 3 wie eben die Sprache, aber auch gesellschaftliche Institutionen und wissenschaftliche Theorien affizieren Welt 2 und umgekehrt. Teile von Welt 3 wie beispielsweise Regeln der Grammatik und des moralischen Verhaltens werden von den einzelnen Individuen verinnerlicht oder bewußt übernommen und sind somit auch Teil des subjektiven Wissens des Einzelnen. Der einzelne Mensch lernt sie bewußt und unbewußt während seiner Sozialisation. Dies hat weitgehende Auswirkungen auf das tatsächliche Verhalten des Menschen, welches auf seine physische Umwelt - und damit auf Welt I - gerichtet ist. Menschliches Selbstbewußtsein ist somit nicht nur ein Epiphänomen der physikalischen Welt, sondern in der Lage, auf diese rückzuwirken. Es transzendiert neuronale Prozesse und damit Welt 1 (Popper und Eccles 1984, S. 434 ff.). Menschliches Lernen ist ein Produkt der Wechselwirkungen zwischen den drei Welten. Ausgehend von bisherigen Erfahrungen stellt der Mensch aktiv Hypothesen über die ihn umgebende reale Umwelt auf. So beinhaltet beispielsweise ein Wirtschaftsplan subjektive Theorien über eine Vielzahl an Einflußfaktoren und Wirkungszusammenhängen. Firmen prognostizieren Marktentwicklungen, Anleger bilden Theorien über die zu erwartende Rendite und die Risiken verschiedener Anlageformen. Wirtschaftssubjekte bilden auf Basis bestehender kollektiver Regeln Erwartungen über das Verhalten anderer Individuen. Stellen sich die jeweiligen Hypothesen als falsch heraus, setzt ein Lernprozeß ein, in dem das bestehende Wissen korrigiert wird und neue Hypothesen 28

Popper (1994a, S. 115); nur anhand der deskriptiven und argumentativen Funktionen der Sprache lassen sich regulative Ideen wie Wahrheit, Gehalt, Wahrheitsgehalt und Wahrheitsähnlichkeit einfuhren. Ein Beispiel ist das menschliche Todesbewußtsein, welches unmittelbar mit dem Selbstbewußtsein verknüpft ist. Es setzt ein Wissen voraus, welches auf einer abstrakten Theorie der Zeit basiert und damit sprachlich verankert ist. Wenn sich Wissen auf unreflektiert gespeicherte Gewohnheit beschränkte, wäre der Mensch nicht in der Lage, eine Vorstellung vom Verlauf der Zeit und der eigenen Endlichkeit zu entwickeln. So wird Tieren gemeinhin diese Vorstellungskraft und damit Selbstbewußtsein abgesprochen. Ihr Modell der Umwelt beschränkt sich auf unreflektiertes Erfahrungs- und Wahrnehmungswissen.

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Laut Eccles bestehen „... deutliche Hinweise darauf, daß wir die dominante, das heißt die Sprachhemisphäre, mit der erstaunlichen Fähigkeit zu assoziieren haben, bewußte Erfahrungen bei der Wahrnehmung entstehen lassen zu können und auch von ihnen beim Ausfuhren gewollter Bewegungen zu empfangen" - Popper und Eccles (1984, S. 369).

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aufgestellt werden. Menschliches Lernen basiert auf der aktiven Theorienbildung und nicht auf Induktion. 2.3. 2.3.1.

Der Monismus des radikalen Behaviourismus Verstärkungskontingenzen und menschliches Verhalten

Rational abwägende Wirtschaftssubjekte sind mit dem Behaviourismus nicht vereinbar. Im radikalen Behaviourismus ist menschliches Verhalten durch operante Konditionierung und Reizassoziation bestimmt. Demnach wird Verhalten in Abhängigkeit von zeitlich versetzten Konsequenzen ausgeprägt. Reize können Verhalten sowohl positiv als auch negativ verstärken31. Lernen beschränkt sich auf Reizassoziation durch Gewohnheitsbildung und hat rein induktiven Charakter. Probleme werden nicht durch Versuch und Irrtum gelöst, sondern durch das Abspulen eines konditionierten Programmes. „Eine Lösung ist eine Reaktion, die in dieser bestimmten Stärke im Repertoire der Person existierte..." und kann demzufolge nicht auf neuartige Ideen oder Schlußfolgerungen zurückgehen (Skinner 1973, S. 235). Sinnesqualitäten, aus denen sich das Verhalten ableitet, sind Eigenschaften bestimmter Objekte. Neues Wissen entsteht durch eine Überlagerung oder Verschiebung verhaltensauslösender Reize. Wissen reduziert sich demzufolge auf unreflektiertes Wahrnehmungs- und Erfahrungswissen, auf bestehende Verstärkungskontingenzen, die das Verhalten bestimmen. Verhaltensänderungen der Wirtschaftssubjekte im Transformationsprozeß wären auf sich verschiebende Verstärkungskontingenzen zurückzuführen und nicht auf bewußtes Handeln.

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Siehe Skinner (1973, S. 64 ff.); die Behandlung des radikalen Behaviourismus konzentriert sich im folgenden auf B.F. Skinners Schriften. Dies erscheint gerechtfertigt, da der radikale Behaviourismus weitgehend mit Skinner identifiziert wird - vgl. Day (1987, S. 13). Die Häufigkeit, in der ein genetisch festgelegtes Verhaltensmuster - ein sogenannter Operant - auftritt, wird durch äußere Reize sowie den vorangegangenen Deprivationsgrad bestimmt. Eine Ratte in einem Käfig läuft in unregelmäßigen zeitlichen Abständen von einer Ecke des Käfigs in eine andere. Dies ist ein in ihrer Erbanlage festgelegtes Programm, ein Operant. Steigt die Häufigkeit, in der die Ratte die jeweiligen Ecken aufsucht, wenn jeder Aufenthalt in einer Ecke mit Futter belohnt wird, so liegt eine operante Konditionierung vor. Eine Verhaltenskonsequenz wird in eine Abhängigkeitsbeziehung zu einem Verhaltensmerkmal gebracht. Es liegt eine Verstärkungskontingenz vor. Das Futter fungiert hierbei als Primärverstärker für die Verhaltensänderung. Der Lernerfolg ist um so wahrscheinlicher je größer der Hunger, das heißt der Deprivationsgrad ist. Tritt ein bis dahin neutraler Reiz wiederholt in Verbindung mit dem verhaltensauslösenden Reiz auf, so kann er selbst durch Reizassoziation als Verstärker wirken. Assoziierte Reize werden zu Sekundärverstärkern. Siehe Skinner (1973, S. 229 ff.); laut Holland et al. (1986, S. 151 ff.) ist diese Interpretation selbst bei Tierexperimenten umstritten. Lernen sei primär auf die Bestätigung beziehungsweise Nicht-Bestätigung von Erwartungen und nicht auf direkt wirkende Verstärkungskontingenzen zurückzufuhren.

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Der Mensch ist in seinen Assoziationen nicht frei, da dies ein Bewußtsein und die Fähigkeit zur Selbstreflexion voraussetzen würde. Skinner (1973, S. 264) zufolge ist das menschliche „Selbst" lediglich ein „...funktional-geschlossenes Reaktionssystem". Das Selbstbewußtsein ist höchstens ein Beiprodukt von Verstärkungskontingenzen und selbst nicht verhaltenssteuernd. In dem von ihm hierzu gegebenen Beispiel wirft ein Fischer nicht deshalb seine Netze aus, weil er sich des Zwecks, hierdurch Fische zu fangen, bewußt ist, sondern weil sein Netz-Auswerfen in der Vergangenheit positiv verstärkt worden ist. Menschliches Verhalten ist determiniert. Für den radikalen Behaviourismus ist nicht das handelnde menschliche Subjekt das wissenschaftliche Erkenntnisobjekt, sondern das durch Verstärkungskontingenzen ausgelöste Verhalten. Verstärkungskontingenzen sind das Explanans, das Verhalten ist das Explanandum. Dies hat zur Folge, daß Zwecke, Absichten, Motivation und Erwartungen unberücksichtigt bleiben. Eine Trennung zwischen Zielen und Mitteln ist somit nicht möglich. Verhalten löst Probleme und nicht der bewußt handelnde Mensch. 2.3.2.

Menschliches Selbstbewußtsein im Behaviourismus

Skinner (1988, S. 13 ff.) sieht in der Sprache den Ursprung von Selbstbewußtsein. Im Selektionsprozeß erwies sich die Herausbildung operanter Kontrolle der Sprachmuskulatur als vorteilhaft für den Menschen. Sprachliches Verhalten unterliegt Verstärkungskontingenzen, die von der „verbal Community" etabliert wurden, und kann nicht bewußt gesteuert werden (Skinner 1988c, S. 152 ff.). Äußere Reize beeinflussen die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Mensch bestimmte Wörter benutzt. Aufgrund von Sprache kann Verhalten auch durch Ratschläge, Verbote, Regeln und Gesetze geleitet werden, indem sie latent vorhandene Verstärkungskontingenzen spezifizieren. Die höheren Funktionen der Sprache, die menschliches Selbstbewußtsein begründen, lassen sich allerdings nicht in das behaviouristische Modell integrieren (Popper und Eccles 1984, S. 85 ff.). Dessen Analyse der Sprache beschränkt sich auf die Ausdrucks- und Kom-

Siehe Skinner (1988a, S. 397); Skinner scheint hier die Position des Epiphänomenalismus einzunehmen. Selbstbewußtsein wäre demzufolge ein Nebenprodukt physiologischer Prozesse und könnte nicht auf diese einwirken. Dies bringt Schnaitter (1987, S. 57) in einem Beitrag über die Epistemologie des radikalen Behaviourismus wie folgt zum Ausdruck: „Life in the external world is primary, the world of the mind is a pale and imperfect shadow." 34

Dualistische Theorien, in denen menschliches Verhalten auf Absichten, Einsicht und selbstbewußtes Entscheiden zurückgeführt wird, werden ausgehend von der positivistischen Grundhaltung der Behaviouristen als unwissenschaftlich gebrandmarkt vgl. Hayes und Brownstein (1987, S. 213 ff.); zur Kritik an dem Konzept von Wissenschaftlichkeit des Behaviourismus siehe Popper und Eccles (1984, S. 91). Dies kommt zum Ausdruck, wenn Skinner (1988b, S. 218) schreibt „Behaviour which solves a problem is distinguished by the fact that it changes another part of the solver's behaviour and is strenghtened when it does so .... Behaviour which solves a problem may result from direct shaping by contingencies or from rules constructed either by the problem solver or by others".

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munikationsfähigkeit, die auch Tieren gemein ist. Kommunikation besteht jedoch in der wechselseitigen Bildung von Sätzen, die aufeinander Bezug nehmen. Der Mensch formt Sätze, die zuvor nicht durch operante Konditionierung verstärkt wurden. 36 In dem Versuch, von Umweltreizen unabhängiges menschliches Reflektieren auszuschließen, wird bewußtes Denken darauf zurückgeführt, daß ein Sprecher bei gegebenen Verstärkungskontingenzen sich selbst zu Handlungen stimulieren kann. Grundsätzlich besteht kein Unterschied in der verbalen Stimulierung von Verhalten, ob ein Mensch zu sich selber oder ein anderer zu ihm spricht. Dies wird von Skinner damit begründet, daß das Selbst, welches spricht, anderen Verstärkungskontingenzen unterliegt, als das Selbst, welches zuhört (Skinner 1989, S. 96). Denken besteht demnach in der Selbststimulierung durch Selbstgespräche. Es setzt voraus, daß die möglichen Gegenstände unseres Denkens ebenso wie unsere sprachliche Ausdrucksfähigkeit ein geschlossenes System darstellen. Zu jedem möglichen Gegenstand müßten sich unterschiedliche Verstärkungskontingenzen niederschlagen. So würde nicht die Fähigkeit zur Abstraktion es dem Menschen ermöglichen, zu jeder Aussage das Gegenteil zu denken, sondern vorhandene, sich entgegengesetzte Verstärkungskontingenzen. Richtigkeit und Falschheit einer Aussage hingen von der Stärke der Verstärkungskontingenzen ab und wären somit rein subjektiv.

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Abgesehen von Grußformeln und Redeweisen hat die überwiegende Anzahl aller möglichen Sätze, die ein Mensch zu bilden in der Lage ist, eine relative Häufigkeit von nahezu null. Sprache ist kein geschlossenes System von verstärkten Wörtern und Sätzen, sondern eröffnet dem Menschen eine unbegrenzte Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten, sich selbst auszudrücken - vgl. Chomsky (1969, S. 267 f.); vgl. auch Boulding (1988, S. 25). In der Bildung von Sätzen ist der Mensch demzufolge kreativ.

"

Vaughan (1987, S. 261 f.); Vaughan (1987, S. 262) gibt ein Beispiel aus dem Bereich der Ökonomie für „self-generated, rule-govemed behaviour": Ein Anleger überlegt sich in Erwartung steigender Aktienkurse, seine Rentenpapiere in Aktien einzutauschen. Kursprognosen und Informationen über die Stärke des Dollars wirken als Kontingenzen. Indem der potentielle Anleger sich selbst die auf ihn wirkenden Kontingenzen beschreibt, ändert sich sein Verhaltensrepertoire gegenüber Aktien. Es stellt sich die Frage nach dem Gehalt dieses Erklärungsansatzes im Vergleich zur traditionellen Portfoliotheorie. In ihr fließen frühere Erfahrungen mit dem Kauf von Aktien in die Risikopräferenzen ein. Erwartungsbildung und Entscheidung gehen bei gegebenen Risikopräferenzen jedoch auf bewußtes Suchen, Abwägen und Verarbeiten von Informationen zurück. Kursprognose und Informationen fallen einem potentiellen Anleger nicht einfach zu, sondern sie werden durch aktives Suchen erworben.

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Skinners (1978, S. 155) Beschreibung der Subjektivität von Wahrheit schließt Lügen aus, welches ja ein Bewußtsein einer als objektiv betrachteten Wahrheit voraussetzt: „Die Wahrheit einer praktischen Aussage wird durch die Verhaltensursachen eines Sprechers begrenzt sowie durch die gegenwärtig von seiner Umgebung ausgeübte Kontrolle, die Auswirkungen einer ähnlichen Umgebung in der Vergangenheit, die Auswirkungen auf den Hörer, die zu größerer Präzision fuhren oder zu Übertreibungen bzw. Widerlegungen."

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U m selbstbewußtes Handeln, Imagination und Kreativität weiterhin ausschließen zu können, muß Kommunikation, rationales Verhalten, Denken und bewußte Regelbefolgung auf latente Verstärkungskontingenzen, auf eine „...long, complicated conditioning story" (Vaughan 1987, S. 260) zurückgeführt werden. Wie diese wirken, bleibt offen, da der Zusammenhang experimentell nicht simulierbar ist. Den an sich gestellten Anspruch der Wissenschaftlichkeit kann der radikale Behaviourismus nicht erfüllen. Die Gleichsetzung von Denken und verbaler Selbststimulation ist nur solange vereinbar mit der behaviouristischen Theorie, wie die Selbstgespräche durch äußere Reize determiniert sind. Wird allerdings eingestanden, daß der Mensch sich nach selbstaufgestellten Regeln richten kann, verliert die behaviouristische Theorie menschlichen Verhaltens ihren Erklärungsgehalt. Wie sich der Mensch selber zu Verhalten stimulieren kann, indem er sich selber Regeln setzt, ist im Rahmen der behaviouristischen Theorie nicht zu erklären. Verhalten wäre nicht determiniert.

3. Konsequenzen für das zu verwendende Handlungsmodell 3.1.

Nutzenmaximierung und satisfizierendes Verhalten

Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Gegenüberstellung des radikalen Behaviourismus mit Poppers Theorie der Wechselwirkung für das zu wählende Handlungsmodell? Gegen das ökonomische Handlungsparadigma des Nutzenmaximierers wird eingewandt, daß es der Fallibilität und Unvollständigkeit menschlichen Wissens nicht gerecht wird. Der Mensch sei keine Optimierungsmaschine, da er nur über begrenzte Denk- und Rechenkapazitäten verfüge. Demnach können seine Präferenzen weder vollständig noch konsistent sein. Dem auf Allwissenheit beruhenden nutzenmaximierendem Handeln wird von H.A. Simon das satisfizierende Verhalten entgegengestellt, welches 40

auf der Annahme einer nur eingeschränkten Rationalität der Menschen beruht. Angesichts nur unvollständigen Wissens über alle möglichen Handlungsalternativen und mangelhafter Voraussicht streben Wirtschaftssubjekte nur zufriedenstellende Ziele an. Die „satisficing"-Hypothese wird von einigen Ökonomen mit einem behaviouristischen Handlungsmodell unterlegt. Die von Witt (1987, S. 1 ff.) propagierte verhal-

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Skinner (1978, S. 161) scheint diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, wenn er schreibt „Verbales Verhalten spielt bei kontemplativem Wissen die Hauptrolle, weil es sich in hohem Maße für automatische Verstärkung eignet. Denn jeder Sprecher kann auch sein eigner Zuhörer sein." Siehe Simon (1982, S. 239 ff.); „Rational man is a satisficing rather than an optimizing animal. He is the former, if for no other reason, because he does not have the wits to be the latter" - Simon (1982, S. 396). In dem auf der satisficing Hypothese aufbauenden evolutorischen Modell von Nelson und Winter (1974, S. 891) kommen behaviouristische Reiz-Reaktions Mechanismen deutlich zum Ausdruck: „The basic behavioural premise is that a firm at any time operates largely according to a set of decision rules that link a domain of environmental stimuli to a range of responses on the part of firms". Die

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

t e n s w i s s e n s c h a f t l i c h e F u n d i e r u n g der evolutorischen Ö k o n o m i k zielt d a r a u f ab, Ergebnisse d e r e x p e r i m e n t e l l e n P s y c h o l o g i e in das ö k o n o m i s c h e H a n d l u n g s m o d e l l zu integrieren.

S e i n e „kognitivistische Interpretation" geht v o n d e r V o r s t e l l u n g hierarchisch

gegliederten V e r h a l t e n s aus. S o g e n a n n t e „ B a s i s m u s t e r " m e n s c h l i c h e n V e r h a l t e n s sind d u r c h V e r s t ä r k u n g s k o n t i n g e n z e n determiniert. D i e s e w e r d e n v o n k o g n i t i v e n P r o z e s s e n überlagert. W i e u n d unter w e l c h e n U m s t ä n d e n diese a u f das V e r h a l t e n einwirken, bleibt j e d o c h unklar. In reflektiertem u n d absichtsvollem H a n d e l n sieht Witt (1987, S. 126 f.) n u r eine M o d i f i k a t i o n der V e r h a l t e n s a n n a h m e n des radikalen B e h a v i o u r i s m u s . W i e in d e n v o r a n g e g a n g e n e n Kapiteln a u s g e f ü h r t , lassen sich j e d o c h w e d e r d i e G r u n d a n n a h m e n n o c h d i e S c h l u ß f o l g e r u n g e n des B e h a v i o u r i s m u s mit

absichtsvollem

und

s e l b s t b e w u ß t e m H a n d e l n vereinbaren. Eine in sich g e s c h l o s s e n e H a n d l u n g s t h e o r i e läßt sich aus d e r K o m b i n a t i o n b e i d e r V e r h a l t e n s a n n a h m e n a u f g r u n d der unvereinbaren 42

m e t h o d o l o g i s c h e n A u s g a n g s p u n k t e nicht entwickeln. rierende

V i e l m e h r stellen sie konkur-

T h e o r i e n dar, die sich an i h r e m e m p i r i s c h e n E r k l ä r u n g s g e h a l t m e s s e n lassen

müssen. E s besteht kein prinzipieller W i d e r s p r u c h z w i s c h e n der „ s a t i s f i c i n g " - H y p o t h e s e und d e m Rationalitätsprinzip. Z u trennen ist einerseits z w i s c h e n d e n V e r h a l t e n s a n n a h m e n und d a m i t der E n t s c h e i d u n g s r e g e l , a n h a n d derer z w i s c h e n w a h r g e n o m m e n e n

Hand-

l u n g s o p t i o n e n g e w ä h l t wird, u n d d e n A n n a h m e n b e z ü g l i c h des U m f a n g s u n d Charakters m e n s c h l i c h e n W i s s e n s andererseits. A u s d e m eingeschränkten schen folgt nicht d e s s e n eingeschränkte

Rationalität.

Simons

Wissen

des M e n -

Kritik an der Optimie-

r u n g s h y p o t h e s e bezieht sich auf die Erreichbarkeit globaler u n d o b j e k t i v e r M a x i m a , nicht j e d o c h a u f intentionales u n d rationales H a n d e l n .

Er verwendet den Begriff

„ b o u n d e d rationality" g l e i c h b e d e u t e n d mit d e m der „ s u b j e k t i v e n Rationalität".

Vor

Entscheidungsregeln sind hierbei als kurz- und mittelfristig invariabel angenommen und werden nicht flexibel angepaßt. Organisationen handeln, bewußte Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte sind ausgeschlossen. 42

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Zur Kontroverse über Empirismus und erkenntnistheoretischem Rationalismus im ökonomischen Denken siehe Meyer (1980, S. 80 ff.). Vgl. Langlois und Csontos (1993, S. 121 ff.).

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Der Kern des Konzeptes der eingeschränkten Rationalität „... was not", laut Simon (1992, S. 3), „that people are consciously and deliberately irrational, although they sometimes are, but that neither their knowledge nor their powers of calculation allow them to achieve the high level of optimal adaptations of means to ends that is posited in economics." 45

Simon (1982, S. 405): „In a broad sense, rationality denotes a style of behaviour (A) that is appropriate to the achievement of given goals, (B) within the limits imposed by given conditions and constraints .... The conditions and constraints ... may be objective characteristics of the perceived environment external to the choosing organism, they may be perceived characteristics, or they may be characteristics of the organism itself that it takes as fixed and not subject to its own control. The line between the first case and the other two is sometime drawn by distinguishing objective rationality, on the one hand, from subjective or bounded rationality on the other."

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dem Hintergrund ihres falliblen und subjektiven Wissens optimieren die Wirtschaftssubjekte. Die „Satisficing"-Hypothese läßt sich dahingehend interpretieren, daß sich Individuen einem Optimum durch ein gezieltes Versuchs- und Irrtumsverfahren annähern. Der Mensch setzt sich in Unkenntnis aller potentiell möglichen Handlungsalteran denen er sein Verhalten ausrichtet. nativen Ziele - sogenannte Anspruchsniveaus Sie haben den Charakter subjektiver Hypothesen, die von den Individuen getestet werden. In der Bildung dieser Hypothesen ist der Mensch frei. Die wahrgenommenen Optionen können sich durch soziale Interaktion vervielfachen. Stehen Individuen oder Organisationen zudem wie im Falle marktwirtschaftlicher Koordination in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander, bewirkt der vom Wettbewerb ausgehende Anpassungsdruck unter der Annahme konstanter Umweltbedingungen eine Selektion sowohl der Entscheidungsregeln, anhand derer Anspruchsniveaus bestimmt werden, als auch der Handlungsalternativen. Angesichts sich ändernder Umweltbedingungen ist es jedoch zweifelhaft, ob die jeweiligen Anspruchsniveaus sukzessive zu einem objektiven Optimum konvergieren (Alchian 1950, S. 219). Individuellen Suchprozessen fehlt der Vergleichsmaßstab, wenn sich die Selektionsbedingungen wandeln. Handlungsalternativen, die heute vorteilhaft erscheinen, können mit Nachteilen in der Zukunft verbunden sein. Die Konvergenz zu einem individuellen objektiven Optimum beziehungsweise einem allgemeinem Gleichgewicht ist unter realistischen Bedingungen somit unwahrscheinlich. Dies tangiert jedoch nicht die Verhaltensannahme der Nutzenmaximierung, sondern nur die Restriktionen, unter denen Individuen Entscheidungen treffen.

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Simon (1982, S. 417) bestätigt die Parallelen: „A satisficing decision procedure can often be turned into a procedure for optimizing by introducing a rule for optimal amount of search, or, what amounts to the same thing, a rule for fixing the aspiration level optimally". In einem Vergleich der Theorie der „bounded rationality" mit der Evolutionstheorie stellt Simon (1983, S. 73 f.) in Übereinstimmung mit der hier gewählten Interpretation des „satisficing"-Hypothese heraus, daß „in both theories, searching a large space of possibilities and evaluating the products of the search are the central mechanism of adaption. Both theories are myopic. Such optimization as they achieve is only local. They are best described not as optimization process, but as mechanisms capable of discovering new possibilities that are „improvements" over those attained earlier". Ist das Anspruchsniveau variabel und bleiben die Umweltbedingungen konstant, können durch wiederholte Versuchs- und Irrtumsverfahren die subjektiven Optima mit den objektiven konvergieren. Perlman (1990, S. 15): „... the spectrum of chooseables depends upon the individual s imaginative power. Such being so, the individual is limited neither to one moment's imaginative capacities nor to any single set of imagined outcomes. The imagination can be an unlimited process; it is mind in motion." Friedman (1953, S. 22) verteidigte die Profitmaximierungshypothese indem er auf die Selektion nicht maximierender Unternehmen auf Wettbewerbsmärkten hinwies. Winter (1971, S. 247) räumt ein, daß auf lange Sicht die Profitmaximierungshypothese mit satisfizierendem Verhalten der Unternehmen auf kurze Sicht vereinbar sei. Auch von Weizsäcker (1971, S. 360) betont die Kompatibilität beider Ansätze: „It is not difficult to see that this method of satisficing - given the feedback between setting and achieving goals - will, in the long run yield similiar results to maximization".

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Es wird in dieser Arbeit auf das Rationalitätsprinzip als metaphysisches Postulat zurückgegriffen, demzufolge menschliche Wahlakte bei exogen gegebenen Präferenzen 49

als uneingeschränkt rational angenommen werden. Das impliziert, daß der Mensch vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen und Theorien „...jeweils das in seinen Augen maximale Element des von ihm wahrgenommenen Möglichkeitenbereichs wählt" {Meyer 1980, S. 84). Die Verwendung des Rationalitätsprinzips wendet sich gegen den Reduktionismus und Determinismus behaviouristischer Theorien. Es ist jedoch irreführend, sie mit einer generellen Immunisierung gegenüber der Psychologie gleichzusetzen. Es besteht weitgehender Konsens darüber, daß sich empirisch gehaltvolle Theorien nicht durch praxeologische und rein analytische Aussagensysteme erstellen lassen. Entscheidungssituationen weisen keine ihnen inhärente Logik auf, die unabhängig von Zielen und Motivation der Individuen und somit auch psychologischen Faktoren ist. Die Annahme der Nutzenmaximierung setzt beispielsweise psychologische Hypothesen über diejenigen Faktoren voraus, die Nutzen schaffen. Sie werden in Form von ad hoc Annahmen wie zum Beispiel der Nichtsättigungshypothese oder der Annahme der RisikoAversion berücksichtigt. Je weniger spezifiziert jedoch die psychologischen Annahmen sind, desto größer wird der empirische Gehalt der Theorien sein.

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Aus der Tatsache, daß die Erwartungsnutzentheorie als empirisch widerlegt zu gelten hat, läßt sich nicht wie von Witt folgern, daß die Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte nicht rational seien - siehe Witt (1987, S. 142) sowie Kahnemann und Tversky (1979, S. 263 ff.), die nachwiesen, daß die Axiome der Theorie des subjektiven Erwartungsnutzen empirisch widerlegbar sind. Alternative Entscheidungstheorien, die auf der Optimierungshypothese aufbauen, sind von der empirischen Widerlegung der Erwartungsnutzentheorie aber nicht betroffen. Ford (1987, S. 22 ff.) weist daraufhin, daß die „Portfolio Selection Theory" von Micks mit allen untersuchten Phänomenen kompatibel ist. Im Unterschied zur Erwartungsnutzentheorie berücksichtigt sie nicht nur den Erwartungswert der Erträge verschiedener Handlungsalternativen, sondern auch in wie weit diese mit Risiken behaftet sind. Auch Entscheidungen unter Unsicherheit lassen sich unter Beibehaltung der Optimierungshypothese in einer Form modellieren, die mit den Versuchsresultaten von Kahnemann und Tversky vereinbar sind. Shackle (1990, S. 103 ff.) ersetzt beispielsweise die Wahrscheinlichkeitsverteilung durch das Unsicherheitsmaß der „potentiellen Überraschung". Die so gruppierten potentiellen Handlungsergebnisse schließen sich gegenseitig aus und sind unabhängig voneinander. Des weiteren werden alle wahrgenommenen potentiellen Handlungsergebnisse nach dem Grad ihrer Wünschenswertbarkeit bewertet. Durch die Anwendung einer Art Maximin-Regel entscheidet sich das Individuum für diejenige Handlungsalternative, von der es sich den maximalen Nutzen unter Berücksichtigung von Unsicherheit über das tatsächliche Handlungsergebnis erwartet. Um eine deterministische Interpretation seiner „Situationslogik" zu korrigieren, schlägt Popper (1984, S. 184 f.) vor, den Begriff „Situationslogik" durch den der „Situationsanalyse" zu ersetzen. Die Entscheidungslogik kann nur ein subjektives Problemlösungsverfahren vor dem Hintergrund der subjektiven Theorien und Erfahrungen sein. In Poppers (1984, S. 184) Augen ist die Anwendung des Rationalitätsprinzips auf menschliches Problemlösungsverhalten „... die Methode, die, wo immer es möglich ist, psychologische Erklärungen durch die Analyse von Welt-3-Beziehungen ersetzt".

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Wird von der Unvollständigkeit und Fallibilität menschlichen Wissens sowie dem Rationalitätsprinzip ausgegangen, dann impliziert der methodologische Individualismus den methodologischen Subjektivismus. Intentionales und zielgerichtetes Handeln der Individuen ist vor dem Hintergrund der jeweils subjektiv wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten zu analysieren. Dies schließt aus, daß aus Sicht eines allwissenden Beobachters auf nur eingeschränkte Rationalität der Individuen geschlossen wird, wenn sich der von ihnen wahrgenommene Handlungsraum nicht mit dem objektiv gegebenen deckt. In wie weit der subjektivistische Ansatz Aussagen über soziale Phänomene wie zum Beispiel Ergebnisse der Marktkoordination erlaubt, hängt von den angenommenen Riickkoppelungsmechanismen sozialer Interaktion auf das individuelle Handeln, und damit den individuellen Lernprozessen ab. Die Effektivität der Riickkoppelungsmechanismen wird durch gesellschaftliche Institutionen bestimmt, weshalb auf sie in Kapitel 3 noch eingegangen wird. 3.2.

Individuelle Wahlakte, Lernprozesse und die Produktionstheorie des Haushalts

Wie lassen sich Verhaltensänderungen und Lernprozesse, welche Voraussetzungen für die Transformation von Wirtschaftssystemen sind, in die mikroökonomische Entscheidungstheorie integrieren? In der traditionellen MikroÖkonomik werden individu-

Es wäre jedoch ein von Hutchison (1977, S. 60) ausfuhrlich diskutiertes Mißverständnis, hieraus abzuleiten, daß der bestehende trade off zwischen der Exaktheit der Annahmen bezüglich individuellen Handelns und der Konsistenz sowie dem Erklärungsgehalt einer Theorie dahingehend zu lösen sei, daß „as far as 'assumptions' are concerned, that virtually anything goes ...". Die Annahmen sind vielmehr annäherungsweise dadurch zu objektivieren, daß sie intersubjektiv nachprüfbar sind. 52

Diese Verbindung von methodologischem Individualismus und methodologischem Subjektivismus stellt einer der Kernpunkte der österreichischen Schule der Nationalökonomie dar - vgl. Geue (1997, S. 67). Die Unterschiede zum Behaviourismus sowie den Prämissen der neoklassischen allgemeinen Gleichgewichtstheorie werden in Lachmanns (1990, S. 3) Beschreibung des subjektivistischen Erkenntnisziels deutlich: es ist auf die Untersuchung sozialer Phänomene „... in terms of their inherent meaning, i.e. in terms of their meaning to actors" gerichtet. Daraus folgert er, daß „(2) social phenomena are the result of the interaction of actors conscious of the purposes they pursue. To actors, therefore, their action has ascertainable meaning, though not the same for all participants. (3) Choice is the prototype of social action. It requires a mind capable of weighing alternatives. Meaning presupposes a mind capable of attributing it. Subjectivism without the autonomy of the human mind would make little sense. (4) The research programme of subjectivism is thus incompatible with determinism in all its forms". Dies führt von Hayek (1976, S. 82) zu der Aussage, „... daß kein höheres Wissen, das der Beobachter über einen Gegenstand haben mag, das die handelnde Person aber nicht besitzt, uns beim Verständnis der Motive ihres Handelns helfen kann". Auch Coleman (1990, S. 18) hebt hervor, daß „... much of what is ordinarily described as nonrational or irrational is merely so because the oberservers have not discovered the point of view of the actor, from which the action is rational".

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eile Wahlakte durch die Präferenzen, das Einkommen und die relativen Preise bestimmt. Verhaltensänderungen lassen sich bei konstanten Einkommen und monetären Preisen nur auf eine Verschiebung von Präferenzen fur bestimmte Güter zurückfuhren. Diese Verschiebung der Präferenzenordnung entzieht sich jedoch allgemeinen Aussagen im Rahmen der ökonomischen Analyse. Verhaltensänderungen im Transformationsprozeß ließen sich einzig als Anpassungen auf Einkommens- und Preisverschiebungen untersuchen. Handlungswirksame Veränderungen im bestehenden sowjetischen Wertesystem und das Aufkommen neuer Handlungsaltemativen, welche die bestehende Präferenzenordnungen der Wirtschaftssubjekte tangieren, Einkommen und monetäre Preise aber nicht beeinflußen, müßten durch die ceteris paribus Bedingung von der Analyse ausgeschlossen werden. Diese Einengung des Untersuchungsgegenstandes läßt sich durch die von Becker und Stigler entwickelte Produktionstheorie des Haushaltes vermeiden. Ziel der Produktionstheorie des Haushaltes ist es, individuelles Handeln durch „...a generalized calculus of utility-maximizing behavior, without introducing the qualification „tastes remaining the same"" zu erklären. Die Produktionstheorie des Haushaltes beschreibt die Gewichtung verschiedener Handlungsalternativen unter Berücksichtigung auch nicht-monetärer Opportunitätskosten. In sie lassen sich Unsicherheit, Lernprozesse und das Wahrnehmen neuer Handlungsaltemativen integrieren. Sie vermag eine Erklärung dafür zu geben, warum individuelle Wahlakte selbst bei konstanten Präferenzen, Einkommen und monetären Preisen im Zeitablauf variieren können. Die Präferenzenordnung wird als konstant angenommen. Sie enthält Grundbedürfnisse wie zum Beispiel eine gute Gesundheit, soziale Eingebundenheit, Erfolg und soziales Prestige. Die Präferenzen beziehen sich somit nicht auf Marktgüter wie Autos oder Häuser, sondern auf überindividuelle Basispräferenzen „Zi". Ihre Konstanz im Zeitverlauf resultiert aus der Annahme, daß sie untereinander nur begrenzt substituierbar sind. Daher wird davon ausgegangen, daß die elementaren Präferenzen so abgestimmt sind, daß sie eine stabile und konsistente Präferenzenordnung ergeben. Individuen maximieren diese sich aus den Basispräferenzen ergebende Nutzenfunktion „U": 1.

U = u (Zi, Z2

Zn)

Die Nutzenfunktion berücksichtigt, daß am Markt gekaufte Waren und Dienstleistungen oftmals erst in nutzenspendende Güter transformiert werden müssen. Der Nutzen leitet sich nicht aus dem passiven Konsum von am Markt erstandenen Gütern

54

Stigler und Becker (1977, S. 76 ff.), siehe auch Becker (1993, S. 149 ff.).

55

Allerdings wird auch sie einer umfassenden Handlungstheorie nicht gerecht, da sie an der Trennung zwischen der Produktion von Einkommen durch Arbeit und der Produktion von Nutzen durch den Konsum von Gütern festhält. Das eigentliche Arbeiten wird mit negativem Nutzen für die Individuen belegt und dient ausschließlich der Einkommenerzielung, um einen Schattenpreis für Nichtarbeitszeit ermitteln zu können. Hierbei wird nicht berücksichtigt, daß bei einer Entscheidung zwischen Arbeit und Freizeit nicht ausschließlich substitutive Beziehungen bestehen, sondern diese in Abhängigkeit von der Leistungsmotivation auch additiv sein können.

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ab, sondern setzt aktives Handeln der Individuen voraus. Präferenzen beziehen sich auf selbstproduzierte Güter. Individuen wenden für die Handlungsalternativen, mit denen sie die Endprodukte produzieren, Ressourcen auf. Die jeweils wahrgenommenen Handlungsalternativen sind Teil der Variablen „E", die individuelle Fertigkeiten, Erfahrungen, subjektive Erwartungen und Theorien zusammenfaßt. In Abhängigkeit von ihrer individuellen Produktionstechnologie „E" produzieren Individuen durch den Einsatz von Zeit „ti" und am Markt erstandene Güterbündel „xji" die Basisgüter „Zi" : 2.

Zi = zi (xji, ti, E)

i = l,...,n ; j = /,..., m

Bei gegebener Produktionstechnologie wird die nutzenmaximale Kombination von Handlungsalternativen durch deren Schattenpreise bestimmt. Ein nutzenmaximierendes Individuum wird seine Ressourcen auf die Produktion zweier Güter so verteilen, daß das Verhältnis der Grenznutzen gleich dem ihrer Schattenpreise ist. Individuelle Lernprozesse lassen sich durch Veränderungen der Produktionstechnologie „E" ausdrücken. 57 Eine verbesserte Produktionstechnologie hat zur Folge, daß mit gegebenen Ressourcen eine größere Menge des nutzenstiftenden Basisgutes produziert werden kann. Das Faktoreinsatzverhältnis kann sich verschieben. Werden neue Handlungsaltemativen entdeckt, so verschieben sich die Opportunitätskosten der bereits bekannten Produktionsverfahren. Eine Verschiebung der Schattenpreise der Inputfaktoren kann sich sowohl auf die Wahl verschiedener konkurrierender Produktionsverfahren für ein bestimmtes Basisgut als auch auf die Nachfrage nach verschiedenen Basisgütern auswirken.

Die Schattenpreise leiten sich aus der monetären und zeitlichen Restriktion der Individuen ab. Die einem Individuum zur Verfugung stehende Zeit teilt sich in die Arbeitszeit und die Summe der auf sonstige Aktivitäten verwandten Zeit auf. Hierdurch ist es möglich, die Restriktionen fur die Zeit und das monetäre Einkommen eines Individuums in einer einzigen Ressourcenrestriktion auszudrücken. 57

58

Die Produktionstechnologie ist Element von Poppers Welt 2 und nur begrenzt objektivierbar. Sie umfaßt das individuelle Humankapital und damit sowohl das implizite Wissen als auch bewußte Einschätzungen und Theorien, die sich aus subjektiven Erwartungen und Erfahrungen ergeben. Die Produktionstechnologie spiegelt die jeweilige Geschichte und Dispositionen eines Individuums und damit dessen subjektives Modell der Umwelt wider. Im Gegensatz zu Produktionsunternehmen einer Branche geht vom Wettbewerb kein Druck auf eine Angleichung der Produktionstechnologien aus. Die jeweiligen Technologien in der Nutzenproduktion variieren zwischen Individuen. Das Endprodukt „individueller Nutzen" steht in keinem direkten Wettbewerbsverhältnis zu dem Nutzen anderer Individuen. Es ist nicht transferierbar und entzieht sich aufgrund seines subjektiven Charakters einer objektiven Bewertung. Eine umfassende wettbewerbliche Selektion zu Gunsten einer überlegenen Technologie findet daher nicht statt. Verschieben sich die Opportunitätskosten eines Basisgutes, kann sich in Abhängigkeit der bestehenden Kreuzpreiselastizitäten die Nachfrage verändern. Die Nachfrage nach demjenigen Gut, fur welches in der Produktion aufgrund von Lernprozessen relativ

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Es stellt sich die Frage, was durch die Produktionstheorie des Haushaltes gewonnen wurde. Der Produktionstheorie des Haushaltes liegen nicht Präferenzen für einzelne Marktgüter zu Grunde, sondern diese leiten sich aus grundlegenden Basispräferenzen ab. Nutzen wird durch den Einsatz von am Markt beziehbaren Gütern, Zeit und individuelles Wissen produziert. Anstelle von subjektiven und variablen Präferenzen wird von subjektiven und variablen Restriktionen in der individuellen Nutzenproduktion ausgegangen. Das Subjektivismus-Problem wurde somit verlagert. Verhaltensänderungen bei konstanten Preisen und Einkommen lassen sich auf Lern- und Experimentierprozesse der Individuen zurückführen, in denen sie neue Handlungsalternativen und Verfahren in der Nutzenproduktion testen. Im Gegensatz zu einem autonomen Präferenzenwandel lassen sich über den Verlauf dieser Lernprozesse Theorien aufstellen, die empirisch getestet werden können. Der Bezug zur Analyse des Transformationsprozesses wird deutlich, wenn man die Auflösung der Sowjetunion als umfassende Veränderung der zuvor bestehenden Handlungsrestriktionen versteht. In der Vergangenheit erfolgreich getestete Verhaltensweisen, die beispielsweise auf die Anforderungen in sowjetischen Jugend-, Betriebs- und Parteiorganisationen oder auf die Zuweisung von Bezugsrechten fur Wohnungen und langlebige Konsumgüter abgestellt waren, konnten sich unter den neuen Bedingungen als ungeeignet erweisen. Einzelne Maßnahmen der Transformationspolitik wie beispielsweise die Privatisierung von Wohnungen und Betrieben durch Vouchers oder die Öffnung der Märkte für westliche Konsumgüter veränderten den wahrgenommenen Handlungsraum und damit auch die Schattenpreise der zuvor bestehenden Handlungsalternativen. Ziel der Transformationspolitik muß es sein, den Handlungsraum der Wirtschaftssubjekte und die Schattenpreise der Handlungsalternativen dahingehend zu beeinflussen, daß das Erlernen und die Annahme marktwirtschaftlicher Verhaltensweisen vorteilhaft wird. Ob sich aus dieser Forderung ein Maßnahmenkatalog für die Transformationspolitik ableiten läßt, soll im folgenden geprüft werden.

weniger Ressourcen aufgewendet werden muß, kann bei positiver (negativer) Kreuzpreiselastizität der Nachfrage steigen (fallen). Dies läßt sich am Zweigüterfall illustrieren. Ein Individuum frage die zwei Güter Z, und Z2 nach. Bei r]Z,n2 > 0 wird das Wirtschaftssubjekt bei einem sinkenden Schattenpreis n 2 das Gut Z2 vermehrt nachfragen. Ist T|Z|7i2 < 0 hat eine Verminderung von n 2 zur Folge, daß mehr Ressourcen für die Herstellung und den Konsum von Gut Zi aufgewendet werden. Allerdings kann auch der Fall auftreten, daß Individuen ihren Gewohnheiten treu bleiben, obwohl ihnen überlegene Handlungsweisen bekannt sind (1*^712 = 0). Die scheinbare Überlegenheit der neuen Handlungsalternative kann durch den anfangs anfallenden Zeitaufwand überkompensiert werden, der nötig ist, um sie zu erlernen. Hat ein Individuum mit steigendem Alter aufgrund von Lernkurveneffekten eine hohe Produktivität in der Ausübung einer Handlungsweise erzielt, so kann es vorteilhafter sein, alte Verhaltensmuster beizubehalten.

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KAPITEL 3: INSTITUTIONELLER WANDEL UND DIMENSION DER TRANSFORMATION

DIE

POLITISCHE

„Menschen sind Träger der menschlichen Geschichte. Und das Handeln der Menschen ist entscheidend davon abhängig, was gedacht, gewollt und geglaubt wird". Walter Eucken (1990, S. 339)

1.

Erklärungsmuster institutionellen Wandels

1.1.

Problemstellung und Vorgehensweise

Lassen sich aussagefähige Annahmen über die Bedingungen treffen, unter denen Individuen marktwirtschaftliche Verhaltensmuster entwickeln sowie ob und wie diese Bedingungen politisch zu gestalten sind? Wenn die Transformation politisch gestaltbar ist, dann muß zwischen der in Estland, Lettland und Litauen verfolgten Transformationspolitik und den Lernprozessen der Wirtschaftssubjekte ein systematischer Zusammenhang bestehen. Diese Fragen lassen sich bis dato mangels einer in sich geschlossenen und empirisch gehaltvollen Theorie institutionellen Wandels nicht abschließend beantworten. Allerdings gibt es eine Vielzahl an Bausteinen für eine Theorie evolutorischer Prozesse in sozio-ökonomischen Systemen sowie eine Fülle an historischen Erfahrungen mit marktwirtschaftlichen Reformen. Im folgenden werden grundlegende theoretische Fragestellungen des institutionenökonomischen Forschungsprogramms auf 59

die Transformation von Wirtschaftssystemen bezogen. Ziel ist es, ein Erklärungsmuster für institutionellen Wandel im Transformationsprozeß sowie die Bedingungen für dessen politische Gestaltbarkeit herauszuarbeiten. Warum bereitet die Analyse institutionellen Wandels Schwierigkeiten? Gesellschaften lassen sich als Systeme organisierter Komplexität beschreiben. Die Komplexität wird durch den Umfang an funktionaler Differenzierung menschlichen Handelns in arbeitsteiligen Gesellschaften bestimmt. Aus der Vielfalt beobachtbarer Handlungsweisen können sich unterschiedliche Beziehungsgeflechte zwischen den Individuen herausbilden, die nicht chaotischer Natur sind, sondern gewisse Regelmäßigkeiten aufweisen.

59

Diese Fragestellungen skizziert North (1991a, S. 111) wie folgt: "Under what conditions does a (socio-economic, Anmerkung. B.W.) path get reversed ...? What is it about informal constraints that gives them such a pervasive influence upon the longrun Charakter of economies? How does an economy develop the informal constraints that make individuals constrain their behaviour so that they make political and judicial systems effective forces for third party enforcement?"

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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Die Vielzahl an sozialen, ökologischen, historischen, kulturellen und zwischenmenschlichen Einflußfaktoren auf die sich ergebenden Beziehungsgeflechte und Wechselwirkungen lassen sich allerdings aufgrund der begrenzten kognitiven Kapazitäten des Menschen nicht vollständig identifizieren. Selbst wenn alle Einflußfaktoren bekannt wären, erscheint die Ableitung eindeutiger wissenschaftlicher Gesetze aufgrund der großen Anzahl an Variablen und der Vielzahl der zwischen ihnen herrschenden funktionalen Beziehungen nicht möglich. „Aus diesem Grund ist die ökonomische Theorie auf die Beschreibung der Arten von Mustern beschränkt, die auftreten, wenn gewisse allgemeine Bedingungen erfüllt sind, aber aus diesem Wissen kann sie kaum, wenn überhaupt, irgendwelche Voraussagen über individuelle Phänomene ableiten". Dies trifft im besonderen auf die Analyse der Transformation einer Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs zu einer Marktwirtschaft zu. Sie kann sich nicht auf die vereinfachende ceteris paribus-Bedingung stützen und einzelne Phänomene wie beispielsweise den Zusammenhang zwischen der Marktform und der Preispolitik der Unternehmen isoliert vom ökonomischen und institutionellen Datenkranz betrachten, da eben dieser weitgehenden Veränderungen unterworfen ist. „Jede Transformation ist daher nur als komplexe Evolution denkbar, deren Ausgang sich nicht modelltheoretisch prognostizieren läßt" (.Herrmann-Pillath 1994, S. 288). Die Identifizierung von Transformationsmustem setzt voraus, daß der Übergang von einem Wirtschaftsordnungstyp zu einem anderen nicht primär von länder- und kulturspezifischen Gegebenheiten bestimmt wird. Dies impliziert, daß marktwirtschaftliche Verhaltensmuster und damit auch die informellen Regeln und moralischen Voraussetzungen marktwirtschaftlicher Koordination nicht kulturell verankert sein müssen, sondern sich autonom entwickeln können. Dieser Punkt ist kontrovers und von Relevanz für die Transformationspolitik. So wird gegen den Internationalen Währungsfonds (IMF) und unabhängige Berater wie J. Sachs immer wieder der Vorwurf erhoben, die von ihnen vorgeschlagenen Reform- und Stabilisierungspakete vernachlässigten die kulturellen und sozio-ökonomischen Eigenarten der jeweiligen Transformationsländer. Können Standardreformpakete, die beispielsweise in Lateinamerika, Estland oder Polen erprobt wurden, auf Lettland, die Ukraine oder Rußland übertragen werden? Können Transformationsländer voneinander lernen oder stellt die Transformation in jedem Land

60

Von Hayek (1972, S. 27); vgl. auch von Hayek (1969, S. 10 f.).

61

Daß sich die moralischen Voraussetzungen einer Marktwirtschaft autonom herausbilden können wurde besonders von Wilhelm Röpke (1966, S. 187) bestritten: „Markt und Wettbewerb sind weit davon entfernt, die ihnen notwendigen moralischen Voraussetzungen autonom zu erzeugen. Das ist der Irrtum des liberalen Immanentismus. Sie müssen von außen her erfüllt werden, und es sind umgekehrt Markt und Wettbewerb, die sie einer fortgesetzten Belastungsprobe aussetzen, sie beanspruchen und konsumieren". Hieraus lassen sich Argumente gegen die politische Gestaltbarkeit der Transformation ziehen: Müssen die moralischen Voraussetzungen einer Marktwirtschaft „von außen her erfüllt" werden, dann könnten beispielsweise die Religion und Traditionen eines Landes unüberwindliche Restriktionen für die Transformationspolitik darstellen.

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ein absolut singulares Ereignis dar, welches eine länderspezifische Politik erfordert?" Diesen Fragen liegt das methodische Problem zu Grunde, ob die Transformation von Wirtschaftssystemen primär ein „allgemein-theoretisches Problem" ist, oder ob sie von der Jeweiligen historisch-individuellen Lage" bestimmt wird. Trifft der zweite Fall zu, dann wäre sie ein singuläres Ereignis und könnte nur im historischen Kontext der jeweiligen Länder analysiert werden. In diesem Kapitel soll herausgearbeitet werden, daß sich trotz der Vielzahl an Einflußfaktoren theoretische Erklärungsmuster für den Zusammenhang zwischen individuellen Verhaltensanpassungen und unterschiedlichen politischen Transformationsstrategien identifizieren lassen. Auf der Basis des ordnungspolitischen Wissens um die systemkonstituierende Prinzipien der jeweiligen Wirtschaftssysteme und des institutionenökonomischen Forschungsprogramms soll ein falsifizierbarer Referenzpunkt für die Analyse der Transformationsprozesse in den Baltischen Staaten erarbeitet werden. In Kapitel 3.1.2. wird von Hayeks Theorie der kulturellen Evolution kritisch diskutiert.

Sie enthält zum einen Ansatzpunkte für die Auffassung, die Transformation von Wirtschaftssystemen sei in jedem Land ein singuläres Ereignis, das sich der politischen Gestaltbarkeit nach allgemeinen normativen Kriterien entzieht. Ordnungspolitik wäre nicht möglich. Zum anderen belegt von Hayeks Werk aber auch die Möglichkeit, daß eine marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung aus der Kenntnis der allgemeinen Bedingungen für ihre Herausbildung politisch gestaltet werden kann. Der Kern des zu diskutierenden Problems ist demnach, ob ein „Dilemma zwischen bewußter Gestaltung und spontaner Entwicklung"besteht (Von Delhaes 1993, S. 308). In Kapitel 3.1.3. wird auf

Basis des zu Grunde gelegten Handlungsmodells ein Erklärungsmuster für die Bestimmungsfaktoren institutionellen Wandels diskutiert, welches die Wechselwirkungen zwischen Institutionen und individuellem Handeln zu erklären versucht. Hierbei ist zu

Die Möglichkeit von den Erfahrungen anderer Länder zu lernen wird in den Transformationsländern oftmals bestritten. In den Baltischen Staaten traf der Verfasser wiederholt auf die Meinung, daß Lettland, Estland oder Litauen sich kulturell von dem Rest der Welt und untereinander in einem solchem Ausmaß unterscheiden, daß ihre jeweilige Transformation ein historisch absolut singuläres Ereignis darstellt. 63

64

Für Euchen (1965, S. 21) bestand hierin die „große Antinomie" der Volkswirtschafttheorie: „Mit Recht sieht der Nationalökonom das wirtschaftliche Alltagsgeschehen als Teil der jeweiligen historisch-individuellen Lage an; das muß er, wenn er nicht wirklichkeitsfremd werden will. Mit Recht sieht er in ihm aber auch ein allgemeintheoretisches Problem, - das muß er ebenfalls, wenn ihm nicht die Wirklichkeit in ihren Zusammenhängen entgleiten soll. Wie aber soll er beides vereinen? Tut er nur das eine oder nur das andere, so wird er wirklichkeitsfremd"; vgl. auch Leipold (1998, S. 15 ff.). Das Bestreben des Ökonomen muß es im Sinne Poppers sein, diesen Zwiespalt durch das Aufstellen von Theorien, die an der Wirklichkeit und historischen Erfahrungen scheitern können, aufzulösen. Die Allgemeine Systemtheorie wird hier nicht für die Analyse des Transformationsprozesses herangezogen, da Wechselwirkungen zwischen Regeln und individuellem Handeln nicht berücksichtigt werden. Nach Parson (1964, S. 337) ist es „... essential from the point of view of social science to treat the social system as a distinct and

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zeigen, unter welchen Bedingungen die moralischen Voraussetzungen einer Marktwirtschaft autonom entstehen können. Die daraus resultierenden Konsequenzen für den Transformationsprozeß und die Transformationspolitik werden in Kapitel 3.1.4. herausgearbeitet. 1.2. 1.2.1.

Singularität und Gestaltbarkeit der Transformation Von Hayeks antikonstruktivistischer Skeptizismus und die länderspezifische Singularität der Transformation

Von Hayek vertritt vor allem in seinem Spätwerk einen „antikonstruktivistischen Skeptizismus" (Vanberg 1994, S. 45), der implizieren kann, daß die Transformation von Wirtschaftssystemen in jedem Land ein singuläres Ereignis und nur begrenzt politisch gestaltbar ist. Er wendet sich gegen „...jene Entwurfs-Theorien menschlicher Institutionen..." (Von Hayek 1980, S. 106), die unterstellen, daß „...alle Institutionen, in deren Genuß die Menschheit steht, in der Vergangenheit erfunden worden sind und in der Zukunft erfunden werden sollten im klaren Wissen um die wünschenswerten Wirkungen, die sie hervorbringen" (Von Hayek 1969, S. 79). Die regelsetzende Kompetenz des Menschen beschränkt sich auf Versuche, bestehende Praktiken und Handlungsorientierungen zu formulieren. So hat die Rechtssetzung und Rechtssprechung die „...Aufgabe, etwas Bestehendes zu entdecken" und nicht „...etwas Neues zu schaffen, selbst wenn das Ergebnis solcher Bemühungen die Schöpfung von etwas sein mag, was vorher nicht bestanden hat". Formale Regeln sind für von Hayek oberflächliche Manifestationen von nur beschränkt erfaßbarem impliziten Wissen. Der bewußten Gestaltung und Übertragbarkeit von Regeln, um erwünschte und vorab definierte Ergebnisse zu erreichen, sind dadurch Grenzen gesetzt, daß - der einzelne Mensch die Regeln seines Verhaltens und dessen Auswirkungen gar nicht erfassen kann. Die Regeln sind nicht von den sie befolgenden Individuen zu trennen;

independent entity which must be studied and analyzed on its own level, not as a composite resultant of the actions of the component individuals alone". Regeln sind emergente Eigenschaften der jeweiligen Systeme und für das Individuum a priori gegeben. Aus der Existenz von Regeln wird auf deren Vorteilhaftigkeit für ein Gemeinwesen geschlossen und vorausgesetzt, daß Individuen diese auch befolgen. Diese funktionalistische Sichtweise ist mit dem methodologischen Individualismus nicht nur unvereinbar, sondern richtet sich explizit gegen das ihm zugrunde liegende individualistische Forschungsprogramm-vgl. Vanberg (1975, S. 178 ff.). 65

Von Hayek (1980, S. 112); als Beispiel führt von Hayek (1983, S. 232) die amerikanische Verfassung an: „Das Neue, das die Bundesverfassung enthielt, war entweder das Ergebnis der Anwendung überlieferter Grundsätze auf bestimmte Probleme oder es ergab sich aus nur unklar vorgestellten Folgen allgemeiner Ideen", wobei es bemerkenswert ist, „... wie verschieden die Form der Regierung, die schließlich herauskam, von irgend einer klar vorausgesehenen Struktur ist und wieviel vom Ergebnis historischem Zufall oder der Anwendung übernommener Prinzipien auf eine neue Situation zu danken war".

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sie sind sprachlich nur unzureichend erfaßbar und damit nicht kritisierbar. Traditionen sind „...adaptions to the unknown..." (Von Hayek 1988, S. 76). Die sich ergebende Ordnung transzendiert „...the reach of our understanding, wishes and purposes, and our sense perceptions, and ...incorporâtes and generates knowledge which no individual brain, or any single organisation, could possess or invent" (Von Hayek 1988, S. 72). Die „konstitutionelle Unwissenheit" des Menschen macht es unmöglich, Regeln rational zu begründen und individuelles Handeln auf kollektive Ziele auszurichten, - die Befolgung und Veränderungen von Regeln externe Effekte haben, die nicht direkt beobachtbar und bestimmbar sind. Sie können daher nicht auf ihre Wünschenswertbarkeit hin analysiert werden ( Von Hayek 1988, S. 71). Dieser „antikonstruktivistische Skeptizismus" geht auf den in von Hayeks Erkenntnistheorie vertretenen Monismus zurück (Gray 1986, S. 9 f.). Ist das menschliche Bewußtsein Teil der physikalischen Welt, dann können abstrakte Wertorientierungen und Traditionen nur verhaltenswirksam sein, wenn sie verinnerlichte Handlungsdispositionen sind. Der Mensch ist zwar in der Lage, abstrakte Theorien und Traditionen zu entwickeln, aber diese können nur auf den Menschen rückwirken, wenn sie sich auch als Teil der physikalischen Welt manifestieren. Dies schließt eine Theorie der Wechselwirkung zwischen abstrakten Traditionen und individuellem Handeln aus. Von Hayeks Traditionen sind - entgegen seiner eigenen Ansicht - nicht als Elemente von Poppers „Welt 3" anzusehen, da sie keine objektivierbaren und kritisierbaren Handlungsrestriktionen sind. Wie müßte man sich die Herausbildung marktwirtschaftlicher Institutionen im Transformationsprozeß vorstellen? Im Zentrum der von Hayek'sehen Theorie der kulturellen Evolution steht die „...Zwillingsidee der Evolution und der spontanen Bildung einer Ordnung". Sie besagt, daß „...die ganze Gesellschaftsordnung und auch all das, was 66

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Von Hayek (1988, S. 79): „... an order arising from the seperate decisions of many individuals on the basis of different information cannot be determined by a common scale of the relative importance of different ends"; vgl. auch von Hayek (1988, S. 68). Für von Hayek sind die individuellen Denkprozesse und Bewußtseinszustände ein Subsystem der physikalischen Welt. Von Hayek wehrt sich explizit dagegen, daß sein Standpunkt als parallelistische Theorie mißverstanden werden könnte. Seines Erachtens existiert keine Zweiteilung von Körper und Geist, sondern der Geist stellt nur eine Ordnung dar, die sich aus der Summe der physikalischen Prozesse ergibt siehe von Hayek (1976a, S. 178). Von Hayek geht somit von der Identität von psychischen Zuständen und physiko-chemischen Prozessen aus. Diese Ordnung unterscheidet sich von derjenigen, die der Mensch in der physikalischen Welt antrifft, wird aber durch diese determiniert. Ihre Herausbildung bleibt für den Menschen verborgen, da es keinen archimedischen Punkt gibt, von dem aus er sie beobachten könnte. Siehe von Hayeks Diskussionsbeitrag in Riedl und Kreuzer (1983, S. 227). Von Hayek (1969, S. 128); vgl. auch von Hayek (1996, S. 84, S. 105).

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wir Kultur nennen, das Ergebnis individuellen Strebens ist, dem kein derartiges Ziel vorschwebte, sondern das dahin gelenkt worden war, solchen Zwecken zu dienen, durch Einrichtungen, Gewohnheiten und Regeln, die auch nie bewußt erfunden worden waren, vielmehr hervorgewachsen aus dem Überleben dessen, was sich bewährt hatte" (Von Hayek 1969, S. 130). Wie auch in der biologischen Evolution bilden sich in sozialen Systemen Ordnungsstrukturen heraus, die sich durch die gegenseitige Anpassung der sie umfassenden Elemente selbst erzeugen. Sowohl die Handelns- als auch die Regelordnung gehen auf spontane Prozesse zurück. Von Hayek steht nun vor dem Problem, angesichts menschlicher Unwissenheit über die Vorteilhaftigkeit und den Inhalt von Institutionen Kriterien für deren Vorteilhaftigkeit im Evolutionsprozeß herzuleiten. Regeln haben sich „...nicht als die erkannten Bedingungen für die Erreichung eines bekannten Zieles entwickelt, sondern haben sich entwickelt, weil die Gruppen, die danach verfuhren, erfolgreicher waren und andere verdrängten" (Von Hayek 1980, S. 35). Sie rechtfertigen sich durch ihre Existenz, die ihre Vorteilhaftigkeit im Selektionsprozeß belegt. Wettbewerbsprozesse um vorteilhafte Regeln finden demnach auf zwei Ebenen statt: 1.Der individuellen Ebene, auf der interessengeleitete Individuen versuchen, diejenigen Verhaltensweisen durchzusetzen, von denen sie sich den höchsten Nutzen versprechen. 2. Der kollektiven Ebene, auf der verschiedene Gesellschaften miteinander konkurrieren und diejenigen Gesellschaften mit der überlegenen Regelordnung andere verdrängen. Nicht einzelne Verhaltensweisen, sondern die gesamte Regelordnung einer Gesellschaft steht im Wettbewerb. Zwischen beiden Ebenen kann es zu Konflikten kommen. Von Hayek sieht, daß spontane Prozesse auch zu einer „vollkommenen Unordnung" führen können (Von Hayek 1969, S. 145). Die spontane Entstehung von für das Kollektiv vorteilhaften Regeln kann nicht ausschließlich aus eigennützigen Wahlhandlungen der Individuen hergeleitet werden. Um planmäßige Selbst- und Fremdorganisation weiterhin auszuschließen, muß demnach die zweite Ebene, die Gruppenselektion, gegenüber der ersten Ebene, der Selektion einzelner Verhaltensweisen, dominieren. So vertritt von Hayek die Auffassung, daß „...die Gruppenselektion von größter Bedeutung ftir die kulturelle Evolution ist" (Von Hayek 1981a, S. 256 f., Anmerkung. 37). Sie impliziert, daß in der kulturellen Evolution Regeln nicht befolgt wurden, „... weil sie dem handelnden Individuen einen erkennbaren Vorteil verschafften, sondern weil sie die Überlebenschance der Gruppe 70 erhöhten, der es angehörte". Im Falle eines Konfliktes werden individuelle Interessen 70

Von Hayek (1980, S. 34); von Hayek (1988, S. 131 f.) formuliert es an anderer Stelle noch deutlicher: „... the increase of particular populations following particular rules, led to the selection of those practices whose dominance has become the cause of further multiplication ... if the market economy did indeed prevail over other types of order because it enabled those groups that adopted its basic rules the better to multiply, then the calculation in market values is a calculation in lives".

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hinter Gruppeninteressen zurückgestellt. Von Hayek setzt hierbei voraus, daß ein objektives Allgemeinwohl existiert, welches unabhängig von den individuellen Präferenzen definierbar und diesen übergeordnet ist. Nur so kann er die Schwierigkeit lösen, das spontane Zustandekommen von Regeln zu erklären, die für die Gesellschaft als Ganzes förderlich sind, deren Entstehung jedoch nicht aus dem Verhalten eigennützig handelnder Individuen ableitbar ist. Läßt sich von Hayeks Theorie der Gruppenselektion mit dem von ihm vertretenen methodologischen Individualismus vereinbaren? Diese Frage ist zu verneinen, da die Theorie von der Dominanz der Gruppenselektion über das interessengeleitete Handeln 72

der Individuen kollektivistische und funktionalistische Elemente enthält. Wird jedoch konsequent von dem methodologischen Individualismus ausgegangen, dann arbeitet die Selektion von Handlungsweisen gegen das für die Gruppe vorteilhafte Verhalten, „solange keine zusätzlichen Faktoren ins Spiel kommen, die die Verteilung der Erträge zwischen den im Gruppenvorteil handelnden Mitgliedern und den Trittbrettfahrern zugunsten der ersteren korrigieren" (Vanberg 1994, S. 25). Von Hayeks Theorie der Gruppenselektion eignet sich somit nicht zur Beschreibung institutionellen Wandels auf Basis des in dieser Arbeit zu Grunde gelegten Handlungsmodells. Auch wenn der Theorie der Gruppenselektion nicht gefolgt wird, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen, die von Hayeks „antikonstruktivistischer Skeptizismus" für die Transformation von Wirtschaftssystemen hätte. Wenn Institutionen ausschließlich kulturspezifische, verinnerlichte und nicht objektivierbare Handlungsdispositionen darstellen, dann wäre der Transformationsprozeß in jedem Land ein singuläres Ereignis und ließe sich daher nur graduell politisch gestalten. Das Entstehen einer marktkonformen Regelordnung stünde am Ende eines langen Lern- und Selektionsprozesses, in dem einzelne Individuen, Gruppen und Gesellschaften neue Handlungsdispositionen herausbilden. Es besteht allerdings Grund zu der Annahme, daß von Hayek, der ja Zeitzeuge der politisch herbeigeführten Transformation in der Bundesrepublik Deutschland nach dem II. Weltkrieg war, diese Schlußfolgerung nicht geteilt hätte. In seinem Werk finden sich auch wiederholt Belege, die für die grundsätzliche Identifizierbarkeit von

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Buchanan und Brennan (1985, S. 40) sehen hierin einen „authoritarian imperative". Er resultiert „... directly from the extraindividual source of valuation of „public good". If „public good „ exists independently of individuals' evaluations, any arguement against the furtherance of such good because of some concern for individual liberty becomes contradictory". Vgl. Vanberg (1994a, S 84 f.); vgl. auch Vanberg (1994, S. 26 ff.). Dies trifft nach von Hayek (1988, S. 69) auch auf institutionelle Reformen in entwickelten Marktwirtschaften zu:,,.... we are indeed called upon to improve and revise our moral traditions by remedying recognizable defects by piecemeal improvement based on immanent criticism". Dies entspricht Poppers (1992, S. 259) Forderung nach der Entwicklung einer Sozialtechnik, „... deren Resultate durch schrittweise Lösungsversuche überprüft werden können".

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Transformationsmustern und die länderübergreifenden Implementierbarkeit eines normativen Anforderungskataloges an die Transformationspolitik sprechen. 1.2.2.

Notwendige und hinreichende Bedingungen für die ordnungspolitische Gestaltbarkeit der Transformation

Kann der Staat die Transformation des Wirtschaftssystems durch das Setzen der systemkonstituierenden Prinzipien einer Marktwirtschaft herbeiführen? Vanberg betont, daß von Hayek dahingehend zu interpretieren sei, daß es ihm um die Gestaltung formeller Regeln ging, welche evolutorische Wettbewerbsprozesse generieren und hierdurch zu gesellschaftlich wünschenswerten Resultate führen. „Weil die Theorie uns sagt, unter welchen allgemeinen Bedingungen sich ein Muster bestimmter Art herausbildet, ermöglicht sie uns, solche Bedingungen herzustellen und zu beobachten, ob ein Muster der vorausgesagten Art auftritt" (Von Hayek 1972, S. 28). Werden die als bekannt unterstellten institutionellen Voraussetzungen einer Marktwirtschaft etabliert und verhalten sich die Wirtschaftssubjekte rational, dann läßt sich demnach die Mustervorhersage treffen, daß eine Wettbewerbsordnung in einem spontanen Anpassungsprozeß entstehen wird. Von Hayek (1980, S. 68 f.) vertritt somit auch den Standpunkt, „...daß zwar die Regeln, auf denen eine spontane Ordnung beruht, selbst auch spontanen Ursprungs sein können, dies aber nicht immer der Fall zu sein braucht". Da die Menschen lernten, „...Regeln zu verbessern", ist es „...zumindest vorstellbar, daß die Bildung einer spontanen Ordnung völlig auf Regeln beruht, die absichtlich gemacht wurden. Der spontane Charakter der sich ergebenden Ordnung muß daher von dem spontanen Ursprung der Regeln unterschieden werden, auf denen sie beruht". Die politische Gestaltbarkeit der Transformation widerspricht somit zwar von Hayeks Theorie der kulturellen Evolution, nicht aber der Theorie der spontanen Ordnung. Die spontane Entstehung marktwirtschaftliche Verhaltensmuster und informeller Regeln kann durch die Implementierung der systemkonstituierenden Prinzipien einer Marktwirtschaft herbeigeführt werden. So schreibt von Hayek (1969, S. 30), „...daß der Wirtschaftsgeist eines Volkes größtenteils von Einrichtungen und Institutionen bestimmt wird, die wir geschaffen haben und ändern können".

„Jede vernünftige Interpretation der Hayekschen Theorie der kulturellen Evolution muß meiner Ansicht nach von der folgenden Prämisse ausgehen: Daß seine These über die kulturelle Evolution, genauso wie seine These über den Markt, als eine konditionale Behauptung über die Funktionsweise eines konstitutionell begrenzten Prozesses verstanden werden muß, eines Prozesses, der Beschränkungen unterworfen ist, die dazu dienen, sein 'vorteilhaftes' Funktionieren sicherzustellen" - Vanberg (1994), S. 38. "

Von Hayek (1980, S. 69); von Hayek (1980, S. 180) unterscheidet daher zwischen den spontan entstandenden Verhaltensregeln sowie den durch kollektives Handeln setzbaren und gesetzten Verfassungs- und Organisationsregeln, welche aus „... Regeln der Allokation und Beschränkung der Regierungsgewalt" hervorgehen vgl. auch Vanberg (\9%\, S. 18 ff.).

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Lassen sich bei von Hayek Orientierungspunkte für die Transformationspolitik identifizieren? Aus der „Theorie komplexer Phänomene" folgert von Hayek, daß die Fähigkeit der bewußten Regelgestaltung von dem vorherrschenden oder angestrebten Komplexitätsgrad einer Ordnung abhängt. Je komplexer die angestrebte Ordnung ist, „...desto mehr sind wir für ihre Herstellung auf spontane Kräfte angewiesen und desto mehr wird infolgedessen bei ihrer Verwirklichung unsere Macht der Lenkung auf die abstrakten Züge beschränkt sein und sich nicht auf die konkreten Manifestationen dieser Ordnung erstrecken können" (Von Hayek 1969, S.33). Transformationspolitik wäre wegen der Komplexität der Transformation auf die Gestaltung eines marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens zu beschränken. Systemgerechte Verhaltensweisen und Wertorientierungen müssen sich ebenso spontan in Wettbewerbsprozessen herausbilden können wie die Marktstrukturen. Auch wenn das Transformationsziel der Übergang zu einer spontanen Marktordnung ist, bleibt demnach eine staatliche Organisation als zentrale Ordnungsmacht unentbehrlich, „...um die Befolgung der abstrakten Regeln zu sichern (und um diese Regeln zu modifizieren und zu entwickeln), die erforderlich sind, um die Bildung der spontanen Gesamtordnung herbeizuführen". Welche Erfahrungen gibt es in Entwicklungs- und Schwellenländern mit marktwirtschaftlichen Reformprogrammen, die strukturelle Anpassungen und eine Beseitigung makroökonomischer Ungleichgewichte zum Ziel hatten? D a der I M F in einer Vielzahl von Entwicklungsländern versucht, seine Politikempfehlungen durch Kreditkonditionen durchzusetzen, stellt der Erfolg der vom IMF verschriebenen Standardreformpakete einen möglichen Vergleichsmaßstab dar. T. Killick und M. Malik (1992, S. 599 ff.) untersuchen die Effektivität der IMF-Standardprogramme in siebzehn Entwicklungsländern. Die Resultate waren in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich und hatten in einer Reihe von ihnen überhaupt keine positiven Effekte. Borner, Brunetti und Weder (1995, S. 150 f.) führen Nicaragua und Bolivien als Beispiele dafür an, daß die Mitte der achtziger und Anfang der neunziger Jahre dort implementierten Standardreformpakete nur geringe positive Effekte auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hatten. Ob-

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Von Hayek (1969, S. 43); von Hayek verkennt somit keinesfalls die Notwendigkeit, daß bestimmte Regeln für die gesamte Gesellschaft zwingenden Charakter haben müssen und nicht ständigem Experimentieren der Gesellschaftsmitglieder und -gruppen unterworfen werden können. Vor allem Regeln des Rechts, die nur „... diskontinuierlich und für alle gleichzeitig geändert werden können ..." sind für die Gesellschaft als Ganzes abzufassen und durchzusetzen - von Hayek (1983, S. 79). Seine Theorie der kulturellen Evolution ist nicht „... gegen den Staat gerichtet, oder anarchistisch, was das logische Ergebnis der rationalistischen laissez-faire Doktrin ist" - von Hayek (1983, S. 76). Jungfer (1994, S. 213) weist daraufhin, daß die 15 Nachfolgestaaten der Sowjetunion vor ganz ähnlichen Reformproblemen wie viele Staaten der Dritten Welt stehen wie beispielsweise „die Wiederherstellung der Ordnungsfunktion des Preismechanismus..., die Privatisierung staatseigener Produktionsbetriebe, die Einfuhrung der Gewerbefreiheit, die Rehabilitierung des Unternehmertums, die Zulassung in- und ausländischer Konkurrenz, die Wiederherstellung der Geldwertstabilität".

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wohl marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen waren, blieben die Investitionen ebenso niedrig wie das Wirtschaftswachstum. Diese Beispiele scheinen dafür zu sprechen, daß die Übertragung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen auf Entwicklungsländer an kulturspezifischen Eigenarten scheitern kann. Träfe dies auch auf die Transformation von Wirtschaftssystemen zu, dann wären vergleichende Studien über die Transformationsländer nicht aussagefähig. Die Entwicklung einer allgemeinen Transformationstheorie wäre ebenso fruchtlos wie die Politikempfehlungen westlicher Berater und Organisationen. Jedes Transformationsland müßte zu einer kulturspezifisehen Transformationspolitik finden.

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Allerdings kann aus den genannten Beispielen auch der Schluß gezogen werden, „.. .that reforms are a necessary but not a sufficient condition for private sector response and economic growth" (Borner et al. 1995, S. 151). Die mangelnde Verhaltenswirksamkeit marktwirtschaftlicher Reformen läßt sich auch auf die unzureichende Glaubwürdigkeit der nationalen Politik, staatlicher Institutionen und des IMF zurückfuhren. So kann der IWF die Kreditvergabe von der Erfüllung reformpolitischer Auflagen abhängig machen, fur die Umsetzung und Folgen der Reformprogramme steht er in den betroffenen Ländern jedoch nicht in der politischen Verantwortung. Werden diese von den jeweiligen politischen Eliten und Bevölkerungen nur unzureichend mitgetragen, können die Wirtschaftsreformen bereits im Ansatz scheitern. So identifiziert Edwards (1990, S. 5) die Glaubwürdigkeit als wesentlichen Einflußfaktor auf den Erfolg der jeweiligen Reformprogramme in Südamerika während der vergangenen zwanzig Jahre: „If there is no such credibility and the public expects the liberalization measures to be reversed, it will actually take steps that will undermine the effectiveness of the reform program". Dies wird durch eine von Borner, Brunetti und Weder (1995, S. 62 ff.) durchgeführte empirische Studie belegt. Sie zeigen eine signifikante und statistisch robuste Korrelation zwischen einem von ihnen zusammengestellten Index für politische Glaubwürdigkeit und dem wirtschaftlichen Wachstum pro Kopf auf. Je ausgeprägter die politische Glaubwürdigkeit in den jeweiligen Entwicklungs- und Schwellenländern in

Die Aktualität dieser Auffassung wird durch die Vorwürfe belegt, die in den deutschen Medien gegen den IWF und die Weltbank im Zuge des russischen Schuldenmoratoriums im Sommer 1998 erhoben wurden. Die mangelnde Berücksichtigung der russischen Geschichte und Kultur bei der Politikberatung habe den Niedergang der russischen Wirtschaft mitverursacht. Rußland sei eben nicht Polen. Der Spiegel (38/1998, S. 114) vertritt die Auffassung, „die unbedarften Helfer" der internationalen Finanzorganisationen hätten den „Absturz der Krisenstaaten" gefördert, da sie „ohne Kenntnis von Land und Leuten ... den Kapitalismus in Rußland und Südostasien einpflanzen" wollten. W. Kartte, früherer Rußlandberater der Bundesregierung, meint, die Politikempfehlungen des IWF und der Weltbank seien „... regelrecht bösartig, fast schon eine Vernichtungsstrategie, die unweigerlich ins Desaster führen mußte", gewesen - siehe Der Spiegel (38/1998, S. 116). Laut C. Schmidt-Häuer orientierten sich die Berater von Weltbank und Währungsfonds am Standardmodell für die Dritte Welt, welches jedoch nicht auf Rußland übertragbar sei - siehe ZeitPunkte, Nr. 5/1998, S. 58.

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dem Untersuchungszeitraum von 1981 bis 1990 war, desto höher war das Wirtschaftswachstum per capita. Welche Schlußfolgerungen sind aus den Erfahrungen südamerikanischer, asiatischer oder afrikanischer Länder mit marktwirtschaftlichen Reformprogrammen für die Transformationsstaaten zu ziehen? Erwies sich die politische Glaubwürdigkeit in diesen Ländern als ein wesentlicher Erfolgsfaktor der Reformen, dann scheint sie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion von noch weitaus größerer Bedeutung zu sein. In ihnen werden nicht nur das Außenhandelsregime, einzelne Wirtschaftssektoren oder das Steuersystem an marktwirtschaftliche Mechanismen angepaßt, sondern das gesamte Gesellschaftssystem transformiert. Dies umfaßt nicht nur das politische und wirtschaftliche System, sondern auch dessen ideologische Verankerung in der Weltanschauung der in den Transformationsstaaten lebenden Menschen sowie alle Facetten der zwischen ihnen herrschenden Formen sozialer Interaktion. Der Umfang und die Tiefe der erforderlichen Transformationsmaßnahmen erschweren in einem Umfeld politischer Instabilität und gesellschaftlicher Orientierungslosigkeit deren politische Durchsetzbarkeit. Solange Zweifel an den Transformationszielen und dem Erfolg des Übergangs zu einer Marktwirtschaft dominieren, ist es für die Wirtschaftssubjekte in der Regel nicht vorteilhaft, marktwirtschaftliche Verhaltensweisen zu entwickeln. Die Transformationspolitik darf sich demnach nicht nur an theoretischen Blaupausen allokativ und distributiv „optimaler" Maßnahmen orientieren, sondern muß die einzelnen Transformationsschritte sowie ihre zeitliche Aufeinanderfolge auch darauf abstellen, die Glaubwürdigkeit des Systemwechsels zu erhöhen. Um diesen Zusammenhang erklären und unterschiedliche Transformationsverläufe in den Baltischen Staaten diskutieren zu können, wird im folgenden Kapitel ein Erklärungsmuster institutionellen Wandels entwickelt. Hierfür ist es erforderlich, aufbauend auf den erkenntnistheoretischen und methodologischen Teil dieser Arbeit in Kapitel 2 den Charakter von Institutionen sowie die Bedingungen ihrer Verhaltenswirksamkeit herauszuarbeiten. 1.3. 1.3.1.

Gesellschaftlicher Wandel und die Akkumulation sozialen Kapitals Institutionen als Bestandteil von Poppers Welt 3

Hätte der Mensch die kognitiven Kapazitäten, seine Umwelt umfassend und korrekt wahrzunehmen, wäre er in der Lage, sein Handeln an die Anforderungen der jeweiligen Entscheidungssituation optimal anzupassen. In dieser hypothetischen Welt würde der Mensch von Fall zu Fall nutzenmaximale Entscheidungen treffen. Um eventuellen Schaden wie zum Beispiel Diebstahl und Mord von sich abwehren zu können, müßten Individuen in der Lage sein, die Absichten derjenigen Menschen ergründen zu können, mit denen sie zu tun haben. Die Fähigkeit, die Ergebnisse sozialer Interaktion auf Basis des Wissens über die jeweiligen Handlungsmotive und Theorien der beteiligten Individuen zu antizipieren, ist jedoch grundsätzlich begrenzt und sinkt mit deren Anzahl. Der Mensch ist nur fähig, Vermutungen über Regelmäßigkeiten in seiner natürlichen und

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sozialen Umwelt anzustellen. Kollektive Regeln bergen Informationen über das wahrscheinliche Verhalten anderer Menschen. Sie geben den Menschen Handlungsorientierungen, indem sie auf eine Beschränkung des individuellen Handlungsraumes hinwirken. Regeln lassen sich somit als Handlungsrestriktionen interpretieren. Diese Handlungsrestriktionen sind kritisierbare und abstrakte Elemente von Poppers 80 81 „Welt 3". In ihnen objektivieren sich die Handlungen der Individuen. Kollektive Regeln lassen sich in äußere und innere beziehungsweise in formelle und informelle Institutionen unterteilen. Äußere Institutionen setzen sich aus Gesetzen sowie staatlichen Verordnungen und Regulierungen zusammen. Sie entspringen menschlichem Entwurf und können mit und ohne Zwangsgewalt versehen sein. „Die äußeren Institutionen verkörpern die auf der Verfassung eines Landes beruhende handlungsrechtliche Grundstruktur einer Marktwirtschaft". Innere Institutionen bestehen in moralischen Wertorientierungen und Traditionen, die spontan in einem evolutorischen Prozeß aus der ungeplanten Koordination menschlicher Handlungen entstanden sind. Innere wie auch äußere Institutionen können innerhalb von Gemeinschaften Regelmäßigkeiten induzieren; sie sind jedoch nicht mit den Regelmäßigkeiten selbst gleichzusetzen, da „...the existence of institutions is seen to affect individual behaviour, but only in terms of the choices and constraints presented to the agents, not by the moulding of the preferences and indeed the very individuality of the agents themselves" (Hodgson 1993, S. 56 f.). Hierin liegt der wesentliche Unterschied zu monistischen Theorien, die Institutionen als verinnerlichte Präferenzen beziehungsweise als unreflektierbare Gewohnheiten oder Routinen verstehen und nicht als prinzipiell objektvierbare Handlungsrestriktionen. Diejenigen unbewußten Verhaltensdispositionen, die auch durch Reflek79

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So sieht von Hayek (1981, S. 23) in Regeln „ . . . e i n Mittel, um mit unserer konstitutionellen Unwissenheit fertigzuwerden". Popper (1994, S. 191) betont den Welt 3-Charakter gesellschaftlicher Regeln, indem er deren Objektivierbarkeit hervorhebt: „Ähnlich haben Traditionen eine doppelte Funktion; sie schaffen nicht nur eine gewisse Ordnung oder so etwas wie eine Sozialstruktur, sondern sie geben uns auch eine Ausgangsbasis, etwas, das wir kritisieren und ändern können."

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Lachmann (1963, S. 63) drückt diesen Zusammenhang wie folgt aus: Kollektive Regeln ermöglichen „... die Handlungen von Millionen von Menschen zu koordinieren... In ihnen objektivieren sich ... die millionenfachen Handlungen unserer Mitmenschen, deren individuelle Pläne, Absichten und Motive wir unmöglich lernen können" (Hervorhebung B.W.). 82 83

84 85

Siehe Lachmann (1963, S. 66 f.); vgl. auch North (1996, S. 3 f.). Die von Lachmann (1963, S. 68 f.) gesondert aufgeführten „neutralen Institutionen" wie beispielsweise Tarifverträge werden den „äußeren Institutionen" zugerechnet, da sie nicht aus der ungeplanten Koordination menschlicher Handlungen entstanden und auch gegenüber Dritten durchsetzbar sind. Schüller (1986a, S. 133), vgl. auch Schüller (1986, S. 35 ff.). Werden, wie von einigen Autoren in Anlehnung an die amerikanischen Institutionalisten vorgeschlagen, Regeln als verinnerlichte Gewohnheiten interpretiert, dann sind

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tion nicht objektivierbar sind, werden demnach nicht als Institutionen betrachtet. Sie werden dem exogenen Datenkranz zugeordnet. Im Unterschied zu unbewußten Verhaltensdispositionen und wechselseitigen Absprachen im privaten Bereich setzen gesellschaftliche Institutionen demnach voraus, daß sie nicht personengebunden, allgemein bekannt, beziehungsweise durch den einzelnen als Handlungsrestriktion erkennbar und damit kritisierbar sind. Da Institutionen standardisierte Problemlösungen darstellen, kann deren Abstraktionsgrad die Erfordernisse der jeweilige Einzelsituation übersteigen. Regelverletzungen können situationsbedingt für das einzelne Individuum vorteilhafter sein. Um Kriterien für die Stabilität und den Wandel einer institutionellen Ordnung herausarbeiten zu können, ist zu zeigen, unter welchen Bedingungen es für ein Individuum rational sein kann, grundsätzlich kollektive Regeln zu befolgen. Hierbei ist von demjenigen Konzept situativer Rationalität Abschied zu nehmen, welches Rationalität auf momentbezogene Nutzenmaximisierung im Einzelfall verengt (Priddat 1996, S. 13 ff.). Nutzenmaximierung im Einzelfall ist nicht von den Erwartungen über eventuelle Auswirkungen des eigenen Handelns zu trennen, welche die Bedingungen der Nutzenproduktion in einer unbestimmten Anzahl zukünftiger Entscheidungssituationen beeinträchtigen können. 1.3.2.

Die Stabilität von Regeln und institutionellen Ordnungen

1.3.2.1. Prinzipielle Regelbefolgung und Koordinationsprobleme Anhand der Spieltheorie kann dargestellt werden, daß eine Strategie der Kooperation durch Regelbefolgung im Fall von Koordinationsproblemen für die beteiligten Akteure rational sein kann. Durch Einhaltung verhaltensnormierender Regeln stellen sich alle besser gegenüber der Ausgangslage ohne Regeln. Sie erhöhen die Erwartungssicherheit sie nicht als Restriktionen, sondern als Präferenzen oder Metapräferenzen aufzufassen - siehe Mummert (1996, S. 82 ff.) sowie Priddat (1996, S. 13). Regelbefolgung kann dann keine bewußte Entscheidung darstellen. Es wird von behaviouristischen Verhaltensannahmen ausgegangen: externe Verstärker werden im Sozialisierungsprozeß durch interne Selbstverstärkungsmuster substituiert, sie werden internalisiert. Da das behaviouristische Handlungsmodell in Kapitel II.2. verworfen wurde, wird dieser Argumentation nicht gefolgt. In dieser Arbeit soll jedoch nicht bestritten werden, daß im Zuge der kulturellen Revolution nicht-reflektierbare Verhaltensregeln verinnerlicht wurden. Diese Verhaltensdispositionen sind allerdings „hard wired" und unterliegen langfristigen Anpassungsprozessen über Generationen hinweg. Um kurz- und mittelfristige Lernprozesse in einer Phase grundlegender und diskontinuierlicher Veränderungen der sozialen Umwelt wie zum Beispiel dem Transformationsprozeß zu analysieren, sind sie als gegeben anzunehmen. 86

Vgl. Kiwitt und Voigt (1995, S. 118 ff.); zu einer Typisierung von Institutionen siehe ebenda S. 123 f.; Schotter (1981, S. 11) fuhrt als weiteres Kriterium an, daß über Regeln ein grundsätzlicher Konsens herrschen muß. Diesem Argument wird jedoch nicht gefolgt, da sich Regeländerungen durch eigennützig handelnde Individuen nur erklären lassen, wenn verschiedene Institutionen innerhalb einer Gesellschaft im Wettbewerb miteinander stehen können.

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und vermindern somit diejenigen Kosten, die entstehen würden, wenn jedes Individuum Anstrengungen unternehmen müßte, die Handlungsmotive anderer Individuen zu ergründen. Es besteht ein konstitutionelles Interesse (Vanberg 1994, S. 23 f.) aller Beteiligten an Kooperation und damit an der Existenz einer koordinierenden Regel, welches sich mit dem individuellen Nutzenkalkül deckt. Hat der Einzelne keinen An87

reiz, gegen eine Regel zu verstoßen, ist diese stabil. Glaubt ein Individuum, daß sich wechselseitige Kooperation für alle Beteiligten auch in wiederholenden Entscheidungssituationen als vorteilhaft erweist, so kann grundsätzliche Regelbefolgung eine überlegene Strategie in der Nutzenproduktion darstellen. Im Vergleich zu Fall-zu-Fall-Entscheidungen würde grundsätzliche Regelbefolgung Entscheidungskosten senken und Fehleinschätzungen vermeiden helfen. Zu prüfen ist, ob Regeln im Falle von Koordinationsproblemen spontan entstehen können. Die spontane Herausbildung von Regeln setzt einen Mechanismus voraus, anhand dessen Individuen konvergente Erwartungen über das Verhalten der jeweils anderen bilden können. Nur wenn eine hinreichende Erwartungssicherheit über das Verhalten der jeweils anderen Individuen besteht, können sich kooperative Verhaltensmuster herausbilden. Ohne sie ist es dem einzelnen unmöglich, eine kooperative Strategie zu wählen. Innerhalb kleiner Gruppen mit engem Interaktionszusammenhang erscheint es plausibel, daß sich die Mitglieder auf gemeinsame Verhaltensweisen verständigen, die zu einem wechselseitigen Nutzenzuwachs fuhren. Erweisen sich die gruppeninternen Regeln im Vergleich zu den Arrangements anderer Gruppen als überlegen, können sie durch Imitation innerhalb einer Gesellschaft diffundieren. Ist die Möglichkeit der Verständigung durch Kommunikation aufgrund der großen Anzahl beteiligter Individuen nicht gegeben, so kann das zeitlich wiederholte Auftreten eines kritischen Koordinationsproblems zu wechselseitigen Lernprozessen fuhren, die eine Angleichung der jeweiligen Erwartungen zur Folge hat (Voss 1985, S. 144 ff.). Hat eine kritische Menge an beteiligten Individuen konvergente Erwartungen gebildet, können die auf ihnen fußenden Verhaltensweisen aufgrund positiver Rückkoppelungseffekte innerhalb einer Gesellschaft diffundieren. Sie erhalten dann einen allgemeinverbindlichen Charakter. Ist der individuelle Nutzen der Einhaltung gruppeninterner Regeln positiv korreliert mit der sie befolgenden Anzahl an Individuen, werden diese zu allgemeinen Regeln transformieren.

Als Beispiel sei wiederum die Institution der Sprache angeführt. Einseitig von sonst üblichen Sprachregeln innerhalb einer Gesellschaft abzuweichen, ist für den Einzelnen mit keinerlei Vorteil verbunden. Ein Anreiz zu Trittbrettfahrerverhalten besteht nicht, da ein Abweichler die Einhaltung der Sprachregeln durch andere Gesellschaftsmitglieder nicht zu seinen Gunsten ausnutzen kann. Die Interessen der Mitglieder eines Sprachraumes sind gleichgerichtet. Vergleichbar mit den Netzeffekten technologischer Standards können Regeln im Falle von Koordinationsproblemen eine positive Rückkoppelung zwischen der bestehenden Anzahl von Regelbefolgern sowie der zukünftigen Verbreitung der Regel aufweisen vgl. Knieps (1994, S. 52 ff.). Liegen Netzeffekte vor, wird eine Regel konkurrierende

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1.3.2.2. Prinzipielle Regelbefolgung und soziale Dilemmasituationen Es stellt sich die Frage, ob und warum grundsätzliche Regelbefolgung für Individuen selbst dann rational sein kann, wenn ihr Eigeninteresse mit dem Regelinhalt in Einzelsituationen konfligiert. Im Falle einer Gefangenendilemma-Situation besteht für den Einzelnen ein Anreiz, die Regel zu verletzen, selbst wenn ein konstitutionelles Interesse an allgemeiner Regelbefolgung vorhanden ist. Sowohl im Falle erwarteter Kooperation als auch Nichtkooperation seitens eines anderen beteiligten Akteurs kann es sich für ein Individuum lohnen, eine nicht-kooperative Strategie zu wählen. Die Dilemmasituation ergibt sich aus der Symmetrie der Anreizstruktur. Aufgrund der Unsicherheit über die gewählte Strategie des jeweils anderen Akteurs, besteht ein Anreiz, nicht zu kooperieren, was eine wechselseitige Schlechterstellung im Vergleich zu beidseitiger Kooperation zur Folge hat. Eine stabile Regelordnung wird sich ohne zusätzliche Anreize zur Regelbefolgung nicht ergeben. Ein Anreiz zur Kooperation kann gegeben sein, wenn die Akteure wiederholt in Entscheidungssituationen aufeinandertreffen. Die beteiligten Akteure werden sowohl die Geschichte ihrer bisherigen Interaktion als auch die Folgen für die Zukunft in ihrer Entscheidungssituation berücksichtigen. R. Axelrod hat in Form von Computersimulationen aufgezeigt, daß in Fällen von sich wiederholenden Gefangenendilemma-Situationen und Unsicherheit über die Häufigkeit ihres Auftretens eine „Tit For Tat" Strategie im Vergleich zu anderen Entscheidungsregeln für die beteiligten Akteure am vorteilhaftesten 89

ist. Nimmt man an, daß Individuen mit verschiedenen Entscheidungsregeln experimentieren, so werden sie sich durch Lernprozesse und Imitation an erfolgreichere Strategien herantasten. Potentielle Regelverletzer werden mit hoher Sicherheit erwarten können, daß Regelverstöße zumindest mit der zeitweisen Nicht-Kooperation der 90 anderen Spieler verbunden sind. Werden zukünftige Handlungsergebnisse relativ zu gegenwärtigen hinreichend stark gewichtet, besteht für die beteiligten Individuen ein dauerhafter Anreiz zu kooperieren. Die Reziprozität von Handlungen kann die Anreizstruktur für einen potentiellen Regelverletzer dahingehend verschieben, daß Regelkonformität vorteilhaft ist. Hierbei erweist sich die Tit for Tat-Entscheidungsregel sowohl für den Einzelnen als auch innerhalb eines Kollektives als evolutionär stabil. Kann auch prinzipielle Regelbefolgung eine vorteilhafte Strategie sein? Grundsätzliche Regelbefolgung schließt die Verfolgung einer Tit for Tat-Strategie aus. Wird eine

Institutionen in einem spontanen Prozeß verdrängen und sich als evolutionär stabil erweisen, wenn eine kritische Menge an Regelbefolgern überschritten ist. 89

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Axelrod (1987, S. 1 ff.) zentrales Anliegen ist es, das spontane Entstehen von Kooperation in einer Welt von Egoisten ohne Hobbes'sehen Leviathan zu erklären. Zur Erläuterung seiner Versuchsergebnisse siehe Axelrod (1987, S. 25 ff.). Der Erfolg der Tit for Tat-Strategie gegenüber anderen Entscheidungsregeln beruht zum einen darauf, daß es nicht-kooperatives Verhalten konsequent und sofort bestraft, zum andern aber auch, daß es nachsichtig auf Fehlverhalten in der Vergangenheit reagiert und in jeder Runde einen Neuanfang ermöglicht - siehe Axelrod (1987, S. 37 ff.).

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Regel innerhalb eines Kollektivs unabhängig von dem Verhalten anderer Individuen befolgt, dann ist für jeden einzelnen Defektion risikolos und rational. Grundsätzliche Regelbefolgung wird für die Mitglieder einer Gruppe eine evolutionär instabile Strategie sein, solange sie sich nicht wirksam gegen Regelverletzer schützen können. Dieser Schutz kann in vielen Fällen dadurch erreicht werden, daß man mit potentiellen Regelverletzern nicht mehr verkehrt. Ein Verstoß gegen interne Regeln innerhalb eines 91

Freundeskreises könnte beispielsweise mit dem Ausschluß verbunden sein. Vanberg und Congleton (1992, S. 422 ff.) haben in einem simulierten Wettbewerb unterschiedlicher Handlungsstrategien nachgewiesen, daß die sogenannte „Exit"-Option, das heißt der zumindest zeitweise Ausschluß von sozialer Interaktion bei Regelverletzung, zu einem besseren Ergebnis führt als die Tit for Tat-Strategie. Sie ist demnach eine rationale Strategie, die zur Folge hat, daß „...in cases where exit costs are low, the prisoner's-dilemma nature of the 'iterated prisoner's dilemma' essentially disappears" (Vanberg und Congleton 1992, S. 428). Individuen haben einen Anreiz, durch grundsätzliche Regelbefolgung in gesellschaftliche Reputation zu investieren, um den Ausschluß von 92

sozialer Interaktion zu vermeiden. Der gute Ruf eines Regelbefolgers läßt sich als „soziales Kapital" beschreiben, dessen Akkumulation sich im Marktgeschehen als vorteilhaft erweisen kann. Erhöht sich das soziale Kapital eines Individuums, werden

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North (1991, S. 30) erwähnt hierzu ein Beispiel aus der Wirtschaftsgeschichte. Verstöße gegen die in mittelalterlichen Bruderschaften und Gilden von Kaufleuten festgelegten Verhaltenscodes wurden mit dem Ausschluß geahndet. North sieht hierin den Grundstein für die Verbreitung von Rechtsinstitutionen wie zum Beispiel dem Lübecker Recht, die es Kaufleuten erlaubten, auch im Fernhandel Verträge durchsetzen zu können. „R" seien die Nutzenzuwächse eines jeden Spielers durch Kooperation, „T" die Nutzenzuwächse durch einseitige Regelverletzung, „P" die Nutzenzuwächse durch beidseitige Nicht-Kooperation und „w" die Rate, mit der zukünftiger Nutzen diskontiert wird. Es gelte T>R>P. Erwartet ein Individuum, daß eine einmalige Regelverletzung mit dauerhafter Nicht-Kooperation geahndet wird, so ist es vorteilhaft, die Regel in keinem Einzelfall zu verletzen, wenn die Diskontierungsrate „w" hinreichend groß ist. Der erreichbare Wert einer einmaligen Regelverletzung wäre: G = T + wP + w 2 P +w3P...= T + wP/(l-w) Die permanente Einhaltung der Regel ist dann vorteilhaft, wenn gilt: R/(l-w) > T + wP/(l-w) Im Falle eines grundsätzlichen Auschlusses von sozialer Interaktion wäre der erreichbare Wert bei einmaliger Regelverletzung G = T. Die permanente Einhaltung der Regel ist vorteilhaft, wenn gilt: R/(l-w) > T ; vgl. Axelrod (1987, S.14).

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Becker (1996, S. 4 ff. sowie S. 164 ff.) versucht Handlungsinterdependenzen gerecht zu werden, indem er die Produktionstheorie des Haushaltes dahingehend modifiziert, daß er das Humankapital „E", die Produktionstechnologie, in „Personal Capital" (P) und „Social Capital" (S) unterteilt - siehe Kapitel 2.3.2. Die Produktionsfunktion läßt sich dann wie folgt darstellen:

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andere Mitglieder einer Gesellschaft um so eher bereit sein, mit ihm zu kooperieren. Es stellt einen Vertrauensvorschuß dar, welcher eine größere Anzahl vorteilhafter Interaktionsmöglichkeiten erlaubt. Die Bedeutung der persönlichen Reputation für die soziale Interaktion wird durch psychologische Experimente untermauert. Sie legen nahe, daß der Mensch in der Modellierung seiner sozialen Umwelt die Stabilität von Verhaltensweisen anderer Individuen systematisch überschätzt. Demnach besteht eine Tendenz, das Verhalten anderer Individuen nicht situationsbezogen, sondern als Ausdruck einer vorhandenen Verhaltensdisposition zu betrachten. Daraus läßt sich folgern, daß der Mensch weniger nachsichtig auf Regelverletzungen reagiert, als es die Tit for Tat-Strategie nahelegt. Es erscheint plausibel, daß sich dies asymmetrisch auf die Beurteilung einmaliger Regelverletzungen auswirkt: die Reputation, grundsätzlich Regeln zu befolgen, kann mit einer einzigen Regelverletzung widerlegt sein; der Ruf, in der Vergangenheit eine Regel verletzt zu haben, läßt sich auch durch wiederholte Regelbefolgung nur bedingt kompensieren. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht". Dieses Sprichwort bringt zum Ausdruck, daß eine einmalige Regelverletzung die persönliche Reputation in solchem Ausmaß beschädigen kann, daß es für längere Zeit schwierig ist, einen Kooperationspartner zu finden. Kommt es innerhalb einer Gemeinschaft infolge einer einmaligen Regelverletzung zu einer dauerhaften Stigmatisierung, wird in der Vergangenheit akkumuliertes „soziales Kapital" entwertet. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß Individuen um so eher bereit sein werden, dauerhaft oder grundsätzlich regelkonform zu handeln, je -höher die Interdependenz zwischen heutigen und zukünftigen Handlungsergebnissen ist, je - stärker die Gewichtung zukünftiger Handlungsergebnisse im individuellen Nutzenkalkül ist, je - weniger sie nachsichtiges Verhalten auf einmalige Regelverstöße erwarten, je - mehr sie in Glaubwürdigkeit und gesellschaftliche Reputation investiert haben. Verletzt ein Individuum eine einzelne Regel, so wird dies die Erwartungen anderer Gruppenmitglieder bezüglich der generellen Regelkonformität negativ beeinflussen. Investitionen in gesellschaftliche Reputation wirken somit aufgrund ihres allgemeinen und grundsätzlichen Charakters nicht nur auf einzelne Regeln stabilisierend, sondern auf die gesamte Regelordnung.

Zi = z ( xji, ti, P, S)

5Zi/3S > 0

i = l,..,n; j = l,...,m

Ein Individuum kann durch Regelbefolgung (RF) in sein Sozialkapital und damit in die Kooperationsbereitschaft anderer Gesellschaftsmitglieder investieren: St = s (RFt, RFt-l,....,RFt-n) 94

Siehe Holland et al. (1986, S. 211 ff.); hierin besteht eine Ubereinstimmung zu der in Kapitel 2.2.1. behandelten Klassifizierung von Phänomenen durch das menschliche Gehirn.

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Bei hoher Wirksamkeit reziproker Mechanismen kann Kooperation und damit eine Regelordnung, in der die moralischen Voraussetzungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung zum Tragen kommen, in einem spontanen Prozeß entstehen {Axelrod 1987, S. 56 ff.). Die wechselseitige Sanktionierung unkooperativen Verhaltens kann auch ohne besondere Vereinbarungen Lernprozesse generieren, die zu konvergenten Erwartungen über Verhaltensregelmäßigkeiten fuhren. Erweisen sich diese als stabil, können sich die individuellen Theorien über bestehende Verhaltensmuster zu allgemeinen normativen Verhaltensregeln entwickeln. Schon einzelne Individuen und kleine Gruppen, die regelmäßig miteinander interagieren, können die Vorteile von wechselseitiger Kooperation durch Regelbefolgung wahrnehmen. Gegen Regelverletzer kann wirksam diskriminiert werden. Erweist sich die Kooperation von Regelbefolgern im Zeitverlauf als vorteilhaft, so besteht für diejenigen Individuen, die von der Kooperation ausgeschlossen sind, ein Anreiz, in gesellschaftliche Reputation zu investieren, um aufgenommen zu werden. Sowohl im Falle von Koordinationsproblemen als auch bei hoher Effektivität reziproker Mechanismen können somit vorteilhafte gesellschaftliche Institutionen spontan entstehen und sich im Zeitverlauf als stabil erweisen. Wenn individuelle und kollektive Rationalität miteinander übereinstimmen, kann die Herausbildung sozialer Strukturmuster durch eine „Unsichtbare-Hand Erklärung" beschrieben werden {Vanberg 1984, S. 115 ff.). 1.3.2.3. Grenzen der „unsichtbaren Hand": Die Notwendigkeit staatlicher Regelsetzung Je größer die Gruppe ist, desto weniger effektiv sind reziproke Mechanismen. Mit steigender Zahl der Gruppenmitglieder sinken die Handlungsinterdependenzen. Die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einer unbestimmten Anzahl weiterer Interaktionen zwischen den Individuen kommt, nimmt ab. Gleichzeitig steigen die Kosten, sich über das Regelverhalten anderer Gruppenmitglieder zu informieren und deren Regeleinhaltung zu überwachen. Der Anreiz, in Reputation und Glaubwürdigkeit zu investieren, verringert sich. Der „Schatten der Zukunft" kann fur den Einzelnen nur wenig spürbar sein. Sind die Handlungsinterdependenzen innerhalb einer Gesellschaft gering, wird grundsätzliche Regelbefolgung eine evolutionär instabile Strategie. Ausgangspunkt kann in solchen Fällen wieder die einmalige Gefangenendilemma-Situation werden. Regeln würden weder spontan entstehen und sich aufgrund ihrer Vorteilhaftigkeit verbreiten, noch würden gegebene Verhaltensregeln im Zeitverlauf stabil sein.

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Vanberg (1994a, S. 72) fuhrt dies darauf zurück, daß moralische Regeln den Charakter öffentlicher Güter haben. Die Größe einer Gruppe und damit die Effektivität reziproker Mechanismen ist negativ mit der Wahrscheinlichkeit korreliert, daß stabile moralische Verhaltensregeln in einem spontanen Prozeß entstehen: „It is typically argued that - in the absence of deliberately-organized enforcenment - persons' willingness to contribute to the production of 'moral order' will decrease as group-size increases, for the same reasons that are familiar from the general discussion on the significance of group-size for the production of public goods: first, the individual will have less and less reason to expect that his own contribution (his own compliance and

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Durch formal gesetzte Regeln und glaubwürdige Sanktionen bei Regelverletzung kann in Volkswirtschaften die Anreizstruktur dahingehend verschoben werden, daß Regelbefolgung auch im Einzelfall für die Individuen vorteilhaft ist. Die formale Normierung sozialer Interaktion setzt organisiertes politisches Handeln voraus (Vanberg 1984, S. 143). In Form von definierten Handlungs- und Haftungsrechten sowie deren glaubhafte Durchsetzung durch autorisierte Organisationen können äußere Institutionen für die einzelnen Individuen den „Schatten der Zukunft" spürbarer machen und die Transparenz der Entscheidungssituation erhöhen. Haben Sanktionen im Fall des Verstoßes gegen bestehende formale Regeln negative Konsequenzen für die gesellschaftliche Reputation und Glaubwürdigkeit, so kann auch in diesem Fall prinzipielle Regelbefolgung für den Einzelnen eine vorteilhafte Strategie darstellen. 1.3.3.

Erklärungsmuster für institutionellen Wandel: die Akkumulation sozialen Kapitals und seine Entwertung

Bei oberflächlicher Betrachtung ergeben sich zwei mögliche Widersprüche zwischen einer evolutorischen Betrachtung institutionellen Wandels und den herausgearbeiteten Anforderungen an die Stabilität von Regeln: - Ein Selektionsvorteil von Institutionen scheint gerade darin zu liegen, daß sie sich nicht ändern. Regelbefolgung ist positiv mit der Stabilität der Institutionen im Zeitverlauf verbunden. Ihre Stabilität verleiht den gesellschaftlichen Anreiz- und Sanktionsmechanismen, von denen die Kooperationsbereitschaft und Regelbefolgung der Individuen abhängt, die notwendige Glaubwürdigkeit. - Individuen scheinen keinen Anreiz zu haben, mit neuen Verhaltensweisen zu experimentieren. Die Vorteilhaftigkeit von Regeln für den Einzelnen und für Gesellschaften basiert auf ihrem möglichst einheitlichen und allgemeinverbindlichen Charakter. Demnach hätten nicht jene Regeln einen Selektionsvorteil, deren Anwendung auf kleine Gruppen und die sie umgebende Umwelt spezialisiert ist, sondern diejenigen Institutionen, die eine möglichst große Anzahl an Individuen umfassen. Regelnischen wären nicht vorteilhaft. Es ist also zu prüfen, unter welchen Bedingungen das Experimentieren mit neuen Verhaltensweisen für einzelne Individuen vorteilhaft ist, nach welchen Kriterien Regeln selektiert werden und unter welchen Bedingungen sich eine Regelordnung als stabil erweist. Hierbei sollen vor allem die Interdependenzen zwischen inneren und äußeren Institutionen herausgearbeitet werden. Es werden zwei Fälle unterschieden: 1. Stabile Umweltbedingungen: Von der Umwelt geht kein Anpassungsdruck auf das gesellschaftliche Regelwerk aus. Für Individuen besteht eine hohe Erwartungssicherheit. Es lohnt sich, die bestehenden Regeln zu befolgen und dadurch Anerkennung zu finden. Das hierdurch erworbene soziale Kapital hat einen spezifischen Charakter; es

his punishment of defectors) will be decisive for the persistence of moral order. And second, the informal, spontaneous mechanisms of enforcement will be less effective in larger and more anonymous groups."

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kann nur unter Verlust auf ein neues institutionelles Arrangement übertragen werden (Kiwitt und Voigt 1995, S. 131 f.). Ein Anreiz, neue Handlungsweisen zu übernehmen, besteht nur, wenn der erwartete Nutzen höher ist als die Kosten, welche mit der zumindest teilweisen Entwertung sozialen Kapitals verbundenen sein können. Hieraus läßt sich folgern, daß bestehende Institutionen ein großes Beharrungsvermögen aufweisen können. Investitionen in soziales Kapital seitens der Individuen stabilisieren die Regelordnung. Es werden sich tendenziell nur diejenigen Regelinnovationen ausbreiten, die das angesammelte soziale Kapital der Individuen nicht tangieren und somit eine hohe Kompatibilität mit bestehenden Regeln aufweisen. Die Folge wäre eine Differenzierung der bestehenden Regelordnung, nicht jedoch ein Bruch mit den eingeübten Gewohnheiten und Gebräuchen. Erweisen sich die Umweltbedingungen als hinreichend stabil, wird die Evolution sozio-ökonomischer Systeme nur langsam fortschreiten, selbst wenn Effizienzgewinne durch umfassende Regelveränderungen möglich wären. 2. Instabile Umweltbedingungen: Welche institutionellen Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit sich Gesellschaften an Umweltveränderungen wie beispielsweise die zunehmende Globalisierung der Weltwirtschaft anpassen können? Die Anpassungsfähigkeit von Volkswirtschaften hängt von den individuellen Freiräumen der Wirtschaftssubjekte ab, neue Handlungsweisen erproben zu können. Je detaillierter jedoch äußere Institutionen individuelles Handeln verbindlich reglementieren, - desto geringer ist die Anzahl potentiell kompatibler Regelinnovationen, die spontan entstehen und sich ausbreiten können, - desto geringer ist der Anreiz, mit neuen Handlungsweisen zu experimentieren. Besteht keine Möglichkeit der Abwanderung und werden die äußeren Institutionen auch für die Zukunft als verbindlich betrachtet, besteht ein Anreiz, weiterhin durch Regelbefolgung soziales Kapital zu akkumulieren, selbst wenn überlegene Problemlösungen bekannt sind. Die Wettbewerbsintensität um neue Problemlösungen wird in geschlossenen Gesellschaften mit hohem Reglementierungsgrad daher tendenziell gering sein. Ist die Abwanderung möglich, dann werden vorrangig diejenigen Wirtschaftssubjekte davon Gebrauch machen, die vergleichsweise wenig soziales Kapital angesammelt haben und sich von der Möglichkeit des Experimentierens mit neuen Handlungsweisen Vorteile versprechen. Zurück würden jene Wirtschaftssubjekte bleiben, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Status Quo haben, da sie durch Veränderungen mehr zu verlieren haben als sie gewinnen könnten. Die Folge wäre eine dauerhaften Schwächung der Anpassungsfähigkeit einer Gesellschaft. Ein hoher Reglementierungsgrad innerhalb einer Gesellschaft behindert demnach eine spontane Anpassung des gesellschaftlichen Regelwerkes an Umweltveränderungen. Daraus läßt sich folgern, daß die Anpassungsfähigkeit einer Gesellschaft positiv mit dem Abstraktions- und Allgemeinheitsgrad äußerer Institutionen verknüpft ist. Von Hayek (1983, S. 36 ff.) begründet dies damit, daß individuelle Freiheit und der Wettbewerb von Individuen und Gruppen um neue Problemlösungen die Wahrscheinlichkeit der Entstehung und Ausbreitung vorteilhafter Regelinnovationen erhöhen. Er betont, daß gerade unterentwickelte Länder, unter die auch die Transformationsstaaten zu zählen sind, auf Entdeckungen im Wettbewerb angewiesen sind, da „...die Änderungen

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in Gewohnheiten und Gebräuchen, die notwendig sind, nur eintreten werden, wenn jene, die bereit und fähig sind, mit neuen Verfahren zu experimentieren, es für die anderen notwendig machen können, sie nachzuahmen, und erstere ihnen dabei den Weg weisen können" (von Hayek 1969, S. 260). Imitieren Mitglieder einer Gesellschaft Handlungsweisen auch dann, wenn sie ihren guten Ruf als Regelbefolger aufs Spiel setzen müssen, dann ist die Entwertung sozialen Kapitals, welche mit Verbreitung von neuen Gewohnheiten und Gebräuchen einhergeht, ein endogener Prozeß. Sie beruht auf dem jeweiligen individuellen Nutzenkalkül. Die Anpassung einer Gesellschaft an veränderte Umweltbedingungen kann somit spontan erfolgen, wenn die äußeren Institutionen den Individuen hinreichend Freiräume zum Experimentieren gewähren. Es bleibt zu prüfen, ob im Rahmen der gewählten Annahmen eine Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen durch Stückwerkreformen und damit durch wiederholte diskretionäre Veränderungen der äußeren Institutionen erfolgen kann. Dieser Fall ist gerade für die Transformation von Wirtschaftssystemen und die Wahl der Transformationsstrategie von Relevanz. Es sei angenommen, der Staat habe umfassendes Wissen für überlegene Problemlösungen. Reformen der äußeren Institutionen fuhren zu einer exogenen Entwertung von sozialem Kapital. Sie haben zwingenden Charakter. Häufige Fall-zu-Fall Veränderungen der Regelordnung durch die politischen Entscheidungsträger verringern im Gegensatz zu spontanen Anpassungen den Anreiz, den Ruf eines Regelbefolgers aufzubauen. Investitionen in soziales Kapital zahlen sich aufgrund des verringerten Erwartungshorizontes nicht aus. Trittbrettfahrerverhalten wird vorteilhaft. Potentiell vorteilhafte Möglichkeiten gesellschaftlicher Kooperation werden aufgrund mangelnden Vertrauens in die Regelkonformität anderer unterbleiben. Im Gegensatz zur spontanen Anpassung wird sich eine Regelordnung, die häufig durch diskretionäre Reformen von oben verändert wird, nicht durch die Akkumulation von 97

sozialem Kapital seitens der Individuen stabilisieren. 1.4. 1.4.1.

Folgerungen für die Transformation von Wirtschaftssystemen Individuelle Verhaltensanpassungen

Gesellschaftliche Umbrüche wie die Transformation von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen zeichnen sich durch eine hohe Erwartungsunsicherheit der Wirtschafts96

97

„Every form of social capital, with the exception of that deriving from organizations with structures based on positions, depends on stability. Disruptions of social organizations or social relations can be highly destructive to social capital" - Coleman (1990, S. 320). In einem Vergleich der unterschiedlichen Wirkungsweise institutioneller Reformen in Nord- und Süditalien Mitte der siebziger Jahre zeigt Putnam (1993, S. 165), daß „history has taught southern Italians the improbability of the Hobbesian solution to dilemmas of collective action ... impartial third-party enforcement is not generally a 'stable equilibrium', that is, one in which no player has an incentive to alter his behaviour".

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

Subjekte aus. Das parallele Bestehen alter und neuer Ordnungskomponenten und die komplexitätsbedingte Unmöglichkeit, alle Reformschritte aufeinander abzustimmen und zu synchronisieren, fuhren unweigerlich zu Inkongruenzen der institutionellen Ordnung. In der Regel geht ihnen eine Phase voraus, in der die Glaubwürdigkeit bestehender äußerer Institutionen zunehmend erodiert. In sich widersprüchliche und erfolglose Reformversuche wie beispielsweise Gorbatschows „Perestroika" tragen zur Delegitimierung des Systems bei. Die soziale Umwelt der einzelnen Individuen ist instabil. Können äußere Institutionen nicht mehr durchgesetzt werden, verlieren sie ihre koordinierende Funktion, da sie die individuelle Anreizstruktur nicht mehr tangieren. Herrscht Unsicherheit darüber, ob ein neues formales Regelwerk etabliert wird, verkürzt sich der Zeithorizont der Gesellschaftsmitglieder. Kooperation und Regelbefolgung sind vermehrt nur innerhalb deijenigen gesellschaftlichen Gruppierungen wie Familien oder der Mafia zu erwarten, in denen rezip99

roke Mechanismen einen hohen Wirkungsgrad haben. Die gruppeninternen Regelordnungen können dabei mit den noch bestehenden äußeren Institutionen konfligieren, wenn sich deren Einfluß auf die individuelle Anreizstruktur zunehmend verflüchtigt. Solange ein hoher Grad an Unsicherheit über die tatsächliche Transformationspolitik herrscht, ist das akkumulierte soziale Kapital bisheriger Regelbefolger noch nicht entwertet. In der Hoffnung auf eine Restauration der alten Ordnung besteht für sie daher ein geringer Anreiz, in der Umbruchphase mit neuen Verhaltensweisen zu experimentieren. Regelinnovationen sind daher tendenziell eher von denjenigen Mitgliedern einer Gesellschaft - wie beispielsweise Dissidenten, Mitläufern und Händlern auf dem Schwarzmarkt - zu erwarten, die in der Vergangenheit geringere Investitionen in ihre Reputation als Regelbefolger erbracht haben. Erst mit steigender Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik und damit zunehmender Erwartungssicherheit bezüglich der Etablierung und Durchsetzung marktwirtschaftlicher äußerer Institutionen wird das soziale Kapital bisheriger Regelbefolger vollständig entwertet. Das soziale Kapital eines , P e l d e n der Sowjetunion" ist nicht auf die politische und wirtschaftliche Ordnung des ehemaligen „Klassenfeindes" übertragtoo bar. Dieser Entwertungsprozeß „. bedingt notwendig eine alle Lebensbereiche einbeziehende soziale Desintegration der Menschen". Soziale Kontakte erodieren, die soziale Stellung sowie die eigene Geschichte und Lebensleistung werden in Frage gestellt. Je länger der gesellschaftliche Desintegrationsprozeß anhält, desto höher werden die Vgl .Kapitel

4.1.

99

Mafia und das Fortbestehen postsowjetischer Insider-Kreise lassen sich als Erscheinungsformen einer spontanen Ordnung interpretieren, die aus der mangelnden Effektivität allgemeinverbindlicher reziproker Mechanismen sowie der Unfähigkeit des Staates, bestehende Gesetze durchzusetzen, resultieren - vgl. Voigt und Kiwit (1995, S. 12 ff.). 100

Dies trifft vor allem auf die Baltischen Staaten zu, die ihre Zugehörigkeit zur Sowjetunion als Fremdherrschaft auffassten - vgl. Kapitel 4.1. 101

Schüller (1992, S.36); vgl. auch Leipold (1997, S.61 ff.).

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sozialen Kosten der Transformation. Die zu diskutierenden Transformationsstrategien sind demnach daran zu messen, in welchem Zeitraum sie soziales Kapital sowjetischer Regelbefolger entwerten und dadurch Anreize setzen, mit marktwirtschaftlichen Verhaltensweisen zu experimentieren sowie in eine neue Reputation zu investieren. Erst wenn diese Anreize durch „.. .den Aufbau einer neuen Human-, Sach- und Geldvermögenswirtschaft, also die Neugestaltung der wohlstandsbestimmenden Einkommensquellen und der sie ermöglichenden rechtlich institutionellen Infrastruktur" gesetzt sind, wird es zur „...notwendigen Neuverflechtung aller individuellen Handlungen, der daraus hervorgehenden Wirtschaftsformen und Prozesse entsprechend den Anforderungen einer Marktwirtschaft" kommen (Schüller 1992, S. 36). 1.4.2.

Konsequenzen für die Transformationspolitik

Während unter Ökonomen und Politikberatem vorgeblich weitgehende Einigkeit über die im Transformationsprozeß zu treffenden politischen Aufbaumaßnahmen herrscht, ist deren zeitliche Abfolge umstritten (Bohrtet und Ohly 1992, S. 32 ff.). Eine (a.) gradualistische Transformationsstrategie wird der sogenannten (b.) Schocklösung gegenübergestellt. Die Wortwahl erscheint ungünstig, da Begriffe wie „Schocktherapie", „Radikaltransformation" oder „big bang" im Gegensatz zu „Gradualismus" und vorsichtigen „Partialreformen" negative Assoziationen wecken. Ihnen haftet der Beigeschmack einer überstürzten und brutalen Transformationspolitik an, welche soziale Kosten nicht berücksichtige. Sie beruht jedoch im Gegenteil auf der These, daß eine umfassende und zügige Transformationspolitik im Vergleich zu einer graduellen die sozialen Kosten des Systemwechsels senkt. Der Kern der Auseinandersetzung um die Transformationsstrategien wird von Schüller (1992, S. 52) auf Divergenzen zwischen den ihnen zu Grunde liegenden Menschenbildern des homo soziologicus und des homo oeconomicus zurückgeführt. Der (a.) Gradualismus basiert auf monistischen Theorien menschlichen Verhaltens, welche im 102 homo soziologicus ihren Ausdruck finden. Institutionen sind verinnerlichte und unreflektierbare psychische Dispositionen und Routinen, deren Substitution notwendigerweise eine tiefgreifende Identitätskrise zur Folge hat. Der Gradualismus geht implizit davon aus, daß die Menschen in den Transformationsländern durch den Systemwechsel psychisch überfordert werden. Um die sozialen Kosten des Übergangs gering zu halten, sind die zu treffenden Maßnahmen nur sukzessive umzusetzen und zeitlich so zu strecken, daß die Individuen und Organisationen ihre Verhaltensweisen und Routinen schrittweise an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen können. Das Individuum und seine Anreizstruktur tritt hierbei oftmals hinter die Analyse von Organisationen und deren Routinen zurück (Murreil 1992, S. 40 ff.). Die Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik hat eine nur untergeordnete Bedeutung. Die (b.) Schocklösung geht dagegen implizit davon aus, daß Institutionen kritisier- und objektivierbare Handlungsrestriktio-

102

Vgl. Kapitel 2.2.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

55

nen grundsätzlich rational handelnder Akteure sind. 03 Im Vordergrund der Transformationspolitik steht daher die Veränderung der Anreiz- und Sanktionsstruktur, an der Individuen ihr Handeln ausrichten. Die Schocklösung betont die Interdependenzen zwischen den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Teilordnungen, welche eine Bündelung deijenigen systemkonstituierenden Ordnungsmerkmale einer Marktwirtschaft erfordern, die sofort umsetzbar sind. Hierdurch soll ein qualitativer Sprung erreicht werden, der eine Rückkehr zum alten System ausschließt und dem Transformationsprozeß die notwendige Eigendynamik verleiht. Die Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik rückt in den Mittelpunkt des Interesses. Beide Transformationsstrategien werden im folgenden auf Basis des in Kapitel 2.3. herausgearbeiteten Handlungsmodells sowie des vorangegangenen Erklärungsmusters institutionellen Wandels miteinander verglichen. Dies impliziert, daß auch die von einem anderen Handlungsmodell ausgehende gradualistische Strategie daraufhin untersucht wird, wie sie auf die Anreizstruktur rational abwägender und nutzenmaximierender Individuen einwirkt. Welche Erfolgsaussichten hat eine gradualistische Transformationsstrategie, wenn die Delegitimation des alten Systems sowie die soziale Desintegration bereits weit vorangeschritten sind? Eine graduelle Umgestaltung der systemkonstituierenden Ordnungsprinzipien in den Transformationsländern geht implizit davon aus, daß die Wirtschaftssubjekte das zu Sowjetzeiten akkumulierte soziale Kapital schrittweise substituieren können und hierdurch das Ausmaß an sozialer Desintegration begrenzt werden könnte. Da soziales Kapital jedoch eine spezifische Investition darstellt, muß dessen Entwertung hinreichend groß sein, bevor ein Anreiz zu Verhaltensänderungen besteht. Es ist daher unwahrscheinlich, daß eine gradualistische Politik einen friktionslosen Übergang bewerkstelligen kann. Schafft eine gradualistische Transformationsstrategie die Bedingungen, unter denen es für die Individuen vorteilhaft ist, ihr zu Sowjetzeiten akkumuliertes soziales Kapital abzuschreiben und mit neuen Verhaltensweisen zu experimentieren? Der Gradualismus vergrößert den Zeitraum institutioneller Unsicherheit und führt zu dauerhaften Inkongruenzen in der Regelordnung. Versuche, den Transformationsprozeß durch dirigistisches „Fine-Tuning" zu lenken, sowie Rufe nach einem „Dritten W e g " lassen die Transformationspolitik inkonsistent erscheinen.

104

Die Glaubwürdigkeit, welche die Trans-

Die der Schocktherapie zugrunde liegenden Annahmen stimmen demnach mit dem in dieser Arbeit in Kapitel 2.2. herausgearbeiteten Handlungsmodell sowie dem in Kapitel 3.1.3. dargelegten Verständnis von „Institutionen" überein. Lösch (1993, S. 141 ff.) diskutiert zwei konkrete gradualistische Strategien, die von westlichen und osteuropäischen Ökonomen vorgeschlagen wurden. Glaubwürdigkeitsaspekte bleiben ebenso unberücksichtigt wie Zweifel an der Eignung des planwirtschaftlichen Politikinstrumentariums für die Etablierung einer Marktwirtschaft. Des weiteren wird das Ausmaß der sowjetischen Fehlallokation von Ressourcen verkannt und von einem grundsätzlich wettbewerbsfähigen Kapitalstock ausgegangen. Zu den systemprägenden Merkmalen und Funktionsmängeln eines „Dritten Weges" zwischen Plan- und Marktwirtschaft siehe Hamel (1991, S. 166 ff.).

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formationspolitik in der Bevölkerung genießt, bleibt tendenziell niedrig.' 05 Solange eine Rückkehr zu dem alten System nicht ausgeschlossen werden kann, wird die Transformationspolitik mit einer starken politischen Opposition derjenigen Funktionsträger der Partei- und Wirtschaftsbürokratie konfrontiert sein, die nicht in einem frühen Stadium die Reputation eines Reformers erworben haben. Die möglichen Erträge einer Restauration der alten Ordnung beziehungsweise der Beibehaltung des Status Quo sind aufgrund ihrer Reputation als sowjetische Parteigänger vergleichsweise höher als wenn sie sich dem Lager der Transformationsbefurworter anschließen würden. Vor allem die alte Wirtschaftsbürokratie profitiert von dem bestehenden ordnungspolitischen Schwebezustand zwischen dem alten Sowjetsystem und einer noch konturlosen marktwirtschaftlichen Ordnung. Die mit einer graduellen Umsetzung einzelner Transformationsschritte einhergehende Widersprüchlichkeit von gesetzlichen Bestimmungen kann ein rechtliches Vakuum verursachen, welches Freiräume für bürokratische Willkür und den Aufbau einer Günstlingswirtschaft schafft. Die Intransparenz der aus den vormaligen Branchenministerien, Staatsbanken und Industriebetrieben hervorgehenden pseudo-marktwirtschaftlichen Strukturen fördert die Selbstbereicherung der 'Insider'. So ist die sich vorrangig aus ehemaligen Komsomolzen zusammensetzende Führungsschicht der neuen Finanz-Industrie-Gruppen in Rußland - die sogenannten „neuen Russen" - eng mit der staatlichen Wirtschaftsbürokratie verbunden (SchmidtHäuer Zeitpunkte 5/98, S. 67 f.). Diese Netzwerke behindern die Herausbildung wettbewerblicher Koordination auf den Geld- und Gütermärkten. Wird die alte Partei- und Wirtschaftsbürokratie nicht entmachtet und bestehen alte Gesetze und Verordnungen neben neuen äußeren Institutionen fort, können sich marktkonforme Verhaltensmuster mangels eines sie begünstigenden Selektionskriteriums nur unzureichend entwickeln und diffundieren. Diejenigen Wirtschaftssubjekte, die sich von den post-sowjetischen Netzwerken abgrenzen und mit marktwirtschaftlichen Verhaltensweisen experimentieren, werden nicht besser gestellt. Weder etablierte Funktionsträger des alten Systems, noch die große Masse der Nicht-Etablierten haben einen Anreiz, Wettbewerbs- und marktkonforme Verhaltensweisen zu übernehmen. Die Gefahr ist groß, daß im Falle eines anhaltenden wirtschaftlichen Niedergangs und sozialer Desintegration die Transformationspolitik und deren Ziele als Ganzes diskreditiert werden. Bestehende oder neuformierte Interessengruppen werden eine Politisierung des

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„A fundamental aspect of establishing credibility is related to the perception that the public has of the internal consistency of the policies being pursued" - Edwards (1990, S. 11). Der Gesetzes-Wirrwarr war in Rußland besonders ausgeprägt und leistete der Verschwendung, Korruption und dem Diebstahl seitens der alten Nomenklatura Vorschub. Schmidt-Häuer (Zeitpunkte 5/98, S. 10) zitiert den russischen Juristen Weremtschuk, der den in Rußland zu Beginn der neunziger Jahre herrschenden „Krieg der Gesetze" wie folgt charakterisiert: „Wir haben unsere Verfassung zu den 'Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen' gemacht. Alle Artikel widersprechen einander. Nach einer solchen Verfassung kann kein Mensch, kann kein Staat leben - niemand".

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

Transformationsprozesses vorantreiben und diesen destabilisieren. Ist der bürokratische Apparat der zentralen Wirtschaftsplanung und der Kommunistischen Partei noch intakt, kann - wie in Weißrußland - die Restauration einer stalinistischen Ordnung nicht ausgeschlossen werden. Die Schocklösung geht davon aus, daß die Stabilisierung der Erwartungen bezüglich der Erreichbarkeit des Transformationsziels eine wesentliche Bedingung für die Herausbildung neuer Verhaltensmuster ist. Da zwischenzeitliche Inkongruenzen in der Regelordnung nicht zu vermeiden sind, muß die Transformationspolitik durch die konsequente und zügige Implementierung der systemkonstituierenden äußeren Institutionen Glaubwürdigkeit erwerben. Erst wenn die Erwartungssicherheit bezüglich der Bestimmtheit der Transformationspolitik bei einer kritischen Masse der Marktakteure hinreichend groß ist, wird das zu Sowjetzeiten akkumulierte soziale Kapital entwertet. Ist eine Besserstellung durch Anpassung zu erwarten, besteht ein Anreiz, mit marktwirtschaftlicher Verhaltensweisen zu experimentieren beziehungsweise auf bestehende Erfahrungen mit den Schwarz- und Kolchosmärkten aufzubauen. Zu Beginn des Transformationsprozesses ist demnach seitens der politischen Entscheidungsträger ein unmißverständliches Zeichen für dessen Irreversibilität zu setzen, so daß eine Restauration 107

der alten Ordnung ausgeschlossen werden kann. Dies setzt unter anderem auch voraus, daß die alte Elite abgelöst wird und gewachsene Machtstrukturen aufgebrochen werden. Schließt das in dieser Arbeit zu Grunde gelegte Handlungsmodell die Berücksichtigung der zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bestehenden sozio-kulturellen Unterschiede bei der Wahl der Transformationspolitik aus? In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen des italienischen Marxisten A. Gramsci (1992, S. 816 und S. 873 f.) von Interesse, der sich in den zwischen 1926 und 1937 entstandenen „Gefängnisheften" skizzenhaft mit der Strategiewahl für eine erfolgreiche Transformation zu einer kommunistischen Gesellschaft beschäftigt hatte. Er stellte sich die Frage, warum ein bolschewistischer Staatsstreich in den westeuropäischen Ländern im Unterschied zu Rußland nur geringe Erfolgsaussichten hatte. Seine Kernaussage ist, daß eine staatsstreichartige Revolution nicht möglich sei, wenn die „zivile Gesellschaft" stark entwickelt ist. Vor dem Hintergrund der Ausfuhrungen der vorangegangen Kapitel läßt sich diese Differenzierung wie folgt begründen: in einer etablierten bürgerlichen Gesellschaft akkumulieren die Individuen nicht nur durch die Befolgung staatlicher Gesetze und Regulierungen soziales Kapital, sondern auch durch wechselseitige Kooperation in Vereinen, der Kirche, Gewerkschaften, politischen Parteien und allen nicht-staatlichen gesellschaftlichen Organisationen, in die soziales Handeln eingebettet ist. Dieses Netz wechselseitiger Beziehungen und Abhängigkeiten sowie die sie tragende Mentalität, die

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Funke (1993, S. 337 ff.) diskutiert die zeitliche Aufeinanderfolge der einzelnen Stabilisierungsmaßnahmen und institutionellen Reformen unter dem Aspekt ihrer Glaubwürdigkeit. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, daß die verhaltenssteuemde Wirkung der Glaubwürdigkeit positiv mit der Geschwindigkeit und dem Umfang der Transformationspolitik korreliert ist.

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Moralvorstellungen und der „Alltagsverstand" hatten in Westeuropa einen antitotalitären Konsens geschaffen, der die politische Ordnung vor einem bolschewistischen Staatsstreich schützte . Folgt man Gramscis Überlegungen, dann müßte bei der Wahl der geeigneten Transformationsstrategie berücksichtigt werden, ob sich in den jeweiligen Sowjetrepubliken eine staats- und systemtragende „zivile Gesellschaft" herausgebildet hatte. Die Sowjetunion war jedoch ein streng zentralistisches System mit totalitärem Anspruch. In allen Republiken wurde soziales Handeln primär innerhalb der Partei-, Jugend-, Kultur- und Wirtschaftsorganisationen hierarchisch koordiniert. Soziales Kapital konnte in der Regel nicht außerhalb, sondern nur innerhalb staatlicher Organisationen erworben werden. Dies schloß die Herausbildung^einer entwickelten „Zivilgesellschaft" und der sie tragenden Moralvorstellungen aus. Deren grundsätzlich bürgerlicher Charakter war nicht mit dem ideologischen Überbau der Sowjetunion vereinbar. Diesbezüglich unterschieden sich die Bedingungen im Jahr 1991 in den einzelnen Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht. Nach Gramscis Kriterium waren ihre Voraussetzungen für eine Schocklösung demnach vergleichbar. Hierdurch werden jedoch nicht unterschiedliche Transformationsverläufe ausgeschlossen. Eine die Transformation stabilisierende „Zivilgesellschaft" wird erst im Zuge eines möglicherweise in den einzelnen Ländern unterschiedlich langwierigen gesellschaftlichen Integrationsprozesses entstehen. Es ist zu erwarten, daß die Individuen in denjenigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die - wie die Baltischen Staaten - an die Tradition einer Zivilgesellschaft anknüpfen können, in der Herausbildung horizontaler Koordinationsformen und der Bildung neuen sozialen Kapitals einen Vorteil gegenüber Staaten mit ausschließlich totalitärer Vergangenheit haben (Putnam 1993, S. 165). Vergleicht man rückblickend die Transformationsergebnisse der ost- und mitteleuropäischen Staaten, so kann die Debatte um das optimale „Timing" und „Sequencing" der Transformationspolitik als entschieden betrachtet werden. „The evidence suggests that countries attempting a gradual strategy have not been able to reduce the cumulative Output cost of transition; instead, the principal effect of such strategy appears to be a delay in the resumption of growth" {IMF 1995, S. 41). Diejenigen Staaten dagegen, die frühzeitig eine energische Transformationspolitik verfolgten, haben sich am schnellsten

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Folgt man Gramscis Überlegungen, dann war die totale Machtergreifung der Nationalsozialisten nach 1933 nur möglich, weil die Loyalität einer kritischen Masse der Bevölkerung zur Weimarer Republik und die sie tragenden gesellschaftlichen Organisationen in einem kulturellen „Stellungskrieg" durch rechte und linke Agitation bereits ausgehöhlt worden war. Gramsci räumt hierbei ein, daß entgegen dem streng marxistischen Basis-Überbau-Modell der geistig-kulturelle Überbau eine gewisse Eigenständigkeit aufweist und von Bedeutung für politische und soziale Veränderungsprozesse ist - vgl. Dombroski (1989, S. 10). 109

„A vertical network cannot sustain social trust and Cooperation" - Putnam (1993, S. 174).

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von den anfänglichen Produktionseinbrüchen erholt, ein reales Wirtschaftswachstum 110

erzielt und erfolgreich begonnen, sich in die Weltwirtschaft zu integrieren. 2.

Ordnungspolitische Anforderungen an die Transformationspolitik

2.1.

Notwendigkeit einer politischen „Gesamtentscheidung"

Da der „Schatten der Zukunft" für die Marktteilnehmer zu kurz ist, verhindern soziale Dilemmasituationen die spontane Entstehung marktwirtschaftlicher äußerer Institutionen. Durch deren politische Setzung soll die Niedergangsdynamik in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion durchbrochen und die Herausbildung marktwirtschaftlicher Verhaltensmuster gefördert werden. Die politische Dimension der Transformation wird in A. Schüllers Definition eines Wirtschaftssystems deutlich. Das Wirtschaftssystem als Teil des gesellschaftlichen Gesamtsystems umfaßt: - „Die Menschen als Träger von Bedürfnissen, Fähigkeiten, Ressourcen sowie von Sozialbeziehungen (Transaktionen). - Die Wirtschaftsordnung mit konstitutiven und anderen Ordnungsformen als Gestaltungsproblem der Ordnungspolitik..." (Schüller 1992, S.38). Konstitutive Ordnungsformen sind die Eigentumsordnung als Struktur der Planungs- und Eigentumsrechte (Property Rights) sowie die Art der Wirtschaftsrechnung. - Diejenigen Teilbereiche der politischen Ordnung, denen „...die Gestaltung der Wirtschaftsordnung und die Beeinflussung der Wirtschaftsprozesse, also des Mikro- und Makrogeschehens" obliegt (Schüller 1992, S.39). Die Transformation wird von Schüller (1991, S.l) als ein Übergang von dem Wirtschaftsordnungstyp „Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs" zum Wirtschaftsordnungstyp „Marktwirtschaft" definiert. Im Unterschied zu stetigen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen hat sie einen Ausgangspunkt und die Etablierung

Vgl. Weltbank (1996, S. 27 ff.), IMF (1995, S. 31) sowie De Melo et al. (1995, S. 4 ff.). in

Siehe Schüller (1992, S. 38). Die Definitionen von Wirtschaftssystemen sowie die Abgrenzung zu dem Begriff Wirtschaftsordnung unterscheiden sich in der Literatur je nach Forschungsschwerpunkt beträchtlich. Die Definitionen von Gutmann (1987, S. 22), Haffner (1986, S. 83 ff.), Schönwitz und Weber (1983, S. 6), Thieme (1988, S. 10 ff.) orientieren sich stärker an der Allgemeinen Systemtheorie, wobei die Begriffe Wirtschaftssystem und Wirtschaftsordnung oftmals synonym verwendet werden. Leipold (1988, S. 58) wählt in Anlehnung an den Sprachgebrauch in der angelsächsischen Literatur eine Abgrenzung des Begriffs Wirtschaftssystem, welcher zusätzlich die natürlichen Ressourcen und die produzierten Güter als Elemente umfaßt. Hensel (1977, S. 25 ff.) definiert Wirtschaftssysteme als Ordnungssysteme, sieht aber zwischen seinem ordnungstheoretischen Ansatz und der allgemeinen Systemtheorie keinen Zusammenhang. Schüllers Definition weist in dieselbe Richtung. Sie hat für die Analyse der Transformation von Wirtschaftssystemen gegenüber systemtheoretischen Ansätzen den Vorteil, daß sie die Wirtschaftsordnung als Gestaltungsproblem staatlicher Ordnungspolitik in den Vordergrund stellt.

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Bertram Wiest 112

einer Marktwirtschaft als Zielpunkt. Die Transformation setzt somit eine „politische Gesamtentscheidung" über die angestrebte Wirtschaftsordnung voraus, die alle Teilordnungen miteinbezieht. Transformationspolitik muß in erster Linie Ordnungspolitik sein. Die Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik wird hierbei entscheidend durch die persönliche Reputation der politischen Entscheidungsträger, ihre ordnungsjwlitischen Vorstellungen sowie von ihrer politischen Durchsetzungskraft bestimmt. Wie am Beispiel der Baltischen Staaten in Kapitel 4 zu zeigen sein wird, sind sie „als politische Unternehmer...entscheidende Triebkräfte des Transformationsprozesses" (Schüller 1992, S. 46) und haben wesentlichen Einfluß darauf, ob und in welchem Zeitrahmen - Wettbewerbspreise eine Lenkungswirkung für diejenigen Sozialbeziehungen der Menschen übernehmen können, welche die Produktion und Transaktionen von Gütern und Dienstleistungen betreffen, - sich das Moralsystem einer marktwirtschaftlichen ausbilden kann. 2.2.

„Privatrechtsgesellschaft"

her-

Grundelemente der Transformationspolitik

Die Übergangsphase zum Kommunismus erfordere laut Bucharin (1970/1920, S. 56 ff. sowie S. 147 ff.) eine Zentralisierung der Gesamtgesellschaft durch revolutionären Zwang. Die Veränderung der Produktionsverhältnisse im Sinne der marxistischleninistischen Ideologie setzt die totale Kontrolle der Kommunistischen Partei über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft voraus. Bucharin nahm somit die von Euchen (1990, S. 14) hervorgehobene „...Interdependenz der Wirtschaftsordnung mit allen übrigen Lebensordnungen" vorweg. U m die Gesellschaft in ein einziges

Sundhausen (1995, S. 77): „Ausgangspunkt ist ein System, das so instabil geworden ist, daß es nicht länger funktionsfähig ist und auch mittels systemimmanenter Korrekturen nicht mehr stabilisiert und gesteuert werden kann. Sein Zusammenbruch ist der Beginn der Systemtransformation". " 3 Siehe Eucken (1990, S. 289 ff.) und Böhm (1937, S. 39 f.); vgl. auch Schüller (1991, S. 8). 114

115

Dies spiegelt sich in Klotens (1991, S. 8 f.) Definition des Begriffs Transformation wider. Laut Kloten soll demzufolge die Transformation von Wirtschaftssystemen „...jener durch politischen Gestaltungswillen und politisches Handeln ausgelöste Prozeß heißen, der durch eine Substitution gegebener ordnungskonstituierender Merkmale durch andere einen 'qualitativen' Sprung derart bewirkt, daß es zu einer Ablösung des alten Systems durch ein neues kommt". Marktwirtschaften sind Privatrechtsgesellschaften. Böhm (1966, S. 98) führte aus, „... daß das Funktionieren des marktwirtschaftlichen Lenkungssystems das Bestehen einer Privatrechtsgesellschaft voraussetzt", da sie auf dem Prinzip der horizontalen Koordination durch Tausch beruhen. Dem stellt Böhm das Subordinationsprinzip der Zentralverwaltungswirtschaft entgegen. „Eine Gesellschaft, deren Mitglieder einander nicht über- oder untergeordnet (subordiniert), sondern gleichgeordnet (koordiniert) sind", erfordert ein Rechtssystem und ein Moralsystem, welches die Privatautonomie der Individuen schützt. - Böhm (1966, S. 75).

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„...wirtschaftendes Subjekt, in eine planmäßig wirkende Organisation, in eine «teleologische Einheit», in ein organisiertes System" überführen zu können, muß der monopolistische Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei alle Lebensbereiche der Individuen umfassen und durchgesetzt werden (Buchariti 1970/1920, S. 30). Schüller (1991, S. 2 f.) schlägt vor, die Transformation von einer Staatswirtschaft zu einer Marktwirtschaft als „Rückwärtsfahrt" aufzufassen. Bucharins Handlungsempfehlungen seien in ihr Gegenteil zu verkehren. Politisches Ziel müsse eine umfassende Dezentralisierung von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft sein. Das vorherrschende politische, rechtliche und ökonomische Beziehungsgeflecht ist aufzulösen, dessen Funktionsträger zu entmachten. Das eigentliche Problem der Transformationspolitik resultiert jedoch aus einer Asymmetrie zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung: Da der Komplexitätsgrad einer Gesellschaft durch Zentralisierung verringert werden soll, kann die angestrebte Ordnung konstruktivistisch geplant und durch Zwang auch unmittelbar durchgesetzt werden; die Dezentralisierung kann aufgrund der Komplexität der angestrebten Ordnung konstruktivistisch nur durch die Setzung von Rahmenbedingungen eingeleitet werden. Sie erfordert auch unabhängige Lernprozesse der Individuen. Dennoch läßt sich aus dem politischen Ziel der Dezentralisierung ein heuristischer Leitfaden für die Transformationspolitik ableiten: 1. Die politische Ordnung: Die unter dem Stichwort „demokratischer Zentralismus" herrschende Einparteiendiktatur ist durch eine pluralistische Herrschaftsstruktur mit Gewaltenteilung und konkurrierender Willensbildung durch unterschiedliche politische Parteien abzulösen. Dieser Punkt ist strittig. Schwarz sieht von Hayeks Skepsis bezüglich der Konformität des demokratischen Mehrheitsprinzips mit einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung gerade im Falle der Transformationsländer bestätigt. Uneingeschränkte Demokratien könnten in einem circulus vitiosus münden: Demokratie Unfähigkeit zur Reform - Verarmung - Unruhen - Rückkehr zur Diktatur. Schwarz vertritt die Auffassung, daß ein autoritäres Regime besser als ein demokratisches dazu geeignet wäre, eine in sich geschlossene Transformationspolitik durchzusetzen. Die Machtballung in den Händen autoritärer Diktatoren erlaube es, die Ansprüche von organisierten Interessengruppen an den Staat abzuwehren und gewährleiste eine längerfristige Orientierung, Konsequenz und höhere Stabilität. Dem werden folgende Punkte entgegengehalten: - Schwarz hebt hervor, daß die autoritäre Führung nur die erforderliche Legitimität hätte, wenn sie nicht mal zu Teilen auf der alten Nomenklatura aufbaut. Hierin liegt das Problem autoritärer Regime in den Transformationsländem. Ohne demokratische

"6 Vgl Kapitel 3.2.2. 117

Siehe Schwarz (1992, S. 66 ff.) sowie von Hayek (1981a sowie 1991); jede postkommunistische Regierung ist extremen leistungsstaatlichen Anforderungen durch den Druck organisierter Interessengruppen ausgesetzt. Es besteht die Gefahr, daß die Anreize zu notwendigen Strukturanpassungen der Wirtschaftsbetriebe und Sozialsysteme durch eine „weiche" Finanzierung in Form einer expansiven Fiskal- und Geldpolitik verwässert werden.

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Legitimation könnten sie ihre Macht, auch in der Bevölkerung unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen, nur auf die Unterstützung bestehender Netzwerke und die des Militärs gründen. Es ist zweifelhaft, ob sie in der Lage und überhaupt interessiert daran sind, eben jene Pfeiler ihrer Autorität zu entmachten. Eine konsequente Transformationspolitik wäre unwahrscheinlich. Das Transformationsziel per se würde im Falle einer sich verschärfenden ökonomischen und sozialen Krise diskreditiert werden. Bleiben die Strukturen der Armee, der staatlichen Sicherheitsdienste und Verwaltungsbürokratie weitgehend bestehen, droht autoritären Regimen das Umkippen in ein totalitäres Herrschaftssystem (Leipold 1992, S. 225 ff.). - Hat der Diktator die Macht, per Dekret zu regieren, so wird er oder sein Nachfolger jedes Gesetz auch wieder per Dekret revidieren können. Den Dekreten kann es somit an Glaubwürdigkeit fehlen. - Autokratien weisen nach Tullock (1987, S. 151 ff.) aufgrund des Problems, wie die Nachfolge zu regeln sei, eine inhärente Instabilität auf, die Unsicherheit induziert. Der Erfolg der Transformationspolitik wäre mit der persönlichen Reputation des benevolenten Diktators verknüpft. Krankheit, Tod, Diadochenkämpfe oder Versuche, seine persönliche Integrität in Zweifel zu ziehen, könnten den Transformationsprozeß als Ganzes in Frage stellen. - Die Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik wird um so geringer sein, je weniger eindeutig der Bruch mit der Vergangenheit ist. Trotz der Einwände gegen die Vorteilhaftigkeit autoritärer Regime wird Schwarz darin zugestimmt, daß es unwahrscheinlich ist, daß rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Institutionen durch das Mehrheitsprinzip nicht nur zustande kommen, sondern auch stabil bleiben. Die Anforderungen an die Transformationspolitik bestehen unabhängig von politischen Mehrheiten und können nicht durch Kompromisse überdeckt werden. So führte in einem Großteil der Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie beispielsweise in Weißrußland und auch in Rußland die Einführung des Mehrheitswahlrecht zu „illiberalen Demokratien". Die auch von Schwarz angeführte konstitutionell beschränkte Demokratie erscheint jedoch eine überzeugendere Lösung als die autoritäre Diktatur.

118

119

Die Verabschiedung einer liberalen Verfassung drückt einen Bruch mit dem

Siehe Zakaria, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.1997, Nr. 288, S. 15.

119

Gerade in den ost- und mitteleuropäischen Staaten läßt sich rückblickend eine starke Interdependenz zwischen verfassungsrechtlich gebundenen Demokratien und den jeweils erreichten Transformationserfolgen feststellen. Diejenigen Transformationsstaaten, die sich frühzeitig für eine Öffnung und Demokratisierung des politischen Systems entschieden haben, weisen auch den vergleichsweise höchsten Grad an wirtschaftlicher Liberalisierung auf: „... it is found that economic liberalization is typically associated with a similiar degree of political change. The direction of causality is actually two-way, since economic liberalization is an essential step in breaking the power of established structure, especially line ministeries that previously controlled industry and trade.... Those countries that made a clear break with the previous regime (the Czech Republic, Hungary, Poland, Estonia, Latvia, and Lithuania) have radically liberalized" - De Melo et al. (1995, S. 4 f.).

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ideologischen Überbau der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs aus, da das individualistische Menschenbild des Liberalismus das genaue Gegenstück zum Kollektivismus des Marxismus-Leninismus darstellt. In der verfassungsrechtlichen Verankerung der marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzipien wird die beste Gewähr dafür gesehen, daß das „window of opportunities" für die Transformationspolitik nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht durch eine restaurative Mehrheit in den Parlamenten geschlossen wird. 2. Die Rechtsordnung: Ein Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, daß in ihm Gesetze herrschen, und nicht menschliche oder staatliche Willkür. Staatliches Handeln ist auf den Schutz von Rechten gerichtet. Hierzu bedarf es einer Verfassung, die individuelle Grundrechte garantiert und die Gewaltenteilung festschreibt. Gewaltenteilung erfordert die Subordination der Legislative und der Exekutive unter verfassungsrechtliche Grundsätze, die von einem unabhängigen Verfassungsgericht überwacht werden und durchsetzbar sein müssen. Eine Privatrechtsgesellschaft ist sowohl vor einer politischen als auch wirtschaftlichen Konzentration von Macht zu schützen, welche es gesellschaftlichen Gruppen oder dem Staat erlaubt, auf andere Mitglieder einer Gesellschaft willkürlich Zwang ausüben zu können. Die Einführung und der Erhalt konkurrierender Willensbildung im politischen Prozeß setzt die Festschreibung individueller Freiheitsrechte wie zum Beispiel des Rechts der freien Meinungsäußerung, der Versammlungsfreiheit und der Pressefreiheit voraus. Um die Privatautonomie der Individuen zu schützen, sind deren private Bereiche sowohl voneinander als auch gegenüber dem Staat abzugrenzen. Hierin liegt die rechtsstaatliche Bedeutung der liberalen wirtschaftlichen Freiheitsrechte:

120

Siehe Schwarz (1992, S. 82); vgl. auch Apolte und Cassel (1994, S. 663 ff.) sowie Leipold (1994, S. 736 f.); die Chancen für eine konstitutionelle Selbstbindung sind nach Schüllers (1992, S. 50) Auffassung solange relativ günstig, „... als es auf dem Transformationspfad noch an jenem stabilen sozialen Umfeld fehlt, in dem die Kosten einer erfolgreichen Interessenorganisation - die Entwicklung «distributiver Koalitionen» (Mancur Olson) - sinken". Hieraus läßt sich schlußfolgern, daß die Verabschiedung einer Verfassung - wie in Estland - am Anfang des Transformationsprozesses stehen sollte - vgl. Apolte (1992, S. 188 ff.).

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„Da Zwang nur ausgeübt werden kann, wenn der Zwingende die wesentlichen Bedingungen für das Handeln des anderen Menschen in seiner Gewalt hat, kann er verhindert werden, indem dem Einzelnen die Sicherung eines privaten Bereichs ermöglicht wird, in dem er gegen solche Eingriffe geschützt ist" - von Hayek (1983, S. 168). Die Definition von Freiheit als Abwesenheit von Zwang liegt in dem liberalen Menschenbild begründet. Nach liberalem Verständnis ist der Mensch Eigentümer seiner Person und Fähigkeiten - d. h. er hat ein freies Verfügungsrecht über seine Person, welches nicht kollektiven Zwecken untergeordnet werden darf. Die Freiheit des Menschen kann rechtmäßig nur durch solche Pflichten und Regeln eingeschränkt werden, die nötig sind, die gleiche Freiheit auch anderen Individuen zu sichern. Originäre Aufgabe des Staates ist es, die Freiheitsrechte aller zu sichern. Dies erfordert die Durchsetzung allgemeiner und abstrakter Regeln.

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- das Recht auf Privateigentum und die Vertragsfreiheit sichern den Individuen exklusive Verfligungsrechte über erworbene wirtschaftliche Güter. Unter Verfügungsrechten ist ein Bündel von unterschiedlichen Rechten zu verstehen, die Planungsrechte, Entscheidungsrechte, Nutzungsrechte und Übertragungsrechte einschließen. Auftretende Vertragsstreitigkeiten beim Transfer von Eigentum sind nach allgemeinen Regeln beizulegen, deren Durchsetzung einklagbar sein muß. - die freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes sowie die Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit sollen gewährleisten, daß die Erzielung von Einkommen und damit auch Eigentum seitens der Individuen weder staatlichen noch gesellschaftlichen Gruppeninteressen untergeordnet werden kann. 3. Die Wirtschaftsordnung: Die Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs zeichnet sich durch eine vollzugsverbindliche Zentralplanung des Wirtschaftsgeschehens aus. Maßstab für die Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen ist eine politisch bestimmte Bedürfnishierarchie mit normierten gesellschaftspolitischen Prioritäten, Leistungs- und Versorgungsstandards. Knappheiten werden in Form der Mengenplanung durch güterwirtschaftliche Planbilanzen ermittelt, das Wirtschaftsgeschehen zentral ex ante koordiniert. Dies setzt die zentrale Verfügungsgewalt und damit das Staatseigentum über die Produktionsmittel voraus. Die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung beruht dagegen auf der dezentralen ex post-Koordination der individuellen Pläne und Handlungen über den Preismechanismus. Dieser stellt den Rechnungszusammenhang zwischen knappen wirtschaftlichen Gütern her und dient als Maßstab für die Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen. Die Etablierung eines funktionsfähigen Preissystems kann somit als „wirtschaftsverfassungsrechtliches Grundprinzip" (Eucken 1990, S. 254) einer Wettbewerbsordnung angesehen werden und hat demnach im Mittelpunkt der Transformation der Wirtschaftsordnung zu stehen. Welches sind die institutionellen Voraussetzungen für eine aus der dezentralen ex post-Koordination der Wirtschaftspläne resultierende spontane Marktentwicklung? Diese Frage kann durch die von Eucken (1990, S. 254 ff.) herausgearbeiteten systemkonstituierenden Ordnungsprinzipien einer Wettbewerbswirtschaft als hinreichend beantwortet gelten. Es bietet sich daher an, sie als Leitfaden für die Identifizierung von übergeordneten Transformationszielen heranzuziehen und aus ihnen stabilitäts- und strukturpolitische Aufgabenbereiche abzuleiten (Gutmann 1991, S. 63 ff.): - Flexibles Marktpreissystem: Die ex post-Koordination wirtschaftlichen Planens und Handelns durch den Preismechanismus setzt eine umfassende Preisliberalisierung voraus.

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So bedeutet laut W. Röpke (1966, S. 150) Eigentum nicht nur, „daß... die individuelle Sphäre der Entscheidung und Verantwortung gegen diejenige der anderen Individuen abgegrenzt wird. Es gewährleistet vielmehr auch den Schutz der individuellen Sphäre gegenüber der politischen Gewalt. Es zieht nicht nur eine horizontale, sondern auch eine vertikale Grenze, und erst in dieser Doppelfunktion kann das Eigentum voll verstanden werden als die unerläßliche Bedingung der Freiheit".

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- Primat der Währungspolitik/Geldwertstabilität: Die Verwendung von Geld als Recheneinheit, Tausch- und auch Wertaufbewahrungsmittel ist an dessen Stabilität geknüpft. Geldwertstabilität verlängert den Planungshorizont der Wirtschaftssubjekte und ist somit eine Voraussetzung dafür, daß ein Anreiz zu mittel- und längerfristigen Spar- und Investitionsentscheidungen besteht. Konvertibilität und ein realistisches Außenverhältnis der Währung zu den anderen Währungen stellt den internationalen Rechnungszusammenhang her und fördert die Eingliederung in die Weltwirtschaft. Aus diesen stabilitätspolitischen Anforderungen läßt sich ein wesentlicher strukturpolitischer Aufgabenbereich der Transformationspolitik ableiten: die Transformation der Geld- und Währungsordnung in ein zweigliedriges Bankensystems nach westlichem Vorbild mit weitgehender Unabhängigkeit der Geld- und Währungspolitik von politischen Einflüssen und einer effektiven Bankenaufsicht. - Offene Märkte: Der Informationsgehalt und die Lenkungswirkung von Preisen sind um so größer, j e mehr wirtschaftliche Güter durch den Preismechanismus in einen Rechnungszusammenhang gestellt sind. Marktzutrittsbarrieren für in- und ausländische Wirtschaftssubjekte sind abzuschaffen, die Isolation der nationalen Gütermärkte in Form von Außenhandelsbeschränkungen ist abzubauen. In der zügigen außenwirtschaftlichen Ö f f n u n g kann hierbei ein Mittel gesehen werden, den Anpassungsdruck auf die bestehenden Staatsbetriebe zu erhöhen und Wettbewerb zu generieren. - Privateigentum, Haftung und Vertragsfreiheit als zivilrechtliche Voraussetzungen einer Wettbewerbswirtschaft: dezentrale ex post-Koordination durch den Preismechanismus setzt dezentrale Verfügungsrechte über die Produktionsmittel voraus, was durch Privateigentum gewährleistet wird. Mit zunehmendem Grad an Exklusivität der Verfugungsrechte läßt sich den Trägem von Handlungsrechten vermehrt auch die Verantwortlichkeit fiir die Folgen ihrer Handlungen zuordnen. Das Haftungsprinzip zielt darauf ab, Verluste verursachergerecht zuzurechnen und somit auch den marktlichen Selektionsmechanismus in Form von Konkursen zum Tragen kommen zu las124

sen. Der Vertragsfreiheit sind dort Grenzen zu setzen, wo sie eine ungerechtfertigte Einschränkung des Haftungsprinzips sowie eine Ausschaltung von Wettbewerb zur Folge hat. Die ökonomische Bedeutung des Privateigentums beruht auf der Annahme, daß sich exklusive Verfügungsrechte und die Durchsetzung des Haftungsprinzips in einer Wettbewerbswirtschaft dahingehend auf die individuelle Anreizstruktur auswirken, daß wirtschaftliche Ressourcen in ihre effizienteste Verwendung geleitet werden {Meyer 1983, S. 23 ff.). Individuelle Bemühungen und individueller Ertrag werden in

„Mit der Gewährung der Konvertibilität integriert ein Land das Potential an international handelbaren Gütern in das Weltmarktpreissystem. Gerade dort, wo sich das nationale Preissystem erst herausbildet, besteht die Chance, den internationalen Rechnungszusammenhang zu importieren" - Weber (1995, S. 78 f.). Im Haftungsprinzip sah Eucken (1990, S. 285) „... nicht nur eine Voraussetzung für die Wirtschaftsordnung des Wettbewerbes, sondern überhaupt für eine Gesellschaftsordnung, in der Freiheit und Selbstverantwortung herrschen."

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einen engen Zusammenhang gestellt. D a sich die Verfugungsrechte an Produktionsmitteln in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion fast ausschließlich in den Händen des Staates befanden, liegt in deren Privatisierung einer der wesentlichen Aufgabenbereiche der Transformationspolitik . Neben der Privatisierung bedarf es einer rechtlichen Basis für Neugründungen, die vor allem in dem bisher vernachlässigten und wenig kapitalintensiven Dienstleistungsbereich eine dynamische Wirtschaftsentwicklung begünstigen können. Da die Entstehung wettbewerbsfähiger Betriebsgrößenstrukturen als Folge eines langwierigen Entflechtungs-, Neugründungs- und Privatisierungsprozesses aktives ordnungspolitisches Handeln des Staates voraussetzt, wird Euckens regulierendes Prinzip der Antimonopolpolitik von Schüller und Wentzel in den Rang eines konstituierenden Prinzips erhoben. - Konstanz der Wirtschaftspolitik: Der Staat solle sich auf die ordnungspolitische Setzung der Rahmendaten und auf die Bereitstellung öffentlicher Güter beschränken. Punktuelle diskretionäre Eingriffe in den Marktprozeß sind zu unterlassen. Dieser Forderung liegt die Annahme zu Grunde, daß Versuche, den Wirtschaftsablauf durch prozeßpolitische Maßnahmen zu steuern, den Erwartungshorizont der Wirtschaftssubjekte verkürzten und sich somit negativ auf mittel- und längerfristige Spar- und Investitionsentscheidungen auswirken würden. Aus den genannten Punkten läßt sich ein detaillierter Positivkatalog politischer Maßnahmen erstellen. Im folgenden soll ihre Realisierung in Estland, Lettland und Litauen untersucht werden.

Hierbei stehen generell drei unterschiedliche Verfahren der Überfuhrung bestehender Betriebe in privatrechtliche Organisationsformen zur Auswahl: (a.) die Rückerstattung, (b.) Voucher-Privatisierung sowie (c.) die Privatisierung via internationale und nationale Ausschreibungen und Auktionen. 126

127

Siehe Schüller und Wentzel (1991, S. 299); gerade am Beispiel des Privatisierungsprozesses läßt sich laut von Delhaes (1993, S. 310 f.) aufzeigen, daß die Etablierung einer Wettbewerbswirtschaft aktives ordnungspolitisches Handeln voraussetzt. So fuhrt er die Nomenklatura-Privatisierung in einigen Transformationsländern als Beispiel für spontane ordnungspolitische Fehlentwicklungen im Transformationsprozeß an. Zu einer Auflistung der politischen Aufgabenbereiche der Systemtransformation siehe Apolte und Cassel (1991, S. 115); zu einer ausführlicheren Diskussion der Maßnahmen und einem Überblick über die mit ihnen gemachten Erfahrungen in den Transformationsländern, welche auch die sozialpolitische Dimension des Transformationsprozesses beleuchtet, siehe Weltbank (1996, S. 54 ff.).

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KAPITEL 4 : D I E TRANSFORMATION IN DEN BALTISCHEN STAATEN

„Wer aber auf der Stelle tritt, bekommt geschwollene Füße." M. Gorbatschow

1. 1.1.

(1995, S.547)

Der Zerfall der Sowjetunion Die Vergeblichkeit sowjetischer Reformbemühungen

Voraussetzung für eine eigenständige Transformationspolitik in den Baltischen Staaten war die Wiederherstellung ihrer nationalen Souveränität und damit der Austritt aus der Sowjetunion. Dieser wäre ohne die sich zuspitzende Systemkrise der Sowjetunion Ende der achtziger Jahre nicht möglich gewesen. Deren Auflösung wurde durch die wachsende Einsicht in die Vergeblichkeit der Reformbemühungen eingeleitet. Angesichts des rückläufigen Wirtschaftswachstums wurde seit Mitte der sechziger Jahre versucht, die wirtschaftliche Effizienz und Innovationsfähigkeit durch verbesserte Planungsmethoden und Anreizsysteme sowie durch eine Umorganisation der Verwaltung zu steigern (Schüller und Peterhoff 1988, S. 323 ff.). Die bestehenden systemimmanenten Widersprüche zwischen inneren und äußeren Institutionen ließen sich jedoch auch durch die Partialreformen nicht überwinden. Die Wirtschaft stagnierte, die sozialen Mißstände wuchsen und wurden schon in den siebziger Jahren immer offensichtlicher: Die Lebensverhältnisse weiter Kreise der Bevölkerung verschlechterten sich, die Lebenserwartung sank unter die Ende der fünfziger Jahre erreichte, spürbares Wachstum verzeichneten einzig die Kindersterblichkeit, der Alkoholismus, der inoffizielle Sektor, Korruption und damit einhergehend das Mißtrauen gegenüber der politischen Führung (Druwe 1991, S. 43). Die Reformunfähigkeit des Sowjetsystems hatte dessen Delegitimierung und Degeneration zur Folge (Simon 1995, S. 16 f f ) . Die innenpolitische Lage wurde Anfang der achtziger Jahre seitens der politischen Führung trotz aller Krisensymptome noch als stabil eingeschätzt. U m so besorgniserregender wurde das Rückfällen der Sowjetunion im Systemwettbewerb mit den USA wahrgenommen (Äslund 1989, S. 13 ff.). Die Anzahl an Reformverfechtem innerhalb des Parteiapparates, der Wissenschaft, der Wirtschaftsverwaltung und nicht zuletzt des KGBs nahm zu. Sie sahen eine Gefahr für das gesamte System, wenn der Niedergangs-

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dynamik nicht Einhalt geboten würde. Die Partei- und Wirtschaftseliten spalteten sich in zwei Lager: die Reformbefurworter und die Verfechter des Status Quo. Ein Jahr nach Wahl zum Generalsekretär der K P D S U proklamierte M. Gorbatschow auf deren XXVII. Parteitag im Jahr 1986 die Notwendigkeit radikaler Reformen von Wirtschaft und Gesellschaft. Lenins „Neue Ökonomische Politik" (NEP) diente als Vorbild für die Entwicklung eines neuen sowjetischen Wirtschaftsmodells. Ziel war die langfristige Sicherung der Einparteienherrschaft der K P D S U durch höheres Wirtschaftswachstum („Uskorenie"). Die Reformmaßnahmen firmierten unter dem Stichwort „Perestroika", welches den angestrebten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft beschreiben sollte. U m der „Perestroika" die notwendige Glaubwürdigkeit und Mobilisierungsfähigkeit zu verschaffen, wurde eine neue Politik der Offenheit und des Pluralismus unter den Schlagwörtern „Glasnost" und „Demokratsija" verfolgt. Eine Dezentralisierung und Demokratisierung der wirtschaftlichen Planungs- und Entscheidungsprozesse sollten die Allmacht der reformfeindlichen Staatsbürokratie brechen und die Menschen mobilisieren. Hinter all den neuen Schlagwörtern verbirgt sich die Uneinsichtigkeit der Reformer in die Systembedingtheit der Wirtschafts- und Gesellschaftskrise, die durch die eingeschlagenen Maßnahmen noch verstärkt wurde. Die Niedergangsdynamik konnte nicht gestoppt werden. In den Jahren der Perestroika hatte sich die wirtschaftliche Ungleichgewichtssituation verschärft. Die realen Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts blieben in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre selbst nach offiziellen sowjetischen Angaben immer stärker hinter dem Anstieg der Löhne und Gehälter zurück (Götz-Coenenberg 1989, S. 13 f.). Die Geldeinkommen überstiegen das Angebot an Konsumgütern; das Volumen der auf dem Schwarzmarkt

Eine Zuordnung führender sowjetischer Politiker dieser Jahre in die jeweiligen Lager gibt Aslund (1989, S. 23 ff.), der auch die Reformdiskussion zwischen den beiden Lagern instruktiv nachzeichnet. 129

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Vgl. Gorbatschow (1987, S. 52 ff.); sehr viel deutlicher und konkreter stellte Gorbatschow seine Reformpläne in einem Referat vor dem Zentralkomitee 1987 vor ebenda S. 381 ff.; zu einer ausführlicheren Darstellung von Gorbatschows Reformprogrammen und den Gründen ihres Scheitems siehe Ahrens (1994, S. 39 ff.) sowie Peterhoff (1991, S. 184 ff.). Unterstellt man den damaligen Entscheidungsträgem und ihren Beratern beste Absichten, kann diese Uneinsichtigkeit den heutigen Leser nur erstaunen. So zeigte sich Aganbegyan (1988, S. 242), anerkannter sowjetischer Wirtschaftsprofessor und einer der Berater Gorbatschows, überzeugt, daß sich im Rahmen des demokratischen Zentralismus ein flexibles System zentraler Planung entwickeln ließe, so daß „... the development of each economic unit of socialist society can be realised in the interest of the whole society". Durch Modelle der linearen Programmierung ließen sich gesamtwirtschaftliche Parameterwerte identifizieren, die sicherstellten, daß lokale Optima und Zielfunktionen einzelner Firmen und Branchen miteinander und damit auch mit einem Zentralplan kompatibel sind - ebenda S. 237 ff.. Perestroika und eine beispiellose wissenschaftliche Revolution würden die Sowjetunion bis ins Jahr 2017 doch noch in ein Land verwandeln, in dem Milch und Honig fließen - ebenda S. 21 ff..

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gehandelten Waren sowie die unfreiwillige Kassenhaltung der Haushalte nahmen stark zu (Götz-Coenenberg 1989, S. 28 ff.). Diese Überliquidisierung der Volkswirtschaft war allerdings „...kein temporäres Phänomen, sondern sie ist ein systemlogisches Spezifikum der Zentralverwaltungswirtschaft". Sie trat erst offen zutage, als mit dem Nachlassen staatlicher Repression immer mehr Güter in der Schattenwirtschaft zu Marktpreisen gehandelt wurden. Mangels eindeutiger Zielvorgaben und in sich schlüssiger Konzeption sowie dem steten Zwan^ zum politischen Ausgleich mit den Reformgegnern blieben alle Reformen Stückwerk. Die Inkongruenzen innerhalb der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vergrößerten sich. Im Zuge von Glasnost entglitt die Presse zunehmend der politischen Kontrolle und setzte sich nicht nur mit der sowjetischen Wirklichkeit und Geschichte kritisch auseinander, sondern begann auch das ideologische Fundament der Sowjetgesellschaft zu unterspülen. Die wachsende Polarisierung der Gesellschaft und die Demontage des Marxismus-Leninismus ging für weite Teile der Bevölkerung mit einem Verlust ideeller und politischer Orientierungen einher (Buchholz 1990, S. 7 ff.). Der Erwartungshorizont der Wirtschaftssubjekte wurde durch die inkonsistenten Reformschritte, widersprüchlichen Verlautbarungen und die Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern verkürzt; eine anfangs mögliche Aufbruchstimmung mündete in allgemeiner Unsicherheit, Apathie und Depression. 1.2.

Die „singende Revolution" im Baltikum

Im Gegensatz zu den übrigen Sowjetrepubliken mündete die Perestroika im Baltikum nicht in allgemeiner Apathie und Unsicherheit, sondern in einem nationalen Wiedererwachen. Die baltischen Sowjetrepubliken nutzten den durch Gorbatschows LiberaliiJi

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Wentzel (1995, S. 43); zu den systemimmanten Gründen dieser Überliquidisierung siehe ebenda S. 32 ff. Gorbatschow (1992, S. 147) faßte 1991 die Reformhindemisse wie folgt zusammen: „All diese Umwälzungen erforderten eine riesige Anspannung der Kräfte und verliefen in einem harten Kampf, unter wachsendem Widerstand der alten, überkommenen, reaktionären Kräfte, der früheren Partei- und Staatsstrukturen, des Wirtschaftsapparates, aber auch unserer Gewohnheiten, ideologischer Vorurteile, unserer Gleichmacher- und Rentnerpsychologie. Sie stießen auf unsere Intoleranz, unsere mangelnde politische Kultur und unsere Furcht vor Veränderungen." Die Reformversuche selbst nannte Gorbatschow (1995, S. 332) rückblickend „... »Salamitaktik«, die keine Lösung des Problems im ganzen ermöglichte". Die umfassendste Analyse der „Baltic Revolution" findet sich bei Lieven (1993); Gerner und Hedlund (1993, S. 69 ff.) geben eine sehr instruktive Analyse der politischen Vorgänge und Akteure in den Baltischen Republiken während deren Loslösung von der Sowjetunion; Butenschön (1992) gibt die Stimmung und die Ereignisse in den drei Baltischen Staaten zwischen 1988 und 1991 in sehr eindrucksvoller Weise wider. Die in Kapitel 3.2.1. herausgehobene Bedeutung der persönlichen Glaubwürdigkeit und Courage sowie der ordnungspolitischen Leitbilder und Durchsetzungskraft der „politischen Unternehmer" für den jeweiligen Verlauf der Transformation wird durch die Ereignisse in den Baltischen Staaten untermauert. Die

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sierungspolitik entstandenen Freiraum, um sich stückweise von der Sowjetisierung zu befreien. Sie wurden zum Vorreiter der Perestroika, da sie sich so weit wie möglich von den zentralen sowjetischen Planungsbürokratien zu emanzipieren trachteten. Estland galt bereits seit den siebziger Jahren als Laboratorium für Reformen. Als diese zur offiziellen sowjetischen Politik im Rahmen der Perestroika wurden, gingen die Esten einen Schritt weiter. Im Jahr 1987 entwarfen estnische Ökonomen und Soziologen das 134

Reformprogramm „IME", welches für estnische Autonomie stand. Dieses Programm sah in seinem Kern ein vollständiges Ausscheren der estnischen Wirtschaft aus der sowjetischen Zentralplanung vor. Estland sollte wirtschaftlich autonom sein, die Handelsbeziehungen zu anderen Sowjetrepubliken sollten auf der Basis von dezentral ausgehandelten Marktpreisen durch die Unternehmen selbst abgewickelt werden können. Die estnischen Autonomieforderungen waren in Moskau nicht durchsetzbar. Estland konnte nur Teilreformen verwirklichen, die dann auch Modellcharakter für Lettland und Litauen hatten. Es gelang, Marktmechanismen in das rigide Planungsverfahren zu integrieren. Eine Vielzahl an Kooperativen wurde gegründet und damit den einzelnen Betrieben erweiterte Planungs- und Entscheidungsrechte gegeben, die Anzahl an Plankennziffern wurde drastisch verringert und eine größere Spreizung der Einkommen wurde zugelassen. Zwischen die verschiedenen Produktionsstufen sollten Großhandelsbetriebe geschaltet werden, um die Produktionbetriebe zu einem Wettbewerb um Rohstoffe und Zwischenprodukte zu veranlassen. Im Jahr 1989 wurde die Tartu Commercial Bank als erstes privates Kreditinstitut der Sowjetunion gegründet. In Abwesenheit von Bankregulierungen und -aufsieht gab es Ende 1990 bereits elf weitere private Banken, deren Eigner allerdings größtenteils Staatsbetriebe waren. Vor Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit wurde in Estland, aber auch in Lettland und Litauen bereits mit

Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik läßt sich nicht isoliert von den handelnden Akteuren betrachten. Um diesem „menschlichen Faktor" gerecht zu werden, soll daher im folgenden auch auf die politischen Entscheidungsträger eingegangen werden. 134

Bezeichnenderweise bedeutet das Akronym auf estnisch „Wunder", welches den wahren Kern des Programms andeutete: „The essence of IME, dressed up in an entirely economic wrapping for political reasons, was the Separation of Estonia from the Soviet Union" - Sepp (1995, S. 20). Die vier Autoren des in einer Zeitung publizierten IME-Artikels S. Kallas, T. Made, E. Savisaar und M. Titma blieben in den Folgejahren Protagonisten der Unabhängigkeitsbewegung und der Transformationspolitik. „IME" fand im Jahr 1988 in der Charta der estnischen Volksfront eine politische Plattform. Sie setzte sich für die politische und wirtschaftliche Souveränität im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaates ein. Hierbei die Grenzen der sowjetischen Verfassung nicht zu verlassen, ist kaum mehr als ein Lippenbekenntnis - vgl. The Charter of the Estonian People's Front (1990, S. 204 ff.). Vgl. Gerner und Hedlund (1993, S. 77 ff.) sowie van Arkadie und Karlsson S. 103 ff.). 136

(1992,

Litauische Ökonomen veröffentlichten im Jahr 1988 ebenfalls einen Report mit dem Titel „The Conception of Economic Independence of Lithuanian SSR", der auch Eingang in die litauische Gesetzgebung fand - siehe Simenas (1997, S. 23 ff.).

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marktwirtschaftlichen Reformen experimentiert. Alle eingeleiteten Maßnahmen und Pläne wurden jedoch von der Dynamik der politischen Entwicklung überrollt. Proteste der baltischen Bevölkerung gegen die sowjetische Zentralplanung hatten sich an ökologisch umstrittenen Großprojekten entzündet. Die sich formierende Ökologiebewegung ging vor allem in Estland und Lettland mit einer Wiederbelebung nationaler Folklore einher. Der Kampf um die Umwelt wurde zum Kampf für das Überleben als Volk stilisiert. Letten und Esten begannen sich vehement gegen den Zuzug weiterer Industriearbeiter aus anderen Sowjetrepubliken zu wehren, welcher drohte, sie in eine Minderheitenposition zu bringen. Das sich verstärkende Gefühl ethnischer Identität untergrub die politische Loyalität gegenüber den Sowjet- und Parteiorganen. Ökologiebewegung und die Pflege nationaler Folklore - vor allem des Liedguts - waren Ausdrucksformen des baltischen Emmanzipationsstrebens und des Protestes gegen die Moskauer Zentralmacht ( H e v e n 1993, S. 113). Die in Folge von Glasnost fortschreitende Delegitimierung des alten Systems, der Partei und der Ideologie untergrub auch in den übrigen Sowjetrepubliken die Identifizierung mit dem Vielvölkerstaat Sowjetunion und dem „Sowjetvolk". In allen Sowjetrepubliken wuchsen der Nationalismus und das Streben nach nationaler Unabhängigkeit. Auf der Grundlage des neuen sowjetischen Wahlgesetzes konnten die Balten 1989 erstmals ein freies Parlament wählen. In allen drei Sowjetrepubliken setzten sich die neugegründeten Volksfrontbewegungen mit großer Mehrheit durch. Die jeweiligen Nationalsprachen lösten das Russisch als Staatssprache ab, sowjetische Symbole wurden durch nationale ausgetauscht. Zusammenkünfte an nationalen Gedenktagen führten zu den sogenannten „Kalenderdemonstrationen". A m 23.08.1990, dem 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, bildeten Litauer, Esten und Letten eine Menschenkette von Vilnius bis Tallinn, um ihrem Unabhängigkeitsstreben Ausdruck zu verleihen. In Estland feierte die singende Revolution im Juni 1990 in Tallinn ihren Höhepunkt . Unter dem Motto „Ein freies Volk auf freier Erde" trafen sich beim estnischen Sängerfest eine halbe Million Esten in nationalen Trachten, um ihrem Freiheitwillen Ausdruck zu verleihen. Sie sangen gemeinsam die aus dem 19. Jahrhundert stammende, zu Sowjetzeiten verbotene heimliche Nationalhymne Estlands: „Mein Vaterland ist meine Liebe". In Lettland kamen am 18.11.1989 zum 71. Unabhängigkeitstag der Republik Lettland 600.000 Menschen zusammen und verabschieden eine Proklamation an M. Gorbatschow und G. Bush, in welcher sie die volle nationale Souveränität für alle drei Baltischen Sowjetrepubliken forderten. Litauen preschte am 11.03.1990 mit der Erklärung der staatlichen

In Estland mobilisierte der geplante Abbau von Phosphoriten die Massen, in Litauen der Ausbau des Kernkraftwerkes Ignalina und in Lettland der Bau eines auch ökonomisch umstrittenen Wasserkraftwerkes am Fluß Daugava. Ursachen und Dynamik der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in allen Sowjetrepubliken und insbesondere in den baltischen verkannt zu haben, war vielleicht eine der folgenschwersten Fehleinschätzungen Gorbatschows und westlicher Politiker, die bis zum Dezemer 1991 für den Erhalt der Union eintraten - vgl. Gorbatschow (1992, S. 76 ff.).

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Unabhängigkeit durch das Parlament vor. Truppen des sowjetischen Innenministeriums und Fallschirmjäger besetzten daraufhin strategisch wichtige Positionen und vollzogen gewalttätige Festnahmen. Als Reaktion auf die Moskauer Pressionen versammelten sich 300.000 Litauer zu einer politischen Kundgebung. Trotz tief über ihnen kreisender Militärhubschrauber antworteten sie auf die Frage des Parlamentspräsidenten V. Landsbergis , ob sie gewillt seien, einem Aufruf Gorbatschows zur Besinnung Folge zu leisten, ablehnend mit dem Ruf: „Freiheit!". Gorbatschows „Reformen von oben" hatten sich im Baltikum zunehmend in eine „nationale Revolution von unten" verwandelt. Für orthodoxe sowjetische Kräfte waren die Geschehnisse im Baltikum seit längerem eine Provokation. Um den Zusammenhalt der Sowjetunion zu sichern und ein deutliches Zeichen zu setzen, besetzten am 13.01.1991 die Truppen des Innenministeriums den Fernsehturm von Vilnius. Dort und in Riga kam es zu Toten und Verletzten. Die Menschen stellten sich vor die jeweiligen Parlamentsgebäude in Vilnius, Riga und Tallinn und bauten Barrikaden, um deren Besetzung zu verhindern. Unterstützung erhielten die Baltischen Staaten durch den russischen Parlamentspräsidenten B. Jeltsin, der kurzerhand nach Tallinn flog. Er trat mit Vertretern der drei Länder vor die Presse, um gegen die Verletzung litauischer Souveränität zu protestieren. Der Imageschaden und Autoritätsverlust für den angeblich unbeteiligten Gorbatschow waren immens. Im Februar kamen die Balten einem von Gorbatschow initiierten Referendum über den Fortbestand der Sowjetunion durch eigene Referenden über die nationale Unabhängigkeit zuvor. In allen drei Ländern sprach sich eine deutliche Mehrheit - und damit auch weite Teile der russischen Bevölkerungsgruppen in Estland und Lettland - für die Loslösung von der Sowjetunion aus. Die Sowjetunion befand sich in den Jahren 1990/1991 in einem politisch und wirtschaftlich „kritischen Systemzustand". Die Wirtschaftsleistung sank und immer mehr Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs mußten rationiert werden. Der Autoritätsund Realitätsverlust der Staats- und Parteiführung wurde offensichtlich. Die politischen Organe der Sowjetunion wurden angesichts deren territorialen Desintegration zur Fassade. In Moskau nahmen die Gegensätze zwischen den politischen Lagern zu. Die Reformer hatten ihr soziales Kapital als Anhänger des alten Systems bereits entwertet. Angesichts der Erfolglosigkeit der bisherigen Politik propagierten sie eine grundsätzliche Abkehr von dem bestehenden System und die Einführung einer marktwirtschaft139

V. Landsbergis spielt bis heute eine dominierende Rolle in der litauischen Politik. Ihm wird zu Gute gehalten, das Land in die Unabhängigkeit gefuhrt zu haben. Auch die Familiengeschichte Landsbergis ist von Bedeutung für dessen Popularität und politische Autorität. Seine Familie steht für den Kampf um nationalstaatliche Souveränität und bietet einen Fixpunkt für die Suche nach einer post-sowjetischen Identität. Ein Großvater war einer der Führer der Unabhängigkeitsbewegung um die Jahrhundertwende, der andere Großvater, der Linguist J. Jablonskis, ist als „Vater" der modernen litauischen Sprache auf den Fünf-Litas-Scheinen abgedruckt. Landsbergis Vater wird das Verdienst zugeschrieben, den von den Sowjets geplanten Bau einer Autobahn durch die Altstadt von Vilnius verhindert zu haben. 140

Schüller (\99\,

S. 6); vgl. auch Kloten (1991, S. 9 f.).

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liehen Wirtschaftsordnung. Der Machtverlust der Sowjet- und Parteiorgane, die Perspektivlosigkeit der bisherigen Reformpolitik und die Radikalisierung der Reformbefiirworter stärkten deren konservative Gegner in ihrer Bereitschaft, die sowjetische Zentralmacht durch die Anwendung von Gewalt wiederherzustellen. A m 19.8.1991 kam es zu einem Putsch reaktionärer Kräfte in Moskau. Für die Baltischen Staaten war er Anlaß, die endgültige Trennung von der Sowjetunion zu vollziehen. In der Nacht vom 20.8. auf den 21.8.1991 folgte der Oberste Rat in Tallinn dem litauischen Vorbild und verabschiedete das estnische Verfassungsgesetz. Lettland proklamierte am selben Tag seine staatliche Unabhängigkeit. Nach dem Scheitern des Putsches wurde die Souveränität Litauens, Lettlands und Estlands in den darauffolgen142

den Tagen von Rußland und den führenden westlichen Staaten anerkannt. De facto und de jure hatte sich die Sowjetunion aufgelöst. Den Baltischen Staaten eröffnete sich die Möglichkeit, eine eigenständige Politik der Systemtransformation zu verfolgen. 2.

Die Systemtransformation

2.1.

Transformationspolitik und baltische Sonderfaktoren

Unter den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wird die Transformation sowohl des politischen als auch des wirtschaftlichen Systems in den drei Baltischen Staaten als am erfolgreichsten eingestuft {IMF 1995, S. 4). Es liegt also nahe, einen Zusammenhang zwischen den bisherigen Transformationsergebnissen der Baltischen Staaten und der jeweils angewandten Transformationsstrategie herzustellen. Dem Vergleich mit anderen Transformationsstaaten sind jedoch Grenzen gesetzt: - Die in den Baltischen Staaten verfolgte Politik wäre ohne die vergleichsweise hohe Akzeptanz des Übergangs zu einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung innerhalb der jeweiligen Bevölkerungen nicht möglich gewesen (Schwarz 1994, S. 751 f.). - Das angestrebte Transformationsziel der Etablierung eines demokratischen Rechtsstaates sowie einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung waren mit dem kulturellen Erbe der Baltischen Staaten - zumindest zum Teil - vereinbar. Die bestehenden Wurzeln einer bürgerlichen „Zivilgesellschaft" können einen Beitrag dazu

Dies trifft auch auf Gorbatschow zu. Nach eigenem Bekunden hatte er einen Erkenntnisprozeß durchgemacht, der dahin führte, daß nur die vollständige Demontage des Sowjetsystems aus dessen Krise führen konnte - vgl. Gorbatschow (1992, S. 177 ff.). Er war allerdings nicht in der Lage, diese Erkenntnis politisch umzusetzen. Sein soziales Kapital als Erneuerer war durch die Erfolglosigkeit der Perestroika entwertet, die Delegitimierung des Systems schloß dessen fuhrenden Repräsentanten mit ein. Die Erfahrungen mit den vergeblichen Reformbemühungen kamen jedoch anderen Politikern zu Gute, die daraufhin für eine vollständige Systemtransformation eintraten. 142

Der Westen hatte die Armektion des Baltikums durch die Rote Armee nie anerkannt. De jure waren die Baltischen Staaten noch immer Subjekte des Völkerrechts, so daß die diplomatischen Beziehungen nur wieder aufgenommen werden mußten.

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geleistet haben, daß weite Teile der jeweiligen Bevölkerung sich vergleichsweise zügig und friktionslos an die neugesetzten äußeren Institutionen anpassten und neues soziales Kapital erwarben (Putnam 1993, S. 121 ff.). Sowohl der gesellschaftliche Konsens bezüglich des Transformationsziels als auch eine eventuell erleichterte Anpassung der Menschen an rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche äußere Institutionen beruhte auf einigen Sonderfaktoren, die in den übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken nicht gegeben waren: - Die geographische Lage: In den Baltischen Staaten war das Bewußtsein für politische Optionen und alternative Weltanschauungen sehr viel größer als in den übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Sie waren auch zu Sowjetzeiten nicht völlig von der westlichen Welt isoliert. In Estland konnte finnisches Fernsehen empfangen und aufgrund der finnisch-estnischen Sprachverwandtschaft verstanden werden. Einblicke in die westliche Fernseh- und Nachrichtenwelt untergruben das staatliche Meinungsmonopol der Sowjetorgane. In Litauen wurden die Vorgänge im benachbarten Polen seit den dortigen Unruhen zu Beginn der achtziger Jahre genau verfolgt. Seit der staatlichen Unabhängigkeit hat sich ein weites Netz an politischen, wirtschaftlichen und vor allem auch persönlichen Beziehungen zwischen den Baltischen Staaten und den übrigen Ostseeanrainern entwickelt. Die Baltischen Staaten haben dabei eine massive Unterstützung durch öffentliche und private Organisationen sowie vor allem durch die skandinavi. , 143 sehen Regierungen erfahren. - Historische Sonderfaktoren: Die Zugehörigkeit zur Sowjetunion wurde von den baltischen Bevölkerungen als Fremdherrschaft aufgefaßt und abgelehnt (Shtromas 1994, S. 86 ff.). Die Erinnerung an die knapp zwanzig „goldenen" Jahre staatlicher Unabhängigkeit, an die Annexion durch die Rote Armee als Folge des Hitler-Stalin-Paktes und an die zahlreichen Deportationen in der Stalinära wurden trotz massiver Sowjetpropaganda in der Bevölkerung lebendig gehalten. Der Systemzustand ist daher in den Baltischen Staaten als besonders kritisch wahrgenommen worden (Schüller 1991, S. 6 f.). Über Jahrhunderte war das Baltikum in den Ostseeraum und die westliche Welt integriert. Riga und Tallinn waren blühende Hansestädte, die über den Handel mit den westeuropäischen Metropolen verbunden waren. Auch wenn in dem heutigen Lettland und Estland bis zum Ende des I. Weltkrieges die führenden Positionen in Politik und Wirtschaft weitgehend in den Händen der deutschen und russischen Oberschicht lagen, so wurde westliches Gedankengut wie zum Beispiel die Reformation und die Auf143

Seit der Öffnung der Baltischen Staaten sind zudem viele Emigranten - zumindest für eine gewisse Zeit - wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt, um sich für die Transformation der Gesellschaft zu engagieren. Prominentestes Beispiel ist der in Litauen 1998 gewählte Präsident Adamkus, der in die USA emigriert war. Allerdings ist das Verhältnis der Balten zu den Rückkehrern nicht unproblematisch. Ursächlich hierfür ist - vergleichbar mit den Problemen der deutschen Wiedervereinigung - zum einen, daß viele Rückkehrer eine Restitution ihres Eigentums fordern, zum anderen der Vorwurf, „Besser-Wessis" zu sein.

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klärung von der einheimischen Bevölkerung angenommen. Litauen orientierte sich aufgrund seiner engen historischen Bindungen an Polen. Der ausgeprägte Katholizismus der Litauer war ein festes Band zum Westen . Die sittlich-kulturellen Verfassungen der baltischen Gesellschaften, die „Gesamtheit der Wertvorstellungen, der Sitten und Gebräuche, der religiösen Bindungen und Weltanschauungen" (Schüller 1992, S. 39) unterlagen im Unterschied zu den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion westeuropäischem Einfluß. Das kulturelle Erbe und das weitverbreitete Gefühl der Zugehörigkeit zu dem europäischen Kulturraum verringerten die ideologischen Barrieren beim Übergang zu einer rechtsstaatlichen und demokratischen Gesellschaftsordnung. Die Transformationsziele waren mit der Kulturtradition im Baltikum leichter vereinbar und daher auch vermittelbar. Ein großer Teil der Bevölkerung konnte sich aus dem soziokulturellen Erbe eine neue Identität herleiten, die sich mit den Transformationszielen in Übereinstimmung bringen ließ. - Politische Sonderfaktoren: Der Schutz staatlicher Unabhängigkeit wird in den Baltischen Staaten mit der Systemtransformation gleichgesetzt. Die Wahl einer relativ zügigen und konsequenten Transformationspolitik ist primär auf das Gefühl einer Bedrohung durch die Russischen Föderation zurückzuführen. Aufgrund des ausgeprägten Nationalgefiihls und der historischen Erfahrungen besteht innerhalb der baltischen Gesellschaften ein unbedingter Konsens über den Schutz und Erhalt der jeweiligen staatlichen Unabhängigkeit. Äußerungen russischer Politiker im Präsidentschaftswahlkampf 1996, der Duma-Beschluß im Mai 1996, die Sowjetunion wiederherzu-

145

146

Der in Litauen weit verbreitete katholische Glaube war der sowjetischen Obrigkeit immer wieder ein Dorn im Auge. Beispielhaft für den Widerstand der Litauer gegen die ideologische und kulturelle Vereinnahmung durch die Sowjetunion ist der „Hügel der Kreuze" in der Nähe der Stadt Siauliai. Seit hundert Jahren war dieser Hügel eine nationale Gedenkstätte zu Ehren der bei einem Aufstand gegen Rußland Gefallenen. Die Gläubigen trugen tausende von Kreuzen auf den Hügel, der im Jahr 1961 von sowjetische Soldaten zerstört wurde. Nach dieser und jeder folgenden Zerstörung wuchs der „Hügel der Kreuze" erneut und wurde als nationaler Wallfahrtsort zum Symbol des Widerstandes. Leipold (1997, S. 62 ff.) fuhrt „... die deutlichen länderspezifischen Unterschiede in Tempo und Umfang der rechtlichen Instabilitäten" zwischen den mitteleuropäischen und den ost- und südeuropäischen auf die historische Zugehörigkeit zu dem römischkatholisch geprägten Westeuropa zurück, in welchem „die Trennung zwischen Kirche und Staat und die Verweltlichung der staatlichen Herrschaft durch das Recht ... den Pfad für die Herrschaft durch das Recht und die Unterstellung des Staates unter das Recht" bahnte. Die griechisch- und russisch-orthodoxe Kirche habe sich dagegen nie als irdische Machtinstanz etabliert. „Dadurch sowie durch das Sichversenken in mystischer Spiritualität leistete die Ostkirche auch keine Beiträge zur Entwicklung der Sozial- und Wirtschaftsethik und zu deren Umsetzung in Rechtsnormen .... Die zum Rechtsstaat gehörende Gewaltenteilung, Selbstverwaltung und die Staatskontrolle durch unabhängige Verwaltungsgerichte blieben fremde, westliche Einrichtungen"; vgl. auch Schmidt-Häuer (1993, S. 72 ff.). Siehe beispielsweise The Baltic Times, May 9-15, 1996, S. 7; auf die Restauration gerichtete Kräfte in Rußland hatten in russischen Zeitungen 1995 ein detailliertes

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76 147

stellen, die Nichtanerkennung der Okkupation sowie das massive Einwirken der Russischen Föderation gegen eine Natomitgliedschaft der Baltischen Staaten weisen auf eine noch immer bestehende reale Bedrohung baltischer Unabhängigkeit hin. Erschwerend kommt für Lettland und Estland hinzu, daß ihre großen russischen Bevölkerungsgruppen sowie umstrittene Grenzziehungen zu der Russischen Föderation immer wieder Anlaß bieten, ihre Souveränität in Frage zu stellen. Ein wirksamer Schutz gegen russisches Expansionsstreben wird in den Baltischen Staaten in der Integration in die Europäische Union (EU) und NATO gesehen. Sie ist mit rechtsstaatlichen, demokratischen und wirtschaftlichen Auflagen verbunden, die eine vollständige Systemtransformation implizieren. Das Ziel der Mitgliedschaft in der EU und der NATO wirkt einheitsbildend, was zu einer Entpolitisierung der Transformationspolitik beiträgt. Zugleich ist es ein Korrektiv für den angewachsenen Ethnonationalismus. Forderungen nach einer ethnisch geschlossenen Gesellschaft sind nicht mit den Transformationszielen einer pluralistischen und offenen Gesellschaft vereinbar, welche die Integration in supranationale Organisationen anstrebt. Es bleibt festzuhalten, daß im Gegensatz zu den übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion in allen drei Baltischen Staaten ein weitgehender Konsens bezüglich des Transformationsziels herrschte. Dies ermöglicht es, die jeweils eingeschlagenen Transformationsstrategien miteinander zu vergleichen und an dem Grad der Zielerreichung zu messen. 2.2.

Klassifizierung von Transformationsphasen

Im folgenden soll ein Phasenschema des Transformationsprozesses entwickelt werden, welches es ermöglicht, in Kapitel 5. phasenspezifische Impulse des Handels herauszuarbeiten. Angesichts der Individualität und Komplexität der Transformationsprozesse sowie der sich zeitlich überlagernden Entwicklungen kann eine zeitliche Abgrenzung von Transformationsphasen nur eine grobe Kategorisierung darstellen, die je nach Forschungsinteresse variiert. Ziel der hier gewählten Phaseneinteilung ist es, Lern- und Anpassungsprozesse der Wirtschaftssubjekte in ihrem Verhältnis zur eingeschlagenen Transformationspolitik herauszuarbeiten. Versucht man, den Transformationsprozeß von Zentralverwaltungswirtschaften zu Marktwirtschaften in Phasen einzuteilen, so ist wiederum Bucharins Buch „Ökonomik der Transformationsperiode" aufschlußreich. Bucharin (1970/1920, S. 67 ff.) entwickelt ein Fünfphasenschema, in dem er den Übergang zum Kommunismus als einen Szenario für die Wiederbesetzung der Baltischen Staaten an die Öffentlichkeit lanciert. Ihr Ziel war, eine Nato-Mitgliedschaft der Baltischen Staaten zu verhindern siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.6.1995, Nr. 142, S. 4. 147

Simon (1995, S. 35) zitiert eine repräsentative Umfrage aus dem Februar 1995, derzufolge die russischen Eliten und große Teile der Bevölkerung weitgehend darin übereinstimmten, daß der Grund für die Krise in Rußland darin liegt, daß die UDSSR als mächtige Weltmacht zusammenbrach. Sie sehen den Zusammenbruch der UDSSR als einen Irrtum der Geschichte und ein Unglück an.

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evolutorisehen Prozeß beschreibt. In der ersten Phase findet die „ideologische Revolution" statt, in der das ideologische Gerüst des alten Systems zerfällt. In der zweiten Phase geht die „politische Revolution" vonstatten, in der das politische System abgelöst wird. Die in der dritten Phase stattfindende „ökonomische Revolution" beschreibt die Auflösung der bestehenden Wirtschaftsstruktur. In „...einem langen und qualvollen Prozeß entsteht" in der vierten Phase „ein neuer Typus der Produktionsverhältnisse" (Bucharin 1970/1920, S. 68), der langwierige Lernprozesse und einen Prozeß der geistigen „Auslüftung" (Bucharin 1970/1920, S. 70) voraussetzt. In der abschließenden fünften Phase findet die „technische Revolution" statt, die sich durch ein Anwachsen der Produktivkräfte und damit die Stabilisierung des neuen Systems auszeichnet. Bucharins Phasenschema ist von Interesse, da er klar sah, daß der Übergang von einem Wirtschaftsordnungstyp zu einem anderen nicht durch einen umfassenden qualitativen Sprung, sondern durch einen langwierigen Desillusionierungs-, Auflösungs- und Anpassungsprozeß von statten geht. Die folgenden Periodisierungen der umgekehrten Transformation, dem Übergang von einer Zentralverwaltungswirtschafl zu einer Marktwirtschaft, weisen unübersehbare Parallelen zu Bucharins Phasenschema auf. K. von Delhaes und U. Fehl (1991, S. 442 ff.) teilen die Transformation von Zentralverwaltungswirtschaften sowjetischen Typs zu Marktwirtschaften in drei Perioden ein. Nach dem Bekanntwerden der Transformationspläne nahmen die Wirtschaftssubjekte eine abwartende und reaktive Haltung ein, weshalb diese Periode als „Antizipationsphase" bezeichnet wird. Die „Kernphase" beginnt mit der Abkehr von dem alten System und besteht im Setzen marktkonformer äußerer Institutionen. Durch die Übernahme neuer Verhaltensmuster seitens der Wirtschaftssubjekte soll sich in der abschliessenden „Lernphase" eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung herausbilden. Schüller (1992, S. 57 ff.) fugt noch eine „Vorlaufphase" hinzu und beschreibt einen ansonsten vergleichbaren Phasenverlauf der Transformation in Abhängigkeit von der vorherrschenden politischen Ordnung. Dies erlaubt es, die Individualität des Transformationsprozesses in den jeweiligen Nachfolgestaaten der Sowjetunion herauszuarbeiten. Das hier gewählte Phasenschema basiert daher auf A. Schüllers Periodisierung. In Kapitel 3. 1.4. wurde argumentiert, daß ein enger Zusammenhang zwischen den Erwartungen der Wirtschaftssubjekte bezüglich des Systemwechsels und ihrer Bereitschaft besteht, mit marktwirtschaftlichen Verhaltensmustern zu experimentieren. Solange ein Rückfall in die alte Ordnung oder ein Verharren in einem rechtsstaatslosen und mafiosen Zustand nicht ausgeschlossen werden kann, besteht kein Anreiz, marktwirtschaftliche Kooperationsformen zu übernehmen. Wirtschaftssubjekte werden beispielsweise nur dann bereit sein, den Staatssektor zu verlassen und sich privatwirtschaftlich im Handel, im Dienstleistungssektor oder der Produktion zu engagieren, wenn die Erwartungssicherheit bezüglich der zeitlichen Verbindlichkeit privatwirtschaftlicher Eigentumsverhältnisse hinreichend groß ist. Die Glaubwürdigkeit der

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Bucharin (1970/1920, S. 57) drückt es wie folgt aus: „Die neue Gesellschaft kann nicht wie ein deus ex machina auftauchen. Ihre Elemente erwachsen in der alten Gesellschaft".

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Transformationspolitik hat demnach einen wesentlichen Einfluß auf die Erwartungsbildung der Wirtschaftssubjekte. Der positive Zusammenhang zwischen Transformationsergebnissen und der Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik soll im folgenden am Beispiel der Baltischen Staaten überprüft werden. Im Vordergrund dieses Vergleichs stehen demnach nicht die allokativen und distributiven Effekte einzelner Transformationsmaßnahmen, sondern deren Einfluß auf die Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik. Diese hängt von der Entschiedenheit und Konsequenz ab, mit der die in Kapitel 3. 2. beschriebenen Grundelemente der Transformationspolitik umgesetzt werden. Da nicht alle erforderlichen Maßnahmenbündel in einem Schritt unternommen werden können, ergeben sich zeitlich versetzte Hürden, welche die Transformationspolitik bewältigen muß. Jede dieser Hürden stellt einen Glaubwürdigkeitstest dar, dessen Bestehen eine sprunghafte Verringerung von Erwartungssicherheit seitens der Wirtschaftssubjekte zur Folge hat. Je kürzer der Zeitraum zwischen der Bewältigung einzelner Transformationshürden ist, desto mehr gewinnt der politische Gestaltungswille des Systemübergangs an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung (siehe Abbildung 2, S. 102).

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

Abbildung 2: Phasenschema des Transformationsprozesses in Estland, Lettland und Litauen

Estland Kernphase

Umbruchphase


4-

Staatl. Unabhäng.

Verhandlungen EU-Mitgliedschaft

Curr ency Bo ard 1 1 '89

1 1 '90

1 1 '91

1 1 '92

Umbruchphase

+

4-

'89

1

'90

1

'91

1 1 '94

Kernphase

Staatl. Unabhäng.

1

1 1 '93

! '92

1 1 '95

1 1 '96

1 1 '97

I 1 '98

r

Lern- und Stabilisierungsphase > 4 Lettischer Lat

1 1

1 bb+c * auf den Ausweis von eventuellen Gewinnbestandteilen im Preis wurde verzichtet.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

133

- Nachfrageverbund: Sortimente enthalten Güter, die zu einer Rationalisierung der Beschaffungsvorganges seitens der Nachfrager fuhren („One-Stop-Shopping"). Sie orientieren sich wie beispielsweise in Lebensmittel-Supermärkten an den Kaufgewohnheiten der Konsumenten. Der Nachfrageverbund wird sowohl durch die Sortimentsbreite als auch -tiefe bestimmt. Was verbindet die Nachfrage nach einzelnen Sortimentsteilen miteinander, so daß Nachfrager durch die Sortimentsbildung im Handel Verbundeffekte erzielen können? Für Nachfrager muß in der Zusammenstellung von Sortimenten durch den Handel ein Kostenvorteil liegen, selbst wenn sie nicht das Sortiment in seiner vollständigen Breite und Tiefe nachfragen. Verbundeffekte gehen auf Transaktionskostenersparnisse auf seiten der Nachfrager zurück. Sinken deren Kosten für den Erwerb des relevanten Wissens um Produkteigenschaften, komplementäre Güter, konkurrierende Preis-Leistungskombinationen sowie um die jeweiligen Beschaffungswege und -kosten durch die Sortimentsbildung des Handels, dann bestehen Interdependenzen zwischen der Nachfrage nach einzelnen Sortimentsbestandteilen. Sie bilden einen Sortimentsverbund. Die Herausnahme eines Artikels aus dem Sortiment spiegelt sich dann nicht in einem proportionalen Umsatzrückgang wider, sondern tangiert auch die Umsätze anderer Sortimentsbestandteile . Bieten beispielsweise konkurrierende Handelsbetriebe eine größere Sortimentstiefe und -breite an, werden sie diejenigen Nachfrager auf sich ziehen, für die aus dem größeren Spektrum unterschiedlicher Preis-Leistungskombinationen eine Transaktionskostenersparnis resultiert. Woher rührt die Transaktionskostenersparnis durch Sortimentsbildung? Mit sich vergrößernder Sortimentstiefe kann sich der Ressourcenaufwand auf Seiten der Nachfrager für die Suche und den Vergleich substitutiver Preis-Leisungspakete verringern. Die Wahlfreiheit der Nachfrager wird erhöht, ohne daß zusätzliche Kosten anfallen. Werden in Lebensmittel-Einzelhandelsgeschäften beispielsweise Teigwaren unterschiedlicher Konsistenz, Form und Herkunft zu unterschiedlichen Preisen in einem einzigen Regal ausgelegt, erhöht sich die Markttransparenz. Ohne Mehrkosten für die Suche und den Bezug von Produkten unterschiedlicher Hersteller in Kauf nehmen zu müssen, können Konsumenten die jeweiligen Preis-Leistungskombinationen vergleichen. Verringert der direkte Vergleich von Substituten die bei Nachfragern anfallenden Transaktionskosten, entsteht ein Auswahlverbund. Ein Bedarfs- und Nachfrageverbund innerhalb eines Sortimentes ergibt sich, wenn der Bezug von unterschiedlichen Gütern aus einer Hand mit einer Transaktionskostenerspamis auf Seiten der Nachfrager einhergeht. Fragen beispielsweise Haushalte ein Bündel an Lebensmitteln nach, dann ergibt sich aus der Zusammenfassung dieser Waren zu einem Sortiment durch einen Handelsbetrieb eine Rationalisierung des Beschaffungsvorganges. Auch der Bezug aus einer Hand verringert

Besonders die Berücksichtigung des Auswahlverbundes erschwert Sortimentsverbundanalysen, da sich diese nicht statistisch über die Analyse von registrierten Käufen der Nachfrager erfassen lassen - vgl. Barth (1993, S. 162 ff.) sowie Poggenpohl (1993, S. 32 ff.).

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die Such- und Kontaktkosten. 256 Handelsbetriebe haben demnach nicht nur im Falle eines Auswahlverbundes einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem direkten Absatz, sondern auch wenn es ihnen gelingt, durch die jeweilige Sortimentsbreite und -tiefe eine vergleichsweise bedarfsorientiertere Aggregation nachgefragter Güter zu erzielen. 2.5.2.

Die Eignung von Gütern für die Sortimentsbildung

Aus der Tatsache, daß das Auftreten von Handelsbetrieben je nach Wirtschaftsstufe und Branche variiert, läßt sich die Hypothese ableiten, daß sich die jeweils vermarkteten Produkte nicht in gleichem Ausmaß für die Bildung von Sortimenten eignen. Aus der Handels- und Gaststättenzählung des Statistischen Bundesamtes (1995, S. 17 f.) aus dem Jahr 1993 ergeben sich nach Wirtschaftszweigen stark variierende Umsätze im Großhandel. Vom gesamten Umsatzvolumen im Großhandel entfallen nur knapp 11% auf den Handel mit Maschinen, Ausrüstungen und Zubehör. Hiervon betrug der Großhandel mit Werkzeugmaschinen 4,4%, welches nur 0,5% des insgesamt im Großhandel getätigten Umsatzes ausmacht. Der Großhandel mit Büromaschinen und -einrichtungen beläuft sich dagegen auf 39% des Großhandelumsatzes mit Maschinen, Ausrüstungen und Zubehör und 4,3% des in allen Wirtschaftszweigen im Großhandel erzielten Umsatzes. Werkzeugmaschinen und Büromaschinen scheinen somit eine unterschiedliche Eignung für die Bildung eines Sortimentsverbundes im Handel aufzuweisen. Warum lassen sich mit einigen Produkten eher Verbundeffekte erzielen als mit anderen?

256

257

Die Kontakt- und Suchkosten k seien unabhängig davon, auf welcher Marktseite sie anfallen als proportional und gleich hoch angenommen. Versuchen die Hersteller, die Waren direkt an m Verbraucher abzusetzen, belaufen sich die anfallenden Transaktionskosten für jeden Hersteller auf TK = k x m. Werden die nachgefragten Güter direkt vom Hersteller bezogen, so daß die Transaktionskosten bei dem einzelnen Nachfrager anfallen, würde die Suche, der Vergleich der relevanten Preis-Leistungskombinationen sowie die notwendigen Kontakte im Falle von n Herstellern Transaktionskosten in Höhe von TK = n x k verursachen. Werden die nachgefragten Güter durch einen Handelsbetrieb zu einem Sortiment gebündelt, reduzieren sich die Transaktionskosten für den einzelnen Marktakteur auf TK = k. Unterstellt man, daß alle m Nachfrager mit den n Herstellern verbunden sind, dann reduzieren sich die insgesamt anfallenden Transaktionskosten von TK = n x m x k auf TK = (n+m) x k. Dieser sogenannte „Baligh/Richartz-Effekt" resultiert daraus, daß die Anzahl der Kontakte im Falle des Direktkontaktes durch multiplikative Verknüpfung bestimmt wird, im Falle der Einschaltung eines Handelsbetriebes durch additive Verknüpfung vgl. Gümbel (1985, S. 110 ff.); vgl. auch Baligh und Richartz (1967, S. 19 ff.) sowie Alderson (1971, S. 16 ff.). Dies spiegelt sich auch in der Anzahl der Großhandelsbetriebe in den jeweiligen Branchen wider. Mit Werkzeugmaschinen handeln 0,8 % der im Großhandel tätigen Betriebe, mit Büromaschinen 6,5 %. Noch deutlicher fällt der Umsatzvergleich mit anderen Wirtschaftszweigen aus. Die im Großhandel mit Nahrungsmitteln, Tabak, Getränken, mit Ge- und Verbrauchsgütern sowie mit Rohstoffen, Halbwaren, Altmaterial und Reststoffen getätigten Umsätze belaufen sich auf 76 % des gesamten Großhandelumsatzes. - vgl. Statistisches Bundesamt (1995, S. 18 f.).

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135

Eine mögliche Erklärung ergibt sich aus H. Demsetzs Theorie der vertikalen Arbeitsteilung. Er versuchte die Schnittstelle zwischen Betrieben und dem Markt näher zu bestimmen, indem er auf die Kostenbestimmungsgrößen des Erwerbs und der Übertragung von Wissen einging. Der Grad an vertikaler Arbeitsteilung wird durch die Ökonomisierung derjenigen Kosten bestimmt, die mit dem Erwerb, der Übertragung, dem 259

Gebrauch und dem Erhalt von Wissen verbunden sind. Die vertikale Arbeitsteilung in der Produktion beruht auf der Vorteilhañigkeit der Spezialisierung von Wissen. Der Erwerb und die Anwendung von Wissen kann mit steigenden Skalenerträgen verbunden sein. Demsetz unterscheidet zwischen dem Wissen, welches in die Produktion von Gütern einfließt, sowie dem Wissen, welches die Verwendung der Güter erfordert. Ein Produkt ist Träger von Wissen, welches in die Forschung und Entwicklung, in spezielle technische Produktionsverfahren sowie in die Organisation der Abläufe investiert wurde. Es erlangt Marktreife, wenn die Benutzer auf nachgelagerten Produktionsstufen oder der Endverbraucher es einsetzen beziehungsweise konsumieren können, ohne Wissen über dessen Herstellung erwerben zu müssen. Die Verringerung des Lernbedarfs für die jeweiligen Anwender senkt die Opportunitätskosten des Fremdbezuges. Bedarf die Weiterverwendung eines Gutes auf der nachgelagerten Produktionsstufe umfassende Schulungen und Investitionen in das Humankapital der Anwender, dann gehen die Vorteile spezialisierten Lernens verloren. Das Produkt hat nur eine begrenzte Marktreife erlangt, vor- und nachgelagerte Produktionsstufen lassen sich nicht voneinander abgrenzen. Es stellt sich die Frage, warum marktreife Produkte nicht innerhalb vertikal integrierter Betriebe kostengünstiger von einer Produktionsstufe zur nächsten geführt werden können als durch Markttransaktionen. Die innerbetriebliche Organisation kann vorteilhafter sein, wenn die Anzahl der Verwendungsmöglichkeiten gering ist. Je spezifischer das in dem Produkt gebundene Wissen ist, desto weniger Anwendungsmöglichkeiten existieren. Weist ein Produkt auf nachgelagerten Produktionsstufen eine geringe Anzahl an Anwendungsmöglichkeiten auf, dann hat ein vertikal integrierter Betrieb im Erwerb des relevanten Wissens keinen Wettbewerbsnachteil. Der Grad an vertikaler Integration wird demnach tendenziell positiv mit der Spezifität der Produkte verbunden sein. Bei einer hohen Anzahl an Anwendungsmöglichkeiten eines Produktes steigt

Demsetz (1988, S. 157 ff.) hat die einseitige Fixierung auf Transaktionskosten oder Produktionskosten als Bestimmungsgründe der vertikalen Integration kritisiert. Maßstab der Entscheidung, ob sich ein Unternehmen vertikal integrieren soll, ist der erwartete Betriebsgewinn. In den Einkaufspreis bei Fremdbezug fließen sowohl die Produktionskosten vorgelagerter Produktionsstufen als auch die Transaktionskosten ein. 259

260

Demsetz (1988, S. 160): „Roughly speaking (since other things also matter), the vertical boundaries of a firm are determined by the economics of conversation of expenditures on knowledge". Hierin besteht eine Schnittstelle zu den von Williamsons (1990, S. 96 ff.) herausgearbeiteten Determinanten vertikaler Integration. Eine hohe Spezifität des in den Produkten gebundenen Produktions- und Anwendungswissens geht mit einer

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jedoch die Vorteilhaftigkeit spezialisierten Lernens (Demsetz 1988, S. 160). Die Komplexität innerbetrieblicher Organisation von Lernprozessen erhöht sich mit steigendem Grad an Diversifikation, was mit steigenden Kosten für deren Bewältigung verbunden ist. Die Organisation von Lernprozessen in diversifizierten Betrieben unterliegt abnehmenden Skalenerträgen. Dadurch, daß Märkte als mögliche Schnittstellen zwischen Produktion und Anwendung existieren, kann ein einzelner Herstellungsbetrieb durch Spezialisierung die Komplexität seines Marktumfeldes und damit auch die innerbetriebliche Komplexität reduzieren. Auf die jeweiligen Weiterverarbeitungen und Anwendungen spezialisierte Betriebe können im Erwerb des notwendigen Wissens in der Produktion, in der Organisation sowie um die relevanten Märkte steigende Skalenerträge realisieren. Je geringer also die Spezifität des in einem Produkt gebundenen Wissens ist, desto vorteilhafter ist die Arbeitsteilung zwischen Betrieben. Sie ermöglicht die Ökonomisierung von Wissen. Warum eignen sich Werkzeugmaschinen im Vergleich zu Büromaschinen oder Nahrungsmitteln nun weniger als Handelsobjekte? Werkzeugmaschinen können eine größere Anzahl an Anwendungsmöglichkeiten und potentiellen Anwendern haben und doch den Transfer von spezifischen Anwendungswissen voraussetzen. Sie weisen tendenziell eine sehr viel höhere Spezifität des in den Produkten geronnenen Anwendungsund Produktionswissens auf als beispielsweise Büromaschinen, Rohstoffe und Verbrauchsgüter. Der Kauf einer Werkzeugmaschine kann mit anwendungsspezifischen technischen Anpassungen, aufwendiger Installation und Abstimmung mit bestehenden Anlagen, Mitarbeiterschulungen sowie Wartungsarbeiten einhergehen, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Nutzungsdauer eine über den Tausch der Verftigungsrechte hinausgehende Bindung des Nachfragers an den Lieferanten implizieren. Mit steigender Dienstleistungsbedürftigkeit hat der direkte Absatz im Erwerb und Transfer des technisch relevanten Wissens gegenüber dem Handel einen Wettbewerbsvorteil. Dieser müßte, um vergleichbare Leistungen anbieten zu können, zusätzlich das in die Produktion der jeweiligen Güter geflossene Wissen erwerben, was letztlich eine Rückwärtsintegration in die Produktion implizieren würde. Je anwendungsspezifischer einzelne Produkteigenschaften sind und je höher der Bedarf an Wissenstransfer ist, desto niedriger ist der mögliche branchenweite Standardisierungsgrad der Preis-Leistungspakete. Ist bei vollintegrierten Technologien wie beispielsweise Werkzeugmaschinen, aber auch bei technischen Innovationen die Komponentenkompatibilität zu Produkten anderer Hersteller gering, dann sind Preis-Leistungspakete nicht frei substituierbar und kombinierbar. Handelsbetriebe können durch die

ebenfalls hohen Faktorspezifität einher: „Interne Organisation ist dort vorteilhafter, wo die optimale Faktorspezifität erheblich ist. ... Nicht nur erzielt der Markt hier geringe Einsparungsvorteile durch Aggregation, sondern infolge der „lock-in"-Probleme, die sich bei hochgradiger Faktorspezifität ergeben, ist die Einschaltung des Marktes hier sogar riskant" - ebenda S. 105. Das Setzen technischer Standards wird zum Wettbewerbsparameter, deren Diffusion durch die Imitation nachziehender Wettbewerber im Falle einer hohen Spezifität

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

Zusammenstellung von Sortimenten keine Verbundeffekte erzielen. Im Grenzfall besteht zwischen Herstellern und Nachfragern ein bilaterales Monopol. Steht ein Nachfrager nach einem auf seine Bedürfnisse zugeschnittenen Gut nur einem Hersteller gegenüber, dann liegt in der Sortimentsbildung des Handels keine Transaktionskostenerspamis. Handelsbetriebe würden im Gegenteil die Verhandlungen über Preise und Mengen mit höheren Kosten belasten, da der Koordinationsaufwand erhöht werden würde Hieraus läßt sich folgern, daß Handelsbetriebe vor allem in denjenigen Wirtschaftszweigen und Branchen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem direkten Absatz aufweisen, in denen einerseits der Standardisierungsgrad der Handelsobjekte hoch und 262

andererseits der Bedarf an produktspezifischen Wissenstransfer gering ist. 2.6.

Wissensvorsprung als Wettbewerbsvorteil des Handels

2.6.1.

Die Kosten von Sortimentsvariationen im direkten Absatz

Ist das Experimentieren mit neuen Sortimentsbestandteilen im direkten Absatz mit vergleichsweise höheren Kosten als im Handel verbunden, dann wird der Umfang des akkumulierten Wissens um die Beschaffenheit der Nachfrage tendenziell niedriger sein. Produktionsbetriebe weisen aufgrund der tieferen Wertschöpfungskette eine höhere Anzahl an Handlungsparametem auf als der Handel. Wegen der größeren Komplexität der Leistungserstellung erfordern Sortimentsanpassungen im direkten Absatz einen größeren Umfang an zu erwerbendem Wissen. Die Sortimentsgestaltung im direkten Absatz bedingt Prozeßgestaltung im Produktionsbereich. Setzen sich die Sortimente des direkten Absatzes aus der im Unternehmen hergestellten Produktpalette zusammen, dann sind sie kurz- und mittelfristig nur anpaßbar, wenn auch die Produktion in kurzem Zeitraum umgestellt werden kann. Veränderungen der im Unternehmen gefertigten Produktpalette setzen den Erwerb des für die Herstellung neuer Produkte relevanten Wissens voraus. Die Erforschung und Entwicklung von nachgefragten Produkteigenschaften und Fertigungsverfahren verursacht Kosten. Die Einfuhrung neuer Produktionsverfahren und unternehmensinterner Abläufe kann zudem Mitarbeiterschulungen, organisatorische Veränderungen, Anpassungen des Controlling-Systems und neue Formen der Marktbearbeitung nach sich ziehen, welche ebenfalls mit Umstellungskosten verbunden sind. Weisen zudem bestehende Produktionsanlagen eine hohe Produktspezifität auf, dann vergrößert sich der Kostennachteil des direkten Absatzes im Vergleich zu Handelsbetrieben. Sortimentsvariationen würden Investitionen in neue Maschinen und nachgefragter Produkteigenschaften erschwert werden kann - vgl. Knieps S. 56).

(1994,

Laut Picot (1986, S. 5) sorgt Standardisierung „... für die Entkoppelung zwischen Anbieter und individuellem Nachfrager. Eine solche Entkoppelung ist notwendig, damit der Übergang von der individuellen Auftragsproduktion kundenspezifischer Güter zur Produktion für eine im einzelnen anonyme, in ihren Nachfragemustem jedoch bekannte Gruppe gelingt. Erst unter diesen Voraussetzungen kann sich Handel entwickeln".

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Bertram Wiest

Fertiglingsanlagen voraussetzen.263 Je geringer die „betriebstechnische Elastizität"264 ist, desto kleiner ist die Zahl der möglichen Sortimentsvariationen bei gegebenen Fertigungsanlagen. Der unternehmerische Handlungsraum des direkten Absatzes, sein „Freiheitsspielraum im Austauschprozeß" (Hoppmann 1988, S. 266) ist somit auf kurze und mittlere Sicht beschränkt. Hohe Anpassungskosten haben Auswirkungen auf den Planungshorizont. Getätigte Investitionen in die Forschimg und Entwicklung neuer Produkte und Produktionsverfahren sowie in neue Produktionsanlagen stellen versunkene Kosten dar. Die Amortisationszeit dieser Investitionen hängt von der Höhe der abdiskontierten erwarteten Einzahlungsströme ab. In die Diskontierungsrate fließt die Unsicherheit über zukünftige Einzahlungsströme ein. Mit steigender Erwartungsunsicherheit erhöht sich dieser kalkulatorische Zinsfuß. Die Amortisationszeit verlängert sich. Je länger die Amortisationszeit einer Umstellung des Produktionsprogrammes und damit die Bindung des investierten Kapitals ist, desto weiter ist der Planungshorizont. Hieraus lassen sich zwei Schlüsse für Sortimentsanpassungen des direkten Absatzes ziehen: - Produktionsbetriebe werden ihr Produktprogramm verändern, wenn der Kapitalwert der getätigten Investitionen in den Erwerb des relevanten Wissens und in Produktionsumstellungen den alternativer Kapitalanlagen übersteigt. Dies setzt voraus, daß die Erwartungssicherheit über zukünftige Einzahlungsströme und damit das KaufVerhalten der Nachfrager, das Agieren potentieller Wettbewerber und die in der Zukunft geltenden Rahmenbedingungen hinreichend groß ist. Je unsicherer die Erwartungen über zukünftige Einzahlungsströme sind, desto weniger werden Produktionsbetriebe in ihrer Produktpolitik experimentieren. - Unterstellt man, daß Sortimentsumstellungen im direkten Absatz mit höheren Suchund Anpassungskosten verbunden sind als im Handel, dann erfordern sie bei gegebenen Erwartungen über zukünftige Einzahlungsströme einen längeren Planungshorizont. Produktionsbetriebe werden tendenziell weniger in der Zusammenstellung ihrer Produktprogramme experimentieren als der Handel mit seinen Sortimenten. 263

264

Hierbei ist von Bedeutung, daß sowohl der Kapitalkoeffizient, das heißt der Quotient aus Kapitalstock und Bruttowertschöpfung, als auch die Kapitalintensität, der Kapitalstock je Erwerbstätigen, im Produktionsbereich deutlich höher sind als im Handel. Im Jahr 1988 betrug der Kapitalkoeffizient in Deutschland - in Preisen von 1980 gerechnet - im Waren produzierenden Gewerbe 2,4 und im Handel 1,8. Die Kapitalintensität, der Kapitalstock in 1.000,-- DM je Erwerbstätigen, betrug im Waren produzierenden Gewerbe 141 und 83 im Handel - siehe Batzer (1991, S. 38 ff.). Anpassungen des Kapitalstocks im Produktionsbereich sind demnach mit einem höheren Investitionsbedarf verbunden als im Handel. Gutenberg (1979, S. 542 ff): die „betriebstechnische Elastizität bestimmt darüber, wieviel Produktionsprogramme sich ohne wesentliche Umstellungen und Umorganisation der Betriebsanlagen mit einer gegebenen Kapazität herstellen lassen"; Meffert (1986, S. 368) fuhrt neben dem zu erwerbenden technischen Wissen fiir die Erweiterung der Produktpalette Kapazitätsbeschränkungen auf der Produktions- und Kostenseite sowie finanzielle Beschränkungen an, welche die Programmpolitik eines Herstellers einschränken.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß 2.6.2.

139

Sortimentsflexibilität und der Wissensvorsprung des Handels

Im Unterschied zum direkten Absatz erfordern Sortimentsvariationen im Handel nicht eine Umstellung der innerhalb eines Unternehmens gefertigten Produktpalette. Je nach vertraglicher Bindung an die Lieferanten sind die Sortimente im Handel auch kurzund mittelfristig veränderbar. Produkte können durch die Erzeugnisse konkurrierender Hersteller substituiert werden. Sortimentsanpassungen setzen nicht voraus, daß das in Produkten geronnene Produktionswissen erworben wird. Die Komplexität der Leistungserstellung im Handel ist aufgrund der geringeren Anzahl an Handlungsparametern niedriger als im produzierenden Gewerbe. Der Umfang des zu erwerbenden Wissens beschränkt sich auf die nachgefragten Preis-Leistungskombinationen, die relevanten Beschaffungsmärkte sowie auf kostengünstige Beschaffungs- und Absatzwege. Auch die „betriebstechnische Elastizität" von Handelsbetrieben ist in der Regel weitaus größer als die von Produktionsbetrieben. So kann eine Sortimentsvariation im Einzelhandel in der verbesserten Auslastung oder Neubelegung bestehender Regalplätze bestehen, ohne daß Investitionen in den Kapitalstock erforderlich werden. Für Handelsbetriebe fallen somit Transaktionskosten in Form von Such- und Verhandlungskosten mit den Lieferanten und potentiellen Abnehmern an, nicht jedoch Kosten der Produktionsumstellung wie zum Beispiel für Forschung und Entwicklung oder Investitionen in Produktionsanlagen für den Aufbau neuer Produktlinien. Sortimentsumstellungen im Handel sind demnach tendenziell mit niedrigeren Kosten verbunden als im direkten Absatz. Der „Freiheitsspielraum im Austauschprozeß" (Hoppmann 1988, S. 266) ist hoch. Die Variationsbreite und damit die Anpassungsfähigkeit von Sortimenten des Handels hängt von der Vielfalt und Anzahl der Produkte unterschiedlicher Hersteller ab, durch deren Bündelung sich Verbundeffekte auf seiten der Nachfrager erzielen lassen. Horizontaler Wettbewerb auf den dem Handel vorgelagerten Wirtschaftsstufen erhöht dessen unternehmerischen Handlungsraum im Austauschprozeß: „Je größer die Austauschbarkeit der angebotenen Güter für den Nachfrager ist, desto zahlreicher sind seine Alternativen und um so größer ist das Ausmaß seiner Wahlfreiheit" (Hoppmann 1988, S. 266). So hat die in diesem Jahrhundert um ein vielfaches gestiegene Zahl an Verbrauchsgütem den Handel in die Lage versetzt, unterschiedliche Preis-Leistungskombinationen zusammenzustellen und im Wettbewerb zu testen. Die steigende

Im Falle eines einzigen Herstellers hätten Handelsbetriebe durch Sortimentszusammenstellung keinen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem direkten Absatz, da dessen Produktionsprogramm mit dem Sortiment von Handelsbetrieben identisch wäre. Die Existenz von selbständigen Handelsbetrieben, die Preisbildung und die Gewinnverteilung hinge von der jeweiligen Marktmacht des Herstellers und des Handels ab - vgl. Krelle (1976, S. 633 ff.). Tietz (1985, S. 305) gibt Schätzungen wider, denen zufolge es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur 1.000 Konsumgüter gab. Die Einfuhrung neuer Produkte, von Markenartikeln und Handelsmarken ließ diese Anzahl in den letzten Jahrzehnten um ein Vielfaches anwachsen. Im Jahre 1975 wiesen die Sortimente des Handels in der Bundesrepublik beispielsweise 900.000 Sorten Damenoberbekleidung, 700.000 Sorten Spielzeug, 350.000 Sorten Schuhe und 250.000 Sorten Lebensmittel auf. Allein im

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Bertram Wiest

Kaufkraft der Konsumenten resultierte in einer Differenzierung und Verfeinerung des Bedarfs, so daß neben der reinen Gebrauchsqualität der Waren geschmackliche Anforderungen in den Vordergrund rückten. Die Zunahme an Konsumgütern durch Spezialisierung und Produktdifferenzierung auf seiten der Hersteller erhöhte die Anzahl an Waren, die zueinander in komplementären oder substitutiven Verhältnis stehen. Aufgrund größerer Wahlmöglichkeiten und der sich differenzierenden Nachfrage bildeten sich unterschiedliche Marktsegmente heraus. Die Anzahl möglicher Sortimentskombinationen, durch die sich im Einzelhandel ein Austausch-, Nachfrage- oder Bedarfsverbund erzielen ließen, wuchs, was sich in einem kontinuierlichen Anstieg der Bruttowertschöpfung des Handels am Bruttoinlandsprodukt im Laufe der letzten 100 Jahre widerspiegelt. Lassen sich unterschiedliche Marktsegmente identifizieren, dann können Verbundvorteile nur durch auf sie abgestimmte spezifische Produkt- und Leistungsangebote erzielt werden. So bedienen Einzelhandelsbetriebe mit Fach- und Spezialsortimenten, Warenhäuser und Discount-Märkte voneinander abgrenzbare Zielmärkte. Die jeweiligen Betriebsformen zeichnen sich durch unterschiedliche Kombinationen der Handelsbetrieben zur Verfugung stehenden unternehmerischen Aktionsparameter aus, die sich in ihrer Sortimentszusammenstellung niederschlagen (Gutenberg 1979, S. 536 f f ) . Die Sortimente von Discount-Märkten mit Niedrigpreispolitik setzen sich beispielsweise vornehmlich aus Handelsmarken zusammen und weisen nur geringe Sortimentstiefen auf. Auch die großen Handelsunternehmen und Verbundgruppen haben sich in unterschiedliche Betriebs- und Angebotsty^en diversifiziert, durch die sie der Differenzierung der Endnachfrage Rechnung tragen. Die tatsächliche Sortimentsbreite und -tiefe einzelner Handelsbetriebe ist das Ergebnis von Suchprozessen und der Selektion unrentabler Preis-Leistungspakete durch die Kaufentscheidungen der Nachfrager. Durch Sortimentsvariationen versuchen Handelsbetriebe ihre Sortimente an die Struktur der Nachfrage anzupassen. Sowohl vorstoßende

Lebensmittelbereich kommen laut Meffert (1986, S. 361) jedes Jahr 1.000 Neuprodukte hinzu. 267

268

269

270

Geht man von intersubjektiven Unterschieden in der Hypothesenbildung der Konsumenten bezüglich ihrer Technologien in der Nutzenproduktion und deren Veränderung im Zeitverlauf durch Lerneffekte aus, ist die Struktur der Endnachfrage realistischerweise heterogen und nicht statisch. Siehe Behrens (1972, S. 8); in Amerika stieg auch die Beschäftigtenzahl im Handel zwischen 1870 bis 1969 gegenüber den in der Produktion Tätigen um das Siebenfache. In Deutschland erhöhte sich die Beschäftigtenzahl im Handel je eintausend Einwohner im gleichen Zeitraum von 14 auf 51 Personen - ibid. S. 8 f. Im Discountbereich umfaßt ein Sortiment ca. 1500 Artikel, in großflächigen Märkten bis zu 10.000 Artikel - vgl. Monopolkommission (1994, S. 40). Die Geschäftsbereiche der Tengelmann Gruppe umfassen beispielsweise Discountund Großflächen-Märkte, Service Anbieter, Fachmärkte sowie Drogeriemärkte - siehe BVL (1997, S. 74 f.).

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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als auch imitierende Wettbewerber profitieren hierbei von der relativ kostengünstigen Substituierbarkeit der Sortimentsbestandteile. Die Imitation erfolgreich getesteter Sortimentsbestandteile wird durch den vergleichsweise geringen Umfang an zu erwerbenden Wissen erleichtert. Die Diffusion von Wissen im Marktprozeß schafft somit einen engen Reaktionsverbund, welcher den Wettbewerbsdruck im Handel schürt und damit das Aufstellen und Testen neuer Hypothesen begünstigt. Dies kommt im deutschen Einzelhandel dadurch zum Ausdruck, „...daß die Unternehmen ihre Organisations- und Entscheidungsstrukturen, den Einsatz ihrer Wettbewerbsparameter und ihr Erscheinungsbild gegenüber den Marktpartnern mit dem Ziel aufeinander abstimmen, sich mit einem unterscheidbaren Produkt- und Leistungsprofil gegenüber den Wettbewerbern abzusetzen und das Einkaufsinteresse der Konsumenten stärker und vor allem dauerhafter auf sich zu ziehen". Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Marktsegmentierung für die Arbeitsteilung zwischen Groß- und Einzelhandel? Die Heterogenität Endnachfrage spiegelt sich in der Einkaufspolitik spezialisierter Einzelhandelsbetriebe wieder. Sie eröffnet vorgelagerten Handelsbetrieben Marktchancen. Durch Spezialisierung in der Sortimentsbildung ist auch der Großhandel in der Lage, Verbundeffekte auf Seiten des Einzelhandels zu generieren und dessen Nachfrage auf sich zu ziehen. Im Zuge der vertikalen Arbeitsteilung im Handel kann sich eine „Handelskette"ergeben ( S e y f f e r t 1972, S. 623 ff.). Ihre Tiefe und Breite hängt von der Vorteilhaftigkeit einer weitergehenden Spezialisierung konkurrierender und vorgelagerter Handelsbetriebe im Erwerb von Wissen um nachfragegerechte Sortimentszusammenstellungen ab. So wird der Anteil des inländischen Großhandelsumsatzes, der mit nachgelagerten Großhandelsbetrieben erzielt wird, in der Bundesrepublik Deutschland auf 37% geschätzt (Batzer 1991, S. 149). Laut Schätzungen beträgt der Gesamteinschaltungsgrad des Großhandels im Inlandsabsatz 41%. Er variiert nach Branchen, wobei die Nachfrage nach Großhandelsleistungen im Ernährungsbereich mit einem Einschaltungsgrad von 82% am größten ist (.Batzer 1991, S. 148 ff.). Picot (1986, S. 12) weist allerdings daraufhin, daß die Statistiken ein verzerrtes Bild der Bedeutung des Großhandels im Wirtschaftsprozeß widerspiegeln können. Sie berücksichtigen nicht die zunehmende vertikale Verflechtung des Großhandels mit dem Einzelhandel im Zuge der andauernden Konzentrationsprozesse, aus denen Picot einen Trend zur Einstufigkeit des Handels ableitet. Großhandelsbetriebe, welche zu Handelsketten, -Gruppen und Einkaufsvereinigungen gehörten, hätten in ihrer Absatz- und Sortimentspolitik nur geringe oder gar keine Selbständigkeit. Sie statistisch dem traditionellen Großhandel zuzuschlagen, sei daher inkorrekt.

271

Monopolkommission (1994, S. 84); vgl. auch ebenda S. 93 f..

142 2.7. 2.7.1.

Bertram Wiest Gesamtwirtschaftliche Impulse des Handels Der Innovationswettbewerb u m die Verringerung von Transaktionskosten

Sowohl Handelsbetriebe als auch der direkte Absatz ab Werk stehen „...in einem ständigen wettbewerblichen Prozeß der Suche nach transaktionskostensparenden Innovationen bei der vertikalen Arbeitsteilung" (Kerber 1991, S. 338). Handelsleistungen werden nur nachgefragt, wenn entweder der Verkaufspreis des Handelsbetriebes geringer ist als der des direkten Absatzes oder wenn die Sortimentsbildung des Handels zu Transaktionskostenersparnisssen seitens der Nachfrager führt. Steigt die Anzahl an Handelsbetrieben und Handelsstufen, läßt sich somit nicht auf eine ineffiziente Verteuerung des Vertriebssystems und Mehrkosten auf Seiten der Verbraucher schließen. Eine Zunahme der Anzahl an Handelsbetrieben sowie verstärkte vertikale Arbeitsteilung zwischen Handelsbetrieben ist vielmehr ein Indiz dafür, daß bisher nicht genutzte Potentiale an Transaktionkostenersparnissen aufgedeckt worden sind. Sowohl eine verbesserte Ausrichtung der Sortimente an der Nachfrage als auch eine Rationalisierung des Beschaffungs- und Absatzvorgangs fuhren zu einer Verringerung des gesamtwirtschaftlichen Transaktionkostenniveaus. Die Anzahl vorteilhafter Tauschoperationen erhöht sich und setzt Anreize zur weitergehenden Spezialisierung. Die jeweils vorherrschende Marktstruktur in den verschiedenen Bereichen des Handels resultiert aus Such- und Experimentierprozessen. D a deren Ergebnisse nicht ex ante bekannt sein können, ist die in Deutschland in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts viel diskutierte Frage der „Überfüllung" (Lampe 1930, S. 49 ff.) des Einzelhandels falsch gestellt. Auch läßt sich eine optimale Handelsstruktur nicht bestimmen. 272

272

Hierzu müßte

Baligh und Richartz (1967, S. 26) entwickeln ein formales Modell auf Basis der Reduktion von Kontaktkosten, demzufolge „the progression of these additional levels would continue as long as the product of the number of middlemen or sellers in the level immediately above the new level in question and the number of middlemen or buyers in the level immediately below the new level was greater than or equal to the sum of the middlemen, sellers, or buyers in the levels immediately above and below the new level: ab/a+b 2> 1 where: a = number of middlemen or sellers in the level immediately above the one in question, and b = number of middlemen or buyers in the level immediately below the one in question". Aufgrund der sehr restriktiven Prämissen des Modells ist seine empirische Relevanz allerdings fraglich. So wird davon ausgegangen, daß alle Preis-Leistungspakete der Produzenten und des Handels identisch sind. Es herrscht Sicherheit. Die Handelsleistung wird auf reine Kontaktherstellung und Informationsvermittlung reduziert. Es fallen für Handelsbetriebe keine set up-Kosten an. Aus dem Modell ergibt sich, daß der horizontale Wettbewerb von Handelsbetrieben ein höheres Kontaktkostenniveau zur Folge hat als die vertikale Kooperation. Das minimale Kontaktkostenniveau wäre erreicht, wenn nur ein Handelsbetrieb zwischen n Herstellern und m Verbrauchern vermitteln würde. Wettbewerb wäre ein Nullsummenspiel, in dem n x m x k Kontaktkosten auf die vorhandenen Handelsbetriebe verteilt würden. Geht man dagegen von Unsicherheit und einer heterogenen Nachfrage nach PreisLeistungspaketen aus, dann umfassen Transaktionskosten neben den Kontaktkosten

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

143

das minimale Transaktionskostenniveau vorab bekannt sein. Dies scheitert jedoch nicht zuletzt daran, daß die Verbundvorteile einzelner Nachfrager nicht aufdeckbar und aggregierbar sind. Die Endnachfrage müßte entweder homogen sein, oder ein externer Marktbeobachter müßte die Ergebnisse individueller Suchprozesse und Produktvergleiche ex ante in Erfahrung bringen können. Ein Beobachter kann allerdings „...nicht wissen, welche Güter von den Individuen mit Hilfe von Suchaufwand als mögliche Substitute für einen gleichen oder ähnlichen Verwendungszweck wahrgenommen werden" (Streit und Wegner 1989, S. 193). Dieses Wissen wird erst durch das Experimentieren von Handelsbetrieben und dem direkten Absatz, welche mit den von ihnen zusammengestellten Sortimenten untereinander im Wettbewerb um Marktanteile stehen, generiert. Nicht nur die Sortimentspolitik, sondern auch der Einsatz der übrigen Aktionsparameter im Wettbewerb um Marktanteile stößt immer wieder einen Suchprozeß nach transaktionskostensparenden Innovationen an. Der in den letzten Jahrzehnten im deutschen Einzelhandel zu beobachtende Strukturwandel belegt die Intensität des Innovationswettbewerbs im Rahmen der Sortimentspolitik und der Gestaltung der Absatz- und Beschaffungswege. Fusionen und Übernahmen, Einkaufskooperationen, vertikale Kooperationsstrategien in der Marktbearbeitung, die Einführung neuer Informations- und Datenerfassungstechnologien für Logistik und Warenwirtschaftssysteme, die wachsende Bedeutung von Handelsmarken im Zuge der Ausbreitung von Discount-Märkten oder das Tele- und Computershopping sind darauf gerichtet, über eine Rationalisierung der Beschaffungs- und Absatzwege Kostenvorteile im horizontalen und vertikalen Wettbewerb zu erzielen. So ging der Marktanteil traditioneller Fachgeschäfte am gesamten Einzelhandelsumsatz in dem Zeitraum von 1980 bis 1995 von 55,4% auf 35,4% zurück. Im gleichen Zeitraum stieg der Marktanteil von Fachmärkten von 2% auf 14%, der von Verbrauchermärkten und Selbstbedienungs-Warenhäusern von 11,9% auf 17,5%. Großunternehmen des Lebensmitteleinzelhandels expandieren in den Non Food-Bereich. Warenhauskonzerne verlassen angesichts schrumpfender Marktanteile das Konzept des Vollsortiments. Sie diversifizieren sich ebenfalls in Fachmarktbereiche und bieten Dienstleistungen im Bereich Touristik und Finanzdienstleistungen an. Die Etablierung erlebnisorientierten Einkaufens mit integrierten Freizeitangeboten innerhalb eines Warenhauses zielt auf die Schaffung eines das Warensortiment übergreifenden Nachfrageverbunds ab. Mineralölgesellschaften dringen durch die Ausweitung ihrer Tankstellensortimente um Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs und deren wachsenden Umsatzanteil in klassische Einzelhandelsegmente ein. Die Verbreitung des

auch Kosten des Wissenserwerb um nachgefragte Sortimente, Beschaffungsquellen und Absatzwege. Existieren differenzierte Sortimente und unterschiedliche Betriebstypen, dann erscheint eine rein rechnerische ex-ante Bestimmung des Transaktionskostenminimums und damit der optimalen Anzahl an Handelsbetrieben und -stufen zweifelhaft. Siehe Monopolkommission (1994, S. 30); dieser Trend spiegelt sich in vielen deutschen Innenstädten wider, in denen Filialketten den traditionellen Fachhandel immer mehr verdrängen.

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Franchising, von Shop-in-the-Shop-Systemen sowie die in Deutschland neu entstehenden und heftig umstrittenen „Factory Outlet Center" erhöhen den Verdrängungswettbewerb im Einzelhandel durch den direkten Absatz. Ein weiterer Umbruch für den Handel mit nicht-erklärungsbedürftigen und standardisierten Massenartikeln wird von der Durchsetzung medialer Vertriebsformen wie dem Tele- und Internet-Shopping erwartet (Swoboda 1995, S. 80 ff.). Der elektronische Handel („E-Commerce") in virtuellen Kaufhäusern und Cyber-Märkten über 24 Stunden am Tag verringert Such-, Kontakt- und Vergleichskosten und erhöht die Markttransparenz. Der horizontale Wettbewerb unter Handelsbetrieben sowie der Wettbewerb zwischen dem Handel und dem 274

direkten Absatz verschärft sich. Laut Expertenschätzungen wird der Umsatzanteil im sogenannten stationären „non-food" Einzelhandel in den U S A von 85% im Jahre 1994 auf nur noch 45% im Jahre 2010 schrumpfen, der Umsatzanteil medialer Vetriebswege dagegen auf 55% anwachsen. 276

Für noch gravierender hält B. Tietz die Strukturveränderungen im Großhandel. Er sieht eine Neuordnung der vertikalen Arbeitsteilung zwischen den klassischen Wirtschaftsstufen. Hersteller mutieren immer mehr zu Großhändlern, vergeben Lizenzen und 277 lagern, wie beispielsweise in der Textil- und Sportartikelindustrie, die Fertigung aus. Großhändler wie zum Beispiel Computerhändler verfolgen eine Strategie der

274

275

276 277

Vor allem der direkte Absatz profitiert bisher von dem elektronischen Handel. Paradebeispiel ist der Computer-Hersteller Dell in den USA. Nach eigenen Angaben setzt er täglich Computer im Wert von einer Millionen Mark über das Netz ab - vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.2.1998, Nr. 44, S. 14. Das Marktforschungsunternehmen Forrester Research erwartet einen Anstieg der zwischen europäischen Unternehmen im elektronischen Handel getätigten Umsätze von 879 Millionen Dollar im Jahr 1998 auf mehr als 56 Milliarden Dollar im Jahr 2001 - vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.4.1998, Nr. 80, S. 14; vgl. auch Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.1998, Nr. 242, S. 34. Aber auch Handelsunternehmen profitieren von den neuen Kommunikationsmöglichkeiten. Das amerikanische Handelsunternehmen Wal-Mart, welches durch die Übernahme der Wertkauf Gruppe auch im deutschen Markt präsent ist, hat seine weltweit 4.000 Lieferanten und 10.000 Filialen durch eine riesige Datenbank miteinander verbunden, welche die gesamte Wertschöpfungskette von den Verkäufen in den Filialen bis zum Produktionsbeginn der Vorprodukte bei den Lieferanten abbildet. Dies erhöhe die Reaktionsfähigkeit auf Nachfrageänderungen und ermögliche die Ausschöpfung von Rationalisierungspotentialen in der Beschaffung - vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.3.1998, Nr. 54, S. 27. Siehe Absatzwirtschaft, Jg. 38 (1995), Nr. 1, S. 22; in Deutschland sind nach einer Umfrage der Universität Frankfurt/Oder 19 % der befragten Handelsunternehmen mit einer eigenen Seite im Internet vertreten. Als elektronischer Marktplatz wird das Internet bisher von knapp über 1 0 % der Unternehmen genutzt - siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.2.1998, Nr. 44, S. 14. Siehe Tietz (1995, S. 76 ff.) sowie Tietz (1993, S. 52 ff. und S. 700 ff.). So hat beispielsweise die Puma AG, Herzogenaurach, die Produktion ausgelagert und versteht sich als reines Entwicklungs- und Vermarktungsunternehmen. Puma-Produkte werden vorrangig in Asien hergestellt, während sich die Puma AG auf die

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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Rückwärtsintegration und investieren in die Produktion. Angestoßen wurde dieser Prozeß durch veränderte Rahmenbedingungen und eine neue Managementphilosophie. Unter den Schlagwörtern „Lean Production", „Lean Management" und „Process Reengineering" firmiert ein Zweig der Management-Literatur, der eine Reorganisation betriebsinterner Strukturen und Prozesse sowie eine Neuverteilung der Arbeitsteilung zwischen Zulieferern und Herstellern propagiert. Die „strategische Grundsatzentscheidung" (Porter 1995, S. 376 ff.) über Eigenfertigung oder Fremdbezug einzelner Leistungen soll aufgrund veränderter Rahmenbedingungen neu getroffen werden. Bestehende Hierarchien und das vorherrschende „tayloristische Paradigma" sollen durch eine „ganzheitliche integrative" Aufgabenverteilung, durch eine wettbewerbsgerechte Unternehmenssegmentierung weitgehend eigenverantwortlicher Teams, durch die Bildung von Netzwerken zwischen selbstständigen Profit-Centern sowie zwischen externen Zulieferern und Abnehmern abgelöst werden. Aus starren und unflexiblen ,,Palaststrukturen" sollen anpassungsfähige und flache „Zeltstrukturen" werden (Gomez und Zimmermann 1992, S. 58 ff.). Im Zuge des zunehmenden Preiswettbewerbs auf den sich durch neue Akteure und Wettbewerbsbedingungen stark verändernden internationalen Märkten fand die „Lean Management"-Philosophie in den westlichen Industriestaaten weite Verbreitung. Der Grad an vertikaler Arbeitsteilung nimmt zu, immer mehr Zwischenprodukte und Teilprozesse werden nicht mehr betriebsintern koordiniert, sondern auf Märkten gehandelt. Die Fertigungstiefe ehemals vertikal integrierter Pro-

Produktentwicklung, Beschaffung, Logistik, das Marketing und die Verwaltung konzentriert. Dies spiegelt sich in der Mitarbeiterstruktur wider: 24 % der Mitarbeiter waren in den Zentralbereichen, 58 % im Marketing und 18 % im Sourcing beschäftigt - siehe Puma Geschäftsbericht 1996, S. 28. Der Konkurrent Adidas bezieht 95 % der Schuhe und 60 % der Bekleidung aus Asien - siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.3.1998, Nr. 55, S. 22. " 8 Vgl. Groth und Kammel (1994, S. 24 ff.) sowie Harmon (1993, S. 69 ff.). 279

Woher rührt die Zunahme des vertikalen Wettbewerbes und welche Wettbewerbsparameter haben sich verschoben? Zwei wahrscheinliche Ursachen sollen kurz skizziert werden: 1.) Technische Innovationen - vor allem in der Verkehrstechnik und der Telekommunikation - sowie die Herausbildung spezialisierter Märkte für Informationen senkten die für den Erwerb und Transfer von Wissen anfallenden Transaktionskosten. Eine Verringerung der Kosten des zwischenbetrieblichen Wissenstransfers führt dazu, daß die Marktreife und damit die Handelbarkeit von Zwischenprodukten und intermediären Leistungen zunimmt. Die Kosten von Markttransaktionen sinken im Vergleich zur internen Koordination, wodurch Effizienzvorteile wechselseitiger Spezialisierung genutzt werden können - vgl. Kapitel 5.2.5.2.; vgl. auch Coase (1990, S. 7). 2.) Verbesserte Markttransparenz, die Verbreitung von Kompatibilitätsstandards sowie die Liberalisierung der Güter- und Kapitalmärkte erhöhten einerseits den Wettbewerbsdruck, andererseits aber auch die räumliche Ausdehnung der relevanten Märkte, was sich in dem überproportionalen Anstieg des Welthandels manifestiert. Laut Stigler (1950, S. 187 ff.) hat die wachsende Marktgröße zur Folge, daß selbst bei gleichen Technologien spezialisierte Anbieter aufgrund von Verbundeffekten steigende Skalenerträge und damit einen Kostenvorteil im Preiswettbewerb erzielen

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duktionsunternehmen sinkt, ganze Fertigungs- und Managementbereiche werden ausgegliedert und fremdvergeben. Die zunehmende Spezialisierung hat die Herausbildung von Systemkopfiinternehmen zur Folge. Diese beschränken sich in der Leistungserstellung auf jene Prozesse und Operationen, wo sie eigene Kernkompetenzen vermuten. Sie beziehen ganze Systemkomponenten von Zulieferern und arrondieren ihre Produktpaletten durch Zukäufe. Die strukturellen Veränderungen in der Industrie haben zur Folge, daß das Sortimentieren auch in der gewerblichen Produktion zunehmende Bedeutung erhält. Dr. M. Fuchs, Präsident des Bundesverbandes des deutschen Groß- und Außenhandels, sieht Die die westlichen Industriestaaten auf dem Weg zu einer „Händlergesellschaft". Grenzen zwischen der Leistungserstellung im Großhandel und der Industrie und damit zwischen den Wirtschaftsstufen verwischen. Die Vorstellung festliegender Stufen in der Produktion und Tauschwirtschaft, die Güter im Wirtschaftsprozeß durchlaufen, nimmt zunehmend idealtypischen Charakter an. Großhandelsbetriebe übernehmen von voroder nachgelagerten Produktionsbetrieben zunehmend von diesen ausgelagerte Dienstleistungen wie die Marktforschung, Qualitätssicherung, Schulungen bis hin zum kompletten Vertrieb und Marketing (Tietz 1995, S. 79). 2.7.2.

Auswirkungen des Innovationswettbewerbs gesamtwirtschaftlichen Angebots

auf die Reagibilität des

2.7.2.1. Handelsbetriebe als „Pförtner" zu den Absatzmärkten Welche Auswirkungen haben die vom Handel erbrachten Leistungen auf die Ressourcenallokation in der Güterproduktion? Es gilt, in diesem Kapitel einen Referenzpunkt für die Analyse der vom Handel ausgehenden Impulse im Transformationsprozeß zu entwickeln. Es ist demnach am Beispiel entwickelter Marktwirtschaften zu klären, wie und unter welchen Umständen die unternehmerischen Sortimentsentscheidungen im Handel zu einer verbesserten Ausrichtung der Güterproduktion an der Nachfrage und deren Veränderungen fuhren. Hierfür wird auf die sogenannte „Gate Keeper"-Theorie des Handels zurückgegriffen, um die Konsequenzen unterschiedlicher Wettbewerbsbe-

können. Vertikal integrierte Unternehmen werden aufgrund gestiegener Opportunitätskosten der Eigenfertigung Teilleistungen ausgliedern. 280

Siehe Absatzwirtschaft, Jg. 37 (1994), Nr. 8, S. 14.

281

Diese Frage knüpft an die Arbeit von Lampe (1958, S. 23 ff.) an, der die „Urfunktion" des Handels in der Ausrichtung des Angebotes an die Nachfrage sah. Haben Produktionsunternehmen Fertigungsanlagen errichtet, dann sind sie aufgrund deren beschränkten betriebstechnischen Elastizität an einer konstanten Nachfrage nach ihren Produkten interessiert. Diese unterliegt jedoch Wandlungen, woraus „Spannungen" resultieren. Aufgrund höheren Sortimentsflexibilität im Handel dominiert dessen Marktorientierung, was sich über die Beschaffungspolitik in einer nachfragegerechteren Ausrichtung des Angebotes widerspiegelt.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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dingungen im Handel für die Reagibilität des gesamtwirtschaftlichen Angebots und die Komplexität einer Volkswirtschaft herauszuarbeiten. Im Vertrieb von Waren mit hohem Standardisierungsgrad und einer Vielzahl von Anwendungsmö^lichkeiten hat der Handel einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem direkten Absatz. Dies trifft vor allem auf den Absatz von Verbrauchsgütern im Einzelhandel zu. Hersteller, für die der Aufbau eines eigenen Vertriebssystems nicht rentabel ist, sind darauf angewiesen, daß ihre Produkte in die Sortimente des Einzelhandels aufgenommen werden. Den Kaufentscheidungen der Verbraucher ist demnach ein Selektionswettbewerb von Konsumgütern um die Aufnahme in die Einzelhandelssortimente vorgeschaltet. Hierin liegt die Grundidee der „Gate Keeper"-Theorie. Handelsbetriebe werden als Pförtner dargestellt, die mit ihren Sortimentsentscheidungen über die Öffnung des hinter ihnen liegenden Absatzkanals entscheiden. Innerhalb der Sortimente des Einzelhandels konkurrieren unterschiedliche Produkte und Hersteller um günstige Regalplätze, verkaufsfördemde Maßnahmen wie gute Beratung und Werbung. Die „Gate Keeper"-Theorie hat weitgehende wettbewerbstheoretische und -politische Implikationen, die auch für die mögliche Ausrichtungsleistung des Handels Konsequenzen hat. Das Bild des Pförtners suggeriert, der Handel verfüge über Marktmacht gegenüber dem produzierenden Gewerbe. Trifft dies zu, dann entscheiden nicht wettbewerbliche Suchprozesse über die Aufnahme neuer Produkte in die Sortimente des Handels, sondern die jeweilige Verhandlungsmacht von Handelsunternehmen und Herstellern. Es ist zu prüfen, welche Konsequenzen sich hieraus für den Innovationswettbewerb in Handel und produzierendem Gewerbe und damit die Ausrichtung des Warenangebots an der Endnachfrage ergeben. 2.7.2.2. Offene Pforten - ausgeprägter Innovationswettbewerb Ist die Anzahl autonomer Einzelhandelsbetriebe und die Intensität des unter ihnen herrschenden Wettbewerbes hoch, dann entsteht aus der Pförtnerrolle aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Tore und Schlüssel zu den Absatzkanälen keine Marktmacht. Handelsbetriebe werden bestrebt sein, neue Preis-Leistungskombinationen zu entdecken und in ihre Sortimente aufzunehmen, um im horizontalen Wettbewerb vorzustoßen. Das Suchen und Testen neuer Produkt- und Leistungsangebote im Einzelhandel fuhrt zu einer Akkumulation von Wissen um die Endnachfrage und ihre Veränderungen. Erweisen sich neue Preis-Leistungspakete als erfolgreiche Problemlösungen, werden Verbraucher diese verstärkt nachfragen, was sich in den Umsätzen der jeweiligen Sortimentsausschnitte und -bestandteile niederschlägt. Mit neuen Preis-Leistungskombina-

282 283

Vgl. Kap. 5.2.5.2. „Damit stellt sich" nach Hansen (1972, S. 87) „die vielberufene Nachfragemacht des Handels nach Waren als Angebotsmacht von Konfrontationsmöglichkeiten zum Kauf der Produkte durch die Kunden des jeweiligen Händlers dar". Der Eindeutigkeit halber wird im folgenden jedoch weiterhin von Nachfragemacht gesprochen, wenn dem Handel in seinem Verhältnis gegenüber den Herstellern Marktmacht zukommt. Siehe auch Hansen (1976, S. 56 ff.)

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tionen vorstoßende Handelsbetriebe werden das Beschaffungs volumen deijenigen Waren ausweiten, durch die sie die Nachfrage auf sich ziehen können. Nachstoßende Wettbewerber werden ebenfalls Sortimentsanpassungen vornehmen, wollen sie keine Marktanteile verlieren. Auch sie nutzen ihre knappen Verkaufsflächen unter Berücksichtigung bestehender Verbundeffekte für solche Produkte, die ihnen den höchsten Spannenertrag sichern. Die Kaufentscheidungen der Konsumenten und die Rentabilität einzelner Sortimentsbestandteile spiegeln sich somit in der Einkaufspolitik des Einzelhandels wider. Das in einzelnen Handelsbetrieben erworbene Wissen um nachgefragte Preis-Leistungskombinationen diffundiert über den horizontalen Wettbewerb und die vorgelagerten Handelsstufen bis zur industriellen Produktion und deren Zulieferern. Über die Einkaufspolitik des Handels erfolgt somit eine Rückkoppelung der Konsumentenentscheidungen mit der industriellen Produktion. Das Warenangebot wird kontinuierlich an der Nachfrage ausgerichtet. Die Frage, die sich stellt, ist, ob und worin gesamtwirtschaftliche Vorteile dieser indirekten Rückkoppelung über den Handel liegen. Es wird angenommen, ein frei disponierender Handel sei ausgeschaltet, und das produzierende Gewerbe würde seine Produkte in Verkaufsniederlassungen direkt absetzen. Die set up-Kosten der Verkaufsniederlassungen seien niedrig und stellen keine Markteintrittsbarriere dar. Die Sortimente bestehen aus dem jeweiligen Produktprogramm der Hersteller und werden nicht durch Zukäufe arrondiert. Veränderungen der Produktprogramme sind mit hohen Kosten verbunden und erfordern Zeit. Hersteller stehen daher auftretenden Nachfrageschwankungen negativ gegenüber. Ob es zu einem Innovationswettbewerb zwischen den Hersteilem kommt, hängt davon ab, in welchem Umfang Konsumenten bereit sind, mit neuen Produkten zu experimentieren. Neue Anbieter sowie mit neuen Produkten vorstoßende Wettbewerber sind darauf angewiesen, daß die Verbraucher Zeit und finanzielle Ressourcen in die Suche nach ihnen noch nicht bekannten Preis-Leistungskombinationen investieren. Die Anzahl an Hypothesen, die Verbraucher aufstellen und testen, wird angesichts der hohen Such- und Kontaktkosten sowie des mangelnden Wettbewerbsdrucks jedoch gering sein. Da Konsumenten untereinander in der Produktion von Nutzen mangels dessen Objektivierbarkeit in keinem direkten Wettbewerbsverhältnis stehen, gibt es außer für modische Trendsetter im Konsum keine ,,Pionierprofite", die Wettbewerber nachziehen und Anreize setzen, ebenfalls mit neuen Preis-Leistungskombinationen zu experimentieren. Nutzen ist kein handelbares wirtschaftliches Gut. Er beruht auf subjektiven Theorien über nutzenstiftende Kombinationen der Input-Faktoren wie Zeit, Geld und eben auch Waren. Diese Theorien unterliegen nur einer subjektiven ex post-Bewertung der einzelnen Wirtschaftssubjekte und keinem Selektionswettbewerb. Ohne „Pionierprofite" und Marktselektion besteht jedoch für Konsumenten kaum ein Anreiz, in die Suche nach neuen Preis-Leistungspaketen zu investieren. Dies hat wiederum zur Folge, daß auch für Hersteller der Anreiz tendenziell gering ist, neue Produkte zu entwickeln. Die Intensität des Innovationswettbewerbs im verarbeitenden Gewerbe und damit die Reagibilität des gesamtwirtschaftlichen Angebotes wäre gering.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

149

Einzelhandelsbetriebe erhöhen die Markttransparenz und übernehmen durch ihre Sortimentsvariationen einen Großteil der Kosten für die Suche nach neuen PreisLeistungskombinationen. Sie weisen hierin einen Kostenvorteil gegenüber den Endnachfragern auf. Aufgrund der größeren Stichprobe und der Verteilung der Suchkosten auf mehrere Nachfrager können sie Verbundeffekte erzielen. Der Anreiz, in der Sortimentszusammenstellung auch mit den Produkten neuer Anbieter zu experimentieren, resultiert aus dem Konkurrenzdruck im Parallelprozeß. Das Experimentieren mit neuen Sortimentskombinationen und Preis-Leistungspaketen erhöht den Selektionswettbewerb innerhalb der Sortimente. Je intensiver der Einzelhandel und Großhandel nach neuen Produkten suchen, desto größer ist der Anreiz für die Hersteller in der Konsumgüterindustrie, ihrerseits Variationen an bestehenden Produkten vorzunehmen und neue zu entwickeln. Der Innovationswettbewerb im Handel um nachfragegerechtere Sortimente zieht einen Innovationswettbewerb um die Entwicklung neuer Produkte und Problemlösungen auf der dem Handel vorgelagerten Produktionsstufe nach. Die Wahrscheinlichkeit, daß überlegene Problemlösungen vom Handel auch entdeckt werden, steigt mit der Anzahl unterschiedlicher Hypothesen, die im Wettbewerbsprozeß aufgestellt und getestet werden. Je höher die Anzahl autonomer Handelsbetriebe ist, und je intensiver der unter ihnen herrschende Wettbewerb im Parallelprozeß ist, desto mehr Hypothesen werden im Marktprozeß getestet (Röpke 1977, S. 392 ff.). Mit steigender Intensität des Innovationswettbewerbs im Einzelhandel erhöht sich somit die Reagibilität des Warenangebotes, was zu seiner nachfragegerechteren Ausrichtung führt. Wird Lampes Ausrichtung der Produktion durch den Handel in diesem Sinne verstanden, dann ist „die wichtigste Leistung des Handels...die Entfaltung von Konkurrenz zwischen den Produzenten, die er zugunsten der Verbraucher vollbringt" (Tiburtius 1958, S. 16). 2.7.2.3. Geschlossene Pforten - schwacher Innovationswettbewerb Eines der umstrittensten Themen der deutschen Wettbewerbspolitik in den letzten Jahren war die Frage nach der Marktmacht des Einzelhandels. Seit Anfang der achtziger Jahre wird von der Konsumgüterindustrie und ihren Verbänden, der Presse und Teilen der Wissenschaft der Vorwurf erhoben, zunehmende Konzentrationsprozesse gewährten den großen Filialunternehmen und Verbundgruppen im Einzelhandel Nachfragemacht gegenüber den Herstellern und führten zu Wettbewerbsverzerrungen. Wiesen die 284

Siehe Monopolkommission (1994, S. 59). Die größten sechs Unternehmen und Unternehmensgruppen im deutschen Lebensmitteleinzelhandel hatten im Jahr 1992 einen Anteil von über 60 % des Gesamtumsatzes, während er sich im Jahr 1980 noch auf knapp 2 6 % belief. Die Tendenz ist weiter steigend - vgl. Laurent (1996, S. 44 ff.). Zwischen 1982 und 1992 sind sechs Unternehmen aus der Gruppe der fuhrenden zehn von den anderen aufgekauft worden. Die Konzentrationstendenzen im Einzelhandel sind dabei kein deutsches, sondern ein europäisches Phänomen, da sie mit einer Intemationalisierung der großen Firmengruppen einhergehen. Die umsatzstärksten zehn Unternehmen im Lebensmittelhandel mit angeschlossenem Non Food-Bereich in Europa vereinbarten im Jahr 1995 knapp 29 % des Gesamtumsatzes auf sich. Sie sind europaweit engagiert und setzten sich ausnahmslos aus deutschen und französischen Firmengruppen zusammen. Marktführer ist die Metro AG gefolgt

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regional abgrenzbaren Märkte des Einzelhandels früher wesentliche Unterschiede in den Marktstrukturen auf, so gleichen sich diese aufgrund der flächendeckenden Präsenz der führenden Handelsunternehmen immer mehr an. Der klassische Facheinzelhandel wird in Nischensegmente abgedrängt oder muß sich ebenfalls Einkaufskooperationen mit mehr oder weniger stark ausgeprägter Zentralisierung unternehmerischer Entscheidungsprozesse anschließen. Parallel zum Konzentrationsprozeß durch Übernahmen, Fusionen und Kooperationen gewinnt der Marktaustritt vieler Einzelhandelsgeschäfte an Bedeutung. Nach Angaben des Präsidenten des Gemeinschaftsverbandes des Deutschen Einzelhandels Franzen wies das Jahr 1997 mit fast 4.000 Konkursen den siebten Insol286 venzrekord hintereinander auf. Worin liegen für die führenden Handelsunternehmen die Wettbewerbsvorteile des externen Wachstums? Als wesentliche Gründe für die Vorteilhaftigkeit horizontaler Integration und Kooperation lassen sich folgende Punkte anführen: - Angesichts eines stagnierenden oder sogar rückläufigen Marktes ist der Preis vor allem bei kaum erklärungsbedürftigen Massenbedarfsartikeln zum dominierenden Wettbewerbsparameter geworden. Das Betriebsergebnis hängt zunehmend davon ab, daß Umsatzsteigerungen durch eine Erhöhung der Marktanteile die schrumpfenden Margen kompensieren. - Die in Abhängigkeit zu den Beschaffungsvolumina stehenden Sonderkonditionen wie absatz- und leistungsfördernde Rabatte, Rückvergütungen und Nebenleistungen der Hersteller sind zum ausschlaggebenden Handlungsparameter im Preiswettbewerb 287

geworden. Können die Umsätze nicht gesteigert werden, dann sind die Einkaufskonditionen bestimmend für das Betriebsergebnis. Diese können über eine Erhöhung der Einkaufsvolumina durch „Umsatzzusammenfasungen" verbessert werden. Mit steigendem Beschaffungsvolumen wächst die Verhandlungsposition der Handelsunternehmen gegenüber der Industrie. Auch die Hersteller haben durch große Einkaufsvolumina der Handelsunternehmen Dispositions- und Kostenvorteile. Von der Präsenz ihrer Produkte in den Sortimenten der führenden und flächendeckend vertretenen Handelsunternehmen versprechen sich die Hersteller eine effektivere Marktdurchdringung. Sie räumen im Wettbewerb um knappe Regalplätze Sonderkonditionen ein, die dem eigenständigen Facheinzelhandel versagt bleiben. - Die Segmentierung der Nachfrage hat zur Folge, daß eine Ausweitung der Marktanteile im Einzelhandel eine Diversifizierung in unterschiedliche Angebots- und damit Betriebstypen erfordert. Diese erlaubt die Realisierung von Synergie- und Verbundeffekten in Beschaffung und Logistik, eine Reduktion von Marktrisiken sowie eine von REWE - siehe Absatzwirtschaft, Jg. 38, 1995, Nr. 12, S. 26; vgl. auch Monopolkommission (1994, S. 100 ff.) sowie Täger et al. (1994, S. 182 ff.). 285

286 287

In Deutschland sind mittlerweile rund 120.000 Einzelhandelsunternehmen Mitglieder in den über 200 Kooperationen des Handels - siehe Täger (1994, S. 22). Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.2.1998, Nr. 42, S. 13. Vgl. Kartte (1983, S. 9); zu den vorherrschenden Rabattarten und Anlässen für Konditionenspreizungen siehe Täger et al. (1994, S. 62 ff.).

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

höhere Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Marktbedingungen. Führende Unternehmen im Lebensmitteleinzelhandel wie beispielsweise die Metro AG und die Tengelmann Gruppe gliedern sich neue Sortimente an, indem sie Betriebe oder ganze Filialsysteme eines anderen Angebotstyps übernehmen. - Der Einsatz kostensparender Logistiksysteme durch neue Technologien der Datenerfassung, Informationsverbund- und Warenwirtschaftssysteme setzt eine effiziente Auslastung voraus, die jedoch erst ab einer kritischen Unternehmensgröße gegeben ist. Die neuen Logistiksysteme ermöglichen es, flächendeckende Handelsnetze mit unterschiedlichen Betriebstypen kostengünstig zu koordinieren. Geringere Kosten des Wissenstransfers sowie der Koordination betrieblicher Abläufe lassen eine erhöhte Komplexität der Unternehmen zu. Sinkende Kosten der betriebsintemen Organisation begünstigen die horizontale, laterale und vertikale Integration. Es ist zu prüfen, wie sich die Konzentrationstendenzen im Einzelhandel auf den Innovationswettbewerb im Handel und der Industrie auswirken. Der Handel kann sowohl gegenüber den Konsumenten als auch gegenüber den Herstellern über Marktmacht verfugen. Die Abwesenheit beider Formen von Marktmacht ist eine notwendige Bedingung dafür, daß der Innovationswettbewerb zwischen und in Handel und Industrie nicht unterbunden wird. Hat der Handel Marktmacht gegenüber den Verbrauchern, dann wird er aufgrund mangelnden Wettbewerbsdrucks nicht dazu gedrängt, nachfragegerechte Sortimente zusammenzustellen. Der DIHT (1985, S. 9) sah bereits 1985 in bestimmten Regionalmärkten Ansätze zu engen Oligopolen im Lebensmitteleinzelhandel und äußerte die Befürchtung, daß dieser Trend den gesamten Einzelhandel erfassen würde. Die Monopolkommission kam dagegen in ihrem Sondergutachten von 1985 über die „Konzentration im Lebensmittelhandel" sowie dem Sondergutachten von 1994 über die „Marktstruktur und Wettbewerb im Handel" für den Lebensmitteleinzelhandel zu dem Ergebnis, daß „...die qualifizierte Oligopolvermutung des §23a Abs. 2 Satz 1 GWB durch den bestehenden aktiven Wettbewerb im Innenverhältnis des Oligopols widerlegt ist". Der Wettbewerb der Oligopolaußenseiter sowie der potentielle Wettbewerb angesichts niedriger Marktzutrittsschranken stelle eine ausreichende Begrenzung der Preissetzungsspielräume der führenden Handelsunternehmen und Gruppen dar. Die Monopolkommission sieht sogar eine Intensivierung des horizontalen Wettbewerbes durch die Konzentrationsprozesse im Einzelhandel, da die Reaktionsverbundenheit zwischen den großen Filialunternehmen und Verbundgruppen steigt. Niedrige Umsatzrenditen im Einzelhandel und die dynamische Entwicklung der Betriebs- und Angebotstypen weisen nicht auf Preissetzungsspielräume und kollusives Verhalten hin. Besteht andererseits Nachfragemacht seitens des Handels gegenüber den Herstellern, dann wird die Intensität des Innovationswettbewerbs in Handel und Industrie aufgrund Monopolkommission S. 110 ff.).

(1994),

S. 169;

siehe

Vgl. BAG-Vademecum '97, S. 67 sowie Lebensmitteleinzelhandels (BVL) 1997, S. 73.

auch

Monopolkommission

Bundesverband

des

(1985,

Deutschen

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der geschlossenen Pforten des Absatzkanals Handel gering sein. Nachfragemacht des Handels besteht, wenn die gewährten Sonderkonditionen nicht auf Leistungsvorteilen beruhen, sondern auf Wettbewerbsverzerrungen infolge der Verhandlungsübermacht der großen Handelsunternehmen. Wie auch in dem Gutachten von 1985 sah die Monopolkommission im Jahr 1994 keine Veranlassung, Nachfragemacht des Handels gegenüber den Herstellern zu bemängeln. Nachhaltige Gewinnverschiebungen zu Gunsten der Handelsunternehmen seien empirisch nicht zweifelsfrei feststellbar. Auf den Beschaffungsmärkten seien vorhandene „...Verhaltens- und Preissetzungsspielräume der großen Handelsunternehmen nach wie vor nicht auf die Existenz marktbeherrschender Nachfragerstellungen zurückzuführen. Sie sind vielmehr mit Besonderheiten auf den Beschaffungsmärkten selbst, wie namentlich der Existenz anhaltender Angebotsüberkapazitäten der Hersteller, erklärbar und stellen größtenteils keine Probleme der Wettbewerbspolitik dar". Im Handel ist die Reaktionsverbundenheit nachstoßender Wettbewerber im Parallelprozeß hoch, so daß den Herstellern Wahlmöglichkeiten im Austauschprozeß bleiben. Laut Monopolkommission sind Preissetzungsspielräume auf strukturelle Anpassungen auf Seiten der Hersteller und den unter ihnen herrschenden Wettbewerbsbedingungen zurückzufuhren. Dies wird in einer empirischen Analyse von Gaitanides und Westphal (1990, S. 146 f.) bestätigt. Dominierender Erfolgsfaktor in der Konsumgüterindustrie seien nicht die vertikalen Wettbewerbsbedingungen, sondern die horizontale Wettbewerbsposition und -Situation. In der Konsumgüterindustrie für Massenartikel wird zunehmend die Unternehmensgröße und damit die Fähigkeit, steigende Skalenerträge in der Produktion sowie Verbundeffekte im Marketing realisieren zu können, zum ausschlaggebenden Wettbewerbsparameter. Täger et al. (1994, S. 81) folgern hieraus, daß „in den Marktbeziehungen zwischen Handel und Industrie...von der jeweiligen Leistungsstärke der Marktgegenseite zunehmend eine höhere Attraktivität" ausgeht. Die Monopolkommission (1994, S. 144) geht dann auch davon aus, daß „...bei den massenproduktions- und distributionsfähigen Waren die Konzentrationsentwicklungen sowohl im Handel als auch bei der konsumgüterproduzierenden Industrie weiter voranschreiten werden". Auch wenn die Konzentrationstendenzen in Handel und Konsumgüterindustrie nicht gegen das bestehende Wettbewerbsrecht verstoßen, stellt sich die Frage, ob die Abwesenheit von Marktmacht eine hinreichende Bedingung dafür ist, daß die Fähigkeit von Marktprozessen, neues Wissen zu generieren, nicht negativ tangiert wird. Größenvorteile des Handels beruhen primär auf einer Zentralisierung und Vereinheitlichung der Beschaffungspolitik. Mit der Anzahl autonom agierender Handelsbetriebe reduziert sich auch die Anzahl an Hypothesen, die im Wettbewerbsprozeß aufgestellt und getestet werden. Die Ausschöpfung von Rationalisierungspotentialen in der Beschaffung durch Bündelung der jeweiligen Einkaufsvolumina gewinnt höhere Priorität als das Streben nach Pioniergewinnen durch Sortimentsinnovationen. Je mehr sich die Handelssorti-

290

Monopolkommission (1994, S. 170, siehe auch S. 138 ff.).

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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mente angleichen und durch zentrale Beschaffungsorgane zusammengestellt werden, desto geringere Wirksamkeit entfaltet der Selektionswettbewerb innerhalb der Sortimente und zwischen den Sortimenten unabhängiger Handelsbetriebe. „Durch diese sinkende Effizienz der Selektion von Produktinnovationen durch den Handel werden die wissensschaffenden Wettbewerbsprozesse in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt" (Kerber 1991, S.334). Konzentrationsprozesse aufseiten der Hersteller haben ebenfalls eine Verringerung der Anzahl unabhängig voneinander aufgestellter und getesteter Hypothesen zur Folge. Die Intensität unternehmerischer Such- und Experimentierprozesse im Parallel- und Austauschprozeß verringert sich. Die wechselseitige Abhängigkeit der extern wachsenden Handelsunternehmen und Konsumgüterhersteller hat eine Verengung des Absatzkanals „Handel" zur Folge. Sowohl die fuhrenden Handelsunternehmen und Verbundgruppen als auch die großen Markenartikelhersteller haben bei zunehmender Größe ein Interesse daran, Rationalisierungspotentiale durch Kooperation im Marketing, in der Logistik sowie in der Sortimentsplanung auszuschöpfen. Je enger der Handel mit den etablierten Produzenten von Markenartikeln kooperiert, desto verschlossener sind die Handelssortimente für Produktinnovationen neu auf den Markt tretender Hersteller. Der Wettbewerb um Regalplätze ist eingeschränkt, Such- und Experimentierprozesse im Handel werden von Absprachen und längerfristigen Bindungen an die Hersteller zurückgedrängt. Dem Verbraucher wird im Falle eines ineffektiven Selektionswettbewerbes innerhalb und zwischen den Sortimenten des Handels die Gelegenheit genommen, Produktinnovationen durch seine Kaufentscheidungen zu bewerten. Sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß Produktinnovationen vom Handel entdeckt und die Sortimente aufgenommen werden, verringert sich für nicht-etablierte Hersteller der Anreiz mit neuen Preis-Leistungskombinationen zu experimentieren. Die Chancen, „...daß an irgendeiner Stelle des Marktsystems neue Lösungen für alte Probleme oder neue Probleme überhaupt entwickelt werden", sinken (Röpke 1977, S. 394). In Folge der Konzentrationsprozesse in Handel und Industrie verringert sich die Komplexität des Wirtschaftssystems und damit die Reagibilität des gesamtwirtschaftlichen Angebots. Welche Konsequenzen die vollständige Ausschaltung horizontaler und vertikaler Wettbewerbsprozesse für die Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit einer Volkswirtschaft haben kann, wird an der folgenden Erörterung des sowjetischen Binnenhandels deutlich. 3.

Der Ausgangspunkt: Der Handel in der Sowjetunion

3.1.

Problemstellung und Vorgehensweise

Was ist in den Baltischen Staaten der Ausgangspunkt für die Entwicklung marktwirtschaftlicher Strukturen im Handel? Nachdem in den vorangegangen Kapiteln der Han291

Vgl. Laurent (1996, S. 202 ff.); zu neuen Formen der Kooperation in der Sortimentspolitik und im Marketing siehe Staudacher (1993, S. 41 ff.).

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del in entwickelten Marktwirtschaften analysiert wurde, gilt es, die Struktur des sowjetischen Binnenhandels und seine Stellung in der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs herauszuarbeiten. In Kapitel 5.3.2. und Kapitel 5.3.3. wird die Frage diskutiert, wieso es trotz der von K. Marx proklamierten Unproduktivität des Handels in der Sowjetunion überhaupt Handelsbetriebe gab. Wie deren Existenz und Produktivität von der sozialistischen Binnenhandelsökonomik verteidigt wurde, stellt dabei ein eindrucksvolles Beispiel für die verquerte Apologetik der marxistisch-leninistischen Dialektik dar. In Kapitel 5.3.4. wird der Handel als Bestandteil der zentralen Wirtschaftsplanung analysiert. Hierbei ist die aus der zentralen Wirtschaftsplanung resultierende Struktur des sowjetischen Binnenhandels herauszuarbeiten. Kapitel 5.3.5. befaßt sich mit der Frage, ob im Handel eine der Ursachen für die sowjetische „Mangelwirtschaft" zu suchen ist. Wie auch der Handel in entwickelten Marktwirtschaften soll der sowjetische Binnenhandel daraufhin untersucht werden, ob er auf eine Absenkung des gesamtwirtschaftlichen Transaktionskostenniveaus hinwirkte, und ob er eine kontinuierliche Ausrichtung des Warenangebotes an die Nachfrage gewährleistete. 3.2.

Die Unproduktivität des Handels bei Karl Marx

Der Vorbehalte gegenüber dem Handel, nicht-wertschöpfend und unproduktiv zu 292 sein, haben eine lange Tradition. Wurzelte die negative Einstellung gegenüber dem

292

Individuelles Gewinnstreben als Triebkraft für wirtschaftliches Handeln galt in der Antike, in deren Mythologie Hermes und Merkur bezeichnenderweise der Schutzpatron der Kaufleute und Diebe war, und im Mittelalter als unmoralisch und unnatürlich. Die Produktion und der Tausch von Gebrauchswerten zur Deckung des eigenen Bedarfs wurde als natürliche Erwerbskunst angesehen. Dem produzierenden Gewerbe wird ein auf die Bedürfnisbefriedigung gerichteter materieller Gestaltungswille zu Gute gehalten. Für den Handel haben Güter jedoch keinen Gebrauchswert, sondern nur einen Tauschwert. Das Motiv des Wirtschaftens im Handel ist der Gewinn durch Arbitrage und nicht die eigene Bedarfsdeckung durch Warenproduktion und -tausch. Der Handel galt somit als unnatürliche Erwerbskunst. Die moralische Beurteilung eines Tausches richtete sich nach der Gleichwertigkeit der gehandelten Güter. Reziprozität und Angemessenheit eines Tausches waren jedoch mangels subjektivistischer Werttheorie nicht durch den subjektiven Nutzenzuwachs der Tauschpartner bestimmt, sondern orientierten sich an deren Herstellungskosten. Eine Handelsspanne, die die Transportkosten und die Kosten des Lebensunterhalts überstieg, war ein Indiz für eine Übervorteilung anderer. Auch wenn es bereits in der Scholastik Versuche gab, die Marktleistungen des Handels zu würdigen und zu systematisieren, wurde der Übergang vom Kaufmann zum Dieb als fließend angesehen - siehe Leitherer (1961, S. 17 ff.). Die jahrhundertealten Vorbehalte wirken bis heute nach. Gümbel (1985, S. 25 ff.) belegt, daß es auch in der Bundesrepublik einen Ausbeutungsverdacht gegenüber dem Handel gibt. In Umfragen ergab sich, daß die Umsatzrendite von Handelsbetrieben durch die befragten Deutschen im Durchschnitt um das Zehnfache überschätzt wird. Dies wird darauf zurückgeführt, daß von der Handelsspanne, der Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis, auf den Gewinn geschlossen wird, ohne daß die im Handel anfallenden Kosten ausreichend berücksichtigt werden. Wie irreführend diese Fehleinschätzung sein kann, läßt sich für den Zeitraum von 1980 bis 1990 beispielhaft demonstrieren:

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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Handel im Mittelalter in der moralischen Verurteilung des Gewinnstrebens und des durch Handel erzielten Reichtums, so schien F. Quesnays „Tableau économique" Mitte des 18. Jahrhunderts die Unproduktivität des Handels erstmals theoretisch zu belegen. Quesnay hatte einen geschlossenen Wirtschaftskreislauf entworfen, in den sich der Handel nicht integrieren ließ. Einzig die Landwirtschaft war nach Ansicht Quesnays wertschöpfend. Der Handel schaffe keinen Mehrwert, sondern verursache nur Kosten. Macht er Gewinne, entzieht er dem einzig produktiven Sektor, der Landwirtschaft, die finanziellen Mittel, durch die der Volkswohlstand gemehrt werden könnte (Quesnay 1967/1991, S. 226). Gewinne im Handel werden somit auf Kosten des Gemeinwohls 293

erwirtschaftet. Sowohl das Tableau als auch die von Quesnay propagierte Sterilität des Handels fanden Eingang in das Werk von Karl Marx. Er bestreitet die Produktivität 294 des Handels und polemisiert gegen Kaufleute, die seines Erachtens „Plünderer" sind. Zieht man in Betracht, daß Marx von den Sowjetorganen zur moralischen Instanz stilisiert wurde, so überraschen die noch heute vielfach anzutreffenden Vorbehalte gegen 295 wirtschaftlich erfolgreiche Handelsbetriebe und „Tscheinoki" in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht. Marx beschreibt den Wirtschaftsprozeß als Reproduktionsprozeß des Kapitals, in dem es sich in einer ständigen Metamorphose zwischen Geld und Waren befindet. Dieser Reproduktionsprozeß des Kapitals wird in einen Produktions- und einen Zirkulationsprozeß unterteilt. Das in der Zirkulationssphäre und damit auch im Handel gebundene Kapital bildet „...eine Phase des Reproduktionsprocesses des industriellen Kapitals" {Marx 1904, S. 279). Der Wert einer Ware wird durch die gesellschaftliche Arbeitszeit bestimmt, die für die Warenproduktion notwendig ist. Wertschöpung findet ausschließlich in der Produktionssphäre statt. In der Zirkulationssphäre kann somit den Waren kein Wert hinzugefügt werden, der Handel ist unproduktiv. Die Waren haben beim Kauf und Verkauf durch den Handel denselben Wert. Der im Handel erzielte Gedie durchschnittliche Betriebshandelsspanne betrug knapp über 30 % des Umsatzes, das steuerliche Betriebsergebnis knapp über 4 % des Umsatzes und das Betriebsergebnis inklusive kalkulatorischer Kosten war negativ und belief sich auf durchschnittlich -1,3 % des Umsatzes - siehe Monopolkommission (1994, S. 78). 293

Quesnay (1767/1991, S. 228): „Le commerçant tend à acheter au plus bas prix et à revendre au plus haut prix possible, afin d' étendre son bénéfice le plus qu' il es possible aux dépens de la nation: son intérêt particulier et 1' intérêt de la nation sont opposés". 294

Marx (1904, S. 315); Um den Plünderungsverdacht gegenüber Kaufleuten zu erhärten, stützt sich der Atheist Marx in einer Fußnote kommentarlos auf recht deftige Tiraden Martin Luthers gegen den Handel aus dessen „Bücher vom Kaufhandel und Wucher": Weil die Fürsten keine geeignete Politik ergreifen, so „... dass ihre Untertanen nicht so schändlich von den Kaufleuten geschunden würden ... braucht Gott der Reuter und Räuber, und straft durch sie das Unrecht an den Kaufleuten". 295

Als „Tscheinoki" werden in Rußland die Warenpendler bezeichnet. Sie sind Kleinstuntemehmer, die die gewährte Reisefreiheit und den bestehenden Nachfrageüberhang dazu nutzen, im In- und Ausland Waren einzukaufen und sie durch räumliche Arbitrage mit Gewinn wieder zu verkaufen.

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winn ist ein Teil des in der Produktionssphäre erwirtschafteten Mehrwertes. 297

296

Produ-

zenten verkaufen dem Handel die Waren unter Wert. Die Gewinnverteilung zwischen Handel und Industrie ist somit ein Nullsummenspiel. Je höher der Gewinn im Handel ist, desto niedriger muß er bei den Produktionsbetrieben ausfallen. Hierdurch wird der Ausbeutungsverdacht gegen den Handel begründet. Die Verteilung der Gewinne zwischen Handels- und Industriebetrieben ist historisch bedingt und verändert sich in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand eines Landes. Mit steigendem Entwicklungsgrad der kapitalistischen Produktion sinkt die Bedeutung des Handels und damit die Möglichkeit, Mehrwert aus der Produktion abzuschöpfen. Handelsbetriebe werden zu Agenten der Produktion und verlieren ihre Selbständigkeit durch vertikale Integration. Entweder bemächtigt sich in entwickelten kapitalistischen Wirtschaftsordnungen der Handel der Produktion, oder die Produktion nimmt den Han299

del in sich auf. Diese Tendenz wird durch eine fallende Profitrate verursacht, die auf den technischen Fortschritt zurückgeht. Das Gesamtkapital erwirtschaftet bei abnehmender Profitrate geringeren Gewinn. Um den Gewinn konstant zu halten, muß das Gesamtkapital in demselben Ausmaß wachsen, wie die Profitrate sinkt. Es kommt zu einer Konzentration des Kapitals. Die Zahl der Unternehmen nimmt ab und damit auch die Nachfrage nach Handelsleistungen. Werden Tauschoperationen von den Gütermärkten in immer weniger werdende, vertikal integrierte Unternehmen verlagert, dann verschwindet der Handel. Die zunehmende Konzentration des Kapitals bereitet die Basis fiir den Übergang zum Kommunismus. Der dialektische Zwiespalt zwischen den Produktionsverhältnissen und den durch gesellschaftliche Normen festgelegten Verfügungsrechten wird in einem deterministischen Prozeß in der kommunistischen Gesellschaft enden. Der Konflikt sozialer Klassen um die Verfügungsrechte an den Produktionsmitteln, welcher laut

296

297

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299

300

Siehe Marx (1904, S. 265): „Da das Kaufmannskapital selbst keinen Mehrwerth erzeugt, so ist klar, dass der Mehrwerth, der in Form des Durchschnittsprofits auf es fällt, einen Theil des von dem gesamten produktiven Kapital erzeugten Mehrwerths bildet". Marx (1904, S. 270): „Wie das industrielle Kapital nur Profit realisirt, der als Mehrwerth schon im Werth der Waare steckt, so das Handelskapital nur, weil der ganze Mehrwerth oder Profit noch nicht realisirt ist in dem vom industriellen Kapital realisirten Preis der Waare". Marx (1904, S. 314): „In den Vorstufen der kapitalistischen Gesellschaft beherrscht der Handel die Industrie; in der modernen Gesellschaft umgekehrt". Marx (1904, S. 340); ein wirtschaftshistorisches Beispiel für die Übernahme der Produktion durch den Handel sieht Marx in dem mittelalterlichen Verlagswesen, welches bis in die Neuzeit Bestand hatte. Der technische Fortschritt erhöht die Kapitalzusammensetzung, die organische Zusammensetzung des Kapitals. Die dadurch sinkende Profitrate zwingt die Kapitalisten zur Produktionsausdehnung und damit zur Vergrößerung des Gesamtkapitals vgl. Ott (1989, S. 29 ff.).

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

Marx den Freiraum für individuelles Handeln in der kapitalistischen Gesellschaft bestimmte, wird aufgelöst. Nicht nur in der Produktion, sondern auch im Konsum wird jedes Individuum in dem kommunistischen Utopia frei nach seinen Bedürfnissen leben 301

können, was die Überwindung aller Waren- und Ressourcenknappheiten impliziert. Auch wenn das von Marx und Engels entworfene Utopia nur sehr unscharfe Konturen erkennen läßt, so war es nicht mit der Warenproduktion für einen anonymen Markt sowie mit Zirkulationsakten, welche Ware-Geld-Beziehungen beinhalteten, vereinbar. Den Handel als Quelle der Ausbeutung konnte es in einer kommunistischen Gesellschaft nicht geben. 3.3.

Der sozialistische Handel und die sozialistische Binnenhandelsökonomik

Im primär agrarwirtschaftlichen Rußland folgte der Aufbau des Kommunismus nicht den von Marx beschriebenen Gesetzmäßigkeiten, sondern das Sowjetsystem wurde durch revolutionäre Gewalt errichtet. Erst in der sozialistischen Übergangsphase sollten die produktionstechnischen Voraussetzungen für den Kommunismus geschaffen und die 302

••

Menschen für das Leben in der klassenlosen Gesellschaft erzogen werden. Uber den wirtschaftspolitischen Fahrplan zur kommunistischen Gesellschaft wurden nach dem Scheitern der umfassenden Zentralisierung in den Bürgerkriegsjahren immer wieder heftige Kontroversen innerhalb der Zentralorgane der Kommunistischen Partei geführt, von denen auch die Struktur des Binnenhandels nicht unberührt blieb {Dobias 1977, S. 27 ff.). Nach der Oktoberrevolution wurden weite Teile der Industrie verstaatlicht und zentraler Lenkung unterworfen, die Ernten der durch die Agrarreform zu Land gekommenen Bauern wurden in den nachrevolutionären Kriegs- und Krisenjahren requiriert und Handelsbetriebe zu Konsumgenossenschaften zusammengefaßt. Im Zuge des Bürgerkrieges und des nachrevolutionären Chaos löste sich jegliche Ordnung und Organisation des Binnenhandels auf. Angesichts der desolaten Wirtschafts- und Versorgungs-

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Vgl. Marx (1960, S. 1024); vgl. auch Engels (1894, S. 317, S. 334); konkreter wurden Bucharin und Preobraschensky (1921, S. 60 f.): „Die kommunistische Produktionsweise setzt auch nicht eine Produktion für den Markt voraus, sondern die Produktion für den eigenen Bedarf. Nur erzeugt hier nicht jeder Einzelne für sich selbst, sondern die ganze riesengroße Genossenschaft für alle. Folglich gibt es hier keine Waren, sondern bloß Produkte. Diese erzeugten Produkte werden nicht gegeneinander eingetauscht; sie werden weder gekauft, noch verkauft. Sie kommen einfach in die gemeinschaftlichen Magazine und werden denjenigen gegeben, die sie benötigen. Das Geld wird hier also unnötig sein .... Jedes Produkt wird reichlich vorhanden, alle Wunden werden längst geheilt sein und jeder wird dann soviel nehmen können, als er braucht". Wie von Hayek (1991, S. 82 ff.) deutlich machte, setzt der Ubergang von der Diktatur des Proletariats zur kommunistischen Gesellschaft angesichts der Mannigfaltigkeit individueller Wertvorstellungen und Ziele die unrealistische Vorstellung voraus, daß durch Erziehung eine allumfassende Werteskala und damit ein einheitlicher und lückenloser Moralkodex erreicht werden könnte.

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läge mehrte sich die Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung, welche von den Führungsorganen der kommunistischen Partei als ernste Gefahr für den Bestand der bolschewistischen Revolution wahrgenommen wurde. Lenin reagierte und ersetzte den Kriegskommunismus durch die «Neue Ökonomische Politik» (NEP), welche auf eine begrenzte Liberalisierung der Wirtschaftsprozesse abzielte. Nachdem sich zeigte, daß die wiederzugelassenen lokalen Märkte sowie die staatlichen und genossenschaftlichen Handelsorganisationen eine flächendeckende Versorgung nicht gewährleisten konnten, wurden im Dezember 1921 alle legalen Handelsbeschränkungen abgeschafft. Wie auch im noch zu diskutierenden Transformationsprozeß in den Baltischen Staaten entfaltete der Handel eine starke Dynamik. Bereits im zweiten Halbjahr 1922 erzielte der private Handel 75% des Einzelhandelsumsatzes und stellte 94,5% aller Handelsbetriebe {Dobias 1977, S. 44). „Der Handel erwies sich, weit mehr als es die NEP anfänglich vorsah, als das eigentliche Element der wirtschaftlichen Wiederbelebung. Er allein konnte auch ohne Anfangskapital die Atomisierung der Produktionsweise, die großen Räume und die Unbeholfenheit der staatlichen Verteilungsorganisation überwinden" (Raupach 1964, S. 51). Die räumliche und zeitliche Arbitrage des Handels stellte die Güter wieder in einen Rechnungszusammenhang. Knappheitsgrade wurden durch den Preismechanismus aufgedeckt und bestimmend für die gesamtwirtschaftliche Ressourcenallokation. Die Liberalisierung des Wirtschaftsprozesses sollte jedoch nicht von Dauer sein. Auf dem XV. Parteitag der Kommunistischen Partei 1927 wurde nach heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der kommunistischen Führungskader auf Betreiben Stalins die forcierte Industrialisierung der Sowjetunion beschlossen. Sie implizierte die Abkehr von der «Neuen Ökonomischen Politik». Der erste sowjetische Fünfjahresplan, welcher von der Staatlichen Plankommission (GOSPLAN) erstellt wurde, lief im Oktober 1927 an. Ziel war der Umbau des Wirtschaftssystems, welcher bis etwa 1935 abgeschlossen war. Die Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs war etabliert. Privatwirtschaftliche Betriebe im Handel, der Landwirtschaft, dem Handwerk und der Industrie wurden verstaatlicht oder in Genossenschaften zusammengefaßt. Einzig die Kolchosmärkte wurden toleriert und erwiesen sich vor allem im II. Weltkrieg als unverzichtbare Quelle für die Versorgung mit Lebensmitteln. Ab 1936 wurden die Konsumgenossenschaften auf die ländlichen Gebiete beschränkt, die Verkaufsstellen der staatlichen Handelsorganisation nahmen ihre Monopolstellungen in den Städten ein. Der staatliche Handel und die Konsumgenossenschaften wurden zu einem integralen Bestandteil der Zentralverwaltungswirtschaft sowjetischen Typs. Der sozialistischen Binnenhandelsökonomik oblag es, das Fortbestehen der von Marx als „unproduktiv" und „parasitär" angesehenen Handelsbetriebe im Sozialismus zu rechtfertigen. Unter Anwendung der „dialektisch-materialistischen Methode" des Marxismus-Leninismus wird der sozialistischen Warenproduktion, den Ware-Geld303

Der Marktanteil der Kolchos-Märkte im Jahr 1940 betrug 20 % und stieg bis 1945 auf 51 % des gesamten Lebensmittelumsatzes, was unter anderem auf die Rationierung im staatlichen Handel zurückzuführen ist. - Vgl. Goldman (1964, S. 65).

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Beziehungen und dem sozialistischen Handel eine ideologiekonforme Qualität zugesprochen: „Die Dialektik besteht darin, daß die Ware-Geld-Beziehungen sozialistischen Inhalts allseitig entwickelt werden müssen, um die Bedingungen für ihr Absterben zu 304

schaffen". Die Argumentation besticht jedoch wenig durch Uberzeugungskraft, sondern besteht primär in der Berufung auf sowjetische Autoritäten wie Lenin und Stalin. Der Sozialismus sei primär an die Existenz gesellschaftlichen Eigentums gebunden. Dessen Verwirklichung in Zentralverwaltungswirtschaften sowjetischen Typs schließe „bourgeoise" Marktbeziehungen und die Ausbeutung durch den Handel per se aus. W. Heinrichs übergeht eventuelle ideologische Zweifel an der Existenz von Handelsbetrieben im sozialistischen System und erklärt den sozialistischen Handel ganz undogmatisch zu einer „...Kategorie der Warenproduktion": „Mit der operativen Verselbständigung der Funktion der Warenzirkulation wird eine Reihe von Vorteilen wirksam, die den Erfordernissen des ökonomischen Grundgesetzes des Sozialismus entsprechen", „...welches die maximale Erzeugung von Gebrauchswerten mittels stetiger Vervollkommnung der Produktion.. .verlangt" (Heinrichs 1959, S. 9 f.).

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Autorenkollektiv/W. Cramer (1977, S. 49); da die DDR die Struktur des sowjetischen Binnenhandels weitgehend übernahm und sich ihre Binnenhandelsökonomik stark an der sowjetischen ausrichtete, wird im folgenden auch auf DDR-Autoren Bezug genommen. Als Beispiel sei die Argumentation von dem Autorenkollektiv/W. Cramer (1977, S. 48 f.) in einem Standardlehrbuch der DDR angeführt: „Tatsächlich haben Marx und Engels Sozialismus und Warenproduktion als miteinander unvereinbar bezeichnet; diese Meinung war für die Epoche des Kapitalismus der freien Konkurrenz richtig .... Noch unmittelbar nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution sahen die russischen Kommunisten ihre Aufgabe darin, Warenproduktion, Markt und Handel als etwas Nichtsozialistisches möglichst schnell zu überwinden und zu kommunistischen Formen der Produktion und Verteilung überzugehen. Die praktischen Erfahrungen beim Aufbau des Sozialismus überzeugten Lenin jedoch, daß sich ein unmittelbarer Übergang zum Produktenaustausch und zum Absterben der Warenproduktion nicht verwirklichen ließ. Lenin hat die dialektisch-materialistische Methode auch in dieser Frage angewendet: Er verband die theoretische Erkenntnis mit dem beispiellos schwierigen Kampf um ihre Realisierung in der gesellschaftlichen Praxis, so wie bei ihm umgekehrt die theoretischen Ergebnisse direktes Ergebnis der Verallgemeinerung von Erfahrungen aus der gesellschaftlichen Praxis waren. In diesem Prozeß kam er zu dem inzwischen tausendfach als richtig bestätigten Ergebnis, daß sich Sozialismus und Warenproduktion durchaus miteinander vereinbaren lasse, die Ware-GeldBeziehungen dabei einen neuen sozialistischen Inhalt annehmen sowie Warenproduktion, Markt und Handel in die sozialistische Planwirtschaft eingeordnet werden können und müssen". Heinrichs (1959, S. 8); „Der sozialistische Handel muß zu den Bereichen der materiellen Produktion der Volkswirtschaft gezählt werden, die das gesellschaftliche Produkt bilden, und zwar nicht in erster Linie wegen der Produktionsbetriebe, die ihm vereinzelt angeschlossen sind, sondern weil mit der Warenzirkulation von Konsumgütern der Produktionsprozeß fortgesetzt und beendet wird" - Heinrichs (1961, S. 57).

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Heinrichs bezieht sich auf die von Marx angedeutete Verkürzung der Zirkulationszeit durch spezialisierte Handelsbetriebe, welche den Zirkulationsaufwand verringert . Die Argumentation beruht auf der auch in der Zentralverwaltungswirtschaft gültigen Reduktion der Kontaktkosten durch Handelsbetriebe. Das hierdurch freiwerdende Kapital kann in die „Vervollkommnung der Produktion" fließen, wodurch die Warenproduktion gesteigert wird. Die „...operative Verselbständigung der Warenzirkulation" bewirkt demnach „eine Einsparung an gesellschaftlicher Arbeit in der Warenzirkulation", was den sozialistischen Handel zu einer „...bedeutenden Quelle der sozialistischen Akkumulation" macht (Heinrichs 1961, S. 45). Der sozialistische Handel wird somit trotz der Widersprüche zur reinen marxistischen Lehre als produktiv angesehen. Trotzdem nahm er im Vergleich zur Produktionssphäre eine nur untergeordnete Priorität in der Ressourcenallokation ein. Die Investitionen in Kapitalstock und Logistik des Handels waren für die flächendeckende und die propagierte „kulturvolle" (Serebrjakow 1953, S. 56) Versorgung der Bevölkerung völlig unzureichend. Auch die Löhne und Karriereaussichten sowie das soziale Prestige der im Handel Beschäftigten waren deutlich niedriger als in der Produktion, was sich negativ auf die Anziehungskraft des Handels auf qualifizierte Arbeitskräfte auswirkte.

3.4. 3.4.1.

Der Handel in der zentralen Wirtschaftsplanung Die zentrale Wirtschaftsplanung

Die vollzugsverbindliche zentrale Planung der Volkswirtschaft ist konstitutiv für Zentralverwaltungswirtschaften sowjetischen Typs (Schüller (1991, S. 22 f.). Ihr liegt der Glaube an die konstruktivistische Gestaltbarkeit sozio-ökonomischer Prozesse durch den zentral gelenkten Einsatz der Ressourcen zu Grunde. Der zentrale Volkswirtschaftsplan umfaßt auch die zentrale Planung des Binnenhandels als integralen Bestandteil des sozialistischen Reproduktionsprozesses. Die Planimg des Binnenhandels setzt sich aus den Plänen des Warenumsatzes, der Warenfonds, des Investitionsfonds, der Produktivität, der Arbeitskräfte und Löhne, sowie der Finanzen zusammen (Heinrichs 1961, S. 201 ff.). Zu der Planung anderer Wirtschaftsbereiche wie beispielsweise den Plänen der Transportleistung, der Konsumgüterindustrie und der Landwirtschaft sowie zu der zentralen Planung der Konsumgüterpreise und des Bargeldumsatzplans bestehen enge Wechselwirkungen, welche ihre Abstimmung im volkswirtschaftlichen Gesamtplan erforderlich macht.

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Marx (1904, S. 274 ff.) hatte zwei produktive Leistungen von Handelsbetrieben angeführt: (1.) Die „... Centralisation der Handelskosten" kann mit einer „...Verringerung derselben verbunden" sein - Marx (1904, S. 276). (2.) Die Umschlagshäufigkeit des industriellen Kapitals kann durch den selbständigen Handel gesteigert werden, was zu einer Erhöhung der Profite seitens der Produzenten fuhrt. Auf beide Leistungen des Handels geht Marx allerdings nicht vertiefend ein, da sie im Widerspruch zu seiner Werttheorie und dem Ausbeutungsvorwurf gegenüber dem Handel stehen. Handelsbetriebe würden nicht nur Gewinne aus der Produktion abschöpfen, sondern diese auch vergrößern können.

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Die übergeordneten Ziel-Mittel-Kombinationen der Gesamtplanung wurden im Rahmen des „demokratischen Zentralismus" von dem Politbüro und dem ihm unterstellten Zentralkomitee der Kommunistischen Partei bestimmt. Der Staat übte durch seine Leitungs- und Planungsorgane sowie durch die eingesetzten Leiter der Betriebe die dispositiven Verfugungsrechte über die staatseigenen Produktionsmittel und die produzierten Güter aus. Die Planungsstruktur war mehrstufig und bürokratisch-hierarchisch gegliedert. Die Wirtschaftsrechnung erfolgte in einem hierarchischen System 308

güterwirtschaftlicher Bilanzen. Ausgehend von dem vor allem im Handel ermittelten Bedarf an Gütern erster Ordnung, den Konsumgütern, wurde anhand von technischen Umrechnungskoeffizienten über alle Wirtschaftsstufen hinweg der erforderliche Ressourceneinsatz an Gütern letzter Ordnung ermittelt. Durch die technischen Koeffizienten wie beispielsweise den Materialverbrauch und die beanspruchte Produktionskapazität j e Produkteinheit oder Branche wurden die Nachfragemengen auf der Verwendungsseite der Planbilanzen ermittelt und die einzelnen Produktbilanzen miteinander verbunden. Aufkommens- und Verwendungsmengen der einzelnen Produkte, Produktgruppen, Betriebe, Branchen, Sektoren und Regionen wurden ex ante nach vorgegebenen Prioritäten und ermittelten Knappheitsgraden in einem Iterationsprozeß koordiniert. 3.4.2.

Die Organisation des sowjetischen Binnenhandels

Wie wurde in der Sowjetunion der Güterumsatz zwischen Produktionsbetrieben organisiert und abgewickelt? Vertikale und horizontale Arbeitsteilung resultierten aus der planmäßigen Zuteilung von Ressourcen an die Betriebe. U m die Konsistenz und den Vollzug der zentralen Pläne zu gewährleisten, mußten den Produktionsbetrieben die benötigten Input-Faktoren zugewiesen werden. Ein selbständiger Produktionsgütergroßhandel und in ihrer Beschaffungs- und Absatzpolitik frei disponierende Produktionsbetriebe waren mit dem System zentraler Planung nicht kompatibel, da sie Planinkongruenzen zur Folge gehabt hätten. Der zwischenbetriebliche Güterumsatz im Produktionssektor wurde auf drei Wegen abgewickelt: - Grundsätzlich war das Staatskomitee für Materialversorgung beim Ministerrat der U D S S R (GOSSNAB) mit der interindustriellen Produktionsmittelversorgung betraut. G O S S N A B oblag die Durchführung des „Plans der materiell-technischen Versorgung". Seine einzelnen Organe stellten somit das sowjetische Substitut für den Produktionsgütergroßhandel dar. - Das Staatliche Plankomitee (GOSPLAN) war neben der Perspektiv- und Jahresplanung auch für die wichtigsten Positionen der „materiell-technischen Versorgung" zuständig. Die Allokation strategisch wichtiger Produktionsmittel erfolgte zentral durch G O S P L A N und wurde durch dessen Zweigstellen in den jeweiligen Republiken administriert. - In geringem U m f a n g wurden im Rahmen der allgemeinen Plandirektiven Güter zwischen Betrieben durch sogenannte „direkte Verbindungen" getauscht.

Eine ausfuhrliche Darstellung des Planungsprozesses geben Dobias (1977, S. 89 ff.), Peters (1993, S. 183 ff.), Nove (1977, S. 31 ff.) sowie Hensel (1977, S. 43 ff.).

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D a Handelsbetriebe in den Güterumsatz zwischen Produktionsbetrieben nicht eingeschaltet waren, läßt sich der sozialistische Binnenhandel auf den Warenabsatz der Konsumgüterindustrie beschränken. Der Groß- und Einzelhandel mit Konsumgütern wurde überwiegend von dem sowjetischen Handelsministerium sowie den ihm unterstellten Handelsministerien auf Republikebene gelenkt. Den Handelsministerien der einzelnen Sowjetrepubliken waren Bezirks- oder Gebietsverwaltungen untergeordnet, diesen wiederum die sogenannten „Torgs" oder Kontore, welche mehrere Einzelhandelsgeschäfte verwalteten. Die Konsumgenossenschaften waren zwar dem zentralen sowjetischen Handelsministerium unterstellt, verfugten jedoch über eine vom staatlichen Handel völlig getrennte Verwaltungsstruktur, die ebenfalls hierarchisch in Republik-, Bezirks- und Regionalverbände untergliedert war. Der Groß- und Einzelhandel in der Sowjetunion gliederte sich in drei Bereiche: - den staatlichen Handel, der vorrangig auf die Versorgung der Städte ausgerichtet war. Auf ihn entfielen etwa 70% des Handelsumsatzes, - den genossenschaftlichen Handel für die Versorgung der Landbevölkerung. Er machte etwa 27% des Umsatzes aus, - den legalen und unter staatlicher Aufsicht stehenden Kolchos-Märkten, auf den etwa 3 % des Umsatzes entfielen. Der Großhandel mit Konsumgütern spielte traditionell eine untergeordnete Rolle und wurde zentral von Moskau aus gesteuert. Die administrative Abwicklung der Lieferungen an den Einzelhandel erfolgte auf Republikebene durch die jeweiligen Handelsministerien. In sowjetischen Statistiken wurden insgesamt nur 1.700 Großhandelsbetriebe mit rund 6.000 Nebenstellen ausgewiesen. Die Zahl der 1988 im Großhandel Beschäftigten betrug 205.000 Personen (Halbach 1993, S. 179). In Estland waren beispielsweise nur sieben nach Sortimentsbereichen gegliederte Großhandelsbetriebe tätig. Im Jahr 1988 gab es im Einzelhandel in der Sowjetunion 736.000 Betriebe, welche auf Republikebene von den Bezirks Verwaltungen und den lokalen Kontoren administriert wurden. Im Einzelhandel waren im Jahr 1988 bis zu 8,43 Mill. Personen registriert, welches 7,2% der insgesamt Beschäftigten ausmacht. Die Sortimente im Einzelhandel

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Vgl. Halbach (1993, S. 174); die Dominanz der staatlichen Handelsorgane geht auf deren bewußte Förderung im Zuge der zunehmenden Zentralisation der Wirtschaftsplanung in den dreißiger Jahren zurück. 1930 betrug der Anteil der Staatsläden am Einzelhandelsumsatz 30 %, der Konsumgenossenschaften 53 % und der Kolchosmärkte 17 %. Im Jahr 1940 kam der der staatliche Handel bereits auf 62,7 % des Gesamtumsatzes, die Konsumgenossenschaften auf 23 % und die Kolchosmärkte noch auf 14,3 %. Dieser Trend wurde durch den II. Weltkrieg unterbrochen, fand jedoch nach dessen Ende seine Fortsetzung - siehe Goldman (1964, S. 65). Die Sortimentsbereiche waren nach den Produktgruppen Textil und Bekleidung, Lebensmittel, Fleisch- und Milchprodukte, Schmuck und Modewaren, Schuhe, Kulturund Haushaltswaren voneinander abgegrenzt.

" Hiermit lag der Anteil der im Handel Beschäftigten weit unter dem der westlichen Industriestaaten. In den USA betrug er 21,1 %, in der Europäischen Gemeinschaft 15,4 % im Jahr 1985 - siehe Tietz (1991, S. 26 f.).

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wurden zentral geplant. Das Leistungsspektrum der Handelsbetriebe war auf die Lagerung, die verbrauchsgerechte Stückelung und Verpackung sowie letztlich den Absatz der Waren beschränkt. Auch die Konsumgüterpreise und Handelsspannen wurden von zentralen Planungsinstanzen festgesetzt und ließen generell keinen Raum für dezentrale Vertragsverhandlungen. Nicht alle Handelsorgane waren formal dem sowjetischen Handelsministerium unterstellt. Einige Ministerien wie beispielsweise das Transport-, das Gesundheits- und das Verteidigungsministerium verfugten über eigene Groß- und Einzelhandelsbetriebe, welche vorrangig auf die in diesen Sektoren Beschäftigten abgestellt waren. Industrieministerien übernahmen Großhandelsfunktionen und betrieben teilweise auch weitverzweigte Einzelhandelsnetze. Auch unterhielten große Produktionsbetriebe oftmals eine eigene landwirtschaftliche Produktion und boten den bei ihnen Beschäftigten günstige Einkaufsmöglichkeiten in betriebseigenen Lebensmittelgeschäften, die nicht der zentralen Zuteilung durch das Handelsministerium und den ihm untergeordneten Organen unterlagen. Strategisch wichtige Städte und Bezirke wie beispielsweise kohlefördernde Regionen konnten unter Umgehung der zentralen Planungsinstanzen das Privileg erhalten, direkte Handelsgeschäfte mit den Herstellern von Lebensmitteln und Industriewaren abzuschließen. Ein effizienz- und effektivitätssteigemder Wettbewerb zwischen den verschiedenen Handelsorganisationen und den von ihnen geführten Sortimenten konnte und sollte sich nicht entfalten. Trotz der Rivalitäten auf Ministerienebene konkurrierten die jeweiligen Handelsorganisationen nicht um eine Ausweitung ihrer Marktanteile und um höhere Gewinne. Sie blieben in das System der zentralen Planung eingebettet, welches von dem staatlichen Handel dominiert wurde. Der Preiswettbewerb war ausgeschaltet und auch in der Sortimentsgestaltung blieben die Handelsbetriebe an die zugeteilten Waren gebunden. Diese unterschieden sich im staatlichen, genossenschaftlichen oder in dem Handelsnetz eines Industrieministeriums qualitativ kaum voneinander, da der staatliche Großhandel die ihm zugeteilte Funktion der Qualitätskontrolle und -sicherstellung nur unzureichend wahrnahm. Hinzu kommt, daß die Selektionsmechanismen des Marktes aufgrund der Vernachlässigung von Rentabilitätskriterien und der mangelnden Aussagefähigkeit der betrieblichen Kennziffern in einem System administrierter Preise unwirk-

Diese zielten primär darauf ab, die Erfüllung der jeweiligen Absatzpläne sicherzustellen und Reklamationen und Zurückweisungen qualitativ minderwertiger Lieferungen durch den staatlichen und genossenschaftlichen Groß- und Einzelhandel zu umgehen - vgl. Nove (1977, S. 254 ff.); in Begründungsversuchen der organisatorischen Aufgliederung des Binnenhandels zwischen Handels- und Industrieministerien kommt selbst bei Vertretern der sowjetischen Binnenhandelsökonomik die ideologiebedingte Skepsis gegenüber einem von der industriellen Produktion losgelösten Handel zum Ausdruck. „Um eine unmittelbare Verbindung zu den Verbrauchermassen herzustellen und den Bedarf der Verbraucher zu erforschen, zu beeinflussen und einen mustergültigen kulturvollen Handel mit bestimmten Erzeugnissen einzurichten, verfügt die Industrie über ein eigenes Einzelhandelsnetz" - Serebrjakow (\953, S. 56).

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sam waren. So kam es zwischen den Handelsorganisationen zu ineffizienten Überschneidungen, welche die zentrale Planung und Steuerung behinderten, eine Aufblähung der Planbürokratie sowie ein quantitativ sich regional unterscheidendes Versorgungsniveau mit Verbrauchsgütern zur Folge hatte. Wettbewerbsbeziehungen bestanden in begrenztem Rahmen zwischen dem stationären Lebensmitteleinzelhandel und den Kolchos-Märkten. Diese wurden zwar von einer Abteilung der jeweiligen städtischen Handelsorganisation verwaltet, ließen jedoch innerhalb gesetzter Schranken Marktmechanismen ihren Lauf. Kolchos-Märkte dienten als Verkaufsstellen für die Überplanproduktion der Kolchosen und dem privaten Anbau der Kolchosbauern. Auf ihnen wurden vor allem Frischgemüse, Fleisch und Milchprodukte verkauft. Weiterverarbeitete Agrarprodukte wurden in der Regel nicht angeboten. Innerhalb einer vorgegebenen Spanne waren die Kolchosen und einzelnen Kolchosbauern in ihrer Preissetzung frei, so daß sich Preise herausbilden konnten, die die tatsächlichen Knappheitsverhältnisse annähernd widerspiegelten. Anders als auf westlichen Bauernmärkten lagen die Preise in der Regel über denen der staatlichen Handelsgeschäfte, wo sie gerade für Nahrungsmittel und sonstige Güter des täglichen Bedarfs künstlich niedrig gehalten wurden. Die Verbraucher zahlten höhere Preise aufgrund der besseren Qualität und Frische der Produkte. Ein Qualitätswettbewerb, welcher Rückwirkungen auf das Angebot in den staatlichen Betrieben des Lebensmitteleinzelhandels hatte, konnte sich jedoch aufgrund der Dominanz des staatlichen Sektors kaum entfalten. Einer Ausweitung des Angebotes auf den Kolchos-Märkten war durch die Beschränkung privatwirtschaftlich genutzter Anbauflächen Grenzen gesetzt. 3.4.3.

Die Funktionen des sowjetischen Binnenhandels

Dem sozialistischen Binnenhandel oblag die organsiatorische und technische Abwicklung der Warenzirkulation und damit die Verteilung der Waren. Er „...verbindet als planmäßige Einheit von materieller Warenbewegung und Realisierung des Wertes der Waren Produktion und Distribution mit der Konsumtion" (Autorenkollektiv/W. Cramer 1977, S. 19). Als „planmäßige" Einheit des Reproduktionsprozesses des Kapitals lassen sich dem sozialistischen Handel im Gegensatz zu den frei disponierenden Handelsunternehmen in Marktwirtschaften konkrete Funktionen zuordnen, die sich aus den zentralen Vorgaben der Gesamtplanung ableiten. Sie lassen sich kategorisieren und in ein Funktionsschema einordnen. Die übergeordnete Funktion des sozialistischen Handels lag in der planmäßigen und bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern. Um diese zu gewährleisten, hatte er untergeordnete Funktionen wie die Bedarfserforschung, Bedarfs- und Produktionslenkung zu erfüllen, welche sich als Ausrichtungsfunktionen zusammenfassen lassen: 1. Versorgungsfunktion: Dem Binnenhandel oblag die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und die Zusammenstellung „...bedarfsgerechter Warenfonds und

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Vgl. Serebrjakow (1953, S. 14); „Jede seiner Aufgaben ist Teil der von ihm auszuübenden Funktion der Warenzirkulation" - Heinrichs (1961, S. 56).

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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Dienstleistungen" (Heinrichs 1961, S. 49). Der Versorjpngsfunktion kam neben der rein ökonomischen auch eine politische Dimension zu, da die gesellschaftlichen Akzeptanz des politischen und wirtschaftlichen Systems sowie seine Stellung im Systemwettbewerb mit westlichen Marktwirtschaften nicht zuletzt von der bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung abhing. 2. Ausrichtungsfunktionen: In den Zentralverwaltungswirtschaften sowjetischen Typs herrschte freie Konsumwahl. Die Endverbraucher konnten zwischen den angebotenen Waren frei wählen. Es konnte somit zu Divergenzen zwischen den angebotenen und den nachgefragten Waren kommen, wenn entweder der tatsächliche Bedarf von dem der Planaufstellung zugrunde gelegten abwich, oder wenn die Nachfrage in ihrem Umfang und ihrer Struktur zwar richtig antizipiert wurde, die Ist-Produktion jedoch eine Lücke zu den Planvorgaben aufwies. Solange sich die Sowjetwirtschaft durch einen Verkäufermarkt auszeichnete, waren dem sozialistischen Handel und der Industrie unfreiwillige Lagerhaltung und Absatzprobleme fremd. Angesichts eines bis in die sechziger Jahre bestehenden Nachfrageüberschusses nach Konsumgütern und ungesättigter Grundbedürfhisse konnten die produzierten Waren auch abgesetzt werden. Die Leistungen der Handelsbetriebe erschöpften sich in der Lagerung, Weiterleitung und Verteilung der Waren an die Endverbraucher, ohne daß sie durch absatzpolitische und systemfremde Maßnahmen wie Werbung, Kundenkredite und Preisnachlässe die Nachfrage auf sich ziehen mußten. Mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse setzte jedoch auch in der Sowjetunion eine Differenzierung und Verfeinerung des Bedarfs ein, welcher eine wachsende Nachfrage nach breiteren und tieferen Handelssortimenten zur Folge hatte (Goldman 1964, S. 86ff). Reichte es zuvor, den quantitativen Bedarf an Oberhemden zu ermitteln, so mußte nun die Nachfrage nach unterschiedlichen Modellen, Farben und Mustern Eingang in die Produktionsplanung der Konsumgüterindustrie finden. Die nachfragegerechte Verteilung der Waren zwischen den Republiken und auf Republikebene zwischen den Bezirken hing zusehends davon ab, daß regionale Unterschiede im Käuferverhalten ausreichend berücksichtigt wurden. Auch waren zunehmende Einkommensunterschiede zwischen Stadt und Land sowie zwischen den jeweiligen Berufsschichten wie der Industrie, dem Handel oder dem Gesundheitssektor in die Konsumgüterplanung aufzu-

Die Versorgungsfunktion fand beispielsweise Eingang in das Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, welches „... die Sicherung einer stabilen Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern auf standig steigendem Niveau als eine erstrangige politische Aufgabe" beschreibt - Autorenkollektiv/W. Cramer (1977, S. 55). 315

Der Systemwettbewerb wurde in der DDR aufgrund der direkten Vergleichbarkeit mit der BRD verstärkt wahrgenommen: die staatliche und betriebliche „... Leitungsarbeit ist darauf gerichtet, die Versorgung der Bevölkerung ständig zu verbessern, die sozialistischen Produktionsverhältnisse im Binnenhandel zu vervollkommnen, um damit einen entscheidenden Beitrag im ökonomischen Wettbewerb mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zu leisten, dessen erfolgreicher Ausgang für das sozialistische Wirtschaftssystem von großer politischer Bedeutung ist" - Heinrichs (1961, S. 174 f.).

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nehmen. Die Differenzierung der Endnachfrage ließ die Komplexität der zu planenden Warenproduktion und -Verteilung steigen. Es kam zu mengenmäßigen, regionalen und strukturellen Disproportionen zwischen Angebot und Nachfrage. Im Gegensatz zur Planung des Absatzes an Investitionsgütern, der sich durch die Verbindlichkeit der Planvorgaben und technische Koeffizienten annähern ließ, stellte die Unvorhersehbarkeit des Käuferverhaltens sowohl die zentrale Planung als auch bestehende Absatzmethoden im Handel vor wachsende Probleme. Wie auch in westlichen Marktwirtschaften war die Planung und Produktion von Konsumgütern mit Erwartungsunsicherheit über die in der Zukunft tatsächlich relevante Nachfrage behaftet. Der Markt wandelte sich für einige Güter des täglichen Bedarfs, aber auch für einige langlebige Konsumgüter langsam zu einem Käufermarkt. Anders als in Marktwirtschaften sorgten jedoch weder ein die Knappheitsverhältnisse widerspiegelnder Preismechanismus, noch unternehmerische Experimentierprozesse und wettbewerbliche Marktselektion für eine Anpassung des Angebotes an die Nachfrage. Stattdessen sollte die administrativ gesteuerte Bedarfsermittlung sowie die Bedarfs- und Produktionslenkung Angebot und Nachfrage aufeinander abstimmen. Hieraus leiten sich die einzelnen Ausrichtungsftinktionen des sozialistischen Handels ab {Autorenkollektiv/W. Cramer 1977, S. 170ff): - Funktion der Bedarfsforschung: In Zentralverwaltungswirtschafien sowjetischen Typs mußte das dezentral verstreute Wissen um nachgefragte Produkte und Produktqualitäten ebenso wie das Wissen um regionale Knappheiten und Überschüsse zentralisiert und zu einem in sich konsistenten Gesamtplan zusammengefaßt werden. Hierfür war es erforderlich, übertragbare und aggregierbare Informationen zu erheben. Da der Einzelhandel im direkten Kontakt zu den Verbrauchern stand, fungierten staatliche und genossenschaftliche Einzelhandelsbetriebe sowie die vorgeschalteten Großhandelsbetriebe im Rahmen der Bedarfsforschung als Informationssammelstellen. „Die Bedarfsforschung erstreckt sich auf folgende Fragen: a) Umfang der Nachfrage, b) Zusammensetzung des verlangten Sortiments und c) Qualitätsansprüche der Verbraucher" (Serebrjakow 1953, S. 276). Der Handel lieferte im Rahmen der Bedarfsforschung die Grundlage für die mittelfristige Perspektivplanung. Diese baute auf dem erreichten Versorgungsniveau auf, welches im Handel ermittelt wurde, sowie auf den vom Handel erhobenen repräsentativen Umfragen über Bedarfs Veränderungen. Den zentralen Planern oblag es, die entsprechenden Zahlen zu verdichten und aufeinander abzustimmen. Des weiteren mußten nach sozialen Schichten gestaffelte Veränderungen der Kauffonds sowie die jeweiligen Einkommens- und Preiselastizitäten für einzelne Warenarten bestimmt werden, um zu erwartende Bedarfs Veränderungen zu erfassen. Die Bedarfsforschung zum Zwecke der Ausarbeitung der Jahrespläne ver-

Jarowinsky (1987, S. 13), Vorsitzender des Ausschusses für Handel und Versorgung der Volkskammer der DDR zog in einem Ergänzungsreferat auf der 5. Tagung des Zentralkomitees „Zu den neuen Aufgaben des Handels" im Jahr 1964 hieraus folgende Schlußfolgerung: „Die Zeit der Warenverteiler geht zu Ende". 317

Vgl. Robl (1980, S. 134); vgl. auch Heinrichs (1961, S. 273 ff.) sowie Schenk (1970, S. 96 ff.).

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suchte, das Forderungsprogramm der Handelsbetriebe gegenüber der Industrie weiter aufzuschlüsseln und regional zu differenzieren. In Zusammenarbeit mit dem Einzelhandel stellte der Großhandel auf Basis registrierter Warenbewegungen und Umsatzpläne Kennziffern über die mengenmäßige Entwicklung einzelner Waren und Sortimentsteile auf. In repräsentativen Einzelhandelsbetrieben wurde zudem versucht, durch Sortimentslisten, Vorschlagsbücher und Beschwerdezettel die Attraktivität der bestehenden Sortimente und unbefriedigte Kaufwünsche der Verbraucher zu ermitteln. - Funktion der Bedarfslenkung: Die Bedarfslenkungsfunktion läßt sich in eine ideologische und eine ökonomische Komponente unterteilen. In der Übergangsphase zum Kommunismus galt es, daß „sozialistische Bewußtsein" der Werktätigen durch „politisch-ideologische Erziehung" auch seitens des Handels und seiner leitenden Organe zu stärken (Heinrichs 1961, S. 167). „Die politisch-ideologische Erziehungsarbeit" im Binnenhandel, „...die eine höhere politische Bewußtheit der Werktätigen zur Folge hat, bereinigt alle Formen der materiellen Interessiertheit von kleinbürgerlichen Elementen der Bereicherung des einzelnen auf Kosten der Gesellschaft" (Heinrichs 1961, S. 169) und soll die Konsumenten „...zu einem sozialistischen Verbraucherverhalten" erziehen {Autorenkollektiv/W. Cramer 1977, S. 172). In der Praxis stand jedoch nicht die ideologische Erziehungsarbeit, sondern die ökonomische Bedarfslenkung zwecks Behebung von Disproportionen zwischen Produktion und Konsumtion im Vordergrund. Bildeten sich Lagerbestände an nicht absetzbaren Produkten, sollten Handelsbetriebe „...durch Methoden der operativen Marktarbeit" wie beispielsweise die „...umfassende Konsumentenaufklärung, sachdienliche Werbung und zielgerichtete Förderung des Verbrauchs" deren Absatz ankurbeln {Autorenkollektiv/W. Cramer 1977, S. 191). Zu diesem Zwecke fanden neben der Produktwerbung auch andere systemfremde absatzpolitische Maßnahmen wie beispielsweise Preisdifferenzierungen sowie Rabatt- und Kreditgewährung Eingang in die sozialistische Handelspraxis - Funktion der Produktionslenkung: Als Mittelglied zwischen Produktion und Konsumtion soll der Handel nicht nur auf die Nachfrage der Endverbraucher einwirken, sondern auch eine Lenkungsfunktion gegenüber der vorgelagerten Produktion wahrnehmen. Hierzu standen ihm als Instrumente zum einen die von ihm aufgestellten Forderungsprogramme zur Verfügung, zum anderen die Qualitätssicherung im Groß-

Die „Manipulation der Verbrauchernachfrage"in westlichen Marktwirtschaften durch Werbung und andere Marketingmaßnahmen seitens der Unternehmen wurde gemäß der sozialistischen Ideologie „... als eine Grundlage für die Ausplünderung der Werktätigen auf dem Markt" abgelehnt. - Autorenkollektiv/P. Hofmann (1980, S. 164). Dies hielt den sozialistischen Handel jedoch nicht davon ab, ganz pragmatisch kapitalistische Werbeformen und Marketingtechniken zu übernehmen, „... wenn sie der Vervollkommnung sozialistischer Handelsmethoden dienlich sind" - Heinrichs (1961, S. 63). „Die aktive Einwirkung des Handels auf die Produktion ist eine folgerichtige Fortsetzung der aus der Bedarfsforschung und -lenkung entspringenden Aufgabe des Handels" - Heinrichs (1961, S. 64).

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handel durch Kontrollen und Zurückweisung qualitativ minderwertiger Waren. Die Durchsetzung der Forderungsprogramme setzte die enge Kooperation zwischen Han320

del und Industrie voraus. Zwischen beiden konnte es jedoch aufgrund unvereinbarer Planerfiillungsnormen zu Interessengegensätzen kommen. Da die Plankennzahlen in der Industrie nicht an die Absetzbarkeit der Produkte im Handel gekoppelt waren und unverkäufliche Lagerbestände im Handel verblieben, stellte sich die Frage nach der Verhandlungsmacht des Handels. Durch die Hervorhebung der Produktionslenkungsfunktion wurde vergeblich versucht, den Handel gegenüber der Industrie aufzuwerten und dem Handelsministerium Einwirkungsmöglichkeiten auf die Planerstellung in den jeweiligen Industrieministerien zu verschaffen. Versorgungs- und Ausrichtungsfunktionen waren dem in das politische Entscheidungssystem integrierten Handel normativ zugeteilt worden. Die Konsumgüterversorgung und Einkaufsbedingungen in der Sowjetunion bezeugten jedoch das Auseinanderklaffen von politischem und ideologischem Anspruch einerseits und der sozialistischen Wirklichkeit andererseits. Der von J. Kornai (1995, S. 263 ff.) für die Zentralverwaltungswirtschaften sowjetischen Typs geprägte Begriff „Mangelwirtschaft" beschreibt die allgemeinen, häufigen und chronischen Mangelerscheinungen in den sozialistischen Systemen des ehemaligen Ostblocks. Sie manifestierten sich auf Verbraucherseite in hohem Suchaufwand, Schlangestehen und Wartezeiten fiir Waren des täglichen und gehobenen Bedarfs, in qualitativ minderwertigen Produkten, in erzwungener Substitution und Kassenhaltung, mangelnder Wahlfreiheit im Austauschprozeß sowie in bevormundenden Einkaufsbedingungen. 3.5. 3.5.1.

Die „Mangelwirtschaft" und der sozialistische Binnenhandel Transaktionskosten im sowjetischen Binnenhandel

Dem sozialistischen Binnenhandel oblag „...die zweckmäßige Gestaltung der Warenbewegung, des Angebotes, der Bestände und des Verkaufs bedarfsgerechter Warenfonds" sowie ".. .die Bereitstellung bestimmter Dienstleistungen und die teilweise oder gänzliche Übernahme der Organisation der Konsumtion, so daß die Werktätigen die ihnen zur Verfugung stehende Freizeit mehr für andere Zwecke als den Einkauf von Waren...nutzen können" {Heinrichs 1961, S. 49). Vom Handel wurde demnach eine kostengünstige Organisation von Beschaffung, Lagerung und Absatz sowie die Verringerung der bei den Endverbrauchern anfallenden Transaktionskosten gefordert. Es ist zu prüfen, inwieweit die Beschaffungs- und Absatzpolitik in den Betriebs- und Ange-

Anders als in Marktwirtschaften, wo die Kaufentscheidungen über den Preismechanismus mit dem Angebot rückgekoppelt werden, ist „die aktive Einwirkung des sozialistischen Handels auf die Produktion ... kein mechanischer Prozeß. Sie erfordert einen beharrlichen Kampf um die Überwindung der Trägheit und Schwerfälligkeit verschiedener Produktionsbetriebe, besonders aber um die Stärkung ihrer politischen Verantwortung für die Versorgung der Bevölkerung" - Heinrichs (1961, S. 64).

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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botstypen des Handels die Herausbildung Transaktionskosten minimierender Tauschbeziehungen forderte. Eine den westlichen Industriestaaten vergleichbare Vielfalt an Angebots- und Betriebstypen im Handel gab es in der Sowjetunion nicht. Fachmärkte waren unbekannt, die Anzahl an Supermärkten belief sich auf nur 2.000, die der Kaufhallen auf 800. Außer den aus Gründen des politischen Renommees geförderten Kaufhäusern in den Metropolen Moskau und dem ehemaligen Leningrad hielten sie bezüglich Sortimentsbreite und -tiefe einem Vergleich mit westlichen Kaufhäusern nicht stand. Generell waren Warenangebot und Warenpräsentation dürftig und auch die Beratung sowie der Service immer wieder Gegenstand von Beschwerdebriefen der Konsumenten. Das charakteristische Erscheinungsbild des sowjetischen Einzelhandels bestand aus kleinflächigen Geschäften und Kiosken. Liegt die durchschnittliche Verkaufsfläche in Westeuropa bei 1.000 qm je 1.000 Einwohnern, so betrug sie in der Sowjetunion in den achtziger Jahren um die 190 qm je 1.000 Einwohner. Der Verkaufsflächenbedarf wurde durch Multiplikation der Bevölkerungszahl mit vorgegebenen Bedarfsnormen in Quadratmeter-Verkaufsfläche pro 1.000 Einwohner ermittelt. Da diese im Schnitt sehr niedrig angesetzt waren, war das Einzelhandelsnetz dünn und lückenhaft. Die technische Ausstattung der Handelsgeschäfte war rückständig. Registrierkassen waren primär nur in größeren Geschäften anzutreffen, Scanner-Kassen und moderne Warenwirtschaftssysteme gab es nicht. „To recapitulate: trade suffers from low priority, low pay, low morale, under-equipment, under-financing, shortage of suitable premises and storage space, and a system which fails to provide either an adequate motive or adequate means to satisfy demand" (Nove 1977, S. 261 f.). Lebensmittelgeschäfte hatten aufgrund ihrer Größe und der geringen Sortimentsbreite- und tiefe den Charakter von „Tante Emma-Läden", welchen sie in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion bis heute nicht verloren haben. In ihnen wie auch in den übrigen, meist kleinflächigen Einzelhandelsgeschäften herrschte bis in die neunziger Jahre das sogenannte „Kassa-System" vor. Konsumenten hatten dem oftmals unfreundlichen und unmotivierten Verkaufspersonal anzuzeigen, welche Waren sie wünschten, bevor diese sie aus den Regalen holten. Entschloß sich der Kunde zum Kauf, mußte er die Waren zurücklassen und an einer separaten Kasse anstehen, wo er gegen Bezahlung eine Quittung erhielt. Nach dem Vorzeigen der Quittung an dem eigentlichen Verkaufsstand wurden ihm dann die Waren ausgehändigt. Gelegentlich wurde am Ausgang eine nochmalige Kontrolle der Quittungen und mitgefuhrten Artikel vorgenommen. Selbstbedienung war die Ausnahme, Schlangestehen die Regel. Herrschte Mangel an einer Ware, konnte unter Inkaufnahme mehrmaligen Anstehens weitere Einzelhandelsgeschäfte aufgesucht oder auf nahe und ferne Substitute zurückgegriffen werden. Unter diesen Einkaufsbedingungen lösten bestehende Schlangen vor

321

Siehe Haibach (1993, S. 176 ff.) sowie Tietz (1991, S. 29 f.).

322

Siehe Halbach (1993, S. 176 ff.) sowie (1991, S. 29 f.); die DDR nahm mit 301 qm je 1.000 Einwohnern unter den Ostblockstaaten eine Spitzenstellung ein.

170

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und in den Geschäften eine eigene Anziehungskraft aus, signalisierten sie doch, daß eine stark nachgefragte Ware erhältlich war. Selbst wenn kein Bedarf an einem sich gerade im Angebot befindlichen Produkt herrschte, deckten sich Haushalte durch Hamsterkäufe für die Zukunft ein. So war es nicht unüblich, daß Konsumenten die typischen sowjetischen Einkaufstaschen immer mit sich führten, um für unerwartete Einkaufsmöglichkeiten gewappnet zu sein. Die Konsumenten waren somit nur in dem durch die zentrale Sortimentsplanung begrenzten Rahmen in der Lage, Verbundeffekte zu realisieren. Der Mangel an direkten Substituten und die nicht gewährleistete Verfügbarkeit einzelner Sortimentsbestandteile schränkte die Wahlfreiheit ein. Der hohe Standardisierungsgrad der Sortimente und der damit einhergehende Mangel an Differenzierung der Betriebs- und Angebotstypen ließ eine bedarfsgerechte Spezialisierung der Handelsbetriebe nicht zu. Unterschiedliche Marktsegmente konnten sich nur in begrenztem Umfang herausbilden. Transaktionskostenersparnisse durch die Bildung eines auf die jeweiligen Nachfragerprofile abgestimmten Auswahl-, Bedarfs- oder Nachfrageverbundes in der Sortimentszusammenstellung konnten nicht ausgeschöpft werden. Die ineffiziente Organisation und das eingeschränkte Warenangebot bürdeten den Verbrauchern hohe Transaktionskosten auf. Die Ineffizienz des Handels belastete jedoch nicht nur die Verbraucher mit hohen Transaktionskosten, sondern auch die Warenbewegungen zwischen den Herstellern und den Handelsbetrieben selbst. Da auch im Großhandel moderne Warenwirtschaftssysteme, die Warenumsatz, Lagerbestand und Beschaffung miteinander vernetzten, nicht vorhanden waren, wurden oftmals zu große Lager vorgehalten oder einzelne Güter waren überhaupt nicht erhältlich. Wesentliche Gründe für die chronisch schlechte Versorgung in der Sowjetunion lagen in der verfallenden Transportinfrastruktur, dem Mangel an Konservierungs- und Transporttechniken sowie der rückständigen Logistik. A. Halbach (1993, S. 176 f.) zitiert Schätzungen der Europäischen Gemeinschaft, derzufolge der Verlust an verderblichen Waren auf dem Weg von den Produzenten zum Verbraucher 40-50% betrug. Laut OECD-Schätzungen gingen durch Transport, Lagerhaltung und Verarbeitung regelmäßig 20-30% der Produktion verloren. Kompetenzüberschneidungen, Rivalitäten und mangelnder Koordination zwischen dem Handelsministerium, dem Transportministerium sowie den Industrieministerien standen Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen durch Abstimmung und Kooperation zwischen den verantwortlichen Organen, die auf eine Transaktionkostensenkung hingewirkt hätten, im Wege. Es bleibt festzuhalten, daß die Substitution der „Anarchie" des Marktes durch die zentrale Lenkung der Ressourcen nicht mit der von sowjetischen Ökonomen propagierten Verringerung des Transaktionskostenniveaus einherging, sondern im Gegenteil mit dessen Anstieg. Warenverfall und -Schwund trotz hohen Aufwandes für die Organisation der Warenbewegungen sowie die langen Schlangen der Verbraucher vor den Geschäften belegten die Ineffizienz des sowjetischen Handels. Dem System der zentralen Planung gelang es weder, Innovationen im Handel und dem zwischenbetrieblichen Güterumsatz zu generieren, noch bekannte Rationalisierungspotentiale in der Organisation der Warenbewegungen und dem Absatz an den Endverbraucher auszuschöpfen.

171

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

3.5.2.

Chronische Mangellage im Handel in der Umbruchphase

3.5.2.1. Der offizielle Sektor Die in Kapitel 4.2. abgegrenzte Umbruchphase wurde durch die sich beschleunigende Niedergangsdynamik des sowjetischen Systems charakterisiert. Die sowjetischen Planer konnten die chronische Mangellage in den Geschäften des Einzelhandels nicht beheben. Ende der achtziger Jahre weitete sich die Engpaßsituation auf fast alle Waren des täglichen Bedarfs aus. Eine stichprobenartige Untersuchung ergab, daß in 140 sowjetischen Städten von 1.200 für den Konsum als besonders wichtig eingestuften Produkten nur noch 200 erhältlich waren (Götz-Coenenberg 1989, S. 24). Hierunter waren vor allem schwer substituierbare Erzeugnisse wie Seife, Waschmittel und Zucker. Die Versorgungslücken in der Nahrungsmittelindustrie konnten nur durch Importe aus den westlichen Industriestaaten geschlossen werden. So wurden Ende der achtziger Jahre bis zu 38% der Backerzeugnisse aus Importgetreide hergestellt (Götz-Coenenberg 1989, S. 64). Auch langlebige Konsumgüter wie Kühlschränke, Möbel und Fernsehgeräte waren im offiziellen Handel kaum noch erhältlich. Die Fehlentwicklungen und Mängel in der sowjetischen Wirtschaft waren seit Jahrzehnten bekannt und wurden in den Parteigremien auch vor M. Gorbatschows Politik der Perestroika und Glasnost kritisch diskutiert. Wieso gelang es der Sowjetunion dennoch nicht, die Warenversorgung der Bevölkerung sicherzustellen und den Handel mit nachfragegerechten und attraktiven Sortimenten auszustatten? Daß die chronische Mangelwirtschaft auch durch wiederholte Reformversuche nicht behoben werden konnte, deutet auf ihren systemimanten Charakter hin. Bereits in den zwanziger Jahren diskutierten L. v. Mises und M. Weber die Notwen324

digkeit des Scheiterns einer bilanzgesteuerten Wirtschaftsrechnung. Ohne Geldpreise sei es nicht möglich, die Vielzahl an Endprodukten mit den Zwischenprodukten und Produktionsfaktoren über alle Stufen des Produktionsprozesses hinweg in einen Rechnungszusammenhang zu stellen. Die relativen Preise der Güter höherer Ordnung können ohne Austauschverhältnisse nicht aufgedeckt werden. Der Einsatz von Produktionsfaktoren und Zwischenprodukten läßt sich nur gemäß technischer Input-Output-Koeffizienten planen, die ökonomisch relevanten Schattenpreise bleiben im Dunklen. Angesichts der Komplexität des zu planenden Wirtschaftsprozesses war man gezwungen, Bedarf und Angebot an einzelnen Gütern zu größeren Aggregaten zu verdichten. Durch die Aggregation und Disaggregation der gesamtwirtschaftlichen und betrieblichen Plan323

Gutmann (1977, S. 78 ff.) fuhrt den Rechenschaftsbericht des damaligen Sekretärs des Zentralkomitees GM. Malenkow vor dem XIX. Parteitag der KPDSU im Jahr 1952 an, der alle Bereiche der Wirtschaft in seine Mängelliste aufnahm. Trotz aller Reformversuche sah sich 25 Jahre später L.I. Breschnew in seinem Rechenschaftsbericht vor dem XXV. Parteitag sowie M. Gorbatschow auf dem XXVII. im Jahr 1986 zu einer inhaltlich austauschbaren Kritik an den bestehenden Verhältnissen gezwungen. 324

Siehe van Mises (1922, S. 100 ff.); siehe auch Weber (1964, S. 72 ff.).

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172 325

zahlen wies die Wirtschaftsrechnung Lücken auf. Sie konnte somit nicht rational sein. Beriefen sich M. Weber und van Mises auf die faktische Unmöglichkeit der rationalen Zentralplanung, so arbeitete von Hayek seit Mitte der dreißiger Jahre wiederholt deren theoretische Unmöglichkeit heraus. Das implizite Wissen der Wirtschaftssubjekte sowie die individuell verstreuten „...Kenntnisse der besonderen Umstände von Ort und Zeit" (Von Hayek 1976, S. 107) sind nicht objektivierbar und ag^regierbar. Sie entziehen sich damit der Zentralisierung durch eine Planungsbehörde. Es kann nur jenes Wissen Eingang in die zentralen Wirtschaftspläne finden, welches statistisch erfaßbar, standardisierbar und damit auch aggregierbar ist. Der zentralen Planung war es aus methodischen Gründen nicht möglich, die Struktur der Nachfrage korrekt zu antizipieren. Auf Basis der im Handel getätigten Verkäufe wurden Daten über die Attraktivität der bestehenden Sortimente und ihrer einzelnen Bestandteile bei gegebenen und unveränderlichen relativen Preisen erhoben. Abweichende und unbefriedigt gebliebene Kundenwünsche sowie die tatsächlichen, sich bei flexiblen Preisen herausbildenden Substitutionsbeziehungen und Kreuz-Preis-Elastizitäten konnten jedoch nicht erfaßt werden. Sie waren nicht abfragbar und zudem Veränderungen im Zeitverlauf unterworfen. Mit steigender Sortiments- und Produktdifferenzierung vergrößerten sich die Probleme der Bedarfsforschung und Preissetzung, da sich die Spannbreite möglicher Substitutionsbeziehungen vergrößerte. Es war immer weniger möglich, die Komplexität des Wirtschaftsprozesses in zentralen Plänen abzubilden und zu bewältigen. Die getätigten Verkäufe sagten bei festgelegten Verkaufspreisen und Handelsspannen immer weniger über die tatsächlichen Knappheitsverhältnisse und die Attraktivität einzelner Sortimentsbestandteile aus. Fehler in der Produktionsplanung der Konsumgüterindustrie schrieben sich notwendigerweise in den Planvorgaben der Investitionsgüterindustrie fort, da ihnen falsche Kapazitätsvorgaben zu Grunde lagen.

„Um also die ökonomische Rationalität der Lenkung des Gesamtprozesses vermittels der Planung zu gewährleisten - mit anderen Worten gesagt: um den notwendigen gesamtwirtschaftlichen Rechnungszusammenhang herstellen zu können -, müssen, theoretisch streng genommen, so viele güterwirtschaftliche Planbilanzen ausgearbeitet und aufeinander abgestimmt werden wie es Güterarten gibt, also viele Millionen" Hensel (1977, S. 178). 326

327 328

Van Mises (1927, S. 66) hob vor von Hayek die Unmöglichkeit der Zentralisierung individuell verstreuten Wissens hervor und folgerte hieraus den entscheidenden „... Einwand, den der Nationalökonom gegen die Möglichkeit sozialistischer Gesellschaftsordnung erhebt: daß sie nämlich auf jene geistige Arbeitsteilung Verzicht leisten muß, die in der Mitwirkung aller Unternehmer, Kapitalisten, Grundbesitzer und Arbeiter als Produzenten und als Konsumenten an der Bildung der Marktpreise liegt". Von Hayek (1976, S. 179) selbst verweist auf H.H. Gossen, der bereits die Unmöglichkeit der zentralen Wirtschaftsplanung herausgearbeitet hatte. Siehe von Hayek (1976, S. 200 f.); siehe auch Kapitel 2.2.2. Die Reform der Industriepreise in den Jahren 1966-1969 in der Sowjetunion beinhaltete die Fixierung mehrerer Millionen neuer Preise. Sie wurden in einem Preisbuch veröffentlicht, welches 38.000 Seiten ausmachte - vgl. Olson (1992, S. 62).

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173

Die Fehlleitung der Investitionen hatte einen falsch strukturierten und dimensionierten Kapitalstock zur Folge. Ein weiteres Problem ergab sich für die zentrale Planung aus den zwischen ihr und den Produktionsbetrieben bestehenden Informationsasymmetrien. Da Prämienzahlungen und Ergebnisverantwortung an die Erfüllung quantitativer Produktionsziele geknüpft waren, hatten die Betriebsleiter ein Interesse daran, möglichst niedrige Kapazitäten auszuweisen. Ermöglicht wurde dieses opportunistische Streben nach „weichen" Plänen dadurch, „...daß die zentralen Planungsorgane das betriebliche Leistungsvermögen wegen beschränkter Zentralisierbarkeit verstreuten Wissens ...- nur begrenzt beurteilen können, im Planungsprozeß aber auf die aktive Mitwirkung der Betriebsleiter angewiesen sind" (Schüller 1988, S. 178). Der Ausweis zu geringer Kapazitäten in einer Periode erlaubte die Hortung von Ressourcen und stillen Produktivitätsreserven in den folgenden Perioden, da die Planzahlen vergangene Produktionsergebnisse fortschrieben. Die Diskrepanz zwischen den der Planung zugrundegelegten und den tatsächlichen Kapazitäten wuchs somit tendenziell. Die Ermittlung und Aggregation des Bedarfs sowie der Kapazitäten, deren wechselseitige Abstimmung und anschließende Disaggregation zu betrieblichen Produktionszielen und Kennziffern gingen mit einem erheblichen Informationsverlust einher. Die administrativ gesetzten Preise konnten systematisch von den gesamtwirtschaftlichen Knappheitsgraden abweichen. Die sowjetische Wirtschaftsrechnung wies einen „unheilbaren Strukturbruch" (Schüller 1986a, S. 150) auf, welcher eine Fehlallokation der Ressourcen zur Folge hatte.

329

Dieser der zentralen Planung inhärente Bruch in der Wirt-

Hierfiir bietet der Handel ein gutes Beispiel. Handelsbetriebe nahmen diejenigen Waren in ihre Forderungsprogramme auf, die ihnen bei gegebenen Preisen und Handelsspannen die höchsten Erträge sicherten. Rentable Produkte und Sortimente waren jedoch nicht automatisch deckungsgleich mit den tatsächlich nachgefragten. Besonders augenfällig wird dies im Handel mit Obst und Gemüse, wo in der Form der Kolchos-Märkte ein direkter Vergleich mit einem annähernd freien Handel möglich war. Obst und Gemüse war in den Sortimenten der staatlichen und genossenschaftlichen Handelsbetriebe immer knapp, die Qualität war schlecht. Ursächlich hierfür war, daß der festgesetzte Verkaufspreis unter oder nur knapp über den Selbstkosten lag - vgl. Nove (1977, S. 257 f.). Trotz großer Nachfrage war Obst und Gemüse für staatliche und genossenschaftliche Handelsbetriebe unrentabel. Handelsbetriebe hatten somit keinen Anreiz, den Bedarf an Obst und Gemüse in ihren Forderungsprogrammen über die bestehenden Kontingente hinaus auszuweiten. In ihrem Ergebnisinteresse lag es vielmehr, die Verkaufszahlen durch das Anbieten schlechter Qualität niedrig zu halten. Hierin kann man beispielhaft den „den grundlegenden Konstruktionsfehler der sozialistischen Systeme" sehen. Sie konstituieren „... eine 'perverse Problem- oder Selektionsumwelt', ...'pervers' in dem Sinne, daß sie - intendiert und uninentendiert - wirtschaftliche Verhaltensstrategien zu ermutigen tendierten, die, in der ihnen vorgegebenen Problemumwelt, für die einzelnen Akteure zwar individuell rational waren, aber in ihren Auswirkungen die wirtschaftliche Tragfähigkeit der betreffenden Systeme erodierten" - Vanberg (1997, S. 35). Aufgedeckt wurde die tatsächliche Zahlungsbereitschaft der Konsumenten dagegen auf den Kolchos-Märkten, wo die Preise für Obst und Gemüse deutlich über

174

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schaftsrechnung verursachte die chronischen Disproportionen zwischen den im staatlichen und genossenschaftlichen Handel angebotenen Konsumgütern und der Struktur der Endnachfrage. 3.5.2.2. Der inoffizielle Sektor Trugen die inoffiziellen Marktbeziehungen in der Schattenwirtschaft dazu bei, die vom staatlichen Handel mitverursachte Fehllenkung des Angebotes zu korrigieren? Cassel (1986, S. 75) definiert den Begriff „Schattenwirtschaft" als „nichterfaßte Wertschöpfung": „Hiernach zählen zur Schattenwirtschaft alle ökonomischen Aktivitäten, die zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung eines Landes beitragen, aber nicht von seiner Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) erfaßt sind und folglich auch nicht in die makroökonomische Produkt- bzw. Einkommensberechnung eingehen". Die Schattenwirtschaft in der Sowjetunion läßt sich nach dieser Definition in die illegale Untergrundwirtschaft sowie in legale privatwirtschaftliche Aktivitäten wie beispielsweise den Kolchoshandel und die Selbstversorgungswirtschaft der privaten Haushalte unterteilen. Da dem Naturaltausch eine hohe Bedeutung zukam, sind Versuche, den Umfang der Schattenwirtschaft statistisch zu erfassen, aus methodischen Gründen mit noch größeren Schwierigkeiten verbunden als in westlichen Industriestaaten. Methoden der indirekten Schätzung ausgehend vom Bargeldumlauf greifen zu kurz (Schräge 1984, S. 15 ff.). Götz-Coenenberg (1989, S. 18) beruft sich auf sowjetische Quellen, welche Ende der achtziger Jahre das Umsatzvolumen des Schwarzmarktes für Waren auf 70-90 Milliarden Rubel schätzten, das der Dienstleistungen auf bis zu 22 Milliarden Rubel. Das sowjetische Sozialprodukt sei circa 10% höher als das statistisch ausgewiesene. Diese Schätzung erscheint zu gering, da bereits im Jahr 1968 allein der legale Teil der Schattenwirtschaft von der amerikanischen Central Intelligence Agency (CIA) auf 10% des Bruttosozialproduktes geschätzt worden ist (Grossman 1985, S. 233). Brezinski (1985, S. 370) schätzt den Anteil der Schattenwirtschaft in den achtziger Jahren auf bis zu 40% der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfimg. Halbach (1993, S. 180) gibt Zahlen wider, denen zufolge sich das Umsatzvolumen in der Schattenwirtschaft im Jahr 1990 auf 200 Milliarden Rubel belief, welches circa 45% des offiziell ausgewiesenen Umsatzes im Einzelhandel ausmachte. Auch wenn sich die absolute Höhe des Schwarz-

denen der staatlichen und genossenschaftlichen Handelsbetriebe lagen und sich frei an bestehende Knappheitsverhältnisse anpassten. Eine andere Definition der Schattenwirtschaft, welche explizit auf sozialistische Staaten zugeschnitten ist, wählt os (1990, S. 2): „... the second economy includes all areas of economic activity which are officially viewed as being inconsistent with the ideologically sanctioned dominant mode of economic organisation". Demnach werden alle wirtschaftlichen Aktivitäten, die nicht durch die zentralen Pläne erfaßt werden, der Schattenwirtschaft zugeordnet. Hierbei bestehen weitgehende Schnittstellen zu Cassels Definition, da die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Sowjetunion auf den zentralen Plandaten aufbaute. Schattenwirtschaft definiert als „nichterfaßte Wertschöpfung" hat jedoch den Vorteil, daß Ermessensspielräume über die Ideologiekonformität einzelner Wirtschaftsaktivitäten ausgeblendet werden.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

175

marktvolumens nicht genau beziffern läßt, so erscheint es gerechtfertigt, in den siebziger Jahren und der Umbruchphase von einer steigenden Tendenz auszugehen (Grossman (1985, S. 234 f.). Die Ausprägungsformen der Schattenwirtschaft in der Sowjetunion waren vielfältig: 1) Die legale und gesetzlich tolerierte Schattenwirtschaft - der sich in den achtziger Jahren verschlechternden Versorgungslage mit Lebensmitteln konnten sich jene Sowjetbürger teilweise entziehen, die in den meist kleinen Privatgärten der Datschas über eigene Anbaumöglichkeiten für Obst und Gemüse verfugten. Der im Falle eines sich verringernden Lebensmittelangebotes steigende Selbstversorgungsgrad wirkte als Puffer für Engpässe im offiziellen Handel, zog unter Umständen aber auch Arbeit aus dem offiziellen Sektor ab, was negative Effekte auf dessen Planerfüllung haben konnte. - Zwischen den Produkten aus privatem Anbau, die auf den Kolchosmärkten offiziell gehandelt wurden, und den Waren im staatlichen Einzelhandel bestand ein direkter Rechnungszusammenhang. Traten im staatlichen Handel Versorgungsengpässe auf, wich die Nachfrage auf die Kolchosmärkte aus. Steigende Preise auf den Kolchosmärkten hatten eine Ausweitung des privaten Anbaus und damit des Warenangebotes zur Folge. In dem Maße, wie die Kolchosen und einzelne Kolchosbauern ihre privat genutzten Anbauflächen ausweiten und die Bewirtschaftung intensivieren konnten, wirkten auch die Kolchosmärkte als Puffer für Versorgungsengpässe im staatlichen Handel indem sie die Reagibilität des Angebotes erhöhten. - im November 1986 wurde unter Gorbatschow das zuvor gesetzlich verbotene Anbieten von Dienstleistungen und Waren seitens privater Haushalte wie beispielsweise Möbel, Kleidung, Reparatur- und Transportdienstleistungen legalisiert. In Tallinn und Vilnius wurden bis Mai 1987 über eintausend legale private Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe registriert (Shelley 1990, S. 12 f.). Die Anzahl der in der legalen Privatwirtschaft Beschäftigten verdreifachte sich in Lettland zwischen 1980 und 1991. Die Legalisierung privatwirtschaftlicher Aktivitäten kann als Eingeständnis ihrer im Vergleich zum staatlichen Sektor höheren Effizienz und gesamtwirtschaftlich positiven Pufferfunktion gesehen werden. - Produktionsbetriebe kompensierten gegen Geldzahlungen und durch Naturaltausch planinduzierte und schwundbedingte Knappheiten an Produktionsmitteln. Zwischen Produktionsbetrieben entwickelte sich ein weitverzweigtes Netz an informellen Tauschkontakten. Festangestellte Vermittler, die sogenannten „Tolkatschi", tauschten überplanmäßige Bestände an Rohstoffen, Zwischen- und Endprodukten mit anderen Betrieben. Die Suche nach Tauschpartnern sowie die Durchsetzung der Verträge verursachten aufgrund ihres informellen Charakters und mangelnder Transparenz hohe Transaktionskosten. Allerdings konnten hierdurch Koordinationslücken geschlossen

331

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia (1993, S. 77).

176

Bertram Wiest 332

und die Aussichten auf Planerfüllung der Betriebe verbessert werden . Die Struktur des geplanten Warenangebotes und seine mangelnde Orientierung am tatsächlichen Bedarf wurden jedoch nicht tangiert. Der Naturaltausch war primär auf die Erfüllung von Planvorgaben zwecks Sicherung der hieran gekoppelten Prämien gerichtet. Nachteilig wirkte sich bei bestehenden Informationsasymmetrien zwischen Planem und Betrieben der von der Möglichkeit des zwischenbetrieblichen Handels ausgehende Anreiz zur überhöhten Angabe des Ressourcenbedarfs auf die zentrale Planung aus. Um über Tauschobjekte verfügen zu können, bestand ein Interesse an „weichen" Plänen. Die Diskrepanz zwischen den in den zentralen Plänen veranschlagten und den tatsächlich vorhandenen Produktionskapazitäten verfestigte sich mit wachsendem Umfang zwischenbetrieblicher Tauschbeziehungen. 2) Die illegale Schattenwirtschaft - in den achtziger Jahren wurde ein immer größerer Anteil an Konsumgütern auf Schwarzmärkten gehandelt. So waren auch in staatlichen Einzelhandelsgeschäften viele Waren nur gegen Bezahlung eines Aufschlages „unter der Verkaufstheke" erhältlich. Dienstleistungen von Ärzten oder Handwerkern erforderten zusätzliche Zahlungen. Auch in der alle Gebiete des wirtschaftlichen Lebens umfassenden staatlichen Verwaltung und bei den Sicherheitsbehörden nahm die Korruption zu. Die Vergabe von Datschas, Wohnungen und langlebigen Konsumgütern wie Autos, für die es lange Wartelisten gab, erfolgte in immer stärkeren Ausmaß nur noch gegen die Bezahlung von Bestechungsgeldern. Schwarzmärkte konnten in der Öffentlichkeit und gedeckt von bestochenen Sicherheitsorganen operieren. Das Nachlassen staatlicher Repressionsgewalt sowie die mangels Warenangebot steigende unfreiwillige Kassenhaltung der Haushalte ließen Arbitrage zwischen dem offiziellen und inoffiziellen Sektor immer vorteilhafter werden. Zu Niedrigpreisen gekaufte oder gestohlene und unterschlagene Güter aus staatlichen Beständen wurden zu Marktpreisen auf den Schwarzmärkten verkauft. Der Handel auf den Schwarzmärkten stellte Güter in einen Rechnungszusammenhang und forderte hierdurch in Form von Preis- und Mengenanpassung eine nachfragegerechtere Ausrichtung des Warenangebotes. Er entzog dem offiziellen Sektor Ressourcen und lenkte sie in die Produktion und den Absatz von Waren, für die auf dem Schwarzmarkt knappheitsbedingt hohe Preise erzielbar waren. Unabhängig von den Planzielen konnten hierdurch dem privaten Verbrauch Ressourcen zugeführt und die Konsumquote erhöht werden. Cassel (1986, S. 92 f.) schließt aus der im Vergleich zum staatlichen Sektor produktiveren Verwendung der Ressourcen in der Schattenwirtschaft auf einen per saldo wohlfahrtssteigernden Effekt. Selbst den Bestechungs- und Protektionsgeldern spricht er vorteilhafte Allokationswirkungen zu und sieht sie als „...systemspezifische, den offiziellen Transaktionspreisen zuzuschlagende «schattenwirtschaftliche» Transaktionskosten, die ihrerseits dem Spiel von Angebot und Nachfrage unterliegen und insoweit 332

Ericson (1984, S. 3 ff.) führt in einem formalen Modell aus, daß sich durch den Tausch von Produktionsmitteln sowie Seiten- und Kompensationszahlungen zwischen Betrieben ein walrasianisches Tausch- und Bestechungsgleichgewicht ergeben könnte.

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die Funktion der Knappheitsanzeige und der Preisrationierung mitübernehmen. Sie haben letztlich gesamtwirtschaftlich erwünschte allokative Konsequenzen, indem die als relativ knapp erkannten Güter im offiziellen wie im schattenwirtschaftlichen Sektor entweder substituiert oder vermehrt produziert werden". Auch M. Olson (1992, S. 63) kommt zu der paradox anmutenden Schlußfolgerung, daß Zentralverwaltungswirtschaften sowjetischen Typs „.. .performed as well as and survived as long as they did in part because of the many markets, legal and illegal, explicit and implicit, that they contained". Das Anwachsen der Schattenwirtschaft wird von Schüller (1992, S. 44 f.) als „...Ausdruck einer partiellen Systemtransformation spontaner Art" gesehen, welche die Niedergangsdynamik der sowjetischen Zentralverwaltungswirtschaft beschleunigte. Sie gefährdete „.. .langfristig die Stabilitätseigenschaften des Gesamtsystems - nicht zuletzt deshalb, weil der Entzug von Ressourcen die Aushöhlung der Leistungsnormative und die Dynamik der (Real-) Löhne die ohnehin nur begrenzte Geschlossenheit der sozialistischen Wirtschaftsrechnung noch weiter auflöst und die Inkonsistenzen der zentraladministrativen Planung erhöht". Es stellt sich die Frage, ob das Anwachsen der Schattenwirtschaft auch spontan zu einer vollständigen Verdrängung der staatlichen Zentralplanung und des Staatseigentums hätte führen können. Gegen einen solchermaßen evolutionären Systemwechsel, der eine „politische Gesamtentscheidung" zugunsten der Etablierung marktwirtschaftlicher äußerer Institutionen obsolet gemacht hätte, sprechen die folgenden Gründe: - Solange die Verfügungsgewalt über die Produktionsfaktoren in den Händen des Staates lag und dieser sie auch durchsetzen konnte, blieb die zentrale Planung bestimmend und setzte der Ausweitung der informellen Marktbeziehungen Grenzen. - Aufgrund seiner unzureichenden institutionellen Verankerung war der Handel in der Schattenwirtschaft auf jene Tauschgelegenheiten beschränkt, die den Tausch der Verfugungsrechte direkt mit dem physischen Transfer der Güter verbanden oder ein hohes Maß an Reziprozität aufwiesen. Solange die systemkonstituierenden äußeren Institutionen im Widerspruch zu den sich entwickelnden Marktbeziehungen standen und auch durchgesetzt werden konnten, war dem spontanen Übergang zu einem marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnungstyp eine unüberwindliche Grenze gesetzt. Dies hatten auch die politischen Entscheidungsträger erkannt, was sie dazu veranlaßte, vermehrt repressive Kampagnen bis hin zur Verhängung der Todesstrafe gegen Schwarzmarktaktivitäten und Korruption zu initiieren, um die Glaubwürdigkeit der äußeren Institutionen zu erhöhen. Das Beispiel Weißrußlands, welches unter Präsident Lukaschenko an stalinistischen Herrschaftsstrukturen festhält, belegt, daß die Aushöhlung der Zentralplanung durch die Schattenwirtschaft und die anhaltende Verar-

333

Cassel (1986, S. 95); systemstabilisierend wirkte dagegen laut Cassel , daß die Kassenhaltungsinflation im offiziellen Sektor durch Mengenanpassung und Preisinflation im inoffiziellen Sektor abgebaut wurde. 334

Siehe Kapitel 3.2.1.

178

Bertram Wiest

mung der Bevölkerung keine hinreichende Bedingungen für die Transformation des politischen und wirtschaftlichen Systems sind. - Die systemkonstituierenden äußeren Institutionen einer Marktwirtschaft entstehen aufgrund sozialer Dilemmasituationen nicht in einem spontanen Prozeß, sondern setzen politisches Handeln voraus. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß einer Ausrichtung des Warenangebotes an der Nachfrage durch den Handel in der Sowjetunion systembedingte Grenzen gesetzt waren. Diese Grenzen wurden - wie in Kapitel 4.2.3.2. dargelegt - nach Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit in den Baltischen Staaten in der Kernphase durch eine vergleichsweise konsequente Transformationspolitik beseitigt. Im folgenden ist zu zeigen, wie in den Baltischen Staaten vertikale und horizontale Wettbewerbsprozesse durch die dynamische Herausbildung marktwirtschaftlicher Strukturen im Handel generiert wurden und den Aufbau einer international wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur einleiteten. Ziel ist es, die in Kapitel 5.1.3. beschriebenen Argumente über die Vorteilhaftigkeit einer aktiven Industrie- und Technologiepolitik des Staates zu widerlegen. 4.

Handel und verarbeitende Industrie im Transformationsprozeß der Baltischen Staaten

4.1.

Problemstellung und Vorgehensweise

Die Integration in die Weltwirtschaft ohne staatliche Industrie- und Technologiepolitik setzt voraus, daß die Wirtschaftssubjekte in den Baltischen Staaten die jeweiligen komparativen Vorteile im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung und damit effizientere Faktorkombinationen entdecken. Sollte das Bild der „schöpferischen Zerstörung" im Sinne Schumpeters auf die Transformation des Wirtschaftssystems in den Baltischen Staaten anwendbar sein, dann ist zu zeigen, wie im Wettbewerbsprozeß neues Wissen entdeckt wird und Ressourcen durch die sich herausbildende unternehmerische Initiative in produktivere Verwendungen überführt werden. Dies setzt voraus, daß der Prozeß, in dem die Wirtschaftssubjekte neues Wissen um profitable Märkte und Faktorkombinationen erwerben, nachgezeichnet werden kann. Die zu prüfenden Hypothesen sind: - Im Handel bildet sich unternehmerische Initiative am schnellsten heraus. Der entstehende Innovationswettbewerb im Handel um nachfragegerechte Sortimente leitet auch einen Lernprozeß auf Seiten der Konsumenten ein, in dem die Verbraucher ihre Theorien in der Nutzenproduktion an den erweiterten Handlungsraum anpassen. Haben sie konsistente Theorien gebildet, werden diese durch die Kaufentscheidungen mit den Gewinnen der Handelsbetriebe rückgekoppelt. - „Die von der Nachfrageseite ausgehenden Signal-, Anstoß- und Sogwirkungen" (Schüller 1992, S. 60) können durch den sich entwickelnden Selektionswettbewerb in " 5 Vgl. Kapitel 336

3.1.3.2.3.

Vgl. Siebert (1992, S. 16); siehe auch Schumpeter (1950, S. 138 ff.).

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den Sortimenten des Handels kanalisiert werden. Der Innovationswettbewerb um nachfragegerechte Sortimente im Handel zieht einen Innovationswettbewerb auf den vorgelagerten Marktstufen der verarbeitenden Industrie nach. Das für den Aufbau des Kapitalstocks relevante Wissen wird im Marktprozeß entdeckt. Können diese Hypothesen anhand der Tausch- und Wettbewerbsbeziehungen im Handel und in der verarbeitenden Industrie der Baltischen Staaten belegt werden, dann wäre von industriepolitischen Interventionen - und vor allem einer Behinderung des Handels - Abstand zu nehmen. Da diese die vom Handel ausgehenden Signalwirkungen für die Allokationsentscheidungen der Wirtschaftssubjekte verzerren beziehungsweise unterbinden würden, wäre die Wettbewerbsfähigkeit der sich herausbildenden Industriestrukturen zweifelhaft. Der Zusammenhang zwischen dem vorherrschenden Grad an Erwartungsunsicherheit und den im Handel ablaufenden sowie den von ihm angestoßenen Such- und Experimentierprozessen soll anhand der in Kapitel 4.2.2 abgegrenzten Kernphase sowie der Lern- und Stabilisierungsphase analysiert werden. Um die phasenspezifischen Tauschund Wettbewerbsbeziehungen herauszuarbeiten, werden beide Transformationsphasen anhand des folgenden Punktekataloges untersucht: 1. Der Einfluß des vorherrschenden Grades an institutioneller Unsicherheit und makroökonomischer Instabilität auf Investitionen im Handel und in der verarbeitenden Industrie. 2. Handelstypen, Organisationsformen und Sortimente. 3. Die Entwicklung der Nachfrage, Verschiebungen innerhalb der Warenkörbe. 4. Umsatz-, Kosten- und Gewinnentwicklung in Handel und verarbeitender Industrie. 5. Die Wettbewerbsintensität und Angebotsreagibilität im Handel und der verarbeitenden Industrie in der Kernphase, beziehungsweise in der Lern- und Stabilisierungsphase: 4. Die Innovationsentwicklung und Veränderungen der Industriestruktur. 4.2. 4.2.1.

Der Handel in der Kernphase Investitionen im Handel und in der verarbeitenden Industrie

Wie wirkte sich die Erwartungsunsicherheit in der Kernphase auf die Höhe und Struktur der Investitionen in den Baltischen Staaten aus? Nach Schätzungen des IMF betrugen die realen Brutto-Investitionen in Estland im Jahr 1992 nur noch 64% des Niveaus von 1990 {IMF 1995, S. 32 f.). Die Investitionsquote verringerte sich von 19% im Jahr 1990 auf 13,6% des Bruttoinlandproduktes im Jahr 1991 mit wieder steigender Tendenz in den Folgejahren. Hervorzuheben ist, daß das Absinken der Investitionsquote in Estland nicht durch den relativen Rückgang der Anlageinvestitionen, sondern durch den Abbau bestehender Lager an Zwischen- und Endprodukten und damit durch negative Vorratsinvestitionen verursacht wurde. Die Anlageinvestitionen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt stiegen im gleichen Zeitraum von 19,6% auf 22,7%, während sich der Vorrat an Zwischen- und Endprodukten um 8,5% im Jahr 1991 und 6,8% in 1992

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verringerte. Das Bruttoinlandsprodukt sank demnach stärker als die Anlageinvestitionen, worin eine Besonderheit des estnischen Transformationsprozesses gesehen werden kann. Laut I M F ist der Abbau der Lager an Zwischen- und Endprodukten auf den zügigen Übergang zu einer effizienteren Lagerbewirtschaftung und Ressourcenallokation zurückzuführen. Infolge der bereits implementierten Transformationsmaßnahmen hätten sich die Budgetrestriktionen gehärtet. In Litauen war der Rückgang der Brutto-Investitionen im Vergleich zum Jahr 1990 noch sehr viel ausgeprägter als in Estland. Sie sanken 1993 real auf bis zu 24,5% des Niveaus im Jahre 1990 (IMF 1995, S. 32). Auch die Investitionsquote verringerte sich stärker. Ausgehend von einem sehr viel höheren Niveau als in Estland sank die Investitionsquote in Litauen von 38% des Bruttoinlandsproduktes im Jahr 1990 auf 16% im Jahr 1993. Während sich zwischen 1990 und 1992 das Verhältnis zwischen Anlageinvestitionen und Bruttoinlandsprodukt annähernd halbierte, blieb das Verhältnis zwischen Vorratsinvestitionen und Bruttoinlandsprodukt bei zwischen 5% und 6,5%. In Litauen kam es laut I M F erst im Jahr 1993 zu einem, im Vergleich zu Estland, zeitlich versetzten Abbau bestehender Lager und negativen Vorratsinvestitionen, was auf das einsetzende Bestreben der Betriebe hindeutet, Rationalisierungspotentiale auszuschöpfen. Lettland weist eine ähnliche Entwicklung auf wie Litauen. Die Brutto-Investitionen verringerten sich zu konstanten Preisen bis 1993 auf nur noch 18,5% ihres Niveaus aus dem Jahr 1990. Die Investitionsquote betrug 1992 aufgrund hoher Vorratsinvestitionen noch 27%. Deutlich negative Vorratsinvestitionen im Jahr 1993 ließen sie jedoch auf 13% sinken.

339

In allen drei Baltischen Staaten gingen die Brutto-Investitionen im Vergleich zum Basisjahr 1990 stark zurück. Zieht man die Abschreibungen auf den bestehenden Kapitalstock in Betracht, dann können j e nach angenommenem Wertberichtigungsbedarf die Netto-Anlageinvestitionen negativ ausgefallen sein. Laut estnischen Statistiken stiegen die über alle Wirtschaftssektoren aggregierten Abschreibungen auf den Kapitalstock und die Lagerbestände in den Jahren 1992 und 1993 von 4,3% auf 12% des in Estland 340

vorhandenen physischen Kapitals. D a 1991 und 1992 die Vorratsinvestitionen bereits deutlich negativ ausfielen, entfallt ein Großteil der Abschreibungen auf das fixe Anlagekapital. Es scheint jedoch realistisch, von einem deutlich höheren Wertberichtigungsbedarf und von negativen Netto-Investitionen in das Anlagekapital auszugehen. Ange337

338 339

340

Siehe IMF (1995, S. 31 f.); in denjenigen Transformationsstaaten, die wie Rußland, die Ukraine und Weißrußland eine graduelle Transformationspolitik verfolgten, seien die Vorratsinvestitionen im gleichen Zeitraum durchschnittlich um bis zu 30 % gestiegen, während die Anlageinvestitionen stark zurückgingen. Mangels sich härtender Budgetrestriktion wurde auf Lager produziert. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 232. Vgl. IMF (1995, S. 32 f.); das Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 28 weist einen stärkeren Rückgang der Investitionsquote auf nur noch 9,2 % aus, da von einem noch größeren Rückgang der Vorratsinvestitionen ausgegangen wird. Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 36 ff.

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sichts der bestehenden Mängel im betrieblichen Rechnungswesen, welches vor die ungewohnte Aufgabe gestellt war, Abschreibungen nicht nur nach rein technischen, sondern auch nach ökonomischen Gesichtspunkten vorzunehmen, mutet eine Abschreibungsrate von 5% als zu gering an. Diese Annahme wird durch litauische Statistiken erhärtet. Für das Jahr 1994 weisen sie aggregierte Abschreibungen auf den Kapitalstock Litauens von annähernd 35% auf. Zieht man die Abschreibungen von den Bruttoinvestitionen in das Anlagekapital ab, ergeben sich Netto-Investitionen von -5.776,6 Millionen Litas, oder anders ausgedrückt, von -34% des Bruttoinlandproduktes. Obwohl der genaue Wertberichtigungsbedarf nicht bekannt ist, wird davon ausgegangen, daß in allen drei Baltischen Staaten das Abschreibungsvolumen die stark gesunkenen Brutto-Investitionen überstieg und die Nettoinvestitionen somit negativ ausfielen. Lassen sich sektorale Unterschiede im Rückgang der Investitionen identifizieren? In der Kernphase verringerten sich die Brutto-Investitionen in der verarbeitenden Industrie weitaus stärker als im Handel. In Lettland betrugen sie beispielsweise im Jahr 1993 nur noch knapp 16% des Niveaus von 1990. Die Brutto-Investitionen im Handel beliefen 343

sich 1993 dagegen noch auf über 22% der Summe von 1990. Betrachtet man die Netto-Investitionen, vergrößert sich der Abstand zwischen Handel und verarbeitender Industrie. Die Kapitalintensität des produzierenden Gewerbes ist im Vergleich zum Handel sehr viel größer. So vereinigte in Litauen die verarbeitende Industrie im Jahr 1992 annähernd 30% des Anlagekapitals auf sich und nur 3,5% fielen auf den Handel . Der Großteil der Abschreibungen auf den Kapitalstock mußte somit in der verarbeitenden Industrie vorgenommen werden. Die Annahme scheint daher realistisch, daß der Handel in der Kernphase positive Netto-Investitionen verzeichnete, während sie im produzierenden Gewerbe negativ ausfielen. Besteht ein Zusammenhang zwischen der in der Kernphase herrschenden Erwartungsunsicherheit der Wirtschaftssubjekte und den unterschiedlichen Entwicklungen der Investitionen in Handel und Industrie? Unter der Annahme, daß in der Produktion Kapital länger als im Handel gebunden ist, unterscheidet sich der Zeithorizont der Erwartungsbildung. Diese basiert auf dem zum jeweiligen Zeitpunkt bestehenden Wissen der Wirtschaftssubjekte. Bei hoher Unsicherheit aufgrund sich wandelnder institutioneller Rahmenbedingungen, makroökonomischer Instabilität und einer sich wandelnden Nachfrage ist in der Kernphase das Risiko, daß Wissen schnell veraltet, hoch: 341

Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1994-95, S. 161.

342

Vgl. Main Macroeconomic Indicators of Lithuania 1997, Department of Statistics to the Government of Lithuania, S. 51 sowie Statistical Yearbook of Lithuania 1994-95, S. 161. 343

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 233.

344

Vgl. Lithuania's Statistics Yearbook 1993, S. 52 f.; nimmt man das Jahr 1994, fur welches litauische Statistiken das Abschreibevolumen nach Branchen aufschlüsseln, als Referenzpunkt, dann entfielen 32,6 % der Abschreibungen auf das Anlagekapital auf das produzierende Gewerbe und nur 9 % auf den Handel - vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1994-95, S. 161.

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- Der „Schatten der Zukunft" ist verkürzt, die zeitliche und rechtliche Bindungswirkung von Verträgen ist unsicher. Mittel- und längerfristige Vertragsbeziehungen erweisen sich aufgrund deren zunehmender Unvollständigkeit als unvorteilhaft. - Hohe und sich stark verändernde Inflationsraten behindern die Prognose zukünftiger Einzahlungsströme und deren Abdiskontierung. - Verschiebungen der Nachfrage erschweren die Erwartungsbildung bezüglich Umfang und Struktur der Nachfrage. Der verkürzte Erwartungshorizont der Wirtschaftssubjekte wirkt sich negativ auf die Nachfrage nach Investitionsgütern aus, die eine längerfristige Kapitalbindung und Amortisationszeit voraussetzen sowie eine hohe Spezifität aufweisen. Im Handel stellen dagegen institutionelle und makroökonomische Instabilitäten wegen der in der Regel zeitlich kürzeren Kapitalbindung ein eher kalkulierbares Risiko dar. Der Anteil an Anlageinvestitionen ist im Handel vergleichsweise gering, es dominieren Investitionen in Warenlager sowie in kostengünstige Beschaffungs- und Absatzwege. Geht der Tausch der Verftigungsrechte mit dem physischen Transfer der Waren einher und weisen Handelsbetriebe einen hohen Warenumschlag auf, tangieren institutionelle Unsicherheit und makroökonomische Instabilität die Planung und Investitionen im Handel weitaus weniger als im produzierenden Gewerbe. Die mögliche Unmittelbarkeit des Tausches umgeht das Problem mangelnder Geschlossenheit von Verträgen. Die Gefahr opportunistischen Verhaltens eines der Vertragspartner bei sich wandelnden institutionellen Rahmenbedingungen und mangelnder Durchsetzbarkeit der Verträge wird minimiert, wodurch die Risikoprämien bei Vertragsabschluß verringert und eine größere Anzahl an Tauschoperationen vorteilhaft werden. 4.2.2.

Handelstypen, Organisationsformen und Sortimente

Wie in Kapitel 5.3. dargestellt, hatte der Handel in der Sowjetunion eine der Industrie untergeordnete Bedeutung. Das Handelsnetz war dünn, die „Handelstechnologie" veraltet und die Sortimente waren weitgehend standardisiert. Horizontale und vertikale Wettbewerbsbeziehungen konnten sich in dem System zentraler Planimg nicht entfalten. In der Kernphase verzeichnete die Anzahl an Handelsbetrieben ein starkes Wachstum. Bestehende Einzelhandelsbetriebe wurden in einem frühen Stadium an die Belegschaften privatisiert, neue Betriebe im Groß- und Einzelhandel gegründet. Die Herausbildung marktwirtschaftlicher Strukturen im Handel, der einsetzende horizontale und vertikale Wettbewerb sowie die außenwirtschaftliche Öffnung förderten unternehmerische Such- und Lernprozesse in der Sortiments-, Absatz- und Beschaffungspolitik. Bereits in der Kernphase entstand in den Baltischen Staaten durch Neugründungen ein frei disponierender Großhandel. Die zentrale Warenverteilung existierte nicht mehr. Durch die außenwirtschaftliche Öffnung hatten die Baltischen Staaten Zugang zu west345 346

Vgl. Kap. 5.2.6. „Als die Kommandowirtschaft zusammenbrach, war nur der Basar da. Der Basar kennt kein kompliziertes rechtliches Netzwerk" - Schmidt-Häuer (1993, S. 18).

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liehen Produkten und Beschaffungsmärkten. Es entstand eine Koordinationslücke, die von neugegründeten Großhandelsbetrieben besetzt wurde. Aufgrund hoher Transaktionskosten des Direktbezuges begann der Einzelhandel vorgelagerte Handelsleistungen nachzufragen. Großhandelsbetriebe senkten durch die Zusammenstellung von Sortimenten sowie den Aufbau einer kostensparenden Logistik die Kosten der Beschaffung auf Seiten der Einzelhandelsbetriebe. Das Ausmaß der Nachfrage nach vorgelagerten Handelsleistungen zeigt sich in der stark ansteigenden Anzahl an Großhandelsbetrieben. In Estland gab es zu Sowjetzeiten sieben nach Sortimentsbereichen getrennte Großhandelsbetriebe. Bis zum Jahr 1992 stieg die Anzahl auf 1.109 Großhandels- und Vermittlungsbetriebe (Halbach 1993, S. 242). Eine vergleichbare Entwicklung läßt sich in Lettland und Litauen bis zum Ende der jeweiligen Kernphase feststellen. Nicht nur der Großhandel verzeichnete eine steigende Anzahl an Betrieben und Beschäftigten, sondern auch der Einzelhandel. In Estland stieg die Beschäftigung im Handel im Vergleich zum Jahr 1989 bis zum dortigen Ende der Kernphase im Jahr 1992 um 18,7% an. In Litauen wuchs zwischen 1991 und 1993 die Anzahl der Handelsbetriebe um über 70%, die Anzahl der im Handel Beschäftigten um über 14% . In Lettland stieg die Anzahl der Verkaufsstellen im gleichen Zeitraum um 40%, die Anzahl der 349

im Handel Beschäftigten wuchs um 30%. Das Wachstum im Handel wurde in allen drei Baltischen Staaten von einem gegenläufigen Trend im produzierenden Gewerbe begleitet. So betrug beispielsweise in Lettland die Beschäftigung irn produzierenden Gewerbe im Jahr 1993 offiziell nur noch 75% des Niveaus von 1991. Es besteht jedoch Grund zur Annahme, daß die tatsächlichen Beschäftigtenzahlen darunter lagen, da die Scheinbeschäftigung in den noch immer staatlichen Betrieben zwecks Sicherung sozialer Leistungen beträchtliche Ausmaße annahm. In den Baltischen Staaten kam es somit bereits vor der Privatisierung und umfassenden Restrukturierungen in der Industrie zu einer Abwanderung der Beschäftigten aus dem produzierenden Gewerbe hin zu neugegründeten Dienstleistungsbetrieben und dem Handel. Läßt sich aus der gestiegenen Anzahl an Handelsbetrieben auf die Entstehung privaten Unternehmertums im Handel schließen? Estland, welches als Vorreiter in der Privatisierung staatlichen Eigentums angesehen werden muß, hatte bereits im Jahr 1990 im größeren Rahmen mit der „kleinen Privatisierung" und Verselbständigung der Konsumgenossenschaften begonnen. Die „kleine Privatisierung" umfaßte vornehmlich kleine

347 348

349 350 351

Vgl. Estonian Labour Market Survey (1997, S. 87). Survey of Lithuanian Economy May 1997, Department of Statistics to the Government of the Republic of Lithuania, S. 80 ff. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 74 und S. 279. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1993, S. 78. Einen ausfuhrlichen Uberblick über die Verschiebungen in der Beschäftigung zwischen den Sektoren gibt für Estland das Estonian Labour Market Survey (1997, S. 50 ff.).

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und mittelgroße Handels- und Dienstleistungslinternehmen, welche durch öffentliche Versteigerung in private Hände gingen. Aufgrund eingeräumter Präferenzen wurden zwischen 80% und 90% der Betriebe durch das frühere Management beziehungsweise die Belegschaft ersteigert (Schräder und Laaser 1997, S. 14). Mitte 1992 waren bereits etwa ein Drittel der Verkaufsstellen im Einzelhandel privatisiert. Der Anteil privater Einzelhandelsbetriebe belief sich aufgrund der zahlreichen Neugründungen auf circa drei Viertel. Noch höher, nämlich bei 90%, lag die Anzahl privater Unternehmen im Großhandel, wo Neugründungen stärker ins Gewicht fielen (Halbach 1993, S. 240ff). In Lettland ist der Verlauf der Privatisierung insgesamt als äußerst schleppend zu beurteilen, wobei auch hier, die „kleine Privatisierung" den Anfang machte. Sie begann erst Ende 1991 und erfolgte durch öffentliche Ausschreibungen, Versteigerungen oder Direktverkauf. Bis zum Ende der Kernphase im Jahr 1993 wurden 300 Handelsbetriebe privatisiert. Angesichts des auf 34% zurückgegangenen Anteils des staatlichen Binnenhandels an den insgesamt erzielten Handelsumsätzen ist auch in Lettland davon auszu352

gehen, daß der private Sektor im Handel vornehmlich durch Neugründungen wuchs. Während sich die Regierung Litauens im Falle staatlicher Industrieunternehmen für die Privatisierung via kostenlos verteilter Voucher entschied, wurden Handelsbetriebe durch öffentliche Versteigerungen in private Hände überfuhrt, wobei den Belegschaften Vorzugskonditionen gewährt wurden. Im Sommer 1993 waren in Litauen 77% der Handelsbetriebe privatisiert {Lösch 1994, S. 17). Aus der zügigen Privatisierung staatlicher Handelsbetriebe und der hohen Anzahl an Neugründungen in der Kernphase kann geschlossen werden, daß sich unternehmerische Initiative im Handel bereits in einer sehr frühen Phase der Transformation herausbildete. Einen nicht unwesentlichen Anteil - vor allem im Großhandel - dürften hieran Betriebe und Vermittler haben, die zu Sowjetzeiten wie die „Tolkatschi" in der staatlich tolerierten, aber auch solche, die in der illegalen Schattenwirtschaft agierten. Sie verfügten bereits über genauere Kenntnisse bezüglich nachgefragter Produkte und marktwirtschaftlicher Mechanismen, die sie nun legal gewinnbringend einsetzen konnten. Im Gegensatz zum Handel verlief die Privatisierung in der staatlichen Industrie in allen drei Baltischen Staaten schleppend, was auf den höheren organisatorischen Aufwand und Kapitalbedarf sowie auf politische Unstimmigkeiten zurückzuführen ist. Es bleibt festzuhalten, daß der Handel gegenüber dem produzierenden Gewerbe in der Herausbildung marktwirtschaftlicher Strukturen über einen beträchtlichen zeitlichen Vorsprung verfügte. Die Grundlage für wettbewerbliche Such- und Experimentierprozesse um nachfragegerechte Sortimente sowie kostengünstige Beschaffiings- und Absatzwege war somit bereits in der Kernphase geschaffen. Welche Auswirkungen hatten die außenwirtschaftliche Öffnung und die zügige Privatisierung im Handel auf dessen Sortimente? In der Kernphase sank der Anteil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) an den Importen der Baltischen Staaten

352

353

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 277.

Vgl. Kapitel 5.3.5.2.2.

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beträchtlich. Das Importvolumen aus Westeuropa stieg. Der erweiterte Freiheitsraum des Handels in der Zusammenstellung der Sortimente schlug sich in der Aufnahme neuer Produkte in den Sortimenten nieder. Hervorzuheben ist wiederum Estland, welches sich am konsequentesten westlichen Märkten zuwand und öffnete. Die Importe aus der Sowjetunion beliefen sich im Jahr 1991 noch auf 85%, wobei Rußland der Haupthandelspartner war. Dessen Anteil an den Gesamtimporten sank bis Ende 1992 auf 28,4%. Aufgrund der geographischen und kulturellen Nähe wuchs vor allem das Außenhandelsvolumen zwischen Estland und Finnland. Der finnische Anteil an den Importen betrug 1992 bereits 22,6%. Drittwichtigster Handelspartner war Deutschland, dessen Anteil an den Importen auf über 8% stieg (EIU 1997-98, S. 30). Insgesamt wuchs in Estland das Volumen der Westimporte von knapp 10% im Jahr 1991 auf über 50% (Schräder und Laaser 1997, S. 46). Konsumgüter, die zur Sowjetzeiten nur gegen hohe Aufschläge auf dem schwarzen Markt erhältlich waren, konnten nun frei gehandelt werden. Die Spanne an Handelsobjekten reichte von importierten Lebensmitteln wie Joghurts, Süßwaren und Südfrüchten über Sanitärprodukte, modische Bekleidungsartikel bis zu langlebigen Konsumgütern, die aufgrund der hohen Inflation auch als Wertaufbewahrungsmittel nachgefragt wurden. Die Neuorientierung des Außenhandels spiegelte sich in den Sortimenten des Binnenhandels wider. Vor 1991 bezog Lettland 87% seiner Importe aus der Sowjetunion. In der Kernphase wuchs das Importvolumen aus westlichen Marktwirtschaften beträchtlich, wenn auch nicht im selben Ausmaß wie in Estland. Im Jahr 1994 betrug der Anteil der Importe aus den westeuropäischen Marktwirtschaften knapp 42% an dem Gesamtimportvolumen, der Anteil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) über 30%. Auch in Litauen verzögerte sich die Neuorientierung des Außenhandels nach Westen. Lediglich der Außenhandel mit Deutschland, dessen Exporte nach Litauen im Jahr 1993 annähernd 10% betrugen, verzeichnete in der Übergangsphase ein starkes Wachstum. Die Importe aus Rußland machten 1993 noch über die Hälfte der Gesamtimporte aus. Dritt- und viertgrößter Handelspartner waren die Ukraine und Weißrußland. 4.2.3.

Die Entwicklung der Nachfrage, Verschiebungen innerhalb der Warenkörbe

Mangels geld- und währungspolitischer Souveränität konnten sich die Baltischen Staaten auch nach Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit nicht der akzelerierenden Inflation innerhalb des Rubel-Raumes entziehen. In Lettland, welches die vergleichsweise niedrigsten Inflationsraten aufwies, sanken die Reallöhne bis zum Jahr 1992 auf

So machten beispielsweise im Jahr 1992 bei dem Großhandelsunternehmen Itecom in Talinn Westimporte 50 % des Umsatzes aus, Beziehungen zu Zulieferern in Rußland bestanden praktisch keine, und die Anzahl estnischer Lieferanten war rückläufig - vgl.

Halbach (1993, S. 248 f.). 355

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1995, S. 286.

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nur noch 46,7% des Niveaus von 1990. 356 Fallende Reallöhne und sich entwertende Sparguthaben verringerten die Kaufkraft der privaten Haushalte, was sich dann in sinkenden Einzelhandelsumsätzen widerspiegelte. Die sich in der Kernphase halbierenden Realeinkommen hatten nicht nur einen Rückgang der Nachfrage zur Folge, sondern auch eine Verschiebung. Der Anteil der Lebensmittelausgaben am privaten Konsum wuchs, obwohl der mengenmäßige pro Kopf-Verbrauch an fast allen Lebensmitteln zurückging. So sank der Fleischkonsum in Litauen angesichts zwanzig- bis vierzigfach höherer Nahrungsmittelpreise und hinterherhinkender Lohnentwicklung auf nur noch 6 3 % des früheren Niveaus; der Verbrauch an Eiern, Fisch und Zucker halbierte sich. Einzig der Verbrauch an Brot erhöhte sich. Der Selbstversorgungsgrad der Haushalte stieg. Eine große Anzahl an Haushalten in den Baltischen Staaten verfugten über einen Garten oder ein Stück Land, welches sie zum Anbau von Gemüse nutzten. Angesichts der mangelnden Leistungsfähigkeit sozialer Sicherungssysteme wuchs der Familie wieder die Rolle einer Solidargemeinschaft zu. Die Familien rückten zusammen, die Landbevölkerung versorgte Verwandte in den Städten mit Lebensmitteln. Trotz der mengenmäßigen Einschränkung und des hohen Selbstversorgungsgrads mußten die Haushalte einen höheren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel aufwenden, was sich in den Einzelhandelsumsätzen widerspiegelte. Machten Lebensmittel 1990 in Litauen 4 2 % des Gesamtumsatzes im Einzelhandel aus, belief er sich deren Anteil 1993 auf über 60%.

359

Auch in Lettland stieg der Anteil der Lebensmittel am Gesamtumsatz 360

des Einzelhandels auf über 60% an, in Estland auf über 50%. Dieser Trend geht mit einer Verringerung des Anteils an Nicht-Lebensmitteln wie beispielsweise Kosmetikartikel, Textilien und langlebige Konsumgüter wie Radios und Kühlschränke am privaten Verbrauch einher, die eine weitaus größere Einkommens- und Preiselastizität der Nachfrage aufweisen. Von der Verringerung der Realeinkommen waren jedoch nicht alle Wirtschaftssubjekte in gleichen M a ß e n betroffen. Ein weiterer Grund für die sich verändernde Nachfrage ist in dem beginnenden Auseinanderklaffen der Einkommensschere zu suchen. Im Jahr 1991 betrug die maximale Einkommensdifferenz zwischen Haushalten in Estland noch das Drei- bis Vierfache. Der Einkommensunterschied zwischen der niedrigsten und der höchsten Kategorie belief sich dagegen 1993 bereits auf das Zwölffache.

356

361

Wie

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 86.

357

Vgl. Lithuania's Statistics Yearbook 1993, S. 272.

358

In Estland bewirtschafteten über 60 % der Familien ein Stück Land - vgl. Burger und Lenzner(1994, S. 51).

359

Vgl. Lithuania's Statistics Yearbook 1993, S. 264.

360

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 278; Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 247. 361

Vgl. Burger und Lenzner (1994, S. 45 f.); laut Cornelius und Weder (1996, S. 592 ff.) stieg zwischen 1990 und 1991 der Gini-Koeffizient in Estland um 11 %, in Lettland um 17 % und in Litauen um 10 %.

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auch in Lettland und Litauen fielen vor allem die Einkommen der Rentner und Familien mit Kindern sowie der Bezieher staatlicher Transferzahlungen relativ und absolut zurück. Dieser Entwicklung stehen stark steigende Realeinkommen in der Schattenwirtschaft sowie dem expandierendem Dienstleistungsgewerbe wie dem Bankensektor gegenüber. Welche Auswirkungen hatte die sich öffnende Einkommensschere auf die Struktur der Nachfrage? War die Nachfrage zu Sowjetzeiten aufgrund geringerer Einkommensunterschiede und mangelnder Sortimentsvielfalt im Handel weitgehend uniform, so begann sie sich nach der Spreizung der Einkommen und zunehmender Wahlmöglichkeiten im Konsum zu differenzieren. Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen wendeten ihr Geld vornehmlich zur Deckung des täglich Bedarfs auf. Der Ausgabenanteil für Lebensmittel, die primär aus der heimischen Produktion stammten, war hoch. In den höheren Einkommensgruppen stieg die Nachfrage nach westlichen Importprodukten und langlebigen Konsumartikeln. Aus dem Westen importierte Lebensmittel wurden den in der sowjetischen Schlichtheit der Verpackungen sowie der meist schlechten Qualität unveränderten Waren der heimischen Lebensmittelindustrie vorgezogen. Textilien, Femseher, Videorecorder und Stereoanlagen aus westlicher Produktion wurden verstärkt nachgefragt. Importierte Gebraucht- und Neuwagen waren in zunehmendem Ausmaß in Riga und Tallinn anzutreffen. Die Bezieher höherer Einkommen begannen somit bereits in der Kernphase mit neuen Produkten zu experimentieren. Sie konnten es sich leisten, heimische Waren durch westliche Importprodukte zu substituieren. Sie verglichen Substitute nach Qualität, Design und Preis. Dieses Vergleichen und Experimentieren mit neuen Produkten läßt sich als ein Lern- und Suchprozeß beschreiben, in dem die Wirtschaftssubjekte ihre Technologie in der Nutzenproduktion an den erweiterten Handlungsraum anpaßten. Neue Handlungs- und Konsummöglichkeiten sind in ihrer Wirkung auf bestehende Verbrauchsgewohnheiten vergleichbar mit dem technischen Fortschritt in der Güterproduktion. Sie können eine effizientere Faktorkombination erlauben und damit bestehende Theorien über den Einsatz der verschiedenen Waren in der Nutzenproduktion in Frage stellen. Übersteigen die erwarteten Effizienzverbesserungen durch eine Neukombination der Faktoren Zeit und Waren in der Nutzenproduktion die Opportunitätskosten des Experimentierens, dann werden Wirtschaftssubjekte in Such- und Lernprozesse investieren. Eine Verstetigung der Konsumgewohnheiten ist erst zu erwarten, wenn sie konsistente Theorien über den Einsatz der ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen gebildet haben. Durch die Sortimentsbildung im Handel werden demnach

Die Durchschnittsrente ohne Nebenerwerbstätigkeiten betrug beispielsweise in Lettland weniger als die Hälfte des Wertes, der für den minimalen Warenkorb am Subsistenzniveau errechnet wurde - v g l . Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 85. Im Jahr 1994 betrug beispielsweise der Anteil der von Lettland aus den westeuropäischen Industrienationen importierten Lebensmittel, Textilien und Automobile bereits 10 % der Gesamtimporte sowie knapp 26 % der insgesamt aus Westeuropa importierten Güter. Der Importanteil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten an diesen Konsumgütern sank auf knapp über 3 % - vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1995, S. 286 f.

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nicht nur vorhandene Kaufwünsche der Konsumenten aufgedeckt, sondern ein Experimentierprozeß initiiert, in dem völlig neue Theorien über die Eignung verschiedener Konsumgüter in der Nutzenproduktion gebildet werden. Die außenwirtschaftliche Öffnung leitete somit bei denjenigen Konsumenten, denen sich aufgrund ihrer Kaufkraft aus dem vergrößerten Warenangebot neue Handlungsmöglichkeiten eröffneten, einen Prozeß der Entwertung bestehenden Wissens und des Erwerbes neuen Wissens um effiziente Faktorkombinationen in der Nutzenproduktion ein. 4.2.4.

Umsatz-, Kosten- und Gewinnentwicklung im Handel und in der verarbeitenden Industrie

In Estland weist die Entwicklung der Einzelhandelsumsätze in der einjährigen Kernphase bis zur Währungsreform 1992 steil nach unten. Nicht nur der mengenmäßige Absatz langlebiger Konsumgüter wie Radios und Fernseher ging stark zurück, sondern auch von Nahrungsmitteln wie Fleisch, Zucker und Kaffee, deren Preise nach der Freigabe stark angestiegen waren (Halbach 1993, S. 252). Die Talsohle war in Estland allerdings bereits 1992 durchschritten, und die Einzelhandelsumsätze verzeichneten 1993 wieder ein reales Wachstum von über 50% (Burger und Lenzner 1994, S. 37). Der Anteil des Handels am Bruttoinlandsprodukt belief sich 1992 auf 13,5%. In Lettland sanken die Einzelhandelsumsätze bis ins Jahr 1993 und betrugen nur noch ein Drittel des Niveaus von 1990. Erst im Folgejahr weisen sie wieder eine steigende Tendenz auf. Die Summe aus Großhandels- und Einzelhandelsumsätzen sowie den statistisch miterfaßten Reparaturleistungen für Automobile und Haushaltsgüter, deren Anteil jedoch zu vernachlässigen ist, stieg jedoch bereits im Jahr 1993 real über das Voijahresniveau und verzeichnet seitdem einen positiven Wachstumstrend. Das Umsatzwachstum im Großhandel muß 1993 den Rückgang der Einzelhandelsumsätze überkompensiert haben. Dies schlug sich in einem steigenden Beitrag des gesamten Handels am Bruttoinlandsprodukt nieder, welcher von 5,5% im Jahr 1990 auf 11,6% im Jahr 1992 anstieg und in den Folgejahren zwischen 12% und 8,5% schwankte. Litauen verzeichnete eine ähnliche Entwicklung, wobei der Beitrag des Handels zum Bruttoinlandsprodukt zwischen 1992 und 1993 sogar von 4,5% auf 16% stieg.

364 365 366 367

368

Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 29. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 276. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 27. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 26; Der Beitrag des Handels zum BIP wurde hierbei mit Reperaturleistungen von Autos und Konsumgütern zusammengefaßt. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1994-95, S. 159; dieser Anstieg steht im Widerspruch zu dem ausgewiesenen Rückgang der Einzelhandelsumsätze. Ausgehend von dem Basisjahr 1990 fielen laut offizieller Statistik die Einzelhandelsumsätze in Litauen auf 30 % im Jahr 1992 und auf 14 % im Jahr 1993 - vgl. Lithuania's Statistics Yearbook 1993, S. 262. Dieser Rückgang, der stärker gewesen wäre als der des produzierenden Gewerbes und des Bruttoinlandproduktes, scheint wie auch in

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Während die Umsätze im Handel nach starken Rückgängen bereits 1993 wieder ein positives Wachstum verzeichneten, gingen in Lettland die Erlöse in der produzierenden Industrie bis 1996 real weiter zurück. Auch für Estland und Litauen läßt sich festhalten, daß die Umsätze des Handels bereits zu einem Zeitpunkt wieder stiegen, in dem der Einbruch in der produzierenden Industrie noch andauerte. Welche Gründe lassen sich für die vergleichsweise früh einsetzende Erholung des Handels anfuhren? Alle drei Baltischen Staaten konnten im Jahr 1993 die drohende Hyperinflation abwenden und verzeichneten stark sinkende Inflationsraten {IMF 1996, S. 133). Die Reallöhne hatten bereits 1992 ihren Tiefpunkt durchschritten und stiegen wieder im Jahr 1993, was sich positiv auf die Nachfrage nach Konsumgütern und damit auch die Einzelhandelsumsätze auswirkte. Neben der Entwicklung der Realeinkommen sind die zügige Privatisierung im Handel sowie die frühe rechtliche Regelung von Neugründungen zu nennen. Sie schafften die Bedingungen für die Entstehung unternehmerischer Initiative und Wettbewerb im Handel, wovon vor allem der sich herausbildende Großhandel profitierte. Wie entwickelten sich in der Kernphase die Kosten und die Rentabilität im Handel und in der verarbeitenden Industrie? Die Kostenentwicklung in der verarbeitenden Industrie ist durch die eingangs behandelte Verteuerung der Energie- und Rohstoffimporte aus der Russischen Föderation geprägt. Rohstoff- und energieintensive Produktionszweige wurden zunehmend unrentabel. Angesichts der gesunkenen Kaufkraft der Konsumenten sowie einsetzender Konkurrenz durch Importprodukte konnten die drastisch erhöhten Input-Kosten nicht auf die Preise überwälzt werden. Aufgrund der bestehenden Sortimentsflexibilität war der Handel von der sich verschlechternden Kostensituation energie- und rohstoffintensiver Produktionsunternehmen kaum betroffen. Der Handel mit langlebigen Konsumgütern, Textilien und Produkten der Lebensmittelindustrie konnte im Zuge der außenwirtschaftlichen Ö f f n u n g auf günstigere und qualitativ höherwertige Westprodukte ausweichen. Statistische Angaben bezüglich der Gewinnentwicklung sind aufgrund ihres Aggregationsgrades und den methodischen Schwierigkeiten der Erfassung mit Skepsis zu betrachten. Daß sich die ausgewiesenen Gewinne der Betriebe in der Kernphase anLettland überzeichnet, da er im Widerspruch zu dem stark ansteigenden Beitrag des Handels zum Bruttoinlandsprodukt steht. 369 370

371

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 27. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 86; in Estland sanken die Reallöhne 1993 zwar noch, die realen Nettolöhne stiegen jedoch in Folge der Steuerreform um 9 % Bolz (1994, S. 49.). Laut litauischen Statistiken aus dem Jahr 1994 hätte das produzierende Gewerbe trotz starker Produktionsrückgänge im Jahr 1993 eine Kapitalrendite von 53,3 % erzielt, der Handel von 37,7 % - vgl. Lithuania Statistic's Yearbook 1993, S. 78. Die litauische Industriebetriebe hätten zu den rentabelsten der Welt gezählt, was einen eher skeptisch stimmt. Zu anderen Schlußfolgerungen führen einen lettische Zahlen aus dem Jahr 1994. Der akkumulierte Gewinn im Handel hätte das zweieinhalbfache von dem des verarbeitenden Gewerbes betragen - vgl Statistical Yearbook of Latvia 1993, S. 285.

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gesichts hoher Inflationsraten, Währungsreformen, Mängel in der Steuererhebung sowie dem Wandel der Bilanzierungstechniken mit den tatsächlich erwirtschafteten decken, erscheint unwahrscheinlich. Anhand von zwei indirekten Indikatoren läßt sich aber auf die Entwicklung der Rentabilität im Handel und dem produzierenden Gewerbe in der Kernphase schließen. In Kapitel 5.4.2.1. wurde aufgezeigt, daß der Handel im Gegensatz zur verarbeitenden Industrie positive Nettoinvestitionen aufwies. Sie sprechen für vergleichsweise günstige Gewinnerwartungen im Handel. Ein weiteres Indiz für eine positive Gewinnentwicklung im Handel ist in der steigenden Anzahl an Betrieben und Beschäftigten zu sehen, die im vorangegangenen Kapitel diskutiert wurden. Da aufgrund der frühen Privatisierung marktwirtschaftliche Selektionsmechanismen in der Kernphase bereits griffen, läßt sich die steigende Anzahl von Betrieben im Groß- und Einzelhandel auf steigende Gewinne und Gewinnerwartungen zurückfuhren. 4.2.5.

Wettbewerbsintensität und Angebotsreagibilität im Handel und in der verarbeitenden Industrie

4.2.5.1. Die verarbeitende Industrie In der Kernphase blieben die Strukturen in der verarbeitenden Industrie vergleichsweise unverändert. Die Produktionsbetriebe waren noch immer im staatlichen Eigentum und wiesen einen hohen vertikalen und horizontalen Konzentrationsgrad auf. Wettbewerb konnte sich demnach nur in jenen Branchen entfalten, deren Produkte der Konkurrenz westlicher Produkte ausgesetzt waren. Vor allem die Lebensmittel- und Konsumgüterindustrien im höheren Preissegment waren mit steigender Verfügbarkeit westlicher Artikel in den Sortimenten des Handels von Importkonkurrenz betroffen. Konsequenzen für das Warenangebot baltischer Produktionsbetriebe hatte der einsetzende Wettbewerb jedoch in der Regel noch nicht. Die politischen Kontroversen um die einzuschlagende Privatisierungspolitik nährten die Ungewißheit um die zukünftige Neuordnung der Eigentumsverhältnisse. Diese wirkte sich negativ auf die Anreize der in der Regel noch aus Sowjetzeiten stammenden Manager aus, die neugewonnene Autonomie, welche ihnen aufgrund der schwachen Eigentümerkontrolle durch den sich gerade konstituierenden Staat zufiel, zur Restrukturierung ihrer Betriebe zu nutzen. Schmieding (1991, S. 12 f.) unterscheidet zwischen drei wahrscheinlichen Verhaltensstrategien rationaler und eigennütziger Entscheidungsträger: - Attentismus: Ist die Unsicherheit über den weiteren Transformationsverlauf hoch, werden sie in dem Bestreben, ihre herausgehobene Position zu sichern, eine abwartende Haltung einnehmen. Ihr soziales Kapital als Vertreter des alten Systems und ihre Beziehungen zur alten politischen Elite sind noch nicht entwertet. Ist das sowjetische Netzwerk unter den Managern in der Industrie sowie zwischen Managern und den Entscheidungsträgern in der Politik und Verwaltung noch intakt, werden sich die Staatsbetriebe im Falle von Liquiditätsengpässen untereinander Kredite einräumen Angesicht der niedrigeren Kapitalbindung im Handel wäre dessen Kapitalrendite deutlich höher als in der Industrie gewesen.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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sowie für den Erhalt von Subventionen einsetzen. Die Budgetrestriktionen bleiben „weich". Setzen die Betriebsleiter darauf, daß zukünftig Betriebe ohne private Ubernahmechance durch Subventionen als Staatsunternehmen am Leben erhalten werden, können sie ein Interesse daran haben, die Attraktivität ihres Betriebes für private Investoren gering zu halten (Wentzel 1994, S. 150 ff.). Eine Drosselung der Produktion und Lagerhaltung werden den Managern vorteilhafter erscheinen als schmerzhafte Restrukturierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen. - Bereicherung'. Erwarten die Direktoren der Staatsbetriebe, daß sie in naher Zukunft abgelöst werden, ist ihr soziales Kapital als Anhänger des Sowjetsystems entwertet. Investitionen in die Reputation eines marktwirtschaftlich orientierten Managers und Sanierers sind angesichts der Ablösungsperspektiven nicht attraktiv. Nehmen staatliche Organisationen ihre Kontrollrechte als Eigentümer nur unzureichend war, dann haben die Direktoren einen Anreiz, sich durch spontane Privatisierung oder durch Diebstahl Teile des von ihnen verwalteten Betriebsvermögens anzueignen und diese gewinnbringend zu restrukturieren oder aufzulösen. - Empfehlung als Sanierer: Besteht Grund zu der Annahme, daß die Betriebsdirektoren auch nach der Privatisierung der Staatsbetriebe eine herausgehobene Managementaufgabe wahrnehmen können, werden die Manager bestrebt sein, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten als marktorientierte Sanierer zu profilieren. Erste Restrukturierungsmaßnahmen können in diesem Fall schon vor Beginn des Privatisierungsverfahrens eingeleitet werden. Angesichts der Ungewißheit über das letztlich verfolgte Privatisierungsverfahren sowie über den angestrebten Umfang der Privatisierung waren die zukünftigen Eigentumsverhältnisse in der Industrie in allen drei Baltischen Staaten nicht absehbar. Es ist in der Kernphase davon auszugehen, daß die erste Strategie im Nutzenkalkül der Manager dominierte. So deuten die in Litauen und Lettland steigenden Vorrats- und Lagerinvestitionen, die in allen drei Baltischen Staaten sinkenden Produktionszahlen bei weiterhin hoher ausgewiesener Beschäftigung sowie die zwischen den Betrieben anwachsenden Verbindlichkeiten darauf hin, daß unter den Managern der Attentismus über372

wog. Nach dem Anlaufen der „großen Privatisierung" in den Jahren 1993 und 1994 verschob sich je nach Konsequenz der Privatisierungspolitik die Vorteilhaftigkeit der beschriebenen Strategien. Die abwartende Haltung verlor angesichts eines sich verlängernden Erwartungshorizontes ihre strategische Überlegenheit. Der Aufbau einer Reputation als anpassungsfähiger und -williger Manager wurde um so vorteilhafter, je konsequenter und transparenter die eingeschlagene Privatisierungspolitik war. Je dezentralisierter die Privatisierungskompetenzen zugeordnet waren und je intransparenter dagegen das gewählte Privatisierungsverfahren war, desto mehr wurde die spontane Privatisierung und der Diebstahl begünstigt. So war die widerrechtliche beziehungsweise halblegale Aneignung staatlichen Eigentums in Lettland und Litauen in der Kernphase vergleichsweise risikolos. Die Kontrolle durch die jeweiligen Branchenministerien war nur wenig effektiv; Beamte der Branchenministerien profitierten zum Teil 372

Vgl. IMF (1995, S. 18). Occasional Paper 133.

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selber von der spontanen Privatisierung staatlicher Betriebe.373 Estland gelang es dagegen bereits im Jahr 1993 durch die frühzeitige Zentralisierung der Privatisierungskompetenzen nach dem Vorbild der deutschen Treuhandanstalt sowie durch transparente Privatisierungsverfahren, spontane Privatisierungen und Diebstahl einzudämmen. Es bleibt festzuhalten, daß es für die Betriebsdirektoren rational war, Restrukturierungsmaßnahmen so lange zu verzögern, bis sie über hinreichend große Erwartungssicherheit bezüglich der zukünftigen Karriereaussichten und Eigentumsverhältnisse verfugten. Durch den schleppenden Beginn der „großen Privatisierung" in den Jahren 1993 und 1994 war es demnach vorteilhaft, eine abwartende Strategie zu verfolgen. Investitionen in den Erwerb von Wissen um effizientere Fertigungsmethoden, um ein nachfragegerechteres Produktprogramm sowie verbesserter Produktgestaltung und -qualität unterblieben tendenziell ebenso wie Investitionen in den Kapitalstock. Die im produzierenden Gewerbe hergestellten Produkte und Sortimente blieben in der Kernphase weitgehend unverändert, die Intensität des Wettbewerbs zwischen den Staatsbetrieben war gering. 4.2.5.2. Der Handel Ganz anders als in der verarbeitenden Industrie verlief in allen drei Baltischen Staaten die Entwicklung im Handel. Attentismus war keine rationale Strategie. Eine Vielzahl an Untemehmensgründungen im Groß- und Einzelhandel sowie der frühe Beginn der Kleinen Privatisierung legten die Basis für unternehmerische Initiative und begründeten einen Innovationswettbewerb um nachfragegerechte Sortimente und Transaktionskosten verringernde Absatz- und Beschaffungswege. Horizontale und vertikale Wettbewerbsbeziehungen konnten sich in Groß- und Einzelhandel entwickeln. Der Absatzkanal des ehemals verschlossenen sowjetischen Handels öffnete sich für neue Produkte. Dadurch, daß Handelsbetriebe frei über ihre Sortimente disponieren und mit der Aufnahme westlicher Produkte experimentierten konnten, nahm die Sortimentsvielfalt im Handel zu. Die Reagibilität des Warenangebotes im Handel erhöhte sich. Überwog im produzierenden Gewerbe noch der Attentismus, so waren im Handel bereits in der Kernphase wettbewerbliche Such- und Lernprozesse aktiviert. Lassen sich wirtschaftshistorische Muster für die Entstehung wettbewerblicher Strukturen im Handel in Folge eines Gründungsbooms mit anschließender Differenzierung der Sortimente und Angebotstypen feststellen? W. Sombart (1913, S. 156 ff.) erläutert anhand des Londoner Seidenhandels in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Ursachen und Konsequenzen der Herausbildung eines „kapitalistischen Handels". Sombarts Bild des „kapitalistischen Handels" beschreibt Handelsbetriebe, die in einem

So wird dem ehemaligen lettischen Premierminister Skele öffentlich vorgeworfen, in seinen Funktionen als stellvertretender Landwirtschaftsminister und Direktor der Privatisierungsagentur mehrere Millionen Dollar an G24-Krediten veruntreut zu haben und verschiedene unter seiner Aufsicht stehende Lebensmittel herstellende Betriebe zu seinen Gunsten privatisiert zu haben - vgl. The Baltic Observer, December 21-27, 1995, S. 1.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

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Innovationswettbewerb um Transaktionskosten sparende Absatz- und Beschaffungswege sowie um Verbundeffekte generierende Sortimentszusammenstellungen stehen. Durch den steigenden Wohlstand des gehobenen Bürgertums stieg die Nachfrage nach Seide. Das wachsende Volumen des Seidenhandels zog neue Anbieter nach, die sich auch an anderen Standorten niederließen. Konzentrierte sich der Londoner Seidenhandel seit dem Mittelalter auf 50 bis 60 Betriebe in Covent Garden, so wuchs deren Zahl innerhalb weniger Jahrzehnte auf 300 bis 400, welche sich auf mehrere Standorte verteilten. Durch die wachsende Anzahl an Betrieben im Seidenhandel und deren neue Standorte „...wurde die Notwendigkeit erzeugt, den Konkurrenzkampf aufzunehmen, die zweckmäßigsten Methoden zur Herbeiholung der Kunden auszusinnen und anzuwenden. Und das bedeutete eben den Einzug des kapitalistischen Geistes" (Sombart 1913, S. 156 ff.). Die zunehmende Wettbewerbsintensität im Handel hatte zur Folge, daß sich einzelne Betriebe auf den Groß- oder Einzelhandel spezialisierten und ihr Angebot differenzierten. Ladeninhaber begannen, „...ihre Läden eleganter auszustatten". Es bildete sich aus dem „alten Branchengeschäft" im Seidenhandel der „moderne" Handelsbetrieb heraus, „...in dem die Waren nach Bedarfszweck zusammengestellt sind" (Sombart 1913, S. 157 f.). Zunehmender Wettbewerb im Handel mit Seide setzte einen dynamischen Prozeß in Gang, an dessen Ende der Einzel- und Großhandel mit Textilien aller Art und nach Marktsegmente differenzierten Sortimenten stand. Auch im Zuge der Industrialisierung kam es in Deutschland zu weitgehenden Veränderungen der Angebotsstrukturen im Handel. Der Deutsche Zollverein und die verkehrstechnische Erschließung Deutschlands durch die Eisenbahn und Dampfschiffahrt senkten das Transaktionskostenniveau. Aufgrund des sich verringernden Selbstversorgungsgrads der vom Land in die Städte ziehenden Menschen erhöhte sich die Nachfrage nach Handelsleistungen. Immer mehr Güter des täglichen Bedarfs wurden nicht mehr selbst erzeugt oder direkt vom Handwerker bezogen, sondern vom Handel. Der Wanderhandel sowie die Messen und Märkte wurde von niedergelassenen Ladengeschäften abgelöst. Die Anzahl an Handelsbetrieben wuchs in Preußen zwischen 1835 und 1873 von 9,5 Handelsbetrieben je eintausend Einwohner auf über 15. Im dichter besiedelten Sachsen waren es 1870 bereits über 25 Betriebe je eintausend Einwohner, vor dem I. Weltkrieg über 50 (Henning 1989, S. 177 f., S. 254). Zudem wurden in der zweiten Jahrhunderhälfte zahlreiche Konsumvereine und -genossenschaften sowie die ersten Kaufhäuser gegründet. Vor allem in den Städten entfalteten sich intensive Wettbewerbsbeziehungen im Handel, welche eine zunehmende Differenzierung der Sortimente und der Angebotstypen zur Folge hatten. Inwieweit lassen sich das von Sombart gegebene Beispiel des englischen Seidenhandels und die Entwicklung des Handels in Deutschland im 19. Jahrhundert auf die Baltischen Staaten übertragen? Primär unterscheiden sich die skizzierten Entwicklungen in der Länge des Betrachtungszeitraums. Während die strukturellen Veränderungen im englischen Seidenhandel und dem deutschen Binnenhandel mehrere Jahrzehnte in Anspruch nahmen, betrug die Kernphase in den Baltischen Staaten zwischen einem und drei Jahren. Die Angebots- und Betriebstypen im Handel der Baltischen Staaten wandelten sich nicht im Zuge stetiger sozio-ökonomischer Veränderungen, sondern

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aufgrund des Zusammenbruchs der sowjetischen Zentralverwaltungswirtschaft. Diese hatte wettbewerbliche Anpassungsprozesse und Transaktionskosten senkende Innovationen im Handel unterdrückt. Das Wegfallen der Zentralplanung, die Lückenhaftigkeit des sowjetischen Handelsnetzes sowie die erweiterten Konsummöglichkeiten im Zuge der außenwirtschaftlichen Öffnung und die sich spreizenden Einkommen eröffneten eine Koordinationslücke im Wirtschaftsprozeß. Die Nachfrage nach Handelsleistungen stieg sprunghaft an und entfaltete eine Sogwirkung auf die Bereitstellung nachfragegerechter Sortimente im Handel. Nachdem die privatrechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen waren, kam es trotz der anfangs insgesamt sinkenden Kaufkraft es zu einem „Gründerboom" im Handel. Von Interesse ist, daß Sombart den „Einzug des kapitalistischen Geistes" auf die Intensivierung des Wettbewerbes zwischen den Handelsbetrieben zurückfuhrt. In den Baltischen Staaten hat dieser Prozeß eine besondere Dynamik entfaltet. Waren Handelsbetriebe in der Sowjetunion reine Warenverteiler, so mußten sie bereits in der Kernphase aufgrund steigenden Wettbewerbs ihre Sortimente vermarkten, was einen „kapitalistischen Geist" beziehungsweise unternehmerische Initiative voraussetzt. Zunehmender Wettbewerbsdruck machte es für Handelsbetriebe erforderlich, Nachfrage durch Sortiments- und Preisgestaltung sowie eine kundengerechte Warenpräsentation und geeignete Werbemaßnahmen auf sich zu ziehen. Die Reagibilität der Sortimente im Handel und damit des Warenangebots stieg. Die einsetzenden Such- und Experimentierprozesse im Handel wirkten auf die zuvor beschriebene Differenzierung des Warenangebotes hin. 4.3. 4.3.1.

Handel und verarbeitende Industrie in der Lern- und

Stabilisierungsphase

Investitionen im Handel und der verarbeitenden Industrie

4.3.1.1. Das Investitionsklima Wie veränderte sich in der Lern- und Stabilisierungsphase das Investitionsklima? In allen drei Baltischen Staaten konsolidierte sich der institutionelle Wandel. Neue Regierungen kamen durch allgemeine und freie Wahlen an die Macht, ohne daß es zu rückwärtsgewandten Korrekturen in der Transformationspolitik kam. Die politischen Systeme erwiesen sich als stabil genug, Korruptionsskandale, Bankenkrisen und Minderheitenregierungen zu überdauern. Das Vertrauen in die Stabilität der neugeschaffenen politischen Institutionen und die Erreichbarkeit der Transformationsziele wuchs. Die Entpolitisierung der Geld- und Währungspolitik durch die jeweiligen institutionellen Arrangements sowie die Einhaltung der IMF-Vorgaben seitens der Fiskalpolitik erlaubte eine vergleichsweise konsequente makroökonomische Stabilisierung. Die Inflationserwartungen sanken. Die Bankenkrisen und die daraufhin verschärfte Bankenaufsicht hatten eine Konsolidierung der jeweiligen Bankensektoren zur Folge. Die Ungewißheit der Betriebe über die zukünftigen Eigentumsverhältnisse verringerte sich, nachdem sich alle drei Staaten an dem deutschen Treuhandmodell orientierten und hierdurch Tempo und Transparenz des Privatisierungsprozesses erhöht wurden. Die

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

Beschleunigung des Privatisierungsprozesses trieb die Restrukturierung in den Betrieben voran und forderte die Entwicklung der Kapitalmärkte. Die zunehmende ökonomische Stabilität und der erweiterte Planungshorizont der Wirtschaftssubjekte drücken sich in der rückläufigen Zinsentwicklung sowie in den längeren Laufzeiten vergebener Bankkredite aus. Estland weist nach der Einfuhrung des Currency Boards einen deutlich niedrigeren Risikoaufschlag für seine Währung und damit auch niedrigere Zinsen auf als die anderen beiden Baltischen Staaten (IMF 1995, S. 14). Die Kreditzinsen sanken von 27,3% im Jahr 1993 auf durchschnittlich 13,7% im Jahr 1996 {EIU 1997-1998, S. 26). Nachdem sich die Zinsen im Jahr 1997 auf bis zu 10% verringert hatten, stiegen sie nach der Asienkrise aufgrund des anhaltenden Abfließens ausländischen Kapitals bis zum Sommer 1998 wieder auf um die 18%. Der Anteil von Krediten mit einer Laufzeit von über einem Jahr betrug bereits Ende 1994 über 30% {Korhonen 1998, S. 70). Der Zugang zu Krediten wurde angesichts der höheren Bankenliquidität sowie des sich intensivierenden Wettbewerbs zwischen den Banken erleichtert. Das Gesamtvolumen an Unternehmenskrediten verdoppelte sich im Jahr 1997 374

auf 4,2 Milliarden Kronen im Vergleich zu 1996. Auch in Litauen kam es nach der Etablierung des Currency Boards im Jahr 1994 zu einer vergleichbaren Entwicklung des Zinsniveaus und zu einer Verschiebung der Fälligkeitsstruktur vergebener Kredite. stetig von durchschnittlich 64% im Jahr 1994 auf Die kurzfristigen Kreditzinsen sanken 376 unter 15% im ersten Quartal 1998. In Lettland betrugen die Zinssätze für kurzfristige Kredite zu Beginn der Lern- und Stabilisierungsphase im Frühjahr 1993 noch über 100%. Im Herbst 1997 sanken sowohl die Zinssätze für kurzfristige Lats-Kredite als auch für Kredite in Fremdwährungen auf deutlich unter 15%, wo sie auch im ersten Quartal 1998 verharrten. Das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Stabilität des Lats wuchs. Im Juni 1996 war das Volumen an langfristigen Dollar- und DM-Krediten doppelt so groß wie das Volumen an Krediten, welche auf lettische Lats liefen. Hieraus läßt sich ablesen, daß ein hoher Anteil der

374

Vgl. Bank of Estonia Bulletin No. 2, 1998, S. 6.

375

Vgl. Korhonen (1998, S. 62 ff.); die Glaubwürdigkeit der Stabilisierungspolitik stieg sprunghaft an, was sich nicht nur in der Höhe der Kreditzinsen, sondern auch in dem verringerten Risikozuschlag für Anlagen in Litas manifestierte: „Measured by the differential between domestic and foreign currency deposit rates, the exchange rate risk premium declined steeply from some 40 % in March, that is, one month before the adoption of the currency board, to only 6 % percent in October, indicating a strong improvement of confidence in the Lithuanian currency" - IMF (1995b, S. 15). 376

Vgl. EIU 1997-1998, S. 91 sowie Bank of Lithuania, Interest rates on Loans, Statistical Datasheet, 1998. 377

Vgl. Bolz und Polkowski 1998, Table 13. 378

(1998, S. 30 f.) sowie Bank of Estonia, Statistical Datasheets,

Vgl. Gulanis und Praude (1998, S. 147); vor allem Handelsbetriebe nahmen Kredite in Fremdwährungen auf, um für die steigenden Importe aus dem westlichen Ausland aufzukommen.

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Schuldner nicht mit einer Abwertung des Alts rechnete, welche die Tilgungszahlungen - in heimischer Währung gerechnet - und damit die Kreditkosten erhöht hätte. Auch der Verlauf der kurz- und langfristigen Zinsen könnte dahingehend interpretiert werden, daß die Märkte schon 1993 Vertrauen in die neue Währung gefaßt und positive Erwartungen bezüglich der zukünftigen Stabilität des Lats gebildet hatten. Die bis ins Jahr 1997 invers verlaufende Zinsstruktur läßt sich auf erwartete Zinssenkungen zurückfuhren. In der Annahme, daß die Zinsen sinken werden, fragen die Wirtschaftssubjekte weniger langfristige Kredite nach als angeboten werden. Potentielle Schuldner erwarten, einen langfristigen Kredit zu einem späteren Zeitpunkt zu deutlich besseren Konditionen aufnehmen zu können. Sie werden tendenziell kurzfristige Kredite nachfragen. Die Zinsen für kurzfristige Kredite sind höher als für langfristige. Beide näherten sich jedoch bis 1997 weitgehend aneinander an, was dafür spricht, daß die Wirtschaftssubjekte keine Zinsänderungen mehr erwarteten. Das beschriebene Erklärungsmuster deckt sich mit der Fälligkeitsstruktur der von Banken vergebenen Kredite. Betrug im Jahr 1993 der Anteil an Krediten mit einer Fälligkeit bis zu einem Jahr noch 84% aller von den Banken vergebenen Kredite, so sank bis 1996 dieser Anteil im Zuge der sich begradigenden Zinsstruktur auf 55,5% (Korhonen 1998, S. 56 f.). Demnach hatten im Jahr 1996 annähernd die Hälfte aller vergebenen Kredite eine Laufzeit von über einem Jahr. Nimmt man die Entwicklung der Zinsen und die Fälligkeitsstruktur vergebener Bankkredite als Indikator für die politische und ökonomische Stabilisierung im Transformationsprozeß, dann hat sich der Grad an Unsicherheit seitens der Wirtschaftssubjekte in allen drei Baltischen Staaten seit der jeweiligen Währungsreform nachhaltig verringert. Die Bereitschaft der Banken, langfristige Kredite zu vergeben, war in allen drei Baltischen Staaten nach den jeweiligen Währungsreformen gewachsen. Hierzu trug die Verringerung der Kreditrisiken, die Verbreitung von internationalen Bilanzierungsstandards, das verbesserte Risikomanagement sowie der wachsende Wettbewerb unter Banken bei. Innovative Finanzprodukte des sich vor allem in Estland und Lettland schnell entwickelnden Bankensektors erleichterten die Finanzierung von Investitionen. Leasing-Unternehmen, welche mehrheitlich Töchterunternehmen von Banken sind, verzeichneten in Estland im Jahr 1997 durchschnittlich eine Verdreifachung ihrer Bilanzsummen. Alle großen Banken in Estland und Lettland sowie die Leasing-Unternehmen bieten mittlerweile Factoring als Dienstleistung an. Die langfristige Finanzierung von Investitionsobjekten im Rahmen von Leasing- und Factoring-Verträgen trägt zur Überwindung vorherrschender Liquiditätsengpässe seitens der Unternehmen und privaten Haushalte bei. 4.3.1.2. Das Investitionsvolumen Welchen Effekt hatte die sich verändernden ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen auf die Investitionen in den Baltischen Staaten? Im folgenden werden die 379

380

Vgl. Ministry of Economy of the Republic of Latvia, June 1998, S. 53. Vgl. The Baltic Times, July 23-29, 1998, S. 13.

197

Systemtransfoimationen als evolutorischer Prozeß

Höhe der realen Bruttoinvestitionen, der Nettoinvestitionen sowie der ausländischen Direktinvestitionen nacheinander für (a.) Estland, (b.) Lettland und (c.) Litauen behandelt. In (a.) Estland hatte die Investitionscjuote im Jahr 1993 bereits wieder 26,4% betragen und stieg auf 28,6% im Jahr 1994. In absoluten Zahlen hatten sich im Jahr 1993 die Investitionen im Vergleich zum Voijahr verdoppelt (Burger und Lenzner 1994, S. 38). Bis 1997 stabilisierte sich die Investitionsquote bei knapp 27% des Bruttoinlandsproduktes. Im Jahr 1997 verzeichnete das Investitionsvolumen einen erneuten Wachstumsschub. In den ersten drei Quartalen erhöhten sich allein die Anlageinvestitionen auf knapp 26% des Bruttoinlandsproduktes mit weiter steigender Tendenz. Der Einbruch der Investitionen erstreckte sich demnach in Estland nur über einen Zeitraum von knapp zwei Jahren. Während der rückläufige Trend in den übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion weiter anhielt, überstiegen die realen Investitionen in Estland bereits im Jahr 1994 das Investitionsvolumen zu Sowjetzeiten im Jahr 1990 (IMF 1995, S. 32). Angesichts der Höhe der Investitionen sowie der wieder steigenden industriellen Produktion ist realistischerweise seit den Jahren 1994/1995 von positiven und steigenden Nettoinvestitionen auszugehen, auch wenn die statistischen Angaben die Höhe der Abschreibungen auf den Kapitalstock mit um die 5% eher zu gering ausgeben. Wer investierte in Estland? Im Jahr 1996 wurden annähernd 70% des gesamten In385

vestitionsvolumens von estnischen Unternehmen getätigt. Ausländische Direktinvestoren hatten einen wesentlichen Anteil an dem Anstieg der Investitionen seit 1993. Begünstigt durch die konsequente Liberalisierungspolitik und die gewählte Privatisierungsmethode konnte Estland bis Ende 1995 kumulierte Direktinvestitionen in Höhe von 646 Millionen US-Dollar auf sich ziehen. Dies entsprach einem Anteil von knapp 15% des Bruttoinlandproduktes des Jahres 1994, der unter den mittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten nur in Ungarn höher war (Weltbank 1996, S. 78). Im Au-

381

Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 30; während die vom Statistischen Amt Estlands ermittelten Investitionsquoten für die Jahre 1993 und 1994 weitgehend mit den Angaben des IMF übereinstimmen, bestehen große Differenzen für das Jahr 1992. Der IMF wies eine Quote von 13,6 % aus, welche durch den Lagerabbau an Halb- und Fertigwaren zustande kam - vgl. IMF (1995, S. 32 f.). Die Investitionsquote hätte sich demnach im Jahr 1993 um zehn Prozentpunkte erhöht. Das Statistische Amt Estlands weist dagegen für das Jahr 1992 vergleichbar hohe Anlageinvestitionen wie der IMF, aber auch positive Lagerinvestitionen aus und errechnet eine Investitionsquote von 26,7 %. Demnach hätten die Betriebe auch in den Folgejahren ihre ohnehin schon hohen Lagerbestände weiter aufgestockt. Da in Estland die Betriebe bereits 1993 mit harten Budgetbeschränkungen konfrontiert waren, erscheinen die Angaben des IMF, die von einem Lagerabbau ausgehen, plausibler. 382 383 384 385

Vgl. Bank of Estonia Bulletin No. 4, 1997, S. 37. Vgl. Bank of Estonia Bulletin No. 2, 1998, S. 5. Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 36 ff. Vgl. Bank of Estonia Bulletin No. 4, 1997, S. 37.

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gust 1996 hatte jedes achte estnische Unternehmen einen ausländischen Teilhaber oder Alleineigentümer. Auf finnische Firmen entfiel mit 34,5% das größte Volumen an ausländischen Direktinvestitionen, gefolgt von Schweden mit 24,2% und Rußland mit 6,3% {Lenger 1997, S. 24). Im Jahr 1996 verringerten sich die ausländischen Direktinvestitionen um 28%, stiegen aber im Folgejahr wieder auf 259 Milliarden US-Dollar an. Angesichts des fortgeschrittenen Stadiums der Privatisierung deutet dieser Wiederanstieg darauf hin, daß es zu einer größeren Zahl an Neugründungen durch ausländische Investoren kam. In (b.) Lettland belief sich die Summe der Brutto-Investitionen im Jahr 1993 auf nur 387

noch 19% des Investitionsvolumens von 1990. Die Investitionsquote war nach Angaben des IMF auf 13% gesunken; laut lettischen Statistiken belief sie sich sogar auf nur noch 9%. In den Folgejahren erhöhte sie sich sowohl laut IMF als auch nach offiziellen 388 lettischen Statistiken auf zwischen 15% und 20% des Bruttoinlandsproduktes. Sie blieb somit weit hinter der estnischen Investitionsquote zurück. Nach dem langsamen Wiederansteigen der realen Brutto-Investitionen mit einer Rate von unter 10% in den Jahren 1994 und 1995 kam es 1996 - ausgehend von einem niedrigen Niveau - zu einem deutlichen Sprung von 55%, der vor allem auf die Korrektur der bisher verfolgten Privatisierungspolitik zurückzufuhren ist. Die Übernahme des deutschen und estnischen Treuhandmodells beschleunigte die „große Privatisierung". Die Restrukturierung der Betriebe wurde vorangetrieben. Trotz stark steigender Brutto-Investitionen geht das lettische Wirtschaftsministerium davon aus, daß die Nettoinvestitionen im Jahr 1996 nicht gestiegen sind. Die Restrukturierung der Betriebe durch die neuen Eigentümer hatte nicht nur Investitionen in den Kapitalstock zur Folge, sondern auch erhöhte Wertberichtigungen, die bisher aufgeschoben worden waren. Substantielle Teile des Anlagekapitals wurden auf null abgeschrieben und durch Neuinvestitionen substituiert. Im Bereich der Telekommunikation und des Transport machten beispielsweise Ende 1996 die im Laufe des Jahres investierten Kapitalgüter über 40% des Anlagekapitals aus, was auf den forcierten Ausbau der Häfen in Ventspils und Riga sowie des Telefonnetzes durch die an ein Konsortium von British Cable & Wireless und die Finnische Telekom 390

privatisierte Lattelecom zurückzufuhren ist. Dies war das bis dato größte Engagement ausländischer Investoren in Lettland. Bis Ende 1995 konnte es jedoch mit 323 Mio USDollar nur etwas mehr als die Hälfte der insgesamt nach Estland geflossenen ausländischen Direktinvestitionen auf sich ziehen (Weltbank 1996, S. 78). 386 387 388

389 390

Vgl. Bank of Estonia Bulletin No. 4, 1997, S. 37 f. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 232. Vgl. IMF (1995, S. 33), Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 28 sowie Report ofthe Ministry of Economy of Latvia, June 1997, S. 28. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 232. Die Investitionen in den Transport- und Telekommunikationsbereich beliefen sich 1995 auf 35,6 % und stiegen 1996 auf knapp 43 % der Gesamtinvestitionen an. Beide Branchen zogen in den zwei Jahren über 60 % der ausländischen Direktinvestitionen auf sich - vgl. Report of the Ministry of Economy of Latvia, June 1997, S. 29.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

199

Erst nachdem die politische Krise im Jahr 1995 überwunden war und die Regierung Skele der Verbesserung der Rahmenbedingungen sowie der beschleunigten Privatisierung eine hohe Priorität eingeräumt hatte, stieg das Volumen ausländischer Direktin391

vestitionen. Bedeutendste Herkunftsländer für Auslandsinvestitionen waren bis 1997 Dänemark mit einem kumulierten Anteil von 27%, die U S A mit 15% sowie Rußland und Großbritannien mit jeweils 13%. Aus Deutschland stammen 7% der Auslandsin392 vestitionen. Im Jahr 1996 wies Lettland nach Ungarn, Tschechien und Slowenien die viertgrößten Auslandsinvestitionen per capita auf und lag damit erstmals vor Estland, welches allerdings sein Privatisierungsprogramm schon weitgehend abgeschlossen 393 hatte.

Im Jahr 1997 erhöhte sich der Zustrom an ausländischen Direktinvestitionen

noch einmal um 10%. Auch in (c.) Litauen durchliefen die Bruttoinvestitionen ihren Tiefpunkt im Jahr 1993. Die Investionsquote sank auf 16% des Bruttoinlandproduktes, die realen Bruttoinvestitionen beliefen sich auf nur noch 24% ihres Niveaus von 1990 ( I M F 1995, S. 32 f.). Ausgehend von diesem niedrigen Niveau stiegen sie bis 1997 um zwischen 14% und 18% pro Jahr. Die Investitionsquote stabilisierte sich auf knapp über 20%. Die Nettoinvestitionen waren 1994 noch deutlich negativ, worin die Entwertung des bestehenden Kapitalstocks zum Ausdruck kommt. Für 1994 betrug laut litauischen Statistiken die durchschnittliche Abschreibungsrate über alle Branchen und Sektoren hin396

weg annähernd 35%, die Bruttoinvestitionen beliefen sich jedoch nur auf 13% des 397 Kapitalstocks zu Beginn der Periode. Angesichts des vergleichsweise niedrigen

So sprach das Wirtschaftsministerium die institutionellen und politischen Defizite erstmals 1996 selbstkritisch an: „A bigger inflow of capital is delayed by often changes in legislation, unsettled property ownership, lack of credibility caused by insolvency of commercial banks and slow normalization of relations with Russia" Report of the Ministry of Economy of Latvia, June 1996, S. 37. 392 393 394 395

396 397

Vgl. Report of the Ministry of Economy of Latvia, June 1997, S. 35. Vgl. Report of the Ministry of Economy of Latvia, June 1997, S. 33. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 339. Vgl. Main Macroeconomic Indicators of Lithuania 1997, S. 52.; allerdings erscheint Skepsis bezüglich der Korrektheit der litauischen Angaben gerechtfertigt. Entgegen den Angaben des IMF wird davon ausgegangen, daß es bereits 1992 zu negativen Lagerinvestitionen gekommen ist, während die Anlageinvestitionen über den gesamten Betrachtungszeitraum hinweg über 20 % des Bruttoinlandproduktes betragen haben sollen. Der IMF betonte jedoch, daß es in Litauen mangels harter Budgetbeschränkungen in der Kernphase weder zu einem Rückgang der hohen Lagerinvestitionen noch zu umfassenden Restrukturierungsmaßnahmen gekommen sei - siehe IMF (1995b, S. 32). Das anhaltend geringe Wirtschaftswachstum bis 1997 sowie der schleppende Verlauf der Großen Privatisierung scheinen die Zahlen des IMF zu stützen. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1994-95, S. 161. Vgl. Main Macroeconomic Indicators of Lithuania 1997, S. 51 sowie Statistical Yearbook of Lithuania 1994-95, S. 161.

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Wachstums der Bruttoinvestitionen in den Folgejahren wurde der Kapitalstock in Litauen deutlich langsamer durch neue Anlageinvestitionen substituiert als in Estland und auch in Lettland. Dies ist auf die schleppend verlaufende „große Privatisierung" zurückzuführen ist. Betrug der Anteil der staatlichen Investitionen an dem gesamten Investitionsvolumen 398

im Jahr 1994 noch 60%, so sank er bis 1997 auf unter 30%. Die Ressourcenallokation lag somit sechs Jahre nach Auflösung der zentralen sowjetischen Investionsplanung überwiegend in privaten Händen. Anders als in Estland wurde dieser Verschiebungsprozeß jedoch nicht wesentlich durch den Zufluß ausländischer Direktinvestitioan den Gesamtinvestitionen unterstützt. Der Anteil ausländischer Direktinvestitionen 399 nen belief sich 1994 auf nur 2 % und stieg bis 1997 auf 7,8%. Bis 1996 hatte Litauen nur 12% des estnischen Volumens an ausländischen Direktinvestitionen auf sich ziehen können und lag mit kumulierten Zuflüssen von nur 73 Mio US-Dollar 400 in einer von der Weltbank aufgestellten Rangliste sogar hinter der Republik Moldau. Den mangelnden Erfolg Litauens im Wettbewerb um ausländisches Kapital belegt auch eine von Borrmann und Plötz angeführte Studie der Europäischen Entwicklungsbank (EBRD). In dem Zeitraum 1989-1996 beliefen sich die kumulierten Auslandsinvestitionen pro Kopf auf 76 US-Dollar. Angeführt wird die Rangliste von Ungarn mit 1.300 US-Dollar. Während Estland mit 477 US-Dollar zur Spitzengruppe und Lettland mit 258 US-Dollar zum Mittelfeld zählen, liegen nur noch Rumänien, Rußland, die Ukraine und Weißrußland hinter Litauen {Borrmann und Plötz 1998, S. 34). U m gegenüber den anderen beiden Baltischen Staaten zumindest aufzuschließen, ist die 1996 an die Macht gekommene Regierung Vagnorius bestrebt, rechtliche Hindernisse zu beseitigen und der Privatisierung - auch von zuvor ausgenommenen „strategischen Unternehmen" - zu beschleunigen. 4.3.1.3. Die Struktur der Investitionen Wie verteilten sich in den Baltischen Staaten die steigenden Investitionen auf den Handel und das produzierende Gewerbe? Im folgenden werden die Verteilung der Investitionen auf den Handel und die verarbeitende Industrie sowie die Struktur der Anlageinvestitionen für (a.) Estland, (b.) Lettland und (c.) Litauen wiederum nacheinander behandelt.

398 399 400

Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 339. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 340. Siehe Weltbank (1996), S. 78; zwar weisen andere Quellen ein höheres Volumen an ausländischen Direktinvestitionen aus, aber es liegt absolut gesehen noch immer deutlich hinter dem estnischen Niveau - vgl. Borrmann und Plötz (1998, S. 34).; bedeutendstes Herkunftsland ausländischer Direktinvestitionen ist Deutschland gefolgt von den USA, Schweden, Rußland und Dänemark - vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 346.

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

Im Jahr 1993 betrugen in (a.) Estland die Anlageinvestitionen in der verarbeitenden Industrie 976,1 Mio. Kronen, welches einen Anteil von 2 2 % an den gesamten Anlageinvestitionen ausmachte. Nach dem Transport- und Kommunikationsbereich, der Energie- und Wasserversorgung sowie den öffentlichen Investitionen belegte der Handel mit 330,5 Mio. Kronen und einem Anteil von 7,5% den fünften Platz. Im Folgejahr sank der relative Anteil der Anlageinvestitionen in der verarbeitenden Industrie trotz des in absoluten Zahlen deutlichen Anstiegs auf 21%, während der Anteil des Handels auf knapp über 10% wuchs. Dieser Trend setzte sich fort. Im Jahr 1996 betrug das Volumen der Anlageinvestitionen in der verarbeitenden Industrie 2.405,2 Mio. Kronen, was einen Anteil von annähernd 20% an den gesamten Anlageinvestitionen ausmachte. Die Anlageinvestitionen im Handel stiegen auf 1.469,5 Mio. Kronen und damit auf einen Anteil von 12% . Da vor allem der öffentliche Bereich für ausländische Investoren verschlossen beziehungsweise kaum attraktiv war, ergibt sich bei den ausländischen Direktinvestitionen eine andere Aufteilung der Investitionen zwischen Handel und verarbeitender Industrie. Bis Ende 1996 belief sich der Anteil der verarbeitenden Industrie an den ausländischen Direktinvestitionen auf knapp 4 5 % und der des Handels auf über 25% {Lenger 1997, S. 25). Welche Struktur wiesen die Anlageinvestitionen auf? Im Jahr 1996 entfielen ein Drittel der gesamten Investitionen auf den Bausektor und annähernd 45% auf Maschinen und Ausrüstungen. Im produzierenden Gewerbe belief sich der Anteil an Ausgaben für Maschinen und Ausrüstungen auf 53% der gesamten Realinvestitionen (Fritsche und Lösch 1998, S.18). Ausgehend von einem niedrigen Niveau weist vor allem die estnische Textil-, Holz- und Papierindustrie ein steigendes Investitionsvolumen auf. Von den importierten Investitionsgütern läßt sich ebenfalls auf die Struktur der Investitionen Estlands schließen. Zwischen 1993 und 1996 entfielen auf den Bereich Maschinen und 402

Ausrüstungen der höchste Prozentsatz an den gesamten Importen. Allein innerhalb der ersten drei Monate des Jahres 1994 hatte sich der Import von Maschinen und Ausrüstungsbestandteilen verdreifacht (Burger und Lenzner 1994, S. 39). Unter den für heimische Verwendung bestimmten Investitionsgütern entfielen die größten Anteile auf Büroausrüstungen und Computer, Pumpen, Kompressoren, Fabrik- und Laboraus403 rüstungen. Während das gesamte Investitionsvolumen in (b.) Lettland im Jahr 1996 das Niveau des Jahres 1992 wieder überschritt, betrugen die realen Bruttoinvestitionen in der verar404 beitenden Industrie erst 73% des Volumens von 1992. Belief sich der Anteil der ver-

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404

Statistical Yearbook of Estonia 1998, S. 262. Vgl. Statistical Office of Estonia, Foreign Trade 1996, S. 143 ff. Von den importierten Maschinen und Ausrüstungsbestandteilen wurden jedoch in jedem Jahr um die 30 % wieder re-exportiert. Vgl. Statistical Office of Estonia, Foreign Trade 1996, S. 145. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 233; allerdings ist anzumerken, daß das Investitionsvolumen 1996 erst 33 % des Niveaus von 1990 erreicht hatte.

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arbeitenden Industrie an den Gesamtinvestitionen 1990 noch auf 27%, so sank er bis ins Jahr 1993 auf 23% und betrug 1996 nur noch 15%. Der sinkende Anteil der verarbeitenden Industrie an den realen Bruttoinvestitionen in der Kern- sowie in der Lern- und Stabilisierungsphase belegt eine strukturelle Verschiebung der Investitionen zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren. So stiegen die Investitionen im Handel zwischen 1993 und 1996 um das sechsfache und waren um 30% höher als die zu Sowjetzeiten im Jahr 1990 in die Kategorie „Handel und Gastronomie" aufgeführten investiven Mittel. Der Anteil des Handels an den gesamten Investitionen stieg zwischen 1993 und 1996 von 3,3% auf über 11%. Das größte Wachstum an Kapitalinvestitionen verzeichnete jedoch der Bereich Transport und Telekommunikation. Während zu Sowjetzeiten im Jahr 1990 nur 9% des Investitionsfonds in den Ausbau der Transport- und Kommunikationsinfrastruktur geflossen waren, wurden 1996 über 36% der gesamten Investitionen in diesem Bereich ausgegeben. Das überdurchschnittliche Wachstum der Investitionen im Handel sowie in dem Bereich Transport und Telekommunikation wird auch durch die regionale Konzentration der Investitionen auf die Hafenstädte, Handels- und Dienstleistungszentren Ventspils und Riga verdeutlicht.

406

Auf welche Sektoren entfielen die kumulierten Zuflüsse an ausländischen Direktinvestitionen? Bis 1996 verteilen sich die ausländischen Direktinvestitionen ebenfalls hauptsächlich auf die Industrie mit 16%, den Handel mit 9% und den Bereich Transport und Telekommunikation mit 46%, welcher primär auf die Beteiligung des britisch-finnischen Investorenkonsortiums an der Privatisierung der Lattelekom zurückzuführen 407 ist. Anders als in Estland flössen in Lettland die ausländischen Direktinvestitionen

405

406 407

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 233; ein Programm der lettischen Regierung sieht vor, auf mittlere Sicht 1,5 Milliarden US-Dollar beziehungsweise bis zu 1,5 % des Bruttoinlandsproduktes pro Jahr in den Ausbau der größtenteils noch immer staatlichen Transportinfrastruktur zu investieren. Hierdurch soll Lettlands Position im Transithandel von und nach Rußland gestärkt werden, welcher zusammen mit den komplementären Dienstleistungen bereits 17 % des Bruttoinlandsproduktes ausmacht. Über die drei eisfreien Häfen Riga, Ventspils und Liepaja wurde ein höheres Handelsvolumen abgewickelt als in den übrigen baltischen Häfen inklusive Sankt Petersburg und Kaliningrad. Der Hafen in Riga konnte sich als bedeutendster Containerhafen für den Transithandel nach Rußland im Wettbewerb positionieren. Ventspils ist durch Pipelines mit den westsibirischen Ölfeldern sowie mit Raffinerien in Rußland und Weißrußland verbunden und exportiert überwiegend petrochemische Produkte. Ein Drittel der russischen Ölexporte werden über Ventspils abgewickelt, was Lettland den Spitznamen „Pipeline Rußlands" einbrachte - vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 37 vom 13.2.1999, S. 12. Über den Hafen in Liepaja, welcher zu Sowjetzeiten ein militärisches Sperrgebiet der baltischen Sowjetflotte war, werden primär die Holzexporte Lettlands abgewickelt. Der hohe Anteil des Transithandels von und nach Rußland und komplementärer Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt unterstreicht die Bedeutung, welche die außenpolitischen Beziehungen zur Russischen Föderation für Lettland haben. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 234. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 236.

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

nicht primär in das produzierende Gewerbe und den Handel, sondern in den Telekommunikations- und Transportbereich. Berücksichtigt man zudem das sehr viel geringere absolute Niveau der Zuflüsse an ausländischen Investitionen in Lettland bis zum Jahr 1996, so ist davon auszugehen, daß von dem Transfer ausländischen Kapitals bis dato nur geringe Impulse für das produzierende Gewerbe und den Handel ausgingen. Erst mit dem steigenden Kapitalzufluß aus dem Ausland seit 1996 kam es sowohl im Handel als auch in der verarbeitenden Industrie zu einem spürbaren Transfer von Kapital, technischem know how und modernen Managementmethoden. Während das Gesamtvolumen ausländischer Direktinvestitionen im Jahr 1996 um 36% stieg, wuchs deren Umfang im Handel überdurchschnittlich um knapp das Dreifache mit weiter steigender Tendenz im Jahr 1997.

408

Welche Struktur weisen die Anlageinvestitionen in Lettland auf? Im Jahr 1993 betrug der Anteil der Bauinvestitionen an den Gesamtinvestitionen 55% und sank bis 1996 auf knapp 30%. Investitionen in Maschinen und Ausrüstungen beliefen sich 1993 auf 37% der gesamten Realinvestitionen. Ihr Anteil erhöhte sich bis 1996 auf über 60%. Allein im Jahr 1996 stiegen die Modemisierungsinvestitionen um über 80%, was unter anderem das deutlich verbesserte Investitionsklima nach Bewältigung der Regierungs409

und Bankenkrise in der zweiten Jahreshälfte 1995 zum Ausdruck bringt. Wie auch in Estland wurde ein Großteil der Investitionsgüter nicht im eigenen Land hergestellt, sondern importiert. Der Anteil importierter Maschinen und Ausrüstungsteile an den inländischen Modernisierungsinvestitionen summierte sich im Jahr 1996 auf 73%. Auch in Lettland kamen Büroausrüstungen und Computer sowie Ausrüstungsbestandteile im Bereich Telekommunikation ein hoher Stellenwert zu, was auf den auch dort stark wachsenden Dienstleistungsbereich zurückzuführen ist. In (c.) Litauen ergibt sich eine völlig andere Entwicklung der Investitionen im Handel und im produzierenden Gewerbe als in den beiden anderen Baltischen Staaten. Zwar sank in der Lern- und Stabilisierungsphase auch der Anteil der Investitionen in der verarbeitenden Industrie an den gesamten Kapitalinvestitionen von knapp 22% im Jahr 1994 auf 18% im Jahr 1996, aber dieser Rückgang wurde nicht von einem relativen Anstieg der Investitionen in den Handel begleitet. Während des Betrachtungszeitraums blieben die Kapitalinvestitionen des Groß- und Einzelhandels in die Geschäftsausstattung, Warenpräsentation, Logistik und Warenwirtschaftssysteme bei unter 4% der

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409 410

Vgl. Monthly Bulletin of Latvian Statistics, October 1997, S. 39; so eröffnete das finnische Großhandelsunternehmen Onninen OY, welches bereits seit 1994 in Lettland aktiv war, beispielsweise erst 1996 eine eigene Niederlassung in Riga. Das Unternehmen hat über 1500 Zulieferer weltweit und ist angeblich der größte Großhändler fur elektronische Geräte und Leitungsinstallationen in Nordeuropa - vgl. The Baltic Observer, March 14-20, 1996, S. 7. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 233. Vgl. National Accounts of Latvia 1995, Statistical Bulletin Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 233.

1997, S. 63 sowie

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gesamten Anlageinvestitionen. Knapp über 5% der Kapitalinvestitionen in den Handel gehen auf ausländische Investoren zurück. Der Handel konnte damit 34% der bis 1997 getätigten ausländischen Direktinvestitionen auf sich ziehen. Die 491 Unternehmen mit ausländischem Kapital im Handel machten über 50% aller Betriebe mit ausländischer Beteiligung aus. Im Handel engagierten sich damit mehr als doppelt so viele ausländische Investoren wie in der verarbeitenden Industrie. Dies spricht zwar für die vergleichsweise hohe Attraktivität des Handels für ausländische Investoren; die von den Investitionen ausgehenden wirtschaftlichen Impulse sind jedoch aufgrund des bis dato geringen Gesamtvolumens als gering einzuschätzen. Litauen steht sowohl in der absoluten Höhe der Investitionen in den Handel als auch bezüglich deren relativen Anteil an den gesamten Kapitalinvestitionen deutlich hinter Estland und Lettland zurück. Allerdings verzeichnete nicht nur der Handel einen geringen relativen und absoluten Anstieg der Investitionen, sondern der gesamte Dienstleistungsbereich blieb vergleichsweise unbedeutend. Das Bankgewerbe verzeichnete beispielsweise nicht erst seit der Bankenkrise, sondern seit 1994 einen sinkenden Beitrag 413

zum Bruttoinlandsprodukt. Banken, Versicherungen und Kommunikationsdienstleister investierten nur in geringem Umfang in den Ausbau ihrer Geschäftsfelder. Auch der bis 1997 unverändert niedrige Gesamtanteil an Ausrüstungsinvestitionen und Ausgaben für Maschinen unterscheidet die Entwicklung der Investitionsstruktur von den anderen beiden Baltischen Staaten. Er blieb im gesamten Betrachtungszeitraum bei unter 34% der gesamten Kapitalinvestitionen, während er im Jahr 1996 in Lettland auf 60% und in Estland auf über 50% angestiegen war. 4.3.1.4. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen Läßt sich anhand des untersuchten Verlaufs und der Struktur der Investitionen in den Baltischen Staaten das in dieser Arbeit unterstellte Transformationsmuster belegen? Folgende Aussagen sind an dem herausgearbeiteten empirischen Befund zu messen:

4U 412

413

414

Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 341. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 347; sechstgrößter ausländischer Investor war bis 1997 die deutsche Calwer Decken und Tuchfabriken AG, welche sich in Litauen mehrheitlich an dem Textilbetrieb Litekas bei Kaunas beteiligte - vgl. Handelsblatt, 19.6.1996, Nr. 116, S. 27. Allerdings sprechen die Liquiditätsschwierigkeiten, in die das Calwer Mutterunternehmen 1997 kam, dafür, daß es sich finanziell überhoben hat und die Investitionen in Litauen nicht die gewünschte Rentabilität aufwiesen. Die größten ausländischen Direktinvestitionen verzeichneten die Branchen Erdölerzeugnisse, Tabakerzeugnisse, Telekommunikation, Textilien und Lebensmittelverarbeitung - vgl. Handelblatt, Nr. 116, 19.6.1996, S. 27 sowie Borrmann und Plötz (1998, S. 35). Vgl. Bormann und Plötz (1998, S. 17 f.) sowie Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 341. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 340.

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- Der Aufbau eines wettbewerbsfähigen Kapitalstocks in der verarbeitenden Industrie erfolgt mit zeitlicher Verzögerung. Ihm geht eine Phase stark sinkender Bruttoinvestitionen und hoher Wertberichtigungen voraus. Ob und wie stark die Bruttoinvestitionen wieder wachsen, hängt von der Konsequenz und Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik ab. - Sollte die Liberalisierung der Preise und des Außenhandels tatsächlich erst einen Innovationswettbewerb im Handel und dann in den vorgelagerten Wirtschaftsstufen initiieren, dann müßte der Handel sowohl in der Kern- als auch zu Beginn der Lernund Stabilisierungsphase ein deutlich stärkeres Wachstum der realen Investitionen aufzeigen als die verarbeitende Industrie. Für alle drei Baltischen Staaten wurde belegt, daß nach dem starken Rückgang in der Kernphase die Bruttoinvestitionen in der Lern- und Stabilisierungsphase wieder anstiegen. Die Trendwende zeichnete sich zuerst in Estland im Jahr 1994 ab. Estland hatte gegenüber Lettland und Litauen in der Umsetzung einzelner Transformationsmaßnahmen einen zeitlichen Vorsprung von bis zu zwei Jahren. Die Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik war vergleichsweise hoch, der Grad an Erwartungsunsicherheit geringer als in den anderen beiden Staaten. Das sich verbessernde Investitionsklima hatte zur Folge, daß seit dem Jahr 1994 die Realinvestitionen wieder anstiegen. Der Aufbau des Kapitalstocks wurde durch den überdurchschnittlich großen Zufluß an ausländischem Kapital gefördert. Konnte der Handel bei steigenden Realinvestitionen seinen relativen Anteil am Investitionsvolumen ausbauen, impliziert dies, daß er auch absolut ein deutlich höheres Wachstum der Investitionen aufwies als andere Wirtschaftssektoren. Aufgrund des weitaus geringeren Wertberichtigungsbedarfs im Handel, ist davon auszugehen, daß dort die Nettoinvestitionen positiv waren. Investitionen im Handel verzeichneten somit eine deutlich höhere Dynamik als im produzierenden Gewerbe. In Lettland wich die Entwicklung der Investitionen zunächst von Estland ab. Es kam erst nach der glaubhaften Korrektur der Transformationspolitik durch die Regierung Skele zu einem deutlichen Anstieg der Realinvestitionen von 55% im Jahr 1996, wobei die Investitionsquote - auch aufgrund des deutlich geringeren Volumens an ausländischen Direktinvestitionen - niedriger blieb als in Estland. Durch das überdurchschnittliche Wachstum der Investitionen im Handel kam es auch hier zu einer Verschiebung der Investitionsstruktur. Der Anteil des Handels an den Realinvestitionen erhöhte sich. Die Veränderungen in der Höhe und Struktur der Investitionen folgten in Lettland demnach mit zeitlicher Verzögerung dem estnischen Muster. Welche Ursachen lassen sich in Litauen für die Abweichungen von dem in den anderen beiden Baltischen Staaten feststellbaren Transformationsmuster identifizieren? Die gesellschaftliche und politische Akzeptanz des Currency Boards war in Litauen gering. Die öffentliche Auseinandersetzung schürte Zweifel an dem Bestand der Stabilisierungspolitik und verringerte ihre Glaubwürdigkeit. Der Grad an Erwartungsunsicherheit seitens der Wirtschaftssubjekte war vergleichsweise höher als in den anderen beiden Staaten, welches sich in dem Ausbleiben eines nachhaltigen Investitionsschubs im Handel, dem Dienstleistungssektor und auch in dem produzierenden Gewerbe mani-

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festierte. Die postkommunistische Regierung und Präsident Brazauskas verfolgten eine Politik, welche die Präsenz des Staates in sogenannten „strategischen Bereichen" wie der Telekommunikation, dem Bankengewerbe sowie den von der Privatisierung zumindest teilweise ausgenommenen Industriebetrieben sichern wollte. Der Einfluß privater und vor allem ausländischer Investoren sollte begrenzt werden. Das nationale „Tafelsilber" sollte nicht an Privatinvestoren verkauft werden, was sich in dem geringen Umfang ausländischer Direktinvestitionen widerspiegelt. Dies hatte beispielsweise zur Folge, daß es Litauen nicht gelang, den Hafen in Klaipeda - dem ehemaligen Memel im Transithandel von und nach Rußland vergleichbar gut zu positionieren wie dessen lettischen und estnischen Konkurrenten. Investitionen in eine verbesserte Logistik und komplementäre Dienstleistungen wie zum Beispiel im Finanzsektor fielen vergleichsweise gering aus. Vilnius fiel nach der Bankenkrise 1996 als Finanzzentrum noch weiter hinter Riga und Tallinn zurück. Entgegen dem in Estland und Lettland belegbaren Transformationsmuster eines stürmisch wachsenden Dienstleistungssektors verringerte sich in Litauen zwischen 1993 und 1996 dessen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt. Auch in der verarbeitenden Industrie verhinderte die niedrige Höhe der Ausrüstungsinvestitionen und Ausgaben für neue Maschinen eine dynamischere Entwicklung in den Folgejahren. Der anhaltende Einfluß des Staates auf den Wirtschaftsprozeß hatte zur Folge, daß veraltete Strukturen konserviert und die Entfaltung privatwirtschaftlicher Initiative behindert wurden. Läßt sich ein Zusammenhang zwischen der Konsequenz und schnellen zeitlichen Umsetzung marktwirtschaftlicher Reformen sowie dem Wiederansteigen der Investitionen herstellen? Die Entwicklung in- und ausländischer Investitionen lassen sich als Indikator für die Einschätzungen der Wirtschaftssubjekte bezüglich der Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik heranziehen. Je mehr Wirtschaftssubjekte bereit sind, knappes Kapital mittel- und langfristig zu binden, desto stabiler und sicherer sind ihre Erwartungen bezüglich jener Faktoren, welche die Amortisation der Investitionen beeinflussen wie beispielsweise die politische Stabilität, die Entwicklung der Kaufkraft, der Schutz privater Verfügungsrechte an den Produktionsmitteln oder die Steuergesetzgebung. Demnach läßt sich von der Höhe nicht-staatlicher Investitionen auf den Glaub-

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Nach einer von der Weltbank durchgeführten Umfrage unter zweihundert ausländischen Investoren in Litauen aus dem Jahr 1995 gaben 80 % an, die litauische Verwaltung würde beispielsweise durch Gesetzesänderungen und bei der Lizenzvergabe ausländische Investoren bewußt behindern, um sie fernzuhalten - vgl. The Baltic Observer, November 9-15, 1995, S. 8. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 347. Allerdings sollen 1998 anlaufende Investitionen von 250 Millionen US-Dollar in die Hafenvertiefung, dem Bau und der Erweiterung der Terminals sowie dem Bau eines Fährhafens eine Verbesserung der Wettbewerbsposition mit sich bringen. Hauptkonkurrent ist der Hafen in Riga, welcher eine ähnlich gemischte Güterstruktur mit Metallen, Düngemittel, Bauholz, Tiefkühlprodukten, Zement, Maschinen und Baumwolle aufweist - vgl. Handelsblatt, Nr. 114, 18.6.1998, S. 26.

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Würdigkeitskredit schließen, den die Wirtschaftssubjekte der Transformationspolitik einräumten. Die estnische Transformationspolitik hatte sich vergleichsweise positiv auf die Erwartungsbildung der Wirtschaftssubjekte ausgewirkt. Dies manifestierte sich in dem schnell wachsenden Privatsektor sowie den insgesamt steigenden Realinvestitionen. Diese erhöhten sich überdurchschnittlich im Handel sowie im gesamten Dienstleistungsbereich. Die verarbeitende Industrie zog vor allem 1997 nach. In Lettland bewirkte erst die Überwindung der politischen Krise im Herbst 1995 sowie die Beschleunigung der Privatisierung durch die Regierung Skele eine höhere Dynamik der Investitionen auf breiter Front. Durch die explizite Ausrichtung an der estnischen Transformationspolitik konnte sie von deren Glaubwürdigkeitskredit profitieren. In Lettland ergab sich dann mit zeitlicher Verzögerung ein mit Estland vergleichbares Muster in der Entwicklung und Struktur der Investitionen, wobei jedoch dem Transport- und Kommunikationsbereich eine deutlich höhere Bedeutung zukommt. Litauen weist bis 1997 nur geringe Parallelen zu dem skizzierten Muster auf. Allerdings hat auch dort der 1996 neu ins Amt gewählte Premierminister Vagnorius eine Korrektur der bis dahin von den Postkommunisten verfolgten Politik eingeleitet. Dies manifestiert sich in dem Verkauf der staatlichen Telekommunikationsgesellschaft an die schwedisch-finnische Telea-SoneraGruppe sowie der ebenfalls für 1998 geplanten Privatisierung der litauischen Luftverkehrsgesellschaft und der staatlichen Sparkassen. Auch in Litauen zeichnet sich seit dem Politikwechsel im Jahr 1996 ein vergleichbares Muster in der Entwicklung und Struktur der Investitionen ab wie in den anderen beiden Staaten. Nicht nur das estnische Beispiel, sondern vor allem auch die Reaktionen in- und ausländischer Investoren auf den jeweiligen Politikwechsel in Riga und Vilnius untermauern den unterstellten Zusammenhang zwischen der Konsequenz und Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik einerseits sowie dem Aufbau des Kapitalstocks andererseits. 4.3.2.

Handelstypen, Organisationsformen und Sortimente

4.3.2.1. Der Einzelhandel Die sich im Handel herausbildende vertikale und horizontale Arbeitsteilung entfernte sich immer weiter von den in Kapitel 5.3. beschriebenen Strukturen des sowjetischen Binnenhandels. In allen drei Baltischen Staaten verringerte sich in der Lern- und Stabilisierungsphase der Anteil des Staates an den Einzelhandelsumsätzen auf deutlich unter 10%. Die Anzahl an Handelsbetrieben wuchs durch private Neugründungen weiter, was sich auch in der steigenden Beschäftigung im Handel widerspiegelt. Das Wachstum an Handelsbetrieben konzentrierte sich vor allem auf die Städte, während die Konsumgenossenschaften in den ländlichen Gegenden weiterhin dominierten. Die sich vor allem So erhöhte sich beispielsweise in Estland der Anteil der im Handel Beschäftigten von 7,9 % im Jahr 1992 auf über 13 % im Jahr 1996. Nur im Bau- und Transportgewerbe sowie im produzierenden Gewerbe war die Beschäftigung größer - vgl. Fritsche und Lösch (1998, S. 20).

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in den Großstädten neu entfaltende Struktur ist durch zunehmende Differenzierung und Wettbewerbsintensität gekennzeichnet. Lassen sich aus der Analyse des Handels in westlichen Marktwirtschaften in Kapitel 5.2. sowie der bereits skizzierten Veränderungen in der Kernphase Entwicklungsmuster ableiten? Es ist zu prüfen, ob der zunehmende Wettbewerb um Transaktionskosten senkende Innovationen im Handel daraufhinwirkt, daß - durch Neugriindungen und Marktselektion eine Differenzierung der Betriebs- und Angebotstypen im Einzelhandel stattfand. - Warenpräsentation, Service und Sortimente sich westlichen Handelsformen annäherten? In (a.) Estland wurden im Jahr 1996 mit 4.386 Einzelhandelsbetrieben knapp 33% mehr registriert als im Jahr 1993. Nach einem sprunghaften Anstieg im Voijahr war die Anzahl an Einzelhandelsgeschäften im Jahr 1996 allerdings wieder um annähernd 10% gesunken. Dies ist vorrangig auf den Rückgang an Lebensmittelgeschäften und Kiosken 419

zurückzuführen. Sie wurden zunehmend von Selbstbedienungsmärkten mit höherer Sortimentsbreite und -tiefe sowie ansprechender Warenpräsentation verdrängt. Die Anzahl großflächiger Supermärkte blieb jedoch relativ gesehen gering und ihr Entstehen weitgehend auf Talinn beschränkt. Daher stieg die durchschnittliche Verkaufsfläche im Lebensmitteleinzelhandel nicht über 90m2 pro Geschäft. Einen überdurchschnittlichen Anstieg von 52% verzeichnete die Anzahl an Geschäften im Nicht-Lebensmittelbereich. Im Schnitt hatte sich deren durchschnittliche Verkaufsfläche um 10 m2 auf 118 m2 erhöht. Betrachtet man die Entwicklung der Umsätze im Nicht-Lebensmittelbereich, so läßt sich eine zunehmende Differenzierung der Angebotstypen feststellen. Das Umsatzwachstum in Geschäften mit hoher Sortimentsbreite ist vor allem auf das Entstehen von Kaufhäusern in den Ballungsgebieten zurückzufuhren. Sie haben einen maßgeblichen Anteil an der Vergrößerung der durchschnittlichen Verkaufsflächen im Nicht-Lebensmitteleinzelhandel. Gleichzeitig verzeichneten aber auch Geschäfte, die sich auf den Verkauf von Textilien, Bekleidungsartikeln, Haushaltswaren und -geräte sowie auf Baumaterialien spezialisiert hatten, ein überproportionales Wachstum. In (b.) Lettland stieg im Jahr 1994, dem ersten Jahr nach der Währungsreform, die 420

Anzahl der Handelsbetriebe um 43% auf 14.425 an. Damit waren doppelt so viele Betriebe registriert wie im Jahr 1991. In den Folgejahren sank die Anzahl der Betriebe allerdings wieder in Folge der Bankenkrise und rückläufiger Umsätze im Einzelhandel. Sie stabilisierte sich auf knapp über 80% des Bestandes von 1994. Mit welchen strukturellen Veränderungen gingen dieses Wachstum und der anschließende Rückgang einher? Entgegen dem allgemeinen Trend war die Anzahl der Betriebe im Lebensmitteleinzelhandel bis 1994 kaum gewachsen. Dies änderte sich im Jahr 1995. Während die 419

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Für die folgenden statistischen Angaben bezüglich der Entwicklung des Einzelhandels in Estland vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 248 sowie Statistical Yearbook of Estonia 1998, S. 296 f. Für die folgenden statistischen Angaben bezüglich der Entwicklung des Einzelhandels in Lettland vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 279.

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Gesamtzahl an Handelsbetrieben wieder rückläufig war, verdoppelte sie sich im Lebensmitteleinzelhandel im Jahr 1995 auf 4.420 Betriebe. Im gleichen Zeitraum erhöhte sich die durchschnittliche Verkaufsfläche pro Betrieb von knapp 90 m2 auf 108 m 2 und blieb seitdem auf vergleichbarem Niveau. Innerhalb eines Jahres verdoppelte sich somit nicht nur die Anzahl an Betrieben im Lebensmitteleinzelhandel, sondern auch die durchschnittliche Verkaufsfläche pro Betrieb stieg sprunghaft an. Diese Zunahme nach 1994 geht auf die Entstehung großflächigerer Selbstbedienungsgeschäfte bis hin zu einigen wenigen modernen Supermärkten nach westlichem Vorbild zurück, die vor allem in den Außenbezirken Rigas entstanden waren. Der Einzelhandel im Nicht-Lebensmittelbereich weist eine sehr viel weniger spektakulärere Entwicklung auf. Die Anzahl an Betrieben stieg in der Lern- und Stabilisierungsphase zwar stetig, aber nur um knapp unter 10%. Im Vergleich zum Jahr 1991 hatte sich die Zahl an Betrieben um knapp 40% erhöht. Allerdings hatte sich 1994 die durchschnittliche Verkaufsfläche pro Betrieb im Vergleich zum Vorjahr bereits auf 243 m 2 mehr als verdoppelt, sank 1994 jedoch wieder auf 150m2 und blieb in den Folgejahren annähernd konstant. Die deutlich größere Zunahme der Verkaufsflächen pro Betrieb im Vergleich zum Wachstum der Anzahl an Betrieben spricht dafür, daß viele Geschäfte an neuen Standorten eröffnet worden waren. Wenn weder die Anzahl an Lebensmittelbetrieben noch an Betrieben des Facheinzelhandels im Jahr 1994 ein starkes Wachstum verzeichneten, stellt sich die Frage, wie der große Gesamtanstieg an Handelsbetrieben in diesem Jahr zustande kam. Stark angestiegen ist 1994 die Anzahl an Betrieben mit gemischten Sortimenten. Dies deutet darauf hin, daß zu Beginn der Lern- und Stabilisierungsphase Handelsbetriebe durch die Herstellung eines Nachfrageverbundes mehr Käufer auf sich ziehen konnten als der spezialisierte Facheinzelhandel 421

mit dem für ihn charakteristischen Auswahl- und Bedarfsverbund. Allerdings verringerte sich in den Folgejahren die Anzahl an Handelsbetrieben mit gemischten Sortimenten wieder deutlich unter ihren Stand des Jahres 1993. Ähnlich erging es den Kiosken deren Anzahl nach einem starken Anstieg im Jahr 1994 in den Folgejahren ebenfalls wieder deutlich sank. Seit 1995 besteht im Nicht-Lebensmittelbereich ein Trend zur Spezialisierung in der Sortimentspolitik. Auch in (c.) Litauen stellte die im Januar 1996 auftretende Bankenkrise einen Einschnitt dar. Die Anzahl an Handelsbetrieben hatte sich im Jahr 1995 um 40% auf 22.112 422

Betriebe erhöht. Nach der Bankenkrise sank sie 1996 wieder um über 12%. Vor allem der Einzelhandel mit gemischten Sortimenten weist sowohl im Lebensmittel- als auch im Nicht-Lebensmittelbereich nach einem starken Wachstum in den Vorperioden einen tiefen Einbruch auf. Gar nicht oder kaum betroffen von diesem Rückgang waren spezialisierte Betriebe des Lebensmitteleinzelhandels, der Bekleidungseinzelhandel und die

421 422

Vgl. Kapitel 5.2.5. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 431 ff.

210

Bertram Wiest 423

Anzahl an Möbel-, Hausrats- und Elektrogeschäften. Die Konsolidierung im Einzelhandel durch Marktselektion ging demnach mit einer zunehmenden Spezialisierung einher. Anders als in Lettland und Estland kam es jedoch nicht zu einer Vergrößerung der durchschnittlichen Verkaufsflächen j e Handelsbetrieb. In allen Bereichen des Einzelhandels blieb die durchschnittliche Verkaufsfläche j e Betrieb bis 1997 bei unter 424

80 m 2 und zeigte damit kaum eine Veränderung im Vergleich z u m Jahr 1993 auf. Hieraus läßt sich schließen, daß sich neue Betriebs- und Angebotstypen wie beispielsweise Lebensmittel-Supermärkte, großflächigere Selbstbedienungsgeschäfte und Kaufhäuser bis dato nur wenig entfalten konnten. Bis 1996 wiesen nur 0,3% aller Einzel425 handelsbetriebe eine Verkaufsfläche von über 1.000 m 2 auf.

Die Differenzierung der

Betriebs- und Angebotstypen blieb hinter Estland und Lettland zurück. Wirken Marktkräfte auf eine Angleichung des Handels an westliche Strukturen hin? In der Lern- und Stabilisierungsphase intensivierte sich der Wettbewerb im Einzelhandel durch zahlreiche Neugründungen und ausländische Direktinvestitionen, wodurch eine Differenzierung der Angebots- und Betriebsstrukturen eingeleitet wurde. In Tallinn gab es bereits ab 1994 - unter anderem auf Initiative finnischer Investoren - Supermärkte, großflächigere Selbstbedienungs- und Fachgeschäfte des höheren Preissegments sowie die ersten Warenhäuser westlichen Zuschnitts. So wurde im Sommer 1998 beispielsweise bereits der dritte Supermarkt der Handelskette Maksimarket eröffnet, welcher mit dreitausend Quadratmetern Verkaufsfläche der bisher größte Supermarkt in den baltischen Staaten ist. In Riga vollzog sich der Strukturwandel mit zeitlicher Verzögerung. Ab 1995 waren westliche Unternehmen vermehrt mit eigenen Verkaufsniederlassungen präsent. So sind beispielsweise Bally, Hugo Boss, Adidas oder Benetton entweder direkt oder über Franchisenehmer mit eigenen Filialen vertreten. Die seit Sowjetzeiten unverändert gebliebenen Lebensmittelgeschäfte mit Thekenverkauf und dem Charakter von „Tante Emma"-Läden werden zunehmend von Selbstbedienungsmärkten verdrängt. Zwischen der neugegründeten lettischen Supermarktkette Interpegro und der von norwegischen Investoren betriebenen Kette Rimi hat sich ein intensiver Wettbewerb um Kunden, Standorte und Zulieferer entwickelt. Im Dezember 1997 wurde das alte sowjetische Kaufhaus im Zentrum der Stadt neu eröffnet, nachdem es von einer norwegischen Investorengruppe übernommen, umgebaut und nach westlichem Standard eingerichtet worden war. Hervorzuheben ist auch das frühe Engagement der Mineralölunternehmen Shell, Statoil und Neste, welche in den Tankstellen breite Sortimente vertreiben, deren Bestandteile und Präsentation sich nicht von westlichen Tankstellen unterscheiden.

423

424 425

Vgl. Survey of Lithuanian Economy 1997, Department of Statistics to the Government of the Republic of Lithuania, S. 80. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 435. Vgl. Survey of Lithuanian Economy 1997, Department of Statistics to the Government of the Republic of Lithuania, S. 80.

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

211

Welche Impulse gingen von den ausländischen Direktinvestitionen für die Entwicklung des Einzelhandels aus? Durch sie wurde eine Differenzierung des Warenangebotes nach Marktsegmenten angestoßen. Mit der Etablierung eines nach Sortimenten spezialisierten Einzelhandels im höheren Preissegment durch westliche Unternehmen wurden Marktlücken im mittleren Preissegment aufgedeckt sowie Standards und Orientierungspunkte für baltische Imitatoren gesetzt. Vorstoßende ausländische Direktinvestoren zogen eine zunehmende Spezialisierung einheimischer Betriebe in der Sortimentspolitik und Preispolitik nach. Der post-sowjetische Handelsbetrieb mit weitgehend uniformen Sortiment weicht im aufkommenden Innovationswettbewerb spezialisierten Einzelhandelsgeschäften und Kaufhäusern mit höherer Sortimentstiefe beziehungsweise -breite, größeren Verkaufsflächen, Selbstbedienung und ansprechender Warenpräsentation. Lettische, estnische und - mit Einschränkung auch - litauische Super- und Drogeriemärkte, Haushaltswaren-, Schuh- oder Bekleidungsgeschäfte unterscheiden sich in den Großstädten in ihren Sortimenten und deren Präsentation immer weniger von westlichen Vorbildern. Ausgehend von Tallinn, Riga, Kaunas und Vilnius greift der Strukturwandel auch auf die Städte mittlerer Größe über. Die Differenzierung der Betriebs- und Angebotstypen im Einzelhandel in allen drei Baltischen Staaten führt zu einer Annäherung an westliche Strukturen. Stieg der Anteil importierter Konsumgüter in den Sortimenten des Einzelhandels im Vergleich zu der Kernphase weiter an? In Estland hatte zwischen 1993 und 1996 das in US-Dollar gerechnete Volumen an importierten Lebensmitteln um das Dreifache zugenommen. Der Wert importierter Textil- und Bekleidungsartikel erhöhte sich ebenfalls um das Dreifache; das Importvolumen an Schuhen, Kopfbedeckungen, Schirmen und verwandten Artikeln stieg um mehr als das Vierfache, die Importe an Sportartikeln, Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen sowie an Spielsachen um über das Dreifache. Die Importe von Nahrungsmitteln erhöhten sich allein im ersten Quartal 1994 im Vergleich zum Voijahreszeiträum auf das Vierfache und erreichten einen Anteil an den Gesamtimporten von 17% (Burger und Lenzner 1994, S. 39). Die Importe von Kassettenrecordern, Fernsehern und anderen elektronischen Geräten wuchsen nach einem langsameren Wachstum in den Voijahren im Jahr 1996 um über 30%. Im Jahr 1997 belief sich der nominale Zuwachs importierter Güter auf 34%, was zu einem Leistungsbilanzdefizit von 13% für 1997 führte. Auch im ersten Quartal 1998 blieb das Leistungsbilanzdefizit mit 11% weiterhin hoch. Annähernd 80% der Importe bestehen aus Konsumgütern. Einen in der Größenordnung moderateren, aber ebenfalls deutlichen

So wurde 1997 beispielsweise in dem estnischen Tartu (Dorpat) ein großflächiges Warenhaus mit modernem „shop in the shop"-System eröffnet. Auch soll im Dezember 1998 ein weiterer großflächiger Supermarkt der Handelskette Maksimarket eröffnet werden - vgl. The Baltic Times, August 6-12, 1998, S. 12. 427 428

429

Vgl. Statistical Office of Estonia, Foreign Trade 1996, S. 23 f. Vgl. Statistical Office of Estonia, Foreign Trade 1996, S. 144 f. Bank of Estonia, Newsletter 1998, S. 1.

212

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430 Anstieg importierter Konsumartikel verzeichneten auch Lettland und Litauen. Von dem wachsenden Volumen an importierten Konsumgütern in allen drei Baltischen Staaten läßt sich auf deren steigende Präsenz in den Sortimenten des Einzelhandels schließen. Setzt man beispielsweise das Volumen an importierten Lebensmitteln in Lettland ins Verhältnis zu dem Umsatzvolumen mit Lebensmitteln im Einzelhandel, dann erhöhte sich innerhalb eines Jahres der Anteil der Importprodukte von 10% im Jahr 1995 auf annähernd 18% im Jahr 1996.43' 4.3.2.2. Der Großhandel Kann von der zunehmenden horizontalen Arbeitsteilung durch Spezialisierung auf eine sich vertiefende vertikale Arbeitsteilung geschlossen werden? Ausgehend von der Analyse des Handels in entwickelten Marktwirtschaften in Kapitel 5.2.6.2. ist zu erwarten, daß horizontaler Wettbewerb im Handel vertikalen Wettbewerb nachzieht. Dies impliziert, daß sich die vertikale Arbeitsteilung im Handel vertieft, wenn die Anzahl an Betrieben im Einzelhandel und deren Spezialisierungsgrad steigt. Die Zusammenstellung von substitutiven und komplementären Produkten seitens des Großhandels zu einem Auswahl- und Bedarfsverbund kann die Transaktionskosten auf den jeweils nachgelagerten Handelsstufen im Groß- und Einzelhandel senken. Eine sich vertiefende vertikale Arbeitsteilung zwischen Groß- und Einzelhandel läßt sich in (a.) Estland nachweisen. Im Jahr 1992 wurde im Lebensmitteleinzelhandel im Vergleich zum Großhandel annähernd das eineinhalbfache Umsatzvolumen erzielt. Der Großhandel war gerade erst im Entstehen, und der Einzelhandel bezog seine Produkte primär direkt vom Hersteller. Dieses Verhältnis kehrte sich jedoch in den Folgejahren um, was sowohl für eine steigende Marktdurchdringung des stark wachsenden Großhandels als auch eine sich vertiefende vertikale Arbeitsteilung innerhalb des Großhandels spricht. Im Jahr 1995 war das Umsatzvolumen des Großhandels mit Lebensmitteln doppelt so groß wie im Lebensmitteleinzelhandel. Zu einer ähnlichen Verschiebung kam es im Großhandel mit Bekleidungsartikeln, wo der Einschaltungsgrad des Großhandels ebenfalls stark wuchs. In (b.) Lettland machte im Jahr 1995 der Umsatz mit Einzelhandelsbetrieben 29% des Gesamtumsatzes im Großhandel aus. Annähernd die Hälfte des Umsatzes wurde zwischen Großhandelsbetrieben erzielt, was für eine bereits ausgeprägte vertikale Arbeitsteilung im Handel spricht. Knapp 20% des Umsatzes entfielen demnach auf Betriebe des produzierenden Gewerbes, welche vor allem

430 431 432

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 267 f. sowie Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 457 ff. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 272 f., S. 275, vgl. auch Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 432, S. 457 ff. Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 246 f.

213

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Kraftstoffe vom Großhandel bezogen. Es läßt sich der Schluß ziehen, daß in Estland und Lettland der zunehmende Wettbewerb im Einzelhandel eine Vertiefung der vertikalen Arbeitsteilung im Handel nach sich zog. In (c.) Litauen kam es bis 1996 nicht zu einer vergleichbaren Entwicklung im Großhandel. Die Nachfrage nach vorgelagerten Handelsleistungen blieb im litauischen Einzelhandel unter dem vergleichbaren Niveau in Estland und in Lettland. Weder die Anzahl an Großhandelsbetrieben noch die Anzahl an im Großhandel Beschäftigten ver434

zeichneten zwischen 1993 und 1996 einen Wachstumsschub. Die Ursache hierfür liegt in der stockenden Differenzierung der Angebots- und Betriebstypen im litauischen Einzelhandel. Damit einher geht eine geringe Spezialisierung der Einzelhandelbetriebe in der Sortimentspolitik. Die Anzahl möglicher Sortimentsverbunde, durch die vorgelagerte Großhandelsbetriebe Transaktionskosten des Einzelhandels senken können, hat sich dadurch nicht weiter vergrößert. Der Einschaltungsgrad des Großhandels bleibt niedrig. 4.3.3.

Die Entwicklung der Nachfrage, Verschiebungen innerhalb der Warenkörbe

Die Entwicklung der Nachfrage wurde durch die sich in allen drei Baltischen Staaten wieder erhöhenden Reallöhne, die zunehmende Vergabe von Konsumentenkrediten seitens der Banken sowie die sich weiter öffnende Einkommensschere bestimmt. Da es in keinem der Baltischen Staaten starke Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände gab, die zentral über branchenweite Löhne verhandelten, nahmen die Lohnunterschiede nicht nur zwischen Sektoren, sondern auch innerhalb der einzelnen Branchen zu. In (a.) Estland betrug 1997 der durchschnittliche Bruttolohn 446 Deutsche Mark im Monat. Die Reallöhne waren bis einschließlich 1996 moderat um die 2% angestiegen. Im Jahr 1997 435

erhöhten sie sich durchschnittlich um 7,6%. Die gelockerte Vergabe von Konsumentenkrediten seitens der estnischen Banken sowie den Zuwachs an Vermögenswerten 436 infolge der Börsenhausse gab der privaten Nachfrage einen zusätzlichen Schub. Im Zuge der Asienkrise und des Kursrutsches an der Börse in Tallinn erhärteten sich die Budgetrestriktionen estnischer Haushalte wieder, was eine relative Abschwächung der Konsumnachfrage im Jahr 1998 nach sich zog. 433

Vgl. Ministry of Economy of the Republic of Latvia (1996, S. 75); statistische Daten zum Großhandel wurden erst ab 1995 erhoben, was zur Folge hat, daß die Datenbasis sehr dünn ist. 434

Survey of the Lithuanian Economy 1997, Department of Statistics to the Government of the Republic of Lithuania, S. 77. 435

Allein im vierten Quartal des Jahres 1997 waren die Reallöhne um 13,6 % gestiegen vgl. Bank of Estonia, Bulletin No. 2, 1998, S. 14. 436

„Besides the lessening of liquidity constraints, the increase of private consumption was also boosted by the growing confidence in the continuation of economic growth ... Private consumption grew faster than disposable income" - Vgl. Bank of Estonia, Bulletin No. 2, 1998, S. 2.

Bertram Wiest

214

In (b.) Lettland betrug der durchschnittliche Bruttolohn im März 1997 knapp 217 US-Dollar. Er lag damit um 30% über dem durchschnittlichen Bruttolohn des Jahres 1995. Die höchsten Bruttolöhne wurden im See- und Lufttransport, im Finanzgewerbe sowie bei Telekommunikationsdienstleistern gezahlt. Die Bruttolöhne im Handel betrugen nur 70% des gesamtwirtschaftlichen Brutto-Durchschnittslohns. Die Reallöhne in Lettland waren nach zwei Jahren positiven Wachstums im Jahr 1995 im Zuge der Bankenkrise wieder leicht zurückgegangen. Sie stiegen erst wieder im Jahr 1997. Der monatliche Brutto-Durchschnittslohn überschritt auch in (c.) Litauen im Jahr 1997 die Schwelle von 200 US-Dollar. Die höchsten Löhne wurden in Banken und Versicherungen gezahlt. Die Reallöhne waren 1995 wieder leicht rückläufig gewesen, stiegen aber im Jahr 1996 im Zuge sinkender Inflationsraten und steigender Nominallöhne um etwa 6% und im ersten Quartal 1997 sogar um 15% im Vergleich zur Voijahresperiode an {Borrmann und Plötz 1998, S. 21). Die Konsumausgaben in denjenigen Haushalten, die zu den 20% reichsten gezählt wurden, waren 1995 über dreimal so hoch wie in den 438

Haushalten, die zu den 20% ärmsten gehören. Angesichts der sich in allen drei Baltischen Staaten weiter vergrößernden Einkommensschere ist davon auszugehen, daß die Unterschiede in der Höhe der Konsumausgaben zwischen den Haushalten weiter zunahmen. Welche Auswirkungen haben die auf breiter Front wieder steigenden Haushaltseinkommen auf die Struktur der Nachfrage? Als erste direkte Folge ist der Rückgang des Anteils der Lebensmittelausgaben an den Konsumausgaben zu nennen. Dies spiegelt sich in den Einzelhandelsumsätzen wider. In Estland betrug der Anteil der Einzel439

handelsumsätze mit Lebensmitteln bereits 1995 unter 45% an den Gesamtumsätzen. In Lettland und Litauen sank der Anteil von Lebensmitteln an den Gesamtumsätzen des 440 Einzelhandels wieder auf unter 60% und näherte sich sukzessive 50%. Steigende Verkaufszahlen wurden zunehmend im Absatz langlebiger Konsumgüter erzielt. Die Anzahl an abgesetzten Kühlschränken, Waschmaschinen, Staubsaugern sowie die Einzelhandelsumsätze mit Möbeln und Porzellan stiegen vor allem in Litauen stark an. Die in allen drei Baltischen Staaten stark wachsenden Ausgaben der Verbraucher für Baumaterialien, Haushaltsgeräte, Bekleidungsartikel und auch Freizeitaktivitäten lassen

437

438

439 440

441

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 86 ff. sowie Bank of Estonia 1998, Statistical Datasheets, Table 13, Most Important Economic Indicators for Latvia. Survey of Lithuanian Economy, May 1997, Department of Statistics to the Government of the Republic of Lithuania, S. 78. Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 247. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 278 sowie Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 431. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 435.

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auf eine Verbesserung der Lebensverhältnisse und wachsendes Vertrauen in die wirt442 schaftliche Entwicklung schließen. Das sich in allen drei Baltischen Staaten deutlich erhöhende Volumen importierter Konsumartikel deutet darauf hin, daß eine steigende Anzahl an Wirtschaftssubjekten in der Lage war, mit neuen Produkten in ihrer Nutzenproduktion zu experimentieren. Nicht nur importierte Waren des gehobenen Bedarfs und langlebige Konsumartikel waren in den ausländischen Verkaufsniederlassungen der Großstädte erhältlich, sondern importierte Lebensmittel, Sanitärprodukte wie Toilettenpapier, Waschmittel und auch Bekleidungsartikel waren in fast allen baltischen Einzelhandelsgeschäften in den Sortimenten enthalten. Dies hatte zur Folge, daß nicht nur die Verdiener überdurchschnittlich hoher Einkommen, sondern auch die sich herausbildene Mittelschicht eine Erweiterung ihres Handlungsraumes erfuhr und ihre Konsumgewohnheiten umstellte. Eine wachsende Anzahl an Verbrauchern erwarb Wissen um neue Faktorkombinationen in der Nutzenproduktion. Da die Marktdurchdringung von Importgütern bereits sehr hoch ist, werden diejenigen Verschiebungen innerhalb der Warenkörbe, die nicht einkommensinduziert sind, sondern auf erweiterte Wahlmöglichkeiten im Konsum zurückzufuhren sind, tendenziell abnehmen. Im privaten Verbrauch zeichnet sich daher eine Verstetigung der Konsumgewohnheiten ab. 4.3.4.

Umsatz-, Kosten- und Gewinnentwicklung in Handel und verarbeitender Industrie

4.3.4.1. Umsätze im Handel und in der verarbeitenden Industrie In (a.) Estland stiegen die Einzelhandelsumsätze in laufenden Preisen zwischen 1993 und 1997 mit jährlichen Wachstumsraten von 27% bis annähernd 50%. Im Jahr 1997 verlangsamte sich das Wachstum auf knapp 15% in konstanten Preisen mit weiter abnehmender Tendenz im Jahr 1998, was auf die Wachstumsabschwächung sowie auf die restriktivere Kreditvergabe der Banken im Zuge der Asien- und Rußlandkrise zurückzuführen ist. Das überdurchschnittliche Wachstum im Handel spiegelt sich in seinem gestiegenen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt wider, welcher sich im Jahr 1997 auf knapp 18% belief und damit sogar knapp über dem Anteil der ebenfalls wachsenden verarbeitenden Industrie lag. Das Umsatzwachstum im Einzelhandel hatte die Nachfrage nach vorgelagerten Handelsleistungen erhöht. Es kam zu einer sich vertiefenden vertikalen und horizontalen Arbeitsteilung. Im Jahr 1995 stiegen die Großhandelsum-

442

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 278 sowie Statistical Yearbook of Estonia 1998, S. 157. 443

Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 247 sowie Statistical Office of Estonia, Retail Sales by Main Activities of Enterprise. 444

445

Vgl. Bank of Estonia, Bulletin No. 2, 1998, S. 5 sowie Statistical Office of Estonia, Most Recent Statistical News, 1998. Vgl. Bank of Estonia, Statistical Datasheets, 1998, Table 7.

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sätze zu laufenden Preisen um über 75%. Im Lebensmittelbereich verdoppelten sich die Umsätze, im Textilhandel vervierfachten sie sich und im Handel mit Ausrüstungsbestandteilen für das produzierende Gewerbe und mit Büroausrüstungen kam es zu einer Verdreifachung . In den Folgejahren verringerten sich die Wachstumsraten des Großhandels wieder, betrugen aber in den Jahren 1996 und 1997 noch knapp über 30%. In (b.) Lettland waren die Einzelhandelsumsätze im Jahr 1994 erstmals wieder gewachsen und real um 23% über dem Voijahresniveau gelegen. Der Aufwärtstrend wurde durch die Bankenkrise wieder unterbrochen, welche eine Verringerung der Realeinkommen zur Folge hatte. In konstanten Preisen stagnierten die Einzelhandelsumsätze im Jahr 1995 und sanken im Folgejahr auf 91% des Voijahresniveaus. Allerdings gab sich der lettische Handel optimistisch für die Zukunft. Eine Umfrage des Statistischen Amtes Lettlands im zweiten Quartal 1997 ergab, daß sich die Zuversicht in den zukünftigen Geschäftsverlauf in allen Marktsegmenten des Einzelhandels stark verbessert 450

451

hat. Im Jahr 1997 stiegen die Umsätze mit einer Rate von 14,3%. Seit April 1997 lag das Umsatzwachstum im Einzelhandel über dem Anstieg der Kaufkraft. Wie auch in Estland kam es somit zu einer Ausweitung der Konsumgüternachfrage durch Kreditfinanzierung. Das Wachstum im Einzelhandel ließ die Nachfrage nach vorgelagerten Handelsleistungen steigen. Die Marktdurchdringung des Großhandels erhöhte sich, wenn auch nicht in vergleichbarem Ausmaß wie in Estland. In laufenden Preisen stiegen die Umsätze im Jahr 1996 um 20%. Der Großhandel durchdrang zunehmend den Handel mit Bekleidungsartikeln, mit Haushaltsgeräten, Baumaterialien, Büroausrüstungen und vor allem mit Lebensmitteln. In (c.) Litauen stiegen die Umsätze des Einzelhandels in der Lern- und Stabilisierungsphase in laufenden Preisen jährlich um Raten zwischen 30% und 50%. In konstanten Preisen betrugen die Wachstumsraten zwischen 6% und 8%. Der Beitrag zum 446 447

448

449 450 451

Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 246. Vgl. Bank of Estonia, Bulletin No. 2, 1998, S. 5 sowie Statistical Office of Estonia, Wholesales of Wholesale Trade Enterprises und Statistical Yearbook of Estonia 1998, S. 295. Vgl. Report of the Ministry of Economy of the Republic of Latvia, June 1996, S. 74 sowie Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 276. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 276. Vgl. Report of the Ministry of Economy of the Republic of Latvia, June 1997, S. 77. Vgl. Bank of Latvia, Gross Domestic Product 1997.

452

Waren im Jahr 1995 allein 30 % des Gesamtumsatzes im lettischen Großhandel auf alkoholische Getränke und nur 6,7 % auf Lebensmittel entfallen, so stieg im Jahr 1996 der Anteil des Lebensmittelhandels auf 23 %, während die Umsätze mit alkoholischen Getränken relativ um 5,5 % zurückfielen - vgl. Ministry of Economy of the Republic of Latvia (1997, S. 78) sowie Ministry of Economy of the Republic of Latvia (1996, S. 75). 453

Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 431.

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Bruttoinlandsprodukt erhöhte sich auf über 20%, was auf die vergleichsweise niedrigeren Wachstumsraten in den anderen Wirtschaftssektoren wie beispielsweise der verarbeitenden Industrie sowie dem Banken- und Transportsektor zurückzufuhren ist (Borrmann und Plötz 1998, S. 17). Das Wachstum der Einzelhandelsumsätze wurde von den seit 1996 wieder steigenden Reallöhnen getragen. Die im Jahr 1995 noch rückläufigen Reallöhne verzeichneten trotz Bankenkrise 1996 ein Wachstum von 6%, welches sich im zweiten Quartal 1997 im Vergleich zum Voijahresquartal sogar auf 13,5 erhöhte (Borrmann und Plötz 1998, S. 21). Über die Entwicklung der Umsätze im Großhandel liegen keine Zahlen vor. Aus der rückläufigen Entwicklung der Anzahl von Großhandelsbetrieben kann jedoch geschlossen werden, daß der Markt stagniert oder sich sogar verkleinert hat. Die Umsätze der verarbeitenden Industrie in (a.) Estland verzeichneten im Jahr 1995 erstmalig wieder einen leichten Anstieg zu konstanten Preisen. Die größten Wachstumsraten von 34% und 39% verzeichneten 1996 die Holz- und die Textilindustrie. Einzelne Branchen wie beispielsweise die Holzindustrie, die Getränkeindustrie und der Maschinenbau näherten sich dem Produktionsniveau von 1991 an oder übertrafen es bereits. Weiterhin rückläufig war die Umsatzentwicklung bei in Estland hergestellten Molkereiprodukten, Femsehem und Radiogeräten, optischen und medizinischen Instrumenten sowie der Uhren- und Fahrzeugindustrie. In der zweiten Jahreshälfte 1996 trat eine Beschleunigung des Wachstums ein. Die Wachstumsrate stieg im Jahr 1997 im produzierenden Gewerbe auf 17%. Im Frühjahr 1998 kam es zu einer Wachstumsverlangsamung. Die Umsätze in der Industrie stiegen im Juni allerdings noch immer um 7% im Vergleich zum Voijahreszeitraum. Wachstumsmotoren sind vor allem die Holz- und holzverarbeitende Industrie, die Papier- und Möbelindustrie, die Textilindustrie, die metallverarbeitende Industrie sowie der Maschinenbau (Fritsche und Lösch 1998, S. 16 f.). Angeführt von der boomenden Getränkeindustrie verzeichnete auch die Lebensmittelindustrie erstmalig wieder ein positives Wachstum. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit estnischer Produkte nahm zu. Im Jahr 1996 betrugen Exporte in der verarbeitenden Industrie 48% des gesamten Umsatzes. Im Folgejahr erhöhte sich der Exportanteil auf knapp über 51%. Das Exportvolumen stieg 1997 um 35,6%. Im ersten Quartal 1998 erhöhten sich die Exporte um 41% im Vergleich zum ersten Quartal des Voijahres.

458

Die Textil- und Holzindustrie sowie der Maschinenbau waren die bedeu-

454

Survey of the Lithuanian Economy 1997, Department of Statistics to the Government of the Republic of Lithuania, S. 77. 455

Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 192 f. sowie Statistical Office of Estonia, Indices of Industrial Production at Constant Prices. 456 457

458

Vgl. Bank of Estonia, Bulletin No. 2, 1998, S. 3. Vgl. Statistical Office of Estonia, Most Recent Statistical News, 1998. Vgl. Bank of Estonia, Comments on the Estonian Preliminary Balance of Payments for the First Quarter of 1998.

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Bertram Wiest 459

..

tendsten Exportbranchen. Uber die Hälfte der Exporte gingen in die Europäische Union. Der Anteil der OECD-Länder an den Exporten Estlands belief sich auf annähernd 60%. Die Bedeutung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) an den estnischen Exporten hatte sich stetig verringert und belief sich im Jahr 1996 auf nur noch ein Viertel der estnischen Gesamtexporte. In (b.) Lettland kam es 1996 - ein Jahr später als in Estland - erstmals wieder zu positiven Wachstumsraten im produzierenden Gewerbe. Die Wachstumsrate lag bei 7%. Bedeutendster Träger des Wachstums war die holz- und holzverarbeitende Industrie, welche bereits seit 1994 deutlich über dem Umsatzniveau des Jahres 1990 lag und mittlerweile 10% der gesamten Industrieproduktion auf sich vereinigt. Es folgten die Papierindustrie, welche ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau 1997 ein Wachstum von knapp 80% erzielte, die Textilindustrie, die Verlags-, Druck- und Tonträgerindustrie sowie die metallverarbeitende Industrie. Auch die Lebensmittelindustrie, welche 20% der gesamten industriellen Produktion ausmacht, verzeichnete seit 1996 wieder positive Wachstumszahlen, die im Jahr 1997 annähernd 11% erreichten. Weiterhin rückläufig war der Maschinenbau, der Fahrzeugbau, die Möbelindustrie sowie die chemische Industrie. Der insgesamt positive Wachstumstrend in der verarbeitenden Industrie hielt auch im ersten Halbjahr 1998 an. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit lettischer Produkte stieg. Im Jahr 1996 erhöhte sich das Exportvolumen in laufenden Preisen um 15,5%. Allein der Export von Konsumgütern war um über 20% gestiegen. Mit einem Anteil von 45% an den Gesamtexporten war die Europäische Union im Jahr 1996 der mit Abstand größte Exportmarkt für lettische Unternehmen, zweitgrößter Exportmarkt war die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) mit einem Anteil von 36%. Im Jahr 1997 haben die Exporte in die Europäische Union 459

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Vgl. Statistical Office of Estonia, Exports by Commodity Section sowie Bank of Estonia, Bulletin No. 2, 1998, S. 4; der ausgewiesene Anstieg der Exporte ist zum Teil darauf zurückzufuhren, daß 1997 erstmals der Transithandel in die Exportstatistiken eingegangen ist. Die Exporte stiegen jedoch vor allem aufgrund der sich verbessernden Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Das holzverarbeitende Unternehmen Paikuse Saeveski investierte beispielsweise 15 Millionen US-Dollar in eine im Sommer 1998 eröffnete Sägemühle, welche technisch auf neuestem Stand und damit die modernste der Baltischen Staaten ist. Die Kapazitätsgrenze der durch die Kredite dreier estnischer Banken finanzierten Sägemühle liegt bei 140.000 m 3 im Jahr. Das Unternehmen plant, zwischen 85 % und 90 % der produzierten Menge in die EU und nach Nordafrika zu exportieren - vgl. The Baltic Times, September 24-30, 1998, S. 10. Vgl. Statistical Offices of Estonia, Latvia and Lithuania, Foreign Trade 1996, S. 13. Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1997, S. 216f. sowie Bank of Latvia, Gross Domestic Product 1997. Vgl. Statistical Office of Latvia, Industrial Output Index 1998. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 259 sowie Statistical Office of Latvia, National Accounts of Latvia, 1997, S. 74. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 262.

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erstmals die 50% Marke überschritten, während der Anteil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) auf unter 30% sank {Bolz und Polkowski 1998, S. 37). Bedeutendste Exportartikel waren Holzprodukte mit 24% an den Gesamtexporten, welche vorrangig nach Großbritannien gingen, sowie Textilprodukte mit einem Anteil von 17%. Drittwichtigste Exportbranche war die Lebensmittelindustrie mit einem Anteil von fast 12%, die fast ausschließlich auf die Märkte in den anderen beiden Baltischen Staaten und in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gerichtet war.

465

In (c.) Litauen verzeichnete das produzierende Gewerbe erstmals im Jahr 1996 positive Wachstumsraten. Inklusive dem weiterhin schrumpfenden Bergbau betrug die Wachstumsrate 3,5%. Im Jahr 1997 stieg die Wachstumsrate auf 5% mit weiterhin 467

steigender Tendenz im Jahr 1998. Zweistellige Wachstumsraten im Vergleich zum Voijahr wurden in mehreren Branchen erzielt wie beispielsweise in der Tabakindustrie, was auf das Engagement von Philip Morris in Litauen und deren Investitionen von 38 Millionen US-Dollar zurückzuführen ist (Maldeilas 1998, S. 138). Ebenfalls zweistellig war das Wachstum in der Holzindustrie, in der Herstellung von Transportausrüstungen, der metallverarbeitende Industrie, der Herstellung von Radios, Fernsehern und Telekommunikationsgeräten, der chemischen Industrie sowie in der petrochemisehen Industrie, welche mit 23,5% den zweitgrößten Anteil der gesamten Industrieproduktion auf sich vereint. Allerdings konnten bis zum Jahr 1997 nur die vergleichsweise unbedeutende Gummiindustrie sowie die Herstellung von Transportausrüstungen das Produktionsniveau von 1992 erreichen. Die Lebensmittelindustrie, welche über 30% zur gesamten Industrieproduktion beiträgt, und die Textilindustrie, welche einen Anteil von 7% an der Industrieproduktion hat, entwickelten bisher eine nur geringe Wachstumsdy46S

namik und liegen noch immer weit unter ihrem Produktionsniveau von 1992 . Der Aufwärtstrend der litauischen Industrie spiegelt sich auch in den steigenden Exporten wider. Zwischen 1994 und 1997 stieg das Exportvolumen in US-Dollar gerechnet um 65% an. Anders als in Estland und in Lettland ist der Exportanteil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) noch immer größer als deijenige der Europäischen Union. Im Jahr 1996 gingen 33% aller litauischen Exporte in die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und noch 45% in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Der größte Anteil an den gesamten Exporten entfiel mit 16% auf die Textilindustrie. Produkte der chemischen Industrie kamen mit 11% auf den drittgrößten Exportanteil. Die Holzindustrie, welche in den anderen beiden Baltischen Staaten die wichtigste Export469 branche ist, kommt nur auf einen Anteil von 6%

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Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 265 ff. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 268 ff. Vgl. Statistical Office of Lithuania, Industiy Sales, 1998. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 268 ff. Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 450 ff.

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4.3.4.2. Kosten und Gewinnentwicklung im Handel und in der verarbeitenden Industrie Nachdem es in der Kernphase aufgrund stark steigender Preise für Rohstoffe und Zwischenprodukte sowie vorzunehmender außerordentlicher Abschreibungen zu einer hohen Kostenbelastung in der verarbeitenden Industrie gekommen war, ließ der Kostendruck in der Lern- und Stabilisierungsphase nach. Wie entwickelten sich einzelne Kostenarten? Aufgrund der in allen drei Baltischen Staaten sinkenden Zinsniveaus verringerten sich die Kapitalkosten. Die Verbreitung des Factoring und Leasing von Gebäuden, Maschinen, Computern und Fuhrpark verspricht eine weitere Kostenentlastung der Unternehmen. Die Abschreibungsraten spiegeln mehr und mehr den laufenden Kapitalverzehr wider. Die Preisentwicklung bei Industriegütern verlief seit 1994 in allen drei Baltischen Staaten deutlich langsamer als bei den Konsumgütern. In Estland betrug im Jahr 1997 der Anstieg der Produzentenpreise in der verarbeitenden Industrie 2,2%, in Lettland belief er sich auf 2,3% und in Litauen fiel der Anstieg der Produzentenpreise im Vergleich zum Voijahr noch geringer aus.

470

In allen drei baltischen Staaten stiegen die durchschnittlichen Bruttolöhne stark an. In Estland und in Lettland erhöhten sie sich im Jahr 1997 um 20%, in Litauen betrug die Wachstumsrate im zweiten Quartal 25%. Auch in den Vorperioden war es zu zweistelligen Steigerungsraten der Bruttolöhne gekommen, deren Anstieg sich jedoch aufgrund der sinkenden Inflationsraten verlangsamte. Trotz der Lohnsteigerungen können alle drei Baltischen Staaten im Vergleich zu skandinavischen und deutschen Lohnni471

veaus als Niedriglohnländer angesehen werden. Ob die Lohnsteigerungsraten durch das Wachstum der Produktivität zumindest teilweise kompensiert wurden, läßt sich für Estland und Lettland beantworten. Die estnische Notenbank betont, daß die Produktivität in Estland im Jahr 1997 zum ersten Mal stärker gestiegen sei als die Reallöhne, wel472 che im Jahresdurchschnitt um 7,6% zulegten. Infolge des Produktivitätswachstums stellt sie einen Rückgang der Lohnquote zu Gunsten der Gewinnquote fest {Fritsche und Lösch 1998, S. 17 f.). Auch das lettische Wirtschaftsministerium weist einen jährlichen Anstieg der Produktivität seit 1994 aus, der sich im Jahr 1996 auf bis zu 6.7% erhöhte. Das Produktivitätswachstum zeugt von erfolgreichen Restrukturierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen in den Betrieben. Es kann unterstellt werden, daß die Pro-

470

471

472 473

Vgl. Bolz und Polkowski (1998, S. 26 f.), Borrmann und Plötz (1998, S. 20). sowie Fritsche und Lösch (1998, S. 22). In Litauen überschritt der monatliche Brutto-Durchschnittslohn erst 1997 die Schwelle von 200 US-Dollar, in Lettland betrug er im Jahr 1997 im Durchschnitt um die 380 Deutsche Mark und in Estland knapp 450 Deutsche Mark - vgl. Bolz und Polkowski (1998), S. 27, Borrmann und Plötz (1998, S. 21) sowie Bank of Estonia, Bulletin No. 2, 1998, S. 14 f. Vgl. Bank of Estonia, Bulletin No. 2, 1998, S. 14 f. Vgl. Ministry of Economy of the Republic of Latvia, June 1997, S. 53; vgl. auch Ministry of Economy of the Republic of Latvia, June 1998, S. 41.

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duktivität auch in Litauen spätestens seit der Beschleunigung der Privatisierungspolitik zunahm. Wie schlug sich die Entwicklung der Kosten und der Umsätze in den Gewinnen von Handel und Industrie nieder? Von der Kostenentwicklung profitierte aufgrund des größeren Ressourceneinsatzes vor allem die verarbeitende Industrie, deren Kostensituation sich im Vergleich zur Kernphase nachhaltig verbessert hat. Auch waren in allen drei Baltischen Staaten die Umsätze in der verarbeitenden Industrie stark angestiegen. Es ist zu prüfen, ob sich die Profitabilität in der verarbeitenden Industrie so weit erhöht hat, daß sich das Gewinngefälle zum Handel verringerte. Im Jahr 1994 lag die durchschnittliche Profitabilität von Handelsbetrieben noch deutlich über deijenigen im verarbeitenden Gewerbe. In Estland soll im Jahr 1994 die durchschnittliche Eigenkapitalren474

dite in der verarbeitenden Industrie 4,2% und im Handel 14% betragen haben. In Litauen weist das Statistische Amt für das Jahr 1995 eine Eigenkapitalrendite in der verarbeitenden Industrie von 0,6% aus. Im Handel soll sie bei 16,7% gelegen haben. Im Folgejahr verbesserte sich die Profitabilität in der verarbeitenden Industrie sprunghaft. Die ausgewiesene durchschnittliche Eigenkapitalrendite stieg auf 8,6%. Die Lebensmittelindustrie soll beispielsweise im Schnitt eine Rendite von knapp 18% und die chemische Industrie von 17% erzielt haben . Der durchschnittliche Gewinn vor Steuern war dagegen in der litauischen Holz- und holzverarbeitenden Industrie, in der petrochemischen Industrie und im Fahrzeugbau negativ. Im Handel soll sich die Eigenkapitalrendite im Jahr 1996 auf 20% belaufen haben. Sie läge damit noch immer deutlich über der Profitabilität in der verarbeitenden Industrie, aber der Abstand hätte sich verringert. Indirekten Aufschluß über die im Handel und der verarbeitenden Industrie erwirtschafteten Gewinne gibt die Inanspruchnahme von Bankkrediten in den jeweiligen Sektoren. In Lettland und Litauen waren Handelsbetriebe die wichtigsten privaten Kreditnachfrager, was auch auf Estland zugetroffen haben müßte. So entfielen noch Ende 1996 in Lettland 38,6% aller vergebenen Kredite auf den Handel (Korhonen 1998, S. 56). Dies impliziert, daß bei einer größeren Anzahl von Handelsbetrieben die Gewinnmargen über den zwar sinkenden, aber gerade in den Jahren 1994 und 1995

474

Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 38 ff.; Eigenkapitalrendite = Gewinn vor Steuem/Eigenkapital. Setzt man den durchschnittlichen Gewinn vor Steuern ins Verhältnis zum Umsatz, dann erhält man in der verarbeitenden Industrie für 1994 eine Umsatzrendite von 1,6 %, im Einzelhandel von knapp 1 % und im Großhandel von 1,5%. 475

Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1996, S. 288.

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Daß die Lebensmittelindustrie eine so hohe Profitabilität gehabt haben soll, verwundert, da sie im Betrachtungszeitraum ein nur bescheidenes Umsatzwachstum und geringe Rationalisierungsbestrebungen verzeichnete. 477 478

Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 299 ff.

Vgl. Bolz und Polkowski (1994, S. 24) sowie Lösch (1994, S. 26 f.).

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noch immer hohen Kreditzinsen gelegen haben müssen. Allerdings läßt sich in Lettland eine Verschiebung zugunsten der verarbeitenden Industrie beobachten, deren Anteil am Volumen vergebener Kredite stieg (Korhonen 1998, S.56). Dies kann zum einen auf die gesunkenen Zinsen zurückgeführt werden, zum anderen auf die sich erhöhende Profitabilität in der verarbeitenden Industrie. Ein mit der Kreditnachfrage verknüpfter Beleg für sich erhöhende Gewinnerwartungen in der verarbeitenden Industrie ist in dem Ansteigen der Anlageinvestitionen zu sehen. So waren in den ersten drei Quartalen des Jahres 1997 die Anlageinvestitionen in Estland auf knapp 26% des Bruttoinlandsproduktes gestiegen. Um die 60% der Investitionen wurden aus erwirtschafteten Gewinnen finanziert, während dieser Betrag im Jahr 1996 noch bei 54% lag. Umfragen in der Industrie und im Handel belegen zudem einen Anstieg der Gewinnerwartungen in beiden Sektoren. 4.3.5.

Innovationsentwicklung und Struktur in der verarbeitenden Industrie

4.3.5.1. Die Wertschöpfungstiefe der verarbeitenden Industrie Wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich wurde, verzeichnen weite Teile der verarbeitenden Industrie vor allem in Estland, aber auch in den anderen beiden Baltischen Staaten, positive Wachstumszahlen. Unternehmen in einer Vielzahl von Branchen haben sich erfolgreich an die vorherrschenden Wettbewerbsbedingungen angepaßt und auf Exportmärkten Marktanteile erobert. Dennoch hält die Kritik an der verfolgten liberalen Wirtschaftspolitik an. Die Forderung nach einer staatlichen Industrie- und Technologiepolitik wird mit dem Argument untermauert, daß sich die Wertschöpfungstiefe in der verarbeitenden Industrie unaufhaltsam verringere und die Baltischen Staaten zur verlängerten Werkbank der skandinavischen Nachbarn degenerierten. Das vermeintlich hohe Industriepotential aus Sowjetzeiten bleibe ungenutzt. „The amount of value added by Estonian companies wouldn't buy a bowl of soup...The bulk of those exports are a motely collection of brain-dead subcontracting for Western firms, raw materials and transit traffic" kritisiert das Wirtschaftsmagazin Business Central Europe 480

in seiner Titelgeschichte vom Juli 1998. Als Beispiel wird unter anderem der zum Ericsson-Konzern gehörende Handy-Hersteller Elcoteq angeführt, der eine von Estlands größten Exportfirmen betreibt. Die Tätigkeit der dort Angestellten wird dahingehend abqualifiziert, daß auch „a monkey could do it. Estonia deserves better than that". Sieht man von dem polemischen Charakter der Ausfuhrungen ab, so beinhalten sie die sachlich richtige Feststellung, daß sich die Wertschöpfungstiefe in den meisten Branchen der verarbeitenden Industrie der Baltischen Staaten zunächst stark verringert hat. Estland und Lettland exportieren vorrangig rohes Holz nach England und Skandinavien. Abgesehen von der estnische Möbelindustrie steht der Aufbau nachgelagerter 479 480 481

Vgl. Bank of Estonia, Bulletin No. 2, 1998, S. 6. Siehe Business Central Europe, Juni 1998, S. 9. Business Central Europe, Juni 1998, S. 11.

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holzverarbeitender Industrien erst am Anfang. In Lettland betrug beispielsweise das Produktionsvolumen der Papierindustrie im Jahr 1996 trotz wieder positiver Wachstumsraten in konstanten Preisen noch immer nur knapp über 40% des Niveaus von 1990. Die lettische Möbelindustrie produzierte 1996 nur 38% des Produktionsniveaus von 1990. Die Menge an hergestellter Zellulose belief sich 1996 in Tonnen gerechnet nur noch auf knapp über 30% der Produktionsmenge des Jahres 1993. In der Textilindustrie und im Bau von Maschinen und Ausrüstungen beruhen die wachsenden Exportumsätze in allen drei Baltischen Staaten vielfach auf Lohnveredelung im Auftrag westlicher Unternehmen. Auch wenn eine deutliche Verringerung der Wertschöpfungstiefe in den baltischen Industrien konstatiert werden muß, so ist die Berichterstattung des Business Central Europe als zu oberflächlich und pauschal zu kritisieren. Sie berücksichtigt nicht die in verschiedenen Bereichen der verarbeitenden Industrie stattfindende oder sich abzeichnende Vertiefung der industriellen Wertschöpfung. Hierbei erlauben die aggregierten statistischen Daten ein nur eingeschränktes Urteil über die tatsächliche Wertschöpfungstiefe in der verarbeitenden Industrie. So kann die parallele Entwicklung der Importe und Exporte in der Textilindustrie und im Maschinenbau als Indiz für Lohnveredelung interpretiert oder auf eine Zunahme des intrasektoralen Handels zurückgeführt werden. Diese würde eine Spezialisierung innerhalb von Produktgruppen und die zunehmende Integration der Baltischen Staaten in die internationale Arbeitsteilung andeuten. Es bedarf einer tiefergehenden Analyse derjenigen Gründe, die einen Rückgang der industriellen Wertschöpfung verursacht haben könnten. Des weiteren ist zu untersuchen, welche ökonomischen Mechanismen und Kräfte für eine erneute Erhöhung der Wertschöpfungstiefe sprechen. Diese ist anhand von konkreten Fallstudien zu belegen. Es stellt sich die Frage, ob die verringerte Wertschöpfungstiefe in den Baltischen Staaten eine unausweichliche Folge des Zusammenbruchs der sowjetischen Arbeitsteilung und der zentralen Wirtschaftsplanung war oder durch Industriepolitik hätte abgewendet werden können. Weist die verarbeitende Industrie einer offenen Volkswirtschaft eine hohe industrielle Wertschöpfungstiefe auf, dann ist tendenziell der Anteil des intra-industriellen Handels hoch. So entfällt ungefähr ein Viertel des Welthandels auf den intra-industriellen Handel, welcher sich vorrangig zwischen entwickelten Industrienationen mit vergleichbaren Produktions- und Nachfragebedingungen entwickelt hat (Krugman 1997, S. 139). Kostendegression durch steigende Skalenerträge wird im Wettbewerb zwischen Unternehmen oder ganzen Branchen zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor und treibt die intra-industrielle Spezialisierung voran. Wieso waren viele

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Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 223.

483

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 266 sowie Statistical Office of Estonia, Foreign Trade, 1997, S. 101 f. 484

Vgl. Borrmann und Plötz (1998, S. 30 f.); allerdings deutet die noch geringe Wertschöpfungstiefe in den meisten Branchen eher darauf hin, daß dieser Prozeß in einem Großteil der Unternehmen erst am Anfang steht.

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baltische Industriekombinate, welche auf den gesamten sowjetischen Markt ausgerichtet waren, trotz bereits bestehender steigender Skalenerträge in der Produktion nicht in der Lage, mit westlichen Industrieunternehmen zu konkurrieren? Wie in Kapitel 5.1.2. dargelegt wurde, ist davon auszugehen, daß aufgrund der impliziten Subventionierung die Wertschöpfung in den meisten baltischen Industriekombinaten in Weltmarktpreisen trotz steigender Skalenerträge negativ war. Wenn die Liberalisierung der Preise und des Außenhandels zu einer - zumindest teilweisen - Entwertung des physischen Kapitalstocks und des vorhandenen Humankapitals gefuhrt haben, dann war es den baltischen Industriekombinaten nicht möglich, sich im intra-industriellen Handel auf die Herstellung kapitalintensiver Produkte mit hoher Wertschöpfungstiefe zu spezialisieren. Sie waren unter gegebenen Produktionsbedingungen auf den internationalen Märkten nicht wettbewerbsfähig. Den Baltischen Staaten verblieb die Möglichkeit, sich auf die Fertigung und den Export von vergleichsweise rohstoff- und arbeitsintensiven Produkten zu spezialisieren. Daher dominierte der inter-industrielle Handel mit dem Ausland. Diese Spezialisierung spiegelt die nach der Liberalisierung des Außenhandels und der Preise bestehenden komparativen Kostendifferenzen zum Ausland wider. Komparative Kostendifferenzen können sowohl auf komparativen Produktivitätsunterschieden zwischen Ländern als auch auf unterschiedlichen Faktorausstattungen basieren. Die Struktur des Außenhandels und der verarbeitenden Industrie in den drei Baltischen Staaten scheint durch die jeweiligen Faktorproportionen bestimmt worden zu sein. Dem Heckscher-OhlinTheorem zufolge exportiert ein Land jenes Gut, welches denjenigen Faktor relativ intensiv nutzt, mit dem das Land relativ reichlich ausgestattet ist (Rose und Sauernheimer

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Lettlands größter Industriebetrieb war beispielsweise das Kombinat VEF, welches eine der führenden Hersteller von Kommunikationstechnologien der Sowjetunion war. An einer Ausfallstraße Rigas gelegen, lassen sich heute große und heruntergekommene Gebäudekomplexe besichtigen, die den Kapitalverzehr vor Augen fuhren. Produziert wurden zu Sowjetzeiten vorrangig Telephone und Transistorgeräte. Nach der Auflösung der Sowjetunion wurde VEF in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die jedoch noch zu 100 % dem Staat gehörte. Um die Privatisierung zu erleichtern wurde eine Art Holding gebildet, deren Töchterunternehmen nach Produktzweigen voneinander abgegrenzt wurden. VEF-Transistors hat die Herstellung von Transistorgeräten ganz eingestellt. Die Produkte waren zu Weltmarktpreisen nicht kostendeckend zu produzieren und von minderwertiger Qualität. VEF-Transistors begann im Auftrag des deutschen Unternehmens Telefunken gebrauchte deutsche Telephone zu reparieren, die für den Verkauf auf den russischen Märkten bestimmt waren. Mangels Kapital und Wissen hatte sich die Wertschöpfungstiefe auf Reperaturleistungen verringert. Das größte Tochterunternehmen war die VEF-KT, welche wieder Telephone für den osteuropäischen Markt produzieren sollte. Hierfür sollte ein eigens ausgegliedertes Forschungs- und Entwicklungsuntemehmen mit 200 Angestellten neue Telephone entwickeln, die auch gegenüber westlichen Produkten wettbewerbsfähig sein sollten. Allerdings fand sich niemand, der bereit gewesen wäre, in den maroden Kapitalstock zu investieren. Im Sommer 1998 waren die einzelnen Tochterunternehmen entweder bereits abgewickelt, oder sie standen kurz vor der Liquidierung.

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1995, S. 387). Daß ganze Industriezweige nur noch Lohnveredelung für westliche Unternehmen betreiben, läßt sich mit dem im Vergleich zu den westlichen Industriestaaten niedrigeren Preis des Faktors Arbeit beziehungsweise auf dessen relativen Überfluß und der relativen Knappheit des Faktors Kapital begründen. Unter welchen Umständen ist eine Erhöhung der industriellen Wertschöpfung in den Baltischen Staaten zu erwarten? Die komparativen Kostendifferenzen können sich durch die Akkumulation beziehungsweise den Import von Kapital und Wissen verschieben, so daß eine Vertiefung der Wertschöpfung in der verarbeitenden Industrie wieder vorteilhaft wird. Der Aufbau eines wettbewerbsfähigen Kapitalstocks setzt Kapitalakkumulation sowie Lernprozesse der Wirtschaftssubjekte voraus. Diese können durch Kapitalimporte und den Transfer technischen und organisatorischen know hows sowie der Marktkenntnis ausländischer Direktinvestoren beschleunigt werden. Im folgenden soll geprüft werden, welche Impulse in diesem Akkumulationsprozeß vom Handel ausgehen können. 4.3.5.2. Der Handel und der Innovationswettbewerb in der verarbeitenden Industrie In Kapitel 5.2.7.2. über den Handel in entwickelten Marktwirtschaften wurde die Schlußfolgerung gezogen, daß der Innovationswettbewerb im Handel um nachfragegerechtere Sortimente einen Innovationswettbewerb um die Entwicklung neuer Produkte und Problemlösungen auf der dem Handel vorgelagerten Produktionsstufe nach sich ziehen kann. Es ist zu prüfen ob sich in den Baltischen Staaten ein Entwicklungsmuster identifizieren läßt, demzufolge der Innovationswettbewerb im Handel den Aufbau wettbewerbsfähiger Strukturen auf den vorgelagerten Marktstufen in der verarbeitenden Industrie anstößt. Welche Impulse gehen von der Sortimentsbildung im Handel auf die Investitionsentscheidungen in- und ausländischer Investoren aus? Im Vordergrund der Betrachtung steht somit nicht die von westlichen Investoren betriebene Lohnveredelung und der anschließende Re-Export der Güter. Vielmehr soll überprüft werden, ob sich die Wertschöpfungstiefe in der verarbeitenden Industrie wieder erhöht und baltische Produkte in den Sortimenten des Handels an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Importprodukten gewonnen haben. Die Vielzahl neugegründeter Betriebe im Handel und der zwischen ihnen entstehende Wettbewerb führten zu einer Öffnung des Absatzkanals „Handel" für neue Produkte und Hersteller. Einheimische Produkte mußten sich im direkten Wettbewerb mit Importprodukten um knappe Regalplätze behaupten. Der Innovationswettbewerb zwischen Handelsbetrieben um kostengünstige Beschaffungs- und Absatzwege sowie um nachfragegerechte Sortimente nahm an Intensität zu. Im Parallelprozeß kam es zu einer Differenzierung der Sortimente sowie der Betriebs- und Angebotstypen. Handelsbetriebe eröffneten den Konsumenten hierdurch neue Wahlmöglichkeiten. Die Markttransparenz nahm zu und senkte die bei den Konsumenten anfallenden Kosten des direkten Produktvergleichs. Die Konsumenten bilden in einem Versuchs- und Irrtumsverfahren konsistente Theorien über die Eignung verschiedener Preis-Leistungskombinationen für die Nutzenproduktion heraus. Dies spiegelt sich in der Konsolidierung der

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Strukturen im Groß- und Einzelhandel wider, die auch für eine abnehmende Anzahl vorgenommener Sortimentsvariationen des Einzelhandels sprechen. Das im Handel akkumulierte Wissen über die sich verschiebenden Konsumgewohnheiten der Verbraucher diffundiert mit einer erheblichen Zeitverzögerung im Marktprozeß. Zu nennen sind die folgenden Gründe: - Der Beginn einer konsequenten Privatisierungspolitik in der verarbeitenden Industrie verzögerte sich in Estland bis 1994, in Lettland bis 1995 und in Litauen bis 1996. Die Unsicherheit über die zukünftigen Eigentümerstrukturen behinderte die Restrukturierung in vielen Produktionsbetrieben. In der Herausbildung marktwirtschaftlicher Strukturen hatte somit der Handel aufgrund politischer und organisatorischer Unstimmigkeiten in der „großen Privatisierung" einen zeitlichen Vorsprung. - Um den teilweise entwerteten Kapitalstock in den Produktionsbetrieben wieder aufbauen zu können, bedurfte es Kapital. Da es noch keine entwickelten Kapitalmärkte gab und die Kreditzinsen der Banken nur langsam von ihrem prohibitiv hohen Niveau sanken, mußten Investitionen aus erwirtschafteten Gewinnen oder durch ausländisches Kapital finanziert werden. Die Gewinnsituation in der verarbeitenden Industrie war jedoch bis in die Lern- und Stabilisierungsphase hinein schlecht. Ausländische Direktinvestitionen flössen erst in größerem Umfang, nachdem sich das politische System gefestigt, die makroökonomische Stabilisierung fortgeschritten und die Privatisierung der Staatsbetriebe beschleunigt und neu organisiert worden war. - Der Erwerb und die Umsetzung neuen Wissens in den bestehenden Industriebetrieben sind mit der Hypothek von in Sowjetzeiten geprägten Hierarchien belastet. Im Handel konnten sich dagegen neue Verhaltensmuster schneller durchsetzen, da einerseits die Organisationstiefe geringer ist und andererseits die Anzahl an Neugründungen größer war. - Erst nachdem in den Sortimenten des Handels eine gewisse Verstetigung einsetzte, konnten sich die Erwartungen vorgelagerter Produktionsbetriebe bezüglich nachgefragter Preis-Leistungskombinationen stabilisieren. Wie diffundierte das im Handel akkumulierte Wissen um nachgefragte PreisLeistungskombinationen im Marktprozeß? Die Kaufentscheidungen der Konsumenten spiegeln sich in der Sortiments- und Beschaffungspolitik des Einzelhandels und damit auch der vorgelagerten Großhandelsbetriebe wider. Die wachsende Nachfrage nach importierten Konsumgütern implizierte in vielen Fällen eine Verdrängung einheimischer Produkte aus den Sortimenten des Einzelhandels. Zugleich wurden jedoch überlegene Preis-Leistungskombinationen und Problemlösungen aufgedeckt. Auch auf den vorgelagerten Marktstufen erhöhten die Experimentierprozesse des Handels die Markttransparenz und wirkten auf eine Verringerung der mit dem Wissenserwerb in der Konsumgüterindustrie verbundenen Suchkosten hin. Hierdurch wurden die Voraussetzungen für den sich entfaltenden Innovationswettbewerb zwischen den in die baltischen Märkte vorstoßenden ausländischen Herstellern und nachziehenden Wettbewerben geschaffen. Einzelne Komponenten überlegener Preis-Leistungskombinationen wie der Preis, qualitative Eigenschaften, das Design und die Verpackung konnten als Benchmark für die Produktentwicklung nachstoßender einheimischer Wettbewerber herangezogen werden.

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Dienen importierte Produkte als Benchmark, dann orientieren sich potentielle in- und ausländische Investoren an geschätzten Preisdifferentialen zwischen den Importgütern und der möglichen Eigenproduktion. Wird erwartet, nachfragegerechte Preis-Leistungskombinationen zu niedrigeren Preisen anbieten zu können und übersteigt zudem die prognostizierte Kapitalrentabilität der Eigenproduktion alternative Kapitalanlagen, dann werden Investitionen in der verarbeitenden Industrie vorteilhaft. Im Gegensatz zum Handel müssen Produktionsbetriebe jedoch nicht nur Wissen um nachgefragte PreisLeistungskombinationen sowie um Absatz- und Beschaffungsmärkte erwerben, sondern auch noch das in den Produkten geronnene Produktionswissen. Anpassungen des Produktionsprogrammes in der verarbeitenden Industrie sind im Vergleich zu Sortimentsvariationen im Handel zeit- und kostenaufwendiger. Die größere Anzahl an Handlungsparametem hat eine höhere Komplexität der Leistungserstellung in der verarbeitenden Industrie zur Folge. Der Umfang des zu erwerbenden Wissens ist größer als im Handel. Dies trifft vor allem auf die verarbeitende Industrie in den Transformationsstaaten zu, deren Produkte und Strukturen auf den Sowjetmarkt abgestellt und durch die zentrale Wirtschaftsplanung bestimmt worden waren. Anpassungen des Produktprogramms an die sich herausbildenden Wettbewerbsbedingungen setzten die Restrukturierung der gesamten Leistungserstellung voraus. Der Restrukturierungsbedarf umfaßte neben der Produktentwicklung eine Vielzahl unternehmerischer Handlungsparameter wie beispielsweise die Organisation der Produktionsprozesse und der innerbetrieblichen Abläufe, die bestehenden Anreiz- und Sanktionssysteme, die Qualitätskontrolle, die Kostenerfassung und -rechnung sowie das Erlernen und Implementieren modemer Marketingmethoden. Eine wesentliche Orientierungshilfe in der Produktentwicklung sowie in der Restrukturierung der Betriebe stellte die ISO 9000 Zertifizierung dar, welche - wie in den nachfolgenden Fallbeispielen gezeigt wird - eine größere Anzahl an baltischen Betrieben anstrebt oder sogar schon erreicht hat. Durch sie wird zum einen ein qualitativer Standard der Produkte garantiert und eventuelle Qualitätsvorbehalte auf den internationalen Märkten verringert. Zum anderen geben der Zertifizierungsprozeß und die hierzu erhältlichen Ratgeber einen konkreten Leitfaden für die Restrukturierung betriebsinterner Abläufe und Prozesse. Nachhaltige Impulse für die Restrukturierung baltischer Betriebe gingen und gehen von ausländischen Direktinvestitionen aus. Sie transferierten nicht nur Kapital, sondern auch das bereits auf anderen Märkten getestete Wissen um Märkte und Wettbewerber sowie technisches und organisatorisches know how. Ein Indikator für das Ausmaß vorgenommener Restrukturierungsmaßnahmen in den Betrieben der verarbeitenden Industrie sind die in allen drei Baltischen Staaten in der Lern- und Stabilisierungsphase nachweislich stark gestiegenen Anlageinvestitionen. Die ihnen zu Grunde liegenden Gewinnerwartungen werden im Marktprozeß getestet. Durch den Selektionswettbewerb innerhalb der Sortimente des Einzelhandels und vorgelagerter Großhandelsbetriebe im In- und Ausland werden die Kaufentscheidungen der Konsumenten mit den tatsächlich erzielten Gewinnen der Konsumgüterindustrie und vorgelagerter Zuliefererbetriebe rückgekoppelt. Mehrere Indizien sprechen dafür, daß die

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Investitionen in den Kapitalstock und die Restrukturierungen innerhalb der Betriebe die Wettbewerbsfähigkeit in einzelnen Branchen der verarbeitenden Industrie nachhaltig erhöht haben. Zum einen stieg die durchschnittliche Kapitalrentabilität in der verarbeitenden Industrie. Zum anderen zeugen die wieder steigenden Inlandsumsätze sowie die Produktionskennziffern einzelner Branchen wie beispielsweise der Lebensmittelindustrie oder der Bekleidungsartikelindustrie von der sich wieder erhöhenden Präsenz baltischer Produkte in den Sortimenten des Einzelhandels. Es wurde gezeigt, daß der zunehmende horizontale Innovationswettbewerb im Einzelhandel die Nachfrage nach vorgelagerten Handelsleistungen erhöhte und sich die vertikale Arbeitsteilung zwischen Groß- und Einzelhandelsbetrieben vertieft hat. Zu prüfen ist, ob der vom Handel angestoßene Innovationswettbewerb auch in der verarbeitenden Industrie auf eine sich vertiefende vertikale Arbeitsteilung hinwirkte. Die großen Kombinate in der verarbeitenden Industrie hatten zu Sowjetzeiten einen hohen Grad an vertikaler Integration aufgewiesen. Dieser verringerte sich im Zuge der sinkenden industriellen Wertschöpfungstiefe nach der Preis- und Außenhandelsliberalisierung. Aufgrund des Selektionsdrucks in den Sortimenten des Handels begannen heimische Hersteller von Konsumgütern, importierte Preis-Leistungskombinationen zu imitieren. In diesem Lernprozeß konnten sie die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte erhöhen, wie die wieder steigenden Absatzzahlen belegen. Zwischenprodukte von Zuliefererindustrien wie beispielsweise das Verpackungsmaterial für Lebensmittel oder synthetische Garne in der Textilindustrie waren jedoch weiterhin nur eingeschränkt wettbewerbs486

fähig. Solange sich die potentiellen heimischen Absatzmärkte in einem tiefgreifendem Wandel befanden und mit unterschiedlichen Fertigungstiefen, Produkten und Produktionsverfahren experimentierten, war es für vorgelagerte Betriebe der Zuliefererindustrien kaum vorteilhaft, ebenfalls in die Suche nach neuen Produkten und in die 487 Restrukturierung der Fertigung zu investieren. Die Betriebe der Konsumgüterindustrie hatten die Option, Zwischenprodukte entweder zu importieren oder die eigene Fertigungstiefe zu erhöhen und das vor- oder nachgelagerte Produktionswissen zu erwerben. Der Import erwies sich in vielen Fällen als günstiger, da spezialisierte ausländische Anbieter steigende Skalenerträge in der Produktion realisieren konnten und der Erwerb des vorgelagerten Produktionswissens sowie der Aufbau neuer Fertigungsanlagen mit hohen Kosten verbunden war. In der 486 487

Vgl. die Fallbeispiele im folgenden Kapitel 5.4.4. Marshall (1927, S. 241 f.) kam durch die Beobachtung zeitgenössischer Beispiele fur Innovationen und vertikale Integrationsprozesse aus der Chemie- und der Stahlindustrie zu einem Ergebnis, welches sich auch auf die vertikale Arbeitsteilung in den baltischen Industrien übertragen läßt: „... when an industry is in process of incessant transformation by the creation of new things as well as by the invention of new methods, there is little chance that a general supply of a particular class of by-products will be available, on which a man of moderate means can specialize". Erst „... when the products ... have further developed, they will again be more effectively handled in some cases most effectively by businesses each of which devotes to one class of work considerable capital and high ability specialized wholly on it".

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Textilindustrie sowie in der Verlags- und Druckindustrie wurden vermehrt importierte Stoffe und Garne beziehungsweise Papier eingesetzt. Betriebe der Lebensmittelindustrie experimentierten ebenfalls mit importiertem Verpackungsmaterial, wie in den nachfolgenden Fallbeispielen gezeigt wird. Es etablierte sich ein Markt für Großhandelsbetriebe, welche in Konkurrenz zu dem direkten Absatz ausländischer Hersteller den Import organisierten. Durch die Zusammenfassung von Zwischenprodukten zu Sortimenten sanken nicht nur die Kosten direkter Qualitäts- und Preisvergleiche für die Nachfrager aus der Konsumgüterindustrie, sondern auch die Kosten für den Wissenserwerb der ihr vorgelagerten Betriebe. Die Markttransparenz stieg und stieß dabei horizontale und vertikale Wettbewerbs- und Lernprozesse in den der Konsumgüterindustrie vorgelagerten Zuliefererindustrien an. Wie auch in der Konsumgüterindustrie stellten Importprodukte auf den vorgelagerten Märkten eine Benchmark für mögliche Imitatoren dar. Das Wissen um nachgefragte Zwischenprodukte sowie das in ihnen gebundene Produktionswissen diffundierte im Marktprozeß. Zuliefererbetriebe experimentierten mit neuen Preis-Leistungskombinationen und testeten sie im Marktprozeß. Wettbewerbsfähige Zuliefererbetriebe entstanden zum Beispiel in der Verpackungsindustrie, in der Verlagsund Druckindustrie sowie in der Textilindustrie. Der Grad an vertikaler Arbeitsteilung innerhalb der Baltischen Industrien und damit auch deren Wertschöpfungstiefe erhöhte sich wieder. 4.4.

Fallbeispiele für die steigende Wettbewerbsfähigkeit baltischer Industriebetriebe

Besteht die verarbeitende Industrie in den Baltischen Staaten tatsächlich nur aus der Holzindustrie und Lohnveredelung im Auftrag westlicher Unternehmen? Im folgenden soll gezeigt werden, daß das beschriebene Entwicklungsmuster eines sich vom Handel auf vorgelagerte Industrien ausbreitenden Innovationswettbewerbes in den Baltischen Staaten anhand konkreter Beispiele belegen läßt. Infolge der vom Handel angestoßenen Lern- und Experimentierprozesse in den unterschiedlichsten Branchen vertieft sich sowohl die Wertschöpfungstiefe in den Betrieben als auch die vertikale Arbeitsteilung zwischen den Betrieben der verarbeitenden Industrie. Anhand der Beispiele wird deutlich, daß sich entgegen der in Kapitel 5.1.2. zitierten Aussagen des von C. von Hirschhausen herausgegebenen Abschlußberichts an die Europäische Union eine vielschichtige neue industrielle Basis in den Baltischen Staaten entwickelt. 1. Die Lebensmittelindustrie: In allen drei Baltischen Staaten verzeichnete die Lebensmittelindustrie nach 1991 einen starken Rückgang. In konstanten Preisen betrugen die Produktionsniveaus in Estland und Lettland im Jahr 1996 trotz leichten Wachstums noch immer weniger als 50% des Niveaus von 1991. In Litauen waren die Dies belegen auch die im Wirtschaftsteil der baltischen Wochenzeitung „The Baltic Times" regelmäßig auf einer extra Seite publizierten „earnings of listed and to-belisted companies" - vgl. beispielsweise The Baltic Times, April 9-15, S. 16. 489

Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 217 sowie Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 193.

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230

Wachstumsraten noch im Jahr 1996 leicht negativ und das Durchschreiten der Talsohle 490

stand erst noch bevor. Baltische Lebensmittelprodukte hatten innerhalb der Sowjetunion den Ruf gehabt, eine überdurchschnittlich hohe Qualität aufzuweisen. Noch im Jahr 1996 wurden beispielsweise 86% der lettischen Exporterlöse mit Lebensmitteln in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) erzielt. Seitdem sie jedoch in den Sortimenten des heimischen Einzelhandel und auf den Exportmärkten mit westlichen Produkten um Marktanteile konkurrieren müssen, ging vor allem auf den Inlandsmärkten der Absatz stark zurück. Qualitätsunterschiede wurden offensichtlich. Während zunehmend westliche Lebensmittel importiert wurden, betrug der Anteil der lettischen Exporte in die Europäische Union weniger als 3% und liegt unter dem nach Estland importierten Anteil. Seit 1996 steigen jedoch in Lettland und Estland sowie mit einjähriger Verzögerung auch in Litauen die Absatzzahlen wieder. Baltische Lebensmittel haben an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. Der Unterschied in der Qualität, in der Verpackung und im Marketing zu westlichen Importprodukten hat sich verringert. Mit die höchsten Wachstumsraten in allen drei Baltischen Staaten verzeichnet die Getränkeindustrie. In ihr ist die Restrukturierung der Betriebe weit fortgeschritten, was sich in wieder wachsenden Marktanteilen niederschlägt. In den Sortimenten des Lebensmitteleinzelhandels hatten westliche Biermarken heimische Produkte zunehmend verdrängt. In den Baltischen Staaten sind vor allem die norddeutschen Brauereien Jever und Holsten sehr aktiv. Sie haben Belieferungsverträge mit Kneipen geschlossen und waren bereits 1995 in fast allen Geschäften des Lebensmitteleinzelhandels erhältlich. Irische Kneipen erfreuen sich in den Großstädten wachsender Beliebtheit, was den steigenden Import irischen Biers nach sich zog. Die Qualitätsunterschiede zu den lokalen Biermarken waren beträchtlich. Deren Flaschen waren oftmals schmutzig und verkratzt. Die Etiketten waren in sowjetischer Schlichtheit gestaltet. Da regionale Biermarken in der Regel einen Absatzvorteil gegenüber Importbieren haben, engagierten sich westliche Investoren in der baltischen Getränkeindustrie. Der finnische Investor Baltic Beverages Holdings (BBH) baute seine Mehrheitsbeteiligung an der marktfuhrenden letti492

sehen Brauerei Aldaris Ende 1995 aus. BHH ist ebenfalls Mehrheitsaktionär in der größten estnischen Brauerei Saku sowie dem marktfuhrenden litauischen Bierproduzenten Kalnapilis. Finnisches Kapital und know how wurde importiert. Alle drei Marken konnten die Qualität der vertriebenen Biermarken nachhaltig verbessern und die Sortimente um verschiedene Sorten von Leicht-, Dunkel- und Premiumbier sowie um verschiedene Flaschengrößen erweitern. Nachdem die Biermarken der BHH mehrere nationale und internationale Qualitätsauszeichnungen gewonnen hatten, streben sie die ISO 9000 Zertifizierung an. Aldaris durchlief im Sommer 1998 das Zertifizierungsverfahren, in dessen Rahmen beispielsweise die Untemehmensstruktur, die Qualität der

490 491 492

Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 269 ff. Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 271. The Baltic Observer, November 23-29, 1995, S. 6.

231

Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

Produkte, die Fertigungsprozesse, die ökologische Verträglichkeit sowie der Verkaufsservice nach einem internationalen Kriterienkatalog untersucht werden. Wie auch in den anderen beiden Baltischen Staaten hatte sich das Produktionsvolumen von Molkereiprodukten in Estland stark verringert. Im Jahr 1995 belief es sich auf knapp über 30% des Niveaus von 1991. Im Einzelhandel standen estnische Produkte zunehmend im Wettbewerb mit importierten Westprodukten wie beispielsweise Danone- und Südmilch-Joghurts. Im Jahr 1996 erzielten die estnischen Molkereien zum ersten Mal seit Erreichen der nationalen Unabhängigkeit ein positives Wachstum in 496

Höhe von 8,5%, welches im Folgejahr noch weiter anstieg. Marktführer ist die United Dairies Gruppe, welche vier Molkereien in Estland betreibt. Im November 1997 497 erwartete das Management einen Netto-Jahresgewinn von knapp 5 Millionen DM. Im Export in die anderen beiden Baltischen Staaten, in die Ukraine und nach Rußland werden 95% der Gewinne erwirtschaftet. In der Ukraine soll eine eigene Molkerei aufgebaut werden, deren jährlicher Umsatz über 12 Millionen DM betragen soll. Die internationale Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Price Waterhouse schätzte den Unternehmenswert auf zwischen 50 Millionen und 62 Millionen DM. Der zweitgrößte Molkereibetrieb Estlands ist das Unternehmen Tallinna Piimatoostus (TP). Das Unternehmen wurde 1994 privatisiert. Die Produktion ist mittlerweile fast vollständig automatisiert. Die Produktpalette umfaßt dreiundvierzig unterschiedliche Artikel, die unter dem eigenen Markennamen vermarktet werden. Über 250.000 DM wurde in die Verbesserung des Qualitätsmanagements investiert. Während estnischen Molkereiprodukten aufgrund von Qualitätsproblemen der Zugang zu den Märkten der Europäischen Union generell untersagt worden ist, erreichte TP im Sommer 1998 als erste baltische Molkerei die ISO 499 9000 Zertifizierung.

493 494

The Baltic Times, February 26-March4, 1998, S. 13. Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 193.

495

Das Produktionsvolumen an Joghurts belief sich beispielsweise in Lettland im Jahr 1993 auf 100 Tonnen. In den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels waren in steigendem Ausmaß westeuropäische Marken-Joghurts präsent. Durch die Importe wurden die von den Konsumenten nachgefragten Preis-Leistungskombinationen offengelegt und ein neuer Markt aufgedeckt. Lettische Joghurts waren jedoch anfangs weder im Geschmack noch in der Verpackung wettbewerbsfähig. Die Produktentwicklung und die Verpackung richtete sich zunehmend auf die Imitation der Importprodukte. Für den Erfolg der Lernprozesse spricht das jährlich zwischen 40 % und 75 % steigenden Produktionsvolumen an Joghurts, welches 4.000 Tonnen im Jahr 1996 erreicht - vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 221. 496 497 498 499

Vgl. Statistical Office of Estonia, Indices of Industrial Production. Vgl. The Baltic Times, November 20-26, 1997, S. 12. Vgl. The Baltic Times, November 20-26, 1997, S. 12. Vgl. The Baltic Times, August 13-19, S. 11.

232

Bertram Wiest 500

Im Jahr 1991 wurde in Lettland die Ave Lat Grupa gegründet. Im Zuge des Privatisierungsprozesses erwarb sie in sechs Betrieben der Lebensmittel verarbeitenden Industrie Mehrheitsbeteiligungen. Im Jahr 1998 kaufte sich die Gruppe noch in einen der größten lettischen Molkereibetriebe ein. Kommentatoren sprechen bereits von einem Konzentrationsprozeß in der Lebensmittelindustrie. Neben Molkereiprodukten umfaßt die Produktpalette Brot, verarbeiteten Fisch, Eier und Süßwaren - darunter die Schokoladenfabrik mit dem in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion bekannten Markennamen Laima. Investitionen in die Produktentwicklung und die Restrukturierung der Betriebe werden aus einbehaltenen Gewinnen finanziert. Im Jahr 1996 wurde ein Nettogewinn von 2,9 Millionen US-Dollar erzielt; bei Umsätzen von knapp 90 Millionen US502

Dollar im Jahr 1997 betrug der ausgewiesene Nettogewinn 5,2 Millionen US-Dollar. Der Börsengang wird für das Jahr 2001 angestrebt. Die wichtigsten Zielmärkte sind die baltischen Staaten und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Exporte in die Europäische Union sind bisher von einer zu vernachlässigbaren Größenordnung. Als wesentliche Ursache wird die minderwertige Qualität der Verpackung angeführt, obwohl die Ave Lat Grupa bereits mehrere Preise für ihre Produktverpackungen erhalten hat. Laut Aussage des Vorstandssprechers Eriks Masteiko wird die ISO 9000 Zertifizierung für die nahe Zukunft angestrebt, um bestehende Qualitätsdefizite und -vorbehalte auf westlichen Märkten auszuräumen. Trotz starker Konkurrenz durch westliche multinationale Unternehmen konnten außer Laima auch andere Hersteller von Süßwaren steigende Umsätze im In- und Ausland sowie sich erhöhende Gewinne erzielen. Die Geschäftsführerin des lettischen Süßwarenunternehmen Staburadze, welches wie Laima von dem in der Sowjetunion bekannten Markennamen profitiert, gab an, daß 1998 neue Bestellungen amerikanischer Großhändler die bestehenden Kapazitäten von 11.000 Tonnen übersteigen. Im ersten Halbjahr wurden auf osteuropäischen Märkten und in Deutschland Exporterlöse von insgesamt knapp 0,5 Millionen US-Dollar erzielt. Der größte Süßwarenhersteller Estlands mit einer Kapazität von 19.000 Tonnen ist das seit August 1998 an der Börse in Talinn geführte Unternehmen Kalev. Hergestellt werden über 100 unterschiedliche Sorten an Süßwaren, wobei Schokolade der wichtigste Artikel ist. Da Kalev ebenfalls zu Sowjetzeiten ein bekannter Markenname war, stellen Rußland und die Ukraine neben den Baltischen Staaten die bedeutendsten Absatzmärkte dar. Der Marktanteil von Kalev in Estland war aufgrund der gestiegenen Importkonkurrenz im Jahr 1995 auf 30% gefallen, konnte aber bis 1998 wieder auf über 50% erhöht werden. Im Jahr 1997 ver-

500

Bedeutendster Gesellschafter der Ave Lat-Gruppe ist der ehemalige Premierminister

A. Skele - vgl. Kapitel 4.2.3.3.1. 501 502

503

504

The Baltic Times, February 5-11, 1998. Vgl. The Baltic Times, November 20-26, 1997, S. 15 sowie The Baltic Times, July 915, 1998, S. 10. Vgl. The Baltic Times, November 20-26, 1997, S. 15. Vgl. The Baltic Times, July 30-August 5, 1998, S. 12.

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Systemtransformationen als evolutorischer Prozeß

doppelte das Unternehmen seinen Gewinn auf 2,3 Millionen US-Dollar. 505 In Moskau und Kaliningrad wurden zwecks besserer Marktdurchdringung und Umgehung der russischen Importzölle Beteiligungen an russischen Süßwarenherstellern gekauft. Trotz getätigter Investitionen in den Kapitalstock sieht sich das Unternehmen noch nicht reif für eine Ausweitung der Exporte auf westliche Märkte. Die Produktion soll in den nächsten Jahren langsam an westliche Standards herangeführt werden, bevor das Unternehmen in den Absatz nach Westeuropa investieren will.

506

Eines der wesentlichen Ursachen für die nur eingeschränkte Wettbewerbsfähigkeit der baltischen Lebensmittelindustrie war und ist die im Vergleich zu Westimporten noch immer minderwertige Verpackung. Butter war Anfang der neunziger Jahre noch in Zeitungspapier gewickelt worden, viele Lebensmittel wurden völlig ohne Verpackungen verkauft. Die Nachfrager reagierten jedoch in zunehmenden Maße positiv auf die Warenpräsentation, das Design und die Verpackungen westlicher Importprodukte. Nachdem sie dem Selektionswettbewerb in den Sortimenten des Einzelhandels ausgesetzt worden waren, begannen Betriebe in der Lebensmittelindustrie mit höherwertigen Verpackungen zu experimentieren. Allerdings gab es noch keine baltische Verpackungsindustrie. Die finnische United Paper Fabrik drang seit 1992 in die bestehende Marktlücke und legte hierdurch die Basis für die Entstehung eines wachsenden Marktes für hochwertige Verpackungen. Im Jahr 1994 fand die erste Verpackungs-Messe mit 37 Ausstellern und über 1.800 Besuchern statt. Zwei Jahre später waren es bereits 53 Aus507

steller und 2.500 Besucher. Unter den Ausstellern war eine große Anzahl ausländischer Unternehmen und baltischer Handelsbetriebe, aber die Zahl an heimischen Produzenten unter den Ausstellern wuchs. Der Wettbewerb um Regalplätze des Einzelhandels hatte einen Innovationswettbewerb unter den Lebensmittelherstellern angestoßen, in dessen Folge sich ein vorgelagerter Markt für Verpackungen entwickelte. In diesem Markt eröffneten sich auch baltische Betriebe neue Marktchancen. 2. Die Papierindustrie: In allen drei Baltischen Staaten ging die Herstellung von Der Kapitalstock der Zellulose und Papier nach 1991 um über Zweidrittel zurück. Betriebe ist wie in Litauen, wo er größtenteils zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt sein soll, völlig überaltert und unwirtschaftlich (Rainys 1998, S. 123). Der Energieverbrauch treibt die Produktionskosten in die Höhe. Emissionen und Abwässer werden 505 506

_

Vgl. The Baltic Times, August 6-12, 1998, S. 13. Vgl. The Baltic Times, August 6-12, 1998, S. 13.

507

The Baltic Times, April 4-10, 1996, S. 10; wesentliche Impulse für die Restnikturierung der Lebensmittel- und Verpackungsindustrie gingen auch von der seit 1992 jährlich in Litauen stattfindenden Agrarmesse Agrobalt aus. Bis ins Jahr 1998 war die Messe um 311 % auf über 500 Aussteller aus 30 Ländern angewachsen. Ausgestellt werden Lebensmittel, Verpackungsmaterialien und Lebensmittel verarbeitende Maschinen. Betreiber der Messe ist die in Deutschland ansässige IFW Expo - vgl. The Baltic Times, May 14-20, 1998, S. 12. 508

Vgl. Statistical Yearbook of Lithuania 1997, S. 271; vgl. auch Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 217 sowie Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 193.

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ungereinigt in die Umwelt ausgestoßen, was im Zuge der Annäherungen an die angestrebte Mitgliedschaft in der Europäischen Union hohe Investitionen in die Emissionsund Abwasservermeidung beziehungsweise -aufarbeitung nach sich zieht. Die bestehenden Anlagen aus Sowjetzeiten können nur noch zur Produktion minderwertigen Papiers genutzt werden, höherwertige Produkte sind nicht wettbewerbsfähig. Nachgelagerte Industrien wie die stark wachsenden Printmedien und die entstehende Verpackungsindustrie waren gezwungen, auf höherwertige Importe zurückzugreifen. Die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit spiegelt sich auch in den Sortimenten des Einzelhandels wider. Höherwertiges Druck- und Schreibpapier sowie holzsplitterfreies Toilettenpapier und Papiertaschentücher werden in größerem Ausmaß importiert und im Einzelhandel zu vergleichsweise hohen Preisen erfolgreich abgesetzt. In Estland standen alle drei größeren Papierfabriken im Jahr 1995 vor dem Bankrott. Die Papierfabrik Kehra wurde von dem in Singapur ansässigen Unternehmen Tolaram übernommen. Tolaram betreibt in Asien, Afrika und Amerika Textiluntemehmen und Papiermühlen und übernahm auch Betriebe in der estnischen und lettischen Textilindustrie. Als ausschlaggebende Gründe flir die Investitionen in den Baltischen Staaten werden das geringe Lohnniveau sowie die Aussicht auf die Teilhabe am europäischen Binnenmarkt genannt. Bisher wurden in der Papierfabrik Kehra vor allem braunes Verpackungspapier und Papiertaschen hergestellt. Tolaram plant, in eine Vertiefung der betrieblichen Wertschöpfungskette in der Papierfabrik zu investieren. Angestrebt wird im Jahr 1998 die Herstellung höherwertiger Produkte wie beispielsweise Toilettenpapier 509

für den heimischen Markt sowie für den Export. Im Jahr 1996 nahm nach drei Jahren Produktionsstop auch die zweitgrößte estnische Papierfabrik Kohila wieder die Papierproduktion auf. Der Betrieb war im Frühjahr 1994 an ein estnisches Konsortium privatisiert worden. Es investierte knapp eine Million US-Dollar in die Fertigungsanlagen, die noch aus dem Jahr 1907 stammten. Hergestellt werden höherwertige Papierprodukte wie Briefpapier, Büromaterialien und Tapeten. Nach Aussagen des Geschäftsführers gab es 1996 Vorverhandlungen mit westlichen Unternehmen um die Abnahme der 510 gesamten Jahresproduktion in den kommenden Jahren. Seit 1995 ist die estnische Papierindustrie mit Wachstumsraten von bis zu 50% einer der am stärksten expandierenden Branchen. Auch in Lettland bestehen Pläne privater Investoren, die Wertschöpfungstiefe in der Papier- und holzverarbeitenden Industrie wieder zu erhöhen. Ein von der Regierung im Jahr 1998 eingesetztes Komitee prüft die Projektpläne mehrerer konkurrierender ausländischer Investoren - unter ihnen auch Tolaram - zum Bau einer eine Milliarde US-Dollar teuren Papierfabrik im Süden Rigas. In Litauen übernahm

509

510

Vgl. Business Central Europe, June 1998, S. 11; vgl. auch Financial Times Survey, 6.7.1998, S. 5. _

The Baltic Times, May 9-15, 1996, S. 12. Vgl. Statistical Office of Estonia, Indices of Industrial Production sowie Bank of Estonia, Bulletin No. 2, 1998, S. 4.

512

Vgl. Financial Times Survey, 6.7.1998, S. 1.

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im Jahr 1996 der fiinftgrößte Anbieter Europas für Zellulose und Papier, die schwedische MoDo Grup, den litauischen Marktführer für Kopier- und Druckpapier. 3. Die Möbelindustrie: Stabile Wachstumsraten verzeichnete die estnische Möbelindustrie, obwohl auch sie zunehmend dem Wettbewerb westlicher Anbieter ausgesetzt war. In Estland gab es im Jahr 1996 annähernd 600 Möbelhersteller mit einem geschätzten Gesamtumsatzvolumen von 100 Millionen US-Dollar. Nachdem zwei größere Hersteller im Jahr 1996 den Bankrott anmelden mußten, ist das Unternehmen Standard führend, welches 1994 an vier Gesellschafter privatisiert wurde. Nach zwei Jahren waren laut Aussage des Marketing-Managers 90% der Produktionsanlagen durch Investitionen in Höhe von 1,7 Millionen US-Dollars erneuert worden. Das Unternehmen spezialisierte sich auf Büromöbel und erzielte 1996 einen Umsatz von 8,3 Millionen US-Dollars. Westliches Design wurde übernommen, was sich in einem Exportanteil nach Europa und in die USA von 20% der Produktion niederschlägt. Dem Erlernen moderner Marketing-Praktiken und der Werbung wurden seitens des Managements hohe Priorität eingeräumt. Im Mai 1996 wurde ein Kooperationsvertrag mit einem amerikanischen Handelsunternehmen unterzeichnet, von dem sich das Management 514

mittelfristig einen Anstieg der Umsätze um 20% versprach. In Litauen erfolgte die Restrukturierung der Möbelindustrie langsamer als in den baltischen Nachbarländern. Eine Ausnahme bildete der zu Sowjetzeiten viertgrößte Möbelhersteller AB Jonavos Baldai. Er war bereits 1993 privatisiert und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden. Seit 1994 machte der Absatz an den schwedischen Möbelkonzern Ikea einen Großteil des Umsatzes aus. Im Herbst 1995 wurde ein Joint Venture mit dem thüringischen Zeuro Möbelwerk eingegangen, welches zu DDR-Zeiten mit 10.500 Mitarbeitern der größte ostdeutsche Möbelhersteller war. Die Zeuro Möbelwerk wurde 1995 privatisiert. Das Joint Venture mit der AB Jonavos Baldai zielt darauf ab, die angestammten Marktanteile in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wieder auszubauen. Aufgrund der Lohnkostenvorteile Litauens war geplant, die dortigen Produktionskapazitäten auszubauen. 4. Die Textilindustrie: Baltische Textilprodukte wurden aus den Sortimenten des Einzelhandels verdrängt. In Estland war das Produktionsvolumen der Textilindustrie in 516

konstanten Preisen auf unter 30% des Niveaus von 1991 gesunken. Im Jahr 1995 stieg die Produktion mit einer Wachstumsrate von knapp 30% an und erreichte im Folgejahr ein Wachstum von annähernd 35%. Der größte estnische Hersteller für Bekleidungsartikel AS Marat erwirtschaftete beispielsweise im Jahr 1995 noch einen Rekordverlust von über 2,1 Millionen DM. Die Restrukturierungsmaßnahmen des zu 75% dem Mana-

513 514 515 516 517

Vgl. The Baltic Times, April 25-May 1, 1996, S. 10. Vgl. The Baltic Times, May 16-22, 1996, S. 13. Vgl. The Baltic Observer, October 26-November 1, 1995, S. 8. Vgl. Statistical Yearbook of Estonia 1996, S. 193. Vgl. Statistical Office of Estonia, Indices of Industrial Production.

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gement gehörenden Unternehmens begannen allerdings in den Folgejahren zu greifen. Im Jahr 1997 verzeichnete das Unternehmen mit 1.200 Beschäftigten einen Nettogewinn von knapp 1,4 Millionen DM. Im August 1998 wurde AS Marat von dem finnischen Textilunternehmen Finnwear OY übernommen. Die beiden Unternehmen sollen sich in ihren Sortimenten und ihrer Marktausrichtung ergänzen und gegenseitig den Zugang zu west- und osteuropäischen Unternehmen erleichtern. Zwischen 1993 und 1996 hatte sich in Lettland das Volumen an importierten Texti519

lien und Bekleidungsartikeln in US-Dollar gerechnet mehr als vervierfacht. Das Produktionsvolumen in der lettischen Textilindustrie betrug im Jahr 1996 in konstanten Preisen gerechnet nur noch 34% des Niveaus von 1990. Allerdings lag es trotz starken Importdrucks bereits um zwölf Prozentpunkte über dem Voijahresniveau. Wachstumsraten von 60% und 70% verzeichnete im Jahr 1996 die produzierte Stückzahl an Oberbekleidung und Unterwäsche, die hergestellte Menge an Socken und Strümpfen lag um 30% über dem Niveau des Jahres 1994. Während die Restrukturierungsmaßnahmen in der Bekleidungsartikelindustrie Wirkung zeigten und sich auch die Produktion von Baumwollstoffen von dem Produktionsrückgang in den Vorjahren erholte, war die Produktion von Woll- und Synthetikstoffen noch immer stark rückläufig. Der wachsende heimische Bedarf an Synthetikstoffen in den weiterverarbeitenden Branchen wurde zunehmend durch Importe gedeckt. Allein im Jahr 1996 hatte sich das in Tonnen gerechnete Volumen importierter synthetischer Fasern, Fäden und Garne im Vergleich zum Vorjahr um über 70% erhöht. Potentielle Abnehmer wie die Hersteller von Bekleidungsartikeln hatten im Zuge der Restrukturierung auch die Beschaffung von Rohstoffen und Zwischenprodukten rationalisiert und sind auf höherwertige Importe ausgewichen. Das rückläufige Produktionsvolumen an Synthetikstoffen geht mit dem wirtschaftlichen Niedergang des staatlichen Textilbetriebs Dauteks einher, der zu Sowjetzeiten einer der größten Anbieter für Nylon und abgewandelte synthetische Textilfasern war. Dem Management von Dauteks war es nicht gelungen, die Produkte und die Produktionsprozesse auf die neuen Wettbewerbsbedingungen umzustellen, was im Jahr 1996 die Insolvenz zur Folge hatte. Nachdem das bereits im Zusammenhang mit Investitionen in die estnische und lettische Papierindustrie erwähnte Unternehmen Tolaram in Estland auch einen Textilbetrieb erfolgreich saniert hatte, übernahm es Anfang 1998 Dauteks. Die Übernahme war mit zugesagten Investitionen von 25 Millionen US-Dollar die größte Auslandsinvestition in der verarbeitenden Industrie Lettlands. Allein 12 Millionen US-Dollar wurden für Investitionen in die Produkt- und Marktentwicklung, in Material sowie für Mitarbeiterschulungen bereitgestellt. Bis zum Jahr 2000 sind zusätzliche 45 Millionen US-Dollar für Ausrüstungsinvestitionen vorgesehen. Bereits sechs 518 519 520 521

Vgl. The Baltic Times, August 13-19, 1998, S. 12. Vgl. Statistical Office of Latvia, National Accounts of Latvia, 1997, S. 65 Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 217, S. 222 Vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 269

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Monate nach der Übernahme produziert das Werk wieder mit einer Auslastung von 50% der Kapazitäten. Allein durch die Installation einer vorgeblich einfachen mechanischen Vorrichtung an den Spinnmaschinen können gemischte Nylongarne hergestellt werden, die exportiert werden sollen. Trotz des zugesagten Verzichts auf einen umfassenden Abbau der 3.400 Mitarbeiter wird erwartet, bereits Ende 1998 die Gewinnschwelle zu überschreiten. 5. Die Automobilindustrie: Wie auch ein Großteil des kapitalintensiven Maschinenbaus verzeichnete die baltische Automobilindustrie wie beispielsweise die Herstellung von Kleintransportern und -bussen in Lettland einen schweren Niedergang. Der Absatz in den früheren Exportmärkten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten war eingebrochen, die Fertigung war unwirtschaftlich, und asiatische und westliche Automobilunternehmen drängten zunehmend auf die osteuropäischen Märkte. Neue technische Standards wurden durch den Handel mit westlichen Neu- und Gebrauchtwagen gesetzt, die weder die osteuropäischen Automobilfirmen, noch deren Zuliefererbetriebe erfüllen konnten. Eine Ausnahme ist das estnische Unternehmen Norma, welches in Talinn an der Börse notiert ist. Norma stellt Sicherheitsgurte für die Automobilindustrie her und erreichte 1997 die ISO 9002 Zertifizierung. Das Unternehmen ist eines der größten Exporteure in Estland. Norma war der einzige Hersteller für Sicherheitsgurte in der Sowjetunion gewesen. U m die 98% des Umsatzes werden noch immer in den osteuropäischen Märkten erzielt. Größte Kunden sind die russischen Automobilhersteller VAZLada und GAZ-Volga. Im Jahr 1997 wurde ein Umsatz von 64,8 Millionen D M erzielt, der Gewinn betrug 16,4 Millionen DM. Dies ergibt eine Umsatzrentabilität von 25,3%. Im Jahr 1998 sollen 6,6 Millionen D M in neue Maschinen und über 1,6 Millionen DM in die Produktentwicklung investiert werden. Im Zuge der zunehmenden Kooperation westlicher und asiatischer Automobilunternehmen mit osteuropäischen Herstellern (General Motors, Fiat, Daewoo) gelingt es Norma, langsam auch in westlichen Märkten Fuß zu fassen. So soll eventuell der Opel Astra in Zukunft mit Sicherheitsgurten aus estnischer Produktion ausgerüstet werden. General Motors ¡prämierte Norma drei Jahre hintereinander mit der Auszeichnung „Supplier of the Year" . Im Sommer 1998 erhielt Norma einen Kredit in Höhe von 8,5 Millionen US-Dollar von der European Bank for Regional Development und der Estnischen Investitionsbank. Ziel ist die Modernisierung der Produktionsanlagen. Angesichts der erfolgreichen Anpassungsleistungen des Unternehmens ist es nicht nachvollziehbar, daß das Magazin Business Central Europe in seiner erwähnten Titelgeschichte über Estland mit dem Titel „The Flawed Miracle:

522 523

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Vgl. Financial Times Survey, 6.7.1998, S. V. Die Produktion von Kleinbussen mit einer Kapazität von 10 und mehr Personen verringerte sich beispielsweise zwischen 1993 und 1998 von 7.413 Stück auf 927 Busse. Die Lastwagenproduktion sank im selben Zeitraum von 713 auf 7 - vgl. Statistical Yearbook of Latvia 1997, S. 226. Vgl. The Baltic Times, April 23-29, 1998, S. 12 f. sowie The Baltic Times, May 7-13, 1998, S. 14. Vgl. The Baltic Times, June 4-10, 1998, S. 10.

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Estonia's hidden weakness" Norma als Beispiel für die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit und düsteren Aussichten der estnischen Industrie anfuhrt: „...a country the size of Estonia can't support companies in an international field like car components...Norma could eventually be wiped out if bigger competitors steal its inherited clients". Weder die Umsatz- und Gewinnsteigerungen, noch die erfolgreiche Kooperation mit westlichen Herstellern wie General Motors und deren Tochter Opel werden in dem Artikel erwähnt. 3. Die Computerindustrie: Die in der Sowjetunion nur spärlich erhältlichen Computer waren im Vergleich zu westlichen Rechnern von minderwertiger Qualität und Leistungsfähigkeit. Die Restrukturierung der verarbeitenden Industrie sowie vor allem der A u f b a u eines wettbewerbsfähigen Dienstleistungssektors setzte jedoch den Einsatz moderner Informationstechnologien voraus. Handelsunternehmen importierten westliche Rechner, deren Verfügbarkeit in den Baltischen Staaten Anfang der neunziger Jahre sprunghaft anstieg. Das Importvolumen an Computern und Büromaschinen erreichte in Estland sowohl im Jahr 1995 als auch im Folgejahr einen Wert von über 200 Millionen DM. Auch wenn m a n getätigte Re-Exporte in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wieder abzieht, entfallen auf Computer und Büroausrüstungen der größte Anteil importierter mechanischer Maschinen und Ausrüstungen. In den Baltischen Staaten ist ein Markt für moderne Informationstechnologien geschaffen worden. Angesichts des technologischen Rückstandes im Bereich Computer- und Softwareindustrie sowie des hohen Innovationstempos der Industrie war zu erwarten, daß einheimische Hersteller auf diesem Markt nicht Fuß fassen würden. Entgegen allen Unkenrufen bezüglich der Wertschöpfungstiefe und mangelnder High-Tech-Produktion der verarbeitenden Industrie waren jedoch baltische Unternehmensgründer in der Lage, sich mit eigenen Markennamen sowohl in der Computer-Herstellung als auch in der Softwareindustrie zu etablieren. In der estnischen Universitätsstadt Tartu (Dorpat) wurde im Jahr 1989 von einer Gruppe Astrophysikern und anderen Wissenschaftlern der Computerhersteller Astrodata gegründet, welches der zweitgrößte estnische Computerhersteller wurde. Im Jahr 1991 folgte in Estland die Gründung des Computerherstellers Microlink, in dem anfangs nur die drei Gründer beschäftigt waren. Microlink entwickelte sich zum Marktführer in den Baltischen Staaten. Im Jahr 1995 erzielte das Unternehmen bereits einen Umsatz von 13 Millionen US-Dollar und einen Nettogewinn von 150.000 US-Dollar. Insgesamt wurden im Berichtsjahr 5.000 Computer zusammengesetzt, die vor allem in den Baltischen Staaten und in Rußland abgesetzt wurden. Im April 1996 gewann Microlink eine internationale Ausschreibung des lettischen Telekommunikationsmonopols Lattelekom. Binnen Jahresfrist kaufte Lattelekom 400 Computer von Microlink. Das Unternehmen

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Business Central Europe, Juni 1988, S. 10. Vgl. Statistical Office of Estonia, Foreign Trade, 1997, S. 144. Vgl. The Baltic Times, March 21-27, 1996, S. 12. Vgl. The Baltic Times, April 18-24, 1996, S. 10.

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erreichte im Jahr 1996 einen Marktanteil von 15% in den Baltischen Staaten. Im August 1997 wurde der erste Personal-Computer für den Heimanwender erfolgreich eingeführt, der zu fast allen Büro- und Multimedia-Applikationen kompatibel ist. Im April 1998 verkaufte Estlands führende Privatbank Hansapank sein Daten-Kommunikationsnetzwerk an Microlink, welches sich als Betreiber gegen mehrere Wettbewerber aus dem Inund Ausland durchsetzen konnte und das Netzwerk von nun an in eigener Regie betreut. Das Unternehmen baute seine neu gegründeten Online-Dienste weiter aus und wurde mit 5.000 Kunden im Sommer 1998 zum größten baltischen Intemet-Service-Provider. Im Mai 1998 wurde ein Kooperationsvertrag mit dem japanischen Unternehmen NEC geschlossen, welches auch die großen amerikanischen Computerhersteller Dell und Packard Bell mit Monitoren beliefert. Microlink wurde ermächtigt, NECMonitore unter dem eigenen Markennamen zu verkaufen Einen Monat später fusionierte Microlink mit dem eingangs erwähnten zweitgrößten estnischen Computerhersteller Astrodata. Das neue Unternehmen wird unter dem Namen Microlink mit einem Jahresumsatz von 75 Millionen DM der drittgrößte Computer-Hersteller in Nordeuropa. Das fusionierte Unternehmen wird in Estland die größte Einzelhandelskette betreiben. Bis zum Jahr 2000 sollen jährlich 37.000 Computer verkauft und ein Umsatz von 125 Millionen DM erzielt werden. Das Unternehmen expandiert mit eigenen Produktionsanlagen nach Lettland und Litauen und plant, das Produktionsvolumen auf 80.000 Computer zu steigern. Der Marktanteil soll auf 40% anwachsen.

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Vgl. The Baltic Times, August 28- September 3, 1997, S. 10. 532 533

Vgl. The Baltic Times, April 2-8, 1998, S. 10. Vgl. The Baltic Times, May 28-June 3, 1998, S. 10. Vgl. The Baltic Times, June 11-17, 1998, S. 10.

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K A P I T E L 6: ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Wiederholt sich in den Baltischen Staaten das sogenannte „deutsche Wirtschaftswunder" oder sind auch die dortigen Transformationserfolge „...nur die Konsequenz der ehrlichen Anstrengungen eines Volkes, das nach freiheitlichen Prinzipien die Möglichkeit eingeräumt erhalten hat, menschliche Initiative, menschliche Energien wieder anwenden zu dürfen" (Erhard 1957/1990, S. 157)? An das Eintreten von Wundem kann man glauben, sie aber nicht herbeiführen. Die Bedingungen jedoch, unter denen sich Wettbewerbsmärkte und unternehmerische Initiative herausbilden können, sind - wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt - gestaltbar. So zeichnet sich die Transformationspolitik in den Baltischen Staaten dadurch aus, daß trotz aller Widerstände an vergleichsweise einfachen freiheitlichen Prinzipien festgehalten wurde. Hierin liegt sowohl die Parallele zu Ludwig Erhards Reformpolitik in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland als auch die eigentliche Essenz der erfolgreichen Transformationspolitik in Estland, Lettland und Litauen. Erhard (1957/1990, S. 23) hob nur wenige Wochen nach dem „Sprung ins kalte Wasser" auf dem CDU-Parteitag der britischen Zone am 28.8.1948 die gesellschaftspolitische Dimension der Währungsreform und der Aufhebung einer Vielzahl von Bewirtschaftung- und Preisvorschriften hervor: „Mit der wirtschaftspolitischen Wendung von der Zwangswirtschaft hin zur Marktwirtschaft haben wir mehr getan, als nur im engeren Sinne wirtschaftliche Maßnahmen getroffen. Wir haben vielmehr unser gesellschaftwirtschaftliches und soziales Leben auf eine neue Grundlage gestellt". Diese Grundlage bestand in der „Freiheit des Wettbewerbs", welche nur dort herrschen kann, „...wo keine Macht, die Freiheit zu unterdrücken, geduldet wird, sondern wo die Freiheit, in dem Sitten- und Rechtskodex eines Volkes verankert, zum allgemein verpflichtenden Gebot, ja zum höchsten Wert der Gemeinschaft selbst wird" (Erhard 1957/1990, S. 135). Erhards Überzeugung, daß Demokratie und freie Wirtschaft logisch zusammengehören und die deutsche Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit durch eine liberale Ordnungspolitik überwunden werden kann, wurde von seinen Kritikern vielfach belächelt und für naiv gehalten {Erhard 1957/1990, S. 98 ff.). Der wirtschaftliche Aufschwung der Bundesrepublik führte nur bedingt zu einer größeren Akzeptanz der „Freiheit des Wettbewerbs". Stattdessen wurden die zunehmende Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und der steigende Wohlstand der Bevölkerung zum „Wirtschaftswunder" verklärt und damit von seinen ordnungspolitischen Grundlagen losgelöst. Die Transformationserfolge der Baltischen Staaten wären geeignet die Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen liberaler Ordnungspolitik neu zu beleben. Mit dem Erreichen der nationalen Unabhängigkeit im August 1991 lösten sich die Baltischen Staaten aus der erzwungenen Zugehörigkeit zur Sowjetunion und der festen Umklammerung der sowjetischen Zentralpläne. Noch heute wird das politische Leben in den Baltischen Staaten entscheidend durch die Protagonisten der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen mitgeprägt, die unter Inkaufnahme eines hohen persönlichen Risikos die Loslösung von der sowjetischen Zentralmacht und deren ideologischem Überbau betrieben hatten. Für sie und weite Teile der Bevölkerung wurde der Begriff „Freiheit"

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durch das Ringen um nationale Unabhängigkeit gegenüber anderen gesellschaftspolitischen Zielen wie beispielsweise dem sozialen Ausgleich aufgewertet. Wie Erhard (1957/1990, S. 135) es gefordert hatte, wurde die Freiheit „ . . . z u m höchsten Wert der Gemeinschaft". D a die möglichst schnelle Mitgliedschaft in der Europäischen Union und der N A T O als Garant fiir die nationale Unabhängigkeit gesehen wurde, stellte ein „Dritter W e g " zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft keine mehrheitsfahige Alternative dar. Die Transformationsziele waren klar definiert. So konnten die jeweiligen Regierungen in den Baltischen Staaten eine vergleichsweise konsequente und alle gesellschaftlichen Teilordnungen umfassende Transformationspolitik verfolgen. Acht Jahre nach Erreichen der nationalen Unabhängigkeit haben sich die Baltischen Staaten in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung deutlich von den übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion abgesetzt. Estland gilt als wahrscheinlicher Kandidat für die erste Beitrittsrunde zur Europäischen Union, Litauen und Lettland werden gute Chancen eingeräumt, bis Ende des Jahres 2000 ebenfalls zu den Beitrittsverhandlungen zugelassen zu werden. Aber auch in den Baltischen Staaten wurde die Wirtschaftspolitik mit viel Kritik und Skepsis verfolgt. Der Vorwurf, baltische Politiker würden sich naiv auf liberale Lehrbuchmeinungen zurückziehen, verrät das intellektuelle Überlegenheitsgefuhl der - oftmals auch westlichen - Kritiker. Indem der Transformationspolitik das Etikett „ultraliberal" angehängt wird, sollen die verantwortlichen Politiker als „Marktfundamenta534

listen" und „ideologische Puristen" diskreditiert werden. Wie läßt sich die Kritik an der liberalen Transformationspolitik mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Verbesserung der Lebensverhältnisse der meisten Menschen in den Baltischen Staaten vereinbaren? Es zeichnet sich bereits ab, daß der Mythos des „Wirtschaftswunders" auch in den Baltischen Staaten herangezogen wird. Diesem Mythos ist entschieden entgegenzutreten, um die Erfahrungen der Baltischen Staaten in die auch in Westeuropa wieder aktuelle Diskussion um die Gestaltungsfähigkeit marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik einbringen zu können. Der Diskussionsbeitrag dieser Arbeit soll darin bestehen, den Wirkungszusammenhang zwischen der in den Baltischen Staaten verfolgten Transformationspolitik und den Lern- und Anpassungsprozessen der Wirtschaftssubjekte herauszuarbeiten. Liberale Ordnungspolitik im Transformationsprozeß erhebt den Anspruch, die Tausch- und Wettbewerbsbeziehungen zwischen den Wirtschaftssubjekten durch die Setzung

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Siehe Business Central Europe, June 1998, S. 11 sowie Süddeutsche Zeitung, Nr. 70 vom 24.3.1995, S. 32; die dänische Tageszeitung „Information" glaubt beispielsweise, daß Estland durch den Wahlsieg der Mitte-Rechts-Parteien bei den Wahlen im März 1999 wieder „eine Regierung mit vollem ultraliberalistischem Dampf unter dem Kessel" hat. Die neue Regierung stünde vor der Entscheidung, sich entweder zum Wohlfahrtsstaat zu entwickeln, oder aber als „Ostsee-Hongkong weiter hemmungslos ausländisches Kapital anziehen" zu wollen. Die Wortwahl verrät die negative Wertung der zweiten Alternative und den stillen Vorwurf des „Sozialdumpings" - vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.03.1999, Nr. 58, S. 2. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.03.1998, Nr. 69, S. 20.

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marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen neu „ordnen" zu können. Sie setzt demnach voraus, daß zwischen der Implementierung der systemkonstituierenden Prinzipien einer Marktwirtschaft und dem Lern- und Anpassungsverhalten der Wirtschaftssubjekte ein systematischer und länderübergreifender Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang läßt sich nur erfassen, wenn das zu Grunde gelegte Handlungsmodell menschliche Lernprozesse explizit berücksichtigt. Über die Frage, wie menschliches Lernen in das ökonomische Handlungsmodell zu integrieren ist, herrscht allerdings in der evolutorischen Ökonomik ein erkenntnistheoretischer und methodologischer Richtungsstreit. Es wurde begründet, warum sich die experimentelle Psychologie nicht als Grundlage für die Analyse evolutorischer Lernprozesse der Wirtschaftssubjekte eignet. Die Wirtschaftssubjekte handeln im Rahmen ihres begrenzten und subjektiven Wissens rational. Dies fuhrt zu der Schlußfolgerung, daß die „Ordnungswirkung" der Transformationspolitik davon abhängt, ob es den Wirtschaftssubjekten rational erscheint, ihr Handeln an marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen anzupassen und neu entstehende Freiräume zu nutzen. Hieraus ergeben sich Konsequenzen für die Kontroverse um die zu verfolgende Transformationsstrategie. Ein rationaler Anreiz, sich von sowjetischen Verhaltensmustern zu lösen, besteht nur dann, wenn die verfolgte Transformationspolitik glaubwürdig ist und sich die Wirtschaftssubjekte durch Anpassung tatsächlich besser stellen können. Der Übergang zu einer Marktwirtschaft muß für die absehbare Zukunft als verbindlich betrachtet werden und individuelle Freiräume eröffnen. Die Glaubwürdigkeit der Transformationspolitik ist dabei vor allem zu Beginn der Transformation positiv mit ihrer Entschiedenheit verbunden. Deshalb ist die sogenannte „Schocktherapie" einer gradualistischen Transformationspolitik vorzuziehen. Auf der Ebene konkreter Wirtschaftspolitik heißt dies auch, daß die Forderungen nach staatlicher Industriepolitik zurückzuweisen sind. Diese wurden in den Baltischen Staaten vor allem von Vertretern einer gradualistischen Transformationsstrategie erhoben, welche einen umfassenden und zügigen Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsprozeß ablehnen. Den Forderungen nach staatlicher Industriepolitik im Transformationsprozeß liegt die Prämisse zu Grunde, daß ein Versagen der Märkte in der Herausbildung wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstrukturen vorliegt. Das für den Aufbau der Produktion erforderliche Wissen um neue Produkte und Märkte sowie um effiziente Produktions- und Managementverfahren könne nicht im Marktprozeß entstehen. Diese Auffassung impliziert, daß der Zusammenhang zwischen einer liberalen Ordnungspolitik und spontanen und wechselseitigen Lernprozessen der Wirtschaftssubjekte, die zum Aufbau wettbewerbsfähiger Strukturen in der verarbeitenden Industrie führen sollen, zu schwach ist. Der Staat dürfe daher seinen Einfluß auf die unternehmerischen Entscheidungsprozesse nicht vollständig aufgeben, sondern müsse selber die Restrukturierung durch geeignete Regulierungen und aktive Teilhabe vorantreiben. Diese Skepsis gegenüber dem „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" ( Von Hayek 1969, S. 249 ff.) führte zu der Schlußfolgerung, daß der Handel und seine Experimentierprozesse bei der Kreditaufnahme behindert werden sollten. Ressourcen sollen direkt in den Aufbau „industrieller und technologischer Netzwerke" und den Erhalt „industrieller Kerne" gelenkt werden.

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Litauen ist diesen Weg bis 1996 zumindest zum Teil gegangen. Sogenannte „strategische" Bereiche waren von der vollständigen Privatisierung ausgenommen. Der Staat blieb in allen Wirtschaftssektoren präsent. Mit der Herstellung des internationalen Rechnungszusammenhangs durch Einfuhrung einer konvertiblen Währung und die umfassende außenwirtschaftliche Öffnung wurde gezögert. Die Privatisierung an ausländische Unternehmen wurde als Ausverkauf nationaler Interessen dargestellt und vielfach durch die Bürokratie behindert. Diese Politik erwies sich jedoch als vergleichsweise erfolglos. Die Loslösung des Wirtschaftsprozesses von politischer Einflußnahme als vorrangiges Transformationsziel blieb unglaubwürdig. Die Herausbildung von Wettbewerbsmärkten wurde durch korruptionsanfällige Beziehungsgeflechte zwischen den Managern in den Staatsbetrieben und Investmentfonds, den Direktoren staatlicher Banken, der Verwaltung sowie den Politikern behindert. Die Restrukturierung der Betriebe und deren Ausrichtung auf die internationalen Märkte kamen nur schleppend voran. Noch immer ist Rußland der wichtigste Exportmarkt. Belegt wurde, daß Estland mit seiner liberalen Wirtschaftspolitik, der konsequenten Privatisierung der Staatsbetriebe und den umfassenden marktwirtschaftlichen Strukturreformen bereits 1995 positive Wachstumszahlen erzielte. Lettland und Litauen schlössen erst auf, nachdem sie einen Politikwechsel vollzogen hatten und sich an der estnischen Transformationspolitik orientierten. Mit dem Rückzug der Politik und des Staates aus dem Wirtschaftsprozeß begannen sich in allen drei Baltischen Staaten im Handel und - mit zeitlicher Verzögerung - in der verarbeitenden Industrie marktwirtschaftliche Strukturen zu entwickeln. Dem Handel als Katalysator der verkehrswirtschaftlichen Koordination" (Fleck 1964, S. 273) kommt hierbei eine Vorreiterrolle zu. Die frühe Privatisierung von Handelsbetrieben, der geringere Kapitalbedarf und die kürzere Kapitalbindung im Vergleich zur verarbeitenden Industrie sowie die höhere Sortimentsflexibilität förderten die frühzeitige Herausbildung unternehmerischer Initiative im Handel. Durch die Öffnung des Absatzkanals „Einzelhandel" und dem Selektionswettbewerb zwischen in- und ausländischen Preis-Leistungskombinationen innerhalb der Sortimente wurden Marktlücken auf den vorgelagerten Marktstufen aufgedeckt. Der Innovationswettbewerb im Handel um nachfragegerechte Sortimente zog einen Innovationswettbewerb in der verarbeitenden Industrie um wettbewerbsfähige Produkte nach. Eine Vielzahl von Betrieben in den unterschiedlichsten Branchen der verarbeitenden Industrie wurden erfolgreich restrukturiert oder neu gegründet, während unwirtschaftliche Kombinate, für die sich kein Investor gefunden hat, nicht mehr operieren. Die Aussage, die Restrukturierung in der verarbeitenden Industrie sowie deren Ausrichtung auf die internationalen Märkte scheitere an einem Marktversagen, kann für die Baltischen Staaten als empirisch widerlegt gelten. Ebenfalls widerlegt worden ist die Aussage, die Wertschöpfungstiefe in der verarbeitenden Industrie könnte nur durch staatliche Industriepolitik wieder erhöht werden. Vielmehr wurde gezeigt, daß das für eine Vertiefung der industriellen Wertschöpfung und die Herausbildung einer effizienten horizontalen und vertikalen Arbeitsteilung erforderliche Wissen durch den Innovationswettbewerb zwischen Unternehmen generiert wird, und dieses Wissen im Marktprozeß diffundiert.

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Der Strukturwandel in den Baltischen Staaten ist noch nicht abgeschlossen. Zu den skandinavischen Ostseeanrainern und Deutschland wird auch in der absehbaren Zukunft ein Wohlstandsgefälle bestehen bleiben. Um die Transformationserfolge der Baltischen Staaten jedoch richtig beurteilen zu können, darf man nicht nur nach Westen und Norden schauen, sondern muß sich primär an den übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion orientieren. Diese wurden durch die im Sommer 1998 ausgebrochene Rußlandkrise in ihrer Wirtschaftsentwicklung noch weiter hinter die Baltischen Staaten zurückgeworfen. Zwar hat die starke Abwertung des russischen Rubels auch die baltische Lebensmittelindustrie und einzelne Unternehmen unterschiedlicher Branchen in Mitleidenschaft gezogen, aber weder die Währungsparitäten und den Bankensektor ins Wanken gebracht, noch den Beginn einer Rezession ausgelöst. Mit viel Selbstbewußtsein glaubt man in Estland daher, das Land „...sei vom kranken russischen Koloß nicht angesteckt, sondern gegen den russischen Virus vielmehr abgehärtet worden. Die Exportschwierigkeiten und Unsicherheiten durch die russische Bauchlandung werden nicht als Zeichen der Krise, sondern als Antrieb zur Korrektur beschrieben.. .Jetzt nabeln sich auch die Reste der ostwärts orientierten Branchen vom russischen Markt ab - oder sie 536

gehen unter". Auch in Lettland und Litauen, welche von der Rußlandkrise stärker betroffen sind, herrscht keine allgemeine Krisenstimmung. So nimmt die Berichterstattung über die mögliche Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union und deren Agenda 2000 in den Medien einen größeren Raum ein als die Rußlandkrise. Dies verdeutlicht, wie weit sich die Baltischen Staaten in den letzten Jahren von ihren ehemaligen „sowjetischen Brudervölkern" entfernt und dem Westen zugewandt haben. Der Blick auf die jeweiligen Wirtschaftsdaten verrät allerdings nur die halbe Wahrheit über den Stand der Transformation in den Baltischen Staaten. Wie weit diese fortgeschritten ist, wird plastisch greifbar, wenn man aus der Tristesse der benachbarten russischen Städte Kaliningrad und Ivangorod oder auch aus Weißrußland nach Estland, Lettland oder Litauen einreist. Die alten Stadtkerne von Tallinn, Riga und Vilnius sind restauriert, die öffentlichen Parks werden bepflanzt und gepflegt, aus den Wasserhähnen kommt warmes Wasser, die Wohnungen sind beheizt, überall finden sich ansprechende und gut besuchte Kneipen und Restaurants, fast täglich werden Konzerte und Theaterauffuhrungen veranstaltet. Viele jüngere Esten, Letten und Litauer sprechen deutsch oder englisch und sind schon in das westliche Ausland gereist. Neben der traditionell guten Ausbildung in naturwissenschaftlichen und technischen Studien schreitet im Gegensatz zu den Hochschulen in den übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch die Anpassung der Lehrpläne in den Geistes- und Sozialwissenschaften voran. In dem Raum, wo zu Sowjetzeiten an der Universität Riga das Pflichtfach „Marxismus-Leninismus" unterrichtet wurde, befindet sich heute die allen Studenten zugängliche Bibliothek der EuroFaculty mit deutsch- und englischsprachigen juristischen, wirtschaftswissenschaftlichen und politikwissenschaftlichen Lehrbüchern. Stu-

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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.3.1999, Nr. 50, S. 20.

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denten aus mehreren Universitätsjahrgängen haben die Lehrangebote westlicher Dozenten der drei EuroFaculties, der Soros Foundation und der Riga School of Economics, einem Ableger der Stockholm School of Economics, sowie eine Vielzahl von Stipendienangeboten an westlichen Universitäten wahrgenommen. Das schnelle Aufrücken dieser Studenten in die Politik, die Wirtschaft, die Verwaltung, das Justizwesen und die Wissenschaft wird die Reformdynamik aufrechterhalten und die Anbindung an die westliche Welt weiter vertiefen. Am auffälligsten sind die Unterschiede zwischen den baltischen und russischen Städten jedoch, wenn man in die Schaufenster und Auslagen der Geschäfte und Kaufhäuser blickt. Es gibt in den Baltischen Staaten keine Mangelwirtschaft mehr. Die Vielfalt innerhalb der Sortimente und die Warenpräsentation in den Geschäften stehen kaum noch hinter dem Einzelhandel in Westeuropa oder Skandinavien zurück. Auch die Struktur der Nachfrage gleicht sich immer mehr an. Die Konsumgewohnheiten differenzieren sich zunehmend. Dahinter steht nicht etwa der von Globalisierungskritikern befürchtete Verlust nationaler Identität durch das vermeintliche Diktat alles nivellierender Märkte, sondern die Wahrnehmung von neu entstandenen Wahlmöglichkeiten seitens der Wirtschaftssubjekte. Entfällt der äußere Zwang der sowjetischen Ordnung, dann drängen die Menschen aus dem Korsett der kollektivistischen Gesellschaftsordnung. Dies spiegelt sich in den sich differenzierenden Konsumgewohnheiten in den Baltischen Staaten wider. Neben Piroggen und traditionellen Gerichten gibt es nun auch Hamburger, chinesisches, irisches und griechisches Essen. In den Supermärkten werden italienische Spaghetti, französischer Käse und deutsches Bier angeboten und nachgefragt. All diese, für Westeuropäer selbstverständlichen Konsummöglichkeiten haben eine Öffnung der Gesellschaft für unterschiedliche Lebensarten zur Folge. Der Beitrag des Handels zum Aufbau einer offenen Gesellschaft besteht demnach darin, daß - er den Wirtschaftssubjekten im Konsum Wahl- und Experimentiermöglichkeiten eröffnet, welche Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben sind, - er politische und kulturelle Grenzen überwindet und damit nicht nur die wirtschaftliche Integration vorantreibt, sondern auch einen Bezug zu Lebensart, Sitten und Gebräuchen anderer Länder schafft. Diese spontane Öffnung der Gesellschaft darf jedoch nicht den Blick auf die politischen Entscheidungen und Entscheidungsträger verstellen, die hierfür die Voraussetzungen schufen. Ist der Aufbau der Bundesrepublik Deutschland untrennbar mit der politischen Durchsetzungskraft und den freiheitlichen Grundüberzeugungen L. Erhards verbunden, so haben auch in den Baltischen Staaten einzelne Persönlichkeiten wie beispielsweise der litauische Parlamentspräsident V, Landsbergis, der estnische Premierminister M. Laar und der lettische Notenbankgoverneur E. Repse entscheidenden Anteil an der Transformation der Baltischen Staaten. Da sich dieser „persönliche Faktor" der wissenschaftlichen Analyse weitgehend entzieht, wird er in der Volkswirtschaftstheorie oftmals nicht ausreichend berücksichtigt. Das ausschließliche Denken in Modellen und die Suche nach funktionalen Abhängigkeiten unterschiedlicher Variablen läuft Gefahr, den ,Menschen" als „...Träger der menschlichen Geschichte" (Eucken 1952/1990, S. 339) zu übersehen.

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So verstellt nicht nur der Mythos vom „Wirtschaftswunder" den Blick auf die ordnungspolitischen Grundlagen der baltischen Transformationserfolge, sondern auch eine übermäßige Fixierung auf abstrakte Aggregate sowie auf gesichts- und überzeugungslose politische Akteure und „Medianwähler" in der Wissenschaft. Die Frage, ob ein systematischer Zusammenhang zwischen der jeweils verfolgten Transformationspolitik und den Lern- und Anpassungsprozessen der Wirtschaftssubjekte besteht, läßt sich theoretisch erörtern; die Frage, warum eine liberale oder eine interventionistische Wirtschaftspolitik verfolgt wurde, läßt sich nicht von der politischen Überzeugungskraft und den Wertvorstellungen der handelnden Akteure trennen. Denn „das Handeln der Menschen ist entscheidend davon abhängig, was gedacht, gewollt und geglaubt wird" (Eucken 1952/1990, S. 339). Wird der „persönliche Faktor" ausgeblendet, dann entziehen sich auch die ordnungspolitischen Leitbilder der jeweiligen Entscheidungsträger einer kritischen Analyse. Der Gewinn, den andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion und die westeuropäischen Staaten aus der Beschäftigung mit dem Transformationsprozeß in den Baltischen Staaten ziehen können, liegt jedoch gerade in der Auseinandersetzung mit der dort verfolgten liberalen Ordnungspolitik. Wenn das Beispiel der Baltischen Staaten „.. .über das eigene Land hinaus einen Sinn haben soll, dann kann es nur der sein, aller Welt den Segen der menschlichen Freiheit und der ökonomischen Freizügigkeit deutlich zu machen".

Erhard (1957/1990, S. 157 f.) hatte diesen Satz auf die Bundesrepublik bezogen, er läßt sich aber auch auf die Baltischen Staaten ummünzen.

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Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Lucius&Lucius Verlags-GmbH, Stuttgart - ISSN 1432-9220 Herausgegeben von Gernot Gutmann, Hannelore Hamel, Klemens Pleyer, Alfred Schüller, H. Jörg Thieme (bis Band 51: „Schriften zum Vergleich von Wirtschaftsordnungen") Band 62:

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Slrätling, Die Aktiengesellschaft in Großbritannien im W a n d e l der Wirtschaftspolitik: Ein Beitrag zur Pfadabhängigkeit der Untemehmensordnung, 2000, 258 S., 58 D M , ISBN 3-8282-0128-8. Schittek, Ordnungsstrukturen im europäischen Integrationsprozeß: Ihre Entwicklung bis zum Vertrag von Maastricht, 1999, 409 S., 74 D M , ISBN 3-8282-0108-3. Engelhard/Geue

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Brockmeier,

Wettbewerb und Unternehmertum in der Systemtransformation:

Das Problem des institutionellen Interregnums im Prozeß des Wandels von Wirtschaftssystemen, 1999, 434 S„ 74 D M , ISBN 3-8282-0097-4. Band 58:

Hartwig!Thieme

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Cassel (Hg.), 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Ordnungstheoretische Grundlagen, Realisierungsprobleme und Zukunftsperspektiven einer wirtschaftspolitischen Konzeption, 1998, 792 S., 94 D M , ISBN 3-8282-0057-5.

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Krüsselberg,

Ethik, Vermögen und Familie: Quellen des Wohlstands in einer

menschenwürdigen Ordnung, 1997. 348 S.. 68 DM, ISBN 3-8282-0055-9. Band 55:

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Knorr, Umweltschutz, nachhaltige Entwicklung und Freihandel, 1997, 49 D M , ISBN 3-8282-0035-4.

Band 53:

Paraskewopoulos

(Hg ), Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche

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v. Delhaes/Fehl

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Keilhofer,

Wirtschaftliche Transformation in der Tschechischen Republik

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Wentzel, Die Geldordnung in der Transformation, 1995, 49 D M , ISBN 3-8282-5397-0.

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Müller, Spontane Ordnungen in der Kreditwirtschaft Rußlands, 44 DM, ISBN 3-8282-5396-2.

Band 48:

Sitter, Perestroika und Innovation, 1995, 64 DM, ISBN 3-8282-5386-5.

Band 47:

Hamacher,

Glaubwürdigkeitsprobleme in der Geldpolitik, 1995, 58 DM, ISBN

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Weber, Außenwirtschaft und Systemtransformation, 1995, 69 DM, ISBN 3-8282-5384-9.

Band 45:

Gutmann/Wagner (Hg.), Ökonomische Erfolge und Mißerfolge der deutschen Vereinigung, 1994, 74 DM, ISBN 3-8282-5384-9.

Studien zur Ordnungsökonomik Lucius&Lucius Verlags-GmbH, Stuttgart

(bis Nr. 21: „Arbeitsberichte zum Systemvergleich") Herausgegeben von Alfred Schüller

Die Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme der PhilippsUniversität Marburg hat seit 1982 in ihren „Arbeitsberichten zum Systemvergleich" aktuelle ordnungstheoretische und ordnungspolitische Forschungsergebnisse veröffentlicht. Seit 1994 werden diese Arbeitsberichte von der neu gegründeten Marburger Gesellschaft für Ordnungsfragen der Wirtschaft e. V. (MGOW) herausgegeben. Ab Heft 22 erscheint die Reihe unter dem Titel „Studien zur Ordnungsökonomik" im Verlag Lucius & Lucius, Stuttgart.

L i e f e r b a r e Titel: Studie 25 • Gerrit Fey, Unternehmenskontrolle und Kapitalmarkt: Die Aktienrechtsreformen von 1965 und 1998 im Vergleich, 2000, 83 S., 29,50 DM, ISBN 3-82820140-7. Studie 24 • Ludger Wößmann, Dynamische Raumwirtschaftstheorie und EU-Regionalpolitik: Zur Ordnungsbedingtheit räumlichen Wirtschaftens, 1999, 105 S., 29,80 DM, ISBN 3-8282-0124-5. Studie 23 • Ralf L. Weber +, Währungs- und Finanzkrisen: Lehren für Mittel- und Osteuropa? 1999, 42 S„ 2 8 , - DM, ISBN 3-8282-0112-1. Studie 22 • Alfred Schüller / Christian Watrin, Wirtschaftliche Systemforschung und Ordnungspolitik: 40 Jahre Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme der Philipps-Universität Marburg, 54 S., 19,80 DM, ISBN 3-8282-0111-3.

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Lucius & Lucius, Stuttgart