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German Pages 244 Year 2015
Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
Band 226
Systemkrisen und Systemvertrauen Vorträge auf dem 6. deutsch-koreanischen Symposium zum Verwaltungsrechtsvergleich 2013 vom 18. bis 19. Oktober 2013 in Speyer Herausgegeben von
Jan Ziekow und Jong Hyun Seok
Duncker & Humblot · Berlin
JAN ZIEKOW/JONG HYUN SEOK (Hrsg.)
Systemkrisen und Systemvertrauen
Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Band 226
Systemkrisen und Systemvertrauen Vorträge auf dem 6. deutsch-koreanischen Symposium zum Verwaltungsrechtsvergleich 2013 vom 18. bis 19. Oktober 2013 in Speyer
Herausgegeben von Jan Ziekow und Jong Hyun Seok
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2197-2842 ISBN 978-3-428-14548-5 (Print) ISBN 978-3-428-54548-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84548-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Der vorliegende Band fasst die Beiträge zusammen, die im Rahmen des 6. deutsch-koreanischen Symposiums zum Verwaltungsrechtsvergleich 2013 vorgetragen wurden. Das Symposium, das am 18. und 19. Oktober 2013 in Speyer stattfand, hatte zum Ziel, Ursachen von Systemkrisen und Faktoren, die zur Stabilisierung von Systemvertrauen geeignet sind, vergleichend für beide Länder zu analysieren und zu diskutieren. Die wissenschaftliche Leitung der Veranstaltung lag bei Univ.-Prof. Dr. Jan Ziekow, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, Speyer, und Prof. Dr. Dr. Jong Hyun Seok, Dankook Universität. Für Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung danken die Herausgeber Herrn Assessor Dieter Katz, Mag. rer. publ., Assistent am Lehrstuhl Ziekow, sowie Frau Martina Diaz-Carreño und Frau Ruth Nothnagel, Sekretärinnen an demselben Lehrstuhl Ziekow. Die Fertigstellung des Bandes für den Druck lag bei Frau Nothnagel. Die Veranstalter verknüpfen mit der Vorlage dieser Dokumentation die Hoffnung, dass die mit Veranstaltungen in Mannheim 2005, Seoul 2006 und Speyer 2007 begonnene sowie in Speyer 2009 und Daegu 2012 fortgesetzte deutsch-koreanische Kooperation auch in Zukunft ertragreich fortgeführt werden kann. Speyer und Seoul, im Juli 2014
Jan Ziekow Jong Hyun Seok
Inhaltsverzeichnis Finanz- und Wirtschaftskrisen als juristisches Problem Von Josef Ruthig, Mainz ....................................................................................
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Wirtschafts- und Finanzkrisen als juristisches Problem – Krisenstaat und seine rechtsstaatliche Kontrolle Von Sung Soo Kim, Seoul ..................................................................................
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Eine Studie über die verfassungsrechtliche wirtschaftliche Ordnung unter Berücksichtigung der Novellierungsdiskussion Von Okju Shin, Jeonju ........................................................................................
45
Die Bankenaufsicht als Mittel zur Bekämpfung von Finanzkrisen Von Wolf-Rüdiger Schenke, Mannheim .............................................................
63
Tendenzen und Strukturen der südkoreanischen Bankenregulierung Von Seung-pil Choi, Seoul .................................................................................
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Der Sozialstaat in der Finanz- und Wirtschaftskrise Von Peter Baumeister, Heidelberg ..................................................................... 109 Sozialstaatliche Streitpunkte hinsichtlich der Finanz- und Wirtschaftskrise in Korea Von Hyun-Ho Kang, Seoul ................................................................................ 127 Die systemstabilisierende Funktion des Berufsbeamtentums Von Hans-Werner Laubinger, Mainz ................................................................. 143 Aktuelle Fragen des Berufsbeamtentums Von Hyun Im, Seoul ........................................................................................... 171
Inhaltsverzeichnis
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Die systemstabilisierende Funktion und die Aufgabe des Berufsbeamtentums Von Hee-Gon Kim, Wanju-gun .......................................................................... 181 Unabhängige Ombudsleute Von Annette Guckelberger, Saarbrücken ............................................................ 201 Bürgerbeteiligung als systemstabilisierendes Element der parlamentarischen Demokratie Von Jan Ziekow, Speyer ..................................................................................... 223 Unabhängige Ombudsleute und Bürgerbeteiligung Von Byoung-Hyo Moon, Chuncheon-si .............................................................. 235 Verzeichnis der Autoren ........................................................................................... 243
Finanz- und Wirtschaftskrisen als juristisches Problem Von Josef Ruthig
I. Einführung Von Finanz- und Wirtschaftskrisen als juristischem Problem zu sprechen, ist keine Selbstverständlichkeit. Krisen sind nicht erst im Zeitalter der Wutbürger zunächst einmal ein politisches Problem. Dies haben die jüngsten Ereignisse eindrucksvoll bestätigt. Vor dem Urteil des BVerfG zu ESM-Vertrag und Fiskalpakt vom 12. September 20121 nahm die öffentliche Aufmerksamkeit ungeahnte Ausmaße an. So versuchte eine historisch wohl beispiellose Zahl von Beschwerdeführern im Wege der einstweiligen Anordnung zu verhindern, dass die als Maßnahmen zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise im Euro-Währungsgebiet beschlossenen Gesetze vom Bundespräsidenten ausgefertigt und die mit ihnen gebilligten völkerrechtlichen Verträge ratifiziert werden. Im Urteilsrubrum wurden 11.718 Beschwerdeführer aufgeführt, das vom Verein Mehr Demokratie e. V. initiierte Bündnis „Europa braucht mehr Demokratie“ spricht auf seiner Internetseite (www.verfassungsbeschwerde.eu; Stand: 30.11.2012) von rund 37.000 „Unterstützern“ seiner Verfassungsbeschwerde. Im Urteil vom 27.11.2012 äußerte sich erstmals auch der EuGH zur Rechtmäßigkeit des Vertrags zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV) und des Beschlusses des Europäischen Rats 2011/199/EU zur Änderung des Art. 136 AEUV2, mit dem sich zuvor bereits das BVerfG und das estnische Verfassungsgericht3 befasst hatten. Das Urteil erging aufgrund seiner außergewöhnlichen Bedeutung im beschleunigten Verfahren im Plenum aller 27 Richter. Finanz- und Wirtschaftskrisen werden außerdem – gerade von Juristen – als ökonomisches Problem qualifiziert. Allenfalls die Lösung eines an sich ökonomischen Problems ist folglich die juristische Herausforderung. Diese wird jedoch regelmäßig mit Bravour gemeistert. Krisenbewältigung wird zum Motor der ___________ 1 BVerfG, Urt. vom 12.9.2012 – 2 BvR 1390/12, NJW 2012, 3145 m. Anm. MüllerFranken – ESM. 2 EuGH (Plenum), Urt. vom 27.11.2012 – C-370/12 (Thomas Pringle/Government of Ireland, Ireland, The Attorney General), NJW 2013, 29; dazu Weiß/Haberkamm, EuZW 2013, 95. 3 Das estnische Verfassungsgericht entschied zum ESM am 12.7.2012, vgl. http://www.riigikohus.ee/?id=1347.
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Weiterentwicklung des Rechts. Prominenteste, hier nicht zu vertiefende Beispiele für diese katalytische Funktion von Krisen ist die Entwicklung der Grundrechte. Es begann mit der Entwicklung von Religionsfreiheit als Antwort auf die Wirren des dreißigjährigen Krieges, die in Deutschland auch wirtschaftlich fatale Folgen hatten. Ausgehend von der Meinungsfreiheit entwickelten sich sodann im Gefolge der französischen Revolution in einem wiederum konfliktbeladenen und gerade in Europa blutigen Prozess die Menschen- und Bürgerrechte, die schließlich das moderne Verständnis von Verfassungsstaatlichkeit geprägt haben. Auch die Europäische Einigung sahen ihre Väter als Antwort auf den zweiten Weltkrieg und damit Instrument der Krisenbewältigung. Jedenfalls in der Lesart der Kommission gilt für die uns nunmehr seit 2008 beschäftigende Finanz- und Wirtschaftskrise nichts anderes. Sie würde sicherlich ein positives Resümee ziehen: Europa war und ist in der Lage, die notwendigen Antworten zu geben. Dies zeigen die Anstrengungen auf dem Weg zur Bankenunion. Recht taugt also auch weiterhin als Krisenbewältigungsinstrument und zugleich Motor des Fortschritts. Während aber die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre zur Entstehung eines nationalen Bankaufsichtsrechts führte4, werden im Zeitalter globaler Krisen die Grenzen des Nationalstaats ausgelotet, auf dem das europäische Rechtsverständnis seit Ende des dreißigjährigen Krieges aufgebaut hat. Es geht nunmehr um das Verhältnis von nationalem und europäischem Recht und die Frage, welche Auswirkungen das auch in den europäischen Verträgen verankerte Subsidiaritätsprinzip hier hat. Gleichwohl ist das mit der Überschrift skizzierte Thema damit nicht erschöpft. Es besteht vielmehr die Befürchtung, dass – unabhängig von der Frage, ob sich die Krise mit den gewählten rechtlichen Instrumentarien bewältigen lässt – die Finanzkrise auch zu einer Krise des Rechts, ja sogar des Verfassungsrechts führt. Paul Kirchhof hat den Jahrgang 2013 der NJW jedenfalls mit folgenden mahnenden Worten eröffnet: „Die gegenwärtige Finanz- und Schuldenkrise bringt Euro-Verbund und Mitgliedstaaten in Bedrängnis. Sie ist durch Missachtung des Rechts entstanden. Schuldengrenzen werden überschritten, Haushalte in bewusster Rechtswidrigkeit beschlossen. Eine sofortige Rückkehr in die Legalität ist nicht möglich. Geboten ist die schrittweise Annäherung an das Recht“5.
Wenn man von einer Missachtung des Rechtes sprechen kann, dann lag diese anders als in den genannten historischen Beispielen, in einer Wahl außerrechtlicher Mittel. Ganz im Gegenteil hat die Angst vor der Krise und vor allem vor ihren potentiellen Verursachern in Europa und der Welt eine hektische Gesetzgebungsaktivität ausgelöst, die als „Regulierungstsunami“ bezeichnet wurde6. ___________ 4 Dies gilt gerade in Deutschland, vgl. Pleyer, Bankkrisen und die Vorgeschichte der Bankenaufsicht, FG Universität zu Köln (1988), 115; außerdem Alsheimer, Bank 1997, 27. 5 Kirchhof, NJW 2013, 1. 6 So schon der Titel des Beitrages von Mülbert, ZHR 176 (2012), 369.
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Erst die weitere Entwicklung wird daher zeigen, inwieweit das aus dem Blickwinkel der Kommission gezeichnete positive Bild die aktuelle Situation angemessen umschreibt. Erst die Zukunft wird zeigen, ob der eingeschlagene rechtliche Weg die Krise gelöst hat oder sie verschärfen wird. Eine Prognose ist schon deshalb schwierig, weil die Ursachen dieser Krise zwar regelmäßig benannt werden, das Krisenszenario aber nicht nur für Juristen kaum befriedigend zu erklären ist. Am Anfang stand der US-amerikanische Immobilienmarkt, wo eine gefährliche Mischung aus laxer Kontrolle und der Verfolgung letztlich sozialstaatlicher Ziele, nämlich der Förderung privaten Wohneigentums, die hinlänglich beschriebene Immobilienblase verursacht hatten. Dennoch mussten die weltweiten Auswirkungen überraschen, wenn man berücksichtigt, dass der Internationale Währungsfond den Gesamtverlust aus hypothekengesicherten Papieren zum Oktober 2008 auf 580 Mrd. US-Dollar schätzte, was bezogen auf die weltweiten Bankaktiva von rund 85.000 Mrd. US-Dollar gerade einmal 0,7% ausmachte7. Dass solche Peanuts die weltweiten Finanzmärkte ins Wanken bringen und in gewaltigem Umfang privates Kapital vernichten konnten, muss erschrecken und so mischen sich in der Diagnose rationale Aspekte mit irrationalen Ängsten und Sündenbocktheorien. In der Tat sind die Kausalitäten ungewiss. Ökonomen werden nicht müde zu betonen, dass in jeder Wirtschaftskrise zugleich ein Versagen der staatlichen Aufsicht liegt, zumal wenn diese wie die Bankenaufsicht seit Jahrzehnten weit über eine klassische Gewerbeaufsicht hinaus reicht. Es geht keineswegs nur darum, die Gefahren zu bannen, die von unzuverlässigen Gewerbetreibenden ausgehen. Es geht um regulative Gestaltung eines gesamten Wirtschaftssektors. Gleichwohl ist die erste Reaktion auf eine Krise die Verschärfung der materiellen Standards für die Aufsicht und im zweiten Schritt der Ausbau von Aufsichtsbehörden. Dies ließ sich nicht nur im Zusammenhang mit der jüngsten Finanzkrise beobachten. Häufig werden Parallelen zur Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gezogen, um den Ernst der Lage zu betonen. Es lohnt sich diesem Aspekt näher nachzugehen, sind sie doch zugleich ein Lehrstück über den juristischen Umgang mit Wirtschaftskrisen, genauer gesagt mit der in solchen Situationen bestehenden Ungewissheit. Die Ausgangssituation in den USA war auch damals alles andere als rosig. 1932 war etwa ein Viertel aller Amerikaner arbeitslos. 1933 betrug der Wert der in New York gehandelten Aktien nur noch ein Fünftel des Wertes von 1929. Nicht ohne Grund war der Präsidentschaftswahlkampf von 1932 zuvörderst eine Debatte über den Weg zur Überwindung der Krise. Der Republikaner Herbert Hoover vertraute auf die „Selbstheilungskräfte“ des Finanzsektors, während sein Gegenkandidat, der Demokrat Franklin D. Roosevelt auf experimentelle Lösungsansätze und damit mehr staatlichen Einfluss setzte. Roosevelt wurde mit seinem Konzept des „New Deal“ gewählt. Nach der Wahl legte er ein eindrucksvolles Tempo vor und setzte innerhalb von drei Monaten eine ganze Fülle wirtschaftspolitischer Maßnahmen um, die eine uns heute möglicherweise ___________ 7
Zahlen nach Möschel, ZRP 2009, 129.
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selbstverständliche Entwicklung einläuteten, aber den Zeitgenossen auch als Regulierungstsunami erscheinen musste. In den USA führte Roosevelts New Deal überhaupt erst zur Entwicklung der modernen Verwaltungsbehörden und die Weltwirtschaftskrise in den USA und Deutschland zu den Anfängen einer modernen Bankenaufsicht. Verbunden ist diese Entwicklung mit einem starken Vertrauen in genau diese Behörden und ihren technischen Sachverstand. Man betont „Sachgesetzlichkeiten der Regulierung“ und die „Expertise“ der Verwaltung, ohne diese Prämissen in der gebotenen Gründlichkeit zu hinterfragen. Politisch war der New Deal ein Erfolg. 1936 wurde Roosevelt mit noch größerem Vorsprung als 1932 für die zweite Amtszeit wiedergewählt. Während in Deutschland und Europa die Krise in Diktaturen und Krieg führten, gingen die USA daraus gestärkt hervor. In den USA ist gleichwohl bis heute unter Ökonomen umstritten, ob die Weltwirtschaftskrise wegen der starken Regulierung des Finanzsektors überwunden wurde, oder trotz derselben. Es verwundert also nicht, wenn auch die Ergebnisse der aktuellen regulatorischen Aktivitäten in Europa skeptisch beurteilt werden. Die zur Bankenunion vorgelegten Pläne verfehlten wesentliche Ziele, seien widersprüchlich und lückenhaft8, ein „Etikettenschwindel“9. Solche kritischen Stimmen treffen durchaus auf öffentliche Zustimmung, wie die eingangs geschilderte gewaltige Beteiligung der Öffentlichkeit in den bundesverfassungsgerichtlichen Verfahren zeigte. Gleichwohl haben unsere obersten Gerichte diese Entwicklung nicht gestoppt und werden sich erst recht nicht der Bankenunion entgegenstellen10. Die genannten aktuellen und historischen Beispiele lassen aber die unterschiedlichen Dimensionen erkennen, die Finanz- und Wirtschaftskrisen als juristisches Problem haben. Im Folgenden sollen drei Aspekte herausgegriffen werden: Die haushaltsrechtliche, die aufsichtsrechtliche und vor allem die verfassungsrechtliche Dimension der aktuellen Entwicklungen in Europa. Diese werde ich mit den historischen Erfahrungen der USA vergleichen.
___________ 8 s. schon die einleitenden Bemerkungen von Schneider/Mülbert, Börsenzeitung v. 5.1.2013 S. 4, aus der die Zitate stammen. 9 Schneider, EuZW 2012, 721. 10 Insoweit verdient vor allem das Urteil des EuGH zur Leerverkaufsverordnung Beachtung, das zwar die ESMA betraf, aber gleichwohl grundlegend zu europäischen Verwaltungskompetenzen Stellung nahm, vgl. EuGH vom 22.1.2014, Rs. C 270/12 (Vereinigtes Königreich gegen EP und Rat).
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II. Die haushaltspolitische Dimension von Krisen Nur gestreift werden soll die in der allgemeinen Diskussion häufig im Mittelpunkt stehende haushaltsrechtliche Dimension der Krise. Es sprengte nicht nur den zeitlichen Rahmen, sondern auch mein eigentliches Thema, wenn aus einer Wirtschafts- eine Haushalts- oder gar Staatskrise wird, obwohl diese erst recht ein juristisches Problem darstellt. Den verfassungsrechtlichen Rahmen hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung zur Euro-Rettung und zur europäischen Integration abgesteckt. Es leitet aus der Integrationsverantwortung des Gesetzgebers die parlamentarische Haushaltsverantwortung ab und misst dieser zugleich subjektive Relevanz bei. Art. 38 Abs. 1 GG sei verletzt, wenn sich der Bundestag seiner Haushaltsverantwortung entäußere11. Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand ist in diesem Konzept essentiell für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit, das Budgetrecht also zentrales Element demokratischer Willensbildung. In der Konsequenz verlange das Demokratieprinzip, so das BVerfG, dass der Bundestag der Ort bleibt, an dem auch im Hinblick auf europäische und internationale Verbindlichkeiten eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird12. Solange allerdings diese „Verfahrensherrschaft des Parlaments“ gewahrt bleibt, werden die verfassungsrechtlichen Grenzen unscharf. Bei der Einschätzung der wirtschaftspolitischen Notwendigkeit von Rettungs- und Stabilisierungsmaßnahmen sowie der Vertretbarkeit der damit verbundenen Haftungsrisiken billigt das BVerfG dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum zu, den es bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung zu respektieren habe13. Ähnlich zurückhaltend argumentierte der EuGH. Auch er konnte keine Verletzung von Primärrecht durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus feststellen14. Die Einzelheiten beider Entscheidungen können hier nicht vertieft werden, auch die Frage, inwieweit das BVerfG zu einer derart weitreichenden Kontrolle europäischer Instrumente überhaupt befugt ist15, soll dahinstehen. Bezogen auf mein Thema scheint eine erste Antwort gefunden. Auf der Grundlage der insoweit übereinstimmenden Judikatur beider Gerichte stellt die haushalterische Seite von Finanzkrisen ein primär politisches, weniger ein juristisch zu bewältigendes Problem dar16. ___________ 11
BVerfGE 129, 124 (177). BVerfGE 129, 124 (177); BVerfG, NVwZ 2012, 495 (497); BVerfG, NVwZ 2012, 954 (960). 13 Vgl. BVerfGE 129, 124 (182 f.). 14 EuGH, EuZW 2013, 100 ff.; vgl. dazu Weiß/Haberkamm, EuZW 2013, 95 ff. 15 Krit. insoweit etwa Möllers/Redcay, EuR 2013, 409. 16 Auch die jüngste Entscheidung des BVerfG (BVerfG, 2 BvR 2728/13 vom 14.1.2014), in der es dem EuGH die Frage vorlegte, inwieweit der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB als wirtschaftspolitische Maßnahme deren währungspolitisches Mandat (Art. 119 AEUV und 127 ff. AEUV und Art. 17 ff. ESZB-Satzung) überschreitet, entkräftet diese These nicht. Es lässt sich vielmehr ganz im Gegenteil dafür anführen, dass 12
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III. Die aufsichtsrechtliche Dimension von Krisen Krisen haben immer auch eine aufsichtsrechtliche Dimension17. Die juristische Antwort auf ökonomische Krisen besteht, das zeigt nicht nur die aktuelle Entwicklung, sondern auch der Vergleich zur Weltwirtschaftskrise, in einem massiven Ausbau der Wirtschaftsaufsicht. Schwindendes Vertrauen in die Selbstregulierungskräfte der Wirtschaft führt zum Ruf nach staatlicher Regulierung und Aufsicht. Jenseits der Frage, inwieweit die künftigen Eigenkapitalstandards von Banken oder die Anforderungen an die Geschäftsorganisation geeignet sind, um künftige Krisen erst gar nicht entstehen zu lassen, stellen sich verwaltungs- und verwaltungsprozessrechtliche Grundsatzfragen, die in der europäischen Mehrebenenverwaltung eine zusätzliche Dimension erhalten, aber sich in dieser Form bisher nicht stellten. Das spezifisch Neue an der Bankenunion ist jedenfalls die Befugnis einer europäischen Behörde, Einzelfallentscheidungen gegenüber Marktteilnehmern zu erlassen, während sich die bisher etablierten europäischen Behörden auf eine „Aufsicht über die Aufsicht“ beschränkten18. 1. Verwaltungsorganisationsrecht: die unabhängige Regulierungsagentur Wenn nicht nur die Rechtssetzung, sondern gerade im Bankenaufsichtsrecht die Rechtsdurchsetzung auf europäische Behörden übertragen wird, wirft dies natürlich die Frage nach dem Verwaltungsorganisationsrecht auf. Gerade in der deutschen Diskussion wird gerne behauptet, das Primärrecht setze „dieser Kompetenzübertragung … engere Grenzen, als ihre Befürworter wahrhaben wollen“19. Jedenfalls in der EuGH-Rechtsprechung findet diese These allerdings
___________ zwischen den Maßnahmen eines EU-Organes und denjenigen des EU-Rates bzw. der Staats- und Regierungschefs klar unterschieden wird. 17 Zu dieser ausf. der Vortrag von Schenke, in diesem Band. 18 Ausf. dazu Ruthig, Aktuelle Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht in Europa, in: Ziekow/Seok, Der Staat als Wirtschaftssubjekt und Regulierer, 2013, S. 45, 61 ff. Allenfalls bei der ESMA lassen sich ansatzweise weitergehende Kompetenzen beobachten, die der EuGH allerdings in seiner Entscheidung zur LeerverkaufsVO nicht beanstandet hat, vgl. EuGH (große Kammer) vom 22.1.2014, Rs. C 270/12 (Vereinigtes Königreich gegen EP und Rat). Angegriffen wurde Art. 28 der LeerverkaufsVO (VO (EU) Nr. 236/2012 des EP und des Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps, ABl. L 86/1 vom 24.3.2012). Zur LeerverkaufsVO Krüger/Ludewig, WM 2012, 1942; zum Verfahren vor dem EuGH Orator, EuZW 2013, 852. 19 Kämmerer, NVwZ 2013, 830; krit. auch Herdegen, WM 2012, 1889; Siekmann, Die Verwaltung 43 (2010), 95; Waldhoff/Dieterich, EWS 2013, 72.
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keine Stütze. Maßstab ist im konkreten Fall einer Übertragung auf die EZB zunächst Art. 127 Abs. 6 AEUV20, wonach der Rat im entsprechenden Gesetzgebungsverfahren „besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute und sonstige Finanzinstitute mit Ausnahme von Versicherungsunternehmen der Europäischen Zentralbank übertragen“
kann. Ungeachtet ihrer genauen Reichweite21 kann aus dieser Vorschrift wohl nicht abgeleitet werden, dass die europäische Aufsicht Ausnahmecharakter haben müsste. Bei der Interpretation der Norm sind die anderen Textfassungen des AUEV zu berücksichtigen. Wenn die englische Fassung von „specific tasks“ spricht, kann man dies jedenfalls auch als speziell im Sinne von ausdrücklich bestimmt interpretieren. Auch der unbestreitbar bestehende Zusammenhang mit der Binnenmarktkompetenz des Art. 114 AEUV spricht für eine eher großzügige Interpretation, wenn man diese mit dem EuGH nicht nur auf das materielle Recht beschränkt, sondern die Schaffung europäischer Aufsichtsstrukturen als mitumfasst ansieht22. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass spätestens mit dem Lissabon Vertrag die sogenannten Regulierungsagenturen ihre primärrechtliche Anerkennung gefunden haben23. Vor diesem Hintergrund war es auch nicht überraschend,
___________ 20 Fast einhellig wird es für ausgeschlossen erachtet, der EZB auf der Basis von Art. 352 AEUV Kompetenzen im Bereich der Bankenaufsicht zu übertragen; anders wohl nur Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, 2009, S. 259 ff. Auch Art. 114 AEUV taugt allein nicht als Kompetenzgrundlage. Selbst wenn man die Bankenaufsicht kompetenzrechtlich als Maßnahme zur Verwirklichung des Binnenmarkts qualifiziert und daher Harmonisierungsmaßnahmen auf der Grundlage von Art. 114 AEUV für zulässig erachtet, muss im Wege der systematischen Auslegung auch Art. 127 Abs. 6 AEUV berücksichtigt werden, s. dazu Griller, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 127 Rn. 60; Kämmerer, NVwZ 2013, 830, 833. 21 Dazu ausf. m.w.Nachw. Häde, in: Calliess/Ruffert, Art. 127 Rn. 56. 22 Vgl. dazu insbes. EuGH vom 2.5.2006 – Rs. C-217/04, Slg. 2006, I-3771 Rn. 46 ff. = EuZW 2006, 369 m. Anm. Ohler – UK/EP und Rat (ENISA). S. auch EuGH (große Kammer) vom 22.1.2014, Rs. C 270/12 (Vereinigtes Königreich gegen EP und Rat). 23 Die vor allem in der deutschen Diskussion vertretene strengere Auffassung hat sich nicht durchgesetzt. Im Wesentlichen hatte man sich auf die sog. Meroni-Rechtsprechung des EuGH gestützt, vgl. EuGH vom 13.6.1958, Rs. C-9/56, Slg. 1958, 1, 36 ff. (Meroni I); EuGH vom 13.6.1958, Rs. 10/56, Slg. 1958, 51, 75 ff. (Meroni II); dazu auch Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 13 EUV Rn. 56 f. Zur europäischen Finanzmarktaufsicht Ohler, in: Ruffert, Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht § 10 Rn. 105 f.; zur weiterhin kontroversen Diskussion Reichweite der Meroni-Doktrin Michel, DÖV 2011, 728, 729 ff. sowie die Diskussion im Energierecht, vgl. Ludwigs, in: Ruffert, § 5 Rn. 134 ff. m.w.Nachw. Über diese restriktiven Vorgaben ist die neuere Entwicklung weitgehend hinweggegangen. Jedenfalls für die Aufsicht der EZB ist zusätzlich Art. 127 Abs. 6 AEUV zu beachten, angesichts dessen die Anwendbarkeit der Meroni-Doktrin selbst dann im konkreten Fall scheitert, selbst wenn man die dargelegten grundsätzlichen Einwände gegen ihre Weitergeltung nicht teilt.
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dass der EuGH in seiner Entscheidung zur Leerverkaufs-VO24 die Übertragung von Kompetenzen auf eine europäische Regulierungsagentur gebilligt und so letztlich auch der geplanten Bankenunion juristisch den Boden bereitet hat25. Im Einzelnen muss das Grundmodell einer europäischen Regulierungsagentur erst noch konkretisiert werden. Immerhin haben sich die europäischen Akteure auf einen gemeinsamen Standpunkt verständigt26. Speziell mit Blick auf die EZB und die ihr übertragenen Aufsichtsaufgaben muss die erforderliche organisatorische Trennung von den währungspolitischen Aufgaben gewahrt bleiben. Diese ist im Rahmen des primärrechtlich Möglichen wohl verwirklicht27. ___________ 24 EuGH (große Kammer) vom 22.1.2014, Rs. C 270/12 (Vereinigtes Königreich gegen EP und Rat). Angegriffen wurde Art. 28 der LeerverkaufsVO (VO (EU) Nr. 236/2012 des EP und des Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps, ABl. L 86/1 v. 24.3.2012). 25 Mit der sog. Meroni-Doktrin beschäftigt sich der EuGH in der Auseinandersetzung mit dem zweiten Klagegrund. Auf das Argument des Vereinigten Königreiches, einer Agentur dürften keine derart weit reichenden Ermessensentscheidungen übertragen werden, antwortete er erneut mit einer Abgrenzung vom Meroni-Urteil. Im damals zu entscheidenden Fall habe es sich um Befugnisse gehandelt, „die nach freiem Ermessen auszuüben sind und die einen weiten Ermessensspielraum voraussetzen, so ermöglichen sie, je nach der Art ihrer Ausübung, die Verwirklichung einer ausgesprochenen Wirtschaftspolitik“ (EuGH vom 22.1.2014, Rs. C 270/12 (Vereinigtes Königreich gegen EP und Rat), Rn. 41 in Abgrenzung von Meroni I; EuGH vom 13. Juni 1958, Rs. C-9/56, Slg. 1958, S. 43, 44 und 47). Dass die ESMA im aktuellen Fall auf der Grundlage unbestimmter Rechtsbegriffe tätig wird (zitiert wird etwa die „Bedrohung für die ordnungsgemäße Funktionsweise und die Integrität der Finanzmärkte oder die Stabilität des ... Finanzsystems“), spielt gerade keine Rolle. Es kommt dem EuGH vielmehr entscheidend darauf an, dass es sich nicht um ein „freies“, d.h. letztlich politisches und damit rechtlich und gerichtlich nicht kontrolliertes Ermessen handelt. Im Vergleich zu Meroni liegt darin allerdings weniger ein tatsächlicher Unterschied als vielmehr die Konsequenz aus dem gewandelten Primärrecht. Gerade bei der Frage des Rechtsschutzes hat der Lissabon-Vertrag die vorher bestehenden Lücken geschlossen; dass die Zulässigkeit der Übertragung von Befugnissen auf Behörden gerade mit den Fragen des Rechtsschutzes zusammenhängt, zeigt in der Leerverkaufsentscheidung die Auseinandersetzung mit der Rs. Romano (Rn. 56 ff. zu EuGH vom 4.5.1981, Rs. 98/80, Slg. 1981, 1241 – Romano). 26 Gemeinsamer Standpunkt von Europäischem Parlament, Rat und Kommission vom 12.7.2012, http://europa.eu/agencies/documents/joint_statement_and_common_approac h_2012_de.pdf. Dieser enthält allerdings nur Vorschläge zur Vereinheitlichung der Behördenorganisation. Die Grundsatzfrage der Unabhängigkeit einer solchen Agentur ist dort nicht enthalten und wird sich angesichts ihrer Vielgestaltigkeit auch weniger aus der Organisationsform als solcher, sondern aus dem jeweiligen Gründungsrechtsakt ableiten lassen; s. zum Zusammenhang zwischen der Zulässigkeit europäischer Agenturen und den jeweiligen Aufgabennormen auch Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV Art. 298 Rn. 16. 27 Zur organisatorischen Trennung vgl. Art. 18 SSM-VO. Konsequenz einer solchen Trennung ist auch das auf den ersten Blick verwirrende Entscheidungsverfahren. Im Außenverhältnis ist zwar der EZB-Rat das einzig primärrechtlich vorgesehene Organ, so dass dieser auch die aufsichtsrechtlichen Entscheidungen trifft. Gleichwohl ist der eigentliche Akteur das Aufsichtsgremium nach Art. 19 SSM-VO. Die „Planung und Ausführung der Aufgaben“ erfolgt „uneingeschränkt“ durch dieses, Art. 19 Abs. 1 SSM-VO. Was in
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Auch wenn Fragen der Verwaltungsorganisation noch zu klären sind, so hat das Unionsrecht recht eindeutige Vorstellungen von der funktionalen Stellung solcher Regulierungsagenturen. Das zugrundeliegende Konzept wurde insbesondere in den Bereichen Telekommunikation und Energie durch Sekundärrecht und die Rechtsprechung der europäischen Gerichte konturiert. Es entspricht in vielem dem US-amerikanischen Konzept der independent regulatory agency, wie sie sich im dortigen allgemeinen Verwaltungsrecht seit dem New Deal entwickelt hat28. Die entsprechenden Ansätze lassen sich auf europäische Regulierungsagenturen übertragen und wurden denn auch der SSM-VO zugrunde gelegt29. Dieses europäische Konzept ist der Gegenentwurf zur deutschen Verwaltungstradition, in der die Weisungsgebundenheit einer Verwaltungsbehörde als Grundpfeiler der Rechtsstaatlichkeit gilt. Europäisches Verwaltungsrecht sieht in Weisungen der Regierung eine grundsätzlich unzulässige politische Einmischung. Nach diesem Verständnis meint Unabhängigkeit aber nicht nur Weisungsfreiheit im Verhältnis zur Regierung, sondern zugleich in erheblichem Umfang eine „Unabhängigkeit“ vom Gesetzgeber. Einzelfallentscheidungen sind weniger gesetzlich determinierbar als nach unserem Verständnis, wie in aller Deutlichkeit die EuGH-Entscheidung zu den telekommunikationsrechtlichen „Regulierungsferien“ (§ 9a TKG a.F.)30 zeigte. Den entscheidenden Verstoß gegen das Unionsrecht sah der EuGH darin, dass die Abwägung zwischen den verschiedenen Regulierungszielen dem Gesetzgeber und nicht der Regulierungsbehörde übertragen worden war31. Für die Bankenaufsicht bedeutet dies freilich ___________ Art. 19 Abs. 3 als „Vorbereitungstätigkeiten“ bezeichnet wird, ist deshalb materiell die eigentliche Entscheidung. Die Vorschläge können zwar vom EZB-Rat abgelehnt werden. Die Ablehnung bedarf aber einer Begründung, die „insbesondere auf geldpolitische Belange“ zu stützen ist, Art. 19 Abs. 3 EUB-VO. Dass man davon ausgeht, dass dies die Ausnahme darstellen wird, zeigt auch die verfahrensmäßige Umsetzung durch eine Genehmigungsfiktion (dazu Art. 19 Abs. 3 S. 3: „Ein Beschlussentwurf gilt als angenommen, wenn der EZB-Rat nicht innerhalb einer Frist, die im Rahmen des obengenannten Verfahrens festgelegt wird, jedoch höchstens zehn Arbeitstage betragen darf, Einwände erhebt“). Eine abschließende Bewertung des Verhältnisses von EZB-Rat und Aufsichtsgremium ist allerdings erst auf der Grundlage der nach Abs. 5 vom EZB-Rat zu erlassenden internen Vorschriften möglich. Dazu vgl. den EZB-Beschluss v. 22.1.2014 (ECB/2014/1). 28 Dazu Ruthig, in: Ruthig/Storr, Rn. 199 ff. am Beispiel der EBA. 29 Dazu nur Erwägungsgrund 38 (Hervorhebungen vom Verf.): „Im Interesse einer wirksamen Wahrnehmung ihrer Aufsichtsaufgaben sollte die EZB bei der Erfüllung der ihr übertragenen Aufsichtsaufgaben vollständig unabhängig sein, insbesondere von einer ungebührlichen politischen Einflussnahme sowie von Einmischungen der Branche, die ihre operative Unabhängigkeit beeinträchtigen würden.“ 30 Mittels dieser hatte der Gesetzgeber einen Anreiz für den Ausbau des von der Deutschen Telekom AG (DTAG) geplanten Hochgeschwindigkeitsglasfasernetzes (VDSL) schaffen wollen. Der (infolge der Unionsrechtswidrigkeit sowieso nicht mehr anwendbare) § 9a TKG wurde im TKG 2012 wieder gestrichen. 31 EuGH vom 3.12.2009 – C-424/07 Kommission/Deutschland, NVwZ 2010, 370. Dazu Körber, MMR 2010, 123; Ufer, K&R 2010, 100.
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keinen allzu großen Unterschied zur bisherigen Situation, da auch bisher schon die materiellen Standards vor allem in Verwaltungsvorschriften der BaFin niedergelegt waren32. Dieses Verständnis von Unabhängigkeit hat Konsequenzen für die Verwaltungskontrolle. Das zuständige Kontrollorgan ist – anders als nach dem deutschen Konzept des Verwaltungsorganisationsrechts – nicht die Kommission (als die Spitze der „europäischen Exekutive“), sondern auch für die bisherigen Finanzmarktaufsichtsbehörden nach Art. 3 der jeweiligen Verordnung das Parlament, gegenüber dem die Agenturen Rechenschaftsberichte abgeben müssen. Entsprechendes wird für die EZB gelten. Diese Kontrollbefugnisse werden sehr ernst genommen Das Europäische Parlament hatte seine Zustimmung zur SSMVerordnung von einem Ausbau seiner Kontrollrechte abhängig gemacht33. In diese Kontrolle werden auch die nationalen Parlamente einbezogen34. Ob der nunmehr gefundene und in den entscheidenden Aspekten nicht auf Verordnungsebene festgeschriebene, sondern in einer Vereinbarung zwischen Parlament und EZB gefundene Kompromiss eine effektive Kontrolle ermöglichen wird, bleibt abzuwarten35.
___________ 32 Zur Qualifikation vieler Rundschreiben und insbesondere der MARisk als normkonkretisierend Ruthig, in: Ruthig/Storr, Rn. 530 f.; Pitschas, WM 2000, 1121, 1129; selbstverständlich gilt dies gerade nicht für Auslegungsmitteilungen zu bestimmten gesetzlichen Begriffen, etwa der Bankgeschäfte i.S.v. § 1 KWG. Generell den BAFin-Mitteilungen Bindungswirkung absprechend VGH Kassel, WM 2007, 392, 393; vgl auch BGH, NZG 2008, 300, 303 zum Emittentenleitfaden; VG Berlin, WM 1996, 1309, 1311 zu Bekanntmachungen als „Programmsätzen“; Gurlit, ZHR 177 (2013), 863, 897; s. ferner Schäfer, in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG § 6 Rn. 15 m.w.Nachw.; Hannemann/Schneider/Hanenberg, MaRisk, 2. Aufl. 2008, S. 17 f., 39 f.; Langen, BKR 2009, 309, 315 f.; Bürkle, VersR 2009, 866, 868; Fett, WM 1999, 613. 33 Dieses hatte am 22.5.2013 den Kompromiss grundsätzlich gebilligt, die endgültige Zustimmung aber verschoben, bis die Rechenschaftspflicht der EZB gegenüber dem Parlament vertraglich gesichert ist. Vgl. den Pressebericht http://www.europarl.eu-
ropa.eu/pdfs/news/expert/infopress/20130521IPR08733/20130521IPR08733_de.pdf
Die Zustimmung erfolgte am 12.9.2013, vgl. dazu MEMO/13/780, http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-13-780_de.htm?locale=en. 34 Vgl. Art. 21 SSM-VO. 35 s. zu den parallelen Problemen bei Europol als einer weiteren europäischen Regulierungsagentur Ruthig, in: Böse (Hrsg.), Europäisches Strafrecht (Enzyklopädie Europarecht Band 9), 2013, § 20 Rn. 21 ff.; ders., in: FS Wolter (2013), 1469, 1473 f.
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2. Verwaltungsverfahren und Rechtsschutz Starke Behörden mit erheblich erweiterten Kompetenzen36, die die Finanzmarktaufsicht „an das allgemeine Polizeirecht herangerückt“ haben37, verlangen nach rechtsstaatlicher Bändigung durch verschärfte Anforderungen an das Verwaltungsverfahren und durch die Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die Etablierung einer europäischen Bankenaufsicht macht allerdings bewusst, dass auch europäisches Verfahrensrecht für die Eigenverwaltung erst noch Konturen gewinnen muss. Auch auf europäischer Ebene gelten nicht zuletzt angesichts der Verankerung des Rechts auf eine gute Verwaltung in Art. 41 GrCh38 die aus dem nationalen Recht vertrauten und in Grundrechten und Rechtsstaatsprinzip verankerten Grundsätze: Anhörungs- und Begründungspflichten sowie Vertrauensschutzgrundsätze bedürfen ihrer verfahrensrechtlichen Konkretisierung. Dies hat man erkannt, die Lösung aber für die Bankenaufsicht in weitem Umfang auf die EZB delegiert39, die in einem erst noch zu erlassenden Rechtsrahmen ihr Verfah-
___________ 36 Dazu bereits ausf. Ruthig, in: Ziekow/Seok, Der Staat als Wirtschaftssubjekt und -regulierer, 2013, S. 43, 46 ff. zur Entwicklung von punktueller Aufsicht zur Systemkontrolle. 37 So pointiert Kämmerer/Starski, ZG 2013, 318. Dies bestätigt letztlich die These vom intensiven Charakter der Bankenaufsicht, die es insbesondere angesichts der weit über ein „Sonderinsolvenzrecht“ hinausgehenden Möglichkeiten zum Eingriff in die Geschäftsorganisation rechtfertigt, insoweit von „Regulierungsrecht“ zu sprechen, vgl. Ruthig, in: Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht Rn. 25; ders., in: Ziekow/Seok, Der Staat als Wirtschaftssubjekt und -regulierer, 2013, S. 43, 46 ff.; dagegen Röhl, in: Fehling/Ruffert, § 18 Rn. 58 ff. Der verbreitete, ausschließlich an der Netzregulierung und ihren jedenfalls oligopolistischen Strukturen orientierte Regulierungsbegriff – s. jüngst etwa Gurlit, ZHR 117 (2013), 862, 867 – ist als Systembegriff letztlich zu eng und kann allenfalls Teile des Telekommunikations- und Energiewirtschaftsrechts erklären, dazu bereits Ruthig, Europäisierte Regulierungsstrukturen und -netzwerke als Basis einer künftigen Infrastrukturvorsorge, in: Gramlich/Manger-Nestler, Europäisierte Regulierungsstrukturen und -netzwerke, 2011, S. 11, 21. Diese vor allem in Deutschland intensiv betriebene und in ihrer Bedeutung häufig überschätzte (öffentlich-rechtliche) Diskussion um Regulierungsrecht und die Einbeziehung des Finanzmarktaufsichtsrechts darf allerdings nicht mit der bankrechtlichen Diskussion um Regulierung gleichgesetzt werden; dazu bereits Ruthig, in: Ziekow/Seok, Der Staat als Wirtschaftssubjekt und -regulierer, 2013, S. 43, 53 f.; dies in ihrer Darstellung des hier vertretenen Ansatzes nicht berücksichtigend Gurlit, ZHR 117 (2013), 862, 867, die ihrerseits im Bankaufsichtsrecht genau so differenziert (vgl. a.a.O. S. 868 in den Ausführungen zu „Finanzmarktregulierung als Handlungsform“). 38 Dazu Jarass, FS Schenke (2011), 849 ff. 39 In den Art. 8 ff. SSM-VO finden sich nach dem Vorbild anderer sektorenspezifischer Regelungen, insbesondere im Beihilfenrecht, umfangreiche Ermittlungsbefugnisse. Gleichzeitig verlangt Art. 19 Abs. 3 SSM-VO, dass das Aufsichtsgremium seine Aufgaben „nach einem von der EZB festzulegenden Verfahren“ vornimmt. Hierzu sind nach Art. 27 Abs. 4 „im Wege von Verordnungen und Beschlüssen die detaillierten operativen
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rensrecht zu konkretisieren hat. Auf den im Frühjahr 2014 vorzulegenden Entwurf darf man gespannt sein. Genau so, wie auch der deutsche Gesetzgeber im VwVfG vor allem die Entwicklung von Rechtsprechung und Praxis kodifizierte, übt sich auch der europäische Gesetzgeber in Zurückhaltung. Für ein allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht bzw. dessen Kodifizierung in einer Verordnung ist die Zeit wohl auch noch nicht reif. Erhebliche Fortschritte hat seit dem Lissabon-Vertrag demgegenüber der Rechtsschutz gemacht. Verbindliche Rechtsakte von Regulierungsagenturen sind uneingeschränkt mit der Nichtigkeitsklage angreifbar. Indem der AEUV nunmehr ganz allgemein von Handlungen spricht, wird – im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung von EuGH und EuG – klargestellt, dass eine Klage gegen sämtliche (verbindlichen) Rechtsakte der Union möglich ist, auch solche von Regulierungsagenturen40. Die Nichtigkeitsklage gewährt auch Rechtsschutz gegen untergesetzliche Normen. Die von der Kommission nach Art. 290 Abs. 1 AEUV erlassenen delegierten Rechtsakte41 sowie die auf der Grundlage von Art. 291 Abs. 2 AEUV erlassenen Durchführungsrechtsakte stellen Rechtsakte mit Verordnungscharakter im Sinne von Art. 263 Abs. 4 3. Alt. AEUV in der Fassung des Lissabon-Vertrages dar42. Bei diesen muss nur noch die „unmittelbare Betroffenheit“ und nicht mehr, was angesichts der Plaumann-Formel bei Rechtsnormen kaum gelingen konnte43, zusätzlich die individuelle Betroffenheit geltend gemacht werden. Insoweit entwickelt sich bei delegierten Rechtsakten eine „europäische Normenkontrolle“ bezüglich des Tertiärrechts, die dem deutschen § 47 VwGO entspricht, der auf bundesrechtliche untergesetzliche Normen allerdings nicht anwendbar ist. Damit ist der Rechtsschutz sogar unproblematischer als gegen Rechtsverordnungen nach Bundesrecht. Auch der Rechtsschutz gegen informale Handlungen dürfte gewährleistet sein. Jedenfalls stellt der ___________ Bestimmungen zur Wahrnehmung der ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben“ zu veröffentlichen. 40 Dazu schon ausf. Ruthig, in: Ziekow/Seok, S. 45, 64. 41 s. dazu auch v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht S. 271 f. 42 s. auch für eine Kommissionverordnung zum Lebensmittelrecht EuG vom 25.10.2011 – T-262/10; dazu Everling, EuZW 2012, 376. 43 Danach ist eine natürliche oder juristische Person nur dann von einer Maßnahme individuell betroffen, wenn diese sie „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und sie daher in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressaten“, st. Rspr. seit EuGH, Urt. vom 15.7.1963 – Rs. 25/62, Slg. 1963, 211, 238 – Plaumann. Es fehlt also an der individuellen Betroffenheit dort, wo der Kläger auf Grund objektiver Eigenschaften in gleicher Weise wie jeder andere Marktteilnehmer behandelt wird, der sich rechtlich oder potentiell in einer vergleichbaren Situation befindet. Aufgrund dieser engen Interpretation lehnte der EuGH im Fall Plaumann die individuelle Betroffenheit bei einer an Kaufleute adressierten Vorschrift mit dem Hinweis ab, diese Tätigkeit könne von jedermann ausgeübt werden. In Konsequenz dieser Rechtsprechung ist eine Klage gegen Verordnungen und Richtlinien mit abstrakt-generellem Inhalt regelmäßig ausgeschlossen.
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EuGH bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage nicht auf die Unverbindlichkeit der Handlungsform, sondern die davon unterschiedene Frage der „rechtlichen Verbindlichkeit“ ab44. Überträgt man diese Grundsätze auf Guidelines der Finanzmarkaufsichtsbehörden, so muss man wohl in weitem Umfang auch diese als zulässigen Klagegegenstand ansehen45. Davon zu unterschieden ist die Kontrolldichte. In Deutschland ist an die Diskussion um Unabhängigkeit und Regulierungsermessen der Bundesnetzagentur zu erinnern46. Der EuGH hat aber auch im Eigenverwaltungsrecht ein vergleichbares „Regulierungsermessen“ europäischer Regulierungsagenturen anerkannt, das aus der unabhängigen Stellung einer Agentur, wie sie in einem konkreten Rechtsakt ausgestaltet ist, abgeleitet wird47. Andererseits hat er gerade in seiner Leerverkaufsentscheidung die gerichtlichen Kontrollbefugnisse betont48. Der Rechtsschutz gegen Agenturen verlangt nach der Entwicklung eines „europäischen Verwaltungsprozessrechts“. Außer den Fragen der Kontrolldichte wird sich der bisher nur rudimentär ausgebildete vorläufige Rechtsschutz als Problem erweisen. Gleichwohl zeichnet sich seit dem Lissabon-Vertrag und Inkrafttreten ___________ 44 Dazu bereits Ruthig, in: Ziekow/Seok, Der Staat als Wirtschaftssubjekt und -regulierer, 2013, S. 45, 74 ff. Dies betraf etwa die Klage eines Mitgliedstaates gegen einen als Mitteilung bezeichneten Akt, der nicht lediglich bereits geltendes Recht erläutert, sondern den Anspruch erhebt oder jedenfalls den Anschein erweckt, dass eine (vermeintliche) unionsrechtliche Pflicht bestehe, EuGH v. 20.3.1997 – Rs C-57/95, Slg. 1997, I-1627, Rn. 13 ff. (Frankreich/Kommission); Rs. C-325/91, Slg. 1993, I-3283, Rn. 20 ff. (Frankreich/Kommission). Auch gegen eine Empfehlung nach Art. 126 Abs. 7 AEUV hat der EuGH die Nichtigkeitsklage zugelassen, EuGH, Rs. C-27/04, Slg. 2004, I-6649, Rn. 50 (Kommission/Rat); dazu Häde, EuR 2004, 750, 757 ff.; Kotzur, JZ 2004, 1072, 1072 f. Entsprechendes gilt im Beihilferecht für Gemeinschaftsrahmen, Mitteilungen und Leitlinien, in denen die Kommission auf der Grundlage von Art. 108 Abs. 1 AEUV für verschiedene Arten von staatlichen Beihilfen ihre Aufsichtspraxis transparent macht, EuGH, Rs. C-135/93, Slg. 1995, I-1651, Rn. 29 – Spanien/Kommission; dazu Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 263 Rn. 17. 45 Näher Ruthig, in: Ziekow/Seok, S. 45, 76, wobei sich auf europäischer Ebene die Differenzierung zwischen norminterpretierend und normkonkretisierend wiederholt. Zu Empfehlungen und Leitlinien auch (ohne Ausführungen zu Konsequenzen für den Rechtsschutz) Gurlit, ZHR 117 (2013), 862, 875 ff. 46 s. aber auch für die Finanzmarktaufsichtsagenturen Meloney, CMLRev. 2010, 1317, 1349 f.; Peuker, Bürokratie und Demokratie in Europa, 2011, S. 222 ff.; zu Recht ablehnend Ohler, in: Ruffert, Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht, 2012, § 10 Rn. 117. 47 Vgl. EuGH vom 22.12.2010 – C-77/09 –; Gowan, LMRR 2010, 69 zur Zulassung eines Pflanzenschutzmittels durch die Kommission; vgl. auch Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, AEUV Art. 298 Rn. 26: allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts. 48 EuGH (große Kammer) vom 22.1.2014, Rs. C 270/12 (Vereinigtes Königreich gegen EP und Rat). Dass die Zulässigkeit der Übertragung von Befugnissen auf Behörden gerade mit den Fragen des Rechtsschutzes zusammenhängt, zeigen insbesondere die Auseinandersetzung mit der Rs. Romano (Rn. 56 ff. zu EuGH vom 4.5.1981, Rs. 98/80, Slg. 1981, 1241 – Romano).
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der GrCh eine insgesamt positive Entwicklung ab. Dies gilt für die Intensivierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung49, ansatzweise auch für die Kontrolle von Spielräumen der Kommission im Wettbewerbsrecht50 und möglicherweise sogar den vorläufigen Rechtsschutz. Insoweit wurde ein EuG-Urteil zum Beihilferecht als „kleine Sensation“ bezeichnet51. 3. Die Grundsatzfrage Jenseits solcher hier nicht zu vertiefender Einzelfragen besteht ein enger Zusammenhang solcher vermeintlich technischer Fragen mit dem vorliegenden Thema. Es ist kein Zufall, dass der Ruf nach starken und unabhängigen Verwaltungsbehörden und damit einhergehend einer Reduktion der richterlichen Kontrolle gerade in Krisenzeiten erhoben wird. Nach der Weltwirtschaftskrise war dies nicht anders. In den USA markiert der New Deal den Beginn des modernen Verwaltungsrechts52 und damit zugleich den Beginn einer jahrzehntelangen Diskussion um die Stellung dieser „vierten Gewalt“ im System der staatlichen Gewaltenteilung. Das anfängliche, von der Dringlichkeit der Krisenbewältigung geprägte, weitreichende Vertrauen in die Expertise solcher unabhängiger Expertengremien wich erst später einem differenzierten Konzept gerichtlicher Verwaltungskontrolle. Wirklich austariert wird das Verhältnis erst vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Wertungen, insbesondere der Garantie effektiven Rechtsschutzes. In Europa ist diese Frage sicherlich noch nicht abschließend geklärt. Ansätze für eine Verstärkung der Kontrolldichte sind freilich erkennbar und gerade angesichts der aktuellen Krisenszenarien alles andere als selbstverständlich. Es gilt sie auszubauen.
___________ 49
Nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages hat der EuGH die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit ausgedehnt und so erstmals eine europäische Verordnung im Ergebnis für nichtig erklärt, EuGH vom 9.11.2010 – Rs. C-92/09 u C 93/09 – Schecke und Eifert/Hessen = EuZW 2010, 939; dazu Guckelberger, EuZW 2011, 126; zur dreistufigen Prüfung der Verhältnismäßigkeit auch EuGH vom 8.7.2010 – C-343/09, Slg. 2010, I-7027 Rn. 45 – Afton Chemical Ltd.; vgl. zu dieser Entwicklung auch (krit.) Weiß, EuZW 2013, 287, 290. 50 EuGH vom 8.12.2010 – Rs. C-386/10 P, Rn. 62 – Chalkor; Rs. C-389/10 P, Rn. 129 – KME; sowie C-272/09 P, Rn. 102 – KME. s. auch zum Beihilferecht EuG, Rs. T-115/09 u.T-116/09, Electrolux/Kommission und Whirlpool Europe/Kommission und dazu Ruthig, ZG 2014 (im Erscheinen). 51 Soltesz, EuZW 2013, 134, 140 zu EuG vom 19.9.2012 – T-52/12 R,– Griechenland/Kommission. 52 Zur Geschichte des US-amerikanischen Verwaltungsrechts weiterhin grundlegend Rabin, Stan. L. R. 38 (1986), 1189 ff.; ders., in: Schuck (Hrsg.), Foundations of Administrative Law, 1994, S. 39 ff.
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IV. Krisen als verfassungsrechtliches Problem Damit sind wir bei dem dritten und abschließenden Komplex der Überlegungen angelangt, den verfassungsrechtlichen Implikationen der Krisenbewältigung. Diese reichen über die bereits angesprochenen haushaltsrechtlichen Fragen und der verfassungsrechtlichen Fundierung der Diskussion um Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht weit hinaus. Es ist nicht selbstverständlich, an dieser Stelle das Unionsrecht einzubeziehen. Nicht nur wegen des Scheiterns des Verfassungsvertrages ist es, ohne dass die Gründe für sein Scheitern hier vertieft werden können, durchaus problematisch, von europäischem Verfassungsrecht zu sprechen. Bei dieser vor allem in Deutschland betriebenen Diskussion um die (Bundes)Staatlichkeit der EU gerät leicht die wohl wichtigste Funktion einer Verfassung aus dem Blick: Sie ist die juristische Grundordnung eines rechtlich verfassten Gemeinwesens53. Dass auch die EU eine solche Grundordnung nicht nur haben sollte, sondern bereits hatte, galt vor der Diskussion um den Verfassungsvertrag als Selbstverständlichkeit54. Der EuGH bezeichnete die Europäischen Verträge 1986 als „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“55. Und auch das BVerfG hat schon 1967 im Primärrecht „gewissermaßen die Verfassung der Gemeinschaft“ gesehen56. Selbstverständlich hat sich daran durch die Vertiefung der Union nichts geändert und so könnte sich die „Rückkehr zu einem entzauberten Verfassungsverständnis“57 gerade in der aktuellen Situation als hilfreich erweisen, lässt sie doch eine Anknüpfung an nationale Diskussionen und eine nähere Untersuchung der Gemeinsamkeiten zu. Gemeinsam ist beispielsweise dem deutschen und europäischen Recht, dass die Verfassung keine speziellen Vorgaben für Krisenzeiten enthält, sich auch in Krisenzeiten Normsetzung in den
___________ 53 Zum Begriff der Grundordnung s. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates. Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht, Nachdr. Zürich 1971; zur Übertragung auf das Unionsrecht Ruthig, Europäische Gesetzgebung, in: Beckmann/Dieringer/Hufeld (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2. Aufl. 2005, S. 449, 452 f. 54 Zur Möglichkeit das Primärrecht als Verfassungsrecht zu bezeichnen s. Huber, VVDStRL 60 (2001), 194 (196): „Für weite Teile des Schrifttums, aber auch für den EuGH ist dies eine bare Selbstverständlichkeit“; Pernice, VVDStRL 60 (2001), 149 (159 ff.); Ipsen, Europäische Verfassung – nationale Verfassung, EuR 1987, 195 (196). 55 EuGH Slg. 1986, 1339 (1365 Rz. 23) – Les Verts. 56 BVerfGE 22, 292, 296 zum EWG-Vertrag. Im Maastricht-Urteil betonte es demgegenüber den Charakter der EU als „Staatenverbund“. 57 Di Fabio, Die Europäische Charta, JZ 2000, 737, 739. Dies galt für die Diskussion um den Verfassungsvertrag – dazu Ruthig, Europäische Gesetzgebung, in: Beckmann/Dieringer/Hufeld (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2. Aufl. 2005, S. 449, 451 – und könnte sich erst recht heute als hilfreich erweisen, nachdem der Lissabon-Vertrag die „Verwechslungsgefahr“ reduziert hat.
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regulären Formen vollzieht58. Dennoch haben Krisen Auswirkungen auf die Interpretation einer Verfassung, wie sich nicht zuletzt am historischen Beispiel der USA zeigt. 1. Grundrechte Die Angst vor der Krise schlägt unmittelbar auf die Grundrechtsdogmatik durch. Obwohl Grundrechte die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung schützen, legitimiert die Krise weitreichende Eingriffe in die Grundrechte. Der Einzelne wird für das Gemeinwohl in die Pflicht genommen. Höfling prägte im Zusammenhang mit Banken den Begriff des „systemrelevanten Eigentums”59. Die Tatsache, dass im Zusammenhang mit europäischen Verordnungen aber auch richtliniengeprägtem nationalen Recht der Bedeutungsgehalt nationaler Grundrechte schwindet, verlagert die Diskussion auf die Ebene des Unionsrechts, ändert aber nichts am Befund. Im Ergebnis können sich Verwaltung und Gesetzgeber auf überragend wichtige Gemeinwohlgüter berufen, die die mit der Krisenbewältigung verbundenen intensiven Grundrechtseingriffe als verhältnismäßig erscheinen lassen. Wenn zugleich Beurteilungsspielräume nicht nur des parlamentarischen Gesetzgebers anerkannt werden, ergeben sich aus den Grundrechten im Ergebnis keine nennenswerten Grenzen der Krisenbewältigung. Dies führt uns zum nächsten Aspekt, den Auswirkungen der Krisenbewältigung auf die Balance zwischen den Staatsgewalten. 2. Gewaltenteilung Nicht nur in der Grundrechtsdogmatik, sondern auch bei der gerichtlichen Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen und in den bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zum Budgetrecht kam eine richterliche Zurückhaltung zum Ausdruck, die sich in Krisenzeiten ganz offensichtlich verstärkt. Dass dies kein Zufall ist, zeigt erneut ein Blick in die USA. Die Jahrzehnte vor der Weltwirtschaftskrise gelten als die sogenannte Lochner-Ära des Supreme Court. Diese waren, zurückgehend auf die namensgebende Entscheidung, geprägt von ___________ 58
Dies unterscheidet die Rechtslage von der Situation in Korea (dazu den Beitrag von Prof. Kim Sungsoo), sondern auch in Weimar. Dort wurde die Bankenaufsicht durch eine auf Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung gestützte Notverordnung des Reichspräsidenten vom 19. September 1931 (RGBl. I 1929, 493) eingeführt. Zur Geschichte der Bankenaufsicht Fischer, in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2011, § 125 Rn. 29 ff. 59 Höfling, Gutachten F für den 68. DTJ, in: Verhandlungen des 68. DJT, Bd. I, 2010 S. 57; ders., NJW-Beil. H. 22/2010, S. 98.
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strenger richterlicher Kontrolle, an der praktisch alle Versuche des Staates scheiterten, lenkend in die Wirtschaft einzugreifen. Man sah darin weniger eine Frage der Grundrechtsdogmatik im engeren Sinne als eine solche der Kontrolldichte. Das Mehrheitsvotum sah es als „the court’s duty“ an, „to determine whether legislation is a fair, reasonable and appropriate exercise of the police power of the State, or ... an unreasonable, unnecessary and arbitrary interference with the right of the individual“60.
Dahinter stand ein grundsätzliches Misstrauen in interventionistische Eingriffe des Staates in die wirtschaftliche Betätigung Privater61. Die Konsequenzen waren eindeutig: Zwischen 1899 und 1937 wurden mit dieser Begründung praktisch alle gewerbe- und arbeitsrechtlichen Vorschriften aufgehoben, die vor dem Supreme Court angegriffen wurden. Hätte man an diesen Grundsätzen festgehalten, wären staatliche Maßnahmen zur Bewältigung der Weltwirtschaftskrise nicht möglich gewesen. Der Roosevelt’sche New Deal wäre vor Gericht gescheitert. Allerdings vollzog der Supreme Court einen in seiner Radikalität sicherlich historisch einzigartigen Kurswechsel. Eingeleitet wurde dieser in einer Entscheidung, die nicht das Reformpaket von Roosevelt, sondern eine bundesstaatliche Regelung der Milchpreise betraf62. Und auf den ersten Blick wurde die Radikalität des Kurswechsels gar nicht deutlich. Die Mehrheitsentscheidung beschränkte sich auf die Feststellung, dass eine Preisregulierung im Interesse des öffentlichen Wohles durchaus in Frage komme, nahm aber zu diesen materiellen Fragen nicht abschließend Stellung, sondern betonte den Grundsatz des judicial self restraint: „With the wisdom of the policy adopted, with the adequacy or practicability of the law enacted to forward it, the courts are both incompetent and unauthorized to deal.“
Bis heute streitet man über die Ursachen dieser Rechtsprechungsänderung. Er dürfte aber nicht nur auf den raffinierten Schachzug Roosevelts zurückzuführen ___________ 60 Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 56 (1905). Letztlich lief die Argumenation auf das „slippery slope“ Argument hinaus (a.a.O. S. 58): „We think the limit of the police power has been reached and passed in this case. There is, in our judgment, no reasonable foundation for holding this to be necessary or appropriate as a health law to safeguard the public health or the health of the individuals who are following the trade of a baker. If this statute be valid, and if, therefore, a proper case is made out in which to deny the right of an individual, sui juris, as employer or employee, to make contracts for the labor of the latter under the protection of the provisions of the Federal Constitution, there would seem to be no length to which legislation of this nature might not go“. 61 s. nur Sunstein, „Lochner‘s Legacy“. Col. LR 87 (1987), 873 ff.; ferner Lindsay, Harv L Rev 123 (2010), 5. 62 Nebbia v. New York, 291 U.S. 502 (1934) zu einer bundesstaatlichen Preisregulierung. Grundlegende Entscheidungen zum New Deal Wickard v. Filburn, 317 U.S. 111 (1942); N.L.R.B. v. Jones & Laughlin Steel Corp.
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sein, ein Gesetz vorzuschlagen, das die Zahl der Richter des Supreme Court erhöht und so die bisherigen Mehrheitsverhältnisse zu seinen Gunsten verschoben hätte. Sicherlich hat auch der ökonomische Druck eine Rolle gespielt, der von der Weltwirtschaftskrise ausging und natürlich spielte auch der Umstand eine Rolle, dass Roosevelt eine politische Mehrheit hinter sich und mit dem Willen zur Reform die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte. Zurückhaltung üben freilich nicht nur Gerichte, sondern auch die Gesetzgeber. Gerade im Gefolge der aktuellen Finanzkrise war dieses Phänomen weltweit zu beobachten: „Banking legislation is transferring to government authorities huge powers to decide the future of any bank that looks like wobbling; this includes power to make subordinate legislation that overrides private property and contractual rights, that overrides other statutes, and that can even be retrospective. In effect, this legislative activity decides nothing, but delegates all decisional powers to government“63.
Wesentliche Entscheidungen werden also von Behörden getroffen. In den USA mündete dies in die durchaus nicht unzutreffende Bezeichnung von Verwaltungsbehörden als „fourth branch“64. 3. Das europäische Subsidiaritätsprinzip und die Hochzonung von Verwaltungsaufgaben Wenn Krisen die Steuerungsfähigkeit des Rechts hinterfragen, stellt sich auf nationaler genauso wie supranationaler Ebene regelmäßig die Frage, ob die Aufgaben auf der richtigen Ebene verortet sind. Europäisch hat man sich auf die „Hochzonung“ zentraler Aufgaben zur EZB entschieden, was ohne die Finanzkrise sicherlich nicht denkbar gewesen wäre, denn bisher gab es trotz entsprechender Kommissionsvorstöße derart weitreichende Kompetenzen für europäische Behörden weder in den Kernbereichen des öffentlichen Wirtschaftsrechts noch für die Gefahrenabwehr65. Die Begründung des aktuell vorliegenden Verordnungsentwurfs äußert sich zu den Gründen wie folgt: ___________ 63 Aronson, The Great Depression, This Depression, And Administrative Law, http://w ww.fd.uc.pt/~pgon/PDF/aulas/THEDEPRESSIONANDADMINISTRATIVELAW.pdf. 64 Grundlegend dazu Strauss, The Place of Agencies in Government: Separation of Powers and the Fourth Branch, Colum. L. Rev. 84 (1984), 573. Der Ausdruck geht zurück auf James Landis, den ersten Commissioners der SEC, vgl. Landis, The Administrative Process, 1938; vgl. dazu Lepsius, in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 1 Rn. 67, der den Ansatz von Landis zu Recht in einen breiteren Kontext stellt. 65 Im Kernbereich des öffentlichen Wirtschaftsrechts haben die Mitgliedstaaten bisher solche Agenturen mit eigenen Verwaltungskompetenzen, wie sie die Kommission bei jeder Evaluation des Erreichten regelmäßig vorschlägt, mit gleicher Regelmäßigkeit verhindert; Telekommunikations- und Energierecht sind hierfür die zentralen Beispiele, vgl. dazu Ruthig, in: Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2011 Rn. 517 f.
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„Die Ziele der vorgeschlagenen Maßnahme können auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden, sondern lassen sich besser auf EU-Ebene erreichen. Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit haben klar gezeigt, dass sich eine angemessene Überwachung eines integrierten Bankensektors und ein hohes Maß an finanzieller Stabilität in der EU und insbesondere im Euroraum nur durch eine europäische Aufsicht sicherstellen lassen. Die vorgeschlagenen Bestimmungen gehen nicht über das zur Erreichung der Ziele notwendige Maß hinaus. Die EZB wird mit Aufsichtsaufgaben betraut, die auf EU-Ebene ausgeübt werden müssen, um die Einheitlichkeit und Wirksamkeit der Anwendung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen, der Risikokontrolle und der Krisenprävention sicherzustellen. Die nationalen Behörden werden auch weiterhin bestimmte Aufgaben erfüllen, die besser auf nationaler Ebene wahrgenommen werden können“.
Insoweit wiederholt sich eine Diskussion wie wir sie in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg geführt hatten, wo die Installation einer Bundesbehörde für die Bankenaufsicht im föderalen System der jungen Bundesrepublik alles andere als selbstverständlich war. Erst als das BVerfG die verfassungsrechtlichen Fragen geklärt hatte66, war der Weg zu einer bundeseinheitlichen Finanzmarktaufsicht frei. Auch in den USA waren die Entscheidungen des Supreme Court zum New Deal auch solche zu den Bundeskompetenzen auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts. Da das Primärrecht zu den Verwaltungskompetenzen schweigt bzw. in der Auslegung des EuGH die Rechtssetzungskompetenzen zur Rechtsvereinheitlichung im Binnenmarkt zugleich eine entsprechende Verwaltungskompetenz mit umfasst, bleibt als primärrechtliche Grenze nur das in Art. 5 Abs. 3 EUV verankerte Subsidiaritätsprinzip, das im Zusammenhang mit der Diskussion um Verfassungs- und Lissabonvertrag als zentrales Rechtsprinzip des Unionsrechts herausgestellt und primärrechtlich näher ausgestaltet wurde. Die Vorschrift lautet wie folgt: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“
___________ m.w.Nachw. Selbst Europol, das aus einer internationalen Organisation zu einer Regulierungsagentur geworden ist, arbeitet vor allem an den Computerterminals in Den Haag; der Einräumung von „Zwangsbefugnissen“ für eine europäische Polizeigewalt steht das Primärrecht ausdrücklich entgegen (näher Ruthig, in: Böse, Europäisches Strafrecht, 2013, § 20). 66 BVerfGE 14, 197.
Josef Ruthig
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Selbstverständlich ist es entgegen der in Teilen der Literatur vertretenen Auffassung, wie alle anderen Rechtsbegriffe der Verträge, justiziabel67. Gleichwohl muss vor übertriebenen Erwartungen an seinen rechtlichen Gehalt gewarnt werden; nicht zu Unrecht wird der Rechtsprechung des EuGH bescheinigt, sie habe ihm jedenfalls keine vergleichbar scharfen Konturen verliehen wie das BVerfG dem Subsidiaritätsprinzip des Grundgesetzes68. Gerade in einer solchen Orientierung am Subsidiaritätsverständnis des deutschen Verfassungsrechts liegt das Problem. Zwar ging die Einführung des Subsidiaritätsprinzips im Primärrecht zunächst auf einen deutschen (und vermutlich auf deutschem Verfassungsrechtsverständnis beruhenden) Vorschlag zurück, allerdings wurde die Umsetzung maßgeblich von britischen Vorstellungen geprägt. Dies belegt die Entstehungsgeschichte. Die insbesondere aus Deutschland nach dem Vorbild der bundesverfassungsgerichtlichen Subsidiaritätsrüge geforderte Beschwerde zum EuGH69 wurde gerade nicht eingeführt. Durchgesetzt hat sich in den Beratungen im Verfassungskonvent vielmehr die gegenläufige vor allem auch in der britischen Literatur vertretene Auffassung, die auf eine Verstärkung der politischen Kontrollmechanismen aus einer ex-ante-Perspektive setzte70. Vorgesehen ist auf europäischer Ebene die sogenannte Subsidiaritätsrüge durch die Parlamente der Mitgliedstaaten. Dieses von Bundestag und Bundesrat schon häufig eingesetzte71 Instrument basiert auf Art. 12 lit. a AEUV und Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll72. Danach können die nationalen Parlamente oder ihre Kammern begründete Stellungnahmen zur Unvereinbarkeit des Entwurfs mit dem Subsidiaritätsprinzip erstellen, die sie dem Präsidenten des EP, des Rates und der Kommission zu übermitteln haben. Die Stellungnahmen der nationalen Parlamente sind von den Unionsorganen im Normalfall lediglich zu berücksichtigen. Eine Überprüfung des Vorschlags durch die Kommission ist erst dann ___________ 67
Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 5 AEUV Rn. 67 f. m.w.Nachw.; ebenso Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 46. Ergänzungslieferung 2011, EUV Art.5 Rn. 58. Eine Einschränkung der Befugnis des EuGH, das Handeln eines Unionsorgans am Maßstab des Art. 5 Abs. 3 EUV zu messen und dabei die Bestimmungen des Vertrages auszulegen, müsste eigens angeordnet sein, vgl. Art. 19 Abs. 1 S. 1 EUV. Auch die europäischen Gerichte gehen von der Justiziabilität aus. 68 s. etwa Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 5 EUV Rn. 67 ff. 69 s. etwa Koenig/Lorz, JZ 2003, 167, 169 ff. 70 Weatherill, ELRev. 30 (2005), 23, 31 ff.; insbesondere die Rolle der nationalen Parlamente betonend Cooper, JCMS 44 (2006), 281; Louis, EUConst 4 (2008), 429; s. dazu auch Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 5 EUV Rn. 59. 71 Vgl. prominent den Beschluss vom 30.3.2012 zur Datenschutz-Grundverordnung, BR-Drs. 52/12. 72 Näher zu diesem „Frühwarnmechanismus“ Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 46. Ergänzungslieferung 2011, EUV Art.5 Rn. 60 ff.
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zwingend vorgesehen, wenn die Anzahl der ablehnenden Stellungnahmen mindestens ein Drittel der Gesamtzahl der den nationalen Parlamenten zustehenden Stimmen erreicht73. Gleichwohl haben diese Stellungnahmen häufig bestimmenden Einfluss auf das weitere Gesetzgebungsverfahren. Diese Einschaltung der nationalen Parlamente in die ex ante-Kontrolle trägt der Forderung nach der materiellen Aufwertung des Prinzips also sicherlich nicht Rechnung74. Nichts anders gilt allerdings für die gerichtliche Kontrolle. Die Einleitung des Verfahrens bereitet keine Probleme. Auch insoweit wurden die nationalen Parlamente gestärkt. Nach Art. 8 Abs. 1 SubsProt sind die nationalen Parlamente befugt, Subsidiaritätsklage zu erheben, wenn ein Rechtsakt trotz ihrer Rüge verabschiedet wird. Bei der sog. Subsidiaritätsklage handelt es sich nicht um eine eigene Klageart, sondern um eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV, die den üblichen Zulässigkeitsvoraussetzungen unterliegt. Konstitutive Bedeutung hat die Bestimmung insofern, als sie den Mitgliedstaaten erlaubt, die Entscheidung über die Klageerhebung innerstaatlich an den Willen des nationalen Parlaments bzw. einer seiner Kammern zu binden und die Klage sodann in dessen Namen zu „übermitteln“. Es handelt sich also um eine Regelung zur Prozessstandschaft, die in Deutschland in Art. 23 Abs. 1a GG umgesetzt wurde75. Die Kontrolldichte ist jedoch beschränkt. In materieller Hinsicht überprüft der EuGH lediglich, ob der EU-Gesetzgeber seinen Prognosespielraum eingehalten hat, so dass das Subsidiaritätsprinzip keine wirksame Schranke gegen europäische Verwaltungskompetenzen abzugeben vermag. Diese Inhaltsleere des Prinzips hat freilich auch einen positiven Effekt, der leicht übersehen wird. Die Überzeugungskraft nationaler Subsidiaritätsrügen beruht letztlich gerade auf dem Umstand, dass das Prinzip wenig materielle Gehalte aufweist. Denn damit kann der Rüge, wenn sie in einem konkreten Fall tatsächlich erhoben wird, gerade nicht entgegengehalten werden, sie sei zu Unrecht erfolgt. Ihrem politischen Gewicht schadet das sicherlich nicht. Wenn – wie im Fall der Bankenunion – der Subsidiaritätsgrundsatz erst gar nicht ins Spiel gebracht wird, dann versagt insoweit auch die spätere (gerichtliche) Kontrolle. Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass der Subsidiaritätsgrundsatz auf der Ebene von Verwaltungskompetenzen keine Rolle spielen wird und mit der Übertragung von Aufsichtsaufgaben auf die EZB keineswegs der Endpunkt der Entwicklung erreicht ist.
___________ 73
Art. 7 Abs. 2 Subsidiaritätsprotokoll. Zu diesem Zusammenhang Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 46. Ergänzungslieferung 2011, EUV Art. 5 Rn. 59. 75 Dazu Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 23 Rn. 112 (Stand 2009). 74
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V. Zusammenfassung Das Ergebnis fällt knapp und aus juristischer Sicht auf den ersten Blick eher ernüchternd aus. 1. Das Recht enthält kaum Schranken für die politische Bewältigung von Finanz- und Wirtschaftskrisen. Aber vielleicht sind diese vielgestaltigen Fragen bei der Politik und in den Parlamenten auch besser aufgehoben als bei Gericht. Gerichte jedenfalls sind am wenigsten zu aktiver Gestaltung befugt. Das Gericht hat also in Zeiten der Ungewissheit nur zwei Möglichkeiten: es kann die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers respektieren oder es kann wie der Supreme Court in der Lochner Ära die gesetzgeberischen Maßnahmen kassieren. Ein Mittelweg ist kaum möglich und die Kassation aller parlamentarischer Reaktionen auf eine Krise kaum vorstellbar. 2. Auf der Ebene der Verwaltung freilich muss sich die umgekehrte Entwicklung vollziehen. Dem Aufgabenzuwachs muss ein Ausbau der gerichtlichen Kontrolle korrespondieren. Gestärkt wird unter dem Eindruck der Krise also nicht nur das Wirtschaftsaufsichtsrecht, sondern auch das allgemeine Verwaltungs- und Prozessrecht, als dessen Referenzgebiet das öffentliche Wirtschaftsrecht freilich schon vor der Krise das Umweltrecht abgelöst hatte76. Auf europäischer Ebene bietet sich also die historisch einzigartige Chance, die rechtsstaatlichen Konturen des unionalen Eigenverwaltungsrechts zu schärfen. Man sollte sie nutzen. 3. In der aktuellen Krise sollte man aus den Erfahrungen lernen. Europa kann auf die Erfahrungen nationaler Rechtsordnungen aufbauen. Ein erheblicher juristischer Fortschritt lag im nationalen Verfassungsstaat in der Trennung von Verfassungsrecht und einfachem Recht sowie von Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Letztere deutet sich auf europäischer Ebene an, wenn etwa hinsichtlich der Klagebefugnis zwischen der Nichtigkeitsklage gegen EU-Verordnungen des Sekundärrechts und den auf die Kommission delegierten Tertiärrechtsakten unterschieden wird. Die Grundlagen für eine entsprechende materiellrechtliche Weichenstellung sind gelegt, auch wenn das Unionsrecht seine Handlungsformenlehre aber auch den Rechtsschutz noch weiter auszudifferenzieren hat. Wenn sich Europa an diesem Vorbild orientiert, wird es nicht deswegen zum Staat. 4. Wird die europäische Krisenbewältigung gelingen? Es wäre vermessen, diese Frage abschließend beantworten zu wollen. Die Rechtswissenschaft kann ___________ 76 Vgl. Hoffmann-Riem, Telekommunikationsrecht als europäisiertes Verwaltungsrecht, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, S. 191 ff.; Masing, Die Verwaltung 2003, 1; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, Kap. 3, Rn. 49 ff.; Trute, FS Brohm (2002), 169 ff.; ders., FG BVerwG (2003), S. 857; ders., FS Selmer (2004), 565.
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ihren Beitrag leisten. Die politische Entscheidung für einen gemeinsamen europäischen Weg ist gefallen. Gerade die Bankenunion ist ein gewagtes Experiment, dem man Kreativität nicht absprechen kann. Hätte man deswegen auf das Experiment verzichten sollen? Auch Charles Lindbergh hatte vor seinem ersten Transatlantikflug weder eine „Deutsche Flugsicherung“ noch Eurocontrol und flog trotzdem. Der Erfolg gab ihm Recht. Das und vielleicht nur das unterschied ihn von anderen „tollkühnen Männern in ihren fliegenden Kisten“77.
___________ 77 Diese Aussage bezieht sich, wie Cineasten selbstverständlich wissen, nicht auf zugrundeliegende historische Fakten oder Personen, sondern lediglich auf den Spielfilm (im englischen Original: „Those Magnificent Men in their Flying Machines or How I Flew from London to Paris in 25 Hours 11 Minutes“) des britischen Regisseurs Ken Annakin von 1965, genauer den im Stummfilm-Stil gehaltenen „Vorspann“ in Schwarz-Weiß.
Wirtschafts- und Finanzkrisen als juristisches Problem – Krisenstaat und seine rechtsstaatliche Kontrolle Von Sung Soo Kim
I. Problemstellung 1. Die globalen Kredit- und Finanzkrisen und ihre Auswirkung auf die koreanische Wirtschaft Seit 2006 kam es als Teil der Weltwirtschaftskrise zu einer globalen Bankenund Finanzkrise, die von einem spekulativ aufgeblähten US-amerikanischen Immobilienmarkt und der massenhaften Kreditvergabe an Schuldner mit geringer Bonität (sog. Subprimemortgage) ausging. Aus der Immobilien- wurde spätestens dann eine Finanzkrise, als am 9. August 2007 die Zinsen für Interbankfinanzkredite sprunghaft anstiegen. Auch in anderen Ländern, beispielsweise in Spanien, verlief die Entwicklung ähnlich und nahm die Finanzkrise auf einem spekulativ überhitzten Immobilienmarkt ihren Ausgangspunkt. Weltweit äußert sich die Krise dann in Verlusten und Insolvenzen bei Unternehmen der Finanzbranche. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Krise im Zusammenbruch der USamerikanischen Großbank Lehman Brothers im September 2008. Mehrere Staaten ließen sich dazu veranlassen, große Finanzdienstleister (unter anderem American International Group, Fannie Mae, Freddie Mac, UBS und die Commerzbank), dadurch am Leben zu erhalten, indem durch den Staat und die betroffenen Banken selbst riesiges Kapital eingesetzt wurde. Auch wurden die Diskontsätze niedrig gehalten bzw. noch weiter gesenkt, um die Banken mit „billigem Geld“ zu versorgen und dadurch die Kreditvergabe aufrechtzuerhalten.1 Nach der teilweisen und auch in gewisser Hinsicht immer noch unsicheren Beruhigung der Finanzmärkte trat wiederum im Oktober 2009 die Staatsschuldenkrise im Euroraum in Erscheinung, als Griechenland seine wahre Finanzlage offenbarte und Hilfspakete von IWF und Europäischer Union erbat, um die ___________ 1 Chan-Kuk Huh/Sun-Kwon Ahn/Chang-Bae Kim, Auswirkungen der globalen Finanzkrise und ihre Bewältigung, Das Koreanische Wirtschaftsforschungsinstitut, 2009, S. 19 ff.
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Staatsinsolvenz zu vermeiden. Auch wenn kein direkter Zusammenhang zwischen der Subprimekrise und der europäischen Finanzkrise bestehen mag, gehen die wissenschaftlichen Forschungen in diesem Bereich ohne weiteres davon aus, dass die Bankenrettung, die in einigen Staaten mit großen Mengen von Staatsgeldern finanziert wurde, die Staatsverschuldung so stark und sprunghaft hat ansteigen lassen, dass dies die Ausbreitung der Staatsschuldenkrise von Griechenland auf andere Eurozonen-Staaten wesentlich mitverursacht haben dürfte.2 Die oben dargestellte globale Krise hat in Bezug auf den Kredit- und Devisenmarkt in erheblichem Umfang auch auf die koreanische Wirtschaft eingewirkt. Aus den Engpässen des Kreditwesens und dem damit einhergehenden Stocken der gesamten Volkswirtschaft ergab sich ein sprunghafter Verfall des Börsenmarktes. Dies führte infolgedessen zu Handels- und Finanzdefiziten, d.h. einem sog. „Zwillingsdefizit“. Mit der geldwirtschaftlichen Krise begann dann die Krise des Produktionsablaufs und des Konsums der Güter durch Unternehmen und einzelne Konsumenten, die auf die gesamten volkswirtschaftlichen Tätigkeiten wie Investition, Ausfuhr und Beschäftigung etc. negativen Einfluss genommen hat.3 2. Das Wesen der Krise in Korea – das stillstehende Wachstum und zunehmender Finanzbedarf Nach Ansicht aller Analysten konnte Korea die oben dargestellte, bis 2007 andauernde Krise zwar in relativ kurzer Zeit meistern.4 Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise in Korea auch strukturbedingt ist, hängt die koreanische Wirtschaft doch weitgehend von der Entwicklung der Weltwirtschaft ab. Mit der Ankündigung von Ben Bernanke vom 19. Juni 2013, dem Chef der amerikanischen Notenbank Fed, im kommenden Jahr keine Staatsanleihen mehr aufkaufen zu wollen, erlebte der koreanische Börsenmarkt (KDAX) den größten Verlust seit einem Jahr.5 Dies ist mit Japan zu vergleichen, wo der Börsenmarkt trotz des sog. „Bernanke Schocks“ stabil blieb und man eine schnelle Wiederherstellung der Konjunktur erwartete.
___________ 2
Jong-Won Lee, Weltweite Finanzkrise und koreanische Wirtschaft, 2010, S. 37 ff. Jong-Won Lee, a.a.O., S. 37 ff. 4 Pusan Daily News vom 22.3.2013. 5 Am 19. Juni 2013 wurde weltweit berichtet, dass der Chef der amerikanischen Notenbank Ben Bernanke bei der Pressekonferenz die Auffassung vertrat, die USA wolle im kommenden Jahr keine oder nur wenige Staatsanleihen aufkaufen. Nach seiner Äußerung erlitt die koreanische Währung ‚Won‘ eine drastische Wertverminderung und damit fand die sog. dreierlei Schwäche, also Börsen- und Anleihenverfall statt. Koreanische Wirtschaftszeitung vom 19. Juni 2013. 3
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Die strukturbedingte Krisenanfälligkeit der koreanischen Wirtschaft ist einerseits auf die Überalterung der Bevölkerung und die niedrigen Geburtsraten zurückzuführen und andererseits mit der Tatsache eng verbunden, dass der Finanzbedarf für staatliche Förderungsmaßnahmen für Kinder und alte Menschen drastisch zunimmt. Seit einiger Zeit wird im Kreis der Wirtschaftswissenschaftler darauf hingewiesen, dass die mit den oben dargestellten Strukturproblemen umgelagerte koreanische Wirtschaft bereits stillsteht und in den kommenden Jahren kein vertrauenswürdiges Wachstum mehr verspricht. Dabei spielt die politische Lage Koreas eine nicht untergeordnete Rolle. Alle politischen Parteien befürworten, unabhängig vom ihrer ideologischen Ausrichtung, eine aktive Finanzpolitik des Staates zur Bewältigung der gesellschaftlichen Ungleichheiten. Im Vordergrund steht die „economic gap“ in der koreanischen Gesellschaft, die die Gegensätze zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren verschärfte und erhebliche staatliche Finanzmittel zur Bekämpfung erforderte. Es ist zu befürchten, dass die Krise Korea in besonderer Weise erfassen wird, wenn sachgerechte Maßnahmen nicht rechtzeitig getroffen werden. Als mahnendes Beispiel steht uns die Krise Ende 1997 vor Augen, in der Korea einen bislang beispiellosen Devisenmangel erlitt und enorme Hilfspakte vom IWF benötigte.6 Auch wenn die koreanische Bevölkerung überzeugt ist, dass sich eine derartige Krise wie 1997 nicht wiederholen wird, ist nicht zu verkennen, dass die internationalen wie nationalen Ursachen dieser Krise wie ein schlafender Vulkan weiterhin vorhanden sind. In diesem Sinne kann bei uns von einem „Krisenstaat“ die Rede sein.
II. Verfassungsrechtliche Vorgaben zur Krisenbewältigung 1. Art. 76 der Koreanischen Verfassung Im Allgemeinen ist festzustellen, dass in Krisensituationen demokratische Grundsätze zugunsten der Exekutive zurücktreten und dieser ein weitgehender Gestaltungsspielraum eingeräumt wird. Dem Krisenstaat werden jedoch verfassungs- und einfachgesetzliche Schranken gesetzt, um die mit einer Krise verbundenen Probleme im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips zu lösen. Zum Zwecke der praktischen Konkordanz, die zwischen der effektiven Erledigung durch die Exekutive einerseits und der rechtsstaatlichen Kontrolle dieser Kompetenz im Falle einer Krise andererseits hergestellt werden soll, sieht die koreanische Verfassung die Notstandsverfassung nach Art. 76 ff. vor.7 Nach ___________ 6
Dazu ausführlich Samsung Wirtschaftsforschungsinstitut, Die Ursache und Moral des IWF Hilfspakets, August 1998. 7 Young Huh, Das Lehrbuch der koreanischen Verfassung, 2012, S. 985.
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Art. 76 der koreanischen Verfassung kann der Staatspräsident bei inneren Unruhen und Bedrohungen von außen in geringem Umfang entweder die notwendigen finanziellen und wirtschaftlichen Maßnahmen treffen oder Rechtsverordnungen erlassen, die den Rang eines Gesetzes haben, wenn diese zur Aufrechterhaltung der Staatssicherheit bzw. öffentlichen Ordnung als Handhabe erforderlich sind und eine Versammlung des nationalen Parlaments aus zeitlichen Gründen nicht möglich ist. Damit ist auch eine Wirtschafts- und Finanzkrise vor dem Hintergrund dieser Verfassungsvorgaben dadurch gekennzeichnet, dass der Staatspräsident im Hinblick auf den Staatsnotstand als Staatsoberhaupt und Inhaber der Notstandskompetenz eine Hauptrolle spielt, während dem Parlament nur das nachträgliche Zustimmungsrecht vorbehalten wird. Art. 76 Abs. 3 bestimmt, dass der Staatspräsident ohne Verzögerung dem nationalen Parlament zu berichten und die Zustimmung des nationalen Parlaments einzuholen hat, wenn er die Maßnahmen oder Rechtsverordnungen nach Abs. 1 erließ. Fehlt es ihnen an der Zustimmung des nationalen Parlaments, verlieren die Maßnahmen oder Rechtsverordnungen ab sofort ihre Rechtswirksamkeit (Abs. 4). Mit Blick darauf, dass bei der Krisensituation der Exekutive ein weitreichender Spielraum eingeräumt werden soll, begnügt man sich nach der koreanischen Verfassung mit der nachträglichen Zustimmung der Volksvertretung. Bei der rechtsstaatlichen Kontrolle kommt auch bei Staatskrisen bzw. dem Staatsnotstand der rechtsprechenden Gewalt eine besondere Bedeutung zu. Die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle derartiger Maßnahmen bzw. von Rechtsverordnungen nach Art. 76 Abs. 2 der koreanischen Verfassung wurde vor dem Beginn der Verfassungsgerichtsbarkeit in Korea von der herrschenden Lehre und Rechtsprechung mit der Begründung abgelehnt, dass sie keine rechtliche, sondern eher eine politische Handhabe des Staatsoberhauptes darstellen. Es handelt es sich um die sog. Regierungsakte, die mit „Political Questions“ im US-amerikanischen Sinne zu vergleichen sind und insoweit nach herkömmlicher Ansicht von den Gerichten nicht überprüft werden (Judicial Self-Restraint). Diese Rechtslage hat sich jedoch mit der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit seit 25 Jahren grundlegend geändert.8 2. Rechtsprechung des Verfassungsgerichts Das koreanische Verfassungsgericht hat am 29. Februar 1996 eine epochale Grundsatzentscheidung getroffen. Es hielt sich in Abkehr von der früheren ___________ 8
Sung-Soo Kim, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2012, S. 53 ff.
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Rechtsprechung für befugt, die Maßnahmen und Rechtsverordnungen des Staatspräsidenten nach Art. 76 der koreanischen Verfassung verfassungsrechtlich zu überprüfen.9 Nach dem Verfassungsgericht sind die Rechtsverordnungen des Staatspräsidenten nach Art. 76 der koreanischen Verfassung hochrangige politische Entscheidungen und müssen deshalb als sog. Regierungsakte respektiert werden. Allerdings ist die gesamte staatliche Tätigkeit einschließlich der sog. Regierungsakte an die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte gebunden. Im Hinblick darauf, dass das Verfassungsgericht als Hüter der Verfassung zugleich Garant der Grundrechte des Einzelnen ist, werden hochpolitische Regierungsakte der verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen, wenn sie unmittelbar mit dem Eingriff in Grundrechte im Zusammenhang stehen. Die Maßnahmen und Rechtsverordnungen des Staatspräsidenten nach Art. 76 der koreanischen Verfassung sollten nur dann erlassen werden, wenn in Bezug auf eine tatsächliche finanzielle bzw. wirtschaftliche Krise die sofortigen Notmaßnahmen erforderlich sind, eine Versammlung des nationalen Parlaments nicht möglich ist oder die Notstandssituation durch Abwarten einer ordentlichen Versammlung des nationalen Parlaments nicht effektiv bewältigt werden kann. Demzufolge finde der Art. 76 der koreanischen Verfassung keine Anwendung, wenn die bloße Möglichkeit einer zu erwartenden Krise bestünde. Die Maßnahmen und Rechtsverordnungen des Staatspräsidenten nach Art. 76 der koreanischen Verfassung lassen sich deshalb nur dann rechtfertigen, wenn damit die Krise nachträglich erledigt werden und die bestehende Ordnung aufrechterhalten und wiederhergestellt werden kann. In einem solchen Fall würden diese Instrumente auch nicht nur aus allgemeinen Gemeinwohlerwägungen erlassen. Vielmehr wird die unmittelbare Ursache der Krise unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in dem von der Verfassung vorgesehenen, ordnungsmäßigen Verfahren beseitigt. 3. Kurze Stellungnahme Im Ausgangspunkt verdient die Entscheidung des koreanischen Verfassungsgerichts zwar insoweit Zustimmung, als es mit der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips die verfassungsrechtlichen Grenzen und Voraussetzungen der sog. Regierungsakte wie Maßnahmen und Rechtsverordnungen des Staatspräsidenten nach Art. 76 der koreanischen Verfassung und ihre justizielle Überprüfbarkeit festgestellt hat. Dennoch ist diese Entscheidung des koreanischen Verfassungsgerichts in einiger Hinsicht kritisch zu beurteilen.
___________ 9
Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 29. Februar 1996, 93Hun Ba186.
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Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob nach der Auffassung des Gerichts die Maßnahmen und Rechtsverordnungen des Staatspräsidenten nach Art. 76 der koreanischen Verfassung überhaupt sog. Regierungsakte darstellen. Denn die Maßnahmen nach Art. 76 liegen in der verfassungsrechtlichen Zuständigkeit des Staatspräsidenten und sind dementsprechend in vollem Umfang justiziabel. Deshalb besteht in der Entscheidung des Verfassungsgerichts insoweit ein Widerspruch, als es die Maßnahmen nach Art. 76 zwar als Regierungsakte qualifiziert, aber dennoch ihre verfassungsrechtlichen Grenzen erwähnt, obwohl Regierungsakte selbst nicht überprüfbar sein sollen.10 Des Weiteren stellt der Tatbestand „in Bezug auf innere Unruhen und Bedrohungen von außen und zur Aufrechterhaltung der Staatssicherheit bzw. öffentlichen Ordnung eine Handhabe als erforderlich gehalten wird und die Versammlung des nationalen Parlaments aus zeitlichen Gründen nicht möglich erscheint“ nach Art. 76 der koreanischen Verfassung einen unbestimmten Verfassungsrechtsbegriff dar und gewährt damit dem Staatspräsidenten einen weitgehenden Beurteilungsspielraum. Legt dieser aber diesen unbestimmten Verfassungsrechtsbegriff fehlerhaft aus, ist seine Entscheidung verfassungswidrig und kann dann durch das Verfassungsgericht überprüft werden. Im Ergebnis hat das Verfassungsgericht in diesem Urteil entschieden, dass die Rechtsverordnung des damaligen Staatspräsidenten Kim, Yong-Sam die Tatbestandsmerkmale des Art. 76 der koreanischen Verfassung erfülle, weil damals das nationale Parlament geschlossen war und im Hinblick auf die tatsächliche Wirtschaftslage die „Rechtsverordnung für Geldverkehr im eigenen Namen“ auch erforderlich gewesen sei. Dagegen vertraten Fachleute überwiegend die Auffassung, es handle sich um eine normale Wirtschafts- und Finanzlage, die den Erlass der Rechtsverordnung des Staatspräsidenten nach Art. 76 der koreanischen Verfassung auf keinen Fall rechtfertigen konnte. Allerdings wird dem Staatspräsidenten ein weitgehender politischer Beurteilungsspielraum hinsichtlich des tatsächlichen Vorliegens der Tatbestandsmerkmale des Art. 76 der koreanischen Verfassung eingeräumt. War dessen Auslegung des Art. 76 der koreanischen Verfassung fehlerhaft, müsste das Verfassungsgericht über den wesentlichen Sachverhalt seiner Entscheidung hinaus prüfen, ob die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des Art. 76 der koreanischen Verfassung erfüllt sind. Konsequenterweise führte die Entscheidung des Verfassungsgerichts dazu, dass es die Rechtsverordnung nur aus politischen Gesichtspunkten geprüft und sich einer verfassungsrechtlichen Stellungnahme enthalten hat. Wollte das Verfassungsgericht eigentlich mit seiner Entscheidung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und Grenzen der sog. Regierungsakte festlegen, so hat es im Ergebnis zur Verfassungsmäßigkeit der Rechtsverordnung des Staatspräsidenten im vollen Umfang Stellung genommen. ___________ 10
Sung-Soo Kim, a.a.O. (FN 9), S. 57.
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III. Weitgehende Ermächtigung zur Gesetzgebungskompetenz an Exekutive (atypische Form der Rechtsverordnung) 1. Problemstellung – Grenzen der Krisenbewältigung im Rahmen der normalen Gesetzgebung Die verfassungsrechtliche Formulierung der Wirtschafts- und Finanzkrise nach Art. 76 der koreanischen Verfassung reicht nicht aus, um latenten und unvorhersehbaren Krisensymptomen angemessen entgegenzutreten. Dies ergibt sich daraus, dass in diesem Fall der Staatspräsident die eigentlich dem Gesetzgeber gebührende legislative Gewalt ausübt und ihm diese nur ausnahmsweise im Staatsnotstand zugerechnet wird. Im Hinblick darauf, dass der Gesetzgeber auf den Krisenfall nicht unverzüglich und rechtzeitig reagieren kann, wird die Exekutive zu weitgehender Rechtssetzungskompetenz und Gestaltungsfreiheit ermächtigt, wobei allerdings die rechtsstaatlichen Schranken des Wesentlichkeitsprinzips bzw. des Parlamentsvorbehalts und des Übermaßverbots eingehalten werden müssen. Gemäß Art. 75 und 95 der Koreanischen Verfassung werden Rechtsverordnungen von dem Staatspräsidenten, Premierminister und Ministern erlassen. Dabei muss das Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Nicht vorgesehen ist jedoch die Rechtsverordnungskompetenz der unabhängigen Kommission und der Zentralbank,11 die für die Bankenaufsicht und die Geldpolitik zuständig sind. Es besteht also die tatsächliche Notwendigkeit, dass die Kommission im Falle einer wirtschaftlichen und finanziellen Krise diese Notmaßnahmen in Form einer Quasi-Rechtsverordnung trifft. Dennoch fehlt es an einer verfassungsrechtlich gewährleisteten legislativen Kompetenz der unabhängigen Kommissionen zur Krisenbewältigung. Dabei hat sich in der koreanischen Rechtswirklichkeit ein Ausweg in Form einer Gesetzgebungstechnik von atypischen Rechtsverordnungsformen entwickelt. „Atypisch“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Quasi-Rechtsverordnungen erlassen werden, die zwar nicht ausdrücklich im Verfassungstext erwähnt werden, in einzelnen Gesetzen aber eine Erlasskompetenz der unabhängigen Kommissionen zu finden ist. Hiermit ist ein grundsätzlicher Widerspruch der Gesetzgebungsrealität für die Krisenbewältigung insofern zu beobachten, als verfassungsrechtliche Grundprinzipien, insbesondere demokratische Elemente, zugunsten der Rechtswirklichkeit ___________ 11
Nach dem § 26 Abs. 1 des Zentralbankgesetzes ist der Präsident der Zentralbank in der Lage, bei inneren Unruhen, Bedrohungen von außen, Naturkatastrophen oder bedrohenden Finanz- und Wirtschaftskrisen im Rahmen der Kompetenz der Währungskommission die notwendigen Maßnahmen zu treffen, wenn er ihre Versammlung wegen des Zeitdrucks nicht rechtzeitig einberufen kann. Eigentlich wird die Währungskommission dazu berechtigt, zur Ausführung ihrer Geschäfte die Geschäftsregelung zu erlassen (Abs. 3). Hierbei handelt es sich um noch eine atypische Rechtsverordnung in Form einer ,Regel‘.
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zurücktreten. Es wird sich aber im Folgenden herausstellen, dass auch für Krisenfälle die rechtsstaatlichen Schranken und Kontrollmechanismen wie zum Beispiel eine nachträgliche Prüfung durch Gerichte im vollen Umfang zu gelten haben. 2. Eine atypische Form der Rechtsverordnung – die sog. „Gosi“ (öffentliche Anzeige) a) Das Gesetz zur Verbesserung der Geldwesenstruktur (Geldwesenstrukturverbesserungsgesetz; GWSVG) Nach § 10 GWSVG hat die Kommission für Finanzdienstleistungsaufsicht den betroffenen Banken, Kreditinstituten und ihren Vorstandsmitgliedern die folgenden Maßnahmen zu empfehlen, anzuordnen oder sie aufzufordern, einen Vollzugsplan vorzulegen, um den Anfälligkeiten der Kreditinstitute vorzubeugen und ihren Betrieb zu lenken, wenn der Prozentsatz eigenen Kapitals der Banken und Kreditinstitute unter einem bestimmten Bewertungsmaßstab liegt oder ihre Finanzlage wegen bestimmter Ereignisse erheblich verschlechtert wird (Abs. 1). 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Verwarnung und Gehaltskürzung bei Vorstandmitgliedern und Personal der Kreditinstitute Kapitalzu- und Abnahme, Veräußerung bestehenden Vermögens oder Straffung der Organisation und Betriebsstätten Erwerbsverbot von mit hohen Preisrisiken behaftetem Vermögen oder Beschränkung der Annahme von Krediten mit einem außergewöhnlich hohen Zinssatz Amtsenthebung von Vorstandsmitgliedern und Personal oder Ernennung von Amtsvertretern Vernichtung oder Fusion der Aktien Totale oder teilweise Gewerbestillegung Zusammenschluss oder Übernahme der Kreditinstitute durch Dritte Veräußerung des Gewerbes oder Vertragswechsel bezüglich des Geldgeschäfts Ähnlichen Maßnahmen, die der Verbesserung der Finanzlage dienen.
Bemerkenswert ist hier § 10 Abs. 2 GWSVG, wonach die Kommission für Finanzdienstleistungsaufsicht die Maßstäbe und Inhalte der Maßnahmen (die sog. rechtzeitigen Wiederherstellungsmaßnahmen) nach Abs. 1 vorher öffentlich anzuzeigen hat.
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b) Die Rechtsnatur der öffentlichen Anzeige aa) Allgemeines Wie bereits dargestellt, gehört die öffentliche Anzeige nicht zu den verfassungsrechtlich geregelten Formen der Rechtsverordnungen, die in den einzelnen Bestimmungen der koreanischen Verfassung enumeriert sind. Anders ausgedrückt haben öffentliche Anzeigen den rechtlichen Charakter von Verwaltungsvorschriften, denen ohne rechtliche Ermächtigungsgrundlage eigentlich nur eine interne Verbindlichkeit innerhalb der Verwaltungsbehörden zukommt.12 Seit Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat die Rechtsprechung sog. normkonkretisierende bzw. normvertretende Verwaltungsvorschriften und ihre rechtliche Verbindlichkeit nach außen anerkannt.13 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn solche Verwaltungsvorschriften sich auf eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage stützen können. Nach dieser verallgemeinerten Rechtsprechung werden normkonkretisierende bzw. normvertretende Verwaltungsvorschriften als eine Art verfassungsrechtlich geregelter Rechtsverordnungen angesehen, und zwar deswegen, weil sie das Rechtsverhältnis zwischen Einzelnen und Verwaltungsbehörden regeln und insofern den verfassungsrechtlich enumerierten Rechtsverordnungen gleichzustellen sind.14 Aus Sicht der Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips stellt sich dennoch die Frage nach der Rechtfertigungsgrundlage von atypischen Rechtsverordnungen wie der öffentlichen Anzeigen, insbesondere, wieso verfassungsrechtlich nicht ausdrücklich enumerierte und anerkannte Rechtsverordnungsformen eine Rechtswirkung nach außen innehaben sollten. bb) Rechtsprechung des Verfassungsgerichts Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 28.10.2004 verwandele sich der heutige Rechtsstaat von einer formellen zu einer funktionalen Gewaltenteilung, wobei das legislative Monopol des Parlaments im Hinblick auf die zunehmende Nachfrage an Gesetzgebung aufgehoben und stattdessen nach Art. 75 und 95 der koreanischen Verfassung der Exekutive aufgrund der in konkretisiertem Ausmaß erteilten Ermächtigung eine gesetzgeberische Kompetenz zugerechnet werde. Insoweit sei die Exekutive zur Wahl der Regelungsformen der ___________ 12 Kyun-Sung Park, Verwaltungsrecht I, 2013, S. 212; Jung-Sun Hong, Verwaltungsrecht, 2012, S. 135. 13 Entscheidung des obersten Gerichtshofs vom 29.9.1987. 86Nu484. 14 Entscheidung des obersten Gerichtshofs vom 28.5.2004. 2002Du4716; 5.7.2012. 2010Da72076; Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 20.1.2004. 2001Hun Ma894; 26.2.2009. 2006Hun Ba30.
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Verwaltungsrechtssetzung berechtigt, da die in der Verfassung geregelten Formen der Rechtsverordnungen nur als beispielshaft anzusehen seien und dem Grundsatz der gesetzgeberischen Kompetenz des Parlaments nicht entgegenstünden. Es sei wünschenswert, verfassungsrechtlich explizit aufgezählte Formen der Rechtsverordnungen wie Rechtsverordnungen des Staatspräsidenten und der Minister zu verwenden, wenn die Regelungsinhalte der Rechtsverordnungen die Grundrechte des Einzelnen – wie zum Beispiel die Eigentumsgarantie – beträfen. Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften wie öffentliche Anzeigen würden nur dann Anwendung finden, wenn wegen der in Frage stehenden Problemlage ein Zwang vorliege, einen technischen, fachspezifischen und geringfügigen Sachverhalt zu regeln. Auf jeden Fall finde der Grundsatz des Parlamentsvorbehalts nach Art. 75 der Koreanischen Verfassung Anwendung. Nach § 2 Nr. 3 der damaligen Fassung des GWSVG ist die Kommission für Finanzdienstleistungsaufsicht dazu ermächtigt, mit öffentlichen Anzeigen rechtzeitige Maßnahmen zu treffen. § 10 Abs. 2 GWSVG, nach dem die Kommission für Finanzdienstleistungsaufsicht die Maßstäbe und Inhalte der Maßnahmen (die sog. rechtzeitigen Wiederherstellungsmaßnahmen) nach Abs. 1 öffentlich vorher anzuzeigen habe, regele immerhin einen fachspezifischen und technischen Sachverhalt. Das bedeute, dass solche Arten der Ermächtigung mehr oder weniger schon unerlässlich seien und damit auch jedem der Inhalt und Umfang der öffentlichen Anzeige vorhersehbar sei. Schließlich verstoße der § 10 Abs. 2 GWSVG nicht gegen den Grundsatz des Parlamentsvorbehalts nach Art. 75 der koreanischen Verfassung. Dagegen vertraten Gegner dieser Entscheidung die Auffassung, dass die verfassungsrechtlich geregelten Formen der Rechtsverordnung gerade ausschließlich enumeriert seien und es daher dem Gesetzgeber verboten sei, außer diesen verfassungsrechtlich enumerierten Formen der Rechtsverordnungen neue und atypische Rechtsverordnungsformen zu schaffen. Demzufolge sei die atypische Form der öffentlichen Anzeigen verfassungsrechtlich unzulässig, sie dürfe insbesondere die Rechte und Pflichten des Einzelnen nicht regeln. In dieser Hinsicht wird der § 10 Abs. 2 GWSVG insofern für verfassungswidrig gehalten, als er eine nicht verfassungsrechtlich offiziell anerkannte Rechtsverordnungsform anwendet. 3. Eigene Stellungnahme Es ist festzustellen, dass für die verfassungsrechtlich enumerierten Rechtsverordnungsformen wie die Rechtsverordnungen des Staatspräsidenten, Premierministers und der zuständigen Minister die gesetzlichen Regelungen des koreanischen Verwaltungsverfahrensgesetzes anzuwenden sind. Nach § 41 Abs. 1 des
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koreanischen Verwaltungsverfahrensgesetzes hat die zuständige Behörde die Gesetze- und Rechtsverordnungsentwürfe im Allgemeinen nach 40 Tagen öffentlich bekanntzumachen (§ 43) und der zuständigen Kommission des nationalen Parlaments vorzulegen (§ 42 Abs. 2). Zu den Entwürfen kann jeder der zuständigen Behörde seine Meinung vorlegen, erforderlichenfalls findet eine öffentliche Anhörung statt (§ 44 Abs. 1, § 45). Ohne weiteres ist erkennbar, dass der Behörde die außerordentliche Zuständigkeit zur Bewältigung der Krisensymptome im Finanz- und Wirtschaftssektor zukommen soll. Dazu eignet sich die normale Gesetzgebung nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz nicht und eine Krise fordert unverzügliche und rechtzeitige Regelungsmaßnahmen. Die sog. öffentliche Anzeige stellt in diesem Zusammenhang einen Ausweg als außerordentliche Regelungsmaßname dar, mit dem die komplizierten Voraussetzungen und Verfahren der Verfassung und der betroffenen Gesetze umgangen werden können. Meines Erachtens stellen sich dennoch im Zusammenhang mit der öffentlichen Anzeige weitere Fragen. Erstens wird zwar in den einzelnen Bestimmungen der ermächtigenden Gesetze wie § 10 Abs. 2 GWSVG eine Ermächtigungsgrundlage für die öffentliche Anzeige gesehen. Näher betrachtet sind die Regelungen der betroffenen Gesetze zur öffentlichen Anzeige jedoch meist zu weitgehend und umfassend, so dass schon die verfassungsrechtlichen Gebote der Bestimmtheit der Ermächtigung und des Parlamentsvorbehalts verletzt werden.15 Zweitens ist höchst fraglich, ob die öffentliche Anzeige überhaupt eine verfassungsrechtlich zulässige Form der Rechtsverordnungen darstellt. Gemäß dem Prinzip der Gewaltenteilung steht die Gesetzgebungskompetenz im Grundsatz der legislativen Gewalt zu, somit stellen die gesetzgebenden Tätigkeiten der Exekutive im Falle von Rechtsverordnungen dazu eine Ausnahme dar. Die zulässigen Ausnahmen von verfassungsrechtlich geregelten Rechtsverordnungsformen sind in der Verfassung jedoch abschließend aufgezählt und können nicht beispielhaft sein. Daher stimme ich mit den Kritikern der Entscheidung des koreanischen Verfassungsgerichts insofern überein, als es dem Gesetzgeber verboten sein sollte, außer den verfassungsrechtlich aufgezählten Formen der Rechtsverordnungen neue und atypische Rechtsverordnungsformen zu schaffen. Nach der herrschenden Meinung des Verfassungsgerichts eröffnet der Gesetzgeber einen Weg, nach dem „Vorschriftsmäßigkeit der Verwaltung an die Stelle der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“ tritt. Möglicherweise besteht noch das rechtsstaatliche Instrument der ordentlichen Rechtsverordnung zur Krisenbewältigung. Nach § 41 Abs. 1 Nr. 1 und 5 des koreanischen Verwaltungsverfahrensgesetzes finden das öffentliche Bekanntmachungs- und die damit anschließenden Verfahren dann nicht statt, wenn die unverzügliche Gesetzgebung einschließlich ___________ 15
Sung-Soo Kim, a.a.O., (FN 9), S. 365.
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des Erlasses der Rechtsverordnungen mit Blick auf den rechtzeitigen Schutz des Einzelnen oder das Vorliegen eines unvorhersehbaren Sachverhalts erforderlich ist oder die öffentliche Bekanntmachung die öffentliche Sicherheit bzw. das Wohl der Allgemeinheit beträchtlich verletzen kann. Die Beweislast dafür trägt die zuständige Behörde.
IV. Schlussfolgerung Aus der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise kann Korea nicht ausgeklammert bleiben, denn die koreanische Wirtschaft ist einerseits hauptsächlich vom Außenhandel abhängig und ihr Kapitalmarkt andererseits sehr liberalisiert. Seit 2006 und 2008 war die koreanische Wirtschaft den weltweit verbreiteten Krisensymptomen der finanziellen Konjunktur strukturbedingt ausgesetzt worden. In diesem Sinne kann auch von Korea als ,Krisenstaat‘ die Rede sein. Zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise kommt verfassungsrechtlich in Korea vor allem die Verankerung des Notstandsrechts des Staatspräsidenten in Betracht, wonach dieser einem Gesetz im Rang gleichstehende Rechtsverordnungen erlassen kann, um die anstehende Krise unverzüglich und damit rechtzeitig zu einzudämmen. Wie bereits dargestellt, hat der Staatspräsident ohne Verzögerung dem nationalen Parlament zu berichten und dessen Zustimmung einzuholen. Wird die Zustimmung des Parlaments verweigert, verlieren die Rechtsverordnungen sofort ihre Rechtswirksamkeit. Daran kann man sehen, dass in Krisensituationen demokratische Grundsätze hinter staatlichen Willensentscheidungen zurücktreten und stattdessen der mit einer außerordentlichen Kompetenz ausgestatteten Exekutive eine Hauptrolle zukommt. Dabei ist die Wiederherstellung des demokratischen Prinzips in Form der nachträglichen Anerkennung der Maßnahme durch die Volksvertretung von entscheidender Bedeutung. Nicht zu verkennen ist zugleich die rechtsstaatliche Kontrolle durch die Gerichte, insbesondere des Verfassungsgerichts darüber, ob die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der Machtausübung im Falle des Notstands erfüllt sind. Die gleiche Feststellung kann für die die verfassungsrechtlich nicht geregelten atypischen Formen der Rechtsverordnungen wie öffentliche Anzeige getroffen werden. Es ist zwar zu verstehen, dass der Zwang zur Krisenbewältigung es gebietet, der von gesetzlich komplizierten Verfahren freien Rechtsverordnungsform den Vorrang einzuräumen. Kritisch zu beurteilen ist jedoch, dass die rechtsstaatlichen Schranken für die Fälle der verfassungsrechtlich geregelten Rechtsverordnungen keine Anwendung finden. Demnach soll die Krisenbewältigung nur innerhalb eines rechtsstaatlichen Rahmens stattfinden. In Korea gibt es die Redensart, „je dringlicher, desto langsamer“. Der Rechtsstaat kennt keinen Königsweg.
Eine Studie über die verfassungsrechtliche wirtschaftliche Ordnung unter Berücksichtigung der Novellierungsdiskussion Von Okju Shin
I. Einführung Im Vergleich zum Grundgesetz findet man in der koreanischen Verfassung außerordentlich präzise Bestimmungen über die wirtschaftliche Ordnung. Den Anfang macht im 9. Kapitel Art. 119, der auch als die wirtschaftliche „Ordnungsklausel“ bezeichnet wird. Einerseits garantiert die koreanische Verfassung im Art. 119 Abs. 1 ausdrücklich sowohl die Freiheit des Individuums als auch die freie wirtschaftliche Betätigung von Privaten, andererseits schafft sie gleichzeitig in Art. 119 Abs. 2 die verfassungsrechtliche Grundlage für staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und zur Regulierung des Markts. Die einzelnen Regelungen über die Wirtschaft befinden sich in den Art. 120 bis Art. 127. Zwar wurden die wirtschaftliche Ordnungsklausel und einzelne Wirtschaftsartikel geändert, ihr wesentlicher Inhalt, die soziale Marktwirtschaft als Rahmen der verfassungsrechtlichen Wirtschaftsordnung ist aber bis heute erhalten geblieben. In Korea kommt es häufig bei Regierungswechseln zu einer Verfassungsnovellierung. Hiervon ist auch die verfassungsrechtliche Wirtschaftsordnung betroffen. Insbesondere in der Zeit der „Partizipationsregierung“ von Präsident Roh, Mu-Hyeun setzten sich Verfassungswissenschaftler sowie Vertreter von Wirtschaft und Politik, namentlich die Arbeitsgemeinschaft für die zukünftige Verfassung Koreas im Parlament intensiv mit dem Thema auseinander. Im Kern der Diskussion um die Novellierung der verfassungsrechtlichen Wirtschaftsordnung steht das ideologische Verständnis des Art. 119. Entscheidend ist das Verständnis des Verhältnisses zwischen Art. 119 Abs. 1 und 2: Manche vertreten die Auffassung, dass die Idee des Sozialstaatsprinzips, das zwar nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert ist, jedoch in vielen Artikeln einschließlich des Art. 119 Abs. 2 der koreanischen Verfassung verstreut verwirklicht sei. Ihr Merkmal sei die Relativierung des Eigentums und ein staatlicher Eingriff in die private Sphäre. Andere sehen in der koreanischen Verfassung eher die freiheitliche Demokratie im Sinne der Neuzeit, die durch absoluten Schutz des Eigentums gekennzeichnet ist. Daher sei Art. 118 Abs. 2 ein Fremdkörper.
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Das Verstehen des Sozialstaatprinzips bestimmt das Verstehen des Art. 119, nämlich das Verhältnis zwischen Art. 119 Abs. 1, der auf freiheitlicher Demokratie basierend die Marktwirtschaft regelt, und Art. 119 Abs. 2, der die Demokratisierung der Wirtschaft, die angemessene Verteilung des Einkommens, den Eingriff beim Monopol der Marktherrschaft und beim Missbrauch der wirtschaftlichen Macht bestimmt. In diesem Artikel wird zuerst der Inhalt und vielfältige Interpretationen des Art. 119 erläutert, dargestellt und danach seine Änderung diskutiert.
II. Inhalt der verfassungsrechtlichen Wirtschaftsordnung 1. Historische Entwicklung der verfassungsrechtlichen Wirtschaftsordnung Die koreanische Verfassung enthält seit 1948 eine Regelung zur Wirtschaftsordnung, die der koreanischen Verfassung eine besondere Note gibt. Die Änderungen der Regelung zur Wirtschaftsordnung können wie folgt chronologisch beschrieben werden: Die erste Verfassung Koreas von 1948 bestimmte in Art. 84, dass das „Prinzip der Wirtschaftsordnung der Republik Korea […] die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, die Befriedigung der fundamentalen Bedürfnisse aller Staatsbürger und die Förderung einer ausgeglichenen Volkswirtschaft“ abzielt. „Die Freiheit des Einzelnen im wirtschaftlichen Verkehr wird in diesem Rahmen gewährleistet.“ Diese Regelung sieht eine außerordentlich starke Verstaatlichung in den Bereichen von Straßen, Wasser, Gas, Banken, Mineralen, Bahn, Post etc. vor. Man bewertet sie normalerweise als Rezeption der Wirtschaftsordnung der Weimarer Verfassung und versteht sie als Symbol der Sozialdemokratie der 1. Republik Koreas. Diese Regelung blieb auch in der Verfassung von 1954 in Art. 84 erhalten. Die Verfassungsänderung von 1962 führte zu einer neuen Nummerierung der Artikel, so dass sich die die Wirtschaftsordnung betreffende Regelung nunmehr in Art. 111 befand, der wie folgt lautet: „Die Wirtschaftsordnung der Republik Korea beruht auf dem Grundsatz, die wirtschaftliche Freiheit und Schöpferkraft des Einzelnen zu achten.“ Durch Abs. 2 wurde der staatliche Eingriff in die Wirtschaft ermöglicht: „Um wesentliche Lebensbedürfnisse für das ganze Volk sicherzustellen, regelt und kontrolliert der Staat die Volkswirtschaft insoweit, als es zur Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit und Entwicklung einer ausgeglichenen Volkswirtschaft notwendig ist.“ Dies führte zu einer Lockerung der staatlichen Kontrolle der Wirtschaft und an ihre Stelle trat die soziale Marktwirtschaft. Es gab zwar diverse Änderungen einzelner Verfassungsartikel, die die Wirtschaftsordnung betreffen. Doch ist der bestimmende Rahmenartikel für die koreanische Wirtschaftsordnung bis zu der
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Verfassung 1987, die in Art. 119 ihre Wirtschaftsklausel verankert, unverändert geblieben. Die Entwicklung der verfassungsrechtlichen Wirtschaftsordnung Koreas kann in folgende Phasen unterteilt werden: Die erste Phase beginnt mit der Verfassung aus dem Jahre 1948 und endet mit der Verfassung von 1954. In diesem Zeitraum galt der Grundsatz der Kontrollwirtschaft, der besagt, dass die Wirtschaft im Prinzip der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, der Befriedigung der fundamentalen Bedürfnisse aller Staatsbürger und der Förderung einer ausgeglichenen Volkswirtschaft dienen sollte und die Freiheit des Einzelnen nur in diesem Rahmen ausgeübt werden darf. Die zweite Phase erstreckt sich über den Zeitraum von der Verfassung von 1962 bis zur Verfassungsänderung des Jahres 1987. Die Wirtschaftsordnung wurde inhaltlich stark verändert, es wurde ausdrücklich das Prinzip der Marktwirtschaft eingeführt, staatliche Eingriffe waren nur noch ausnahmsweise zulässig. Die dritte Phase beginnt mit der Verfassungsänderung von 1987. Nach Auffassung einer Mehrheit von Wissenschaftlern und des koreanischen Verfassungsgerichts ist die aktuelle verfassungsrechtliche Wirtschaftsordnung Koreas als soziale Marktwirtschaft zu charakterisieren. 2. Kapitel 9 der koreanischen Verfassung, die Wirtschaftsverfassung Das 9. Kapitel der Verfassung besteht aus einer Grundbestimmung und 7 einzelnen wirtschaftlichen Regelungen, die man als Wirtschaftsverfassung bezeichnet. a) Grundbestimmung der koreanischen Wirtschaftsordnung Art. 119. Abs. 1 lautet: „Die Wirtschaftsordnung der Republik Korea beruht auf dem Grundsatz der Achtung der wirtschaftlichen Freiheit des Individuums, der Unternehmen und deren schöpferischer Kraft“. Nach Abs. 2 kann der Staat in die Wirtschaft regulierend und koordinierend eingreifen, um ein ausgewogenes Wachstum und volkswirtschaftliche Stabilität aufrecht zu erhalten, um eine ausgewogene Verteilung des Einkommens zu gewährleisten, um die Marktherrschaft und den Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu verhindern und um die Wirtschaft durch die Harmonisierung unter den Wirtschaftsvertretern zu demokratisieren. b) Einzelne wirtschaftliche Bestimmungen Art. 120 Abs. 1 nach können Lizenzen für die Förderung, die Erschließung oder die Nutzung von Mineralien und anderen wichtigen Bodenschätzen, Pro-
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dukten aus Meer und Gewässer, Wasserkraft und wirtschaftlich nutzbarer Naturkräfte nach Maßgabe der Gesetze für einen bestimmten Zeitraum erteilt werden. In Abs. 2 ist verankert, dass Boden und Rohstoffe den Schutz des Staates genießen und dass der Staat Pläne für deren ausgewogene Nutzung und Erschließung aufstellt. Nach Art. 121 Abs. 1 soll sich der Staat darum bemühen, dass derjenige, der in der Landwirtschaft arbeitet, auch über das Land verfügen kann. Das Pachtsystem ist verboten. Abs. 2 erlaubt die Verpachtung der landwirtschaftlichen Nutzfläche zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität und zur Sicherung der Nutzung des Ackerlandes nach Maßgabe der Gesetze, wenn zwingende Umstände dies erforderlich machen. Art. 122 zufolge kann der Staat nach Maßgabe der Gesetze Beschränkungen anordnen oder Pflichten auferlegen, die für eine wirksame und ausgewogene Nutzung, Erschließung und Erhaltung des Landes als Produktionsgrundlage und zur Sicherung der Lebensgrundlagen der Bürger notwendig sind. Gemäß Art. 123 Abs. 1 soll der Staat einen Plan aufstellen und ihn zur Ausführung bringen, um zu helfen, die Gemeinde im Bereich der Landwirtschaft und der Fischer umfassend zu entwickeln und zu unterstützen. Auf diese Weise sollen die Landwirtschaft und die Fischerei geschützt und gepflegt werden. Abs. 2 bestimmt, dass der Staat die regionale Wirtschaft unterstützen soll, um eine ausgewogene Entwicklung aller Regionen sicherzustellen. Nach Abs. 3 soll der Staat kleine und mittlere Industriebetriebe schützen und fördern. Abs. 4 zufolge soll der Staat sich um den Schutz der Interessen von Landwirte und Fischer bemühen, indem er durch die Erhaltung des Gleichgewichtes von Angebot und Nachfrage und durch Verbesserung des Markt- und Verteilungssystems versucht, die Preise für landwirtschaftliche und fischereiwirtschaftliche Erzeugnisse zu stabilisieren. Nach Abs. 5 soll der Staat die Bildung von Selbsthilfeorganisationen, die von Bauern, Fischern und Industriebetrieben sowie deren unabhängige Tätigkeit garantieren. Art. 124 garantiert Verbraucherschutz. Der Staat ist gesetzlich verpflichtet, die Verbraucherschutzbewegung, die das gesunde Verhalten der Verbraucher und die Verbesserung der Qualität der Produkte zu fördern bestrebt ist, zu fördern. Art. 125 bestimmt die staatliche Förderung des Außenhandels. Der Staat kann ihn kontrollieren und koordinieren. Art. 126 sieht die Verstaatlichung wie folgt vor: „Abgesehen von gesetzlich bestimmten Fällen zur Bewältigung von dringenden Erfordernissen der nationalen Verteidigung oder der Volkswirtschaft, können private Unternehmen weder verstaatlicht oder vergesellschaftet noch unter staatliche Kontrolle gestellt oder von staatlicher Verwaltung übernommen werden.“
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Nach Art. 127 Abs. 1 ist der Staat bestrebt, die Volkswirtschaft durch die Entwicklung von Wissenschaft Technologie, Informationswesen und der menschlichen Erfindungsgabe zu fördern. Abs. 2 verlangt, dass der Staat einen nationalen Standard festlegt. Der Präsident kann nach Abs. 3 für den in Abs. 1 angeführten Zweck eine Beratungsorganisation errichten. 3. Interpretation der Wirtschaftsordnung des Art. 119 Die unterschiedlichen Interpretationen des Art. 119, die aus verschiedenen Perspektiven auf die potenziellen Nutzungsmöglichkeiten des Artikels resultieren, führen zu unterschiedlichen Meinungen über die Novellierung der Wirtschaftsordnung. a) Keine normative Bestimmung des Art. 119 Abs. 2 Die konservative Strömung, die die Wirtschaftsordnung novellieren will, geht davon aus, dass Art. 119 Abs. 1 und Abs. 2 in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis zueinander stehen. Sie behauptet, dass der unbestimmte Rechtsbegriff in Art. 119 Abs. 2 zu einer Instabilität der Verfassungsnorm führt und den Staat unbegrenzt zu Eingriffen in die Marktwirtschaft ermächtigen würde. Diese Strömung fordert die Aufhebung des Art. 119. Nach dieser Meinung muss auch die wirtschaftliche Regulierung der Wirtschaft an der „Schranken-Schranke“ des Art. 37 Abs. 2 gemessen werden. Nach dieser Auffassung ist Art. 119 Abs. 1 eine unnötige Bestimmung. Denn einerseits kann deren Inhalt auch aus den Artikeln zum Eigentumsrecht und zur Berufsfreiheit hergeleitet werden. Andererseits ist unter Wirtschaftswissenschaftlern der Inhalt der freien Marktwirtschaft sehr umstritten. Es wäre angesichts der Unbestimmtheit des Art. 119 Abs. 1 nicht richtig, wenn man diesem normative Kraft zuschreiben würde. Es existieren keine Kriterien zur Definition des Begriffs der „freien Marktwirtschaft“. Der Forderung zur Beachtung des Marktprinzips wird bereits durch das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip ausreichend Rechnung getragen. Ein doppeltes Schutzregime, das neben dem Schutz des Grundrechts (Eigentumsrecht und Berufsfreiheit) auch die freie Marktwirtschaft verfassungsrechtlich absichert, ist sinnlos. Diese Auffassung geht davon aus, dass eine Änderung des Art. 119 Abs. 2 zu einer Minimalisierung staatlicher Eingriffe führen würde. Eine normative Wirkung des Art. 119 Abs. 2 für die Politik und das staatliche Handeln wird verneint.
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b) Ergänzendes Verhältnis zwischen Art. 119 Abs. 1 und Abs. 2: Regel-Ausnahme-Verhältnis Nach dieser Auffassung legt Art. 119 Abs. 1 als Grundsatz der koreanischen Wirtschaftsordnung das Prinzip der Freiheit des Unternehmens fest. Bei Art. 119 Abs. 2 handelt es sich um eine Ausnahmeregel, die dem Staat das Recht einräumt, im Rahmen des Erforderlichkeitsprinzips den Markt zu regulieren und zu koordinieren. Der staatliche Eingriff in die Wirtschaft darf nicht willkürlich sein, sondern muss dem Optimierungsgebot entsprechen. Das Optimierungsgebot besagt, dass der Staat verpflichtet ist, das Eingriffsziel, den Zweck des Eingriffs und die hierfür gewählten Mittel darzulegen. Daher ist das Optimierungsgebot als normative Darlegungspflicht zu verstehen. Sie setzt das Vertrauen in die Selbstregulierung des frei konkurrierenden Marktes und den Mechanismus der Selbstkorrektur durch Angebot und Nachfrage. Nach dem Modell der Marktwirtschaft ist es nicht möglich, die Wirtschaft mittels Plänen erfolgreich zu steuern. Staatliche Eingriffe und Regulierung sind daher nur ausnahmsweise erlaubt, wenn der Staat darlegt, dass im konkreten Fall die Mechanismen des freien Marktes und der Preisbildung versagen. Zwar enthält Art. 119 Abs. 2 detaillierte Vorgaben, um Eingriffe in die Wirtschaft sehr stark einzuschränken Aber er erlaube dem Staat umfangreiche Eingriffe mit unbestimmten und offenen Begriffen wie ein ausgewogenes Wachstum und volkswirtschaftliche Stabilität, eine ausgewogene Verteilung des Einkommens, die Verhinderung von Marktbeherrschung und des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht, die Demokratisierung der Wirtschaft durch die Harmonisierung der Wirtschaftsvertreter, was die normative Wirkung mindert. Wenn der Staat regulierend in den Markt eingreifen will, muss er den Zweck, das Ziel und das gewählte Mittel klar darlegen. Die oben erwähnten wirtschaftlichen und politischen Ziele hätten aber im Vergleich mit der Zeit der Novellierung im Jahre 1987 ihre Überzeugungskraft fast verloren. Denn die Situation und Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, die Bedingungen des Markts, die Architektur der koreanischen Unternehmen und die Globalisierung führen dazu, dass sich die Wirtschaft an global frei konkurrierende Regelungen anpasst. c) Konkurrierendes Verhältnis zwischen Art. 119 Abs. 1 und Abs. 2 Im Rahmen der 8. Verfassungsnovellierung wurden neben Art. 119 Abs. 2 weitere Artikel, die eine Legitimationsgrundlage für staatliche Eingriffe schaffen, in die Verfassung aufgenommen. Die Bestimmung des Art. 119 Abs. 2 steht in einem Konkurrenzverhältnis zu Art. 119 Abs. 1. Das bedeutet, dass nur einer der beiden Absätze normative Wirkung entfalten kann, während der jeweils andere Absatz unbeachtlich wird.
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Wird Art. 119 Abs. 1 anerkannt, sind staatliche Maßnahmen, die die wirtschaftliche Freiheit umfangreich beschränken, rechtswidrig (verfassungswidrig). Die Ziele des Art. 119 Abs. 2 dürfen nur unter Beachtung des Prinzips der freien Marktwirtschaft erreicht werden. Geht man hingegen von der Geltung des Art. 119 Abs. 2 aus, kann der Staat mit verschiedenen Mitteln die Ziele des Art. 119 Abs. 2 verfolgen. Er kann die wirtschaftliche Freiheit des Individuums und der Unternehmen unbegrenzt einschränken, womit automatisch die normative Wirkung des Art. 119 Abs. 1 negiert wird. d) Soziale Marktwirtschaft Eine weitere Auffassung plädiert für die Erhaltung des Art. 119 Abs. 2. Sie weist darauf hin, dass der Artikel vom koreanischen Verfassungsgerichtshof als Entscheidungsmaß herangezogen werden kann, solange er sich in der Verfassung befindet. Nach dieser Meinung hätte eine Streichung der Vorschrift weitreichende Folgen. Demnach enthält Art. 119 das Prinzip der die sozialen Marktwirtschaft, das dem deutschen Modell der sozialen Marktwirtschaft ähnelt. Das Zusammenwirken der beiden Absätze wird als sinnvoll beurteilt. Abs. 1 enthalte das Prinzip der Marktwirtschaft im Sinne einer ‚klassisch modernen konstitutionellen Grundregel‘. Art. 119 Abs. 2 stelle das Prinzip der sozialen Wirtschaftsordnung im Sinne der ‚modernen konstitutionellen Grundregel‘ dar, um die Nachteile der Marktwirtschaft zu überwinden. Diese Auffassung vertritt die Meinung, dass es sich bei der koreanischen Wirtschaftsordnung um eine soziale Wirtschaftsordnung handelt. Sie gewähre zwar Produktion und Verteilung von Gütern im freien Wettbewerb, ermögliche aber gleichzeitig die Regulierung der Wirtschaft durch den Staat, um soziale Gerechtigkeit und den Schutz der sozial Schwächeren zu verwirklichen. Die soziale Marktwirtschaft bezeichnet eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die in Deutschland als „dritter Weg“ entwickelt und von der Politik umgesetzt wurde. Anders als der Liberalismus und Neoliberalismus sieht sie den Staat in einer positiven Rolle. Sie baut auf einen starken Staat, der den Ordnungsrahmen für den Markt definiert, den Wettbewerb durchsetzt und permanent auch gegen den Druck des Marktes aufrechterhält. Dementsprechend können die drei Grundprinzipien der Wirtschaftspolitik in der sozialen Marktwirtschaft folgendermaßen beschrieben werden: 1. Die Wirtschaftspolitik hat die Aufgabe, den langfristig gültigen Rahmen für den Wirtschaftsprozess zu gestalten. 2. Verspricht die Ordnungspolitik keinen Erfolg, ist es Aufgabe der Wirtschaftspolitik, strukturneutral und nicht diskriminierend in den Wirtschaftsprozess einzugreifen. 3. Es ist Aufgabe der Wirtschaftspolitik, die Funktionsmechanismen der sozialen Marktwirtschaft nicht außer Kraft zu setzen. Die soziale Marktwirtschaft kennt prinzipiell folgende Prinzipien: 1. Marktpreismechanismus, 2. Primat der Währungspolitik, 3. Prinzip der offenen Märkte, 4. Vorrang des Privateigentums
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vor dem Staatseigentum, 5. Prinzip der Vertragsfreiheit, 6. Prinzip der Haftung, 7. Konsistenz der Wirtschaftspolitik. Weil eine Politik der sozialen Sicherung aus der sozialen Gerechtigkeit Kern der Konzeption der sozialen Marktwirtschaft ist, folgt die soziale Marktwirtschaft der Chancengleichheit. Aus sozialen Erwägungen können Eingriffe in die Marktwirtschaft verlangt werden, wenn die Eingriffe den oben erwähnten Prinzipien der Wirtschaftspolitik Rechnung tragen. Die Wissenschaftler, die in Art. 119 Abs. 1 und Abs. 2 das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft verankert sehen, sind der Meinung, dass die beiden Absätze nicht getrennt werden können. Sie verneinen die Auffassung, die aus Art. 119 Abs. 1 die Marktwirtschaftsordnung und aus Art. 119 Abs. 2 die Sozialwirtschaftsordnung herleitet. Beide Absätze sind eng miteinander verflochten und müssen einheitlich interpretiert werden. Sie statuieren gemeinsam das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Art. 119 gilt als Leitprinzip der Wirtschaftsverfassung, die einerseits dem Individuum wirtschaftliche Gleichheit garantiert und andererseits auf die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit abzielt. Die koreanische Verfassung hat in die Wirtschaftsordnung den „Reformierten-Kapitalismus (Revisionismus)“ eingefügt, um den Gedanken der Harmonisierung von Gleichheit und Freiheit zu verwirklichen. e) Haltung des koreanischen Verfassungsgerichts zur Wirtschaftsordnung Der koreanische Verfassungsgerichtshof hat schon in seinen frühen Entscheidungen die soziale Verpflichtung der Marktwirtschaft betont. Man kann seinen Entscheidungen die Haltung entnehmen, dass er statt der Freiheit des Individuums und der Unternehmen die Möglichkeit staatlicher Eingriffe in den Markt akzentuiert, damit der Staat relativ frei einschränkend und regulierend im wirtschaftlichen Bereich tätig werden kann. Dies wird auch in der Entscheidung zur Verfassungsbeschwerde gegen die Genehmigungspflicht von Grundstücksübertragungen nach dem „Landusemanagement Act (Repealed)“ deutlich. Nach Auffassung des koreanischen Verfassungsgerichtshofs kann die wirtschaftliche Freiheit des Individuums nach Art. 119 Abs. 1 nur im Rahmen der Erhaltung des Sozialstaats garantiert werden. Art. 119 Abs. 2 erkennt zwar die Marktwirtschaft an, lässt aber auch staatliche Eingriffe in den Markt zu, um die Wirtschaft zu demokratisieren. Insbesondere regelt die Verfassung in Art. 121, dass der Staat zur Sicherstellung einer wirksamen und ausgewogenen Nutzung, Erschließung und Erhaltung des Landes als Grundlage der Produktion und zur Sicherung der Grundbedürfnisse der Bürger nach Maßgabe der Gesetze intervenieren kann. Die Genehmigungspflicht für Grundstücksübertragungen nach dem „Landusemanagement Act“, das auf dieser verfassungsrechtlichen Bestimmung basiert, negiert die freie Marktwirtschaft nicht. Sie ergänzt nur die freie Marktwirtschaft um das verfassungsrechtliche Prinzip der sozialen Marktwirtschaft.
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1996 wurde eine Verfassungsbeschwerde gegen das „Livestock Industry Cooperatives Act (Repealed)“ erhoben. Im Jahre 2000 gab es eine Verfassungsbeschwerde gegen das „Agricultural Cooperatives Act“. In beiden Fällen vertrat das Gericht die Auffassung, dass die verfassungsrechtliche Wirtschaftsordnung Koreas auf der freien Marktwirtschaft, die das private Eigentum und den freien Wettbewerb gewährleistet, basiert. Es geht aber auch gleichzeitig davon aus, dass die soziale Marktwirtschaft charakteristisch für die verfassungsrechtliche Wirtschaftsordnung Koreas ist, staatliche Eingriffe in das wirtschaftliche Gleichgewicht des Marktes zulässt und auf die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit abzielt.
III. Diskussion um die Novellierung der Wirtschaftsordnung 1. Pro-Novellierung Unter den Wissenschaftlern, die sich für die Novellierung der Wirtschaftsordnung einsetzen, können zwei Strömungen identifiziert werden. Die Auffassung, die eine radikale Revision des Art. 119 fordert, vertritt die Meinung, dass Art. 119 aus der Verfassung entfernt werden muss: Diese Forderung erstreckt sich entweder auf den gesamten Artikel, auf den gesamten Abs. 2 des Artikel oder auf Teile hiervon, insbesondere auf den Satz, der die „Demokratisierung der Wirtschaft“ betrifft. Die andere Auffassung, die für eine maßvolle Revision der Wirtschaftsordnung plädiert, vertritt die Meinung, dass in Art. 119 Abs. 2 das „Erforderlichkeitsprinzip“ eingefügt werden muss. Das Hauptargument dieser Position ist die Diskrepanz zwischen Norm und wirtschaftlicher Realität. Die aktuelle Wirtschaftsverfassung basiert auf einem Wirtschaftsmodell, in dem staatliche Monopole bei der Entwicklung der Wirtschaft die Hauptrolle gespielt haben. Die heutige Lebenswirklichkeit wird aber von grenzenlosem Wettbewerb und irreversibler Globalisierung geprägt. Die derzeitige Wirtschaftsverfassung verliert vor diesem Hintergrund ihre Wirkung und Bedeutung. a) Novellierung unter Berücksichtigung des Erforderlichkeitsprinzips aa) Grenze als Rahmenbestimmung Diese Auffassung basiert auf der Interpretation des Verhältnisses von Art. 119 Abs. 1 zu Abs. 2 als „Regel-Ausnahme-Verhältnis“. Die Verfassung geht im Regelfall von der freien Marktwirtschaft als Wirtschaftsmodell aus. Ausnahmsweise können aber staatliche Eingriffe in die Wirtschaft auf gesetzlicher Grundlage erlaubt werden.
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Die Kernaussage des Art. 119 lautet, dass die Verfassung weder die schrankenlose freie Marktwirtschaft noch die soziale Planwirtschaft als Wirtschaftsmodell vorsieht. Sie verneint beide Extreme und geht einen Mittelweg, der die beiden Wirtschaftssysteme miteinander kombiniert. Für die Mehrheit der Wissenschaftler und den koreanischen Verfassungsgerichtshof besteht der Mittelweg aus der sozialen Marktwirtschaft. Das Problem liegt aber darin, dass die Verfassung selbst keine konkreten Hinweise auf diesen Mittelweg enthält. Art. 119 Abs. 2 ist charakteristisch für eine abstrakte offene Klausel, die die Zulässigkeit der staatlichen Regulierung von unbestimmten Rechtsbegriffen abhängig macht. Nach dieser Auffassung lebt das Volk bereits im 21. Jahrhundert, während es sich bei den Gesetzen zur Wirtschaftsregulierung um Relikte des 19. Jahrhunderts handelt. Die Wissenschaftler prognostizieren der koreanischen Wirtschaft keine guten Aussichten, wenn diese Gesetze weiter existieren. Sie halten eine Aufhebung des Art. 119 Abs. 2 für ideal. Für den Fall, dass die Regierung nach wie vor eine wichtige Rolle bei der Koordinierung der Wirtschaft spielen muss, erkennt diese Meinung aber die Notwendigkeit des Art. 119 Abs. 2 an und will Art. 119 insgesamt beibehalten. In diesem Fall muss der normative Vorrang des Art. 119 Abs. 1 vor Abs. 2 gesichert werden. Und die unbestimmten Rechtsbegriffe wie ‚ausgewogenes Wachstum und volkswirtschaftliche Stabilität‘, ‚ausgewogene Verteilung des Einkommens‘, ‚Verhinderung von Marktbeherrschung und des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht‘, ‚Demokratisierung der Wirtschaft durch Harmonisierung Wirtschaftsvertreter‘ sind zu entfernen. Die Wirtschaftsordnung ist dann unter Berücksichtigung des Erforderlichkeitsprinzips zu novellieren. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft müssen streng beschränkt werden. Sie dürfen nur erlaubt werden, wenn sie unvermeidbar sind. bb) Vorschläge zur Novellierung Die Bedeutung von Art 119 Abs. 2 als ein Normvorrat kann nicht geleugnet werden. Bei der Novellierung muss ein realistischer Konsens zwischen der konservativen und der progressiven Position gefunden werden. Insbesondere müsse bei der Novellierung der Wirtschaftsordnung auf eine korrekte Analyse der aktuellen Lage sowohl der koreanischen als auch der Weltwirtschaft sowie auf langfristige Entwicklungsperspektiven der Wirtschaft geachtet werden. Hierbei müssen nicht nur die Expertise von Wirtschaftsfachleuten, sondern auch die Überzeugungen des Volkes zwingend berücksichtigt werden. (1) Vorschlag zu Art. 119 - 1. Vorschlag Art. 119 Abs. 1: Erhalten
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Art. 119 Abs. 2: Wenn es erforderlich ist kann der Staat aufgrund Gesetzes in die Wirtschaft regulierend und koordinierend eingreifen, um ein ausgewogenes Wachstum und die volkswirtschaftliche Stabilität aufrecht zu erhalten, um ausgewogene Verteilung des Einkommens zu gewährleisten, um die Marktbeherrschung und den Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu verhindern und um die Wirtschaft durch die Harmonisierung der Wirtschaftsvertreter zu demokratisieren. - 2. Vorschlag Art. 119 Abs. 1: Die Wirtschaftsordnung der Republik Korea basiert auf der wirtschaftlichen Freiheit und der Kreativität des Individuums und des Unternehmens. Art. 119 Abs. 2: Wenn es erforderlich ist, kann der Staat aufgrund Gesetzes in die Wirtschaft regulierend und koordinierend eingreifen, um die Marktbeherrschung und den Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu verhindern und um das wirtschaftliche Wachstum und die Stabilität durch eine ausgewogene Verteilung von Gütern zu erreichen. b) Radikale Position zur Novellierung der Wirtschaftsordnung Die Vertreter dieser Position wollen das koreanische Wirtschaftssystem auf den Grundsätzen der Deregulierung, der Privatisierung und einer verstärkten Marktöffnung neu aufbauen. Sie lehnen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft ab. Nach dieser Auffassung wird das koreanische Wirtschaftssystem durch die Aufhebung oder die Revision der Wirtschaftsverfassung in eine echte reale Marktwirtschaft transformiert. aa) Problematische Lage Die 9. Revision der Verfassung im Jahre 1987, die hauptsächlich die direkte Präsidentenwahl zum Gegenstand hatte, beeinflusst auch die Wirtschaftsordnung. Unter dem Motto der demokratischen Kontrolle der Wirtschaft ist es möglich geworden, dass der Staat nach Art. 119 Abs. 2 in alle Bereiche eingreifen kann. Dies führt dazu, dass Art. 119 Abs. 1 seine Wirkung verliert. Die Revision von 1987 ersetzte vor allem den Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ durch die Begriffe der „angemessenen Einkommensverteilung“ und der „wirtschaftlichen Demokratisierung durch Harmonisierung der wirtschaftlichen Vertreter“. Der Staat könnte auf Grundlage des Art. 119 Abs. 2 in den Arbeitsmarkt oder in die Preisgestaltung von Agrar- und Meeresprodukten eingreifen. Durch solche Maßnahmen wird die Marktwirtschaft zwar nicht vollständig beseitigt, sie treffen die Marktwirtschaft aber in ihrem Kern.
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Die Vertreter bewerten die Verfassung von 1987 als das Ergebnis der politischen Demokratisierung. Man könnte sagen, dass für die politische Freiheit die wirtschaftliche Freiheit geopfert wurde. Aber die fast unbegrenzte Möglichkeit von staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft sei eine Gefahr für den wirtschaftlichen Reichtum, der auf der wirtschaftlichen Freiheit des Individuums und von der Unternehmen basiert. Die fehlenden finanziellen Mittel der Regierung gefährden wiederum die an der sozialen Gerechtigkeit orientierte Verwirklichung der Garantie eines menschenwürdigen Lebens für alle Staatsbürger. Zusätzlich haben die wirtschaftspolitischen Ziele, die durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe wie der „wirtschaftlichen Demokratisierung“ und der „angemessenen Verteilung des Einkommens“ umschrieben werden, der Bedeutung der Verfassung als die höchster Grundsatznorm der Rechtsordnung geschadet. bb) Vorschlag zur Novellierung Billigt man Art. 119 Abs. 2 normative Wirkung zu, kann dies die normative Wirkung der gesamten Verfassung gefährden. Das Ziel der Sicherung eines menschenwürdigen Lebens kann auch durch die Einräumung sozialer (Grund-)Rechte erreicht werden. Das Ziel der Herstellung sozialer Gerechtigkeit kann daher nicht als Rechtfertigung für die staatliche Regulierung und Koordinierung der Wirtschaft herangezogen werden. Am Zerfall kommunistischer Gesellschaften kann man beobachten, dass die Verwirklichung wirtschaftlicher Gerechtigkeit zu wirtschaftlicher Verzerrung führt und wirtschaftliche Entwicklung verhindert. Weitere Folge ist, dass weniger finanzielle Mittel verfügbar sind, so dass auch die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht mehr garantiert werden kann. Das Verhältnis von Art. 119 Abs. 1 und Abs. 2 muss klar geregelt werden. Art. 119 Abs. 1 ist der leitende Grundsatz, der die freie Wirtschaftsordnung verfassungsrechtlich absichert. Abs. 2 ist als Ausnahmeregelung eng auszulegen und darf nur im Rahmen der freien Wirtschaftsordnung angewendet werden. Art. 119: Die Wirtschaftsordnung der Republik Korea achtet grundsätzlich das Eigentumsrecht des Individuums und des Unternehmers und schützt den freien Handel. Der Staat kann aber die Wirtschaft unter Einhaltung des Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Grund Gesetzes regulieren und koordinieren, um Stabilität und Effizienz des Wachstums der Volkswirtschaft zu optimieren.
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2. Kontra-Novellierung Einige Wissenschaftler verlangen eine besonnene Haltung zu der Novellierung. Man müsse bei der Novellierungsdiskussion alle Faktoren berücksichtigen. Sie behaupten, dass außerstaatliche Faktoren wie rapides wirtschaftliches Wachstum Chinas, die heftige Diskussion um Korea-Amerika FTA, die atmosphärische Änderung der Beziehung der beiden Koreas und innerstaatliche Faktoren wie die niedrige Geburtenrate, die schnelle Alterung der Gesellschaft, die Polarisierung und die Zwietracht der Gesellschaft in die Diskussion einbezogen werden müssen. Als Folge der Analyse von sämtlichen Faktoren sei eine langfristige Strategie für die Entwicklung des Staates zu entwickeln. Die Reflexion des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft sowie die verfassungspolitische Diskussion um die passende Wirtschaftsordnung bilden den Ausgangspunkt für die Aufstellung einer solchen langfristigen staatlichen Strategie. Man muss allerdings darauf achten, dass diese Reflexion und Diskussion nicht in die Novellierung der Wirtschaftsordnung mündet. Denn es sind keine hinreichenden Gründe ersichtlich, die eine Änderung der Wirtschaftsordnung notwendig erscheinen lassen. Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, wann eine Novellierung erfolgen sollte und welchen Inhalt sie haben sollte. Die Wissenschaftler, die diese Position vertreten, sind der Meinung, dass die Diskussion um die Wirtschaftsverfassung zwar notwendig ist, eilige Entscheidungen aber vermieden werden müssen. Es bestehe die Möglichkeit, die derzeitigen wirtschaftlichen Probleme unter Geltung der aktuellen Wirtschaftsverfassung zu lösen und den Staat strategisch neu auszurichten. Demnach spielte die rasante wirtschaftliche Entwicklung Koreas eine große Rolle bei der Einführung der aktuellen verfassungsrechtlichen Wirtschaftsordnung. Wegen des Sozialstaatsprinzips müsse der Staat bei wirtschaftlicher Schwäche, die aus der Zeit des Wirtschaftswachstums entsteht, interventionieren. Ein anderer Grund für die Haltung dieser Gruppe liegt in der Skepsis gegenüber dem plötzlichen Interesse für die Wirtschaftsordnung in der Verfassung. Obwohl sie in der koreanischen Verfassung ständig präsent gewesen ist, schenkte man ihr kaum Aufmerksamkeit. Zwar habe sie in der Verfassung von 1987 eine neue Gestaltung bekommen, doch sei es schwer, wesentliche Änderungen zu finden. Vor der Regierung des Präsidents Ro, Mu Hyeon (2003.2-2008.2) wurde eine Novellierung kaum diskutiert. Dabei spielt der Neoliberalismus eine große Rolle. Die Wissenschaftler, die sich für die Erhaltung der jetzigen Wirtschaftsordnung einsetzen, behaupten, dass die Kritik an Art. 119 Abs. 2 auf der Befürwortung des Modells der freien Marktwirtschaft basiert. Nach (bzw. während) der IMF-Wirtschaftskrise von 1997 habe man die Lösung in Deregulierung und
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Privatisierung nach der Idee des Neoliberalismus gesucht. Verfechter des Neoliberalismus betrachteten Art. 119 Abs. 2 als wirtschaftshemmend und hätten daher ununterbrochen versucht, ihn zu streichen. Vertreter der jetzigen Wirtschaftsverfassung behaupten, dass es einen enormen Unterschied zwischen der Existenz und der Nicht-Existenz der Wirtschaftsordnung in der Verfassung gebe. Denn sie kann vom koreanischen Verfassungsgericht als Entscheidungsmaßstab herangezogen werden, legitimiert auch die wirtschaftliche Demokratisierung verfassungsrechtlich. Daher geht es bei der Diskussion um die Novellierung der Wirtschaftsordnung nicht nur um die Änderung einiger weniger Sätze, sondern um die Frage nach der Architektur des gesamten Wirtschaftssystems in Korea. Diese Ansicht begreift die Wirtschaftsordnung als sozialen Mindeststandard, der die Nachteile des Kapitalismus beseitigen und als die Grundlage der Herstellung sozialer Gerechtigkeit dienen soll. Den Befürwortern einer Novellierung der Wirtschaftsordnung wirft diese Auffassung vor, dass das umstrittene Modell der reinen Marktwirtschaft zum verfassungsrechtlichen Prinzip erhoben werden soll. Die Gegner der Novellierung der Wirtschaftsordnung halten dies aber für verfehlt, da damit die Uhr um 200 Jahre zurückgestellt werde. 3. Fazit Die Diskussion um die Revision der wirtschaftlichen Verfassungsordnung begann in der Partizipationsregierung (2003.2.-2008.2.) und dauert auch unter der jetzigen Regierung an. Im Vergleich zur vorherigen Partizipationsregierung ist zu beobachten, dass unter der derzeitigen Regierung direkt an die Bürger die Deregulierung und Privatisierung adressiert worden ist, ohne die Wirtschaftsverfassung zu berühren. Die Präsidentin Park, Kunhae bezeichnet alle Regulierungen als Feind und Tumor, der unbedingt so schnell wie möglich beseitigt werden sollte. Die Regierung will möglichst viele Regulierungen aufheben. Nach einem Zeitungsbericht sollen 20% von wirtschaftlichen Regulierungen (11,000) bis 2017 gestrichen werden. Eine neue Regulierung wird nur für die prinzipielle Prohibition begrenzt erlassen. Die Regierung hofft auf neue Arbeitsplätze, die durch den Abbau der Regulierung entstehen werden. Beispielsweise hat die städtische Regierung Seoul für das Bauvorhaben des ‚Koreanair‘-Unternehmers eines Touristenhotels, das unmittelbar in der Nähe des alten koreanischen Palasts „Duksugung“ und von zwei Mädchen-Oberschulen entstehen soll, keine Genehmigung erteilt. Die jetzige Regierung kritisiert, dass eine solche Regulierung eine Menge Arbeitsplätze opfert und daher abgeschafft werden sollte. Es ist geplant, dafür zwei Gesetze, das Touristenförderungsgesetz und das Gesetz zur Gesundheitspflege für Schulen, zu ändern.
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Manche bewerten diesen Freibrief für die Wirtschaft als einen Totenschein für wirtschaftliche Demokratisierung. Es kann gefährlich sein, alle Regulierung als Feind zu betrachten. Zwar muss unnötige Regulierung abgeschafft werden, aber die notwendige Regulierung muss erhalten bleiben. Ein wichtiger Punkt hinsichtlich der Wirtschaftsverfassung ist, dass deren Inhalt verwirklicht wird.
IV. Zusammenfassung Die Diskussion über die Wirtschaftsordnung in der Verfassung ist vielfältig. So kann man beispielsweise eine Position finden, die nicht nur die Änderung des Art. 119, sondern auch die Änderung von Art. 120 bis Art. 127 und des Art. 33 behauptet. Sie steht der Wirtschaft nahe und arbeitet mit ihr eng zusammen. Ihre Diskussion kreist um das Konzept der marktfreundlichen Wirtschaft, die auf dem Liberalismus bzw. Neo-Liberalismus aufbaut. Die möglichst freie Öffnung des Markts ohne staatliche Regulierung ist ihre Forderung. Im Gegensatz zu ihr existiert die Meinung, die Art. 119 mit Blick auf die soziale Demokratie zu interpretieren versucht. Ihrer Meinung nach ist es eine staatliche Aufgabe, die Voraussetzung der gleichen Freiheit für alle Bürger zu schaffen. Seit der Gründungsverfassung hat Korea eine verfassungsrechtliche Wirtschaftsordnung. Die Gründungsverfassung von 1948 regelte die soziale Wirtschaftsordnung und hatte die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit als das Leitprinzip ausdrücklich verankert. Die wirtschaftliche Freiheit durfte sich nur in diesem Rahmen entfalten. Bis der Revision von 1987 zollte man der verfassungsrechtlichen Wirtschaftsordnung keine Aufmerksamkeit, weil es bei der Novellierung von 1987 hauptsächlich um die direkte Präsidentenwahl ging. Obwohl die Verfassung von 1987 erstaunliche Wirtschaftsregelungen enthält, hat dies fast keine Auswirkung auf die Wirtschaft. Erst nach der Wirtschaftskrise von 1997 fing man langsam an, sich mit dem Thema der Wirtschaftsordnung zu befassen. Seit einigen Jahren ist nun eine Diskussion um die Novellierung der Verfassung im Gang, die Themenbereiche wie ‚direkte Demokratie‘, ‚Präsidentwahl‘, ‚Regierungsformen‘, ‚Amtszeit des Präsidenten‘, ‚Premierminister‘, ‚Verfassungsgerichtshof‘, ‚soziale Grundrechte‘ und ‚Wirtschaftsordnung‘ umfasst. Hintergrund der Diskussion um die Novellierung der Wirtschaftsordnung ist die Interpretation des Art. 119 Abs. 2. Die Wissenschaftler, die sich für die Revision der Wirtschaftsverfassung einsetzen, interpretieren Art. 119 wie folgt: Art. 119 Abs. 1 legt den Grundsatz der koreanischen Wirtschaftsordnung fest, wonach grundsätzlich unternehmerische Freiheit gewährleistet wird. Art. 119 Abs. 2 erlaubt als Ausnahmeregelung hierzu unter bestimmten Umständen, dass
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der Staat in die Wirtschaft eingreifen darf, um sie zu regulieren und zu koordinieren. Staatliche Eingriffe dürfen aber nicht willkürlich geschehen. Im Rahmen einer Novellierung soll die Wendung „wenn es erforderlich ist, auf Grund Gesetzes“ in die Wirtschaftsverfassung eingefügt werden. Einige Vertreter dieser Ansicht gehen aber auch weiter und verlangen entweder die Aufhebung der Wirtschaftsordnung oder zumindest eine weitreichende Änderung des Art. 119 Abs. 2. Sie wollen das koreanische Wirtschaftssystem auf die Prinzipien der Deregulierung, der Privatisierung und der verstärkten Öffnung des koreanischen Marktes aufbauen und lehnen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft grundsätzlich ab. Die Wissenschaftler, die für die Erhaltung der aktuellen Wirtschaftsverfassung plädieren, verstehen die koreanische Wirtschaftsordnung als soziale Marktwirtschaft. Sie sind der Meinung, dass eigentlich die sozialen Grundrechte gestärkt werden sollten, um das soziale Existenzminimum zu sichern und ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die Beibehaltung der aktuellen Wirtschaftsordnung betrachten sie aber als sinnvollste Lösung. Derzeit ist die Diskussion um eine Neufassung der Verfassung zwar nicht aktuell. Aber viele vermuten, dass sich dies demnächst ändern wird. Teilweise wird davon ausgegangen, dass zumindest die Wirtschaftsverfassung in Kürze novelliert wird. Für eine kritische Begleitung dieser Diskussion ist es daher unerlässlich, die unterschiedlichen Interpretationen der Wirtschaftsordnung und die Novellierungsvorschläge zur Kenntnis zu nehmen.
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Die Bankenaufsicht als Mittel zur Bekämpfung von Finanzkrisen Von Wolf-Rüdiger Schenke
I. Einführung in die Problematik Finanzkrisen gehen oft mit Bankkrisen einher. Bankkrisen sind sogar oft die Ursachen von Finanzkrisen. Deutlich wurde dies an dem vor wenigen Jahren erfolgten Zusammenbruch der Lehmann-Bank in den USA. Sie führte zu weltweiten Erschütterungen des Finanzsektors und rief allenthalben den Ruf nach Reformen hervor, um eine Wiederholung solcher Vorkommnisse verhindern. Eine zentrale Rolle kommt in diesem Zusammenhang naturgemäß der Stärkung der staatlichen Bankenaufsicht. Sie gilt es durch den Ausbau von Sicherungs- und Überwachungsmechanismen zu stärken. Daneben erweisen sich aber auch organisatorisch-institutionelle Neuausrichtungen als geboten. Das gilt speziell im Bereich der Europäischen Union, deren Mitglieder zu einem überwiegenden Teil mit dem Euro eine einheitliche Währung besitzen, bei denen aber die Bankenaufsicht in den einzelnen Mitgliedsländern sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Das gilt weniger für deren normativen Vorgaben, die den Mitgliedstaaten jedenfalls teilweise durch EG- und EU Richtlinien vorgegeben sind, als für die Handhabung der nationalen Bankenaufsicht. Von daher drängt sich eine Zentralisierung der Bankenaufsicht durch eine zumindest partielle Verlagerung der Bankenaufsicht von der nationalen Ebene auf die Unionsebene auf. Als Organ der EU zur Ausübung der Bankenaufsicht bietet sich dabei vor allem die Europäische Zentralbank (EZB) an, der nach Art. 127 Abs. 6 AEUV vom Rat „besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute und sonstige Finanzinstitute mit Ausnahme von Versicherungsunternehmen der Europäischen Zentralbank übertragen“ werden können. Diese ist nach Art. 282 AEUV ein unabhängiges Organ der EU mit eigener Rechtspersönlichkeit dar. Ihr wichtigstes Organ ist nach Art. 283 AEUV der Rat der Europäischen Zentralbank, der aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliederstaaten besteht. Das Direktorium setzt sich aus dem Präsidenten der EZB, dem Vizepräsidenten und vier weiteren Mitgliedern zusammen. Die Mitglieder des Direktoriums werden vom Europäischen Rat nach näherer Maßgabe des Art. 283 Abs. 2 AEUV gewählt.
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Die Bankenaufsicht ist freilich nicht das einzige sich auf dem Banksektor anbietende Mittel zur Bekämpfung von Finanzkrisen. Nicht minder bedeutsam ist die Funktion, die den Zentralbanken seit jeher für die Geldpolitik zukommt. Ein Mittel zur Erfüllung dieser Aufgabe stellt insbesondere die den Zentralbanken obliegende Festsetzung von Leitzinsen dar. Schon nach Einführung des Euro in den meisten Mitgliedstaaten der EU war es deshalb unumgänglich, geldpolitische Kompetenzen von den nationalen Zentralbanken auf die EZB zu übertragen. Die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen hierfür wurden in Deutschland durch eine Novellierung des Art. 88 GG geschaffen. Er sieht in seinem Satz 2 vor, dass die Aufgaben und Befugnisse, die der Bundesbank als Währungs- und Notenbank nach Art. 88 Satz 1 GG zukommen, auf die EZB übertragen werden können, was im Zusammenhang mit deren Errichtung denn auch geschah. Die bedeutsamste und vorrangige Aufgabe der EZB ist es nach Art. 282 Abs. 2 Satz 2 AEUV die Preisstabilität zu sichern. Unbeschadet dieses Zieles unterstützt sie nach Art. 282 Abs. 2 Satz 3 AEUV die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung ihrer Ziele beizutragen. Für die EZB haben sich nach den Haushalts- und Finanzkrisen verschiedener Mitgliedstaaten des Euroraums (so insbesondere Griechenlands, Portugals und Spaniens) in Verbindung mit dem Europäischen Rettungsschirm neue Betätigungsfelder ergeben. Sie betreffen den Ankauf von Staatsleihen einzelner krisengeschüttelter Mitgliedstaaten des Euroraums auf dem Sekundärmarkt. Diese Ankaufspraxis erweist sich jedenfalls bisher als ein besonders bedeutsames Instrument zur Bewältigung der Haushaltskrisen in den krisengeschüttelten Staaten. Sie ist freilich unter dem Aspekt des Art. 123 Abs. 1 AEUV unionsrechtlich nicht unbedenklich ist, der jedenfalls den unmittelbaren Erwerb solcher Staatsanleihen verbietet. Allerdings ist diese Ankaufspraxis inzwischen durch eine Entscheidung des Plenums des EuGH vom 27.11.2012 abgesegnet worden1. Obwohl die angesprochenen, über die Bankenaufsicht hinausreichenden unionsrechtlichen Maßnahmen sehr wohl zur Bekämpfung von Finanzkrisen auf dem Banksektor beitragen, kann im Rahmen eines halbstündigen Vortrags auf sie nicht eingegangen werden. Das lässt es nicht einmal zu, die Bankenaufsicht auch nur einigermaßen erschöpfend zu behandeln. Das beweist allein schon ein Blick auf die in der Gesetzessammlung Sartorius weit über 200 Seiten einnehmenden Regelungen des Kreditwesengesetzes (KWG), bei dem es sich um die wichtigste Grundlage einer staatlichen Bankenaufsicht handelt, die freilich noch durch eine Reihe umfangreicher anderer nationaler Regelungen ergänzt werden. Unionsrechtliche Normen wie die Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. 10. 2013 (ABl. L 287/63) zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde) hinsichtlich der Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute ___________ 1 EuGH, NJW 2013, 29 – C- 370/12 (Thomas Pringle/Government of Ireland, Ireland, The Attorney General; s. auch BVerfG, NJW 2012, 3145 ff.
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auf die Europäische Zentralbank (im Folgenden SSM-VO) sowie die Verordnung (EU) Nr. 1022/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.10.2013 (ABl. L 287/5) zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Bankenaufsichtsbehörde) hinsichtlich der Übertragung besonderer Aufgaben auf die Europäische Zentralbank gemäß der Verordnung (EU Nr. 1025/2013) verdeutlichen dieses Dilemma zusätzlich. Auch diese Verordnungen bringen es auf eine sehr stattliche Seitenzahl. Selbst bei der Erörterung der Bankenaufsicht kann es deshalb im Folgenden nur darum gehen, einen groben Überblick zu vermitteln, bei dem Vieles ausgelassen werden muss.
II. Die staatliche Bankenaufsicht nach dem KWG 1. Der Gegenstand der Bankenaufsicht Die staatliche Bankenaufsicht war nicht nur vor der Einführung des Euro, sondern zunächst auch noch nach dieser eine nationale Aufgabe, die im Wesentlichen auf der Grundlage des KWG durchgeführt wurde. § 6 Abs. 3 KWG umschreibt den Gegenstand der Bankenaufsicht. Es geht dabei im Wesentlichen um drei Aufgaben, nämlich erstens Missständen im Kredit- und Finanzdienstleistungswesen entgegenzuwirken, welche die Sicherheit der den Instituten anvertrauten Vermögenswerte gefährden, zweitens um die Sicherung der ordnungsgemäßen Durchführung der Bankgeschäfte oder Finanzdienstleistungen sowie schließlich drittens um die Abwehr erheblicher Nachteile für die Gesamtwirtschaft. 2. Die gemeinsame Wahrnehmung der Bankenaufsicht durch die Bundesbank und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) Bei der Wahrnehmung der Aufgaben der Bankenaufsicht arbeiten die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und die Deutsche Bundesbank gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 KWG nach Maßgabe des KWG zusammen. Die BaFin ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts, die Deutsche Bundesbank eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die Errichtung der Deutschen Bundesbank beruht auf Art. 88 GG, der die Errichtung einer Währungs- und Notenbank als Bundesbank vorsieht. Die Wahrnehmung der Bankenaufsicht ist hiervon nicht erfasst. Deshalb ergeben sich von hierher auch keine Bedenken dagegen, dass die Bankenaufsicht im nationalen Bereich nicht nur durch die Deutsche Bundesbank, sondern auch durch die BaFin wahrgenommen wird. Aus demselben Grund
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lassen sich aus Art. 88 GG keine Einwände gegen eine Übertragung der Bankenaufsicht auf Organe der EU wie insbesondere die Europäische Zentralbank ableiten. Die Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Bundesbank und der BaFin gestaltet das KWG so aus, dass die Deutschen Bundesbank nach § 7 Abs. 1 KWG grundsätzlich für die laufende Überwachung der Institute zuständig ist. Das umfasst insbesondere die Auswertung der von den Instituten eingereichten Unterlagen, so der Prüfungsberichte nach § 26 KWG (Jahresabschlüsse, Lageberichte und Prüfungsberichte anlässlich von Sonderprüfungen) und der Jahresabschlussunterlagen. Der Deutschen Bundesbank obliegt in diesem Zusammenhang die Durchführung und Auswertung der bankgeschäftlichen Prüfungen zur Beurteilung der angemessenen Eigenkapitalausstattung und Risikosteuerungsverfahren der Institute und das Bewerten von Prüfungsfeststellungen. Die laufende Überwachung der Institute durch die Bundesbank erfolgt in der Regel durch ihre Hauptverwaltungen. Die BaFin und Deutsche Bundesbank haben insbesondere die gesetzlichen Vorgaben des KWG und anderer Gesetze bei der Durchführung ihrer Aufsichtstätigkeit zu beachten. Solche anderen Gesetze sind z. B. das BBankG sowie das Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetz, das seit 2010 100% der Einlagen bei Kreditinstituten bis zu maximal 100.000 Euro pro Person schützt. Besonderer Hervorhebung verdient im Zusammenhang der Bankenaufsicht ferner die SolvabilitätsVO, die allerdings zukünftig durch eine unionsrechtliche Verordnung ersetzt werden soll. Gestützt auf § 7 Abs. 2 Satz 1 und 2 KWG hat die BaFin in Abstimmung mit der Deutschen Bundesbank zudem eine Richtlinie zur Durchführung und Qualitätssicherung der laufenden Überwachung der Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute durch die Deutsche Bundesbank erlassen (Aufsichtsrichtlinie), die wesentliche Bedeutung für die Bankenaufsicht besitzt. Bei dieser wie bei anderen Richtlinien der BaFin handelt es sich nicht um Gesetze, sondern um Verwaltungsvorschriften, die zwar für sich nur in Anspruch nehmen der Interpretation von Gesetzen zu dienen, tatsächlich aber hierüber hinausreichen und als solche verfassungsrechtliche wie auch unionsrechtliche Bedenken provozieren. Sowohl die derzeit geltenden nationalen gesetzlichen Regelungen wie auch die Verwaltungsvorschriften dienen der Umsetzung von EGbzw. EU-Richtlinien dienen. Diese orientieren sich weitgehend an den Standards von Basel I und II, die vom Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht entworfen sind und heute im Prinzip in über 100 Staaten, so u. a. auch in Korea anerkannt sind. Die BaFin ist nach § 7 Abs. 2 Satz 4 KWG für aufsichtsrechtliche Maßnahmen, insbesondere Allgemeinverfügungen und Verwaltungsakte einschließlich Prüfungsanordnungen gegenüber den Instituten zuständig. Ihren aufsichtsrechtlichen Maßnahmen hat sie in der Regel die von der Deutschen Bundesbank getroffenen Prüfungsfeststellungen und Bewertungen zugrunde zu legen (§ 7
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Abs. 2 Satz 4 KWG). Anders als die Bundesbank ist sie aber Weisungen des Bundesministeriums der Finanzen unterworfen, woraus sich Konfliktsituationen ergeben können. Nähere Regelungen für die Kooperation zwischen der Deutschen Bundesbank und der BaFin enthalten § 7 Abs. 4 und 5 KWG. Daraus folgt insbesondere die Verpflichtung, sich einander Beobachtungen und Feststellungen mitzuteilen, die für die Erfüllung der Aufgaben der Deutschen Bundesbank wie auch der BaFin erforderlich sind. Die §§ 7a ff. KWG regeln u. a. die Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission, der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde, dem Europäischen Bankenausschuss sowie mit anderen Stellen. 3. Vorschriften, welche durch die Banken bei ihrer Tätigkeit gem. den §§ 10 ff. KWG zu beachten sind Die sehr ausführlichen Vorschriften der §§ 10 ff. KWG sollen eine ausreichende Eigenmittelausstattung der dem KWG unterfallenden Institute sowie deren Liquidität (§ 11 KWG) sichern. Damit zusammenhängend werden in den §§ 13 ff. KWG nähere Regelungen über Kreditgeschäfte getroffen, die z. B. die Gewährung von Großkrediten zum Gegenstand haben. Die die ausreichende Eigenmittelausstattung regelnden Vorschriften tragen in Konsequenz von Basel II vor allem dem Umstand Rechnung, dass die Höhe der erforderlichen Eigenmittel durch die Bonität der den Banken zustehenden Aktiva bestimmt werden und bezwecken Vorsorge für mögliche Kreditausfall- und Marktpreisrisiken, z. B. durch die Änderung von Zinsen, Aktien- und Währungskurse. Die §§ 23 ff KWG normieren u. a. Werbungs- und Hinweispflichten der Institute sowie besondere Pflichten der Institute und ihrer Geschäftsleiter. Dazu gehören etwa Anzeigepflichten, so z. B. bei Errichtung einer Zweigniederlassung und Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen in andere Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums. Die §§ 25a – f KWG fordern eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation, die u. a. ein angemessenes und wirksames Risikomanagement umfassen muss. Konkretisiert werden die daraus abzuleitenden Erfordernisse in den Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk [Ba]), einer Verwaltungsvorschrift, die die Einhaltung der vom Kreditinstitut zu beachtenden gesetzlichen Bestimmungen und der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten gewährleisten soll. Sie dienen der durch Basel II geforderten Vermeidung operationeller Risiken, denen u. a. durch interne Prüfungs- und Sicherungsverfahren entgegengewirkt werden soll. Den bargeldlosen Zahlungsverkehr haben die §§ 25g ff. KWG zum Gegenstand. Sie treffen hierbei vor allem Regelungen, die der Verhinderung von Geldwäsche, der Terrorismusfinanzierung und sonstigen strafbaren Handlungen zu Lasten der beaufsichtigten Institute dienen. Vorschriften über Rechnungsle-
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gungsunterlagen und deren Offenlegung sowie über die Prüfung und Prüfungsbestellung beinhalten die §§ 26 ff. KWG. Nähere Regelungen, welche die Beaufsichtigung der dem KWG unterfallenden Institute zum Gegenstand haben, finden sich in den §§ 32 ff. KWG.
4. Die präventive Bankenaufsicht und die nach Geschäftsaufnahme durchzuführende laufende Überwachung a) Präventive Bankenaufsicht durch Erlaubnispflicht Die staatliche Bankenaufsicht wird im KWG auf zweierlei Weise verwirklicht. Sie erfolgt zum einen präventiv durch gesetzliche Statuierung einer Erlaubnispflicht für Kreditinstitute, zum anderen nach Aufnahme des Betriebs durch eine laufende operative Überwachung. Der präventiven Bankenaufsicht dient die in § 32 KWG normierte Erlaubnispflicht. Danach bedarf derjenige, der im Inland gewerbsmäßig oder in einem Umfang, der einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb erfordert, Bankgeschäfte betreiben oder Finanzdienstleistungen erbringen will, der schriftlichen Erlaubnis der BaFin. Auf die Erteilung der Erlaubnis besteht ein Rechtsanspruch, wenn keiner der Versagungsgründe des § 33 KWG vorliegt. Voraussetzung für die Erteilung der Erlaubnis ist demnach u. a. ein ausreichendes Anfangskapital, das je nach Art des Instituts differiert. So muss es bei Einlagenkreditinstituten einen Betrag im Gegenwert von mindestens fünf Millionen Euro betragen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 d KWG). Zudem muss das Institut mindestens zwei Geschäftsleiter haben, die nicht nur ehrenamtlich für das Institut tätig sind. Sie müssen zuverlässig sein (§ 33 Abs. 1 Nr. 2 KWG) und die zur Leitung des Instituts erforderliche fachliche Eignung aufweisen (§ 33 Abs. 1 Nr. 4 KWG). Die fachliche Eignung der Geschäftsleiter setzt voraus, dass sie in ausreichendem Maße theoretische und praktische Kenntnisse in den betreffenden Geschäften sowie Leitungserfahrung haben. Das Institut muss außerdem bereit und in der Lage sein, die erforderlichen organisatorischen Vorkehrungen zum ordnungsgemäßen Betreiben der Geschäfte zu schaffen, für die die Erlaubnis beantragt ist. b) Die laufende Überwachung des Geschäftsbetriebs Nach Aufnahme des Geschäfts müssen die Kreditinstitute den in §§ 10 ff. KWG aufgestellten Anforderungen genügen (s. oben II. 3.). Sie müssen demgemäß u. a. genügende Eigenmittel (§ 10 ff. KWG) nachweisen sowie über ausreichende Liquidität (§ 11 KWG) und über ausreichende Risikomanagementsysteme (§ 25a KWG) verfügen. Wenn die Vermögens-, Finanz- oder Ertragsentwicklung eines Instituts die Annahme rechtfertigt, dass es die Anforderungen an Eigenmittel und an die Liquidität nicht erfüllen kann, kann die Bundesanstalt
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gem. § 45 KWG Maßnahmen gegenüber dem Institut zur Verbesserung seiner Eigenmittelausstattung und Liquidität anordnen. § 45b KWG sieht vor, dass die BaFin bei einer nicht ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation Maßnahmen zur Reduzierung von Risiken anordnen kann, soweit sich diese aus bestimmten Arten von Geschäften und Produkten oder aus der Nutzung bestimmter Systeme oder aus der Auslagerung von Aktivitäten und Prozessen auf ein anderes Unternehmen ergeben. Zu den der Bundesanstalt im Rahmen der Gefahrenabwehr eingeräumten Befugnissen gehört nach § 45c KWG auch die Bestellung eines Sonderbeauftragten, der mit der Wahrnehmung von Aufgaben bei einem Institut betraut und dem die hierfür erforderlichen Befugnisse übertragen werden können. Ein besonders schwerwiegende Maßnahme beinhaltet § 35 KWG, wonach die Bundesanstalt außer nach den Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes in weiteren in § 35 Abs. 2 KWG genannten Fällen die Erlaubnis aufheben kann. Im Hinblick auf das Übermaßverbot und hier speziell den Grundsatz des geringsten Eingriffs kommt eine Aufhebung der Erlaubnis immer nur als ultima ratio in Betracht. § 35 Abs. 2 Nr. 4 KWG stellt dies ausdrücklich klar. Hiernach ist eine Aufhebung der Erlaubnis bei einer Gefahr für die Erfüllung der Verpflichtung eines Instituts gegenüber seinen Gläubigern, insbesondere für die Sicherheit der dem Institut anvertrauten Vermögenswerte nur dann zulässig, wenn die Gefahr nicht durch andere Maßnahmen nach dem KWG abgewendet werden kann. § 35 Abs. 1 KWG sieht in bestimmten Fällen sogar ein Erlöschen der Erlaubnis von Gesetzes wegen vor. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang insbesondere § 35 Abs. 1 Satz 2 KWG, wonach die Erlaubnis auch erlischt, wenn das Institut nach § 11 des Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetz von der Entschädigungseinrichtung ausgeschlossen worden ist. Die Entscheidung der Bundesanstalt über die genannten Gefahrenabwehrmaßnahmen liegt grundsätzlich im Ermessen der BaFin. Für die Ausübung des Ermessens gelten die allgemeinen Ermessensgrundsätze. Ermessensfehlerhaft ist es demnach, wenn die Behörde ihr Ermessen überhaupt nicht gebraucht hat (Ermessensnichtgebrauch), wenn sie eine von der Rechtsordnung im Ergebnis missbilligte Entscheidung trifft (Ermessensüberschreitung), sich bei ihrer Entscheidung von sachfremden Erwägungen leiten ließ (Ermessensfehlgebrauch) oder bei ihrer Ermessensentscheidung relevante Aspekte nicht berücksichtigt (Ermessensdefizit) oder nicht in einer Weise gewichtet hat, die ihrer Bedeutung entsprach (Ermessensdisproportionalität). § 46 KWG sieht vorläufige Maßnahmen zur Gefahrenabwehr vor. Besteht Gefahr für die Erfüllung der Verpflichtungen eines Instituts gegenüber seinen Gläubigern, insbesondere für die die Sicherheit der ihm anvertrauten Vermögenswerte, oder besteht der begründete Verdacht, dass eine wirksame Aufsicht über das Institut nicht möglich ist, kann die Bundesanstalt zur Abwendung dieser Gefahren einstweilige Maßnahmen treffen. So kann sie u. a. für einen begrenzten Zeitraum bis zu der gebotenen Klärung Anweisungen für die Geschäftsführung
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des Instituts erlassen (§ 46 Abs. 1 Nr. 1 KWG), die Annahme von Einlagen oder Geldern und die Gewährung von Krediten verbieten (Nr. 2), Inhabern und Geschäftsleitern die Ausübung ihrer Tätigkeit untersagen oder beschränken (Nr. 3) sowie vorübergehend ein Veräußerungs- und Zahlungsverbot an das Institut erlassen (Nr. 4).
5. Rechtsschutz, Schadensersatz und Entschädigung bei rechtswidrigem Verhalten der BaFin Maßnahmen der BaFin einschließlich der Androhung und Festsetzung von Zwangsmitteln können nach näherer Maßgabe des § 49 KWG von den hierdurch unmittelbar Betroffenen mit Widerspruch und Anfechtungsklage angefochten werden. Anderes gilt nach der Sonderregelungen des § 48r KWG, nach der eine Klage gegen die Übertragungsanordnung binnen vier Wochen vor dem für den Sitz der Bundesanstalt in Frankfurt a. Main zuständigen Oberverwaltungsgericht (das ist der Verwaltungsgerichtshof Kassel) erhoben werden kann, das im ersten und letzten Rechtszug entscheidet. Ein Widerspruchsverfahren wird in diesem Fall nicht durchgeführt. Die Einlegung von Widerspruch und Anfechtungsklage hat gemäß § 49 KWG keine aufschiebende Wirkung. Nach §§ 42, 68 ff. VwGO kann sich z. B. ein Kreditinstitut oder dessen Inhaber gegen die Aufhebung einer Erlaubnis oder gegen Einschränkungen seiner Geschäftstätigkeit wehren, da hierin ein Eingriff in dessen durch Art. 12 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG geschützte Berufsfreiheit vorliegen. Ein rechtswidriger Eingriff in dieses Grundrecht führt in Konsequenz der Elfes-Rechtsprechung, nach der die Freiheitsgrundrechte vor jedem rechtswidrigen Eingriff schützen, selbst dann zu einer Grundrechtsverletzung, wenn die betreffende Rechtsverletzung sich nur auf solche Rechtsvorschriften bezieht, die ausschließlich öffentliche Interessen schützen. Einer subjektiven Rechtsverletzung und einem daran anknüpfenden Rechtsschutz steht demgemäß nicht entgegen, dass die Bankenaufsicht nach § 4 Abs. 4 FDAG nur im öffentlichen Interesse erfolgt. Nach erfolgreicher Anfechtung der von der BaFin erlassenen Verwaltungsakte und deren Aufhebung kommen Amtshaftungsansprüche und Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff in Betracht. Soweit eine Rückgängigmachung der Vollziehung angefochtener rechtswidriger Verwaltungsakte noch möglich ist, sind auch Vollzugsfolgenbeseitigungsansprüche zu bejahen. Gegen die rechtswidrige Versagung einer Erlaubnis gem. §§ 32 f. KWG besteht im Hinblick auf eine hierdurch bedingte Verletzung des Art. 12 GG wird Rechtsschutz durch Widerspruch und gegebenenfalls Verpflichtungsklage gewährt; den Betroffenen durch Verzögerung der Erlaubniserteilung entstehende Schäden können im Wege eines Amtshaftungsanspruchs sowie eines Anspruchs aus enteignungsgleichem Eingriff geltend gemacht werden.
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Umstritten ist, inwieweit für Dritte, die nicht Adressaten bauaufsichtlicher Verfügungen sind, bei rechtswidrigem Unterlassen bankaufsichtlicher Maßnahmen die Möglichkeit eines verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes sowie von Schadensersatzansprüchen, insbesondere unter dem Aspekt der Amtshaftung in Frage kommen. An letztere ist dann zu denken, wenn Vorschriften, welche jedenfalls objektivrechtlich dem Gläubigerschutz dienen, verletzt sind und dadurch den Betroffenen ein Schaden droht. Solche Amtshaftungsansprüche für geschädigte Bankengläubiger wurden in den Achtziger-Jahren des vorigen Jahrhunderts durch den BGH2 in zwei spektakulären Fällen bejaht. Um solche Ansprüche auszuschließen, hat der Gesetzgeber jedoch später in dem schon erwähnten § 4 Abs. 4 FDAG sowie in dessen Vorgängervorschriften ausdrücklich normiert, dass die BaFin ihre Aufgaben und Befugnisse nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum3 ist hieran teilweise Kritik geübt und die prinzipielle Möglichkeit von Amtshaftungsansprüchen geschädigter Gläubiger befürwortet worden. Die Kritik stützt sich dabei u. a. auf die den Freiheitsgrundrechten zu entnehmenden grundrechtlichen Schutzpflichten, aber auch auf Gemeinschaftsrecht. Beide sprechen dagegen, gesetzlichen Regelungen, die in Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten getroffen wurden, nur objektivrechtliche Bedeutung beizumessen. Bezeichnenderweise sind es denn auch grundrechtlichen Schutzpflichten, die die heute ganz h. M.4 abweichend von einer früher allgemein vertretenen Auffassung veranlassten, dem Bürger dort subjektive Rechte in Bezug auf polizeiliche Handeln einzuräumen, wo es um den polizeilichen Schutz vor ihm drohenden Gefahren geht. Es leuchtet deshalb schwerlich ein, weshalb solche subjektiven Rechte in Bezug auf bankenaufsichtliche Gefahrenabwehrmaßnahmen, die jedenfalls objektivrechtlich dem Schutz von Bankengläubigern dienen, generell ausgeschlossen sein sollen. Der BGH5 hat aber diese Rechtsauffassung in seiner neueren Rechtsprechung unter Hinweis darauf abgelehnt, dass die BaFin ihre Aufgaben und Befugnisse nach § 4 Abs. 4 FDAG nur im öffentlichen Interesse wahrnehme. Seine Argumentation war dabei ersichtlich von dem Bestreben getragen, eine übermäßige finanzielle Belastung des Staates auszuschließen. Immerhin hatte er sich aber vorher genötigt gesehen, den EuGH im Wege eines Vorlagenbeschlusses mit der Frage zu konfrontieren, ob die Ablehnung von Amtshaftungsansprüchen unter gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkten insoweit zu beanstanden sei, als es ___________ 2
BGHZ 74, 144 ff. (Fall Wetterstein) und BGHZ 75, 120 ff. (Fall Herstatt). s. Schenke/Ruthig, NJW 1994, 2324 ff. 4 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 2013, Rdnr. 104 mit weiteren Nachweisen. Grundlegende Bedeutung kam hier der Entscheidung BVerwGE 11, 95 ff. zu. 5 BGH, NJW 2005, 742 ff. 3
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sich bei den durch die Bankenaufsicht verletzten nationalen Vorschriften um solche handelt, welche der Umsetzung von EG-Richtlinien dienen, die dem Gläubigerschutz dienen. Der EuGH6 verneinte im Ergebnis einen solchen Verstoß. Als Begründung hierfür stützte er sich vor allem darauf, dass dem Geschädigten in dem Fall, der dem BGH Anlass für die Vorlage an den EuGH geboten hatte, bereits im Hinblick auf eine durch den nationalen Gesetzgeber nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie der Gemeinschaft ein gemeinschaftsrechtlich begründeter Schadensersatzanspruch zustand. Dieser ergab sich darauf, dass der Bundesgesetzgeber eine gemeinschaftsrechtliche Richtlinie, die die nationalen Gesetzgeber zu einer gesetzlichen Regelung einer Einlagensicherung verpflichtete, nicht rechtzeitig umgesetzt hatte. Ein näheres Eingehen auf die m. E. dogmatisch nicht überzeugenden Entscheidung des BGH ist im vorliegenden Zusammenhang nicht möglich. Erwähnt sei aber immerhin, dass die Gefahr ausufernder Schadensersatzansprüche, von der sich der BGH wie auch der Gesetzgeber offensichtlich leiten ließ, tatsächlich nicht in dem befürchteten Maße bestehen dürfte, da Schadensersatzansprüche bei Ermessensentscheidungen der Verwaltung selbst bei ermessensfehlerhaftem Verhalten häufig am Nachweis einer Kausalität der Rechtsverletzung für einen Schaden scheitern. Zudem hätte Art. 34 GG, der nur grundsätzlich Schadensersatzansprüche vorschreibt, bei Bestehen einer gesetzlichen Einlagensicherung dem Gesetzgeber durchaus Möglichkeiten zur Beschränkung von Amtshaftungsansprüchen geboten, ohne zugleich einen primären Rechtsschutz auszuschließen, wie dies in der Logik der Judikatur des BGH unausweichlich ist. Durch die Verlagerung der Bankenaufsicht auf die Europäische Zentralbank büßt – wie später noch zu zeigen sein – die Problematik eines nationalen Rechtsschutzes und einer nationalen Haftung bei der Verletzung von bankenaufsichtsrechtlichen Vorschriften, die jedenfalls objektiv dem Gläubigerschutz dienen, jedenfalls etliches an Bedeutung ein. Bankenaufsichtliche Anordnungen sind nach § 56 KWG mit Bußgeld bewehrt. Der interessanten Frage, ob diese Bußgeldbewehrung auch dann zum Tragen kommt, wenn die Anordnungen rechtswidrig sind, kann hier nicht näher nachgegangen werden7. Entgegen der herrschenden Meinung dürfte die Bewehrung jedenfalls dann entfallen, wenn die aufsichtsrechtliche Anordnung mit Erfolg verwaltungsgerichtlich angegriffen und aufgehoben wird. In einem solchen Fall ist eine straf- bzw. bußgeldrechtliche „Folgenbeseitigung“ – analog zur verwaltungsrechtlichen Folgenbeseitigung – indiziert.
___________ 6
EuGH, NJW 2004, 3479 ff.; s. dazu auch Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2011, Rdnrn. 620 f. 7 s. hierzu näher Schenke, in: Festschrift für Jürgen Wolter, 2013, S. 215 ff.
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III. Die zukünftige Bankenaufsicht durch die Europäische Zentralbank (EZB) 1. Die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) Eine der nationalen Bankenaufsicht vergleichbare Bankenaufsicht gab es auf der Unionsebene bisher nicht. Die auf der Basis der EU-Ratsverordnung 1093/2010 vom 24.11.2010 errichtete Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) ist eine Agentur der Europäischen Union, zu deren Kompetenzen – entgegen ihrer Bezeichnung – grundsätzlich keine unmittelbaren Aufsichtsbefugnisse gegenüber nationalen Banken gehören. Ihre Aufgabe besteht vielmehr im Wesentlichen darin, europäische Aufsichtsstandards zu entwickeln, die den Rahmen für aufsichtsbehördliche Maßnahmen der nationalen Aufsichtsbehörden bilden sollen. Eingriffsbefugnisse besitzt die Europäische Aufsichtsbehörde als „Aufsicht über die Aufsicht“ nur, wenn sich mehrere nationale Aufsichtsbehörden nicht über die Art und Weise der Finanzmarktregulierung einigen können, ferner dann, wenn eine nationale Behörde gegen geltendes europäisches Recht verstößt (Art. 8 Abs. 2 f der Verordnung 1093/2010)8. 2. Die partielle Übertragung der Bankenaufsicht auf die EZB Eine wesentliche Weichenstellung in Richtung auf eine europäische Bankenaufsicht erfolgt erst durch die Verordnung des Rates zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank, die SSM-VO9. Der entscheidende Schritt auf dem Wege zu deren Erlass war mit der Zustimmung des Europäischen Parlaments zum Verordnungsentwurf am 12.9.2013 vorgenommen worden. Die Zustimmung des Europäischen Parlaments hatte sich vorher lange verzögert, da die Abgeordneten des Europäischen Parlaments wie auch verschiedene nationale Parlamente darauf bestanden, dass die Übertragung der Befugnisse auf die Europäische Zentralbank eine entsprechende demokratische Kontrolle durch das Europäische Parlament verlange. Erst nachdem dies gesichert erschien, erfolgte die Zustimmung. Nach den vereinbarten Vorschriften und eines sie begleitenden institutionellen Abkommens wird das Parlament weitreichenden Zugang zu Informationen haben ___________ 8 Ausführlicher dazu Ruthig, Aktuelle Entwicklungen der Finanzmarktaufsicht in Europa, in: Ziekow/Seok, Der Staat als Wirtschaftssubjekt und Regulierer, 2013, S. 45 ff. 9 Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 des Rates vom 15. Oktober 2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank, ABl. L 287/63. Diese SSM-VO trat 5 Tage nach Veröffentlichung im Amtsblatt (29.10.2013) in Kraft, so dass die EZB die Aufsichtstätigkeit am 4.11.2014 aufnehmen wird; vgl. Art. 33 Abs. 2 SSM-VO.
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(s. hierzu besonders Art. 20 SSM-VO). So soll es u. a. einen umfassenden und aussagekräftigen Bericht der Sitzungen des Europäischen Aufsichtsrats erhalten10. Die Übertragung der Bankenaufsicht auf die Europäische Zentralbank (EZB) tritt neben die Kompetenzen, die der EZB bereits im Rahmen der in Art. 127 Abs. 2 AEUV genannten grundlegenden Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken zugewiesen sind. Diese Aufgaben sind, die Geldpolitik der Union festzulegen und auszuführen, Devisengeschäfte im Einklang mit Art. 219 AEUV durchzuführen, die offiziellen Währungsreserven der Mitgliedstaaten zu halten und zu verwalten sowie das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme zu fördern. Das Verhältnis der Bankenaufsicht zu den in Art. 127 Abs. 2 AEUV genannten Aufgaben ist freilich nicht spannungsfrei. Insbesondere können sich Konflikte zwischen den der EZB neu zugewiesenen bankenaufsichtlichen Funktionen und den geldpolitischen Zielsetzungen der EZB ergeben, deren vorrangiges Ziel es nach Art. 127 Abs. 1 Satz 1 AEUV zu sein hat, die Preisstabilität zu gewährleisten. Mit dem Erlass der Verordnung ist eine erste Etappe in Richtung auf eine europäische Bankenunion zurückgelegt. Die dort getroffene Regelung ist eine von drei Säulen, auf die sich die EU-Finanzminister im Dezember 2012 geeinigt haben. Die zweite noch ausstehende Säule soll die Abwicklung bankrotter Banken11, die dritte eine gemeinsame Einlagensicherung betreffen12. Die letztere ist allerdings politisch nach wie vor sehr umstritten. Vor allem von deutscher Seite und hier speziell von den deutschen Sparkassen und Genossenschaftsbanken, die ein eigenes Einlagensicherungssystem haben, wird befürchtet, dass die gemeinsame Einlagensicherung dazu führt, dass deutsche Banken in großem Umfang für ausländische marode Banken einzustehen haben. Auch von ökonomischer Seite wird vielfach vor einer durch eine gemeinsame Einlagensicherung bewirkten Vergemeinschaftung von Risiken gewarnt. Die Verordnung des Rates zur Übertragung gemeinsamer Aufgaben stützt sich auf Art. 127 Abs. 6 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Danach kann der Rat einstimmig durch Verordnungen gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Zentralbank besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute und sonstige Finanzinstitute mit Ausnahmen von Versicherungsunternehmen der Europäischen Zentralbank übertragen. Rechtlich nicht unproblematisch ist dabei freilich, dass Art. 127 Abs. 6 AEUV nur die Übertragung „besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der ___________ 10 s. hierzu Europäisches Parlament, Aktuelles vom 18.9.13, Grünes Licht für eine einheitliche Bankenaufsicht. 11 s. hierzu Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.2.2014, S. 17. 12 s. hierzu Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.12.2013, S. 1 und 11.
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Aufsicht über Kreditinstitute“ vorsieht und es deshalb dem deutschen Gesetzgeber fraglich erschien, ob eine so weitgehende Übertragung von Aufsichtsbefugnissen, wie sie der Rat in dem Vorschlag vom 12. September 2012 für eine Verordnung des Rates zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank in der Fassung vom 16. April 2013 vorgesehen hatte, bereits den durch Art. 127 Abs. 6 AEUV vorgegebenen Rahmen sprengte. Im Gegensatz zur EU und zur EZB hatte die Bundesregierung diesbezüglich Bedenken. Solche Bedenken haben in Deutschland den nationalen Gesetzgeber wohl dazu veranlasst, den deutschen Vertreter im Rat in einem eigens hierfür geschaffenen Gesetz13 dazu zu ermächtigen, dem geplanten Vorschlag des Rates zuzustimmen, um auf diese Weise seiner „Integrationsverantwortung, durch ein Gesetz gemäß Art. 23 Absatz 1 Satz des Grundgesetzes wahr“zunehmen14, obwohl es für den Erlass sekundären Rechts durch die EU keines Zustimmungsgesetzes bedarf15. Entsprechende deutsche Bedenken gegen die Übertragung von Bankenaufsichtskompetenzen potenzierten sich noch, wenn Unionsorganen die Entscheidung über die Abwicklung von Kreditinstituten übertragen wird16. Für sie bietet Art. 127 Abs. 6 AEUV jedenfalls dann keine Rechtsgrundlage, wenn sie anderen Unionsorganen als der EZB übertragen wird. Ein im Juli 2012 von der Kommission vorgelegte Entwurf einer Verordnung, nach dem die Kommission mit der Abwicklung maroder Banken betraut werden soll, hat denn auch alsbald von nationaler Seite, insbesondere von Deutschland, sowohl unter rechtlichen wie auch politischen Gesichtspunkten Kritik erfahren. Die Bankenaufsicht soll durch die Europäische Zentralbank ab Herbst 2014 verwirklicht werden und sich nur auf solche Kreditinstitute im Euroraum erstrecken, die als systematisch signifikant gelten. Das sind nach Art. 6 Abs. 4 SSMVO Kreditinstitute, deren Gesamtwert die Aktiva von 30 Milliarden Euro übersteigt, ferner solche Institute, bei denen das Verhältnis ihrer gesamte Aktiva das Bruttoinlandsprodukt des teilnehmenden Mitgliedstaats um 20% übersteigt, es sei denn, der Gesamtwert der Aktiva liegt unter 5 Milliarden Euro. Ferner können der europäischen Bankaufsicht Institute unterstellt werden, die nach der Anzeige der nationalen zuständigen Behörde als bedeutend für die betreffende Volkswirtschaft betrachtet werden. Die EZB kann ein Institut auch von sich aus als bedeutend betrachten, wenn es Tochterbanken in mehr als einem teilnehmenden Mit___________ 13 Gesetz zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank vom 25.7.2013 (BGBl II S. 1050). 14 BT-Drucks. 17/13470, S. 1. 15 Kritisch hierzu Mayer/Kollmeyer, DVBl. 2013, 1158 ff. 16 s. hierzu EU-Bankenaufsicht: Der Countdown läuft, de.finanzen.yahoo.com.nachrichten/eu-bankenaufsicht-countdown-läuft-114200857.html.
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gliedstaat errichtet hat und seine grenzüberschreitenden Aktiva oder Passiva einen wesentlichen Teil seiner gesamten Aktiva oder Passiva darstellen. Erfasst werden von der in der Übertragungsverordnung getroffenen Regelung rund 130 Banken und Bankengruppen. Darunter fallen in Deutschland 18 Kreditinstitute und fünf Töchter ausländischer Großbanken. Soweit Kreditinstitute nicht von Art. 4 Abs. 4 der SSM-VO erfasst werden, bleibt es bei der bisherigen nationalen Bankenaufsicht, in Deutschland also bei der Aufsicht durch die BaFin und die deutsche Bundesbank. Auch im Rahmen der durch die Übertragungsverordnung statuierten europäischen Bankenaufsicht obliegen den nationalen Bankenaufsichtsbehörden im Übrigen wichtige Hilfs- und Unterstützungsfunktionen, die nunmehr freilich unter dem Dach der EZB zu erbringen sind. 3. Die Befugnisse der EZB nach der SSM-VO Um Missstände im nationalen Kreditwesen aufzudecken, stehen der EZB nach den Art. 9 ff. der SSM-VO Aufsichts- und Untersuchungsbefugnisse zu. So kann sie zu diesem Zweck von den beaufsichtigten Kreditinstituten Informationen einholen (Art. 11) und alle erforderlichen allgemeinen Untersuchungen (Art. 11) und Prüfungen vor Ort vornehmen (Art. 12). Besondere Aufsichtsbefugnisse der EZB regeln die Art. 14 ff., die u. a. die Zulassung zur Aufnahme der Tätigkeit eines Kreditinstituts zum Gegenstand haben (Art. 14) sowie ihr das Recht einräumen, frühzeitig Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um etwaigen Problemen zu begegnen (Art. 16). Bei Ausübung dieser Befugnisse kooperiert die EZB nach Art. 6 eng mit den nationalen Bankenaufsichtsbehörden, die ihm Unterstützungs- und Hilfestellung leisten und hierbei den Weisungen der EZB unterliegen. Ein Recht zur Verhängung von Verwaltungssanktionen ergibt sich für die EZB aus Art. 18. Bei der Wahrnehmung ihrer Aufsichtsbefugnisse wendet die EZB gem. Art. 4 Abs. 3 neben dem einschlägigen Unionsrecht teilweise auch nationales Recht an. Das trifft für die nationalen Rechtsvorschriften zu, welche der Umsetzung von EU-Richtlinien dienen. Daraus ergibt sich, dass die EZB bei ihrer Aufsicht über deutsche Kreditinstitute in erheblichem Umfang auf im KWG getroffenen Regelungen zurückzugreifen hat. Die EZB wendet nationale Vorschriften überdies dann an, wenn das einschlägige Unionsrecht den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht einräumt, an Stelle des EU-Rechts nationale Rechtsvorschriften anzuwenden und die Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. Organisatorische Grundsätze für die Ausführung der Bankenaufsicht finden sich im Kapitel IV in den Art. 19 ff. Art. 19 sieht die Unabhängigkeit der EZB und der nationalen zuständigen Behörden, die innerhalb des einheitlichen Aufsichtsmechanismus handeln vor. Art. 20 beinhaltet Rechenschafts- und Berichterstattungspflichten, die der EZB gegenüber dem Rat und dem Europäischen Par-
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lament obliegen, Art. 21 hat das Verhältnis der EZB zu den nationalen Parlamenten zum Gegenstand. Mit Art. 25 will der Verordnungsgeber eine Trennung der bankenaufsichtlichen Tätigkeit der EZB von ihren geldpolitischen Funktionen erreichen, um auf diese Weise hier bestehenden Zielkonflikten Rechnung zu tragen. Die EZB hat demgemäß nach Art. 25 Abs. 4 sicherzustellen, dass der EZBRat seine geldpolitischen und aufsichtlichen Funktionen in vollkommen getrennter Weise vornimmt. Diese Unterscheidung umfasst auch eine strikte Trennung der Sitzungen und Tagesordnungen. Derselben Zielsetzung dient Art. 25 Abs. 2, wonach das mit der Wahrnehmung der Bankenaufsicht befasste Personal von dem Personal, das mit der Wahrnehmung anderer der EZB übertragener Aufgaben befasst ist, organisatorisch getrennt wird und einer von diesem Personal getrennten Berichterstattung unterliegt. Eine wichtige Funktion bei der Separierung von Aufsichtstätigkeit und Geldpolitik wird in der SSM-VO einem internen Organ zugewiesen, dem die Vorbereitungstätigkeit für die der EZB übertragenen Aufsichtsaufgaben obliegt und das dem EZB-Rat fertige Beschlussentwürfe zur Annahme vorzulegen hat. Die Zusammensetzung dieses internen Organs, des sogenannten Aufsichtsgremiums, und dessen Funktionen sind im Einzelnen in Art. 26 geregelt. Das Aufsichtsgremium hat einen Vorsitzenden und einen stellvertretenden Vorsitzenden, vier Vertreter der EZB und jeweils einen Vertreter der für die Beaufsichtigung von Kreditinstituten in den einzelnen teilnehmenden Mitgliedstaaten verantwortlichen nationalen zuständigen Behörden. Der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsgremiums werden auf Grund eines Vorschlags des EZB, der durch das Europäische Parlament gebilligt wird, ernannt. Der Vorsitzende ist auf der Grundlage eines offenen Auswahlverfahrens aus dem Kreis der in Bank- und Finanzfragen anerkannten und erfahrenen Persönlichkeiten auszuwählen, die nicht Mitglied des EZB-Rats sind. Der stellvertretende Vorsitzende wird aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB ausgewählt. Die vier vom EZB-Rat ernannten Vertreter der EZB dürfen keine Aufgaben im direkten Zusammenhang mit den geldpolitischen Funktionen der EZB wahrnehmen. 4. Rechtsschutz und Haftung bei rechtswidriger Bankenaufsicht durch die EZB Durch Maßnahmen der EZB betroffene Kreditinstitute können gegen diese gem. Art. 263 Abs. 4 vor dem EuGH mit einer Nichtigkeitsklage vorgehen, soweit es sich hierbei nicht nur um Empfehlungen oder Stellungnahmen handelt. Prüfungsmaßstab ist dabei nicht nur EU-Recht, sondern auch nationales Recht, wenn dies die EZB bei ihren Aufsichtsmaßnahmen gemäß Art. 4 Abs. 3 Überwachungsverordnung anzuwenden hat. Vorbereitende Maßnahmen nationaler mit der Bankenaufsicht betrauter Behörden, die diese unter dem Dach der EZB vorgenommen haben, können grundsätzlich nicht isoliert angegriffen werden.
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Ihre Rechtswidrigkeit kann – ähnlich wie dies im deutschen Recht nach § 44a VwGO der Fall ist – nur im Rahmen eines gerichtlichen Vorgehens gegen die abschließende Maßnahme der EZB geltend gemacht werden. Soweit dem Gläubigerschutz dienende bankenaufsichtliche Maßnahmen durch die EZB nicht vorgenommen werden, kommen auch Untätigkeitsklagen gem. Art. 265 AEUV in Betracht. Die Klagebefugnis einschränkende Vorschriften wie § 4 Abs. 4 FDAG sind dem EU-Recht nicht bekannt. Deshalb haben Untätigkeitsklagen auch dort Erfolg, wo durch die rechtswidrige Unterlassung von bankenaufsichtlichen Maßnahmen, die dem Gläubigerschutz dienen, den Gläubigern Schäden entstehen können Der interessanten Frage, ob Klagen von Gläubigern auch dort Erfolg haben können, wo es um das Unterlassen von gläubigerschützenden Maßnahmen geht, die nach dem durch die EZB anwendbares deutschen Rechts hätten vorgenommen werden müssen, oder ob diese auch insoweit durch § 4 Abs. 4 FDAG ausgeschlossen werden, kann im vorliegenden Zusammenhang nicht näher ausgegangen werden. Bejaht man eine Klagebefugnis im deutschen Recht, muss dies selbstverständlich auch für das Unionsrecht gelten. Selbst wenn man dies aber ablehnt, lassen sich aber meines Erachtens hier nicht weiter ausbreitbare gute Gründe für einen unionsrechtlichen Rechtsschutz anführen. Vom Unionsrecht ergäben sich damit wichtige rechtsstaatliche Impulse für die Realisierung grundrechtlicher Schutzpflichten. In ihrer Konsequenz müsste auch die Haftungsfrage neu überdacht wären. Bei einer Stellungnahme zu einer unionsrechtlichen Haftung gem. Art. 268 in Verbindung mit Art. 340 AEUV ergäben sich freilich im Hinblick auf Art. 340 Abs. 3 AEUV schwierige, im Rahmen dieses Vortrags nicht klärbare Rechtsfragen. Entschärft wird die Problematik möglicherweise dort, wo geschädigte Gläubiger ihre Schäden bereits unter dem Gesichtspunkt einer Einlagenhaftung ganz oder jedenfalls partiell ersetzt bekommen.
Tendenzen und Strukturen der südkoreanischen Bankenregulierung Von Seung-pil Choi
I. Einleitung Die Finanzregulierungen des südkoreanischen Rechtssystems, einschließlich der Bankenregulierungen, basieren auf Mitteln und Strukturen, die dem europäischen Rechtssystem entnommen sind. Der Inhalt der Regulierung selbst ist hingegen mit dem angloamerikanischen System vergleichbar. Somit werden in Korea zwei Systeme kombiniert. Die Banken in Korea können nicht nur der eigentlichen Geschäftsbankentätigkeit wie der Verwaltung von Spareinlagen oder der Kreditvergabe nachgehen, sondern auch der Investmenttätigkeit. Solche Investmenttätigkeiten unterliegen dem Kapitalmarktgesetz von 2009. Bankenregulierungsvorschriften werden stark davon beeinflusst, dass der Finanzmarkt im Vergleich zu anderen Märkten stark profitorientiert ist und die Ergebnisse in Echtzeit ermittelt werden können. Daher besteht die Gefahr, dass sich der Finanzmarkt zu einem Spekulationsmarkt entwickelt. Bleiben solche Aspekte bei der Regulierung unberücksichtigt, kann dies zu einer Überhitzung und schließlich zu einer Funktionsbeeinträchtigung des Marktes führen. Nach Adam Smiths Theorie lenkt in einer liberalen Marktwirtschaft eine „unsichtbare Hand“ die Interessen der einzelnen Akteure und stellt so ein Gleichgewicht im Markt her. Seit der Subprime-Krise ist das Modell zunehmend in die Kritik geraten. Der Selbststeuerungsmechanismus dieser unsichtbaren Hand könne nicht wirken, weil er überhaupt nicht existiere,1 was eine Finanzmarktregulierung notwendig mache. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die Tendenzen und Strukturen der südkoreanischen Bankenregulierung sowie einige ihrer Kritikpunkte auf Grundlage der internationalen Diskussion über die Regulierung der Finanzmärkte zu untersuchen.
___________ 1 Kim Hae-ryoung/Choi Seung-pil, Strenge und lockere Regulierungsinstrumente in Korea, Public Land Law Review, Vol. 29, Nov. 2012, S. 352.
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II. Strukturen der Bankenregulierung in Korea 1. Eigenschaften der Bankenregulierung Am Finanzmarkt fungieren Banken als Anbieter von Kapital für die gesamte Realwirtschaft und sind somit von großer Bedeutung: Banken bilden den Mittelpunkt des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Selbst wenn nur den Investmentbanken die Zahlungsverkehrsfunktion überlassen würde, so bilden immer noch die Banken das Zentrum des Zahlungsverkehrs. Ein Zusammenbruch des Bankwesens oder einzelner Banken führt daher zu einem Zusammenbruch des ganzen Zahlungsverkehrs. Demzufolge sind strengere Regulierungen vonnöten, die sich von den bestehenden Finanzregulierungen in anderen Finanzindustrien unterscheiden. Da die Banken das Rückgrat der Finanzindustrie bilden und sie bei der Gefahr einer Insolvenz auf Unterstützung des Staates zurückgreifen können, sind verschärfte Regulierungen außerdem gerechtfertigt, um einen Moral Hazard zu vermeiden. Verfassungsrechtliche Grundlage für die Finanzregulierungen einschließlich der Bankenregulierungen ist § 119 Abs. 2 der koreanischen Verfassung. Dieser normiert, dass „die Regulierung und Koordination der Wirtschaft zulässig ist, um ein ausgewogenes Wachstum und die Sicherung der Stabilität der nationalen Wirtschaft aufrechtzuerhalten, eine gerechte Einkommensverteilung zu sichern, die Bildung von Marktmacht und deren Missbrauch zu verhindern und die Demokratisierung der Wirtschaft voranzutreiben“. Außerdem normiert Art. 1 des Bankengesetzes als Gesetzeszweck die Stabilität der Finanzmärkte und die Förderung der nationalen Wirtschaft durch ordentliche Geschäftsführung, die Verbesserung der effizienten Abwicklung von Fondsgeschäften, den Anlegerschutz und die Erhaltung der Ordnung im Kreditwesen. Bei den Regulierungsmitteln kann allgemein zwischen Eintrittsregulierung und Handlungsregulierung unterschieden werden. In zeitlicher Hinsicht ist zwischen vorbereitenden und nachträglichen Regulierungen zu unterscheiden. Zur Eintrittsregulierung zählt die Erteilung einer Erlaubnis über die Aufnahme der Geschäftstätigkeit von Banken, zur Handlungsregulierung gehören Genehmigungen, Anzeigen und Anmeldungen für einzelne Finanzprodukte. Weiterhin zu unterscheiden sind präventive von nachträglichen Maßnahmen. Zu den Erstgenannten zählen Regulierungen in dem betreffenden Bereich und Beschränkungen neuer Finanzprodukte. Als nachträgliche Regulierung kommen Änderungsordnungen, Geschäftsverbote, Rücknahme von Genehmigungen oder Bewilligungen in Betracht. Durchgesetzt werden entsprechende Maßnahmen durch Verwaltungsverfügungen, was mit der Beeinträchtigung von Rechten verbunden ist und daher auf einer Rechtsgrundlage beruhen muss.
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2. Eintritts- und Austrittsregulierungen a) Eintrittsregulierung Die Zulassungsvoraussetzungen für den Geschäftsbetrieb einer Bank sind deutlich höher als die für die Zulassung von Versicherungs- bzw. anderen Börsenunternehmen. Dies beruht auf die Tatsache, dass das Bankenwesen den Mittelpunkt des Finanzmarktes darstellt und unmittelbar die Finanzierungsmöglichkeiten des Marktes erweitert. Wer Bankengeschäfte gewerbsmäßig betreiben möchte, bedarf gemäß Art. 8 des Bankengesetzes einer Genehmigung der südkoreanischen Kommission für Finanzdienstleistungen (FSC, Financial Service Commission). Dieses Gesetz regelt, dass Voraussetzung für eine Genehmigung von Banken, die Filialen im ganzen Land unterhalten, ein Kapital in Höhe von mehr als 100 Milliarden Won (ca. 6,9 Millionen Euro), für regionale Banken von mehr als 25 Milliarden Won (ca. 1,7 Millionen Euro) ist. Weitere Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung sind die Angemessenheit der Kapitalbeschaffung und ein realisierbarer und vernünftiger Geschäftsplan. Zudem müssen die Hauptanteilseigner über ein ausreichendes Startkapital, eine solide finanzielle Position und Kreditwürdigkeit verfügen. Da die Voraussetzungen für eine Genehmigung durch unbestimmte Rechtsbegriffe festgelegt sind, stehen der Aufsichtsbehörde relativ große Entscheidungsspielräume zu. Außerdem kann die Kommission für Finanzdienstleistungen anordnen, dass für eine Erteilung der Genehmigung nach Art. 8 Abs. 4 Bankengesetz zusätzlich die Stabilität des Finanzmarktes, die Solidität der Banken untereinander sowie andere Kriterien, die zum Schutz von Kapitalanlegern notwendig sein können, gewährleistet sein müssen. Auch diese Regelungen sind sehr vage, sodass die Aufsichtsbehörde im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Koppelungsverbotes relativ weite Ermessensspielräume hat. Geschäftsbanken können nach dem Kapitalmarktgesetz von 2009 mit Genehmigung der Kommission für Finanzdienstleistungen Finanzinvestitionsgeschäfte betreiben. Dass der Aufgabenbereich der Banken so ausgedehnt wurde, ist auf den Veränderungsprozess hin zu einem Universalbankensystem zurückzuführen, der wiederum auf Veränderungen des globalen Finanzmarktes zurückgeht. Art. 6 des Kapitalmarktgesetzes definiert Finanzinvestitionsgeschäfte als „Handlungen, die zum Zwecke des Gewinns andauernd oder wiederholt unternommen werden, wie z.B. Investitionen, Vermittlungen, kollektive Kapitalanlagen, Investitionsberatungen und Treuhandgeschäfte“. Wird eine Genehmigung für das Finanzinvestitionsgewerbe nach Art. 12 Abs. 2 des Kapitalmarktgesetzes erteilt, kann Geschäften, die den betreffenden Definitionen des Art. 6 Kapitalmarktgesetz entsprechen, nachgegangen werden. Die Genehmigung ist auch hier an unbestimmte Rechtsbegriffe wie die Legitimität des Geschäftsplanes oder die Kreditwürdigkeit gebunden, wodurch Nachbestimmungen genauso in großem Umfang möglich sind.
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b) Austrittsregulierung Für den Zwangsaustritt aus dem Bankengewerbe gibt es spezielle Regelungen, die darauf abzielen, Kapitalanleger sowie andere wichtige Akteure vor den Folgen, die durch den Austritt einer Bank ausgelöst werden können, zu schützen. So regelt Art. 55 des Bankengesetzes, dass die Beendigung der Geschäftstätigkeit einer Genehmigung bedarf. Somit soll es ermöglicht werden, vorbereitende Maßnahmen zu ergreifen. Art. 24 Abs. 7 der betreffenden Verordnung nennt die Voraussetzungen für eine Betriebsauflösung. Eine Betriebsauflösung soll nur dann in Frage kommen, wenn unter Berücksichtigung des aktuellen finanziellen Zustands der betreffenden Bank kein anderes Mittel in Betracht gezogen werden kann. Die Effizienz der Finanzindustrie und des Kreditwesens dürfen dadurch nicht gefährdet werden. Die Auflösung darf den Schutz von Kapitalanlegern oder anderen Konsumenten nicht beeinträchtigen. 3. Regulierung der Eigentümerstruktur a) Hintergrund und Entwicklung der Regulierungen zu Anteilsbesitz bei Banken Die südkoreanische Regierung besaß bis in die 1980er Jahre Stimmrechtsaktien von Banken, um in kurzer Zeit Modernisierungen zu ermöglichen, was der Regierung eine schnelle Finanzierung des Industrialisierungsprozesses ermöglichte. Die Banken wurden privatisiert, da nach zahlreichen Erfolgen der Wirtschaftsaufbaupläne ihre Funktion als normale Kapitalgeber dringend gefragt war. Im Laufe der Privatisierung entstanden allerdings Regulierungsvorschriften über die Beteiligung an Banken, um zu vermeiden, dass Banken zu privaten Konten der Industrie werden. Im Ergebnis kam es so zu einer Trennung von Bank- und Industriesektoren. Entwicklung der Regulierung zu Anteilsbesitz Zeitpunkt Novellierung des Bankengesetzes von Dez. 1982 1990er Jahre – vor der ostasiatischen Währungskrise
Hauptinhalt
Hintergrund
Anteilsgrenze pro Person: bei Banken mit Filialen im ganzen Land 8 %
Sicherstellung von Solidität der Dominierungsstruktur
Zu Person werden auch große Unternehmensgruppen gezählt: Anteilsgrenze bei regionalen Banken 15 %
Verhinderung der Dominierung von Konglomeraten
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Sicherstellung der Solidität von regionalen Banken
Novellierung von Jan. 1998 (Währungskrise)
Anteilsgrenze für Inländer 4 %, für Ausländer 10 %
Ausländisches Kapital aufgrund des Zusammenbruchs inländischer Investitionen notwendig
Novellierung von Apr. 2002
Anteilsgrenze für eine Person auf 10 % erhöht
Konzernisierung der Banken notwendig
Novellierung von Juli 2009
Erweiterung der Anteilsgrenze von Investitionsunternehmen Anteilsgrenze der Stimmrechtsaktien aus Industriekapital auf 9 % erhöht
Konzernisierung von Banken und Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Förderung von Finanzinvestoren
Quelle: Choi Seung-pil, Change and Trend of Financial Regulation in Korea, Korean Journal of Banking and Financial Law, Vol. 5 No. 2, Nov. 2012, S. 89
b) Anteilsgrenze Art. 15 des Bankengesetzes verbietet prinzipiell, dass ein Anteilseigner mehr als 10 % der gesamten emittierten Stimmrechtsaktien einer Bank hält. Eine Überschreitung der Anteilsgrenze ist nur in Ausnahmefällen erlaubt, um die Anpassungs- und Reaktionsfähigkeit in kritischen Situationen zu gewährleisten. Dies ist gemäß Absatz 3 nur dann möglich, wenn die Kommission für Finanzdienstleistungen es unter Berücksichtigung bestimmter Faktoren, wie des Potenzials zur Effizienz und Solidität des Bankengewerbes oder der Struktur der Anteilseigner, genehmigt. Art. 15 Abs. 2 sieht vor, dass eine Genehmigung der Kommission für Finanzdienstleistungen notwendig ist, wenn ein Unternehmen aus einem anderen Sektor als dem Finanzwesen zum größten Anteilseigner einer Bank wird, die im ganzen Land Filialen besitzen, oder durch Ernennung als Vorstandsmitglied einer Bank an der Geschäftsführung partizipiert. Dies wurde insofern kritisiert, als es das Eigentumsrecht und die verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Berufswahl einschränke. Aber die Regulierungsvorschriften blieben aus drei Gründen unverändert. Zunächst wäre eine Strukturreform im Falle einer Beherrschung durch Industriekapital selbst dann schwer, wenn sich das beherrschte Unternehmen in einer finanziellen schwieri-
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gen Lage befinden würde. Zweitens würde je nach Interessengruppen das Industriekapital im Markt zerteilt, sodass im Markt eine Ineffizienz auftreten würde. Drittens könnte das Phänomen „too-big-to-fail“ verstärkt auftreten. Die bestehenden Regulierungsvorschriften sind daher gerechtfertigt.2 4. Regulierung der Geschäftstätigkeiten nach dem Bankengesetz a) Regulierung des Aufgabenbereichs aa) Struktur der Regulierung Der Aufgabenbereich der Banken kann grob in drei Teile gegliedert werden: Dabei handelt es sich um „eigene Tätigkeiten“, „doppelte Tätigkeiten“ und „zusätzliche Tätigkeiten“. Diese Unterscheidung wurde nach der Einführung des amerikanischen Glass-Steagall Act 1933 ins koreanische Recht übernommen. Damals zielte diese Unterscheidung darauf ab, eventuelle Beeinträchtigungen von Rechten und Interessen der Anleger zu verhindern und einen Investitionsverlust zu vermeiden. Damit sollte verhindert werden, dass Geschäftstätigkeiten der Banken, die sich hauptsächlich mit privaten Kapitaleinlagen beschäftigen, mit Wertpapiergeschäften verwechselt werden. Diese Beschränkung der Geschäftstätigkeiten der Banken wies eine andere Struktur auf als das europäische Universalbanken-System. Die Struktur der koreanischen Banken entsprach vor dem Kapitalmarktgesetz eher einem System von Holdinggesellschaften. Vielfach wurde kritisiert, dass die Banken in ihrer ursprünglichen Vermittlungsfunktion und Kapitalerbringung auf Basis von Sparanlagen die heutigen viel komplexeren Finanznachfragen nicht erfüllen könnten. Als Reaktion hierauf ist der Aufgabenbereich der Banken aufgrund des Kapitalmarktgesetzes von 2009 und des Bankengesetzes von 2010 wesentlich erweitert worden und schließt auch Finanzinvestitionstätigkeiten ein. Somit entstand ein System, das dem europäischen Universal-Banking-System ähnelt.3 § 27 des Bankengesetzes nennt als traditionelle Geschäftstätigkeiten der Banken die Entgegennahme von Sparanlagen mit oder ohne Ratenzahlungen, die Emission von Wertpapieren und anderen Schuldscheinen, Kapitalkredite, Wechseldiskontierung sowie inländische bzw. ausländische Devisengeschäfte. § 27 Abs. 2 benennt als zusätzliche Bankgeschäfte Schuldgarantien und Wechselannahmen. Der Aufgabenbereich der traditionellen Geschäftstätigkeiten wurde dadurch im Vergleich zu früher verkleinert und die meisten Tätigkeiten können ohne eine Voranmeldung ausgeübt werden. ___________ 2
Song Og-lyeol, Rechtliche Überlegungen zu Struktur und Handlungen der Banken unter dem neuen Finanzumfeld, Financial Review Working Paper, Kif, 2013, S. 6. 3 Kim Yong-Jae, Banking Law and Regulation, 2. Aufl., Parkyoungsa, 2013, S. 195.
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§ 28 des Bankengesetzes definiert, was zu den „doppelten“ Tätigkeiten zählt: Der Handel von Derivaten, die Übernahme sowie der Verkauf von Wertpapieren und die Investitionsberatung. Die meisten Finanzinvestitionstätigkeiten laut dem Kapitalmarktgesetz sind als doppelte Tätigkeit definiert und erweitern somit den Tätigkeitsbereich der Banken in hohem Maße. Als Folge hiervon ist für Tätigkeiten der Banken ein System mit drei Hauptbereichen entstanden: traditionelle Bankgeschäfte, Finanzinvestitionstätigkeiten (doppelte Tätigkeiten) und restliche Tätigkeiten (Zusatztätigkeiten). Bei den traditionellen Bankgeschäften ist das Regulierungssystem unumstritten. Da die doppelten Tätigkeiten erneut ans System angeschlossen wurden und somit eine Gefahr für die Solidität von Banken darstellen, sind nur Tätigkeiten, die Genehmigungen, Bewilligungen oder Anmeldungen von der Kommission für Finanzdienstleistungen voraussetzen, erfasst. Als Beispiel können der Handel von Derivaten, Vermittlungstätigkeiten, Übernahme und Handel von Staats-, Kommunal- und Spezialanleihen genannt werden. bb) Deregulierung der Geschäftstätigkeiten Die Regulierungen der Geschäftshandlungen vor Betriebsaufnahme wurden ebenfalls in großem Ausmaß zurückgefahren. Bei doppelten Tätigkeiten ist nur eine Voranmeldung notwendig, eine Genehmigung ist nicht mehr erforderlich. Auch für zusätzliche Tätigkeiten wurde eine Negativliste eingeführt, so dass solchen Tätigkeiten nur nachgegangen werden darf, solange sie „nicht explizit verboten“ sind. Falls erforderlich, sind sie bei der Behörde anzumelden. Regulierungen über den Markteintritt sind nur in engen Grenzen zulässig. Der Aufsichtsbehörde steht es dennoch zu, doppelte Tätigkeiten zu beschränken oder eine Änderung anzuordnen. Die Voraussetzungen für Beschränkungen oder andere Anordnungen sind nach § 28 Abs. 3 wie folgt geregelt: 1. Es besteht die Gefahr, die Solidität von Banken zu gefährden. 2. Es besteht die Gefahr, den Schutz von Kunden und Kapitalanlegern zu gefährden. 3. Es besteht die Gefahr, die Stabilität des Finanzmarktes zu gefährden. cc) Rechtliche Bedeutung der Regulierungsmaßnahmen von Geschäftshandlungen Die Vornahme von Geschäftshandlungen im Finanzprodukthandel setzt Genehmigungen oder Bewilligungen, Anzeigen oder Anmeldungen voraus. Ergänzt werden diese Eintrittsregulierungen durch Instrumente der Handlungsregulierung, wie z.B. die Überwachung und Kontrolle über einzelne Handlungen. Deren
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Legitimität wird damit begründet, dass im Falle eines Finanztransaktionsvertrages eine Informationsasymmetrie zwischen den Banken und ihren Kunden besteht.4 Eine übermäßige Handlungsregulierung beeinträchtigt die nach Art. 15 der koreanischen Verfassung gewährleistete Freiheit der Berufsausübung der Banken. Da dieses Grundrecht im Vergleich zu anderen Grundrechten von besonders großer Bedeutung ist, ist diese nur zulässig, wenn öffentliche und private Interessen gegeneinander gerecht abgewogen werden. Verschärfungen oder Lockerungen von Regulierungen der Geschäftshandlungen werden folglich mit Blick auf die Angemessenheit der Interessenabwägung kontrovers diskutiert. Derzeit wird bei der Regulierung von Geschäftshandlungen stärker das öffentliche Interesse betont. Dazu zählen der Schutz von Verbrauchern und die Sicherstellung der Ordnung gerechter Finanztransaktionen. Allerdings kam es bei jeder neuen Regierungsmaßnahme immer zu Diskussionen über das Ausmaß und der Legitimität der Regulierungen. b) Regulierungen über unfaire Geschäftshandlungen Vor der Novellierung des Bankengesetzes von 2010 gab es keine expliziten Rechtsvorschriften über unfaire Geschäftshandlungen. Da diesbezüglich § 88 der Bankenaufsichtsverordnung, die ein bloßes Interna darstellt, nur sehr vage Vorgaben enthielt, wurde immer diskutiert, ob die betreffenden Vorschriften tatsächlich Sanktionsmaßnahmen begründen und ob solche überhaupt vorgenommen werden können. Es gab also das Problem, dass wegen der internen Wirkung keine Sanktion gerechtfertigt werden konnte und auch keine Verwaltungsregelungen existierten, die mit dem betreffenden Gesetz und den betreffenden Verordnungen zusammen eine externe Wirkung begründen konnten. Diese unzureichende Rechtsgrundlage eröffnete der südkoreanischen Fair Trade Commission weitgehende Eingriffsmöglichkeiten, der nach dem Gesetz zum Fairen Handel bei unfairen Transaktionen Sanktionskompetenzen zustanden. Dies sorgte für ein Spannungsverhältnis zwischen der Kommission für Finanzdienstleistungen und der Fair Trade Commission. Das modifizierte Gesetz schreibt in § 52 Abs. 2 vor, dass die Banken bei einer „Gefährdung der gerechten Finanzordnung“ keine der dort genannten Handlungen vornehmen dürfen. Dazu gehören z.B. der Zwang zur Kapitaleinlage sowie eine Übersicherung von Krediten. Auch darüber kann die Aufsichtsbehörde Anordnungen erlassen. Berücksichtigt man die Tatsache, dass es oft bei der Gewährung von Krediten tatsächlich zu einem sittenwidrigen Vertrag über befristete ___________ 4 Ko Dong-won/Roh Tae-seok, Legal Review of Regulations on Financial Companies’ Conducts of Business in Korea, SKKU Law Review, Vol. 23, No. 1, Apr. 2011, S. 188.
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Spareinlagen kam, ist die betreffende Regelung zum Schutz der Kunden als unverzichtbar zu bewerten.5 5. Soliditätsregulierung (Prudential Regulation) a) Regulierungen der Eigenkapitalausstattung Kern der Soliditätsregulierung ist, dass die Entscheidung zur Erteilung der Regulierungsmaßnahme abhängig vom Eigenkapitalstatus erfolgt. Bei der Unterscheidung zwischen makro- oder mikroökonomischer Solidität kann die Eigenkapitalregulierung der Banken dem traditionellen Regulierungsbereich mikroökonomischer Solidität zugeordnet werden. Die von Basel(Accord) III eingeführte Pufferfunktion spielt als eine Art von Konjunkturreaktion sowohl im mikro- als auch in makroökonomischen Bereich eine große Rolle. Während der ursprüngliche Standard Basel I, der von der BCBS (Basel Committee on Banking Supervision) entwickelt wurde, eine einfache Struktur hatte und eine einfache Risikogewichtung angewendet wurde, sieht Basel II eine Differenzierung von Risikogewichtungen vor und verlangt mehr Risikoregelungen. Basel III, der nach der globalen Finanzkrise nunmehr in vielen Ländern eingeführt wird, schreibt im Vergleich zu Basel II zusätzlich verschärfte Regelungen zur Eigenkapitalquote vor, um für die Gewährleistung von makroökonomischer Solidität konjunkturresistentes Eigenkapital sicherzustellen. Die Regelung zum Eigenkapitalbesitz wird nach § 34 der Vollziehungsordnungen des Bankengesetzes als Betriebsführungsrichtlinie angewendet. Diese sieht als Instrumente Verbesserungspläne sowie schriftliche Vereinbarungen vor, wenn zu befürchten ist, dass eine Bank ihre Eigenkapitalquote nicht einhalten kann oder bei der Betriebsführung Schwächen ausgemacht werden. Hierauf erteilt die Aufsichtsbehörde Genehmigungen für die eingereichten Pläne oder schließt eine Vereinbarung ab, was bis zu einer Genehmigungserteilung noch geschehen muss. Ob gegen diese Genehmigung eine Anfechtungsklage erhoben werden kann, ist noch strittig. Nach bisheriger Rechtsprechung war in diesen Plänen und Vereinbarungen nur einen Zwischenschritt für eine rechtzeitige Durchsetzung zu sehen. Darüber hinaus wurde entschieden, dass es sich dabei nicht um eine Verwaltungsverfügung handeln sollte, da durch eine Versagung der Genehmigung zunächst Rechte und Pflichten des Finanzinstitutes nicht beeinflusst würden.6 Die aktuelle Rechtsprechung verfolgt eine andere Tendenz:
___________ 5 6
Ko Dong-won/Roh Tae-seok, a.a.O., S. 43. Verwaltungsgericht Seoul, Urt. 1999.9.17, 98Gu23689.
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Da die nicht begründete Versagung einer Genehmigung zum Erlass von nachteiligen zusätzlichen Anordnungen führt, kann die Versagung der Genehmigung zum Gegenstand einer Anfechtungsklage gemacht werden.7 b) Regulierungen zu Solidität der Geschäftsführung Eine Entscheidung über die Solidität der Geschäftsführung erfolgt nach Kriterien der CAMELS (Capital Adequacy, Asset Quality, Management, Earnings, Liquidity, Sensative to Market Risk). Die Rechtsgrundlage dazu ist § 33 der Bankenaufsichtsregelungen. Die auf Basis der genannten Faktoren erfolgten Bewertungsergebnisse der Geschäftsführung werden in fünf Klassen eingeteilt. Je nach Klasse wird die betreffende Bank zum Gegenstand zusätzlicher Anordnungen im Rahmen der Sanktionsmaßnahmen. Wie erwähnt, werden je nach Bewertungsergebnis und Klasse der Solidität der Geschäftsführung der Bank durch die Aufsichtsbehörde Maßnahmen auferlegt. Dies wird PCA, Prompt Corrective Action genannt. Sie beruhen auf § 10 des Gesetzes zur Verbesserung der Finanzindustriestruktur und §§ 34-36 der Aufsichtsregelung des Bankengesetzes. Solche PCAs wurden nach der Savings- and-Loan-Krise in den USA in den 80er Jahren als präventives Steuerungsinstrument der Finanzinstitute entwickelt. Eine Empfehlung oder Aufforderung kann gegenüber dem jeweiligen Finanzinstitut auch ohne Feststellung der Insolidität ausgesprochen werden. Nur wenn korrigierende Maßnahmen zur Verbesserung der Geschäftsleitung angeordnet werden, muss eine solche Feststellung erfolgen.8 Struktur der PCA (Prompt Corrective Action)
Maßnahme
Voraussetzung zur Aktivierung
Hauptsanktionen
Empfehlung zur Verbesserung der Geschäftsführung
Eigenkapitalquote unter 8 % Bis Stufe 3 CAMELS
Keine Sanktion
Aufforderung zur Verbesserung der Geschäftsführung
Eigenkapitalquote unter 6 % Bis Stufe 4 CAMELS
Reduzierung der Anzahl von Filialen, Verkauf von Tochterunternehmen Wechsel der Vorstandsmitglieder
___________ 7
Verwaltungsgericht Seoul, Urt. 2002.11.26, 2002Guhab22813. Jeong Young-chul, Case Comments on K. Supreme Court Decision 2008DU4619 dated Mar. 15, 2012, Journal of Financial Law, Vol. 9, No. 1, Feb. 2012, S. 498, 510. 8
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Anordnungen zur Verbesserung der Geschäftsführung
o Eigenkapitalquote unter 2 % o Bis Stufe 5 CAMELS
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Einleiten von Insolvenzverfahren Ernennung von rechtlich ermächtigten Verwaltern Kapitalherabsetzung im Falle eines Einsatzes von öffentlichem Kapital
Da aber solche PCAs mit einer Sanktion gleichzusetzen sind, muss auf einige Probleme hingewiesen werden. Auch wenn die notwendigen Voraussetzungen für eine entsprechende Maßnahme erfüllt sind, muss berücksichtigt werden, inwieweit andere Interessengruppen davon profitieren könnten oder ob aufgrund des öffentlichen Interesses andere Maßnahmen in Betracht gezogen werden sollten. Wenn eine solche Abwägung nicht erfolgt, begründet dies einen Ermessensnichtgebrauch oder einen Ermessensmissbrauch. Wurden hingegen diese Überlegungen im angemessenen Umfang berücksichtigt, werden Sanktionsmaßnahmen nicht als Abweichung oder Missbrauch des Entscheidungsspielraums betrachtet.9 Darüber hinaus ist es umstritten, ob bei einer Kapitalherabsetzungsmaßnahme nach § 12 des Gesetzes zur Strukturverbesserung der Finanzindustrie bei Berücksichtigung der Aktionärsinteressen Vorabmitteilungen oder Anhörungen über die Maßnahme notwendig sind. Nach Ansicht der Rechtsprechung bedarf es für die Verpflichtung zu einer Kapitalherabsetzung einer Vorabmitteilung sowie einer Anhörung. Eine Kapitalherabsetzung kann erst nach einer entsprechenden Entscheidung des Vorstandes umgesetzt werden. Daher ist es nicht als rechtswidrig anzusehen, wenn bei den Aktionären eine Vorabmitteilung sowie eine Anhörung nicht stattfand.10 Zuletzt wird diskutiert, ob bei der Anordnung einer PCA ein Prognosespielraum der Aufsichtsbehörde anerkannt werden soll, da § 10 Abs. 1 des Gesetzes zur Strukturverbesserung der Finanzindustrie eine Erteilung von PCA erlaubt, auch wenn nach dem aktuellen Finanzstatus bestimmte Voraussetzungen wie die Eigenkapitalquote nicht erfüllt sind und es offensichtlich ist, dass das betreffende Finanzinstitut diese Voraussetzungen nicht erfüllen wird. Das heißt, dass eine prognostische Ermessensentscheidung der Behörde im Vordergrund steht und die Maßnahme nicht bei Vorliegen der Voraussetzungen als gebundene Entscheidung, wie es für die amerikanische Finanzaufsicht üblich ist, ergeht. Allerdings ___________ 9 Der Oberste Gerichtshof, 2012.315, 2008Du4619 (in Korea gibt es kein separates Bundesverwaltungsgericht). 10 Der Oberste Gerichtshof, 2005.2.18, 2002Du9360.
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ist der Ermessensspielraum relativ klein, da aufgrund der Eigenarten des Finanzmarktes Entscheidungen auf Basis standardisierter Prognosewerte möglich sind.11 6. Liquiditätsregulierungen Auch wenn die finanzielle Solidität sichergestellt werden kann, kann ein temporärer Liquiditätsengpass zu einer Zahlungsunfähigkeit führen. Da die Zahlungsunfähigkeit eines Kreditinstituts im Finanzwesen Kettenreaktionen hervorrufen kann, wurden Regulierungen geschaffen, um die Liquidität auf einem bestimmten Niveau sicherzustellen. Zu den zwei Hauptregulierungen zählen die Begrenzung der Kreditfinanzierung und die Regelung über eine Auszahlungsreserve. Grenze der Kreditfinanzierung heißt, dass nur bis zu 50 % der Geldanlagen als Finanzierungsquelle für Kredite verwendet werden können. Die letztere Regelung garantiert, dass die Zentralbank für jede Art von Geldanlagen einen bestimmten Betrag als Auszahlungsreserve bereithält. 7. Regulierungen über Interessenkonflikte Nach dem Bankengesetz kann ein Interessenkonflikt grob gegliedert in zwei Fällen vorkommen: Erstens im Falle einer Kreditvergabe an Großaktionäre, zweitens als Interessenkonflikt von Kunden mit der Bank aufgrund der Erweiterung ihres Tätigkeitsbereichs. Über den ersten Fall beschränkt § 35 Abs. 2 des Bankengesetzes eine Kreditvergabe an Großaktionäre auf 25 %. Nach § 35 Abs. 3 ist es einer Bank untersagt, von einem Großaktionär emittierte Gesellschaftsanteile in einem Umfang zu erwerben, der 1 % des Eigenkapitals übersteigt. § 35 Abs. 4 sieht vor, dass ein Großaktionär nicht auf unredliche Weise zur Durchsetzung eigener Interessen und zu Lasten des Finanzinstitutes Einfluss nehmen darf.12 Da die Banken als doppelte Tätigkeiten Finanzinvestitionen nachgehen können, kann es zwischen den traditionellen und den doppelten Tätigkeiten zu einem Interessenskonflikt kommen. Beispielsweise kann ein Interessenkonflikts entstehen, falls eine Bank Kollektivinvestitionen und Investitionstreuhandgeschäften gleichzeitig nachgeht, weil die Verwaltung beider Geschäften ineinander integriert erfolgen kann.13 Daher dient § 28-2 Abs. 1 als die Rechtsgrundlage für ___________ 11 Lee Won-woo, Juristische Aufgaben zur Reform des Finanzdienstleistungsaufsichtsrechts unter dem Wandel des Finanzmarktes, Public Law, Vol. 32, No. 2, Feb. 2005, S. 7173. 12 Choi Seung-pil, The Change and Trend of Financial Regulation in Korea, Korean Journal of Banking and Financial Law, Vol. 5, No. 2, Nov. 2012, S. 94. 13 Ko Dong-won/Roh Tae-seok, a.a.O., S. 6, 18-19.
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Regulierungen des Interessenkonflikts: Die Banken sind verpflichtet, die „Möglichkeit eines Interessenkonfliktes zwischen den Geschäften zu erkennen, zu bewerten, einen Informationsaustausch zwischen den Geschäften auszuschließen und sie gerecht zu verwalten“. 8. Schutz von Verbrauchern a) Diskussion des Verbraucherschutzes Bisher war der Schutz von Verbrauchern im öffentlich-rechtlichen Regulierungssystem relativ schwach ausgeprägt. In den meisten Ländern hatte die Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Landes Vorrang. Dagegen wurde der Konsumentenschutz nur wenig beachtet und lag der Fokus der Regulierung auf der mikroökonomischen Solidität einzelner Finanzinstitute. Welche Probleme hieraus resultieren können – beispielsweise der Verkauf von Finanzprodukten ohne Belehrung oder der Verkauf von risikobehafteten Produkten ohne ausreichende Aufklärung – hat die amerikanische Finanzkrise gezeigt. Daher wurde in den USA im Dezember 2009 die Wall Street Reform and Consumer Protection Act verabschiedet und somit die Financial Consumer Protection Agency ins Leben gerufen. Das andere wichtige Zentrum des britisch-amerikanischen Finanzmarktes, Großbritannien, schaffte die bestehende integrierte Aufsichtsbehörde FSA ab und gründete eine neue Soliditätsregulierungsbehörde PRA, die der Zentralbank untergeordnet ist. Außerdem wurde die FCA gegründet, die für Schutz der Kunden sowie Regulierungen von Geschäftsführung zuständig ist. Auch in Australien, das ehemalige Modell für das koreanische Kapitalmarktgesetz, ist eine Soliditätsorganisation namens APRA für Soliditätsregulierung zuständig, während eine hiervon getrennte Organisation namens ASIC für Geschäftsführung sowie Verbraucherschutz verantwortlich ist. In Korea wurde dem Schutz von Verbrauchern wegen der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes lange Zeit nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Vorwand für die Ablehnung eines gesonderten Institutes zum Schutz von Verbrauchern war das Problem der doppelten Regulierung. Der wahre Grund dürfte aber die Furcht vor einer Schwächung der Kompetenzen der bestehenden Aufsichtsbehörde gewesen sein. Da aber der Verbraucherschutz zunehmend als wichtig angesehen wird, wurde nunmehr ein Schutzinstitut für Finanzkonsumenten in Leben gerufen. Die Kompetenzen des Institutes schließen laut Mitteilung der betreffenden Arbeitsgruppe nur die „Anforderungs- und Untersuchungskompetenz von Daten gegenüber Finanzunternehmen“, die „Anforderungs- und Bestätigungskompetenz von Daten gegenüber Finanzaufsichtsbehörde“ und die „Kompetenz zum Vorschlagen von Maßnahmen über Finanzaufsichtsbehörde und Kommission für
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Finanzdienstleistungen“ ein. Diese Kompetenzen unterscheiden sich nicht substantiell von denen der Schutzbehörde für Verbraucher, die als Reaktion auf die Forderung eines verstärkten Verbraucherschutzes in der Finanzaufsichtsbehörde gegründet wurde. Daher besteht hier die Möglichkeit, dass je nach politischer Prioritätensetzung der Schutz von Verbrauchern zurückgestellt wird, wenn es zum Konflikt zwischen Soliditätsüberwachung und Verbraucherschutz kommt. Die Finanzaufsichtsbehörde erlaubte tatsächlich den größten Sparkassen zunächst die Übernahme von Krediten mit Immobilien-Projektfinanzierung (Project Financing/PF), um die Finanzindustrie anzukurbeln, was aber später zur großen Sparkassen-Krise von 2011 führte. Da aber aufgrund des aktuellen Dongyang-IB(Investment Bank)skandals viele Finanzkonsumenten große Verluste erlitten, wird nun im Parlament die Gründung einer Agentur für Verbraucherschutz diskutiert. b) Schutz von Verbrauchern in Bezug auf Bankenregulierungen Bisher war der Anlegerschutz in der Bankenindustrie darauf beschränkt, die Ansprüche der Kapitalanleger auf Auszahlung des Guthabens zu schützen. Allerdings sind die Risiken für Kapitalanleger im Bereich der traditionellen Geschäftstätigkeiten in der Praxis gering. Dennoch regelt § 52-2 Abs. 2 Bankengesetz, dass Banken angemessene Maßnahmen ergreifen sollen wie z.B. das Anbieten von wichtigen Informationen bei Finanztransaktionen für Verbraucher. Hiermit wurde eine Rechtsgrundlage für den Verbraucherschutz geschaffen. Auch § 24-4 Abs. 2 Bankenverordnungen schreibt eine Belehrungspflicht bei Transaktionen vor. Verbraucherschutz wirft im Bereich der Finanzinvestitionstätigkeiten besondere Probleme auf. Dazu gehören die Verletzung der Belehrungspflicht, unfaire Anforderungen gegenüber Kunden und der Verkauf von Finanzprodukten ohne Belehrung. Das aktuelle Kapitalmarktgesetz unterscheidet bei Finanzinvestoren zwischen professionellen Investoren (Marktgegenparteien) und allgemeinen Investoren (private Kunden) und schützt die jeweilige Gruppe in unterschiedlichem Umfang. Besonders der Belehrungspflicht gegenüber allgemeinen Investoren kommt im Rahmen des Verbraucherschutzes große Bedeutung zu: Dies zeigen erfolgreiche Klagen von Unternehmen, die Hedgeprodukte KIKO (Knock-in Knock-out) gekauft hatten und später für ihre Verluste eine Schadenersatzklage gegen die Bank erhoben. Als Begründung wurde angeführt, dass die Bank nicht ausreichend über die Risiken aufgeklärt hatte.14 Welche Anforderungen die Rechtsprechung an die Belehrungspflicht stellt, zeigt der folgende Fall: In diesem hatte ein Investor, der bereits über einen Off___________ 14 LG Zentrale Seoul, 2010.11.29, 2010Kahab6296, 2008Kahab131601; Das Oberste Gericht, 2011Da53683, 2012Da1146, 2013Da26746.
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shore-Fond verfügte, zusätzlich noch einen Forward-Vertrag abgeschlossen, um seine Verluste aus dem Wechselkurs zu minimieren. Bei Abschluss des ForwardVertrages wurde er nicht ausreichend über mögliche Risiken aufgeklärt und erhob später für seine Verluste eine Schadensersatzklage. Das Gericht entschied dass „das Finanzinstitut, welches das Vermögen des Kunden verwaltet, den Kunden gegenüber die Sorgfaltspflicht trägt und daher dem Kunden unter Berücksichtigung von Investitionszweck, -erfahrungen, Risikopräferenzen sowie geschätzter Investitionsdauer eine angemessene Investitionsmethode empfehlen muss, [...] und Hauptinformationen über mögliche Risikofaktoren oder andere Faktoren, die Einfluss auf einen potenziellen Verlust haben können, auf eine angemessene Art und Weise aufklären muss“.
In der Entscheidung hieß es außerdem, dass „das Finanzinstitut in diesem Sinne dem Kunden gegenüber auch eine Treupflicht hat“. Die Belehrungspflicht beziehe sich allerdings nicht auf solche Inhalte und Risiken des Geschäfts, die die Vertragspartei oder ein Bevollmächtigter hätten kennen können.15 9. Struktur der Regulierungsbehörde Die Kommission für Finanzdienstleistungen ist für finanzpolitische Entscheidungen und deren Durchsetzung zuständig. Darunter steht die Finanzaufsichtsbehörde, die gemäß § 24 des Gesetzes zur Gründung der Kommission für Finanzdienstleistungen die Überwachung und Überprüfung der Finanzinstitute übernimmt. Sie ähnelt der deutschen BaFin. Der juristische Charakter der Finanzaufsichtsbehörde ist strittig, allgemein wird sie aber als eine Anstalt des öffentlichen Rechts angesehen. Da die Kommission für Finanzdienstleistungen in den einzelnen Rechtsvorschriften wie dem Bankengesetz ihre Aufsichtskompetenzen der Finanzaufsichtsbehörde überträgt, ist ihre Zuständigkeit unumstritten. Auch die Bank of Korea (BOK) kann als Zentralbank ihre Überwachungskompetenzen nur in sehr beschränktem Umfang ausüben, da bei der Gründung des Finanzaufsichtsausschusses die Überwachungskompetenzen der Bank of Korea der Kommission für Finanzdienstleistungen überlassen und die Kommission für Finanzdienstleistungen und die Bank of Korea nur über eine gemeinsame Ermittlungskompetenz verfügen. Da in letzter Zeit aber bei der Überwachung der makroökonomischen Solidität die Reaktionsmaßnahmen auf konjunkturbedingte Situationen immer mehr an Bedeutung gewinnen, haben die Finanzsysteme vieler Länder wie Amerika, England oder Deutschland eine Struktur, die auf die
___________ 15 Der oberste Gerichtshof, 2010.11.11, 2010Da55699; LG Zentrale Seoul, 2013.1.17, 2011Kahab71808.
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Zentralbank konzentriert ist. In Korea konnte aber bisher aufgrund eines Interessenkonfliktes im Finanzausschuss keine Institution gegründet werden, die mit der Zentralbank eng zusammenarbeiten kann. Auch das Finanzministerium hat nur sehr beschränkte Eingriffskompetenzen, ist aber gemäß § 23 des Regierungsstrukturgesetzes allgemein für die Koordinierung der gesamten Wirtschaft verantwortlich. Allerdings kann das Finanzministerium nur im Bereich der Devisenpolitik seine Überwachungskompetenzen ausüben. Momentan ist die Bank of Korea unter Führung des Finanzministeriums für die Umsetzung der Devisenpolitik zuständig. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen der Devisenpolitik und der einheimischen Währungspolitik herrscht hier also ein Kooperationssystem der beiden Organisationen. Nur die Überwachungskompetenzen über die Devisensolidität wurden vom Finanzministerium der Kommission für Finanzdienstleistungen übertragen. Darüber hinaus sind einige der Meinung, dass auch diese Kompetenzen der Kommission für Finanzdienstleistungen übertragen werden sollten, um die Effizienz der Überwachung zu erhöhen. Tatsache ist aber, dass die Devisenpolitik mit der Geldpolitik sowie der Zahlungsbilanz eng verbunden ist und somit eigentlich im Vordergrund stehen sollte. Dagegen stellt die Überwachung solider Reserven nur eine Nebensache dar. Somit basiert diese Auffassung auf einem verfehlten Verständnis über den Mechanismus der Geldpolitik.
III. Sanktionen und Rechtsbehelfe bei Regulierungsverstößen 1. Sanktion gegen Banken § 53 Abs. 1 des Bankengesetzes sieht vor, dass auf Vorschlag der Finanzaufsichtsbehörde eine Richtigstellung oder einstweilige Betriebseinstellung bis zu sechs Monaten von der Kommission für Finanzdienstleistungen angeordnet werden oder dass die Finanzaufsichtsbehörde selbst angemessene Maßnahmen, wie z.B. eine Mahnung oder ein Verbot von bestimmten Handlungen, ergreifen kann. Darüber hinaus regelt § 53 Abs. 2 des Bankengesetzes, dass innerhalb einer Frist bis zu sechs Monaten eine Betriebseinstellung oder Rücknahme der Betriebsgenehmigung angeordnet werden kann, wenn eine Bank auf eine unlautere Art und Weise die Betriebsgenehmigung erlangt, entgegen Kriterien der Betriebsgenehmigung handelt, die Frist der Betriebseinstellung nicht einhält oder Anordnungen zur Richtigstellung nicht befolgt oder gegen das Gesetz, Anordnungen bzw. Maßnahmen verstößt und somit befürchtet wird, dass das Interesse der Kapitalleger oder Investoren in großem Umfang beeinträchtigt wird.
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Solche Regelungen können aber unter zwei Aspekten kritisiert werden. Erstens sind die Regelungen über Sanktionen im Bankengesetz sehr abstrakt gehalten und die konkreteren Inhalte erst in der Auskunft über die Prüfung sowie Sanktionen von Finanzinstituten zu finden, die von der Kommission für Finanzdienstleistungen veröffentlicht werden. Auch diese Sanktionen decken ein weites Spektrum ab, sodass von Betriebsgenehmigungen bis zu Rücknahme der Genehmigung beinahe alles möglich ist, was als unangemessen erachtet werden kann. Dies verstößt auch gegen das Prinzip des Gesetzesvorbehaltes. Zweitens besteht hier die Gefahr eines Verstoßes gegen das Verbot der pauschalen Verordnungsermächtigung, da fast alle Punkte der oben genannten Regelung fehlen und daher überarbeitet und konkret bestimmt werden müssten. 2. Sanktion gegen Finanzinstitute sowie Vorstandsmitglieder Sanktionen gegen Vorstandsmitglieder wurden parallel zu Sanktionen gegen Finanzinstitute geschaffen, um die Wirksamkeit der Überwachungsregulierungen sicherzustellen. § 54 Abs. 1 des Bankengesetzes sieht vor, dass einem Vorstandsmitglied auf Empfehlung der Finanzaufsichtsbehörde seine Teilnahme am Vorstandsrat verboten, der Hauptversammlung seine Entlassung empfohlen werden kann und andere geeignete Maßnahmen wie Mahnungen ergriffen werden sollen, wenn in einer Bank ein Vorstandsmitglied gegen Rechtsvorschriften vorsätzlich verstößt oder eine solide Geschäftsführung der Bank grob beeinträchtigt. Wenn dies bei einem Mitarbeiter vorkommt, kann die Finanzaufsichtsbehörde ebenso vom Vorsitzenden der betreffenden Bank geeignete Maßnahmen verlangen. Die aktuellen Regelungen erscheinen aus zwei Gründen verbesserungswürdig: Zu kritisieren ist, dass bei einem Verstoß gegen Rechtsvorschriften nur vorsätzliche Handlungen zum Gegenstand der Sanktion werden. Eine Sanktion erscheint zwar bei einem nur leicht fahrlässigen Verstoß nicht angemessen, da es zu einer übermäßigen Behinderung der Geschäftstätigkeit führen kann. Ebenso erscheint es aber nicht angemessen, einen grob fahrlässigen Verstoß aus dem Geltungsbereich der Sanktion auszuschließen, da sich Sanktionen auf die Verletzung von Verwaltungsvorschriften allgemein, also das Vorliegen eines tatsächlichen Verstoßes beziehen.16 Zu kritisieren ist weiterhin, dass die konkrete Umsetzung der Sanktion erst nach Auskunft über Sanktionsregelungen der Kommission für Finanzdienstleistungen erfolgt. Hier kann aufgrund der Form und Struk___________ 16 Roh Tae-seok, A Study on the Problems and improvement of the system of sanction against a financial institution’s officers and employees, Korean Journal of Banking and Financial Law, Vol. 6, No. 1, Mai 2013, S. 89.
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tur der Rechtsvorschriften dasselbe Problem wie bei Sanktion gegen Banken entstehen. Ist hingegen der Inhalt der Sanktionen im Bankengesetz konkret geregelt, ist der Gesetzesvorbehalt nicht verletzt.17 Allerdings ist die Regelungsmethode aus legislativer Perspektive nicht optimal. Nicht geklärt ist, ob der Vorsitzende eines Finanzinstitutes, das sanktioniert wird oder eine derartige Empfehlung bekommt, an Strafanforderungen oder -empfehlungen gegen das betreffende Vorstandsmitglied gebunden ist. Probleme treten besonders dann auf, wenn die Aufsichtsbehörde eine Entlassung des betreffenden Vorstandsmitglieds verlangt oder empfiehlt, da dies gemäß § 385 Abs.1 des Handelsgesetzes von der Hauptversammlung zu entscheiden ist und sich hier die Kompetenzen zu vermischen drohen. In der Rechtpraxis ist das Problem allerdings lösbar, weil die Hauptversammlung meistens mit der Entlassung des Vorstandsmitglieds einverstanden ist. Aber aus Gründen der Rechtsklarheit ist es gleichwohl wünschenswert, eine eigene Spezialregelung im Handelsgesetz zu schaffen.18 3. Aufteilung der Sanktionskompetenzen zwischen Kommission für Finanzdienstleistungen und Finanzaufsichtsbehörde Nicht nur im Bankengesetz, sondern auch in anderen finanzrelevanten Gesetzen wie dem Kapitalmarktgesetz und dem Versicherungsgesetz wurden Sanktionskompetenzen sowohl auf die Kommission für Finanzdienstleistungen und auf die Finanzaufsichtsbehörde übertragen. Diese Kompetenzverteilung wird häufig kritisiert, da sie nur der Verwaltungseffizienz diene und daher nicht konsequent sei.19 Beispielsweise könne über eine Sanktion gegen einen einzigen Rechtsverstoß von unterschiedlichen Institutionen und nach unterschiedlichen Verfahren entschieden werden.20 Arten von Sanktionen gegen Banken und Aufteilung der Sanktionskompetenzen Unterscheidung zwischen
Bank
Regulierungsmaßnahme Rücknahme der Genehmigung
Ermächtigte Institution
Sanktion
Kommission für Finanzdienstleistungen
Sanktionsvorschrift § 17
___________ 17
Verwaltungsgericht Seoul, Urt. 2005.12.08, 2004Guhab36106. Roh Tae-seok, a.a.O., S. 78. 19 Board of Audit and Inspection of Korea, Audit and Inspection Report for Protection of Financial Consumer etc. Feb. 2012, S. 62. 20 Roh Tae-seok, a.a.O., S. 86. 18
Tendenzen und Strukturen der südkoreanischen Bankenregulierung Vollständige Einstellung von Betrieb und Geschäftstätigkeiten
(FSC)
Temporäre Einstellung von Betrieb und Geschäftstätigkeiten Schließen der Filialen Unterbrechung unrechtsmäßiger Handlungen Vertragstransfer Finanzaufsichtsbehörde (FSS)
Sanktionsvorschrift § 17
Kommission für Finanzdienstleistungen
Sanktionsvorschrift § 18
Finanzaufsichtsbehörde
Sanktionsvorschrift § 18
Entlassung
Kommission für Finanzdienstleistungen
Sanktionsvorschrift § 19
Suspension
Finanzaufsichtsbehörde
Sanktionsvorschrift § 19
Mahnung durch Bank
Warnung durch Bank Entlassung
Vorstandsmitglied
Suspension Verweis Warnende Mahnung Warnung
Mitarbeiter
Gehaltskürzung Verweis
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98
Seung-pil Choi Warnung
Quelle: Roh Tae-seok, Probleme und Verbesserungsansätze des Sanktionssystems bei Vorstandsmitgliedern von Finanzinstituten, Forschung des Bankengesetz Band 6, Nr.1, Mai 2013, Tabelle aus S. 85 überarbeitet und ergänzt
Die Aufteilung von Sanktionskompetenzen hängt eng mit dem juristischen Charakter der Finanzaufsichtsbehörde zusammen. Die Finanzaufsichtsbehörde ist eine Art Anstalt des öffentlichen Rechts, die über Sanktionskompetenzen verfügt, soweit ihr das Parlament durch Gesetz bestimmte Prüfungs- und Sanktionskompetenzen eingeräumt hat.21 Darüber hinaus kann natürlich kritisiert werden, dass § 6 Abs. 3 des Regierungsstrukturgesetzes regelt, dass solche Kompetenzen anderen untergeordneten Verwaltungsorganen oder Nebenorganen übertragen werden können, solange diese Kompetenzen nicht mit Rechten und Pflichten der Bürger zusammenhängen. Auch § 3 Abs.1 der Verordnung über Übertragung administrativer Kompetenzen sieht vor, dass die Übertragung von Kompetenzen auf die administrative Arbeit sowie die Erteilung von Genehmigungen oder wiederholende Routinetätigkeiten beschränkt werden soll. Über eine mögliche Verfassungswidrigkeit soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, da die Finanzaufsichtsbehörde eine Anstalt öffentlichen Rechts und eine der Kommission für Finanzdienstleistungen untergeordnete Organisation ist. Eine öffentliche Anstalt unterscheidet sich von einfachen Beliehenen, indem sie zu öffentlichen Verwaltungszwecken gegründet ist und sowohl eine juristische als auch eine materiell-rechtliche Person ist. Entscheidend ist, dass die Kommission für Finanzdienstleistungen in § 71 explizit die Übertragung der Kompetenzen regelt. Problematisch bleibt, nach welchen Kriterien die Kompetenzen zwischen der Kommission für Finanzdienstleistungen und der Finanzaufsichtsbehörde aufgeteilt werden sollen. Dabei gilt es zu verhindern, dass die Kompetenzverteilung die Durchsetzung von Rechten behindert. 4. Überprüfung der Sanktionsverfahren Da Sanktionen sowohl gegen die Banken selbst als auch gegen Vorstandsmitglieder oder Mitarbeiter verordnet werden und diese gleichzeitig in Rechte Dritter eingreifen können, muss man diesen gegenüber die Sanktionsmaßnahme vorher ankündigen, zur Stellungnahme auffordern oder eine Anhörung einleiten. Das aktuelle Bankengesetz regelt keine konkreten Verfahrensschritte. § 35 Abs. 1 und § 59 Abs. 2 der Sanktionsvorschriften schreiben jeweils eine vorherige Mitteilung und Abgabe der Stellungnahme vor. Da das Bankengesetz selbst konkrete Verfahrensschritte nicht regelt, fehlt es an genauen Bestimmungen zum Sanktionsverfahren. Das Gleiche gilt auch für Sanktionen gegen Banken. Dies ___________ 21 Kang Hyun-ho, Rechtliches Wesen von Financial Supervisory Service(FSS), Public Law, Vol. 31, No. 3, März 2003, S. 137.
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hat zur Folge, dass ein Verstoß gegen einen Verfahrensschritt nicht direkt eine rechtswidrige Handlung begründet, weil das Bankengesetz und die Sanktionsregelungen diesbezüglich keinen konkreteren Inhalt bestimmen, obwohl bei Verwaltungshandlungen, die in Rechte Dritter eingreifen, das Verwaltungsverfahrensgesetz als zwingendes Recht zur Anwendung kommt. Natürlich kann gegen solch einen Verstoß mit Rücksicht auf die Selbstbindung der Verwaltung oder den Gleichheitsgrundsatz ein Missbrauch des Ermessensspielraumes und somit auch die Rechtswidrigkeit der Sanktion indirekt begründet werden. § 22 des Verwaltungsverfahrensgesetzes regelt die Schritte einer Anhörung: Wenn nach einem anderen Gesetzes eine Anhörung notwendig ist oder wenn eine Verwaltungsbehörde dies als notwendig ansieht, muss eine Anhörung erfolgen. Momentan schreibt § 423 des Kapitalmarktgesetzes vor, dass bei einer Entlassungs- oder Suspendierungsaufforderung eine Anhörung unbedingt notwendig ist. Daher muss bei Banken im Falle einer unrechtsmäßigen Handlung im Rahmen des Finanzinvestitionsgesetzes eine Anhörung vorgenommen werden. Auch hier besteht legislativer Korrekturbedarf, da das Bankengesetz keine Anhörung vorschreibt. Wenn aber bei allen Sanktionen eine Anhörung vorgenommen werden muss, wäre damit ein hoher administrativer Aufwand verbunden. Daher erscheint es angemessen, nur bei schweren Sanktionen Anhörungen vorzusehen In der aktuellen Rechtsprechung ist folgende Tendenz zu beobachten: Eine Sanktion, die ohne vorherige Mitteilung über die betreffende unrechtsmäßige Handlung erfolgte oder eine vorgeschriebene Abgabe der Stellungnahme oder ein Anhörungsverfahren nicht vorlag, ist verfahrensmäßig rechtswidrig und kann als eine unrechtmäßige Verwaltungshandlung zurückgenommen werden. Daran wird kritisiert, dass es sich um eine reine Wiederholung des Verfahrens handele, weil schließlich dasselbe Ergebnis erreicht werde. Da das Einhalten eines rechtmäßigen Verfahrens aber die sachliche Rechtsmäßigkeit gewährleistet, ist dies unerlässlich. 5. Widerspruch gegen Sanktionen und Streitigkeiten Gegenüber Sanktionen der Aufsichtsbehörde kann ein Einspruch eingelegt werden, wobei im Bankengesetz keine Regelungen über den Einspruch zu finden sind. Vielmehr gilt nur § 37 der Sanktionsregelungen als die allgemeine Rechtsgrundlage. Im Gegensatz dazu finden sich aber in § 425 des Kapitalmarktgesetzes Einspruchsregelungen, was als unsystematisch zu kritisieren ist. § 425 des Kapitalmarktgesetzes sieht vor, dass bei einer Entlassungs- oder Suspendierungsaufforderung gegen die betreffenden Vorstandsmitglieder oder Mitarbeiter ein Antrag auf Einspruch bei der FSC unzulässig ist. Dies hat zwei Gründe: Erstens wird bei einer Entlassung oder Suspendierung bereits eine Anhörung vorgenommen, wodurch dasselbe Ergebnis wie ein Einspruch erreicht
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wird. Zweitens wird das Ziel verfolgt, wichtige Sachverhalte in einem Widerspruchsverfahren vor einer unabhängigen Kommission zu klären, was eine quasijuristische Funktion hat, um schließlich wie bei einem Einspruch dasselbe Ergebnis zu erreichen. Aber es gibt keinen Grund, trotz wirksamer Rechtsmittel die Möglichkeit eines Einspruchs auszuschließen. Daher muss auch das Einspruchsverfahren geregelt werden, um noch ein weiteres Rechtsmittel gegen Verletzungen der Rechte zu gewährleisten. § 70 des Gesetzes zur Gründung der Kommission für Finanzdienstleistungen regelt, dass, „jeder, dessen Recht oder Interesse aufgrund unrechtmäßiger oder unangemessener Verwaltungsverfügungen von der Kommission für Finanzdienstleistungen oder Finanzaufsichtsbehörde beeinträchtigt werden, ein Widerspruchverfahren beantragen kann.“ Wenn gegen das Widerspruchverfahren eine Berufung eingelegt wird, ist eine Anfechtungsklage zu erheben. Hier stellen sich einige Fragen: Erstens hat eine Sanktionsmaßnahme von der Aufsichtsbehörde die Form einer Aufforderung oder Empfehlung. Dann ist zu entscheiden, ob solche Empfehlungen rechtlich den Charakter einer Verwaltungsanordnung haben oder nicht. Wenn man die Empfehlung als eine Verwaltungsanordnung betrachtet, kann – laut der Rechtsprechung, die momentan die Verwaltungsanordnungen nicht als eine gesetzliche Verwaltungsverfügung ansieht – das betreffende Vorstandsmitglied oder der Mitarbeiter nicht direkt eine Anfechtungsklage erheben. Über die Entlassung aus dem betreffenden Finanzinstitut hinaus muss er zusätzlich eine Klage erheben, um die Nichtigkeit dieser Verwaltungsverfügung festzustellen und seine Rechte geltend zu machen.22 Im Falle einer Verwaltungsanordnung muss man berücksichtigen, dass diese tatsächlich rechtlich bindend sind. Sie können Finanzinstituten direkte und verbindliche Sanktionsmaßnahmen auferlegen. Da die Finanzinstitute ihrerseits im Falle einer Nichtbefolgung wieder sanktioniert werden und die Finanzinstitute traditionellerweise dazu neigen, solche Verwaltungsanordnungen zu befolgen. Darüber hinaus kann dies als eine rechtlich verbindliche Maßnahme gelten, da man wie im § 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes bei der Interpretation der Handlungen, die „konkrete Rechte oder Pflichten beeinflussen können“, dessen tatsächliche Verbindlichkeit anerkennt. Daher können solche Maßnahmen angefochten werden. Die AAC (Administrative Appeals Commission) sieht in ihren aktuellen Entscheidungen aber solche Verwaltungsanforderungen zum Widerspruchsverfahren nicht als eine Maßnahme an, weil hier eine freiwillige Zusammenarbeit der ___________ 22 Kim Sung-Soo, Sanktionsmaßnahmen der Geldaufsichtsbehörden und Rechtsschutz der Betroffenen, Administrative Law Journal, Vol. 20, 2008, S. 28.
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Person, die zur Entlassung ermächtigt ist, erwartet wird.23 Der Oberste Gerichtshof hat bisher zu den Verwaltungsanforderungen nicht explizit Stellung bezogen, erkannte aber bei manchen Verwaltungsanforderungen ihren Charakter als eine Maßnahme, weil es hier tatsächlich Auswirkungen für den Betroffenen gab. Wenn also eine Verwaltungsanforderung tatsächlich auf den Betroffenen einen Einfluss hat, kann sie als eine Verwaltungsverfügung angesehen werden.24 Problematisch ist auch, ob die Aktionäre des betreffenden Finanzinstitutes Maßnahmen der Kommission für Finanzdienstleistungen oder der Finanzaufsichtsbehörde direkt anfechten können. Laut der Rechtsprechung ist es hierfür ein Entscheidungskriterium, ob die betreffende Maßnahme auf den Status des Aktionärs großen Einfluss hat. Das bedeutet: Gegenüber Maßnahmen, die auf den Status des Aktionärs keinen Einfluss haben, hat der Aktionär keine Klagebefugnis. Dagegen wird bei wichtigen Maßnahmen wie einer Verwaltungsverfügung zur Feststellung der mangelnden Solidität eines Finanzinstituts, einer Anordnung eines Vertragstransfers oder einer Verwaltungsverfügung zur Betriebseinstellung die Klagebefugnis des Aktionärs anerkannt.25
IV. Ein neues Thema: Einführung der Regelungen zur makroökonomischen Solidität 1. Paradigmenwechsel der Bankenregulierung Bis zur globalen Finanzkrise 2008 war das Hauptthema der Finanzregulierung die Solidität der Finanzinstitute. Da sich aber Krisen je nach konjunktureller Lage auf bestimmte Branchen konzentrieren können, können sie Finanzinstitute auch bei finanzieller Stabilität treffen. Daher ist man sich einig, dass es notwendig ist, Solidität auch bei konjunkturellen Schwankungen sicherzustellen. Als Resultat entstand hauptsächlich unter den G20-Staaten das Paradigma, makroökonomische Risiken durch Regulierung zu minimieren. Um auf Konjunkturschwankungen reagieren zu können, wird eine höhere Kapitalbasis als Puffer verlangt. Auch die Regulierung von intensiven gegenseitigen Geschäftsbeziehungen und der übermäßigen Vernetzung von Finanzinstituten wurde als notwendig angesehen. Diese Verflechtungen erschwerten die Bewältigung der globalen Finanzkrise in deren Endphase, weil instabile Finanzinstitute große ___________ 23 Administrative Appeals Commission (AAC) of the office of Prime Minister, Case No. 200501190, 200501191(2003.5.21, 2005.7.18). 24 Der Oberste Gerichtshof, 2005.2.17, 2003Du14765. 25 Der Oberste Gerichtshof, 2004.12.23, 2000Du2648; 2005.1.27, 2002Du5313.
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Schwierigkeiten mit den Phänomen des „too-big-to-fail“, „too-interconnectedto-fail“ und „too-many-to-fail“ hatten.26 2. Hauptinhalte neuer Regulierungen für makroökonomische Solidität Regulierungszwecke und wichtige Mittel der allgemeinen makroökonomischen Solidität Reaktion auf übermäßige Krediterweiterung Bestimmung der geforderten Kapitalhöhe je nach Risikogewichtung Zeitliche Differenzierung sowie Grenzenbestimmung von LTV (loan-to-value) Zeitliche Differenzierung sowie Grenzenbestimmung von DTI (debt service-toincome) Reaktion auf Erweiterung der Systemrisiken Beschränkung über Laufzeitinkongruenz Grenzenbestimmung über Verbindlichkeiten in Fremdwährung Erhebung von Abgaben Regulierung über Stressausweitung und Aufhebung struktureller Mängel Regulierung über SIFIs Quelle: FSB/IMF/BIS, Macroprudential Policy Tools and Frameworks – Progress Report to G20, 2011.10.27, S. 11 Box 1(Commonly used macroprudential instruments)27; Choi Seung-pil, Internationale Tendenz und Veränderungen der Finanzregulierungssysteme in Bezug auf makroökonomischer Solidität, Korea Legislation Research Institute, 2013, S. 36
International werden derzeit zur Stärkung der makroökonomischen Solidität die Schaffung eines zusätzlichen Kapitalpuffers durch den Basel(Accord) III und ___________ 26 Choi Seung-pil, Internationale Tendenz und Veränderungen der Finanzregulierungssysteme in Bezug auf makroökonomischer Solidität, Korea Legislation Research Institute, 2013, S. 21-28. 27 CGFS, Operationalising the selection and application of macro-prudential instruments, Dez. 2012, S. 9.
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Regulierungen über SIFI (Systematically Important Financial Institution) vorangetrieben. Da Basel II bisher aus Perspektive der makroökonomischen Solidität weniger reaktionsfähig war, schreibt Basel III als Konjunkturreaktion zusätzliches Pufferkapital zur Kapitalergänzung vor. Hiermit wurden auch die Regulierungen über die Liquidität verschärft, da ein Liquiditätsausfall zu einem temporären Marktversagen führen kann. In der EU haben sich das Europäische Parlament und der Europäische Rat auf die Umsetzung von Basel III geeinigt, welcher in der ersten Jahreshälfte 2014 in Kraft treten wird. In Korea wurde bereits 2012 ein Entwurf dazu veröffentlicht. Ein Schlussentwurf ist schon vorbereitet, aber seine Umsetzung wurde verschoben, um erst nach Analyse der Situation in anderen Ländern die endgültige Entscheidung über die Einführung zu fällen.28 Die SIFI-Regulierungen sehen wie folgt aus: Den Finanzinstituten gegenüber, die den Markt beeinflussen können, ist ein verschärftes Kontrollsystem vonnöten. Die Regelungen lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Regulierungen über große Finanzinstitute, die hauptsächlich im internationalen Finanzmarkt agieren, und Regulierungen über einheimische Großinstitute. Auf Basis deren wird auch bei Banken zwischen G-SIB-Regulierungen und D-SIB-Regulierungen unterschieden. 3. Regulierung der makroökonomischen Solidität a) System der makroprudenziellen FX-Stabilitätsabgabe In Korea wurde schon im Rahmen der Regulierung der makroökonomischen Solidität erstmals die makroprudenzielle FX (Foreign Exchange)-Stabilitätsabgabe (Macro-prudential Stability Levy) eingeführt, um die rasante Zunahme der Schulden in Fremdwährung zu stoppen. Die Abgabe wird nicht nur für Spareinlagen, sondern auch für Fremdwährungsschulden erhoben. Diese Abgabe wird auch Bankenabgabe (Bank Levy) genannt, weil das für Devisenhandel zuständige Finanzinstitut Banken sind und sie dieselbe steuerliche Struktur wie die Bankensteuer hat. Aus Sicht des öffentlichen Rechts kann diese Abgabe als eine Form der indirekten Regulierungsverwaltung gesehen werden. Sie wird in Fremdwährung erhoben, in EEF (Exchange Equalization Fund) gutgeschrieben und in Krisensituation zur Erhöhung der Devisenliquidität verwendet.29
___________ 28
Choi Seung-pil, a.a.O., S. 43. IMF, The interaction of monetary and macro-prudential policies, 2013.1.29, S. 8; Choi Seung-pil, a.a.O., S. 56. 29
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b) DTI und LTV DTI- und LTV-Regulierungen sind Regulierungen, die vom Währungsfonds als erfolgreiches Überwachungsmittel der makroökonomischen Solidität bewertet werden. DTI (Debt to Income)-Regulierung ist ein System, das die Kreditgrenze beschränkt, sodass der Rückzahlungsbetrag einen bestimmten Prozentsatz des Einkommens nicht überschreiten kann. Dies soll vermeiden, dass aufgrund einer Immobilienblase die Kreditnachfrage steigt, obwohl die Rückzahlung gefährdet ist und dies schließlich zur Entstehung von Insolvenzforderungen führt. Auf der anderen Seite gibt es die LTV (Loan to Value)-Regulierung, eine Pfandquote bei Immobilien: Angenommen, es wurde aufgrund einer Inflation der Immobilienpreise ein ungewöhnlich hohes Preisniveau geschaffen. Ein Immobilienpfand unter so einer Situation kann den Anspruch des Kapitalanlegers auf Auszahlung des Guthabens beeinträchtigen, falls die Blase zerplatzt und die Insolvenzforderungen der Banken immer zunehmen. Daher wurde jeweils auf Basis von Kreditlaufzeit und Immobilienpreis ein bestimmtes Verhältnis des Pfandes zum Kreditbetrag bestimmt, wobei eine Quote zwischen 50 % und 70 % unterschiedlich angewendet wird.30 In einer Überhitzung der Konjunktur kam es bei den Vermögens- wie Immobilienpreisen zu einer Inflation. Dies führt in einer Rezession zu einem schnellen Zusammenbruch der Blase. Konjunkturresistente Maßnahmen als Kern der Regulierungspolitik für makroökonomische Solidität wurden also unter Berücksichtigung solcher Punkte geschaffen. Dies bedeutet aber nichts anderes als die Tatsache, dass den Banken der Geltungsbereich des freien Vertrages mit dem Kunden nach dem Prinzip der Privatautonomie vom Staat künstlich begrenzt wird und die Freiheit zur Ausübung des Eigentumsrechts beeinträchtigt wird. Aber auch dieser Eingriff in die Grundrechte stellt eine wichtige Achse der Wirtschaft dar und schützt den Anspruch der Kapitalanleger auf Auszahlung ihrer Guthaben, wobei es zwischen privates und öffentliches Interesse auch abgewogen wird. c) SIFI und D-SIB-Regulierung Ein systemisch wichtiges Finanzinstitut, SIFI, bedeutet, dass die Unsolidität des betreffenden Finanzinstitutes auf den Finanzmarkt und die Realwirtschaft einen großen Einfluss hat. Daher wird in diesem Fall eine gewichtete Regulierung angewendet. Aber eine gewichtete Regulierung bedeutet, dass auch eine umso grobere Beeinträchtigung vorliegen soll, weshalb die Bestimmung von Banken als SIFI streitig werden kann. Daher sind für Bestimmungen von Finanzinstitu-
___________ 30
Kim Hae-ryoung/Choi Seung-pil, a.a.O., S. 362.
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ten, die gewichtet reguliert werden sollen, genauere Kriterien vonnöten. Momentan dienen ausländisches Eigenkapital, Gesamteigenkapital, Interdependenz, Ersatzbarkeit und Komplexität jeweils mit 20%-tiger Gewichtung als Kriterien. Bei Banken gibt es auf globaler Ebene die G-SIB (Systematically Important Bank) und auf nationaler Ebene die D-SIB. Die D-SIB haben keinen großen Einfluss auf den globalen Finanzmarkt, aber sehr wohl auf den einheimischen Markt. Die Regulierungen bei D-SIB haben also einen Präventionscharakter, wodurch über ein eventuelles Marktversagen aufgrund eines Zusammenbruchs dieser Banken im Vornherein schon reguliert werden soll. Als D-SIB werden Banken unter Berücksichtigung von vier Faktoren wie Gesamteigenkapital, Interdependenz, Ersatzbarkeit und Komplexität des Infrasystems von betreffenden Finanzinstituten bestimmt. Dazu kommen aber noch Faktoren wie landesspezifische Eigenschaften und Position im einheimischen Markt. Dies hat den Zweck, den Unterschied in den Finanzmärkten einzelner Länder zur Geltung kommen zu lassen. Daher wurde eine regelgebundene Annäherung wie bei G-SIB abgelehnt und eine prinzipiengebundener Annäherungsansatz angewendet, bei der erstens Regulierungsprinzipen aufgestellt und auf Basis dessen Geltungsbereiche der Ermessensspielräume sichergestellt werden. Wenn eine Bank als D-SIB bestimmt wird, muss sie ein Zusatzeigenkapital mit normalen Aktien gutschreiben lassen. Bei einem Verstoß gegen Regelungen über Zusatzeigenkapital kann die Kommission für Finanzdienstleistungen je nach Ernsthaftigkeit des Problems beschränkende Maßnahmen über die Gewinnverteilung oder die Aussetzung von Gewinnausschüttungen vorsehen. Da der Feststellungsprozess von D-SIB in Korea noch nicht fertig ist, ist es nicht klar, welche Banken zu D-SIB gehören. Nach jetzigem Plan soll die Bestimmung bis 2015 erfolgen und ab Januar 2016 schrittweise ausgeführt werden. Ab 2019 soll dies in großem Ausmaß erweitert werden.31
V. Fazit Regulierung und Freiheit sind konkurrierende Begriffe. Rationale Regulierungen tragen aber zur Erweiterung der Freiheit bei. Da rationale Regulierungen Rechte der Kapitalanleger und Investoren auf der Anlegerseite schützen, müssen Bankenregulierungen an sich nicht unbedingt mit Abschaffung assoziiert werden. Blickt man auf die Geschichte der Bankenregulierung zurück, zeigt sich folgendes Muster: Zuerst gibt es eine Überhitzung aufgrund einer Deregulierung, dann folgt im Zuge der Regulierung eine Rezession und schließlich werden Regulierungen aufgrund der Rezession wieder abgeschwächt. Man könnte diese ___________ 31
Choi Seung-pil, a.a.O., S. 49.
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Regulierungen und Deregulierungen mit Pendelbewegungen vergleichen, die innerhalb einer sich verengenden Bandbreite verlaufen, wodurch langsam eine Konvergenz erreicht wird. Da Südkorea ein kleines und ressourcenarmes Land ist, wird die Finanzindustrie neben der Herstellungsindustrie – wie Halbleiter, Mobiltelefone und Autos – als eine der Schlüsselindustrien des Landes gefördert, um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu stärken. Daher spielt neben der Stabilität des Finanzmarktes auch die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit eine große Rolle, was bei der Entscheidung des Regulierungsausmaßes immer berücksichtigt werden muss. Im Zentrum der weltweiten Finanzpolitik gegen die globale Finanzkrise stehen die Überwachung der makroökonomischen Solidität und der Konsumentenschutz. Hinsichtlich des erstgenannten Aspekts wird kritisiert, dass Banken durch Regulierungen übermäßig unter Druck gesetzt werden und neue Regulierungen zu schnell beschlossen werden. Hinsichtlich des zweiten Aspektes wird Kritik an der doppelten Überwachung durch die Behörde für makroökonomische Solidität und Organisationen zum Konsumentenschutz geübt. Angesichts der Entwicklung des Finanzmarktes, die durch eine vertiefte Verflechtung der Finanzinstitute und die Gewinnorientiertheit der Marktakteure gekennzeichnet ist, werden die verstärkte Überwachung der makroökonomischen Solidität und die Intensivierung des Konsumentenschutzes ganz überwiegend begrüßt. Deren Legitimität kann nicht prinzipiell verneint werden. Einzuräumen ist, dass hinsichtlich der doppelten Regulierung Verbesserungsbedarf besteht und Störfaktoren für eine höhere Markteffizienz noch beseitigt werden müssen. Dadurch wird die Notwendigkeit einer stärkeren Regulierung aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt.
Literatur Board of Audit and Inspection of Korea, Audit and Inspection Report for Protection of Financial Consumer etc., Feb. 2012 Choi, Seung-pil, The Change and Trend of Financial Regulation in Korea, Korean Journal of Banking and Financial Law, Vol. 5, No. 2, Nov. 2012 –, Internationale Tendenz und Veränderungen der Finanzregulierungssysteme in Bezug auf makroökonomischer Solidität, Korea Legislation Research Institute, 2013 CGFS, Operationalising the selection and application of macro-prudential instruments, Dez. 2012 FSB/IMF/BIS, Macroprudential Policy Tools and Frameworks – Progress Report to G20, 27. Oct. 2011 IMF, The interaction of monetary and macro-prudential policies, 29. Jan. 2013
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Jeong, Youngchul, Case Comments on K. Supreme Court Decision 2008DU4619 dated Mar. 15, 2012, Journal of Financial Law, Vol. 9, No. 1, 2012 Kang, Hyun-ho, Rechtliches Wesen von Financial Supervisory Service(FSS), Public Law, Vol. 31, No. 3, März 2003 Kim, Hae-ryoung/Choi, Seung-pil, Strenge und lockere Regulierungsinstrumente in Korea, Public Land Law Review, Vol. 29, Nov. 2012 Kim, Sung-Soo, Sanktionsmaßnahmen der Geldaufsichtsbehörden und Rechtsschutz der Betroffenen, Administrative Law Journal, Vol. 20, 2008 Kim, Yong-Jae, Banking Law and Regulation (2. Aufl.), Parkyoungsa, 2013 Ko, Dong-won/Roh, Tae-seok, Legal Review of Regulations on Financial Companies’ Conducts of Business in Korea, SKKU Law Review, Vol. 23, No. 1, Apr. 2011 Lee, Won-woo, Juristische Aufgaben zur Reform des Finanzdienstleistungsaufsichtsrechts unter dem Wandel des Finanzmarktes, Public Law (KPLA), Vol.32, No. 2, Feb. 2005 Roh, Tae-seok, A Study on the Problems and improvement of the system of sanction against a financial institution’s officers and employees, Korean Journal of Banking and Financial Law, Vol. 6, No. 1, Mai 2013 Song, Og-lyeol, Rechtliche Überlegungen zu Struktur und Handlungen der Banken unter dem neuen Finanzumfeld, Financial Review Working Paper, Kif, 2013 Verwaltungsgericht Seoul, Urt. 1999.9.17, 98Gu23689 Verwaltungsgericht Seoul, Urt. 2002.11.26, 2002Guhab22813 Der Oberste Gerichtshof, 2012.3.15, 2008Du4619 Der Oberste Gerichtshof, 2005.2.18, 2002Du9360 LG Zentrale Seoul, 2010.11.29, 2010Kahab6296, 2008Kahab131601 Das Oberste Gericht, 2011Da53683, 2012Da1146, 2013Da26746 Der oberste Gerichtshof, 2010.11.11, 2010Da55699 LG Zentrale Seoul, 2013.1.17, 2011Kahab71808 Verwaltungsgericht Seoul, Urt. 2005.12.08, 2004Guhab36106 Der Oberste Gerichtshof, 2005.2.17, 2003Du14765 Der Oberste Gerichtshof, 2004.12.23, 2000Du2648; 2005.1.27, 2002Du5313 (nach der Zitierfolge) Administrative Appeals Commission (AAC) of the office of Prime Minister, Case No. 200501190, 200501191(21. Mai 2003, 18. Juli 2005)
Der Sozialstaat in der Finanz- und Wirtschaftskrise Von Peter Baumeister*
I. Einleitung Das Thema des Sozialstaats in der Finanz- und Wirtschaftskrise wirft Fragen in zweierlei Richtung auf: Eines der möglichen Themen ist die Rolle des Sozialstaats in der Krise. Hier wird danach gefragt, welche Bedeutung die Mittel der sozialen Sicherung in der Zeit des konjunkturellen Rückgangs besaßen, also auch, ob dem Sozialsystem Relevanz für die Überwindung der Krise zukam. Aus der zweiten Perspektive geht es um die Folgen der Krise für den Sozialstaat. Insoweit wäre zu fragen, ob sich aus den Erfahrungen der Krise Notwendigkeiten für eine Reform des Sozialsystems ableiten lassen. Aus beiderlei Sicht soll das Thema nachfolgend angegangen werden. Dabei wird die Betrachtung des Sozialstaats auf das soziale Sicherungssystem beschränkt und nimmt nicht auch noch die zahllosen sozialstaatlich motivierten Regelungen in anderen Rechtsgebieten, wie etwa im Steuerrecht, außerhalb des Sozialrechts in den Blick. Nach einem Überblick zum deutschen Sozialrecht (II.) wird zunächst der Versuch einer knappen Stellungnahme zur Wirkung des sozialen Sicherungssystems während der Finanz- und Wirtschaftskrise unternommen (III.). Daran schließt sich eine Erörterung der möglichen Bedeutung der Wirtschaftskrise für die Reform des Sozialsystems an (IV.), bevor den zentralen Herausforderungen für das nationale Sozialsystem jenseits von Wirtschaftskrisen angerissen werden soll (V.). Abschließend ist kurz auf einige verfassungsrechtliche Grenzen für Reformen des Sozialsystems hinzuweisen (VI.), bevor ein kurzes Resümee gezogen wird (VII.).
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Der Verfasser ist Professor an der SRH Hochschule Heidelberg (private staatlich anerkannte Hochschule) und apl. Prof. an der Universität Mannheim für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Europarecht.
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II. Überblick zum deutschen System der sozialen Sicherung Nach heute ganz überwiegender Ansicht gliedert sich das Sozialrecht in drei Bereiche: (1) Soziale Vorsorge, (2) Soziale Entschädigung und (3) Soziale Hilfe und Förderung1. 1. Soziale Vorsorge Der Bereich der sozialen Vorsorge wird geprägt durch die heute fünf Sozialversicherungen, die für die Hauptrisiken eine Sicherung auf solidarischer Basis in einem Versicherungsverhältnis bilden. Die fünf Sozialversicherungen sind die gesetzliche Krankenversicherung, die soziale Pflegeversicherung, die gesetzliche Rentenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und die gesetzliche Unfallversicherung. Allgemeine Kennzeichen der Sozialversicherung sind im Gegensatz zur Privatversicherung ihre Hauptausrichtung auf das Arbeitsverhältnis, ein gesetzlich vorgegebener Zugang zur Versicherung und eine Bestimmung der Beiträge nach sozialen Kriterien (Höhe des Arbeitsentgelts oder Arbeitseinkommens) und unabhängig vom persönlichen Risiko. Die Leistungen, die unabhängig von persönlicher Bedürftigkeit beansprucht werden können, werden vor allem durch Beiträge finanziert, die im Grundsatz zu gleichen Teilen vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber erbracht werden. Seinen historischen Ursprung hat das heutige System im 19. Jahrhundert mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung (1883), der gesetzlichen Unfallversicherung (1884) und der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter (1889) unter der Regierung des Reichskanzlers Bismarck2. Dieses System wurde in vielen, vor allem kontinentaleuropäischen Staaten übernommen. Als vierter Sozialversicherungszweig ist 1927 die Arbeitslosenversicherung3 und zuletzt 1995 die Pflegeversicherung4 hinzugekommen. Letztere wurde aus früheren Leistungen der Krankenversicherung bei Schwerpflegebedürftigkeit zu einer eigenen Sozialversicherung entwickelt.
___________ 1 Vgl. etwa Zacher, Einführung in das Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., 1985, S. 20 ff.; v. Maydell, Zur Einführung: Das Sozialrecht und seine Stellung im Gesamtsystem unserer Wirtschafts- und Rechtsordnung, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 5. Aufl., 2012, § 1 Rn. 14. 2 Vgl. etwa Hänlein/Tennstedt, Geschichte des Sozialrechts, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 5. Aufl., 2012, § 2 Rn. 5 ff. 3 Ebd., § 2 Rn. 31. 4 Ebd., Rn. 95.
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Träger der Leistungen sind die jeweiligen sog. Sozialversicherungsträger, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung organisiert sind (§ 29 Sozialgesetzbuch Viertes Buch – SGB IV)5. 2. Soziale Entschädigung Das Recht der sozialen Entschädigung6 bildet den zweiten Bereich des Sozialrechts. Zentraler Gegenstand dieses Bereichs sind Entschädigungsleistungen in Fällen von Gesundheitsschäden, für deren Folgen die staatliche Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers oder aus anderen Gründen nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen einsteht (§ 5 SGB I). Der Grundgedanke der staatlichen Leistungen ist damit vor allem eine Sonderopferentschädigung, wie sie auch dem gewohnheitsrechtlich anerkannten Aufopferungsanspruch innewohnt; im Ergebnis erfüllt der Staat in einigen Fällen einen solchen Aufopferungsanspruch, indem er Ansprüche auf soziale Entschädigung einräumt, so dass insoweit nicht mehr auf den ungeschriebenen Aufopferungsanspruch zurückgegriffen werden kann. Unter die soziale Entschädigung fallen sowohl einige Fälle von Staatshaftung für Verwaltungsunrecht als auch Fälle mit sozialstaatlich motiviertem Einstehen der Allgemeinheit für den Einzelnen. Seinen Ursprung und Kern hat das Entschädigungsrecht in der Kriegsopferversorgung. Hinzu gekommen sind Leistungen bei Gesundheitsschäden von Soldaten, Freiwilligendienstleistenden, Verbrechensopfern, Opfer von NS- und DDR-Unrecht oder auch Impfgeschädigten. Die rein steuerfinanzierten Leistungen werden durch die staatlichen Versorgungsämter erbracht. 3. Soziale Hilfe und Förderung Der dritte Bereich des Sozialrechts setzt sich im Grunde aus zwei Teilen zusammen: die Regelungen über die Sozialhilfe und die zu sozialen Förderungsleistungen. Als soziale Hilfe sind sämtliche Leistungen zu begreifen, die der Sicherung des allgemeinen Lebensunterhalts oder – in besonderen Lebenslagen – eines speziellen Bedarfs dienen. Diese Leistungen sind davon abhängig, dass der Anspruchsteller nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften oder durch die Hilfe Dritter seinen Unterhalt zu bestreiten (s. § 9 SGB I)7. Zu diesen Leistungen zählen neben den Sozialhilfeleistungen im engeren Sinne (nach dem SGB XII) auch ___________ 5 Näher dazu Becker, Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 5. Aufl., 2012, § 13 Rn. 5, 17 f. 6 s. Hase, Soziales Entschädigungsrecht, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 5. Aufl., 2012, § 26 Rn. 1 ff. 7 s. auch Trenk-Hinterberger, Sozialhilferecht, in: v. Maydell/Ruland/Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 5. Aufl., 2012, § 23 Rn. 1.
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die sog. Grundsicherungsleistungen wie das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld (beides nach dem SGB II). Zur sozialen Förderung werden besondere Leistungen für bestimmte Personengruppen gerechnet, durch die vor allem Chancengleichheit in unterschiedlichen Lebenslagen hergestellt werden soll. Dazu zählen etwa die Ausbildungsförderung, die Familienleistungen (wie etwa das Kindergeld, Elterngeld oder die Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe), das Wohngeld oder auch solche Leistungen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung, die nicht im Rahmen der Sozialversicherungen erbracht werden. Sämtliche Leistungen werden allein aus Steuermitteln finanziert. Sowohl bei den Leistungen der Sozialhilfe als auch bei denen der sozialen Förderung handelt es sich nicht nur um objektivrechtliche Verpflichtungen. Vielmehr korrespondieren diese Pflichten mit Ansprüchen der Betroffenen8. 4. Fazit Insgesamt betrachtet braucht der deutsche Sozialstaat auch einen weltweiten Vergleich nicht zu scheuen. Ein derart funktionsfähiges Sozialversicherungssystem für die Risiken Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Alter, Invalidität, Arbeitsunfall, Berufskrankheit und Arbeitslosigkeit besitzen weltweit nur sehr wenige Staaten9. Flankiert wird dieser Schutz durch ein – nach wie vor – dichtes Netz staatlicher sozialer Hilfe, das subsidiär, also im Fall der Hilfebedürftigkeit, die Sicherung eines menschenwürdigen Daseins gewährleistet. Darüber hinaus wird Chancengleichheit angestrebt durch Ansprüche auf Leistungen der sozialen Förderung, zu denen unter anderem Familienleistungen, Ausbildungsförderung und Leistungen für Menschen mit Behinderung gerechnet werden. Diese Leistungen haben vor allem die Funktion, die betroffenen Menschen in die Lage zu versetzen, ihr Entwicklungspotential ungeachtet ihrer persönlichen beschränkten Lebenssituation weitestgehend ausschöpfen zu können. Auch wenn weiteres erhebliches Verbesserungspotential nicht zu bestreiten ist, haben doch etwa Menschen mit Behinderung aufgrund eines ausgebauten Systems von Rechten und zugleich auch aufgrund einer mittlerweile deutlich verbesserten praktischen Angebots-
___________ 8 So ausdrücklich für die Pflichtleistungen der Sozialhilfe § 17 Abs. 1 S. 1 SGB XII; s. auch Schnapp, Der Anspruch auf Sozialhilfe im System der subjektiven öffentlichen Rechte im Sozialrecht, SGb. 2010, 61. In anderen Rechtsbereichen, wie etwa dem der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII, existieren allerdings überwiegend Ermessensleistungen, so dass auch nur Ansprüche auf ermessensfehlerfreie Entscheidungen (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB I) existieren können. 9 s. auch Wieland, Der soziale Rechtsstaat als Gewährleistungsstaat, in: FS für Udo Steiner, 2009, S. 933.
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vielfalt wie nie zuvor und wie in kaum einem anderen Staat der Erde die Möglichkeit, ihren Wünschen und Fähigkeiten entsprechend am Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben.
III. Die Bedeutung des Sozialsystems in der Krise Die zentralen sozialstaatlichen Errungenschaften im Laufe von knapp 65 Jahren Bundesrepublik Deutschland sind in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Bei aller berechtigten Kritik im Detail und einer durchaus vorhandenen Zahl an Verbesserungserfordernissen kommt dem Sozialstaat gleichwohl eine herausragende Bedeutung für den sozialen Frieden und damit für die Stabilität der Gesellschaft nach innen zu10. Insofern besitzen Sozialleistungen eine herausragende systemstabilisierende Wirkung11. Dies gilt nicht nur in Zeiten eines wirtschaftlichen Aufschwungs und eines ansteigenden Wohlstands. Der Sozialstaat bewährt sich gerade in der Krise. Insbesondere in Krisenzeiten wirken Sozialleistungen einem allgemeinen Abschwung entgegen. Dies gilt für die Gesamtgesellschaft wie für den Einzelnen. Darin besteht ein wesentlicher Sinn der Sozialleistung: Sie soll in der persönlichen Notsituation (Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit usw.) für den Fortbestand der Rahmenbedingungen sorgen, unter denen der Einzelne sein Leben trotz der Veränderungen in zumindest vergleichbarer Weise fortsetzen und die individuellen Chancen zur Verbesserung seiner Lage nutzen kann. Durch die stabilisierende Wirkung für den einzelnen Betroffenen wird auch die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt geschützt. Trotz eines etwa fehlenden Erwerbseinkommens infolge von Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit ermöglichen die Sozialleistungen Millionen von Menschen die Fortsetzung ihrer Teilnahme am Wirtschaftsleben vor allem durch die weitgehende Aufrechterhaltung der finanziellen Leistungsfähigkeit und der damit erreichten Sicherung des individuellen Konsums. So wird die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen auch in der Krise mit gleichzeitiger hoher Beschäftigungslosigkeit auf einem beachtlichen Niveau aufrechterhalten. Auf diese Weise steuern Sozialleistungen kontinuierlich konjunkturellen Schwächeperioden entgegen. Trotz der häufig eintretenden Reduzierung der Erwerbstätigenzahl und damit auch des verfügbaren Einkommens der betroffenen Personengruppen werden die mögliche Abwärtsspirale und so der kontinuierliche Abschwung zumindest erheblich verlangsamt. Die Notwendigkeit zusätzlicher staatlicher Konjunkturprogramme ist deshalb in Staaten mit ___________ 10
s. Kreikebohm, Solidarität und Subsidiarität als Ausprägung des „Sozialen“ in den Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise, RATUBS Nr. 6/2010, S. 1 (18). 11 Auf die Notwendigkeit eines Systems der sozialen Sicherung in der Krise weist auch Cremer, Finanz- und Wirtschaftskrise: Was folgt für den Sozialbereich?, NDV 2009, 465.
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funktionierenden sozialen Vorsorgesystemen weitaus geringer ausgeprägt als in Staaten ohne derartige Systeme. Damit fungiert das Sozialleistungssystem nicht nur als Gegenmittel in individuellen, sondern auch in nationalen oder globalen Wirtschaftskrisen. Es fungiert selbst als ein Konjunkturprogramm. Für die relativ rasche Überwindung der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 in Deutschland werden verschiedene Gründe ausgemacht. Immer wieder genannt werden aber auch Auswirkungen des Sozialstaats, so etwa das Kurzarbeitergeld (Kug) als eine Leistung im Rahmen der Arbeitslosenversicherung (nach den §§ 95 ff. Sozialgesetzbuch Drittes Buch – SGB III)12. Durch die zeitliche Ausweitung der Möglichkeit des Bezugs von Kurzarbeitergeld vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 und 201013 haben viele Betriebe von Kündigungen ihrer Beschäftigten abgesehen und diese im Gegenteil noch weiter qualifiziert. Bei der ersten konjunkturellen Wiederbelebung konnten diese Beschäftigten unverzüglich wieder ihre Tätigkeit aufnehmen oder diese erhöhen und damit der Arbeitgeber sehr kurzfristig flexibel auf eine neu entstandene Auftragslage reagieren. Natürlich handelt es sich im Fall des Kurzarbeitergeldes nur um eines von vielen Beispielen, in denen Sozialleistungen zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung einen direkten Beitrag geleistet haben bzw. permanent leisten. Die Bedeutung des Phänomens des Einsatzes der Kurzarbeit wird auch anhand der Daten des Statistischen Bundesamtes deutlich: In der Krise stieg die Zahl der Kurzarbeiter deutlich von gut 100.000 im Jahresdurchschnitt 2008 auf 1,14 Mio. Kurzarbeiter im Jahresdurchschnitt 2009. Ein ähnliches Bild zeigt sich übrigens auch für das Jahr 1991 (nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten)14. Die von der Krise betroffenen Betriebe haben aufgrund des Konjunkturund Auftragseinbruchs in erheblichem Umfang auf das Instrument der Kurzarbeit zurückgegriffen. Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass im Gegensatz zu früheren Krisen in den Folgejahren 2010 und 2011 die Zahl der Arbeitslosengeldbezieher nach Auslaufen der Kurzarbeit nicht zusätzlich gestiegen ist. Da in der Vergangenheit stets eine gegenteilige Entwicklung (zunächst ___________ 12 Dabei handelt es sich um eine Geldleistung, die ein wegen eines erheblichen Arbeitsausfalls weggefallenes Arbeitsentgelt ersetzt (Entgeltersatzleistung). In diesem Fall leistet die Bundesagentur für Arbeit (Träger der Arbeitslosenversicherung) für bis zu 12 Monate grundsätzlich 60 % (ausnahmsweise 67 %) des Unterschiedsbetrags zwischen dem Nettoentgelt des Arbeitsnehmers ohne den Arbeitsausfall (Soll-Entgelt) und dem tatsächlich erzielten Nettoentgelt (Ist-Entgelt). Die Reduktion der Arbeitsleistung kann bis zu 100 % betragen. Zur Bedeutung des Kug für die Überwindung der Krise s. etwa Statistisches Bundesamt, Datenreport 2013 – Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, 2013, S. 126; s. auch Heise/Lierse, Haushaltskonsolidierung und das Europäische Sozialmodell, 2011, S. 11. 13 Vgl. dazu Gagel/Bieback, SGB III, § 95 Rn. 34h f. 14 s. auch Gagel/Bieback, SGB III, § 95 Rn. 2; Mai, Der Arbeitsmarkt im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise, in: Stat. Bundesamt (Hrsg.), Wirtschaft und Statistik 3/2010, S. 237 (241 ff.).
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Anstieg der Kurzarbeiterzahlen, dann Anstieg der Arbeitslosenzahlen) zu beobachten war, zeigt der aktuelle Verlauf, dass in der letzten Krise die Kurzarbeit und das Kurzarbeitergeld ihre Funktion tatsächlich wirksam erfüllt haben, nämlich für einen kurzen Zeitraum eine Überbrückung zu ermöglichen, nach der dann wieder eine (Vollzeit-)Beschäftigung möglich ist. In der Vergangenheit war die Kurzarbeit meist nur ein Übergangsstadium in die nachfolgende Arbeitslosigkeit. Der Grund für diese erstmals zu beobachtende Entwicklung liegt nicht in der Leistung des Kurzarbeitergelds selbst, auch wenn die Verlängerung des Bezugszeitraums dazu beigetragen haben mag. In jedem Fall hat das Kurzarbeitergeld erfolgreich an der Krise mitgewirkt.
IV. Die Krise als Anlass für eine kritische Analyse des Sozialsystems So sehr das Sozialleistungssystem ein stabilisierender Faktor in der Krise ist, so sehr stehen sämtliche Sozialleistungen gerade in der Krise unter Rechtfertigungsdruck. Die Krise bietet damit auch die Chance, überkommene Rechte und Privilegien kritisch zu überprüfen. Schließlich hat sich der Sozialstaat nicht aus sich selbst heraus entwickelt und finanziert sich auch nicht selbst. Eine der wesentlichen Bedingungen für die heutige Ausprägung war stets die Prosperität der Volkswirtschaft. Ohne einen schrittweisen wirtschaftlichen Erfolg einer Gesellschaft kann auch kein leistungsfähiges Sozialsystem aufgebaut und erhalten werden. Ein Sozialleistungssystem, wie es sich in Deutschland entwickelt hat, ist mit immens hohen finanziellen Aufwendungen verbunden, die ohne eine kraftvolle Volkswirtschaft nicht möglich erscheinen. Obwohl ein funktionierendes Sozialsystem zugleich selbst eigene Wirtschaftszweige wie vor allem den der Gesundheitswirtschaft (mit den Kernbereichen der stationären und ambulanten Krankenund Pflegebedürftigenversorgung sowie zusätzlich etwa der Pharmaindustrie, der Medizintechnik und der sonstigen Heilmittelversorgung) hervorbringt, können solche Wirtschaftszweige nur bei entsprechenden ökonomischen Rahmenbedingungen entstehen und fortexistieren. Insofern haben Wirtschaftskrisen zumindest das Potential, am Sozialsystem kräftig zu rütteln. Unser Sozialsystem bietet schon angesichts seines Ausmaßes auf den ersten Blick erhebliches Sparpotential. Dies lässt sich aufgrund der deutschen Entwicklung bei dem Bruttoinlandsprodukt und der Sozialleistungsquote zumindest vermuten. Immerhin beträgt der Anteil der Summe der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt seit Jahrzehnten ca. 30 %15. In absoluten Zahlen bedeutet das etwa für das Jahr 2010: Bei einem Bruttoinlandsprodukt von 2.496,20 Mrd. € ___________ 15
Vgl. Stat. Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2013, S. 219.
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betrug das Sozialbudget (Summe aller Sozialleistungen in Deutschland) etwa 765 Mrd. €. Daraus ergibt sich eine Sozialleistungsquote von 30,6 %. Allerdings hat der deutsche Gesetzgeber im Zuge der Wirtschaftskrise nur zu vergleichsweise geringen Änderungen gegriffen. So wurden einige Sozialleistungen, insbesondere im Grundsicherungsbereich, weiter reduziert. Beispielsweise werden seit dem 1.1.2011 Sozialleistungen wie das Kindergeld oder das Elterngeld bei Ansprüchen auf Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe angerechnet16. Im Bereich der Krankenversicherung hat sich der Gesetzgeber vor allem auf Ausgabenbegrenzungen konzentriert17. Insgesamt sollen mit allen Maßnahmen zusammen die Ausgaben bis 2014 um 80 Mrd. € (0,8 % des BIP) gesenkt werden. Im Unterschied zu den meisten anderen europäischen Staaten sind die Kürzungen beim Sozialetat vergleichsweise überschaubar. Gleichwohl stellt sich nach den Erfahrungen aus der Vergangenheit die Frage, ob Finanz- und Wirtschaftskrisen als Gefahr für das Erfolgsmodell des deutschen Sozialstaates angesehen werden können. Eine Antwort auf eine solche Frage sollte zwangsläufig differenziert ausfallen. Schließlich sind die meisten Zusammenhänge nicht nur monokausal zu erklären. Gleichwohl wird hier die folgende These vertreten: Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist keine Krise des Sozialstaats. Sie ist weder durch den Sozialstaat ausgelöst noch befördert worden. Anderes mag dagegen teilweise für die Staatsschuldenkrise gelten, die zahlreiche Staaten der EU seit etwa 2010 erfasst hat. So ist im Gefolge der Finanzkrise die seit Jahrzehnten extrem hohe Staatsverschuldung verstärkt ins Bewusstsein der Geldgeber und der Ratingagenturen geraten. Dies hat zu für einige Staaten teilweise beträchtlichen Zinssteigerungen und damit zu einer zusätzlichen Verschärfung der Finanznöte dieser Staaten geführt. Sicher hatten auch die staatlichen Sozialleistungen in vielen Fällen einen nicht geringen Anteil an der Entwicklung der Staatsverschuldung. Insofern sind – wie oben bereits angesprochen – entsprechende Krisen zugleich immer auch berechtigter Anlass für eine kritische Sicht auf das jeweilige Sozialleistungssystem und die Leistungen im Detail. Staatliche Leistungen haben durch die mit ihnen verbundenen Anreize stets auch Lenkungseffekte für das Verhalten der betroffenen Bürger. Ob das gewünschte Verhalten erreicht wird, ob es zu unerwünschten Mitnahmeeffekten kommt oder durch welche Feinjustierungen die avisierten Ziele besser zu erreichen sind, sollte – unabhängig von Krisenzeiten – stets Gegenstand einer Wirksamkeitsprüfung der normativen Steuerungen sein.
___________ 16
s. BeckOK Sozialrecht/Fahlbusch, SGB II, § 11 Rn. 7 ff. GKV-Finanzierungsgesetz v. 22.12.2010 (BGBl. I S. 2309); Gesetzentwurf v. 28.9.2010, BT-Drs. 17/3040. 17
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Dabei ist die Bevölkerung in der Krise eher bereit, auch Änderungen zu ihrem persönlichen Nachteil angesichts vorhandener oder angeblicher Sachzwänge hinzunehmen. Natürlich können solche Veränderungen auch außerhalb akuter Krisen umgesetzt werden; nur ist die Bereitschaft dazu in der Regel nicht vergleichbar. Ein deutliches Beispiel dafür sind die grundlegenden Reformen der Leistungen der Grundsicherung (und hier vor allem die Abschaffung der in der Höhe vom früheren Arbeitsentgelt abhängigen Arbeitslosenhilfe zugunsten des Arbeitslosengeldes II, das nur noch eine Grundsicherung mit Regelsätzen entsprechend denen der Sozialhilfe darstellt)18 durch die „rot-grüne Bundesregierung“ unter dem Programm „Agenda 2010“. Diesen Reformen zu Beginn des letzten Jahrzehnts wird heute ganz überwiegend ein wesentlicher Anteil an der positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zugesprochen. Gleichzeitig waren sie auch ein zentraler Grund für die Wahlniederlage der damaligen Bundesregierung bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005. Die positiven Effekte sind erst in den Jahren danach und auch gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise vollständig deutlich geworden. Im Ergebnis lässt sich daher folgendes festhalten: Krisen gefährden nicht den Sozialstaat, sie belegen im Gegenteil seine Leistungsfähigkeit bei der Krisenbewältigung. Gefährdet sind allenfalls einzelne, mitunter auch lieb gewordene Leistungen, die jedoch bei näherer Hinsicht keine stabilisierende Wirkung besitzen und deshalb bei fehlender Finanzkraft des Staates auch nicht aufrechterhalten werden sollten.
V. Herausforderungen der sozialen Sicherungssysteme jenseits von Wirtschaftskrisen Liegen die Gefahren für die Sozialsysteme weniger in Wirtschaftskrisen, soll doch nicht unerwähnt belieben, dass der Sozialstaat gleichwohl vor immensen Herausforderungen steht, für die keine Patentlösungen vorhanden sind. Zwei Hauptpunkte sind hier zu nennen: Zum einen bewirkt die schon länger existente, aber weiter fortschreitende Globalisierung einen anhaltenden Druck insbesondere auf die Personalkosten. Diese werden in nicht geringem Maße auch durch die Finanzierung der Sozialversicherung geprägt. Die zweite, noch größere Herausforderung ist die demographische Entwicklung in nahezu allen Industriestaaten, insbesondere in Deutschland. Die Geburtenraten (Fertilitätsraten) stagnieren in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre zwischen 1,3 und 1,4 Kinder pro Frau. ___________ 18 Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 24.12.2003 (BGBl. I 2954); Gesetzentwurf v. 1.10.2003, BT-Drs. 15/1638.
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Damit liegt die Geburtenrate zwar noch über der in der Republik Korea, die derzeit etwa 1,24 pro Frau beträgt19; ausreichend für eine dauerhafte Sicherstellung des Sozialversicherungssystems ist sie gleichwohl in keiner Weise. Die mit der geringen Geburtenrate einhergehende Gefahr einer gravierenden Überalterung der Gesellschaft hat extreme Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme, insbesondere auf die Sozialversicherungen. Gerade in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sind angesichts der gleichzeitig steigenden Lebenserwartung weitere Kostensteigerungen unvermeidlich; dazu trägt im Bereich der Krankenversicherung zusätzlich auch noch der medizinischtechnische Fortschritt bei. Da die Leistungen der Sozialversicherung wesentlich durch Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber (im Grundsatz je zur Hälfte) getragen werden, führen Kostensteigerungen bei gleichzeitiger Verringerung der Zahl der Beitragszahler zwangsläufig zu steigenden Beitragssätzen oder zu extremen staatlichen Zuschüssen, die durch Steuereinnahmen zu finanzieren wären. Steigende Beitragssätze hätten wiederum unmittelbar Auswirkungen auf die Kosten von Waren und Dienstleistungen. Damit wären wiederum weitere Anreize für eine Verlagerung personalintensiver Bereiche in Länder mit niedrigeren Lohn- und Lohnnebenkosten gesetzt. Die gesamte Entwicklung führt in eine für die sozialen Sicherungssysteme gefährliche Spirale der Verringerung der Beschäftigtenzahl und weiter steigender Beitragssätze. Eine weitere Gefahr für den Sozialstaat resultiert aus der aus demographischen Gründen sinkenden Zahl von potentiellen Beschäftigten, unter der die Gesamtwirtschaftsleistung zumindest mittelfristig leiden wird. Welche Ansätze für eine Lösung der damit umschriebenen Probleme mit Aussicht auf Erfolg zu verfolgen sind, ist eine umstrittene Frage, deren Beantwortung nicht selten auch von ideologischen Vorstellungen beeinflusst wird. Zu unterscheiden sind Ansätze zur Erhöhung der Einnahmenseite von denen der Reduzierung der Ausgaben. Beide Perspektiven wird der Gesetzgeber bei der Reform der Sozialversicherung im Auge behalten müssen. Einfluss auf die Einnahmenseite haben zunächst einmal Erhöhungen der Beitragssätze und der Beitragsbemessungsgrenzen. Beide Mittel lassen sich angesichts der damit verbundenen Lohnnebenkostensteigerungen nur sehr vorsichtig anwenden. Daher sind vor allem Maßnahmen zu prüfen, bei denen entsprechende Effekte nicht oder nicht in gleichem Umfang auftreten. Hier sind zum einen lang und mittelfristig wirkende Maßnahmen der Erhöhung der Zahl der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen zu nennen. Dies ist eine der Zielset___________ 19 Quelle: CIA, The World Factbook, Country Comparison: Total Fertility Rate (https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/rankorder/2127rank.html – letzter Zugriff: 15.2.2014).
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zungen der Familienpolitik, die u. a. auf eine Erhöhung der Geburtenraten einzuwirken versucht. Weitere Schritte zu einer familienfreundlicheren Arbeitswelt sind unerlässlich. Weiter sind die Maßnahmen zur Steigerung der Zuwanderung, insbesondere von besonders qualifizierten Arbeitskräften, zu effektuieren. Auch hier handelt es sich aber keineswegs allein oder vorwiegend um Schritte des Gesetzgebers. Vor allem bedarf es einer anderen Willkommenskultur durch die Gesellschaft. Schließlich ist die vorhandene Beschäftigungsreserve zu mobilisieren: Hier sind vor allem Frauen zu nennen, die aus dem Erwerbsleben etwa aus familiären Gründen ausgeschieden sind. Entsprechendes gilt für Menschen mit Behinderungen, deren Fähigkeiten sich der Arbeitsmarkt bisher wenig bis gar nicht zunutze macht. Auch ist stets zu versuchen, die Zahl der Beschäftigten durch gezielte Qualifizierungsmaßnahmen von Geringqualifizierten oder Arbeitslosen zu erhöhen. Auch wenn mit keiner dieser Maßnahmen das Problem der mittel- oder zumindest langfristig zu geringen Zahl an beschäftigungsfähigen Personen allein zu lösen ist, kann durch alle zusammen in der Summe eine spürbare Entlastung in diesem Problemfeld erreicht werden. Bei näherer Hinsicht zeigt sich aber vor allem, dass in nahezu allen Bereichen der Staat allein mit dieser Aufgabe überfordert ist; dies gilt teilweise auch für die jeweiligen Arbeitgeber, die sich allerdings durchaus ihrer Chancen und Möglichkeiten bewusst werden müssen. Im Ergebnis sind die Maßnahmen aber als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Um die Einnahmenseite in der Sozialversicherung zu verbessern, kann der Gesetzgeber durch Änderungen der Bestimmungen über die Versicherungspflicht ebenfalls eingreifen. Hier geht es um die Erweiterung des versicherungspflichtigen Personenkreises. Ein Bereich, den es dringend zu reformieren gilt, stellen hier die geringfügig Beschäftigten dar, selbst wenn dadurch keine wesentliche Verbesserung der Einnahmenseite zu erreichen sein dürfte. Für diese Beschäftigten besteht noch immer regelmäßig Sozialversicherungsfreiheit; Ausnahmen bilden nur die gesetzliche Unfallversicherung sowie – ansatzweise – die gesetzliche Rentenversicherung20. Diese weltweit nahezu einmalige Regelung schließt einen beachtlichen Teil der Bevölkerung vom Schutz der Sozialversicherung praktisch aus; immerhin beträgt die Zahl der geringfügig Beschäftigten in Deutschland seit Jahren konstant etwa 7,5 Mio. Menschen. Darunter befinden ___________ 20 Für die Rentenversicherung gilt bei geringfügig entlohnten Beschäftigungen seit dem 1.1.2013, dass der Beschäftigte nicht mehr ipso iure versicherungsfrei ist, sondern nur auf Antrag hin befreit wird (§ 6 Abs. 1 b SGB VI – Wechsel vom „opt-in“ zum „optout“). Diese Änderung hat nach den Quartalsberichten I und II/2013 der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft/Bahn/See (Minijob-Zentrale) allerdings immerhin zu einem deutlichen Anstieg der versicherungspflichtig Beschäftigten (über 20 %) geführt.
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sich 4,8 Mio., die ausschließlich einen Mini-Job ausüben. Auf dem 68. Deutschen Juristentag 2010 war die Privilegierung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse im Kontext des Themas „Abschied vom Normalarbeitsverhältnis? Welche arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen empfehlen sich im Hinblick auf die Zunahme neuer Beschäftigungsformen und die wachsende Diskontinuität von Erwerbsbiographien?“ Gegenstand von Beratungen. Dabei wurde etwa das Vorhaben des Gesetzgebers, die Entgeltgeringfügigkeitsgrenze anzuheben, mit 304 zu 4 zu 8 Stimmen als nicht sachgerecht abgelehnt21. Der Gesetzgeber hat sich davon gleichwohl nicht beirren lassen und zum 1.1.2013 die Entgeltgrenze eines geringfügig entlohnten Beschäftigten von 400 € auf 450 € angehoben22. Die Zahl der nicht versicherungspflichtig Beschäftigten wird damit in den kommenden Jahren weiter steigen. Neben dem Segment der geringfügig entlohnten Beschäftigten existiert auch auf der anderen Seite eine Gruppe von Beschäftigten, die Arbeitsentgelt jenseits der sogenannten Versicherungspflichtgrenze erzielen und deshalb in den Zweigen der Kranken- und Pflegeversicherung keiner Versicherungspflicht unterliegen (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § 20 Abs. 1 S. 1 SGB XI). Auch hier besteht, jedenfalls im Grundsatz, weiteres Potential, den Kreis der Versicherten und damit der Beitragszahler zu vergrößern. Die derzeit noch im Amt befindliche Bundesregierung hat allerdings gleich zu Beginn ihrer Amtszeit eine Regelung des SGB V aufgehoben23, nach der das Überschreiten der Versicherungspflichtgrenze erst nach Ablauf von drei Kalenderjahren zur Versicherungsfreiheit geführt hat, die von der Vorgängerregierung erst 200724 eingeführt worden war. Ein Hebel „auf der anderen Seite“ ist die Senkung der Ausgaben der sozialen Sicherungssysteme. Insofern soll hier nur knapp auf die beiden Bereiche der Renten- und der Krankenversicherung eingegangen werden. In der gesetzlichen Rentenversicherung sind aus der Vergangenheit vor allem die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sowie die Absenkung der Rentenleistungen (durch die Aufnahme des sog. Nachhaltigkeitsfaktors in die Berechnung des aktuellen Rentenwerts gem. § 68 SGB VI) zu nennen. Letztere ist insbesondere mit Anreizen zur privaten Vorsorge flankiert worden (vor allem sog. Riesterrente). Dieser Weg zur Stärkung der Eigenverantwortung wird schrittweise weiter verfolgt werden müssen, wenn das System einer gesetzlichen Rente auf der Grundlage der im ___________ 21 Beschluss I 2 a (http://www.djt.de/fileadmin/downloads/68/68_djt_beschluesse.pdf – letzter Zugriff: 15.2.2014). 22 Gesetz zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung v. 5.12.2012 (BGBl. I 2474; Gesetzentwurf v. 25.9.2012 – BT-Drs. 17/10773. 23 s. Art. 1 Nr. 2 GKV-FinG v. 22.12.2010 (BGBl. I 2309). 24 Art. 1 Nr. 3 GKV-WSG v. 26.3.2007 (BGBl I 378).
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Erwerbsleben erworbenen und eigentumsrechtlich geschützten Rentenanwartschaften nicht aufgegeben werden soll25. Bedenklich erscheinen dagegen alle Versuche der Leistungsbegrenzung oder -senkung im Kontext von Teilhabeleistungen, also aller Maßnahmen, die dazu dienen, den Betroffenen im Fall einer Erwerbsminderung durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 16 SGB VI i.V.m. §§ 33 – 38 SGB IX, wie etwa eine berufliche Aus- und Weiterbildung) wieder in eine Beschäftigung zu bringen. Im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung stellt die Begrenzung der Ausgabenseite gleichfalls ein Hauptanliegen dar. Hier bedarf es allerdings eines Zusammenwirkens mit den Leistungserbringern, wie etwa den Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken, der Pharmaindustrie und den Hilfsmittelherstellern. Insoweit besteht eine durchaus andere Situation als in der gesetzlichen Rentenversicherung, auf die der Gesetzgeber allein Einfluss nehmen kann. Neben der Sicherung der Funktionsfähigkeit der beitragsfinanzierten Sozialversicherung muss der Staat selbstverständlich auch die Kosten in den übrigen Systemen der sozialen Sicherheit, insbesondere im Feld der Sozialhilfeleistungen, im Auge behalten. Wie oben bereits erwähnt, ist es in der Vergangenheit hier mitunter zu Fehlanreizen gekommen, die dem Weg, der Abhängigkeit von Sozialleistungen durch eigenes Erwerbseinkommen zu entkommen, entgegenstanden. Im Sektor der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (SGB II) kommt es vor allem auf eine effiziente aktive Arbeitsförderung an. Selbst wenn man diese Leistungen nur unter dem ökonomischen Gesichtspunkt betrachtet, rentiert sich ein hier verursachter finanzieller Aufwand in jedem Fall, in dem ein dauerhafter Wiedereintritt in eine Beschäftigung gelingt.
VI. Verfassungsrechtliche Grenzen für Reformen der sozialen Sicherungssysteme Die vorausgehend genannten möglichen Wege für Reformen werfen sowohl in der Sozialversicherung als auch für die Sozialhilfe die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen auf. 1. Rentenversicherung und Eigentumsschutz Alle Änderungen beim Leistungsumfang der gesetzlichen Rentenversicherung als Mittel der Sicherung des Fortbestandes der Sozialversicherung durch ___________ 25 Die aktuellen Bestrebungen der Bundesregierung zur Einführung einer abschlagsfreien Rente mit 63 bei langjähriger Versicherung blenden diese Notwendigkeit aus.
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Bekämpfung der Auswirkungen des demographischen Wandels haben stets in Rechnung zu stellen, dass Rentenansprüche und Anwartschaften auf Rentenansprüche einen eigentumsrechtlichen Schutz genießen26. Aus diesem Grund sind Änderungen an diesem System stets mit erheblichen Übergangsfristen verbunden. Allein die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre erfolgte durch das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007 (BGBl. I 554) mit einem Vorlauf von fast fünf Jahren, bis der erste Betroffene aus dem Geburtsjahr 1947 im Jahr 2012 eine Erhöhung des Renteneintrittsalters von einem Monat (65 Jahre und ein Monat) hinzunehmen hatte. Insgesamt dauert die vollständige Umsetzung der Änderung durch die jahrgangsweise steigende Anhebung bis zum Jahr 2030. Vergleichbares gilt auch für die Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors in die Berechnung des aktuellen Rentenwerts (gem. § 68 Abs. 4 SGB VI) durch das RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom 21.7.2004 (BGBl. I 1791), um die Finanzierbarkeit des Rentensystems „nachhaltig“ zu sichern. Dieser Faktor bewirkt, dass die Höhe der Rentenanpassungen vom Verhältnis der jeweiligen Zahl der Rentner zur Zahl der Beitragszahler abhängig gemacht wird. 2. Erweiterung des versicherungspflichtigen Personenkreises in der Krankenversicherung Gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Erstreckung der Versicherungspflicht auf geringfügig entlohnte Beschäftigte lassen sich keine verfassungsrechtlichen, insbesondere keine grundrechtlichen Bedenken vorbringen. Genau in gleicher Weise wie die Versicherungspflicht für andere Versicherte zu rechtfertigen ist, kann dies auch für geringfügig Beschäftigte erfolgen. Im Gegenteil bereitet eher der Ausschluss von der Versicherungspflicht angesichts der in praxi nicht durchgehend zutreffenden Annahme, diese Personen verfügten aus anderen Gründen über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz, und angesichts des fälligen Pauschalbeitrags nach § 249 b SGB V in Höhe von grundsätzlich 13 % ohne gleichzeitigen Versicherungsschutz einige Mühe in der Rechtfertigung27. Ganz anders sieht dies freilich für die Möglichkeit einer Erweiterung der Versicherungspflicht auf andere Personenkreise bis hin zu einer allgemeinen Bürgerversicherung aus. Im Kontext der Diskussion über diesen Vorschlag ent___________ 26 Baumeister, Neuer Verfassungsverstoß im Recht der offenen Vermögensfragen, AöR 128 (2003), 255 (266 ff.); Schenke, Sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und das Eigentumsgrundrecht, in: Wandt u.a. (Hrsg.), Festschrift für Egon Lorenz, 2004, S. 715 ff.; Steinmeyer, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen und Grenzen für Reformen des Sozialsystems im Zeitalter der Globalisierung, NZS 2012, 721 (725). 27 Krit. auch Waltermann, Mini-Jobs – ausweiten oder abschaffen?, NJW 2013, 118.
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brannte eine heftige Debatte über die verfassungsrechtlichen Grenzen einer solchen Änderung. Je nach konkreter Ausgestaltung werden grundrechtliche, kompetenzrechtliche und auch finanzverfassungsrechtliche Fragestellungen und Bedenken aufgeworfen28. Ohne hier eine eigene abschließende Stellungnahme abgeben zu können, zeigt sich an dieser Diskussion wie auch an der zum Eigentumsschutz in der Rentenversicherung, dass ein Umbau einer Sozialversicherung mit teilweise erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Obwohl die Verfassung grundsätzlich jede Option lässt, in welcher Weise der Gesetzgeber für eine Sicherung im Hinblick auf die Risiken des Lebens vorsorgt, hat sich der Spielraum für eine Richtungsänderung angesichts des bestehenden ausdifferenzierten Systems deutlich verkleinert. Unabhängig davon wäre es aber nach hier vertretener Überzeugung grundsätzlich zulässig, den Kreis der versicherungspflichtigen Personen in der Krankenversicherung deutlich zu erhöhen, indem die Versicherungspflichtgrenze komplett gestrichen wird. Angesichts der bestehenden Rechte der Privatversicherungsunternehmen und der privat Versicherten wird dies nur für diejenigen möglich sein, die bisher schon gesetzlich versichert waren oder erstmalig eine Beschäftigung aufnehmen. Gleichwohl ist ein System, in dem für alle Personen, die dem deutschen Sozialversicherungsrecht unterfallen, eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung möglich. Auch in der gesetzlichen Rentenversicherung existiert keine Versicherungspflichtgrenze; die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Regelung ist anerkannt. Eine allgemeine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung erscheint unter dem Blickwinkel des Solidaritätsgedankens auch deutlich naheliegender als die Rechtfertigung für die Ausnahme in Fällen der Überschreitung der Versicherungspflichtgrenze, die damit begründet wird, in diesen Fällen sei der Beschäftigte selbst in der Lage, mit eigenen Mitteln für seinen Versicherungsschutz zu sorgen, so dass es an einem sozialen Schutzbedürfnis fehle29. ___________ 28
s. zur Diskussion um die „Bürgerversicherung“ etwa Axer, Verfassungsrechtliche Fragen der Bürgerversicherung, in: Gedächtnisschrift für Heinze, 2005, 1; Bieback, Sozial- und verfassungsrechtliche Aspekte der Bürgerversicherung, 2005; Isensee, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, 393; F. Kirchhof, Verfassungsrechtliche Probleme einer umfassenden Kranken- und Renten-„Bürgerversicherung“, NZS 2004, 1; Lenze, Staatsbürgerversicherung und Verfassung, 2005; dies./Zuleeg, Europa- und verfassungsrechtliche Aspekte der Neugestaltung der sozialen Sicherung, NZS 2006, 456; R. P. Schenke, Reform der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen Verfassungs- und Europarecht; Die Verwaltung 2004, 475; ders., Der Wettbewerbsgedanke im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung aus Sicht des Verfassungs- und Europarechts, WiVerw 2006, 34; Sodan, Die „Bürgerversicherung“ als Bürgerzwangsversicherung, ZRP 2004, 217; Storr, „Bürgerversicherung“ im Koordinatensystem der Verfassung, NZS 2004, 279; Weselski, Modelle der Parteien zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, jurisPK-SozR 29/2005 Anm. 4. 29 Felix, in: jurisPK-SGB V, 2. Aufl., 2012, § 6 Rn. 11.
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3. Absenkung sozialhilferechtlicher Leistungen Im Gegensatz zu den Möglichkeiten von Korrekturen im Sozialversicherungsrecht dürfte der Spielraum für Änderungen im Sozialhilferecht inzwischen nahezu ausgeschöpft sein. Als verfassungsrechtliche Grenze fungiert hier vor allem der aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip abzuleitende Anspruch auf ein Existenzminimum. Dieser Anspruch „sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“30. Mit der 2003 vorgenommenen Umstellung der Arbeitslosenhilfe auf das Arbeitslosengeld II ist der Gesetzgeber auch im Hinblick auf die Höhe der Leistungen bereits an die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen gegangen. Im Ergebnis bleiben hier allenfalls kleinere Randkorrekturen, wie sie etwa auch mit Wirkung vom 1.1.2011 hinsichtlich der Anrechnung anderer Sozialleistungen vorgenommen wurden. Nennenswertes Einsparpotential ist damit im Bereich der Sozialhilfe nicht mehr vorhanden.
VII. Ergebnis Soziale Sicherungssysteme tragen, so sie funktionsfähig sind, in erheblichem Maße zu einem gedeihlichen Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft bei und sind zugleich auch einer der zentralen Erfolgsfaktoren für eine prosperierende Volkswirtschaft. Ihre stabilisierende Kraft für Staat und Gesellschaft kann kaum überschätzt werden. Entsprechend bilden die sozialstaatlichen Errungenschaften in Deutschland, deren Grundlagen schon im 19. Jahrhundert gelegt wurden, trotz vielfältiger unterschiedlicher politischer Bewertung einen beachtlichen Teil der (wirtschaftlichen und sozialen) Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Diese Grundlagen des Sozialstaates waren zu keinem Zeitpunkt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise in Gefahr. Im Gegenteil hatten einzelne sozialstaatliche Mittel, wie etwa die Entgeltersatzleistungen der Arbeitslosenversicherung, wesentlichen Anteil an der Bewältigung der Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Existentielle Herausforderungen an den Sozialstaat und seine zentralen Eckpfeiler der sozialen Sicherung werden demgegenüber vor allem durch die demographische Entwicklung ausgelöst. Hierauf müssen Staat und Gesellschaft noch mehr als bisher ihr Augenmerk richten. Notwendige Anpassungen innerhalb des bestehenden Systems sind dabei Radikallösungen vorzuziehen. Die bisher ein___________ 30 BVerfG, Urt. vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, BVerfGE 125, 175 LS 1.
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geleiteten Schritte (Nachhaltigkeitsfaktor und Anhebung des Renteneintrittsalters) sind unter Berücksichtigung der weiteren Bevölkerungsentwicklung – entgegen der aktuellen Vorhaben der Bundesregierung – konsequent fortzusetzen. Weitere Maßnahmen zur Steigerung der Bereitschaft zu privater Vorsorge sind notwendig. Soll das zunehmende Problem der Renten unterhalb des Existenzminimums nicht auf die Sozialhilfe abgewälzt werden, müssen verstärkt Möglichkeiten zu privater Vorsorge auch für Menschen mit geringem Einkommen geschaffen werden. In den Bereichen der gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung spricht viel für eine Erweiterung des versicherungspflichtigen Personenkreises. Dazu zählt nicht nur die dringend notwendige Einführung der Versicherungspflicht auch der geringfügig Beschäftigten. Die derzeitige Politik der Ausweichmöglichkeit der „guten Risiken“ mit hohem Einkommen auf die private Krankenversicherung steht nicht nur einer dauerhaften Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern auch dem Solidaritätsgedanken des Sozialversicherungsrechts entgegen.
Sozialstaatliche Streitpunkte hinsichtlich der Finanzund Wirtschaftskrise in Korea Von Hyun-Ho Kang
I. Einleitung Wir leben in einer Gesellschaft mit zahlreichen Risiken. Diese Risikogesellschaft, wie sie von Ulrich Beck bezeichnet wird1, ist entstanden durch die Umstellung der Gesellschaft von einer vormodernen Agrargesellschaft zur neueren Industriegesellschaft. In der modernen Industriegesellschaft fürchten sich die Bürger vor den zufälligen und unbekannten Risiken und auch vor dem Potential der Selbstzerstörung der modernen Technik.2 Zu den aus Natur und Technik resultierenden Risiken treten solche des globalen Finanz- und Wirtschaftssystems mit den daraus resultierenden Konsequenzen für den Arbeitsmarkt und die persönliche finanzielle Situation hinzu. Der Begriff der Finanzkrise bzw. Wirtschaftskrise schließt eine rapide Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, eine Kreditkrise, eine schnelle Inflation, Wechselkursschwankungen von Fremdwährungen, eine schlagartige plötzliche Strömung des Kapitals oder eine Verschlechterung von verschiedenen Finanzinstitutionen ein. Honkapohja sagt, dass die Kernbereiche der Finanzkrise in drei Bereiche, nämlich Bankenkrise, Spekulationsblasen und Währungskrisen, eingeteilt werden können.3 Historisch gesehen ereigneten sich in der kapitalistischen freien Marktwirtschaft die Finanz- oder Wirtschaftskrisen immer wieder. Insbesondere die jüngste Finanzkrise bzw. die nachfolgende Wirtschaftskrise ist Ende des Jahres 2007 durch die Verwirklichung von Risiken im Bereich des Finanzsektors entstanden. So ist das Finanzsystem der Vereinigten Staaten zusammengebrochen. Diese Krise wurde oft als Subprime-Hypothekenkredit-Krise (englisch: ___________ 1 Eun, Sungpyo, Schadensersatz in der soziologischen Sicht – Vom Sozialstaat zum Sicherheitsstaat, Public Land Law Review Vol. 19 (2003), S. 57 f. 2 Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, S. 25. 3 Seppo Honkapohja, Member of the Board, Bank of Finland, http://www.actuaries.org/ASTIN/Colloquia/Helsinki/Presentations/Honkapohja.pdf.
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Subprime Mortgage)4 bezeichnet. Die Hypothekenkredite und die daraus abgeleiteten Sicherheitswertpapiere verloren ihre Bonität, was zahlreiche Finanzinstitute, wie etwa Lehman Brothers, AIG5, Fannie Mae6 und Freddie Mac, in eine Schieflage brachte. Die allzu großzügige Gewährung von Hypothekenkrediten verursachte nur solange kein Problem, wie die Immobilienpreise immer weiter stiegen. Als aber seit 2006 die Immobilienpreise gefallen sind und viele Kreditnehmer nicht mehr zahlungsfähig waren, brach das System zusammen. In den Vereinigten Staaten wurden Derivate auf die Subprime-Hypothekenkredite geschaffen und in die ganze Welt verkauft, wodurch sich die Banken eine hohe Umsatzrendite verschafften. Danach begann die Ausfallquote von Kreditnehmern zu steigen und die Asset-Backed Securities (ABS) und andere Derivate brachten erhebliche Defizite. Im September 2008 wurden Fannie Mae, Freddie Mac und auch die globale Investmentbank Lehman Brothers insolvent. AIG, das führende Unternehmen der US-Versicherungswirtschaft, meldete im letzten Quartal des Jahres 2008 mit 61,7 Mrd. US-Dollar den weltweit jemals eingetretenen höchsten Verlust eines Unternehmens. Anschließend trat eine globale Kreditklemme ein. Wegen der Einflüsse der finanziellen Krise in den USA beantragten auch Pakistan, Ukraine, Ungarn und andere Länder Rettungspakete beim Internationalen Währungsfonds. Die Instabilität der Finanzmärkte übte einen großen Einfluss auf die Realwirtschaft aus, und in Folge der Finanzkrise entstanden Kreditklemme, verschlechterte Konsumentenstimmung, Unternehmensinsolvenzen und Arbeitslosigkeit. Durch den Anstieg der Kreditzinsen erhöhte sich die Zinslast im großen Maße, Immobilienpreise und Aktienkurse fielen schlagartig, wodurch wiederum Investitionen und die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt stark schrumpften.
II. Wirtschaftskrisen in Korea 1. Bemerkenswerte Krisen in Korea Wenn man bemerkenswerte Krisen in Korea nennen will, kann man natürlich mit dem Koreakrieg im Jahre 1950 beginnen, aber m.E. greift dies zu weit zurück. Daher werde ich mit der Krise Ende der 1970er Jahre beginnen. In Korea gab es seit dieser Zeit drei Wirtschaftskrisen, nämlich 1978 die Ölkrise, 1997 die IWF- (oder IMF-)Krise und auch 2008 die Finanzkrise.
___________ 4 Die Subprime-Hypothekenkredite sind Hypotheken, die die Einkommensschwachen und die niedrigen Kreditwerteinhaber beim Wohnungskauf aufnehmen. 5 AIG: American International Group. 6 FNMA (Federal National Mortgage Association).
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Im Jahr 1973 brach der vierte Nahost-Krieg zwischen Ägypten und Israel aus und die OPEC verhängte Öl-Lieferstopps gegen Israel und USA. Später kam auch noch die Revolution im Iran hinzu (1979), in deren Folge der Iran seinen Ölexport einstellte. Der daraus resultierende Ölpreisanstieg betrug zwischen 24,3% und 28,7%. Die Ölkrise führte zu zahlreichen Insolvenzen von Unternehmen in Korea. 1997 brach die sogenannte IWF-Krise aus. Sie stellte eine Folge der AsienFinanzkrise, beginnend mit Thailand, dar. Wegen des freien Kapitalverkehrs und auch des unbefriedigenden Finanzaufsichtssystems entstand ein dramatischer Abfluss des Kapitals in einem kurzen Zeitraum.7 Wegen des Abflusses der fremden Währung, insbesondere des Dollar, konnte Korea keinen Handel mehr mit anderen Ländern treiben. In der Realität war die wahre Ursache der IWF-Krise jedoch auf die alten koreanischen Traditionen, nämlich Mangel an Transparenz, fairer Konkurrenz, rationalen Entscheidungen und flexiblem Arbeitsmarkt zurückzuführen.8 Im Jahre 2008 brach die Weltfinanzkrise, ausgehend von den USA, über die ganze Welt aus. Wie oben dargestellt hatten viele Staaten der Erde den gewaltigen Einfluss der amerikanischen desolaten Subprime-Hypothekenkredite zu verkraften. 2. Merkmale der koreanischen Krise Die Finanz- oder Wirtschaftskrise brach in Korea wegen der weltweiten Einflüsse aus. Darum war es sehr schwer für Korea, sich auf diese Krise vorzubereiten und die Krise aus eigener Kraft zu bewältigen. Ölkrise und Subprime-Hypothekenkredit-Krise kamen von Nahost oder von den USA. Diese Krisen kamen unerwartet und übten einen großen Einfluss auf die koreanische Wirtschaft aus. Deswegen ist dieser Einfluss als „Außeneffekt“ zu bezeichnen. a) Schwere Überwindbarkeit aus eigener Kraft Die Wirtschaftskrise ist nicht überwindbar mit der Kraft eines kleinen Landes wie Korea und überschreitet die Bewältigungsfähigkeit dieses Landes. Der große Umfang der Finanzkrise weist einen engen Zusammenhang mit der globalisierten Weltwirtschaft auf der Basis der WTO auf. Finanzinstitute und Unternehmen sind derart netzwerkartig verbunden, dass Krisen sofort weltweite Auswirkungen ___________ 7 Lee, Gyusun, Vergleich von Maßnahmen zur Überwindung der Kapitalkrise: konzentrierend auf Korea und Malaysia, Industrie Bank Wirtschaftsinstitute. 8 Song, Daehee et. al., Studie über IMF Wirtschaftskrise und Änderung von Wirtschaftseinsicht der Bürger, 2001.3., S. 9.
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hervorrufen. Entsprechend ist auch die Finanzkrise von den USA auf Europa und hier vor allem auf die sogenannte „PIGS“ (Portugal, Island, Griechenland und Spanien) übertragen worden.9 Die Bürger, die von dieser Krise betroffen sind, leiden unter Arbeitslosigkeit oder Insolvenz. Bei der IWF-Krise konnte Korea selbst wenig tun, weil die Fremdwährungen, insbesondere der Dollar, plötzlich in außerordentlichem Umfang abgeflossen sind. b) Unzureichendes Überwachungssystem des Finanzbereichs Obwohl die Ursachen der Finanzkrise im Ausland ihren Ursprung haben, muss auch Korea angemessene Maßnahmen gegen solche Krise vorbereiten. Je stärker die Finanzkrise in Korea auf externe Ursachen zurückzuführen ist, desto mehr sollte versucht werden, Maßnahmen zur Abwehr solcher Krisen zu entwickeln. Hätte die koreanische Regierung frühzeitig ein passendes Aufsichtssystem über den Kapitalverkehr und insbesondere den Fremdwährungsverkehr vorbereitet, dann hätte sie die IWF-Krise weitgehend verhindern können. Die Finanz- oder Wirtschaftskrise 2008 wegen der Subprime-Hypothekenkredite, ausgehend von den USA, war eng verbunden mit komplexen DerivateHandels-Techniken; darum war es sehr schwierig, die Ursache der Krise und das Resultat genau zu diagnostizieren. Nach Ian Shapiro war der Zusammenbruch der derivativen Märkte und der forderungsbesicherten Wertpapiere auch von den Konstrukteuren des Systems selbst nicht vollständig verstanden worden.10 Mit der Entwicklung der Berechnungstechnik durch Computer werden die Finanzsysteme immer noch komplizierter und unverständlicher. Notwendig ist die vermehrte Ausbildung von Finanzexperten, damit diese bei entsprechenden Problemen frühzeitig Warnungen aussprechen können. 3. Einfluss der Finanzkrise auf die koreanischen Bürger Die Finanz- und Wirtschaftskrise verursacht verschiedene Probleme nicht nur im Bereich des Finanzsektors, sondern auch in allen übrigen Bereichen einschließlich des Gesetzessektors. Im Fall einer Insolvenz eines eigentlich gesunden Unternehmens verlieren viele Beschäftigte ihre Arbeitsstelle. Der Verlust ___________ 9 Weber, Albrecht, Die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion in der Finanzkrise, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2011, S. 936; Häde, Ulrich, Die europäische Währungsunion in der internationalen Finanzkrise – An den Grenzen europäischer Solidarität?, EuR 2010, S. 859. 10 Shapiro, Ian/Jung, Seongwon (Übersetzer), Sozialwissenschaft und Finanzkrise, Journal of Political Criticism 8, 2011, S. 14.
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des Arbeitsplatzes ist häufig mit wirtschaftlicher Not verbunden.11 Das Leben der Bürger verkümmert. Die Arbeitslosigkeit bedeutet für den Betroffenen nicht nur einen Verlust der Arbeitsstelle, sondern mitunter auch den Verlust des Lebenssinns und auch der Daseinsbedeutung. Wegen der Finanzkrise entstehen neben der steigenden Arbeitslosigkeit zusätzliche Probleme wie soziale Unruhen, Zunahme der Scheidungsrate, Anstieg von Kriminalität und schlimme Umweltzerstörung usw. Eine Finanz- und Wirtschaftskrise verschlechtert die Lage der Bürger auch im Hinblick auf ihre grundrechtliche Situation; Menschenwürde, Handlungsfreiheit, das Recht auf Glück, Wohnungsfreiheit, Gewerbefreiheit usw. können nicht mehr angemessen ausgeübt werden. Gerade die leistungsrechtlichen Inhalte der Grundrechte, die neben den abwehrrechtlichen (negativen) eine wichtige Funktion der Grundrechte darstellen, sind in der Finanzkrise besonderen Belastungen ausgesetzt. Das Leben der Bürger hängt in dieser Situation noch stärker von der staatlichen Leistung ab. Gerade in der Notsituation wird aber die staatliche Leistung geringer, da auch der Staat in finanzielle Bedrängnis gerät. Die Finanzkrise verwandelt Art und Qualität der Arbeitsstelle und beschädigt die Sicherheit der Arbeitsplätze sehr stark. Nach Lee stieg der Anteil der befristet angestellten Arbeiter von 45,7% im Jahre 1997 auf 52,1% im Jahre 2000 und weiter auf 52,3% im Jahre 2008.12 Durch die Wirtschaftskrise kann die verfassungsrechtliche Wirtschaftsordnung von der sozialen Marktwirtschaftsordnung zu der planerischen sozialistischen Wirtschaftsordnung verwandelt werden. Durch diese Verwandlung wird die Wirtschaft Koreas ihre Dynamik und Originalität verlieren und allmählich abgekühlt. Durch die Finanzkrise erhöhten sich die sozialen Gefahren und die Umweltverschmutzung. Die Wirtschaftskrise verursacht polizeiliche Gefahren in der Gesellschaft und beschädigt den öffentlichen Frieden und die gesunde Ordnung. Nach Kim hat die IWF-Krise 1997 zu einer Steigerung der Verbrechen, zu sozialen Problemen und einem Anstieg der Selbsttötungen geführt.13 Wegen der wirtschaftlichen Krise sinken die Unternehmensgewinne; dadurch verkleinert sich der Spielraum der Unternehmen für den Umweltschutz. Die Unternehmen verschieben Investitionen für den Umweltschutz und verbergen etwa Abfälle auf dem Gelände der Fabrik.
___________ 11 Huh, Changuk, et. al., Einflüsse der globalen Finanzkrise und deren Gegenmaßnahmen, Policy Research 2009-2, Korea Economic Research Institut, S. 23 ff. 12 Noh, Sanghun, Finanzkrise in Korea und die Rolle des Arbeitsrechts, Blatt der Rechtswissenschaft 20-1 (2010), S. 482 f. 13 Kim, Migon, Armut der koreanischen Gesellschaft und Reformmaßnahmen, Demokratische Gesellschaft und Politik 2006, S. 72.
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III. Sozialstaat in Korea 1. Verständnis des Sozialstaates Am Anfang stand der bürgerliche Rechtsstaat mit der Zielrichtung der Freiheit vom Staat und von seiner Gewalt. Im Gefolge der industriellen Revolution wurden die Freiheiten der Bürger jedoch von anderer Seite aus bedroht. Die zunehmende ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen unter den Bürgern und die Entstehung einer Arbeiterklasse sind nur Beispiele dafür. Um diese Probleme zu lösen, verbreitete sich die Idee des Sozialstaates.14 Das Hauptziel des Sozialstaates ist die Garantie des menschenwürdigen Lebens jedes Bürgers. Der Sozialstaat zielt auf soziale Gerechtigkeit und schützt die sozial Schwachen. In diesem Sinne ist der Sozialstaat eine Antwort aus der Geschichte des Ringens um die Bewältigung der gesellschaftlichen Probleme, die nach der industriellen Revolution im Nachtwächterstaat entstanden. Der Sozialstaat in Korea erlegt dem Staat die Verpflichtung auf, durch Wirtschaft, Sozialgesellschaft, Kultur und Bildungssystem eine gerechte Sozialordnung zu schaffen. Der Sozialstaat strebt nicht nur die Garantie der bürgerlichen Freiheit an, sondern auch die Grundlegung der materiellen Bedingungen, damit jeder Bürger seine rechtliche Freiheit und Gleichheit ausüben kann. Darum soll der Sozialstaat danach streben, jedem Bürger eine materielle Chancengleichheit zur Ausübung seiner rechtlichen Freiheit aus seiner eigenen Kraft anzubieten.15 Insoweit ist auch die materielle Chancengleichheit von großer Bedeutung, denn die Eigentumsgarantie etwa hat keinen großen Sinn für einen Bürger, der nicht über Eigentum verfügt. Darum soll der Sozialstaat über eine gerechte Verteilung des Einkommens und durch Sozialleistungen auch den Schwachen und den Armen eine materielle Grundlage für Chancengleichheit sichern. Der Sozialstaat stimmt nicht mit der Meinung überein, nach der das beste Resultat durch die freiwillige Konkurrenz unter den Mitgliedern der Gesellschaft erreicht werden kann. Der Sozialstaat versucht vielmehr die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit durch den Schutz der sozial Schwachen im Prozess der Interessenregulierung in der Gesellschaft zu erreichen.16 Das Sozialstaatsprinzip grenzt die Freiheitsrechte ein und legitimiert die ungleiche Behandlung der Bürger. Die Verwirklichung der sozialstaatlichen Forderungen ist vor allem die Aufgabe des Gesetzgebers.17 Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Idee des Sozialstaates zu verwirklichen. Die Gesetzgeber haben nicht nur im Sozialgesetz als ___________ 14
Hiermit wird der Begriff von Sozialstaat einem Wohlfahrtsstaat gleichgestellt. KVerfGE 2002. 12. 18. 2002HUNMA52: HUNMA bezieht sich auf die Verfassungsbeschwerde. 16 Han, Suwoong, Verfassungslehre, 2012, S. 297. 17 Cha, Jina, Die Idee des Sozialstaates und deren reale Grenze, Verfassungsforschung 13-3, 2007, S. 172 f. 15
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auch in anderen Gesetzesbereichen den Geist des Sozialstaates zu konkretisieren, z.B. den Schutz der Schwachen im Zivilrecht, den Verbraucherschutz im Handelsrecht usw. Die Exekutive und auch die Judikative sollen die Rechtsnormen so auslegen und anwenden, dass die Idee des Sozialstaates verwirklicht wird. Jedoch sollte die Aktivität des Sozialstaates subsidiär gegenüber der Selbstverantwortlichkeit bzw. Autonomie jedes Bürgers sein. Ansonsten gibt es eine große Gefahr, viele unverantwortliche Bürger hervorzubringen. Prof. Cha begrenzt die Rolle des Sozialstaates in der Weise, dass der Sozialstaat gegenüber Selbstverantwortlichkeit und Autonomie der Bürger nur subsidiär wirken soll, um die materielle Freiheit und Gleichheit zu gewährleisten. Sie ist der Meinung, dass die Verwirklichung des Sozialstaates von der jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Situation und auch von der finanziellen Fähigkeit des Staates abhängig ist. Das heißt, dass die Art und Weise der Verwirklichung des Sozialstaates von der finanziellen Realisierbarkeit des Staates unter Berücksichtigung der sozialen und wirtschaftlichen Situation abhängig wird. Darum ist es in erster Linie die Aufgabe des Gesetzgebers, unter Berücksichtigung aller relevanten Elemente die Forderungen des Sozialstaates zu verwirklichen.18 Der Gesetzgeber sollte bei der Gesetzgebung auf alle betreffenden Umstände Rücksicht nehmen. Prof. Cheon sagt, dass das Sozialstaatsprinzip einen engen Zusammenhang mit dem Sozialgewährleistungsrecht hat und dass durch die Gesetze das Sozialgewährleistungsrecht konkretisiert wird.19 Sozialversicherung ist ein wichtiges Mittel zur Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips. Weiter wird das Sozialunionsprinzip aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet. Danach hat der Staat die Pflicht, den Bürgern (durch die Gewährung eines Existenzminimums) ein menschenwürdiges Leben zu garantieren.20 2. Rechtliche Gestaltung des Sozialstaates in Korea a) Die Artikel in der koreanischen Verfassung Es gibt zwei Arten bei der Regelung des Sozialstaates in einer Verfassung: Zum einen kann das Sozialstaatsprinzip wie in Deutschland im Text der Verfassung selbst festgeschrieben werden. Zum anderen kann der Sozialstaat auch indirekt durch verschiedene Artikel in der Verfassung (wie Regelungen über den Schutz der Schwachen, die Lebensminimumgarantie oder den Schutz der Arbeiterklasse) zum Ausdruck gebracht werden. Die koreanische Verfassung folgt ___________ 18 Cha, Jina, Die Idee des Sozialstaates und deren reale Grenze, Verfassungsforschung 13-3, 2007, S. 172 f. 19 Cheon, Gwangseok, Soziale Veränderung und die Verwirklichung des Sozialstaates als Verfassungsaufgabe, Public Law Vol. 31-1 (2002), S. 63 f. 20 KVerfGE 2000. 6. 29. 99HUNMA289.
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dem zweiten Modell. Entsprechend sollen nachfolgend die Wörter und die Artikel in der koreanischen Verfassung dargestellt werden, die die Idee des Sozialstaates konkretisieren. In der Präambel der koreanischen Verfassung sind die Wörter „Chancengleichheit des einzelnen Bürgers“ zu finden. Diese Chancengleichheit ist im materiellen Sinne auszulegen, damit jeder Bürger immer eine Gelegenheit haben kann, seine jetzige Situation zu überwinden und „nach vorne zu laufen“.21 Die Grundrechte der koreanischen Verfassung in Art. 10 und Art. 11 KV enthalten die Grundlage des Sozialstaates, denn sie garantieren jedem Bürger die Menschenwürde, das Recht auf Glück und auch das Recht auf die gleiche Behandlung vor dem Gesetz. Art. 23 Abs. 2 KV begrenzt die Ausübung des Eigentumsrechts durch das Allgemeinwohl. Nach Art. 31 Abs. 1 besitzt jeder Bürger das Recht auf Bildung nach seiner Fähigkeit. Art. 32 Abs. 1 und Abs. 2 KV erklären dass jeder Bürger das Recht und die Pflicht auf Arbeitstätigkeit hat. Der Staat ist verpflichtet, die Anstellung von Arbeitnehmern zu fördern und ihnen gerechten Lohn zu gewährleisten und nach dem Gesetz das Mindestlohnsystem einzuführen. Art. 32 Abs. 3 KV schützt die Arbeitnehmer und verkündet, dass die Richtlinie von Arbeitsbedingungen für den Schutz der Menschenwürde der Arbeitnehmer durch das Gesetz geregelt werden soll. Gemäß Art. 34 hat jeder Bürger das Recht auf ein menschenwürdiges Leben und der Staat ist verpflichtet, Sozialgewährleistung und Sozialwohlfahrt zu fördern. Art. 34 Abs. 4 verkündet, dass die Bürger, die wegen einer körperlichen Behinderung, einer Krankheit, des Alters usw. keine Fähigkeit besitzen, sich selbst ausreichend zu versorgen, vom Staat unterstützt werden. In der Entscheidung über die Feststellungsklage gegen § 96 Abs. 1 Bildungsgesetz hat das KVerfG erklärt, dass das Recht auf Bildung die Funktion der Verwirklichung der Idee des Sozialstaates dadurch hat, dass es den Bürgern materielle Gleichheit garantiert.22 b) Sozialstaatliche Gesetze Korea hat mehrere Gesetze, die die Idee des Sozialstaates verwirklichen und die sozial Schwachen schützen sollen. Hier ist vor allem das Grundgesetz über die Soziale Gewährleistung (SGG) zu nennen. § 3 Abs. 1 SGG definiert die Bedeutung von Sozialgewährleistung. Sozialgewährleistung umfasst danach die folgenden Bereiche: Sozialversicherung, Sozialhilfe und Soziale Dienstleistung, die die Bürger im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Tod und anderen ___________ 21 KVerfGE 2001. 1. 18. 2000HUNBA7: Zinsenbeschränkungsgesetz Entscheidung: HUNBA bezieht sich auf die Verfassungsbeschwerde in der Form von Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. 22 KVerfGE 1994.02.24. 93HUNMA192.
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sozialen Risiken schützt, ihnen aus der Armut hilft und die Qualität ihres Lebens verbessert. Die drei Zweige der Sozialgewährleistung, nämlich Sozialversicherung, Sozialhilfe und Soziale Dienstleistung, werden durch eine Vielzahl von Gesetzen ausgestaltet: Bürger-Gesundheit-Versicherungsgesetz, Bürgerpensionsgesetz, Unternehmen-Unfallversicherungsgesetz, Anstellungsversicherungsgesetz, BürgerMinimum-Leben-Garantie-Gesetz und Sozialdienstleistung-Unternehmensgesetz usw. Dazu gibt es noch mehrere Gesetze, z.B. Senioren-Wohlfahrtsgesetz, Sofort-Wohlfahrts-Unterstützungsgesetz, Senioren-Langzeit-Erholungsgesetz, Jugendwohlfahrtsgesetz usw. Das „Bürger-Minimum-Leben-Garantie-Gesetz“ zielt darauf ab, den Menschen in Notlagen die benötigte Dienstleistung und die Garantie des Existenzminimums zu gewähren. Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes besitzt derjenige das Recht auf Unterstützung, der seinen Lebensunterhalt nicht selbst sichern kann und der keine unterhaltspflichtigen Angehörigen besitzt bzw. bei dem die Unterhaltspflichtigen nicht leistungsfähig sind. Die Regierung kann ein Haupt-Rehabilitationszentrum errichten, um die Geschäfte durchzuführen, die für die Rehabilitation von Begünstigten und Hilfebedürftigen notwendig sind (§ 15-2 Abs. 1). Weitere Bestimmungen sind § 15-3 Großraumrehabilitationszentrum, § 16 Gebietsrehabilitationszentrum, § 18 Rehabilitationsunternehmen und § 18-2 Förderung der Anstellung. Nach § 1 Bürgerpensionsgesetz bezweckt dieses Gesetz, den Bürgern die Stabilität des Lebens und das Wohlergehen dadurch zu sichern, dass der Staat eine Pension für Alter, Behinderung oder Tod der Bürger garantiert. § 7 Bürgerpensionsgesetz regelt vier Arten der Beiträger, nämlich Geschäftsbeiträger, Gebietsbeiträger, beliebige Beiträger und beliebige Fortbeiträger.
Gesetzliche Sozialgewährleistung in Korea
Sozialversicherung Einkommen Garantie Unternehmen Unfall Versicherung
Medizinische Garantie
Sozialhilfe
Grund Lebens
Gesundheit Versicherung
Garantie
Medizinische Hilfe
Soziale Dienstleistung Senioren Dienstleistung
Gesundheit, Wohnung, Bildung, Anstellung,
Jugend Dienstleistung
menschenwürdiges Leben
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Unternehmen Unfall Versicherung
Behinderte Dienstleistung Familie Dienstleistung
c) Entscheidungen des KVerfG aa) Staatsverdienten-Entscheidung Art. 34 KV schreibt das Recht jedes einzelnen Bürgers auf ein menschenwürdiges Leben und dementsprechend die staatliche Pflicht für die Sozialgewährleistung vor. Das Recht des Art. 34 KV, nämlich das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, ist von der staatlichen Finanzsituation abhängig. Darum wird dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt, wenn ein Gesetz über das Recht der Sozialgewährleistung erlassen wird. Das verfassungsrechtliche Sozialgewährleistungsrecht wird erst dadurch zu einem konkreten Recht verwandelt, wenn es durch Gesetze über die Bedingung der Bezüge, den Umfang der Begünstigten und der Bezüge konkret geregelt wird.23 Durch diese Entscheidung wird deutlich, dass die sozialen Grundrechte in der koreanischen Verfassung von der Gesetzgebung abhängig sind. In diesem Sinne entfalten die Regelungen der koreanischen Verfassung keine direkte Wirkung auf die Regierung oder den Staat. Sie sind sozusagen Zielbestimmungen oder Lenkungsbestimmungen. Darum ist es sehr wichtig, entsprechend der Verfassungsregelungen passende Gesetze zu erlassen. bb) Lebensunfähige-Bürger-Entscheidung Bezüglich der Schutzpflicht des Staates für die lebensunfähigen Bürger entschied das koreanische Verfassungsgericht wie folgt: Beim Prozess der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft ist die Armut nicht mehr eine Frage der persönlichen materiellen Entbehrung, sondern vielmehr eine Frage der gesamten Sozialgesellschaft. Das Problem der Armut kann die Stabilität der Gesellschaft gefährden und ist auch allein durch Wirtschaftswachstum nicht zu lösen. Darum sollte das Problem der Armut als eine ernsthafte Herausforderung des Staates erkannt werden. Aus dieser Einsicht sollte der Staat die Erfüllung von Lebensgrundbedingungen als seine Aufgabe annehmen. Aufgrund sozialer Grundrechte ___________ 23 KVerfGE 1995. 7. 21. 93HUNGA14: Staatsverdienten-Entscheidung: HUNGA bezieht sich auf die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes.
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sind mehrere Gesetze erlassen worden, darunter gibt es das Lebensschutzgesetz, später geändert zum „Bürger-Minimum-Leben-Garantie-Gesetz“. Aus der Auslegung dieses Gesetzes ist der Schutz aufgrund dieses Gesetzes als subsidiär zu entnehmen.24 Aus dieser Entscheidung des KVerfG ist zu entnehmen, dass der Sozialstaat die Beseitigung der Armut und die Herstellung von Lebensgrundbedingungen als seine Aufgabe annimmt, jedoch wird diese Aufgabe als subsidiär wahrgenommen. Dies führt dazu, dass der Staat bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe im Bereich der Sozialgewährleistung sehr sorgfältig handeln soll, damit die Bürger aus ihrer eigenen Kraft und Initiative ihre Notsituation durchkämpfen können. cc) Niederflur-Bus-Entscheidung Nach der Entscheidung des koreanischen Verfassungsgerichts gehört es zum Sozialstaat, dass sich der Staat aufgrund der in der Verfassung festgeschriebenen Idee der sozialen Gerechtigkeit in allen Bereichen der Gesellschaft einschließlich Wirtschaft, Sozialgesellschaft und Kultur in die sozialen Erscheinungen einmischt und die Verteilung der Güter reguliert, anstatt sich gleichgültig gegenüber den sozialen Phänomenen zu verhalten. Ein Sozialstaat ist verpflichtet, jedem Bürger materielle Bedingungen zu bereiten, damit er in der Realität seine Freiheit ausüben kann.25 Die Pflicht zur Einführung von Niederflur-Bussen für die Behinderten ist eine Pflicht des Staates unter mehreren Pflichten; sie genießt keine Priorität gegenüber anderen Pflichten. Aus den koreanischen Verfassungsnormen kann deswegen die konkrete Handlungspflicht wie die Einführung von Niederflur-Bus für die Behinderten nicht abgeleitet werden.26 Die sozialen Grundrechte verlangen nicht ihre unbedingte primäre Wahrnehmung, sondern nur ihre gerechte Berücksichtigung und verpflichten den Staat dazu, dass er bei allen staatlichen Entscheidungen das Staatsziel zu berücksichtigen hat, das in den sozialen Grundrechten enthalten ist.27 Durch diese Entscheidung hat das KVerfG klar festgestellt, dass die sozialstaatliche Pflicht keine unbedingte Priorität gegenüber anderen Pflichten des Staates genießt. Das KVerfG erkannte die Rolle der Legislative an, nach der sie die staatlichen Ziele, die untereinander konkurrieren und kollidieren, harmonisch berücksichtigt und eine gerechte Prioritätenliste aufstellt. Die Inhalte der sozialen Grundrechte werden durch die Gesetzgebung bestimmt. Für die Gewährleistung der sozialen Grundrechte besitzt die Legislative dagegen die maßgebliche Rolle. ___________ 24 25 26 27
KVerfGE 1997. 5. 29. 94HUNMA33: Lebensunfähige-Bürger-Entscheidung. KVerfGE 2002. 12. 18. 2002HUNMA52: Niederflur-Bus-Entscheidung. KVerfGE 2002. 12. 18. 2002HUNMA52: Niederflur-Bus-Entscheidung. KVerfGE 2002. 12. 18. 2002HUNMA52: Niederflur-Bus-Entscheidung.
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dd) Beamtenpension-Entscheidung Bei der Verfassungsbeschwerde gegen § 43-2 Abs. 1 Beamtenpensionsgesetz (BPG) hat das koreanische Verfassungsgericht entschieden, dass das Beamtenpensionssystem ein totales Sozialgewährleistungssystem für die spezielle Gruppe von Beamten ist und die Pensionen nach dem Beamtenpensionsgesetz den Charakter einer sozialen Versorgung und auch eines nachträglichen Lohns haben. Das Recht auf die Pension nach dem Beamtenpensionsgesetz hat auch den Charakter als Eigentumsrecht, das von Art. 23 KV geschützt wird. Auch dieses Recht ist von der Gesetzgebung abhängig, denn dieses Recht hat den Charakter als Sozialgewährleistung; folglich besteht für den Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum.28 Durch diese Entscheidung hat das KVerfG klar gemacht, dass die Sozialgewährleistung vor allem durch die Gesetzgebung konkretisiert werden sollte. In diesem Sinne wird der Inhalt der sozialen Grundrechte viel mehr von der gesetzlichen Gestaltung abhängig.
IV. Sozialstaatliche Streitpunkte der Finanzkrise 1. Die rechtliche Wirkung der sozialen Grundrechte Es fragt sich danach, welche rechtliche Wirkung die sozialen Grundrechte der Bürger für den Staat bzw. die Regierung entfalten. Es gibt einige wissenschaftliche Theorien über die Gültigkeit der koreanischen Verfassungsnormen in Bezug auf die sozialen Grundrechte. Erstens: Die sozialen Grundrechte entfalten eine Programmwirkung, d.h. sie sind nur eine Idee, die der Sozialstaat durch seine Gesetzgebung verfolgen soll. Zweitens: Die sozialen Grundrechte entfalten eine direkte Wirkung auf den Staat, darum können die Bürger den Staat zu der Erfüllung der sozialen Grundrechte auffordern. Diese Lehre verleiht den Bürgern die subjektiven öffentlichen Rechte, deswegen können sie gegen den Staat Klage erheben, wenn sie der Auffassung sind, dass ihre Grundrechte nicht genügend geschützt werden. Drittens: Die sozialen Grundrechte haben eine abstrakte Wirkung. Die Bürger haben zwar Rechte aufgrund der sozialen Grundrechte, aber diese Rechte haben eine abstrakte Wirkung. Deswegen können sie gegen den Staat eine Forderung stellen, aber sie können nicht mehr tun, wenn der Staat gegen die Forderung nichts unternimmt. Sie können keine Klage auf Tätigwerden des Staates erheben. ___________ 28
KVerfGE 2005. 6. 30. 2004HUNBA42: Beamtenpension-Entscheidung.
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Viertens: Die sozialen Grundrechte haben eine konkrete Abwägungswirkung. Diese Lehre geht einen Schritt weiter als die Lehre der abstrakten Wirkung, aber die Bürger haben immer noch kein konkretes Recht, es sei denn, es gibt einen Ausnahmefall. Gemäß der koreanischen Verfassungsgerichtsentscheidung haben die sozialen Grundrechte eine abstrakte Wirkung, nach der der Staat eine abstrakte, keine konkrete Pflicht hat, für die Verwirklichung der sozialen Grundrechte allgemeine Bedingungen herbeizuführen. Prof. Cha vertritt auch die Meinung, dass die sozialen Grundrechte zuerst durch die Gesetzgebung konkretisiert werden sollen, wenn sie eine konkrete rechtliche Wirkung auf den Staat entfalten können.29 Im Gegensatz dazu behauptet Prof. Lee, dass das Recht auf die Sicherung des minimalen Lebensstandards unter mehreren sozialen Grundrechten als ein konkretes Recht für die Bürger anerkannt werden soll.30 Die Behauptung von Prof. Lee entspricht der Meinung der vierten Position, nämlich der einer konkreten Abwägungswirkung. M.E. ist auch anzuerkennen, dass ein konkretes Recht aufgrund der sozialstaatlichen Grundrechte in den begrenzten Ausnahmefällen zuerkannt werden soll.31 2. Die Rolle der Legislative und des KVerfG Es ist eine Aufgabe des Sozialstaates, die Schwachen und die Hilfsbedürftigen zu schützen, die wegen der Finanzkrise in Not geraten sind. Die Idee des Sozialstaates wird durch die Gesetzgebung und auch durch die Entscheidungen des KVerfG verwirklicht. Die Gesetze, die die sozialen Grundrechte konkretisieren, können nur eine minimale Sicherheit für die Hilfsbedürftigen anbieten, die wegen der Finanzkrise Schwierigkeiten erfahren. Dafür sollte der Staat weiterhin ein passendes Sozialgewährleistungssystem vorbereiten. Das KVerfG legt auch ein Schwergewicht auf die Legislative für die Erfüllung der sozialen Gerechtigkeit. Hiermit fragt es sich, ob die Legislative zum Erlass eines bestimmten Gesetzes verpflichtet werden kann, um die sozialen Grundrechte zu verwirklichen, und ob dessen Unterlassung vom KVerfG für verfassungswidrig erklärt werden kann. Um diese Frage zu beantworten, ist darauf zurückzukommen, welche Wirkung
___________ 29 Cha, Jina, Forderungen des Sozialstaates und Besteuerung, Verfassungsforschung 11-2, 2005, S. 462 f. 30 Lee, Dukyeon, Warum schreiben wir das Recht auf ein menschenwürdiges Leben in der Verfassung vor? Verfassungsentscheidung Forschung, Forschungsforum für Verfassungsentscheidung (1999), S. 201. 31 Schenke, Wolf-Rüdiger, Sozialer Rechtsstaat und Grundgesetz, Public Law Vol. 371-1 (2008), S. 8 f.
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die sozialen Grundrechte für die Legislative entfalten. Nach herrschender Meinung entfalten sie eine abstrakte Wirkung, darum ist es schwer, aus den sozialen Grundrechten eine konkrete Handlungspflicht der Legislative abzuleiten. Es ist notwendig, dass die Legislative vorbeugende Maßnahmen trifft, um die Finanzkrise zu verhindern. Dafür sollte der Staat ein passendes Aufsichtssystem für Finanzbereiche und auch ein Bildungssystem für Finanzexperten entwickeln. Wenn es zu einer Krise kommt, dann soll die Legislative optimale Maßnahmen für die Wirtschaftskrise ausarbeiten, damit die Bürger so schnell wie möglich aus der Not kommen können. In dieser Hinsicht sollte der Staat darauf Rücksicht nehmen, dass die Bürger selbstzentrierte Menschen sind und auch lieber Leistungen ohne eigene Anstrengung erhalten wollen, anstatt freiwillig zu arbeiten. Darum ist es notwendig, geschickt verhaltenslenkende Gesetze zu erlassen. 3. Eine Richtung auf einen aktivierenden Sozialstaat Nunmehr ist zu fragen, ob ein aktivierender Sozialstaat eine Antwort für die Finanzkrise in Korea werden kann. Die Entwicklung in Deutschland kann uns ein Beispiel geben. Es gibt auch den Spruch, dass man jemandem, der unsere Hilfe benötigt, die Methode des Fischfangs lehren soll, anstatt ihm Fisch zu geben. In dieser Hinsicht ist es notwendig, eine Motivation für die Selbsthilfe oder für die Selbstarbeit zu erwecken. Es ist eine Aufgabe der Gesetzgeber, die Sozialgesetze aufgrund des aktivierenden Sozialstaates zu erneuern. Nach einem aktuellen Bericht ist es nach der jetzigen Gesetzeslage besser „zu spielen als zu arbeiten“. Darum wollen die Menschen wegen des hohen Arbeitslosengeldes lieber „spielen“, anstatt aktiv einen Arbeitsplatz zu suchen.32 Darum braucht unser Sozialstaat eine angemessene und geschickte Gesetzgebung, die Bürger aus ihrer Not zu retten.
V. Schluss Wir leben in einer risikoreichen Zeit und Gesellschaft. Aufgrund von Finanzund Wirtschaftskrisen können Bürger und Staat leicht in eine finanzielle Not geraten. Niemand kann vor der wirtschaftlichen Krise sicher sein. In diesem Sinne ist die Idee des Sozialstaates zu legitimieren, der nach der sozialen Gerechtigkeit und dem Schutz der Schwachen strebt und eine Lebensbasis für die Bürger in ihrer Notzeit legt. ___________ 32 Seo, Minjun, Seoul Economics News, 2013-09-02, Ist zu spielen besser als zu arbeiten?
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Korea hat auch ein Sozialgewährleistungssystem für die Hilfsbedürftigen sowohl in der Legislative als auch in der Exekutive ausgebaut. Dieses Sozialgewährleistungssystem funktioniert einigermaßen gut. Jedoch besteht weiter die Aufgabe darin, nach einer „angemessenen Harmonie“ zu suchen, damit die Bürger danach streben können, ihre Fähigkeit im vollen Umfang zu entfalten und Arbeitsplätze aktiv anzunehmen, anstatt ohne eigenes Bemühen irgendeine soziale Leistung vom Staat in Empfang zu nehmen.
Literatur Cha, Jina, Forderungen des Sozialstaates und Besteuerung, Verfassungsforschung 11-2, 2005.
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Die systemstabilisierende Funktion des Berufsbeamtentums Von Hans-Werner Laubinger Vorbemerkung Die folgenden Darlegungen wenden sich in erster Linie nicht an deutsche, sondern an koreanische Leser, die mit dem deutschen Beamtenrecht (noch) nicht vertraut sind, und enthalten deshalb manches, das einem deutschen Leser unnötig erscheinen mag. Die Vortragsform ist beibehalten, die Nachweise von Literatur und Judikatur sind ergänzt worden.
I. Einführung Das BVerfG hat dem Berufsbeamtentum mehrfach die Funktion zugewiesen, eine stabile Verwaltung zu sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatleben gestaltenden politischen Kräften darzustellen1. Dies ___________ 1 Dieser Gedanke wurde bereits bei der Beratung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat geäußert. So führte der Vorsitzende des Zuständigkeitsausschusses Wagner (SPD) in dessen Sitzung am 14.10.1948 aus: „Das öffentlich-rechtliche Beamtenverhältnis hat im Hinblick auf das Treueverhältnis schon seine große Bedeutung im Interesse der Stabilisierung des Staates überhaupt und des staatlichen Gedankens. Es ist kein Zweifel, daß der Staat eine starke, gesunde Beamtenschaft braucht.“ Zitiert nach Hans Peter Schneider (Hrsg.), Das Grundgesetz – Dokumentation seiner Entstehung, Bd. 10 (Art. 30 bis 37), Frankfurt a.M. 1996, S. 371 ff., insbes. S. 408 ff., 410. Dem stimmte der CDUAbg. Strauß zu mit den Worten (a.a.O.): „Wir müssen … für den Gedanken des Berufsbeamtentums, das heißt eines unabhängigen, für die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sorgenden Berufsbeamtentums auch und gerade im Grundgesetz sorgen. Im ganzen besteht nämlich die Gefahr, daß, wenn bei einer großen Zahl von Funktionen zu sehr zu Behördenangestellten übergegangen wird, die innere Unabhängigkeit der Verwaltung gefährdet wird. Wir haben die Beweise aus den Jahren 1918 – 1933 in gleicher Weise bei der Sozialdemokratie wie beim Zentrum, das möchte ich ausdrücklich betonen, daß sonst die Parteipolitik zu weitgehend auch in solche Verwaltungszweige getragen wird, wo sie nicht am Platze ist.“ In derselben Sitzung sagte der FDP-Abg. Reif (a.a.O. S. 413): „Ich bin nicht der Meinung, daß jemand, der am Postschalter Briefmarken verkauft, ein Beamter sein muß. … Aber die eigentlichen Träger der staatlichen Aufgaben, die Entscheidungen über wirtschaftliche, kulturelle und andere Dinge zu fällen haben, müssen in einer anderen Situation rechtlich stehen als irgendein beliebiger Angestellter. Sie müssen das tun wegen ihrer inneren Neutralität gegenüber den widerstreitenden Interessen.“
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geschah – wenn ich es recht sehe – erstmals in dem Beschluss vom 17. Oktober 19572, in dem es die Verfassungsmäßigkeit der vorzeitigen Abwahl hauptamtlicher Bürgermeister bestätigte. Aus Art. 33 GG und unter Berufung auf die deutsche Verwaltungstradition folgerte das Gericht, das Berufsbeamtentum sei eine Institution, „die, gegründet auf Sachwissen, fachliche Leistung und loyale Pflichterfüllung, eine stabile Verwaltung sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften darstellen soll“3. Das Berufsbeamtentum könne – so fuhr der Senat fort – „die ihm zufallende Funktion im Staatsleben nur erfüllen, wenn es rechtlich und wirtschaftlich gesichert ist. Dazu gehört auch und vor allem, daß der Beamte nicht nach freiem Ermessen politischer Gremien aus seinem Amt entfernt werden kann. … Dem tragen die Beamtengesetze Rechnung, indem sie die Beendigung des Beamtenverhältnisses nur unter genau geregelten rechtlichen Voraussetzungen zulassen.“4
Diese Auffassung bestätigte das Gericht ein Dreivierteljahr später in seinem Beschluss vom 11. Juni 19585. In ihm entschied es, die Alimentationspflicht des Staates sei ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG6, den der Gesetzgeber nicht nur zu berücksichtigen, sondern strikt zu beachten habe. Gleichzeitig erklärte das Gericht, Art. 33 Abs. 5 GG verleihe den Beamten ein grundrechtsähnliches Individualrecht, dessen Verletzung mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden könne. In diesem Zusammenhang führte das Gericht aus, das Berufsbeamtentum könne „die ihm zufallende Funktion, eine staatliche Verwaltung zu sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatleben gestaltenden politischen Kräften zu bilden, nur erfüllen, wenn es rechtlich und wirtschaftlich gesichert ist“. Die verbreitete Auffassung, das Berufsbeamtentum sei für das Funktionieren des Staates und des Gemeinwesens unentbehrlich, wird nicht von allen geteilt. So beantragte die Bundestagsfraktion der Partei DIE GRÜNEN am 1. Juni 1990, der Bundestag möge beschließen „Kein Berufsbeamtentum in einem vereinigten Deutschland“7 und begründete dies u.a. mit folgenden Ausführungen: „Durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist der Beamtenstatus auf die ‚hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums‘ festgelegt worden. Mit diesen ‚hergebrachten Grundsätzen‘, die auf die Tradition des preußischdeutschen Reiches zurückverweisen, wurde das Beamtenrecht bei der Entstehung der Bundesrepub-
___________ 2
BVerfGE 7, 155 ff. A.a.O. S. 162. 4 A.a.O. S. 163. 5 BVerfGE 8, 1 ff., 16. 6 Zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums noch immer grundlegend Lecheler, Die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts, AöR 103 (1978), 349 ff. 7 BT-Drs. 11/7328. 3
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lik Deutschland nach einem obrigkeitsstaatlichen, vordemokratischen Leitbild geregelt, in dem der Staat als Selbstzweck erscheint. Verwaltung ist jedoch nicht um ihrer selbst, sondern um der Bürgerinnen und Bürger willen da. Für die Beamten folgt aus den ‚hergebrachten Grundsätzen‘, daß sie nach wie vor kein Streikrecht und keine Tarifautonomie besitzen, daß ihre Koalitionsfreiheit eingeschränkt ist und sie einem starren Laufbahn- und Hierarchieprinzip unterliegen. Hinzu kommt, daß die prinzipiellen Strukturdifferenzen zwischen den übrigen Arbeitnehmern und den Beamten, die von der Aufstiegsregelung und der Versicherungspflicht bis zur Altersversorgung reichen, immer wieder Anlaß für Privilegienverdacht und Sozialneid geben. Mit einem modernen Staatsverständnis, das die größtmögliche Offenheit der Verwaltung und – soweit möglich und sinnvoll – die demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an allen Entscheidungen zum Ziele hat, ist der jetzige Beamtenstatus nicht vereinbar. Ihn auf die DDR zu übertragen, würde einen Anachronismus bedeuten. In diesem Falle kommt hinzu, daß eine Verbeamtung auf Lebenszeit das Problem der Übernahme der SED-Staatsbediensteten verschärft aufwirft. Alle politisch maßgeblichen Kräfte in der DDR, einschließlich der jetzigen DDR-Regierung, zögern daher zu Recht vor der Einführung des Beamtenverhältnisses. Obwohl Forderungen nach Veränderung des Beamtenstatus zeitweise in allen Parteien der Bundesrepublik Deutschland erhoben wurden, ist ihre Realisierung bisher stets an der Notwendigkeit einer Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Verfassungsänderung gescheitert. Durch die Vereinigung mit der DDR ist nunmehr die Gelegenheit gegeben, diese längst überfällige Reform durchzuführen. Wie von den GRÜNEN stets gefordert, muß eine gemeinsame Verfassung der beiden deutschen Staaten vom eigentlichen Staatssouverän, dem deutschen Volk, abgestimmt werden. In einer solchen Verfassung haben die ‚hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums‘ keinen Platz mehr.“
Der Entschließungsantrag ist seinerzeit – das ist jetzt 23 Jahre her – vom Bundestag abgelehnt worden; auch in der ehemaligen DDR gibt es inzwischen wieder Beamte, wenn auch nicht in demselben Umfang wie in den „alten Bundesländern“. Das ändert jedoch nichts daran, dass auch heute immer wieder Kritik an der Institution des Berufsbeamtentums geübt wird. Das ist nichts Neues8. Die Forderung nach Abschaffung des Berufsbeamtentums wurde erstmals nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und wiederum nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 erhoben. In beiden Fällen setzte sich der Verfassungsgeber über die Einwände hinweg und verankerte das Berufsbeamtentum in der Verfassung. Die einschlägigen Regelungen enthalten heute die Absätze 4 und 5 des Art. 33 des Grundgesetzes, die das Berufsbeamtentum auch für das Gebiet der ehemaligen DDR gewährleisten. ___________ 8 Zahlreiche Belege für die immer wiederkehrende Kritik an der Institution des Beamtentums und an der Beamtenschaft (sowie an den Juristen) finden sich in der grundlegenden Untersuchung von Hattenhauer, Geschichte des deutschen Beamtentums, 2. Aufl., Köln/Berlin/Bonn/München 1993, etwa S. 29, 52 f., 78, 91 f., 177 ff., 211, 224 f., 236 ff., 389 ff.
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Ungeachtet der verfassungsgesetzlichen Verankerung flammt die rechtspolitische Kritik am Berufsbeamtentum immer wieder auf. „Die Beamten fressen den Staat auf“, so heißt es. Die aktiven Beamten verdienten zu viel, die Pensionen seien im Vergleich mit den Renten viel zu hoch und ruinierten die staatlichen Haushalte. Der Beamtenstatus mache die Beschäftigten selbstzufrieden und faul9. Die Witze über faule Beamte sind Legion. Man braucht bei Google nur das Wort „Beamtenwitze“ einzugeben und findet Tausende. Hier eine kleine Auswahl10: 1. 2. 3.
Treffen sich zwei Beamte auf dem Gang, fragt der eine den anderen: „Und, kannst du auch nicht schlafen?“ Fragt ein Beamter den anderen: „Wieso meckern die Leute eigentlich immerzu über uns, wir tun doch gar nichts?“ „Wie viele Beamte arbeiten denn hier?“, wird der Bürgermeister gefragt. Der überlegt kurz und antwortet dann: „Knapp die Hälfte...“.
Man sollte sich nichts vormachen – die Kritik am Beamtentum ist populär und ermutigt nicht selten auch Politiker dazu, sie sich zunutze zu machen. So konnte es sich der ehemalige Bundeskanzler Schröder während seiner Amtszeit als niedersächsischer Ministerpräsident nicht verkneifen, die Lehrer als „faule Säcke“ zu verunglimpfen. Und die Finanzminister einiger Bundesländer können sich gegenwärtig des Beifalls erheblicher Bevölkerungsteile sicher sein, wenn sie den Beamten Besoldungserhöhungen gänzlich versagen oder auf Beträge begrenzen, die hinter den Lohnerhöhungen für die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft erheblich zurückbleiben. Die kritische Haltung weiter Teile der Politik und der Öffentlichkeit hat zur Folge, dass die Institution des Berufsbeamtentums und die Beamtenschaft sich unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck befinden. Die völlige Abschaffung des öffentlichen Dienstes ist nicht möglich und wird auch von niemandem ernstlich gefordert. Die realistische Alternative zum gegenwärtigen Zustand lautet daher: Brauchen wir wirklich Beamte, oder wäre es nicht besser, sie durch Arbeitnehmer zu ersetzen, die es ja schon heute in erheblichem Umfang in der öffentlichen Verwaltung gibt? Das legt es nahe, die Rechtsstellung der Beamten mit der der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes zu vergleichen, um festzustellen, ob die Arbeitnehmer die vom Bundesverfassungsgericht attestierte stabilisierende Funktion ebenso gut oder vielleicht sogar besser als die Beamten erfüllen können.
___________ 9 Die Klagen über faule Beamte sind nichts Neues, s. Gerber, Vom Begriff und Wesen des Beamtentums, AöR 57 (1930), 1 ff., 71 f. 10 http://www.t-online.de/unterhaltung/humor/id_48502726/die-25-besten-beamtenwitze.html.
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II. Beamte und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes Die Rechtsstellung der Beamten einerseits und die der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes andererseits unterscheiden sich voneinander in vielfacher Hinsicht, obwohl sie sich im Laufe der letzten Jahrzehnte einander immer mehr angenähert haben. 1. Das Statusrecht der Beamten und Arbeitnehmer a) Das Beamtenrechtsverhältnis wird ausschließlich durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften ausgestaltet; der Abschluss von Tarifverträgen und einzelvertraglichen Vereinbarungen ist – von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen – ausgeschlossen. Das ist unbestritten ein hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG11. Die beiden wichtigsten Gesetze sind das Bundesbeamtengesetz (BBG) vom 5. Februar 2009 (BGBl. I S. 160), das die Rechtsverhältnisse der Beamten des Bundes regelt (§ 1 BBG), und das Gesetz zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz – BeamtStG), das das Statusrecht der Beamten der Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände sowie der sonstigen der Aufsicht eines Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts enthält (§ 1 BeamtStG). Daneben gibt es zahlreiche weitere Bundes- und Landesgesetze beamtenrechtlichen Inhalts, vor allem die Landesbeamtengesetze sowie Besoldungs-, Versorgungs-, Disziplinar- und Personalvertretungsgesetze des Bundes und der Länder, um nur die wichtigsten zu nennen. Nicht außer Acht gelassen werden darf der Umstand, dass die für die Beamten einschlägigen Vorschriften keineswegs stets von ihren jeweiligen Dienstherren erlassen werden. Eher ist das Gegenteil der Fall. So werden die Rechtsverhältnisse der Kommunalbeamten überhaupt nicht von ihren Dienstherren, also den Gemeinden und Kreisen, sondern von dem Land, dem sie angehören, geregelt. Und das für die Landesbeamten maßgebende Statusrecht, stammt nicht von diesen, sondern – in Gestalt des Beamtenstatusgesetzes – vom Bund. Einer Einschränkung bedarf ferner die Vorstellung, das Beamtenrecht werde völlig einseitig erlassen. Schon während der Weimarer Republik hat sich – zunächst ohne rechtliche Grundlage – die Praxis herausgebildet, die Beamtenverbände bei der Regelung der beamtenrechtlichen Verhältnisse zu beteiligen. Eine
___________ 11 Badura (Fn. 15), Art. 33 Rn. 58; Grigoleit (Fn. 15), Art. 33 Rn. 75; Hense (Fn. 15), Art. 33 Rn. 42; Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 44; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 49.
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solche Beteiligung sehen heute alle Beamtengesetze vor (§ 118 BBG, § 53 BeamtStG und die entsprechenden Vorschriften in den Beamtengesetzen der Länder)12. b) Dagegen werden die Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst ähnlich wie in der Privatwirtschaft grundsätzlich durch Tarifverträge geregelt. Bis vor etwa zehn Jahren wurde zwischen Angestellten und Arbeitern unterschieden. Die Rechtsstellung der Angestellten war im Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT), die der Arbeiter in drei Manteltarifverträgen für Arbeiter des Bundes, der Länder und der Kommunen geregelt. Diese vier Tarifverträge wurden abgelöst durch den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) vom 13. September 2005, der für die Arbeitnehmer des Bundes und der Kommunen gilt, und den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) vom 12. Oktober 2006. Diese neuen Tarifverträge unterscheiden nicht mehr zwischen Angestellten und Arbeitern, sondern fassen sie unter der – meines Erachtens unpassenden13 – Sammelbezeichnung „Beschäftigte“ zusammen. Ich verwende stattdessen die Bezeichnung „Arbeitnehmer“, die auch heute noch weitgehend im Gebrauch ist. Während der BAT und die Manteltarifverträge für Arbeiter punktuell auf beamtenrechtliche Vorschriften verwiesen, wenden die neuen Tarifverträge eine andere Technik an, um beamtenrechtliche Regelungen zu rezipieren: Sie schreiben diese – etwas modifiziert – ab. So verpflichtet § 3 TVöD die Beschäftigten zur Verschwiegenheit (Abs. 1), verbietet ihnen die Annahme von Belohnungen und Geschenken ohne Zustimmung des Arbeitgebers (Abs. 2) und verbürgt ihnen das Recht auf Einsicht in die Personalakten (Abs. 5). Nebentätigkeiten sind dem Arbeitgeber anzuzeigen und können von diesem unter bestimmten Voraussetzungen untersagt werden (§ 3 Abs. 3 TVöD)14. Von den neuen Tarifverträgen nicht übernommen wurden die Vorschriften der alten Tarifverträge zur allgemeinen Verhaltenspflicht, zur Gehorsamspflicht, zum Gelöbnis, zur Einstellungsuntersuchung und zur Schadensersatzhaftung der Beschäftigten. Der Verzicht auf eigenständige Regelungen in den Tarifverträgen bedeutet nicht zwangsläufig den Wegfall der vormals geregelten Rechte und Pflichten. Diese ergeben sich vielmehr jedenfalls teilweise aus den Regelungen des allgemeinen Arbeitsrechts. Das gilt beispielweise für die Gehorsamspflicht, die das Pendant zum Direktionsrecht des Arbeitgebers darstellt. Für die Schadensersatzpflicht der öffentlichen Beschäftigten gelten nunmehr die von den Arbeitsgerichten entwickelten Grundsätze über die Haftung der Arbeitnehmer.
___________ 12 Was es damit auf sich hat, habe ich in meiner Habilitationsschrift dargelegt, die kostenlos von meiner Homepage heruntergeladen werden kann. Laubinger, Beamtenorganisationen und Gesetzgebung – Die Beteiligung der Beamtenorganisationen bei der Vorbereitung beamtenrechtlicher Regelungen – http://www.jura.uni-mainz.de/541_DEU _HTML.php. 13 In manchen Bereichen unserer Rechtsordnung zählen auch die Beamten zu den „Beschäftigten“, so z.B. im Personalvertretungsrecht (s. § 4 Abs. 1 Bundespersonalvertretungsgesetz) und im Datenschutzrecht (s. § 3 Abs. 10 Nr. 8 Bundesdatenschutzgesetz). 14 Dazu Reinhard Neffke, § 3 Rn. 1 ff., in: Bredemeier/Neffke/Cerff/Wizeneffer/Baßler, TVöD/TV-L – Tarifverträge für den öffentlichen Dienst, München 2007.
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Insgesamt gesehen, haben sich die neuen Tarifverträge für den öffentlichen Dienst äußerlich weitgehend vom Beamtenrecht gelöst und sich stärker dem allgemeinen Arbeitsrecht angenähert. Inhaltlich steht das Recht der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes zwischen Beamtenrecht und allgemeinem Arbeitsrecht. Die beiden Tarifverträge schließen einige Gruppen von ihrem Geltungsbereich aus, darunter die leitenden Angestellten, deren Arbeitsbedingungen einzelvertraglich besonders vereinbart werden, sowie die Beschäftigten, die ein über das Tabellenentgelt der Entgeltgruppe 15 hinausgehendes regelmäßiges Entgelt beziehen (§ 1 Abs. 2 Buchst. a und b TVöD und TV-L). Anders formuliert: Für die hochrangigen Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes gelten die Tarifverträge nicht; ihre Arbeitsbedingungen werden einzelvertraglich festgelegt. Das ist bei den folgenden Ausführungen zu den Rechten und Pflichten der Beschäftigten im Auge zu behalten. Unzutreffend wäre die Vorstellung, das Arbeitsrechtsverhältnis der öffentlichen Beschäftigten sei unter Ausschluss gesetzlicher Regelungen ausschließlich durch Tarifverträge geregelt. Es gibt vielmehr eine Fülle gesetzlicher Regelungen, die auch für die öffentlichen Arbeitnehmer gelten. Und es gibt sogar Bestimmungen, die sowohl für Beamte als auch für die Arbeitnehmer Geltung beanspruchen. Ein prägnantes Beispiel bilden die Personalvertretungsgesetze des Bundes und der Länder. 2. Die Funktionsbereiche von Beamten und Arbeitnehmern Der sog. Funktions- oder Beamtenvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG reserviert den Beamten die „Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse“. Was darunter zu verstehen ist, ist seit jeher und bis zum heutigen Tage umstritten, und daran wird sich wohl auch künftig nichts ändern, nachdem alle denkbaren Argumente ausgetauscht sind15. Darauf kann ich hier nicht eingehen, sondern muss mich auf die ___________ 15
s. etwa Badura, Art. 33 Rn. 56 f. (Lfg. 58/2010), in: Maunz/Dürig, GG, München, Stand: 69. Lfg./Mai 2013; Battis, Art. 33 Rn. 55 ff., in: Sachs, GG, 6. Aufl., München 2011; Bergmann, Art. 33 Rn. 11, in: Hömig, GG, 10. Aufl., Baden-Baden 2013; Grigoleit, Art. 33 Rn. 51 ff., in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Köln 2010; Hense, Art. 33 Rn. 27, in: Epping/Hillgruber, GG, München 2009; Peter M. Huber, Das Berufsbeamtentum im Umbruch, Die Verwaltung 26 (1996), 437 ff.; Jachmann, Art. 33 Rn. 31 ff., in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., München 2010; Kunig, Art. 33 Rn. 47 ff., in: v Münch/Kunig, GG, 6. Aufl., München 2012; Manssen, Der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG, ZBR 1999, 253 ff.; Pieper, Art. 33 Rn. 81 ff., in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl., Köln 2011; Pieroth, Art. 33 Rn. 41, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl., München 2011.
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Mitteilung meiner eigenen Meinung beschränken. Meines Erachtens werden hoheitsrechtliche Befugnisse immer dann ausgeübt, wenn aufgrund öffentlichen Rechts gehandelt wird16. Bedient sich der Staat hingegen der Gestaltungsmittel des Privatrechts, so handelt er nicht hoheitsrechtlich. Art. 33 Abs. 4 GG stände es nicht entgegen, wenn sämtliche öffentlichen Bediensteten verbeamtet würden. Das wäre freilich nicht im Sinne des Parlamentarischen Rates, wie dessen Beratungen eindeutig belegen17. Einer kompletten Verbeamtung schieben die Beamtengesetze (§ 5 BBG § 3 Abs. 2 BeamtStG) denn auch einen Riegel vor, indem sie bestimmen, dass die Berufung in das Beamtenverhältnis nur zulässig ist zur Wahrnehmung 1. hoheitsrechtlicher Aufgaben oder 2. von Aufgaben, die zur Sicherung des Staates oder des öffentlichen Lebens nicht ausschließlich Personen übertragen werden dürfen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen. Gestützt auf die zweite Alternative waren die meisten Post- und Bahnbediensteten vor der Privatisierung von Post und Bahn Beamte. Der Beamtenanteil bei Post und Bahn war höher als bei der Bundes-, Landes- oder Kommunalverwaltung!18 Vielleicht ist das der Grund dafür, dass früher die Postsendungen pünktlich zugestellt wurden und die Züge pünktlich fuhren. Bei Streiks der Müllmänner habe ich mich oft gefragt, weshalb diese nicht verbeamtet wurden, denn eine geordnete Müllbeseitigung ist fraglos von erheblicher Bedeutung für das öffentliche Leben, das die Beamten sicherstellen sollen. Die beamtenrechtlichen Vorschriften, die die Verbeamtung einschränken, scheinen mir besonders wichtige Hinweise darauf zu geben, welche Funktionen das Beamtentum haben soll, nämlich die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Staates und der Versorgung der Bevölkerung mit den essentiellen Dienstleistungen.
___________ 16 Laubinger, Die beamtenrechtliche Treuepflicht im Wandel der Zeiten, in: Öffentlicher Dienst – Festschrift für C.H. Ule zum 70. Geburtstag, Köln/Berlin/Bonn/München 1977, S. 89 ff., 110. Ebenso Walter Rudolf, Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, in: VVDStRL 37 (1979), S. 175 ff., 212 f. (Ls. 15). 17 v. Doemming/Füßlein/Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, neu hrsg. von P. Haeberle, Tübingen 2010, S. 314 ff.; Schneider (Fn. 1), S. 371 ff., insbes. S. 408 ff., 408 (Abg. Dr. Strauss/CDU), 409 f. (Vors. Wagner/SPD). 18 Am 30. Juni 1990 betrug der Anteil der Beamten bei der Bundesbahn 57 %, bei der Bundespost 59 %, bei der Bundesverwaltung 35 %, bei den Landesverwaltungen 55 % und bei den Kommunen 12 %. Insgesamt belief sich die Beamtenquote im unmittelbaren öffentlichen Dienst auf 41 % und im gesamten öffentlichen Dienst (unmittelbarer plus mittelbarer öffentlicher Dienst) auf 39 %.
Die systemstabilisierende Funktion des Berufsbeamtentums
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Die Wirklichkeit in den Amtsstuben sieht in erheblichem Umfange anders aus, als Art. 33 Abs. 4 GG sowie § 5 BBG und § 3 Abs. 2 BeamtStG es vorsehen. Denn oftmals erfüllen einerseits Arbeitnehmer hoheitliche Aufgaben und nehmen andererseits Beamte solche Aufgaben wahr, die weder hoheitlicher Natur sind noch für die Sicherung des Staates oder des öffentlichen Lebens erforderlich sind19. Es gab Zeiten, als möglichst viele Bedienstete verbeamtet wurden, weil es zunächst für die Dienstherren „billiger“ war, da für Beamte keine Abgaben an die Träger der Sozialversicherung abgeführt zu werden brauchten; an die später zu leistenden Pensionen dachte man damals noch nicht. Heute verhält es sich umgekehrt. So wird ein nicht erheblicher Teil der Lehrer als Arbeitnehmer geführt anstatt als Beamte, obwohl gute Gründe für die Ansicht sprechen, dass Lehrer hoheitliche Tätigkeiten ausüben und damit unter den Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG fallen20. Das rheinland-pfälzische Beamtengesetz bestimmt sogar expressis verbis (§ 5 Abs. 2 LBG RP): „Die Lehrtätigkeit an öffentlichen Schulen und Hochschulen gilt als hoheitsrechtliche Aufgabe.“ Die Kultusverwaltung unseres Bundeslandes scheint das wenig zu kümmern. 3. Anteil der Beamten an den öffentlichen Bediensteten Während der öffentliche Dienst bis zum Ersten Weltkrieg fast ausschließlich aus Beamten und ein paar Arbeitern bestand, hat sich die Zahl der Arbeiter und vor allem der Angestellten danach kontinuierlich erhöht21. Laut Statistischem Bundesamt waren am 30. Juni 2012 rund 4,6 Millionen Menschen im öffentlichen Dienst von Bund, Ländern und Gemeinden tätig. Davon standen 1,7 Mio. ___________ 19
s. dazu die organisationssoziologische Untersuchung von Hartfiel/Sedatis/Claessens, Beamte und Angestellte in der Verwaltungspyramide, Berlin 1964. 20 Abg. Dr. v. Mangoldt (CDU) in v. Doemming/Füßlein/Matz (Fn. 17), S. 320; Schneider (Fn. 1), S. 463: „Die Frage ist nach unserem Recht kaum umstritten. Man hat diese Lehrpersonen immer zu den Beamten gerechnet.“ Schon § 65 II 12 des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 (ALR) bestimmte: „Die Lehrer bey den Gymnasiis und andern höhern Schulen, werden als Beamte des Staats angesehen und genießen der Regel nach einen privilegierten Gerichtsstand.“ Ähnliches galt nach § 73 II 12 ALR für die Hochschullehrer: „Alle sowohl ordentliche als außerordentliche Professores, Lehrer und Officianten auf Universitäten, genießen, außer was den Gerichtsstand betrifft, die Rechte der Königlichen Beamten.“ Für den Beamtenstatus von Lehrern auch Leisner, Müssen Lehrer Beamte sein?, ZBR 1980, 361 ff., wieder abgedruckt in: Leisner, Beamtentum, hrsg. von Isensee, Berlin 1995, S. 240 ff.; Bergmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 16; Grigoleit (Fn. 15), Art. 33 Rn. 59; Hense (Fn. 15), Art. 33 Rn. 31; Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 34; Manssen (Fn. 15), ZBR 1999, 253 ff., 256 f.; Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 85. 21 Dazu eingehend Eckart Sturm, Die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in Deutschland, in: Ule (Hrsg.), Die Entwicklung des öffentlichen Dienstes, Köln/Berlin/München/Bonn 1961, S. 1 ff. Ferner Ellwein/Zoll, Berufsbeamtentum – Anspruch und Wirklichkeit, Düsseldorf 1973, S. 96 ff.
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in einem Beamtenverhältnis22, 2,7 Mio. waren Tarifbeschäftigte (d.h. Arbeitnehmer) und 179.500 Zeit- oder Berufssoldaten. Die Beamten stellen also eine Minderheit der öffentlichen Bediensteten von nicht ganz 37 % dar. Weitere Aufschlüsse gibt die folgende Tabelle des Statistischen Bundesamtes. Beschäftigte nach Art des Dienst- oder Arbeitsvertragsverhältnisses, 30. Juni 2012
Art des Dienst-
Insgesamt
Beamte
Berufs-
und Rich-
und Zeit-
ter
soldaten
Arbeitnehmer
oder Arbeitsvertragsverhältnisses 1 000
Bundesbereich
513,9
181,6
Landesbereich
2 346,5
1 299,4
-
1 047,1
1 386,1
186,3
-
1 199,7
370,8
34,6
-
336,2
4 617,4
1 702,0
Kommunaler Bereich
Sozialversicherung1
Insgesamt
179,5
179,5
152,8
2 735,9
1 Einschließlich Bundesagentur für Arbeit.
___________ 22
Unter ihnen ca. 20.000 Richter, die nicht (mehr) zu den Beamten zählen.
Die systemstabilisierende Funktion des Berufsbeamtentums
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4. Beamte: Begriff und Arten a) Entgegen einer verbreiteten Vorstellung ist „Beamter“23 – streng juristisch betrachtet – kein Beruf, sondern ein Status. Vom Staat beschäftigte Lehrer, Hochschullehrer, Krankenhausärzte und Feuerwehrleute haben zwar überwiegend den Status von Beamten inne, aber ihr Beruf ist nicht „Beamter“, sondern „Lehrer“, „Hochschullehrer“ usw.; in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von ihren Kollegen, die nicht verbeamtet sind. Beamtete und arbeitsrechtlich beschäftigte Lehrer üben denselben Beruf aus und unterscheiden sich lediglich durch ihren Status von einander. Die juristisch korrekte Unterscheidung von Beruf und Status stößt deshalb auf Schwierigkeiten, weil unsere Sprache keine gängige Berufsbezeichnung für diejenigen Beamten bereithält, die in den „normalen“ Verwaltungsbehörden (in den Gemeinde- und Kreisverwaltungen, Bezirksregierungen, Ministerien usw.) ihren Dienst tun. Man kann ihren Beruf mit „Verwaltungsbeamter“ benennen, darf dann aber nicht aus dem Auge verlieren, dass damit nicht der Status bezeichnet wird.
b) Der Status des Beamten wird durch die Aushändigung einer Ernennungsurkunde begründet, der die magische Formel „unter Berufung in das Beamtenverhältnis“ enthält. Nur der Inhaber einer solchen Urkunde ist Beamter. Welche Art von Tätigkeit er ausübt, insbesondere ob er hoheitliche Gewalt ausübt, ist belanglos24. Das war bis zum Inkrafttreten des Reichsbeamtengesetzes von 1937 anders25. Als Beamter galt derjenige, der hoheitliche Befugnisse hatte. Da dies ___________ 23
Zur Herkunft und zu den Wandlungen des Begriffs Beamter s. Gerber, Vom Begriff und Wesen des Beamtentums, AöR 57 (1930), 1 ff., 2–16. Ihm zufolge stammt der heutige Sprachgebrauch aus dem Ende des 18. Jahrhunderts, und zwar hauptsächlich aus dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) von 1794, der ersten Kodifikation des Beamtenrechts. 24 Anderes gilt für den sog. haftungsrechtlichen Beamtenbegriff (§ 839 BGB), von dem hier nicht die Rede ist. 25 Das Reichsbeamtengesetz (RBG) vom 31. März 1873 (RGBl. S. 61; abgedruckt bei Summer, Dokumente zur Geschichte des Beamtenrechts, Bonn 1986, S. 632 ff.) definierte in seinem § 1: „Reichsbeamter im Sinne dieses Gesetzes ist jeder Beamte, welcher entweder vom Kaiser angestellt oder nach Vorschrift der Reichsverfassung den Anordnungen des Kaisers Folge zu leisten verpflichtet ist.“ Zwar bestimmte § 4 Abs.1 RBG, jeder Beamte erhalte bei seiner Anstellung eine Anstellungs-Urkunde, doch war dies keine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Anstellung. Dagegen erklärte das Deutsche Beamtengesetz (DBG) vom 26. Januar 1937 (RGBl. S. 186) in seinem § 27 Abs. 1 klipp und klar: „1Das Beamtenverhältnis wird durch Aushändigung einer Ernennungsurkunde begründet, in der die Worte ‚unter Berufung in das Beamtenverhältnis‘ enthalten sind. 2Wer keine solche Urkunde erhalten hat, ist nicht Beamter im Sinne dieses Gesetzes.“ Das DBG wurde zwar in der NS-Zeit erlassen, seine Wurzeln reichen aber in die Weimarer Zeit zurück. So auch die des § 27 Abs. 1: Ein Entwurf des Reichsinnenministers vom 4. Januar 1933 (vier Wochen vor der „Machtergreifung“ der Nazis!) sah vor, dem § 1 RBG folgende Fassung zu geben (abgedruckt bei Summer, S. 827): „1Reichsbeamte im Sinne dieses Gesetzes sind Personen, die zum Reiche in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treue-
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häufig zu Schwierigkeiten führte, wurde der Beamtenbegriff durch das Urkundenerfordernis streng formalisiert. c) Nicht alle Beamten sind Berufsbeamte. Denn außer diesen gibt es Ehrenbeamte26, deren Zahl und Bedeutung heute – im Gegensatz zu früheren Zeiten27 – sehr gering ist Sie üben die ihnen vom Staat übertragene Tätigkeit ehrenamtlich, d.h. ohne Bezahlung und Versorgung aus, unterliegen aber weitgehend den Vorschriften des Beamtenrechts28. Auch ihr Status wird durch eine Ernennungsurkunde begründet. Von den Ehrenbeamten zu unterscheiden sind die sog. ehrenamtlich Tätigen im Sinne der §§ 81 ff. des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG). Auch sie werden durch staatlichen Hoheitsakt bestellt, enthalten aber keine Ernennungsurkunde im Sinne des Beamtenrechts und unterliegen auch nicht den beamtenrechtlichen Vorschriften. Sie haben ihre Tätigkeit gewissenhaft und unparteiisch auszuüben und sind zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 81 VwVfG). Aus wichtigem Grund können sie abberufen werden (§ 86 VwVfG). Im Gegensatz zu den Ehrenbeamten und ehrenamtlich Tätigen nehmen die Berufsbeamten ihre Aufgaben als Beruf wahr, wenn man darunter jede auf Dauer angelegte Beschäftigung versteht, die der Schaffung oder Erhaltung der Lebensgrundlage dient29. Der heutige Berufsbeamte dient – Dienstethos hin, Dienstethos her – seinem Dienstherrn, um von den Dienstbezügen seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie bestreiten zu können30. ___________ verhältnis (Beamtenverhältnis) stehen. 2Das Beamtenverhältnis wird durch die Aushändigung einer Urkunde begründet, in der die Worte ‚unter Berufung in das Beamtenverhältnis‘ enthalten sind. 3Wer keine solche Urkunde erhalten hat, ist nicht Reichsbeamter im Sinne dieses Gesetzes. 4Die Rechte der Reichsbeamten stehen ihm nicht zu.“ Zur Entstehungsgeschichte und zum Inhalt des DBG s. Hattenhauer (Fn. 8), S. 434 ff. 26 Zu ihnen Rolf Stober, Der Ehrenbeamte in Verfassung und Verwaltung, Königstein/Ts. 1981. 27 In der 13. Sitzung des Zuständigkeitsausschusses des Parlamentarischen Rates am 15.10.1948 stellte der SPD-Abg. Dr. Hoch unwidersprochen fest, die große Masse der Bürgermeister der Landgemeinden seien keine Berufs-, sondern Ehrenbeamte. Zit. nach Schneider (Fn. 1), S. 418. Um die Ehrenbeamten nicht vom Funktionsvorbehalt auszuschließen, schlug er vor, den Ausdruck „Berufsbeamtentum“ zu vermeiden und den jetzigen Art. 33 Abs. 4 GG wie folgt zu formulieren: „Dauernde Aufgaben in Ausübung öffentlicher Gewalt sind grundsätzlich nur solchen Personen zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis zu ihrem Dienstherrn stehen.“ (A.a.O. S. 417) 28 § 6 Abs. 5, § 133 BBG, § 5 BeamtStG. 29 Hans-Peter Schneider, Berufsfreiheit, in: Merten/Papier, HGR, Bd. V, Heidelberg 2013, S. 128 (§ 113 Rn. 55). 30 Der Abg. Dr. Strauß äußerte in der 13. Sitzung des Zuständigkeitsausschusses des Parlamentarischen Rates am 15.10.1948 (Schneider [Fn. 1], S. 418): „Der Gedanke des Berufsbeamtentums bedeutet die lebenslängliche Anstellung, die Entlassung nur auf dem
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5. Die Rechtsstellung der Beamten und der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes im Vergleich Um zu ermitteln, ob der Beamtenstatus besser als der des Arbeitsnehmers geeignet ist, das Funktionieren des Staates und des öffentlichen Lebens zu gewährleisten, muss untersucht werden, worin sich die Rechtsstellung der (Berufs-)Beamten von der der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes unterscheidet. a) Arbeitskampf: Streik und Aussperrung Nach bis zum heutigen Tage ganz herrschender Auffassung in Judikatur31 und Literatur32 sind Arbeitskämpfe zwischen Beamten und ihren Dienstherren von Rechts wegen ausgeschlossen: Die Beamten dürfen nicht streiken, die Dienstherren nicht aussperren. Begründet wird das mit einem halben Dutzend mehr oder weniger überzeugender Argumente. Das verbreitetste und wohl auch durchschlagendste ist der Verweis auf die hergebrachten Grundsätze im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG. Während der Kaiserzeit wäre kein Beamter auch nur auf den Gedanken gekommen, seine Arbeit niederzulegen, um seine Dienstbedingungen zu verbessern. In der Weimarer Republik hat es zwei Streiks gegeben. Der eine von ihnen im Jahre 1920 diente der Niederschlagung des Kapp-Putsches und war der aus Berlin nach Stuttgart geflüchteten Reichsregierung hochwillkommen, also kein Streik zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Der zweite Streik, ein Ausstand der Eisenbahner Anfang 1921, brach schnell zusammen und wurde von den Gerichten und dem ganz überwiegenden Schrifttum verurteilt33. So bestand denn auch im Parlamentarischen Rat weitestgehende Übereinstimmung, dass den Beamten die Arbeitsniederlegung verwehrt sei und dies auch so bleiben solle34. ___________ Disziplinarwege, die Pension und die Hinterbliebenenversorgung. Diese drei Dinge klingen an, wenn wir das Wort erwähnen.“ 31 Nachweise bei Laubinger, Das Streikverbot für Beamte und das Europarecht, in: Festschrift für Eckart Klein, Berlin 2013, S. 1141 ff. 32 Aus jüngster Zeit Detlef Merten, Berufsfreiheit des Beamten und Berufsbeamtentums, in: Merten/Papier (Fn. 29), S. 262 ff.; Jens Kersten, Neues Arbeitskampfrecht, Tübingen 2012; Udo Di Fabio, Das beamtenrechtliche Streikverbot, München 2012. Ebenso Badura (Fn. 15), Art. 33 Rn. 58; Battis (Fn. 15), Art. 33 Rn. 73; Bergmann (Fn. 15), Art. 9 Rn. 18; Grigoleit (Fn. 15), Art. 33 Rn. 77; Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 44; Kunig (Fn. 15), Art. 33 Rn. 63 (Stw. Streik); Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 136; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 51. 33 Siehe die Darstellung bei Laubinger (Fn. 12), S. 43 ff. 34 In der 27. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates am 15.12.1948 erklärte der KPD-Abg. Renner: „Wenn wir in den Artikel gemäß dem anscheinend einstimmigen Vorschlag des Zuständigkeitsausschusses das Wort ‚Treueverhältnis‘ hineinarbeiten, so müssen wir uns klar darüber sein, daß wir es von vornherein ablehnen,
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Ein Streikrecht für Beamte würde sich aber auch aus einem anderen Grund nicht in das deutsche Recht einfügen. Nach bis dato einhelliger Meinung in der arbeits- und verfassungsrechtlichen Judikatur und Literatur dürfen Arbeitsniederlegungen nur zur Durchsetzung tariffähiger Ziele durchgeführt werden35. Daraus folgt: Solange die Rechtsverhältnisse der Beamten ausschließlich durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften unter Ausschluss von Tarifverträgen geregelt werden, sind Streiks unstatthaft. Sie würden sich übrigens – was bereits angeklungen ist – überwiegend nicht gegen den jeweiligen Dienstherrn richten. Eine bestreikte Stadt könnte beispielsweise den Beamten nicht das gewähren, was diese verlangen, weil sie keine besoldungsrechtlichen Vorschriften erlassen kann. Das Streikverbot für Beamte steht allerdings seit ein paar Jahren auf dem europarechtlichen Prüfstand. In zwei Aufsehen erregenden Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in den Jahren 200836 und 200937 entschieden, dass türkische Kommunalbeamte berechtigt sind, Kollektivverhandlungen zu führen und in Streik zu treten. Ob diese beiden Entscheidungen richtig sind und welche Konsequenzen sich aus ihnen für das deutsche Verbot des Beamtenstreiks ergeben, ist derzeit heftig umstritten. Die Oberverwaltungsgerichte für Nordrhein-Westfalen (Münster)38 und für Niedersachsen (Lüneburg)39 halten auch angesichts der Entscheidungen des EGMR an dem Streikverbot fest; die Sache ist derzeit beim Bundesverwaltungsgericht anhängig40. Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die hinter den klagenden Lehrern steht, hat bereits angekündigt, dass sie – sollte auch das BVerwG das Streikverbot bestätigen – zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe und notfalls zum EGMR nach Straßburg gehen werde, um das Streikverbot zu kippen. Das alles habe ich hier sehr vereinfacht dargestellt. Es ist wahrscheinlich, dass auch der EGMR das Streikverbot akzeptieren würde, falls es auf bestimmte Ka___________ den Beamten der öffentlichen Verwaltung das Streikrecht einzuräumen.“ Deshalb beantragte er die Streichung des Wortes „Treueverhältnis“. Der Antrag wurde mit 20 gegen eine Stimme abgelehnt. Zit. nach Schneider (Fn. 1), S. 481, 484 f. 35 BVerfG, Beschl. vom 26.6.1991, BVerfGE 84, 212 ff. (Rn. 35); BAG, Urt. vom 10.12.2002, BAGE 104, 155 ff. (Rn. 43); BAG, Urt. vom 24.4.2007, BAGE 122, 134 ff. (Rn. 79); Bernd Müller/Francisca Preis, Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, 7. Aufl., München 2009, S. 49 (Rn. 146) m.w.N. 36 Urt. vom 12.11.2008 – Nr. 34503/97 – Demir und Baykara/Türkei. 37 Urt. vom 21.4.2009 – Nr. 68959/01 – Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei. 38 OVG NRW, Urt. vom 7.3.2012, NVwZ 2012, 890 ff. 39 NdsOVG, Urteile vom 12.6.2012 – 20 BD 7/11 – NdsVBl. 2012, 266 ff., und – 20 BD 8/11 – ZBR 2013, 57 ff. 40 Dazu eingehend Laubinger (Fn. 31).
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tegorien von Beamten (insbesondere Bundeswehr, Polizei, Justiz und Ministerialverwaltung) begrenzt würde. Das Streikverbot für Lehrer dürfte vor dem EGMR allerdings kaum Gnade finden – und darauf spekuliert ver.di vermutlich, indem sie streikende Lehrer bei ihrem gerichtlichen Vorgehen gegen Sanktionen, die gegen sie wegen Beteiligung an Streiks verhängt worden sind, unterstützt. Soviel zu dem strittigen Beamtenstreik. Unstreitig ist hingegen, dass die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes das Streikrecht genießen41. Für sie gelten grundsätzlich die gleichen Regeln wie bei Arbeitsniederlegungen in der Privatwirtschaft. Auch dort ist die Zulässigkeit an bestimmte Voraussetzungen gebunden, insbesondere an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser ist dann verletzt, wenn durch den Streik solche Leistungen beeinträchtigt werden, die lebenswichtig sind. Zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Streiks etwa in den Bereichen der Versorgung mit Wasser und Energie, der Abfallbeseitigung, der Tätigkeit der Polizei, der Feuerwehr oder der Krankenversorgung muss deshalb im konkreten Fall eine Abwägung getroffen werden zwischen dem Ausmaß der Beeinträchtigung der staatlichen Leistungen für die Bürger einerseits und die verfassungsrechtlich gewährleistete Arbeitskampffreiheit (Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG) andererseits. Diese Abwägung kann vor allem für die zulässige Dauer eines Streiks von Bedeutung sein42. Kein Arbeitnehmer kann gezwungen werden, sich an einem Streik zu beteiligen. Will er sich nicht beteiligen, ist er zwar zur Arbeitsleistung verpflichtet, aber nicht auch dazu, die Tätigkeiten zu verrichten, die außerhalb des Arbeitskampfes von den streikenden Arbeitnehmern vorgenommen werden. Eine Ausnahme davon bilden sog. Erhaltungsarbeiten, d.h. solche Tätigkeiten, die zum Schutze des Betriebes, zur Abwehr von Gefahren, die vom Betrieb ausgehen, oder zur Abwehr unverhältnismäßiger Schäden erforderlich sind43. Umstritten ist die Frage, ob Beamte von ihrem Dienstherrn angewiesen werden können, solche Tätigkeiten auszuüben, die außerhalb von Arbeitskämpfen von streikenden Arbeitnehmern ausgeführt werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat das bejaht44, das Bundesverfassungsgericht verneint, solange dafür keine spezielle gesetzliche Regelung vorhanden ist45 – und die gibt es nach wie vor nicht. ___________ 41
Müller/Preis (Fn. 35), S. 62 ff. (Rn. 188 ff.), auch zum Folgenden. Müller/Preis (Fn. 35), S. 63 (Rn. 192). 43 Müller/Preis (Fn. 35), S. 165 (Rn. 463). 44 BVerwG, Urt. vom 10.5.1984, BVerwGE 69, 208 ff. LS: „Beamte können während eines Streiks auf bestreikten Arbeitnehmer-Dienstposten der Verwaltung eingesetzt werden.“ 45 BVerfG, Beschl. vom 2.3.1993, BVerfGE 88, 103 ff. LS.: „Bei einem rechtmäßigen Streik darf die Deutsche Bundespost nicht den Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen anordnen, solange dafür keine gesetzliche Regelung vorhanden ist.“ 42
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Von ihrem Streikrecht machen die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes nahezu jährlich Gebrauch, und zwar – so muss man hinzufügen – in aller Regel einen durchaus verantwortungsvollen. Die dabei erzielten Erfolge sind in der Vergangenheit stets auch den Beamten zugutegekommen, indem die von den Arbeitnehmern erkämpften Gehaltssteigerungen vom Gesetzgeber ohne Abstriche auf die Beamten übertragen wurden. Plakativ ausgedrückt: Die Müllmänner streikten auch für die Staatsekretäre und Professoren. Das hat sich freilich in den letzten Jahren angesichts der angeblich leeren Kassen geändert. Nunmehr werden die von den Beschäftigten erkämpften Gehaltssteigerungen nur mit zeitlicher Verzögerung und auch dann nur zum Teil auch den Beamten gewährt. b) Modalitäten der Einstellung und anderer Maßnahmen zur Gestaltung des individuellen Rechtsverhältnisses Die Beamten stehen in einem öffentlich-rechtlichen, die Beschäftigten in einem privatrechtlichen (arbeitsrechtlichen) Verhältnis zu ihrem Dienstherrn bzw. Arbeitgeber. Dieser Umstand prägt das gesamte Rechtsverhältnis. Im Beamtenrechtsverhältnis regieren das Gesetz und der Verwaltungsakt, im Arbeitsrechtsverhältnis der arbeitsrechtliche Vertrag und das Direktionsrecht des Arbeitgebers. c) Rechtsschutz Der Beamte kann sich an die Verwaltungsgerichte wenden, wenn er sich gegen eine Maßnahme seines Dienstherrn zur Wehr setzen will (§ 126 Abs. 1 BBG, § 54 Abs. 1 BeamtStG). Zuvor muss er allerdings erfolglos Widerspruch eingelegt haben (§ 126 Abs. 2 – 4 BBG, § 54 Abs. 2 – 4 BeamtStG). Der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes hingegen findet Rechtsschutz bei den Arbeitsgerichten. Beide Rechtsschutzmöglichkeiten sind gleichwertig, sodass diese Unterschiede für unser Thema allenfalls geringe Bedeutung haben. d) Disziplinarische Maßnahmen Verstößt ein Arbeitnehmer gegen seine Dienstpflichten, stehen seinem Arbeitgeber zwei Sanktionen zu Gebote: die Abmahnung und die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grunde. Letztere setzt in der Regel eine Abmahnung wegen eines voraufgehenden Fehlverhaltens voraus. Gegen diese Maßnahmen kann der Beschäftigte die Arbeitsgerichte anrufen. Wenn der Beamte sich eines Dienstvergehens (§ 77 Abs. 1 BBG, § 47 Abs. 1 BeamtStG) schuldig macht, kann gegen ihn eine Disziplinarmaßnahme (§§ 5 ff. Bundesdisziplinargesetz – BDisG) verhängt werden. Die drei geringeren Disziplinarmaßnahmen – Verweis, Geldbuße und Kürzung der Dienstbezüge – können durch Disziplinarverfügung, d.h. durch Verwaltungsakt, verhängt werde, den der
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gemaßregelte Beamte vor dem Disziplinargericht46 anfechten kann. Die beiden gravierendsten Maßnahmen – die Zurückstufung im Amt und die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis – können nur durch das Disziplinargericht ausgesprochen werden. Ein weiterer Unterschied zwischen Beamten und Arbeitnehmern besteht darin, dass der Beamte auch noch nach dem Eintritt in den Ruhestand disziplinarisch belangt werden kann. Gemäß § 77 Abs. 2 BBG und § 47 Abs. 2 BeamtStG begeht ein Ruhestandsbeamter insbesondere dann ein Dienstvergehen, wenn er –
sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes betätigt oder
–
an Bestrebungen teilnimmt, die darauf abzielen, den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik zu beeinträchtigen oder
–
gegen die Verschwiegenheitspflicht, gegen die Anzeigepflicht oder das Verbot einer Tätigkeit nach Beendigung des Beamtenverhältnisses oder gegen das Verbot der Annahme von Belohnungen, Geschenken und sonstigen Vorteilen verstößt.
Als Sanktionen drohen ihm die Kürzung oder gar die Aberkennung des Ruhegehalts (§ 5 Abs. 2, §§ 11 und 12 BDisG). Im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer haben dergleichen Sanktionen nicht zu befürchten. Um Missverständnisse vorzubeugen, ist zu betonen, dass das Disziplinarrecht in der Mitte des 19. Jahrhunderts47 nicht zu dem Zweck eingeführt wurde, um die Beamten zu drangsalieren, sondern im Gegenteil: Durch die Einrichtung eines geregelten, mit Rechtsschutzmöglichkeiten ausgestatteten Verfahrens sollten die Beamten gegen willkürliche Maßnahmen ihres Dienstherrn geschützt werden. Diese Schutzfunktion erfüllt das Disziplinarrecht noch heute. Insbesondere kann der Lebenszeitbeamte nur durch disziplinargerichtliches Urteil seines Amtes enthoben werden. Der Beamte kann allerdings – anders als der Arbeitnehmer – durch strafgerichtliches Urteil seines Amtes verlustig gehen, ohne dass es einer behördlichen oder disziplinargerichtlichen Maßnahme bedarf. Denn § 41 Abs. 1 BBG bestimmt: Werden Beamte im ordentlichen Strafverfahren durch das Urteil eines deutschen Gerichts
___________ 46 Gemäß § 45 BDisG werden die Aufgaben der Disziplinargerichtsbarkeit von den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit wahrgenommen. Hierzu werden bei den (erstinstanzlichen) Verwaltungsgerichten Kammern für Disziplinarsachen und bei den Oberverwaltungsgerichten Senate für Disziplinarsachen gebildet. In letzter Instanz entscheiden die beiden Disziplinarsenate des Bundesverwaltungsgerichts. 47 Exemplarisch das preußische Disziplinargesetz für nichtrichterliche Beamte vom 21. Juli 1852 (GS S. 465; abgedruckt bei Summer (Fn. 25), S. 323 ff.). Dazu Köttgen, Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie, Berlin und Leipzig 1928, S. 22 f.; Hattenhauer (Fn. 8), S. 245.
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1. wegen einer vorsätzlichen Tat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr oder 2. wegen einer vorsätzlichen Tat, die nach den Vorschriften über Friedensverrat, Hochverrat, Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates oder Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit oder, soweit sich die Tat auf eine Diensthandlung im Hauptamt bezieht, Bestechlichkeit strafbar ist, zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten
verurteilt, endet das Beamtenverhältnis mit der Rechtskraft des Urteils. Entsprechendes gilt, wenn die Fähigkeit zur Wahrnehmung öffentlicher Ämter aberkannt wird oder wenn Beamte aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 18 GG ein Grundrecht verwirkt haben. e) Gehorsamspflicht und Remonstrationspflicht Die Beamtengesetze (z.B. § 55 BBG, § 35 BeamtStG) verpflichten den Beamten, die von seinen Vorgesetzten erlassenen Anordnungen auszuführen und ihre allgemeinen Richtlinien zu befolgen, sofern er nicht ausnahmsweise durch Gesetz weisungsfrei gestellt worden ist48. Diese Gehorsamspflicht gilt auch als hergebrachter Grundsatz im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG und genießt daher Verfassungsrang49. Die Gehorsamspflicht des Beamten ist aber nicht grenzenlos. Er ist insbesondere dazu verpflichtet, Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen unverzüglich bei seinem unmittelbaren Vorgesetzten geltend zu machen und sie – falls er bei diesem kein Gehör findet – dem nächsthöheren Vorgesetzten vorzutragen. Bestätigt auch dieser die Anordnung, muss der Beamte sie ausführen, sofern nicht das ihm aufgetragene Verhalten strafbar oder ordnungswidrig ist oder die Menschenwürde verletzt (z.B. § 63 Abs. 2 BBG). Darüber hinaus kann der Beamte aufgrund der ihm obliegenden Treuepflicht berechtigt und unter Umständen sogar verpflichtet sein, sich einer dienstlichen Anordnung zu widersetzen, falls deren Befolgung den Dienstherrn schädigen würde. Für die Arbeitnehmer gilt Ähnliches. Wegen des Direktionsrechts des Arbeitgebers sind sie verpflichtet, dessen Anordnungen zu befolgen. In der arbeitsrechtlichen Literatur wird die Ansicht vertreten, die Gehorsamspflicht auch des Arbeitnehmers sei an die Voraussetzung gebunden, dass die ihm erteilte Weisung rechtmäßig ist, und er sei berechtigt, Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit, ___________ 48 Die beamteten Professoren haben zwar einen Dienstvorgesetzten, aber keinen Vorgesetzten und unterliegen daher keinen Weisungen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben in Forschung und Lehre. 49 BVerfG, Beschl. vom 7.11.1994, ZBR 1995, 71 f. (Rn. 5); Bergmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 19 (sub m); Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 46; Merten (Fn. 32), S. 279 f. (Rn. 121 f.); Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 123; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 51.
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Zweckmäßigkeit oder Wirtschaftlichkeit der angeordneten Maßnahme vorzutragen50. Eine Verpflichtung zur Remonstration obliegt dem Arbeitnehmer aber wohl nicht. f) Treuepflicht und politische Treuepflicht aa) Art. 33 Abs. 4 GG kennzeichnet das Beamtenverhältnis als „öffentlichrechtliches Dienst- und Treueverhältnis“. Darüber hinaus ist allgemein anerkannt, dass die Treuepflicht zu den hergebrachten Grundsätzen im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG zählt51. Das Pendant zur Treuepflicht des Beamten ist die Fürsorgepflicht seines Dienstherrn52. Was aber verlangt die Treuepflicht von dem Beamten? Meines Erachtens verlangt sie von ihm einerseits, alles ihm zumutbare zu tun, was die Interessen seines Dienstherrn fördert, und zum anderen alles zu unterlassen, was den Interessen des Dienstherrn abträglich ist53, woraus diesem beispielsweise ein Schaden entstehen könnte54. Aus der Treuepflicht wird häufig das Verbot des Beamtenstreiks abgeleitet55. Kraft allgemeinem Arbeitsrecht obliegt auch den arbeitsrechtlich Beschäftigten innerhalb und außerhalb des öffentlichen Dienstes eine Treuepflicht ihrem
___________ 50
Neffke (Fn. 14), § 3 Rn. 5 und 4. Badura, (Fn. 15), Art. 33 Rn. 60; Bergmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 19 (sub x); Grigoleit (Fn. 15), Art. 33 Rn. 83; Hense (Fn. 15), Art. 33 Rn. 40; Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 46; Lecheler (Fn. 6), AöR 103 (1978), 349 ff., 373; Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 122 ff. Eingehend Laubinger, Die Treuepflicht des Beamten im Wandel der Zeiten, in: Öffentlicher Dienst – Festschrift für C.H. Ule zum 70. Geburtstag, Köln/Berlin/Bonn/München 1977, S. 89 ff. 52 Badura (Fn. 15), Art. 33 Rn. 60, 71; Bergmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 19 (sub l); Hense (Fn. 15), Art. 33 Rn. 43; Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 49; Kunig (Fn. 15), Art. 33 Rn. 63 (Stw. Fürsorgepflicht); Lecheler (Fn. 6), AöR 103 (1978), 349 ff., 376 ff.; Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 132; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 61 f. 53 Laubinger (Fn. 51), S. 110. 54 So auch BAG, Urt. vom 17.5.1968, BAGE 21, 37 ff. (Rn. 31): „Nach heutiger Auffassung wohnt jedem Arbeitsverhältnis eine allgemeine Treuepflicht inne, die auf der Seite des Arbeitnehmers für dessen gesamtes Verhalten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses maßgebend ist. Aufgrund dieser Treuepflicht hat der Arbeitnehmer auf die Interessen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen, wobei es auf die Umstände des Einzelfalles ankommt, welche Handlung (oder Unterlassung) im Einzelnen dem Arbeitnehmer obliegt. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber durch sein Verlangen zum Ausdruck gebracht hat, in welcher Weise der Arbeitnehmer eine bestimmte Pflicht erfüllen soll.“ 55 Siehe die in Fn. 34 wiedergegebene Äußerung des Abg. Renner. 51
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jeweiligen Arbeitgeber gegenüber, beispielsweise die Pflicht zur Schadensabwendung56. Ein Streikverbot für die Arbeitnehmer wird daraus allerdings nicht deduziert. bb) Von der allgemeinen Treuepflicht ist die politische Treuepflicht (Verfassungstreuepflicht) zu unterscheiden. Auch sie findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 33 Abs. 4 und 5 GG57. In den Beamtengesetzen (z.B. § 7 Abs. 1 Nr. 2 BBG, § 7 Abs. 1 Nr. 2 BeamtStG) hat sie ihren Niederschlag unter anderem in der Bestimmung gefunden, dass in das Beamtenverhältnis nur derjenige berufen werden darf, der „die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt“. Zu den Grundpflichten der Beamten gehört, dass sie sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes bekennen und sich für deren Erhaltung einsetzen müssen (§ 60 Abs. 1 Satz 3 BBG, § 33 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG). Und sogar noch der im Ruhestand befindliche Beamte kann disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen werden, wenn er sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung betätigt (s.o.d). Auch einige Tarifverträge für den öffentlichen Dienst enthalten vergleichbare Vorschriften. So bestimmt § 41 Satz 2 des „Besonderen Teils Verwaltung“ des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (BT-V): „Beschäftigte des Bundes und anderer Arbeitgeber, in deren Aufgabenbereichen auch hoheitliche Tätigkeiten wahrgenommen werden, müssen sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen.“58
Doch auch ohne eine derartige tarifvertragliche Verpflichtung wird man annehmen müssen, dass im öffentlichen Dienst Beschäftigte jedenfalls nicht aktiv gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung kämpfen dürfen, ohne gegen ihre arbeitsrechtliche Treuepflicht zu verstoßen.
___________ 56
Müller/Preis (Fn. 35), S. 190 (Rn. 541) und S. 196 (Rn. 563 f.). BVerfG, Beschl. vom 22.5.1975 (Radikalenbeschluss), BVerfGE 39, 334 ff.; Battis (Fn. 15), Art. 33 Rn. 32; Bergmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 19 (sub x1); Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 47; Lecheler (Fn. 6), AöR 103 (1978), 349 ff., 373 ff.; Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 127 ff.; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 52. 58 Eine ähnliche Regelung enthält § 3 Abs. 1 Satz 2 TV-L: „Die Beschäftigten müssen sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen.“ Sie differenziert jedoch nicht danach, ob bei dem betreffenden Arbeitgeber hoheitliche Aufgaben zu erledigen sind oder nicht. 57
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g) Laufbahnprinzip und Laufbahngruppenprinzip, Lebenszeitprinzip aa) Zu den hergebrachten Grundsätzen gehören auch das Laufbahn- und das Laufbahngruppenprinzip59. Eine Laufbahn umfasst alle Ämter (im statusrechtlichen Sinne), welche verwandte oder gleichwertige Vor- und Ausbildung voraussetzen (§ 16 Abs. 1 BBG). Grundsätzlich gehört jede Laufbahn einer der vier Laufbahngruppen des einfachen, mittleren, gehobenen oder höheren Dienstes an. Diese sind den herkömmlichen Bildungsabschlüssen zugeordnet: Sehr verkürzt dargestellt, setzt die Einstellung in den einfachen Dienst den erfolgreichen Besuch der Hauptschule, die Einstellung in den mittleren Dienst den Abschluss der Realschule, die Einstellung in den gehobenen Dienst eine zum Hochschulstudium berechtigende Schulbildung und die Einstellung in den höheren Dienst ein mit einem Mastergrad abgeschlossenes Hochschulstudium voraus (§ 17 BBG). Grundsätzlich beginnt die Karriere mit dem niedrigsten Amt der jeweiligen Laufbahn, dem sog. Eingangsamt. Im Wege der Beförderung kann der Beamte im Laufe der Zeit bei entsprechender Leistung und Befähigung die höheren Ämter der Laufbahn erreichen und sogar die Hürde zur nächsthöheren Laufbahn überspringen (sog. Aufstieg). Der Verleihung des Eingangsamtes vorgelagert ist ein mehrjähriger Vorbereitungsdienst, der der Ausbildung dient und mit einer Laufbahnprüfung abgeschlossen wird, sowie eine Probezeit, in der sich der Probebeamte bewähren muss; gelingt ihm das nicht, ist er zu entlassen. Erst nach erfolgreicher Absolvierung der Probezeit kann der Beamte zum Beamten auf Lebenszeit ernannt werden. Auch das Lebenszeitprinzip wird zu den hergebrachten Grundsätzen gezählt60. Das Laufbahnprinzip hat den Zweck, gut ausgebildete Anwärter für viele gleichartige Stellen bereitzustellen. Im Falle eines dienstlichen Bedürfnisses kann ein Beamter auch gegen seinen Willen innerhalb der Behörde umgesetzt oder zu einer anderen Behörde versetzt oder abgeordnet werden (§§ 27 und 28 BBG). Dadurch gewinnt das Beamtenrecht ein hohes Maß an personalwirtschaftlicher Flexibilität.
___________ 59
Badura (Fn. 15), Art. 33 Rn. 69; Hense (Fn. 15), Art. 33 Rn. 44; Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 44, 45; Merten (Fn. 32), S. 277 f.; Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 143; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 50. 60 Badura (Fn. 15), Art. 33 Rn. 67; Bergmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 19 (sub s); Grigoleit (Fn. 15), Art. 33 Rn. 78; Hense (Fn. 15), Art. 33 Rn. 44; Kunig (Fn. 15), Art. 33 Rn. 63 (Stw. Lebenszeit-/Vollzeitbeschäftigung); Merten (Fn. 32), S. 266 ff. (Rn. 95 ff.); Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 118; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 50.
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bb) Laufbahn- und Laufbahngruppenprinzip sind dem Arbeitsrecht fremd. Die Arbeitnehmer werden grundsätzlich für eine bestimmte Vergütungsgruppe (Entgeltgruppe) eingestellt, die im Arbeitsvertrag festgelegt wird61. Dem Beschäftigten kann grundsätzlich jede zumutbare Tätigkeit im Rahmen der Vergütungsgruppe zugewiesen werden. In Notfällen ist er allerdings verpflichtet, vorübergehend auch solche Tätigkeiten zu verrichten, die nicht der Festlegung des Arbeitsvertrages entsprechen62. Während die Eingruppierung des Arbeitnehmers grosso modo der Übertragung eines ersten Amtes an den Beamten entspricht, ähnelt der Beförderung des Beamten die Höhergruppierung des Arbeitnehmers63. Die Tarifverträge sehen vor, dass die Beschäftigten aus dienstlichen oder betrieblichen Gründen versetzt oder abgeordnet werden können (§ 4 TVöD). Eine Beförderung kennt das Beschäftigtenrecht nicht. Die Eingruppierung in eine höhere Vergütungsgruppe setzt die Änderung des Arbeitsvertrages voraus. Die neuen Tarifverträge betonen die Notwendigkeit lebenslanges Lernens und der Erwerbung höherer Qualifikation durch Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung (§ 5 TVöD). Die Ausbildung ist in Ausbildungstarifverträgen geregelt. Auch das Lebenszeitprinzip gilt für die arbeitsrechtlich Beschäftigten nicht. Jedoch bestimmen die Tarifverträge (jeweils § 34 Abs. 2), dass die Arbeitsverhältnisse von Beschäftigten, die das 40. Lebensjahr vollendet haben, nach einer Beschäftigungszeit von mehr als 15 Jahren durch den Arbeitgeber nur aus einem wichtigen Grund ordentlich gekündigt werden können. Eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund ist aber auch bei diesen „unkündbaren“ Arbeitnehmern nicht ausgeschlossen.
___________ 61 Das ist – der Kürze zuliebe – nicht ganz präzise. Die Eingruppierung ist in Wirklichkeit kein konstitutiver Akt, sie erfolgt nicht durch den Arbeitsvertrag, sondern ergibt sich daraus, dass die Tätigkeit, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zuweist, den Tätigkeitsmerkmalen zuzuordnen ist, die im Tarifvertrag aufgeführt sind. Dabei ist die Tätigkeit maßgebend, die der Arbeitnehmer nach dem Inhalt des Arbeitsvertrages auszuüben hat, auch wenn er später andere Arbeiten zu verrichten hat. Siehe Müller/Preis (Fn. 35), S. 204 (Rn. 580); Schlewing, in: Groeger (Hrsg.), Arbeitsrecht im öffentlichen Dienst, Köln 2010), S. 677 (Rn. 2), 689 ff. (Rn. 34 ff.), 713 (Rn. 97). 62 Müller/Preis (Fn. 35), S. 165 (Rn. 461 f.). 63 Unter Höhergruppierung versteht man die Zuordnung zu einer höheren Entgeltgruppe als Folge des Umstandes, dass die Tätigkeit des Arbeitnehmers nicht (mehr) den Tätigkeitsmerkmalen der Gruppe entspricht, in die er eingruppiert worden ist. Vgl. Müller/Preis (Fn. 35), S. 165 (Rn. 461 f.); Schlewing (Fn. 61), S. 713 ff. (Rn. 98 ff.).
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h) Leistungsprinzip Das Leistungsprinzip zählt ebenfalls zu den hergebrachten Grundsätzen64 und hat überdies seinen Niederschlag in Art. 33 Abs. 2 GG gefunden. Während der hergebrachte Grundsatz nur für die Beamten gilt, ist Art. 33 Abs. 2 GG auch für die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes maßgebend. Inzwischen haben sich auch die Arbeitsgerichte mit auf diese Verfassungsbestimmung gestützte Konkurrentenklagen auseinander zu setzen65. Bis vor wenigen Jahrzehnten spielte das Leistungsprinzip nur bei der Vergabe von Ämtern und Dienstposten eine Rolle, nicht auch bei der Bemessung der Dienstbezüge der Beamten. Das hat sich dadurch geändert, dass für besondere Leistungen Leistungsprämien (Einmalzahlungen) und Leistungszulagen gewährt werden können (§ 42a BBesG und darauf gestützte Rechtsverordnungen). i) Volle Hingabe an den Beruf und Hauptberuflichkeit Die Beamtengesetze (z. B. § 61 Abs. 1 BBG) verpflichten die Beamten, sich mit vollem persönlichem Einsatz ihrem Beruf zu widmen. Auch diese Verpflichtung wird als hergebrachter Grundsatz angesehen66. Er rechtfertigt es, dass Beamte Nebentätigkeiten anzeigen oder sogar genehmigen lassen müssen. Für die im öffentlichen Dienst arbeitsrechtlich Beschäftigten gilt Ähnliches. Sie müssen entgeltliche Nebentätigkeiten ihrem Arbeitgeber rechtzeitig anzeigen, und dieser kann die Nebentätigkeit untersagen oder mit Auflagen versehen, wenn die Nebentätigkeit geeignet ist, die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten oder berechtigte Interessen des Arbeitgebers zu beeinträchtigen (§ 3 Abs. 3 TVöD, § 3 Abs. 4 TV-L). Auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus dem Grundsatz der vollen Hingabe das Verbot der Teilzeitbeschäftigung abgeleitet. Davon rückte der Gesetzgeber Stück für Stück unter dem Eindruck des Arbeitskräftemangels im öffentlichen Dienst, vor allem bei den Schulen, ab. Heute ist Teilzeitbeschäftigung ___________ 64 Badura (Fn. 15), Art. 33 Rn. 68; Battis (Fn. 15), Art. 33 Rn. 27; Bergmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 19 (sub t); Grigoleit (Fn. 15), Art. 33 Rn. 82; Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 45; Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 152 ff.; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 50. Ferner Laubinger, Gedanken zum Inhalt und zur Verwirklichung des Leistungsprinzips bei der Beförderung von Beamten, VerwArch. 83 (1992), 246 ff. 65 Laubinger, Die Konkurrentenklage im öffentlichen Dienst (Teil 2), ZBR 2010, 332 ff., 334 ff. m.w.N.; Hauck-Scholz, in: Groeger (Fn. 61), S. 1372 ff. 66 Badura (Fn. 15), Art. 33 Rn. 67; Bergmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 19 (sub k); Grigoleit (Fn. 15), Art. 33 Rn. 81; Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 45, 48; Merten (Fn. 32), S. 272 ff.; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 50.
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auch unter den Beamten eine weit verbreitete Erscheinung, deren Verfassungsmäßigkeit längst nicht mehr angezweifelt wird, sofern der Beamte mit der Teilzeitbeschäftigung einverstanden ist. Die Zwangsteilzeitbeschäftigung ist nach wie vor verpönt. Die grundsätzliche Zulässigkeit der Teilzeitarbeit für Arbeitnehmer ist unumstritten67. j) Alimentationspflicht der Dienstherrn und Alimentationstheorie aa) Schon in seinem eingangs zitierten Beschluss vom 11. Juni 195868 hat das BVerfG erklärt, es sei ein hergebrachter Grundsatz, „daß den Beamten nach ihrem Dienstrang, nach der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung und nach Maßgabe des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards ein angemessener Lebensunterhalt zu gewähren ist“69. Das Gericht fügte hinzu, dieser Grundsatz sei zu beachten, und hob damit die besondere Bedeutung dieses Grundsatzes hervor. Er erstreckt sich auch auf die Zeit des Ruhestandes sowie auf die Versorgung der Hinterbliebenen, also der Witwen oder Witwer und der unterhaltsbedürftigen Waisen. Kommt der Dienstherr seiner Alimentationspflicht dadurch nicht nach, dass die Dienstbezüge vom Gesetzgeber zu knapp bemessen sind, kann der davon betroffene Beamte gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen. Diese Möglichkeit bietet einen gewissen Ausgleich dafür, dass den Beamten der Streik untersagt ist. Anfänglich ließ das BVerfG es zu, dass sich Beamte mittels der Verfassungsbeschwerde unmittelbar an es selbst wandten. Hiervon ist das Gericht inzwischen abgerückt und verlangt von den Beamten, dass sie zuvor den Verwaltungsrechtsweg beschreiten, indem sie auf die Feststellung klagen, ihr Nettoeinkommen sei verfassungswidrig zu niedrig bemessen70. Ein wichtiger Gesichtspunkt in Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der Verwaltung scheint mir zu sein, dass eine ausreichende Alimentation die beste Vorbeugung gegen Bestechlichkeit und Korruption ist. Diese blühen in besonderem Maße in Ländern, die ihre Staatsdiener unzureichend bezahlen. ___________ 67 Zu den sich aus der Teilzeitarbeit ergebenden rechtlichen Problemen eingehend Laber, Das Teilzeitarbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst, in: Groeger (Fn. 61), S. 515 ff. 68 BVerfGE 8, 1 (Ls. 2) und 14. 69 Ebenso Badura, Art. 33 Rn. 60, 72 ff.; Bergmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 19 (sub a); Grigoleit (Fn. 15), Art. 33 Rn. 84 ff.; Hense (Fn. 15), Art. 33 Rn. 43; Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 44, 50 ff.; Kunig (Fn. 15), Art. 33 Rn. 63 (Stw. Alimentation); Lecheler (Fn. 6), AöR 103 (1978), 349 ff., 366 ff.; Merten (Fn. 32), S. 281 ff.; Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 133 ff.; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 53 ff. 70 BVerwG, Urt. vom 20.3.2008, BVerwGE 131, 20 ff., 27 f. (Rn. 29).
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bb) Die mit der Alimentationspflicht verwandte, aber nicht identische Alimentationstheorie besagt, dass die Dienstbezüge kein Entgelt für die von dem Beamten geleisteten Dienste darstellen, sondern eine Entschädigung dafür, dass er seine ganze Arbeitskraft seinem Dienstherrn zur Verfügung stellt. Das ist keine pure Ideologie, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, sondern hat zur Folge, dass der Dienstherr seinen Beamten auch dann alimentieren muss, wenn dieser – etwa im Falle der Dienstunfähigkeit – nicht in der Lage ist, seine dienstlichen Aufgaben zu erfüllen. k) Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit Die Beamtengesetze (z. B. § 61 Abs. 1 BBG) verpflichten die Beamten, das ihnen übertragene Amt uneigennützig nach bestem Gewissen wahrzunehmen. Auch diese Pflicht hat seine Wurzel in einem hergebrachten Grundsatz71 und hatte schon in Art. 130 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung seinen Niederschlag gefunden. Die Tarifverträge statuieren eine derartige Verpflichtung der Arbeitnehmer – soweit ich sehe – nicht. Letztlich gilt für sie aber nichts anderes, weil sich die genannten Verpflichtungen aus dem Verwaltungsverfahrensgesetz (§ 21 Besorgnis der Befangenheit) und dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG ergeben72. 6. Resumé zur Unterscheidung der Rechtsstellung von Beamten und Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes? Zieht man ein Resumé aus der voraufgehenden Gegenüberstellung, so lässt sich feststellen, dass sich die Rechtsstellung der Beamten und der der Arbeitnehmer im Laufe der Jahrzehnte einander stark angenähert hat, aber auch noch heute einige bedeutsame Unterschiede aufweist. Der Beamte unterscheidet sich vor allem dadurch von seinem arbeitsrechtlich angestellten Kollegen, dass – seine Rechte und Pflichten nicht durch Tarifvertrag und individuelle Vereinbarungen, sondern durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften geregelt werden, – er nicht streiken, aber auch nicht ausgesperrt werden darf, – er für eine bestimmte Laufbahn und nicht für eine bestimmte Tätigkeit eingestellt wird, ___________ 71
Jachmann (Fn. 15), Art. 33 Rn. 47; Merten (Fn. 32), S. 280 f.; Pieper (Fn. 15), Art. 33 Rn. 157; Pieroth (Fn. 15), Art. 33 Rn. 51. 72 Müller/Preis (Fn. 35), S. 191 (Rn. 544) leiten „die Pflicht zur Erhaltung des Ansehens des Staates (z.B. Takt, Sachlichkeit, Unparteilichkeit)“ aus der Treuepflicht des Angestellten ab.
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er nach Bewährung in der Probezeit grundsätzlich auf Lebenszeit anzustellen ist, einem Disziplinarrecht unterliegt, das ihn in seiner Rechtsstellung schützt, er Anspruch auf Alimentation während seiner aktiven Dienstzeit und auch danach im Ruhestand hat, er nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist, gegen rechtswidrige Anweisungen zu remonstrieren. Keine oder nur geringe Unterschiede bestehen hingegen hinsichtlich des Rechtsschutzes (der Rechtsschutz durch Verwaltungs- und Arbeitsgerichte ist gleichwertig), der Gehorsamspflicht, sieht man von der Remonstrationspflicht einmal ab, der politischen und allgemeinen Treuepflicht, der Verschwiegenheitspflicht, der Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit bei der Amtsführung, der Zulässigkeit von Nebentätigkeiten.
III. Berufsbeamtentum und Systemstabilität Damit ist der Boden bereitet für die Erörterung der Frage, ob die besonderen Merkmale des Berufsbeamtentums geeignet sind, die Systemstabilität zu erhöhen, d.h. einen namhaften Beitrag dafür zu leisten, dass der Staat und das öffentliche Leben funktionieren (§ 5 BBG).
Das ist zu bejahen. Das Streik- und Aussperrungsverbot sichert die Funktionsfähigkeit der Verwaltung und darüber hinaus die der anderen staatlichen Organe, die ebenfalls Beamte beschäftigen (Parlaments- und Justizverwaltung). Nachdem die „Beamtenhochburgen“ Post und Bahn im Zuge der Privatisierung geschleift worden sind, hat die Funktionsfähigkeit dieser für das öffentliche Leben wichtigen Lebensbereiche gelitten. Das Laufbahn- und das Lebenszeitprinzip sorgen dafür, dass Beamte gut ausgebildet werden und im Laufe ihrer Karriere Erfahrungen sammeln, die der effektiven und effizienten Erfüllung ihrer Aufgaben (und damit der Systemstabilität) zugutekommen. Diese Attribute des Berufsbeamtentums bieten starke Anreize für den Eintritt in den öffentlichen Dienst und für das Verbleiben in ihm, können aber auch nachteilige Wirkungen entfalten, beispielsweise zur Faulheit verleiten. Den faulen Beamten gibt es – ebenso wie den faulen Angestellten und Arbeiter – nicht nur in Witzen, aber er ist eine Ausnahmeerscheinung. Lebenszeitprinzip, Alimentationsprinzip und Disziplinarrecht verschaffen dem Beamten ein beachtliches Maß an Unabhängigkeit, die ihn – wenn er denn
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dazu bereit ist – gegen parteipolitische Einflüsse abschirmen und die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns absichern. Das mag teilweise als Wunschdenken erscheinen, dürfte aber doch nicht völlig weltfremd sein. Frido Wagener – damals Professor an dieser Hochschule – eröffnete sein Koreferat auf der Bonner Staatsrechtslehrertagung im Jahre 1979 über den öffentlichen Dienst im Staat der Gegenwart mit der – wie er sich ausdrückte – „schockierenden These“, der öffentliche Dienst in der Bundesrepublik Deutschland sei im Vergleich zum Ausland gut73. Er arbeite effektiv, fachlich kompetent, korrekt, interessenneutral und rechtsstaatlich. Dieses Votum eines intimen Kenners der Verwaltungswirklichkeit scheint mir auch heute noch weitgehend zuzutreffen. Unser öffentlicher Dienst erfüllt – ungeachtet mancher Mängel – die ihm zugedachte stabilisierende Funktion in bemerkenswertem Maße. Unser öffentlicher Dienst ist sicherlich besser als sein Image, und das ist vornehmlich der Institution des Berufsbeamtentums zu verdanken. Andererseits sind Schwachstellen und Gefahren nicht zu leugnen. Ein Beispiel dafür ist die offenbar unausrottbare parteipolitische Ämterpatronage, die vor allem unmittelbar nach Wahlen als Einflusspatronage und unmittelbar vor Wahlen als Versorgungspatronage zu beobachten ist. Das hat Fehlbesetzungen zur Folge. Vor allem aber demotiviert die Ämterpatronage diejenigen Beamten, die von ihr nicht profitieren, sondern unter ihr leiden. Als ein nicht ganz untaugliches Gegenmittel hat sich die Konkurrentenklage erwiesen, die eine gewisse abschreckende Wirkung zu entfalten scheint. Gefahren für eine unparteiische Amtsführung ergeben sich ferner aus der von Frido Wagener anschaulich geschilderten gegenseitigen personellen Durchdringung von Parteien und Behörden. Er sagte74: „In der Mehrzahl der Ministerien und großen Behörden existieren neben der amtlichen Organisationshierarchie informelle Bedienstetenzirkel der großen Parteien. Die jeweiligen öffentlichen Bediensteten, die einer bestimmten politischen Partei angehören, treffen sich unabhängig von ihrem Rang und ihrer organisatorischen Einbindung und besprechen, klären und (vor-)entscheiden dienstliche Angelegenheiten, insbesondere Personalentwicklungen. Die Parteigruppierungen im öffentlichen Dienst beraten auch fachlich ausgerichtete Fraktions-Arbeitsgemeinschaften in ihrer Gesamtheit. In den großen Städten gehen Beigeordnete und Amtsleiter ganz selbstverständlich in ‚ihre‘ Fraktionssitzung.“
Wenn dem so sein sollte, wäre das Berufsbeamtentum nicht in der Lage die ihm vom Bundesverfassungsgericht zugedachte Funktion zu erfüllen, „einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräf___________ 73 74
VVDStRL 37, 215 ff., 216. A.a.O. (Fn. 73), S. 235 f.
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ten“ darzustellen. Der gelegentlich geäußerte Gedanke, den Beamten die Mitgliedschaft in politischen Parteien zu verbieten, dürfte verfassungs- und europarechtlich kaum haltbar sein und ist politisch nicht durchsetzbar.
IV. Schlussbemerkung Ein kurzes Fazit: Die Institution des Berufsbeamtentums hat sich – trotz gewisser Mängel – bewährt und trägt in erheblichem Maße zum Funktionieren von Staat und Gesellschaft bei.
Aktuelle Fragen des Berufsbeamtentums Von Hyun Im
I. Einleitung Thema meines Referats ist das Berufsbeamtentum in Deutschland und SüdKorea. Während Beamte einerseits als Säulen des Staates und als Hüter von Recht und Gesetz bezeichnet werden, werden sie andererseits auch als Hindernis für eine moderne, effiziente und flexible Verwaltung betrachtet.1 Der gesellschaftliche, technologische und demokratische Wandel fordert auch von der Verwaltung Innovationen. Die Modernisierung der Verwaltung und der Abbau überflüssiger Bürokratie sind daher von großer Bedeutung. Das Jahr 2006 markiert mit der Föderalismusreform I den Beginn der Dienstrechtsreform in Deutschland. Durch die Föderalismusreform ist die Gesetzgebungskompetenz für das öffentliche Dienstrecht meistens auf die Bundesländer übergegangen. Danach haben die Länder eigene dienstrechtliche Regelungen erlassen. Im Laufe der Föderalismusreform hat der Gesetzgeber versucht, die Traditionsbindung zu lockern, indem er einen Auftrag zur „Fortentwicklung“ des öffentlichen Dienstrechts in Art. 33 Abs. 5 GG eingefügt hat.2 Dadurch wird dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt, der in der Vergangenheit längst nicht ausgeschöpft wurde. Der Gesetzgeber hat bei der Regelung und Fortentwicklung des Rechts aber weiterhin die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums nicht nur zu berücksichtigen, sondern zu beachten. Sobald das Verfassungsgericht feststellt, dass eine neue Regelung gegen die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums verstößt, ist diese Regelung verfassungswidrig. Daher ist die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen des öffentlichen Dienstrechts sehr schwierig zu beantworten. Auch das koreanische Verfassungsrecht kennt die institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums. Das Phänomen des Berufsbeamtentums hat sich in Korea aber nicht historisch entwickelt. Auch wenn das koreanische Verfassungsgericht die neuen Rechte der Beamten, die nicht in Beamtengesetzen niedergelegt sind, ___________ 1
Zu den Sichtweisen über Berufsbeamtentum in Deutschland, vgl. Bull, Die Zukunft des Beamtentums: Zwischen Recht und Politik, Staats- und Verwaltungslehre, Die Verwaltung 2009, 1. 2 Bull, a.a.O., 10.
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nicht geschaffen hat, spielt die Haltung des Verfassungsgerichts bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen in Korea jedoch eine große Rolle. Das koreanische Verfassungsgericht betont immer wieder den gesetzgeberischen Ermessensspielraum bei der Gestaltung des öffentlichen Dienstrechts. Hier besteht im Vergleich zur deutschen Rechtsprechung ein Unterschied. Die Veränderung des Berufsbeamtentums ist auch im Zusammenhang mit der Bürokratiekritik zu sehen, weil die Rechte der Beamten, die durch die institutionelle Garantie gewährleistet werden, sich auf die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben von Beamten beziehen. Das folgende Referat behandelt, wie sich das Berufsbeamtentum unter dem Einfluss der Verwaltungsmodernisierung und der Bürokratiekritik entwickeln wird oder wie es sich entwickeln sollte. Ein derartiger Wandel stellt eine Herausforderung für die Stabilität des Berufsbeamtentums dar. Ziel des Referats ist es aber nicht, Lösungsansätze zu präsentieren, sondern den weiteren Forschungsbedarf, was die verfassungsrechtlichen Grenzen des öffentlichen Dienstrechts anbelangt, aufzuzeigen.
II. Verfassungsrechtliche Garantie des Berufsbeamtentums 1. Berufsbeamtentum in Deutschland a) Rechtsgrundlagen Art. 33 Abs. 4 und 5 GG bilden die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Berufsbeamtentums in Deutschland. Das Grundgesetz gewährleistet das Berufsbeamtentum als institutionelle Garantie und diese Gewährleistung richtet sich vor allem an den Gesetzgeber. Die institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums im Grundgesetz kennt zwei Erscheinungsformen, den Funktionsvorbehalt (Art. 33 Abs. 4) und die Strukturgarantie (Art. 33 Abs. 5).3 Art. 33 Abs. 4 GG bestimmt, dass die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen ist, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treuverhältnis stehen. Art. 33 Abs. 5 GG erklärt für diesen Personenkreis den Kerninhalt der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu einem verfassungsrechtlich gewährleisteten Status, den der Gesetzgeber bei der Regelung und Fortentwicklung des Rechts des öffentlichen Dienstes zu berücksichtigen hat.4 ___________ 3
Balzer, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, 2009, S. 66. Vetter, Zur Verfassungsmäßigkeit der Besoldung im Land Berlin nach der Föderalismusreform, LKV 2011, 194. 4
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Der Inhalt des Berufsbeamtentums hat mit den sogenannten „hergebrachten Grundsätzen“ einen gemeinsamen historischen Hintergrund. Das Bundesverfassungsgericht betrachtet die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums als „jenen Kernbestand von Strukturprinzipien, die allgemein oder doch ganz überwiegend und während eines längeren, Tradition bildenden Zeitraums, mindestens unter der Reichsverfassung von Weimar, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind“.5 b) Das öffentliche Dienstrecht nach der Föderalismusreform I Im Rahmen der Föderalismusreform6 wurde der Art. 33 Abs. 5 GG um den Zusatz „und fortzuentwickeln“ ergänzt. Daher wird dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt, der in der Vergangenheit nicht ausgeschöpft wurde. Roland Koch bezeichnete diese Einfügung als „eine Art Justizkorrektur durch den verfassungsändernden Gesetzgeber“.7 Das Bundesverfassungsgericht hält jedoch Änderungen zurück, indem es behauptet, fortzuentwickeln sei „allein das Recht des öffentlichen Dienstes, nicht aber der hierfür geltende Maßstab, die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums. Änderungen, die mit den Grundstrukturen des von Art. 33 Abs. 5 GG geschützten Leitbildes des deutschen Berufsbeamtentums nicht in Einklang gebracht werden können, verstießen auch weiterhin gegen die Vorgaben der Verfassung“.8 Der Übergang von Gesetzgebungskompetenzen vom Bund auf die Länder im Bereich des öffentlichen Dienstrechts gehörte zu den zentralen Elementen der Länder bei der Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung. Dabei wurden die Rahmengesetzgebungskompetenzen des Bundes für die Rechtsverhältnisse des öffentlichen Dienstes der Länder, Gemeinden und anderer Körperschaften in Art. 75 Abs. 1 GG aufgehoben und die Statusrechte der Beamten der Länder, Gemeinden und anderer Körperschaften des öffentlichen Rechts – mit Ausnahme der Laufbahnen, Besoldung und Versorgung – in die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes überführt.9 ___________ 5
BVerfGE 8, 332; Bull, a.a.O., 4. Über das Reformkonzept, Laubinger, Zur Reform des Beamtenrechts, in: Merten (Hrsg.), Justizreform und Rechtsstaatlichkeit, Forschungssymposium anlässlich des 100. Geburtstages von Carl Hermann Ule, 2008, S. 73-75. 7 Koch, Das öffentliche Dienstrecht nach der Föderalismusreform I, DVBl 2008, 808; vgl. Bull, a.a.O., 6. 8 BVerfGE 121, 205; Hebeler, Die Verfassungswidrigkeit der Vergabe von Führungsämtern auf Zeit, ZBR 2008, 304. 9 Koch, a.a.O., 805. 6
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Einige Länder, wie Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Brandenburg, haben die eingeräumte Gesetzgebungskompetenz in Bezug auf Laufbahnen, Besoldung und Versorgung ausgeschöpft. Die Mehrheit der Länder hat ihre eigenen Landesbeamtengesetze aber lediglich technisch an das Beamtenstatusgesetz angepasst. Die technischen Anpassungen können jedoch durchaus eigenständigen Regelungsgehalt entfalten, wie die Abschaffung des Vorverfahrens für beamtenrechtliche Klagen gegen dienstliche Beurteilungen (§111a Nr. 2 Landesbeamtengesetz Berlin) oder die Beibehaltung der Vergabe von Führungsämtern auf Zeit (§19 b Sächsisches Beamtengesetz) zeigen.10 Im Unterschied zu den o. g. Gesetzen ist das Gesetz zum neuen Dienstrecht in Bayern ein sogenanntes Mantelgesetz. Das bedeutet, dass es mehrere eigenständige Gesetze sowie Änderungsgesetze umfasst. Neu geschaffen wurden das bayerische Besoldungsgesetz, das bayerische Beamtenversorgungsgesetz und das Gesetz über die Leistungslaufbahn und die Fachlaufbahnen der bayerischen Beamten und Beamtinnen (Leistungslaufbahngesetz). Außerdem enthält das Gesetz zum neuen Dienstrecht in Bayern eine Vielzahl von Änderungsgesetzen, wie z. B. das bayerische Beamtengesetz.11 Die Landtage können künftig in den übertragenen Gesetzgebungsbereichen eigenes Recht erlassen und den öffentlichen Dienst entsprechend den eigenen Erfordernissen des jeweiligen Landes neu strukturieren. Sie haben mehr Gestaltungsspielraum als vor der Föderalismusreform, öffentliche Dienstleistungen kostengünstiger durchzuführen, um die Belastungen der Landeshaushalte zu begrenzen.12 Einige Bundesländer kämpfen mit einem Personalüberhang im öffentlichen Dienst. Dieser stellt sie vor schwerwiegende Probleme, die nicht ausschließlich finanzieller Natur sind.13 Einige Länder haben Teilzeitbeamte als Lösungsstrategie eingeführt. Mit Beschluss vom 19. September 2007 erkannte aber das Bundesverfassungsgericht, dass die antragslose Teilzeitbeschäftigung von Beamten verfassungswidrig ist, da diese gegen die gemäß Art. 33 Abs. 5 GG zu beachtenden Grundsätze der Hauptberuflichkeit und der amtsangemessenen Alimentation der Berufsbeamten verstößt.14
___________ 10
Battis, Reform des Beamtenrechts – eine Zwischenbilanz, ZBR 2010, 21. Bayerisches Staatsministerium der Finanzen, Informationen – Das Neue Dienstrecht in Bayern, 2010, S. 9. 12 Koch, a. a. O., 805. 13 Szalai, Beamte in Teilzeit und Versetzung von Vollzeitbeamten, DÖV 2009, 312. 14 BVerfGE 119, 247. 11
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2. Berufsbeamtentum in Süd-Korea In Art. 7 sieht auch die koreanische Verfassung eine institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums vor.15 Diese Gewährleistung richtet sich vor allem an den Gesetzgeber. Die Beamten sollen nach dem Art. 7 die allgemeine Dienstund Treuepflicht zur Amtsführung und zur politischen Treue ausführen. Die einzelnen Pflichten des Beamten sind nicht im Verfassungstext bestimmt, sondern ergeben sich aus den verschiedenen öffentlichen Dienstrechten.16 Daher richtet diese Gewährleistung des Berufsbeamtentums sich vor allem an den Gesetzgeber. Staatsbeamtengesetz und Kommunalbeamtengesetz in Korea enthalten konkrete Klauseln über das Berufsbeamtentum. Die Rolle des Beamten als Bedienstete des Volkes im modernen demokratischen Staat ist zwangsläufig mit den Pflichten und Haftungen des Beamten zur Verwirklichung des Gemeinwohls verknüpft.17 Der Begriff des koreanischen Beamten ist im weiten Sinne zu verstehen. Berufsbeamter ist nur der LaufbahnBeamte im Sinne des Staatsbeamtengesetzes und des Kommunalbeamtengesetzes.18 Korea hat keine historische Entwicklung des Berufsbeamtentums. In Korea sind daher die hergebrachten Grundsätze nicht anwendbar wie in Deutschland. Für die Verwirklichung des Funktionsvorbehalts bestimmen die koreanischen öffentlichen Dienstrechte unmittelbar den Kernbereich des Berufsbeamtentums als die Rechte der Beamten. In der Regel werden als die wesentliche Gehalte des Berufsbeamtentums die Gewährleistung des Beamtenstatus und die Sicherstellung der politischen Neutralität definiert.19 Wie in Art. 7 Abs. 2 der koreanischen Verfassung über die Gewährleistung der Rechtsstellung des Beamten20 vorgesehen, enthalten Staatsbeamtengesetz und Kommunalbeamtengesetz konkrete Bestimmungen über die Gewährleistung des Beamtenstatus. Die Gewährleistung der Rechtsstellung des Beamten bedeutet grundsätzlich die Gewährleistung des ___________ 15
Koreanische Verfassungsgerichtsentscheidung 95Hun-Ba48. Yi, Jahrgrenzen der Dienstlaufbahn im Beamtenrecht, Chung-Ang Journal of Legal Studies, Vol. 29, Nr. 1, 2005, 173. 17 Kim, Die systemstabilisierende Funktion und Aufgabe des Berufsbeamtentums, Public Land Law Review, Vol. 63, 2013. 347; Han, Die Bedeutung des Art. 7 im Koreanischen Verfassungsrecht und die Gewährleistung des Berufsbeamtentums, Korean Lawyers Association Journal(Bup Jo), Vol. 674, 2012, 25. 18 Koreanische Verfassungsgerichtsentscheidung 89Hun-Ma32·33. 19 Seok/Song, Allgemeines Verwaltungsrecht II, 2013, S. 220-223; Hong, Verwaltungsrecht, 2011, S. 1062; Kim, a.a.O., 351. 20 Das Amt im statusrechtlichen Sinne kennzeichnet die Rechtsstellung des Beamten und ist auch die Basis der versorgungsrechtlichen Ansprüche des Beamten, vgl. Summer, Das Amt im statusrechtlichen Sinne, in: Pechstein (Hrsg.), Beiträge zum Beamtenrecht, 2007, S. 48. 16
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Lebenszeitprinzips. Daher definiert das Staatsbeamtengesetz den Laufbahn-Beamten als einen Beamten, der nach der Laufbahn und Leistung ernannt wird, dem sein Status gewährleistet wird und der lebenslang als Beamter arbeitet. Art. 68 Staatsbeamtengesetz sieht vor, dass kein Beamter gegen seinen Willen ohne Vorliegen der in diesem Gesetz genannten Gründe beurlaubt, degradiert oder seines Dienstes enthoben werden darf. Disziplinarmaßnahmen gegen Beamte sind nur aufgrund der in diesem Gesetz bezeichneten Gründe (Art. 78 Staatsbeamtengesetz) möglich. Der Beamte kann eine Beschwerde einlegen und die Verwaltungsrechtspflege gegen nachteilige Verfügungen oder Disziplinarmaßnahmen in Anspruch nehmen (Art. 9 und Art. 16 Staatsbeamtengesetz). Aufgrund der Finanzierungsprobleme und der Jugend-Arbeitslosigkeit im öffentlichen Dienst wurden Teilzeitverbeamtungen vorgenommen. Das Teilzeitbeamtensystem wurde in das Staatsbeamtengesetz seit 2002 (Art. 26-2) und in das Kommunalbeamtengesetz seit 2007 (Art. 25-3) eingeführt. In diesem Jahr werden Lebenszeit-Teilzeitbeamten, die etwa 20 Stunden pro Woche arbeiten und eine Besoldung von etwa 30-50% eines Vollzeitbeamten erhalten, zum ersten Mal ausgewählt. Die grundlegende Idee des Berufsbeamtentums ist die enge Gebundenheit des Beamten an Staat und Verfassung (Treuepflicht). Im Gegenzug enthält der Beamte eine fast unkündbare Position.21 Daher sollten die Fragen der Zulässigkeit des Teilzeitbeamten und des Umfangs seiner Einführung sorgfältig überprüft werden, bedeutet doch die Einführung des Teilzeitbeamten im Gesetz eine grundlegende Änderung der Gewährleistung des Beamtenstatus. Das Leistungsprinzip kann ein überzeugender Grund für die Verfassungsmäßigkeit des Teilzeitbeamtensystems sein. Hierzu sind die Fragen, inwiefern das Alimentationsprinzip und die Fürsorgepflicht der Dienstherrn angewendet werden, zu beantworten. Art. 7 Abs. 2 der Koreanischen Verfassung statuiert einen Gesetzesvorbehalt hinsichtlich der politischen Neutralität des Beamten. Das Staatsbeamtengesetz verbietet die Beteiligung an der Bildung einer Partei oder politischen Körperschaft, den Eintritt in eine Partei oder politische Körperschaft und die Wahlbewerbung (Art. 65). Nach herrschender Meinung ist diese Regelung ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot, Allerdings hält das Koreanische Verfassungsgericht diese Regelung für verfassungsmäßig.22 Es gibt vielfältige Meinungen in Korea darüber, in welchem Maße die politische Tätigkeit des Beamten erlaubt werden soll. Bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit in Korea spielt die Meinung des Verfassungsgerichts eine große Rolle. Das Koreanische Verfassungsgericht betont immer wieder den gesetzgeberischen Ermessensspielraum bei der Gestaltung des öffentlichen Dienstrechts. ___________ 21 22
Szalai, a.a.O., 314. Koreanische Verfassungsgerichtsentscheidung 2009Hun-Ba298.
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III. Bürokratiekritik und Berufsbeamtentum 1. Anforderung des Bürokratieabbaus Wegen der Statusgarantie, des gesicherten Einkommens, und der gesellschaftlichen Anerkennung ist der öffentliche Dienst in Korea ein sehr beliebter Karriereweg. Andererseits sind jedoch auch neue politische und gesellschaftliche Akzente im Sinne eines Bürokratieabbaus und einer Stärkung privatwirtschaftlicher Elemente gesetzt worden. Das ist ähnlich wie in Deutschland.23 Ein erster Schritt war die Zulassung von Privatrundfunk, ein weiterer die auch durch das europäische Gemeinschaftsrecht erzwungene Privatisierung der bisher als öffentlich-rechtliche Sondervermögen geführten Deutschen Post und Deutschen Bahn sowie die Privatisierung der Energieversorgung. Die Zahl der Bediensteten im öffentlichen Dienst nimmt seitdem ständig ab, die Bedeutung des Berufsbeamtentums ebenso, Post- und Bahnbeamte wird es bald keine mehr geben, Deutsche Bahn, Deutsche Telekom, Deutsche Post und Postbank sind teilweise noch in Staatsbesitz befindliche, aber nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen geführte Unternehmen. Klassische Bürokratie wurde – jedenfalls nach der Überzeugung mancher Politiker – mehr und mehr zu einem Kosten- und Störfaktor. An allen Ecken und Enden des deutschen Verwaltungsrechts wurden Vorschriften ersonnen, um Entscheidungen und damit Investitionen zu beschleunigen.24 Zur Zeit scheint aber auch die Privatisierungswelle langsam abzuebben. Im Hinblick auf die auf europäischer Ebene geplante Liberalisierung der Wasserversorgung zeigen sich erhebliche Widerstände. Die Vorstellung, dass die Trinkwasserversorgung in Zukunft von großen Konzernen übernommen wird, gefällt vielen Bürgerinnen und Bürgern nicht. Die Immobilien- und Finanzkrisen der letzten Jahre haben gezeigt, dass bürokratische Aufgabenerfüllung durchaus ihre Vorteile hat. Sie stellt eine Orientierung am öffentlichen Interesse sicher, und zwar unmittelbar.25 In Bezug auf die Auslegung des Art. 33 Abs. 4 GG, behauptete Udo Di Fabio, es gebe keinen absoluten Staatsvorbehalt zugunsten einer staatlichen Aufgabenerfüllung und das Verfassungsrecht ziehe nur eine ganz schwache Grenze bezüglich der Neuverteilung von Aufgaben.26 ___________ 23
Über die Bürokratiekritik, vgl. Manssen, Verwaltungsrecht als Standortnachteil? – Möglichkeiten und Grenzen des Bürokratieabbaus, 2005. 24 Manssen, Geschichte der Bürokratie in Deutschland seit 1945, in: Deutsch-Koreanisches Symposium – Aktuelle Probleme in der Bürokratieforschung, 2013, S. 4-5. 25 Manssen, a.a.O., S. 6. 26 Di Fabio, Privatisierung und Staatsvorbehalt, JZ 1999, 585-592.
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Viel verspricht man sich derzeit von der Privatisierung und dem sog. PublicPrivate-Partnership-Modell, also der gemeinsamen Aufgabenerfüllung von Privaten und öffentlicher Hand. Hierfür gibt es sicher sinnvolle Anwendungsbereiche. Auch in diesem Bereich müssen aber Vor- und Nachteile gut abgewogen werden.27 2. Grundrechtsschutz durch Verfahren und Bürokratie Es ist offensichtlich, dass das Verwaltungsverfahren und damit die Bürokratie auch dazu dienen, die Grundrechte abzusichern. Die Öffentlichkeit soll frühzeitig in die Planung von Großprojekten eingebunden werden, um eine bessere Akzeptanz solcher Vorhaben zu erreichen.28 Ferner gewährleistet das Verwaltungsprozessrecht einen besseren und schnelleren Rechtsschutz. Ob sich damit die Probleme lösen lassen, muss man allerdings bezweifeln. Das sog. NIMBY-Problem lässt sich dadurch nicht beseitigen. Wer will schon neben einer Müllbeseitigungsanlage wohnen oder unter einer Anflugschneise für einen Flughafen oder in der Nähe einer neuen Bahnstrecke.29 Der Gesetzgeber muss dennoch sowohl die Kostenfaktoren als auch die Bedeutung öffentlichrechtlicher Regelungen, insbesondere verwaltungsrechtlicher Regelungen für den Grundrechtsschutz berücksichtigen.
IV. Fazit Der Beamte ist das Instrument des Staates für die Aufgabenerfüllung. Deshalb ist eine Beschäftigung mit dem Thema „Berufsbeamtentum” immer auch eine Reflexion über die Staatsaufgaben. Daher ist es bei jeder Neuverteilung von öffentlichen Aufgaben unerlässlich, gründlich zu überdenken, welche Aufgaben tatsächlich erfüllt werden müssen. Hierauf gibt die Verfassung keine klare Antwort. Bei einer Neuverteilung von öffentlichen Aufgaben müssen deshalb die Vor- und Nachteile gut abgewogen werden. Eine schlichte Deregulierung und Abbau von Bürokratie ist nicht wünschenswert. Denn sowohl die Deutschen als auch die Koreaner wollen letztlich nicht zwingend weniger Verwaltung, sondern eine bessere Verwaltung.
___________ 27 28 29
Manssen, a.a.O., S. 5-6. Manssen, a.a.O., S. 6. Manssen, a.a.O., S. 6.
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Literatur Badura, Peter, Die Verantwortung des Bundes für die amtsangemessene Beschäftigung der im Bereich der Deutschen Telekom AG tätigen Beamten, DÖV 2010, 533-542. Balzer, Ralph, Republikprinzip und Berufsbeamtentum, Berlin, 2009. Battis, Ulrich, Reform des Beamtenrechts – eine Zwischenbilanz, ZBR 2010, 21-31. Bayerisches Staatsministerium der Finanzen, Informationen – Das Neue Dienstrecht in Bayern, 2010. Bull, Hans Peter, Die Zukunft des Beamtentums: Zwischen Recht und Politik, Staatsund Verwaltungslehre, Die Verwaltung 2009, 1-26. Di Fabio, Udo, Privatisierung und Staatsvorbehalt, JZ 1999, 585-592. Han, Soo Ung, Die Bedeutung des Art. 7 im Koreanischen Verfassungsrecht und die Gewährleistung des Berufsbeamtentums, Korean Lawyers Association Journal, Vol. 674, 2012, 5-52. Hebeler, Timo, Die Verfassungswidrigkeit der Vergabe von Führungsämtern auf Zeit, ZBR 2008, 304-310. Kim, Hee-Gon, Die Systemstabilisierende Funktion und Aufgabe des Berufsbeamtentums, Public Land Law Review, Vol. 63, 2013, 345-367. Kim, Soojin, Eine Studie über Herausforderung zum Berufsbeamtentum nach der Dienstrechtsreform in Deutschland 2006, Local Government Law Journal 2011, 361-383. Knopp, Lothar, Föderalismusreform – Zurück zur Kleinstaaterei?, NVwZ 2006, 12161220. Koch, Roland, Das öffentliche Dienstrecht nach der Föderalismusreform I, DVBl 2008, 805-811. Laubinger, Hans-Werner, Zur Reform des Beamtenrechts, in: Merten (Hrsg.), Justizreform und Rechtsstaatlichkeit, Forschungssymposium anläßlich des 100. Geburtstages von Carl Hermann Ule, 2008, S. 73-109.
–, Die Systemstabilisierende Funktion des Berufsbeamtentums, Public Land Law Review, Vol. 63, 2013, 473-500. Lorse, Jürgen, Reföderalisierung des Dienstes in Deutschland: Gesamtstaatliche Verantwortung oder Rückkehr zur Kleinstaaterei im deutschen Beamtenrecht?, DÖV 2010, 829-837. Manssen, Gerrit, Verwaltungsrecht als Standortnachteil? – Möglichkeiten und Grenzen des Bürokratieabbaus, Vortrag, gehalten vor der Juristischen Studiengesellschaft Regensburg am 15. November 2005, München, 2006.
–, Geschichte der Bürokratie in Deutschland seit 1945, in: Deutsch-Koreanisches Symposium – Aktuelle Probleme in der Bürokratieforschung, 2013.
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Seok, Jong-Hyun/Song, Dong-Soo, Allgemeines Verwaltungsrecht II, Seoul: SamyoungSa, 2013. Szalai, Stephan, Beamte in Teilzeit und Versetzung von Vollzeitbeamten?, DÖV 2009, 311-319. Vetter, Joachim, Zur Verfassungsmäßigkeit der Besoldung im Land Berlin nach der Föderalismusreform, LKV 2011, 193-200. Yi, Jong-Yeong, Jahrgrenzen der Dienstlaufbahn im Beamtenrecht, Chung-Ang Journal of Legal Studies, Vol. 29, Nr. 1, 2005, 173-192.
Die systemstabilisierende Funktion und die Aufgabe des Berufsbeamtentums Von Hee-Gon Kim
I. Einleitung Es ist zurzeit umstritten, ob die Internetzensur durch den koreanischen Zentralgeheimdienst NIS (National Intelligence Service) eine unzulässige Einmischung in die Präsidentschaftswahlen im Dezember 2012 darstellte. Vor einigen Jahren ist eine Debatte darüber entbrannt, ob dem Präsidenten eine individuelle politische Äußerungsfreiheit eingeräumt werden kann. Seit der Einführung des Teilzeitbeamtensystems im Jahre 2002 nimmt die Zahl der Teilzeitbeamten ständig zu. Ebenso ist ein Anstieg sog. Tarifbeamter zu verzeichnen, deren Tarifvertrag eine zeitliche Befristung vorsieht. Die Tarifbeamten wurden im Zuge eines offenen Dienste- und Beamtensystems im Jahre 1999 eingeführt. Ziel war die Überwindung der hierzulande als Asienkrise bezeichneten Finanz-, Währungs-, und Wirtschaftskrise 1997, von der nicht nur Korea betroffen war. Die koreanische Regierung plant einen weiteren Ausbau der Zahl von Teilzeitbeamten für das Jahr 2014. Dabei sollen das Staatsbeamtengesetz (SGB) sowie das Kommunalbeamtengesetz (KBG) geändert werden. Ziel der Maßnahme ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, allen voran unter den Jugendlichen. Das Berufsbeamtentum ist durch Art. 7 KV (Koreanische Verfassung) garantiert. Das SGB und das KBG enthalten einfachrechtliche Ausgestaltungen. Bedeutung, Inhalt, Funktion und sonstige Modalitäten des Berufsbeamtentums werden dadurch präzisiert.
II. Das Berufsbeamtentum und der Öffentliche Dienst 1. Begriff und Geschichte des Berufsbeamtentums a) Begriff des Berufsbeamtentums Das Berufsbeamtentum gewährleistet den institutionellen Bestand der Beamten. Dazu gehören alle Personen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und
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Treueverhältnis stehen und nach Fähigkeit und Leistung bezahlt werden. Die Beamtenschaft soll die Einhaltung der Verfassung und der Gesetze sicherstellen und eine stabile, unparteiische Verwaltung ermöglichen, und zwar unabhängig von einem Regierungswechsel.1 Das Beamtenverhältnis wird durch zwei besondere Merkmale charakterisiert: formal durch ein öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis, materiell durch ein bestimmtes Amtsethos. Auf der einen Seite entsteht daraus für den Beamten eine besondere Verpflichtung gegenüber dem Staat, auf der anderen Seite ist dem Staat eine besondere Fürsorgepflicht auferlegt. Das Beamtentum ist im Wesentlichen durch folgende Merkmale gekennzeichnet2: a) Das Beamtenverhältnis ist ein öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis. Rechte und Pflichten werden also nicht durch einen privatrechtlichen Arbeits- und Dienstvertrag begründet, sondern auf Grund öffentlich-rechtlicher Vorschriften durch einseitigen Hoheitsakt des Dienstherrn. b) Dienst als Beamter bedeutet grundsätzlich Beruf auf Lebenszeit, weswegen das Beamtenverhältnis in der Regel unbefristet ist. Bei Erreichen einer Altersgrenze erfolgt der Eintritt in den Ruhestand. Das schließt die Kategorie des Probe-, Widerrufs-, Zeit-, Teilzeitbeamten oder des politischen Beamten nicht aus. c) Das Beamtenverhältnis basiert hinsichtlich Zugang, Verwendung und Beförderung auf dem Leistungsprinzip. d) Der Beamte ist Recht und Gesetz sowie dem Gemeinwohl verpflichtet. Der Beamte ist Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei. Diese Bindung bringt politische Mäßigung und parteipolitische Neutralität mit sich. e) Der Rechtsstatus des Beamten ist trotz der grundsätzlichen Anstellung auf Lebenszeit nicht schlechthin unveränderbar. f) Dem Beamten ist ein umfassender außergerichtlicher und verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz gewährt.
___________ 1 BVerfGE 7, 162 f.; BVerfGE 8, 16; KVerfG, Urt. vom 18.12.1989, 89, Hunma 32, 33; KVerfGE 1, 352; KVerfG, Urt. vom 24.4.1997, 95, Hunba 48; KVerfGE 9-1, S. 443; Chul Yong Kim, Verwaltungsrecht, 2011, S. 919; Soo Ung Han, Verfassung, 2012, S. 1244. 2 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 369 – 377.
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b) Die Geschichte des Berufsbeamtentums Vor dem 30-jährigen Krieg (1618 – 1648) gab es in Europa Bedienstete auf der Grundlage des Lehensrechts oder Privatdienstvertrags. Das Berufsbeamtentum entwickelte sich im 17. Jahrhundert mit der Überwindung des Ständestaates und der Entstehung des absolutistischen Staates. Mitte des 17. Jahrhunderts benötigte der Landesherr für seine größer werdende Verwaltung und das Heerwesen landesherrliche Diener, die durch einseitigen Hoheitsakt in Pflicht genommen wurden. Sie waren zunächst Fürstendiener. Im Absolutismus war das Berufsbeamtentum dem Monarchen verpflichtet und wurde so zu einer tragenden Säule des Systems. Diese besondere Bindung an den Monarchen wandelte sich im Zuge der Demokratisierung. Der Beamte entwickelte sich als Inhaber eines öffentlichen Amtes zum Staatsdiener und schließlich zum Diener des Volkes im modernen demokratischen Staat.3 2. Die Bedeutung des Amts im modernen Rechtsstaat Die Stellung des Beamten als Diener des Volkes im modernen demokratischen Staat ist notwendigerweise verbunden mit seiner Pflicht zur Orientierung am Gemeinwohl und entsprechender Haftung im Falle eines Fehlverhaltens.4 Das Gemeinwohl verkörpert die Idee vom guten Zustand des Gemeinwesens und vom Gedeihen aller seiner Glieder. Es ist ethisches Leitbild alles staatlichen und politischen Handelns, um nicht zu sagen Legitimationsgrund der Staatlichkeit schlechthin.5 Das fundamentale Prinzip der Gemeinwohlethik geht zurück auf die griechisch-römische Antike. Aristoteles unterscheidet die gute und die verderbte Verfassung des Staates danach, ob sie auf den allgemeinen Nutzen oder auf den eigenen Vorteil der Regierenden angelegt ist. Von dieser Unterscheidung hängt nach Cicero Sein oder Nichtsein der „res publica“ ab. Die legitime Staatlichkeit, die res publica, formiert sich über das Gemeinwohl. Das Ethos der res publica findet seine traditionelle Ausprägung in der Institution des Amtes. Dieses bildet ___________ 3 K. Stern, a.a.O., S. 364 f.; vgl. auch Soo Ung Han, Verfassung, 2012, S. 1244; Young Heu, Verfassungslehre und Verfassung, 2011, Rdnr. 1014 f.; Hak Seong Kim, Verfassung, 2012, S. 875. 4 Vgl. Soo Ung Han, Die Bedeutung des Art. 7 KV (koreanische Verfassung) und die Gewährleistung des Berufsbeamtentums, Juristische Zeitschrift (Bob Cho), Bd. 674 (6111), 2012/11, S. 25 f. 5 Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HbdStR III, § 57 Rdnr. 2.
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einen begrenzten Kreis staatlicher Befugnisse, die ihrem Inhaber als Sachwalter der Allgemeinheit überantwortet sind. Die Teilhabe an der staatlichen Herrschaft fordert Bescheidenheit und Zurückhaltung: Einerseits den Verzicht auf Eigenmacht und Eigennutz, auf Selbstverwirklichung und Subjektivität, andererseits den ausschließlich sachbezogenen, unparteiischen Dienst für das Wohl der Allgemeinheit im Rahmen der Verfassungsordnung.6 Staatsfunktionen und Grundrechtsfreiheiten sind schlechthin inkompatibel. Die Grundrechtsfreiheit darf nicht auf das Amt übergreifen, weil dieses sonst in ein Mittel subjektiver Eigenmacht und Selbstverwirklichung verkehrt würde.7 3. Der Aufgabenbereich der Berufsbeamten In Deutschland wird unterschieden zwischen dem öffentlichen Dienst im weiteren und im engeren Sinne. Zu ersterem gehören die Beamten, die mittels privatrechtlicher Arbeitsverträge Beschäftigten (bei denen früher zwischen Angestellten und Arbeitern differenziert wurde), aber auch Richter, Soldaten und sonstige öffentlich-rechtliche Amtsträger. Der öffentliche Dienst i.e.S. umfasst die klassischen Beamten und die durch privatrechtlichen Arbeitsvertrag Beschäftigten8 innerhalb der juristischen Personen des öffentlichen Rechts.9 In Korea kann zwischen einem Beamtenbegriff im engeren Sinne, im weiteren Sinne und im weitesten Sinne unterschieden werden. Die Verfassung beschreibt den Beamten im weitesten Sinne. Dazu gehören die Staats-, Kommunal- und Wahlbeamten. Der Beamte im engeren Sinne ist der Berufsbeamte, wie er einfachgesetzlich durch das SBG und KBG bestimmt wird.10
___________ 6
J. Isensee, a.a.O., § 57 Rdnr. 9 f. J. Isensee, a.a.O., § 57 Rdnr. 61. 8 Hans-Werner Laubinger verwendet stattdessen die Bezeichnung „Arbeitnehmer“. Hans-Werner Laubinger, Die systemstabilisierende Wirkung des Berufsbeamtentums, in diesem Band. 9 Michael Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2007, Art. 33 Rdnr. 50. 10 Vgl. nur KVerfG, Urt. vom 18.12.1989, 89 Hunma 32, 33; KVerfGE 1, S. 352; Jong Hyun Seok/Dong Soo Song, Verwaltungsrecht II, 2013, S. 214; Young Sung Kwon, Verfassung, 2010, S. 229; Tschol Su Kim, Verfassung, 2010, S. 240, 245 f.; Soo Ung Han, Verfassung, 2012, S. 1242; Seong Bang Hong, Verfassung II, 2010, S. 62. 7
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III. Die wesentlichen Gehalte des Berufsbeamtentums Das Berufsbeamtentum als öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis lässt sich durch das sog. besondere Gewaltverhältnis charakterisieren.11 Aus diesem Verhältnis des Beamten zum Staat ergeben sich seit jeher Berufspflichten, vor allem die Pflicht zu Treue und Gehorsam.12 In Deutschland gehören zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums bspw. das Beamtenverhältnis als besonderer Status, das Leistungs- und Laufbahnprinzip, das Streikverbot, das Recht auf amtsangemessene Amtsbezeichnung, die parteipolitische Neutralität, die Verfassungstreuepflicht, die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit, der Anspruch auf amtsangemessene Besoldung und Versorgung (sog. Alimentationsprinzip) sowie die Fürsorgepflicht des Dienstherrn.13 In Korea werden in der Regel als wesentlicher Gehalt des Berufsbeamtentums bezeichnet: die Gewährleistung des Beamtenstatus und der politischen Neutralität, außerdem das Leistungsprinzip.14 1. Gewährleistung der Beamtenstatus Die Gewährleistung des Beamtenstatus ist das tragende Prinzip des Berufsbeamtentums. Zur Gewährleistung der Beamtenstatus gehören bspw. die Regelung des Beamtenverhältnisses durch Gesetz, das Lebenszeitprinzip, die Hauptberuflichkeit, das Alimentationsprinzip und die Fürsorgepflicht. ___________ 11
Das besondere Gewaltverhältnis schließt es aus, dass die Beamten sich gegenüber ihrem Dienstherren auf ihre Grundrechte berufen können. Diese Lehre galt in der Bundesrepublik bis zum Urteil des BVerfG vom 14. März 1972 über die Stellung der Strafgefangenen (BVerfGE 33, 1). Seitdem ist anerkannt, dass sich Personen, die in einem besonderen Gewaltverhältnis zum Staat stehen, auf Grundrechte berufen können. Für die Beschränkung ihrer Rechte sind also die allgemeinen grundrechtlichen Vorgaben zu beachten wie der Gesetzesvorbehalt, der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz usw., vgl. Nam Jin Kim/Yeon Tae Kim, Verwaltungsrecht I, 2013, S. 116 – 123; Chul Yong Kim, a.a.O., S. 100 – 109; Dong Hee Kim, Verwaltungsrecht I, 2013, S. 107 – 114; Jong Hyun Seok/Dong Soo Song, Verwaltungsrecht I, 2013, S. 104∼111; Jeong Seon Hong, Verwaltungsrecht I, 2013, S. 125 – 134; Kyun Seong Pak, Verwaltungsrecht I, 2011, S. 157 – 165. 12 BVerfGE 9, 268 (286). 13 Klaus Köpp, Öffentliches Dienstrecht, in: Udo Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 1995, Rd. 19; Michael Sachs, Grundgesetz, Kommentar, a.a.O., Art. 33 Rdnr. 73. 14 Jong Hyun Seok/Dong Soo Song, Verwaltungsrecht II, 2013, S. 220 – 223; Chul Yong Kim, a.a.O., S. 919 – 921; Nam Jin Kim/Yeon Tae Kim, Verwaltungsrecht II, 2011, S. 201 f.; Dong Hee Kim, Verwaltungsrecht II, 2012, S. 142 f.; Young Sung Kwon, Verfassung, 2010, S. 229 – 232; Tschol Su Kim, Verfassung, 2010, S. 242; Soo Ung Han, Verfassung, 2012, S. 1246 – 1251; Seong Bang Hong, Verfassung II, 2010, S. 63 – 66 usw.
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Das Beamtenverhältnis soll grundsätzlich durch Gesetz begründet werden. Privatrechtliche Vereinbarungen sind die Ausnahme.15 Zentrales, tradiertes Prinzip des Berufsbeamtentums ist die Anstellung auf Lebenszeit.16 Die dem Lebenszeitprinzip zugeschriebene zentrale Bedeutung beruht auf der mit dem Amt verbundenen Sicherung einer gewissen Unabhängigkeit des Beamten,17 und zwar auch und gerade gegenüber seinem Vorgesetzten.18 Das Lebenszeitprinzip hat allerdings historisch immer nur als Grundsatz, nicht als eine ausnahmslos für alle Beamtenverhältnisse geltende Regel existiert.19 Die Institution des Beamtenverhältnisses auf Zeit, auf Probe usw. verstößt daher in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung nicht gegen Art. 33 Abs. 5 GG. Gesetzliche Altersgrenzen sind mit dem Lebenszeitprinzip vereinbar.20 Als eine Ausprägung des Lebenszeitprinzips hat das Bundesverfassungsgericht auch den Grundsatz der Unentziehbarkeit des statusrechtlichen Amtes angesehen.21 Zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehört zudem das Prinzip der Hauptberuflichkeit und Vollzeittätigkeit des Beamten. Die Hauptberuflichkeit steht einer Teilzeitbeschäftigung ebenso wenig entgegen22 wie die Ausübung einer Nebentätigkeit.23 Das Alimentationsprinzip entspricht dem Charakter des Beamtenverhältnisses als Treueverhältnis.24 ___________ 15 Hans D. Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz, Kommentar, 9. Aufl. 2007, Art. 33 Rdnr. 49. 16 BVerfGE 9, 268 (286); 71, 255 (268); Horst Dreier (Hrsg.) Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 33 Rdnr. 88. 17 BVerfGE 39, 196 (201); 44, 249 (265); 70, 69 (80); H. Dreier, a.a.O., Rdnr. 88. 18 BVerfGE 70, 251 (267); H. Dreier, a.a.O., Rdnr. 88. 19 H. Dreier, a.a.O., Rdnr. 88. 20 H. Dreier, a.a.O., Rdnr. 88, 90. Das Lebenszeitprinzip erfordert nicht, dass der Beamte bis zu seinem Tode die Pflichten des ihm übertragenen Amtes versieht, BVerfGE 71, 255 (268). 21 BVerfGE 70, 251 (267 f.), vgl. auch BVerfGE 7, 155 (163); 56, 146 (164); H. Dreier, a.a.O., Rdnr. 89. 22 BVerfGE 71, 39 (63); Wieland, JZ 2001, 762. Dagegen soll nach BVerfGE 82, 196 (202 f.); 110, 363 (366 ff.); Masing DR 1992 nur die freiwillige Teilzeitbeschäftigung zulässig sein, vgl. Jarass/Pieroth, a.a.O., Rdnr. 50. Freiwillige Teilzeitarbeit ohne Aufnahme einer zusätzlichen anderweitigen Erwerbstätigkeit kann zugelassen werden, vgl. H. Dreier, a.a.O., Rdnr. 92. 23 BVerfGE 52, 303 (343 f.); 55, 207 (238); BVerwGE 67, 287 (295); 84, 299 (301); 124, 347 (355); Jarass/Pieroth, a.a.O., Rdnr. 50. 24 Vgl. N. Günther, Die Anpassung der Beamtenbesoldung an die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse, 1987, S. 85 ff.; G. Till, Die Entwicklung des Alimentationsprinzips, 1979; W. Thiele, DVBl 1981, 253 ff.; ders., DöD 1993, 271 (273 ff.).; H. Dreier, a.a.O., Rdnr. 87.
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Es verpflichtet den Dienstherrn, dem Beamten und seiner Familie – so die übliche Formulierung – einen amtsangemessenen Lebensunterhalt zu sichern.25 Die Alimentationspflicht umfasst sachlich Besoldung und Versorgung des Beamten und seiner Hinterbliebenen.26 Damit verbunden ist die Gewährleistung eines angemessenen Lebensunterhalts entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards.27 Die Fürsorgepflicht verpflichtet den Dienstherrn, den Beamten entsprechend seiner Eignung und Leistung zu fördern, dessen wohlverstandene Interessen, insbesondere seine Gesundheit,28 in gebührender Weise zu berücksichtigen und einen Mindeststandard an ordentlicher und fairer Gestaltung des verwaltungsmäßigen Vorgehens zu gewährleisten.29 Dazu gehört es auch, den Beamten anzuhören. Die Fürsorgepflicht verlangt vom Dienstherrn ergänzende Hilfeleistung, wenn die amtsangemessene Alimentation infolge konkreter Krankheits-, Pflege-, Geburts- oder Todesfälle nicht hinreichend gesichert ist.30 Art. 7 Abs. 2 KV (Koreanische Verfassung) sieht vor, dass der Beamtenstatus durch ein besonderes Gesetz zu gewährleisten ist. SBG und KBG enthalten ausführliche Bestimmungen, die den Beamtenstatus sicherstellen sollen.
___________ 25 BVerfGE 8, 1 (14, 16 ff.); 83, 89 (98), vgl. auch BVerfGE 29, 1 (9); 70, 69 (82); H. Dreier, a.a.O., Rdnr. 87. 26 Dies schließt die Pflicht zur Versorgung im Ruhestand und zur Versorgung der Hinterbliebenen ein, BVerfGE 70, 69 (80 f.); 3, 58 (153, 160); 21, 329 (345); 55, 207 (237); 3, 58 (159); 31, 94 (98); 25, 142 (148); 38, 187 (203 ff.); H. Dreier, a.a.O., Rdnr. 87. 27 BVerfGE 71, 39 (62 f.); 83, 89 (98); 107, 218 (237); Jarass/Pieroth, a.a.O., Rdnr. 53; Hofmann/Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu, Grundgesetz, Kommentar, 11. Aufl. 2008, Art. 33 Rdnr. 134. 28 BVerfG NVwZ 2005, 926 f. 29 BVerfGE 43, 154 (165 f.). 30 BVerfGE 83, 89 (100 ff.); 106, 225 (232); BVerwGE 119, 168; 121, 103 (106 f.); 125, 21 Rdnr. 17; Jarass/Pieroth, a.a.O., Rdnr. 62.
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Dazu gehören Regelungen über die Rechte,31 Pflichten32 und die Haftung33 der Beamten im SBG, dem KBG und anderen Vorschriften. 2. Gewährleistung der politischen Neutralität Politische Neutralität bedeutet in der Parteiendemokratie Amtsneutralität als Loyalität gegenüber den Staatsorganen.34 Das politische Neutralitätsprinzip ergibt sich aus dem Beamtenstatus. Der Beamte ist Diener der gesamten Nation nicht einer Partei oder anderer gesellschaftlicher Gruppen. Der Beamte ist der Sachrichtigkeit, der Gerechtigkeit und damit unmittelbar dem Gemeinwohl verpflichtet.35 Bezugsobjekt ist die Amtsführung. Außerhalb des Amtes sind der parteipolitischen Betätigung des Beamten nur insoweit Grenzen gesetzt, als sie nicht die Unparteilichkeit der Amtsführung beeinträchtigen oder auch nur den Eindruck der Parteilichkeit erwecken darf. Je näher der Gegenstand einer Meinungsäußerung zu seiner amtlichen Tätigkeit in Beziehung steht, desto mehr ist der Beamte zur politischen Zurückhaltung
___________ 31 Zu den Bestimmungen über die Rechte des Beamten gehören bspw. das Recht auf Erhaltung von Stand und Dienststellung (Art. 7 Abs. 2 KV, Art. 68 SBG, Art. 60 KBG), das Recht der Dienstvollstreckung (Art. 1 Abs. 2 KV), der Anspruch auf Besoldung (Art. 46∼49 SBG, Art. 44∼46-3 KBG), der Versorgungsanspruch (Art. 1 Beamtenpensionsgesetz). 32 Die Pflichten des Beamten umfassen den Treueeid auf die Verfassung (Art. 55 SBG, Art. 2 Beiliegende Liste 1 Staatsbeamtendienstordnung, Art. 47 KBG, Art. 2 Beiliegende Liste 1 Jeonju Staatskommunalbeamtendienstsatzung), das Gebot der Gesetzesbeobachtung und ehrlichen Amtsführung (Art. 56 SBG, Art. 48 KBG), die Gehorsamspflicht (Art. 57 SBG, Art. 49 KBG), die Pflicht zur religiösen Neutralität (Art. 59-2 SBG, Art. 512 KBG), die Pflicht der Amtsverschwiegenheit (Art. 60 SBG, Art. 52 KBG), das Verbot der politischen Tätigkeit (Art. 65 SBG, 57 KBG), das Verbot des Arbeitskampfs und der Gruppentätigkeit außerhalb des Amts (Art. 66 SBG, Art. 58 KBG), die Pflicht zur Bewahrung der Beamtenwürde (Art. 63 SBG, Art. 55 KBG), die Pflicht zur Freundlichkeit und Gerechtigkeit (Art. 59 SBG, Art. 51 KBG), die Pflicht zur Lauterkeit (Art. 61 SBG, Art. 53 KBG), das Verbot der Nebenerwerbstätigkeit und der Ausübung eines Nebenamts (Art. 64 SBG, Art. 56 KBG) usw. 33 Zu den Bestimmungen über die Haftung des Beamten gehören bspw. disziplinarrechtliche Sanktionen, (Art. 78∼83-3 SBG, Art. 69∼73-3 KBG), die Entschädigungshaftung (Art. 29 Abs. 1 KV, Art. 2. 5. Staatsentschädigungsgesetz), die Strafhaftung (Art. 122-135 Strafgesetz). 34 Isensee, in: HbdVerfR, § 32 Rdnr. 26. 35 Hans J. Wolff/Otto Bachof/Rolf Stober, Verwaltungsrecht II, 5. Aufl. 1987, § 107 Rdnr. 18.
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verpflichtet.36 Eine äußerste Grenze der politischen Betätigung bildet seine politische Treuepflicht.37 Art. 7 Abs. 2 KV (Koreanische Verfassung) sieht vor, dass die politische Neutralität des Beamten durch Gesetz zu regeln ist. SBG u. KBG konkretisieren diese Vorgabe. Sie verbieten die Mitgliedschaft in einer Partei sowie die politische Tätigkeit des Beamten (Art. 65 SBG, Art. 57 KBG). 3. Leistungsprinzip Das Leistungsprinzip bedeutet: Gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern nach den Kriterien der zweckmäßigen, objektiven Leistungserbringung.38 Es enthält das Gebot, unter den zur Auswahl stehenden Anwärtern denjenigen auszuwählen, der nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung den Anforderungen der zu übertragenden Stelle am besten gerecht wird.39 Die Ausformungen des Leistungsprinzips im Beamtenrecht sind die Konsequenz der pluralistischen Struktur, die charakteristisch ist für eine freiheitlichrechtsstaatliche Demokratie. Das Leistungsprinzip verwirklicht den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz durch Ausschluss der verpönten Gesichtspunkte wie etwa die Diskriminierung aus religiösen, politischen oder weltanschaulichen Gründen.40 Das Leistungsprinzip gilt für den Zugang zu jedem öffentlichen Amt, also für alle Ernennungen, Gehaltserhöhungen, Beförderungen, sowie für alle anderen personalpolitischen Maßnahmen, z. B. die Geschäftsverteilung oder die Versetzung.41 Das koreanische SBG und das KBG enthalten viele Bestimmungen zur Ausgestaltung des Leistungsprinzips.42
___________ 36
Lecheler, in: HbdStR III, § 72 Rdnr. 106. Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, 2005, Art. 33 Rdnr. 47. 38 Vgl. Horst Dreier, a.a.O., Rdnr. 35 ff. 39 Ulrich Battis, Beamtenrecht, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 2, 2000, Rdnr. 36. 40 Ulrich Battis, a.a.O., Rdnr. 36; Horst Dreier, a.a.O., Rdnr. 56. 41 Ulrich Battis, a.a.O., Rdnr. 36. 42 Z. B. Art. 26, Art. 28, Art 35, Art. 40 SBG und Art. 25, Art. 27, Art 33, Art. 38 in KBG. 37
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IV. Die Funktion des Berufsbeamtentums 1. Die systemstabilisierende Funktion des Berufsbeamtentums Das Berufsbeamtentum leistet einen Beitrag zur Stabilisierung des Staatssystems. Im Zeitalter des Absolutismus wurde das Berufsbeamtentum zur tragenden Säule der absoluten Herrschaft des Monarchen. In modernen demokratischen Staaten änderte sich die Rolle des Beamten. Er war nicht mehr Diener für nur eine Person, sondern für alle Staatsangehörigen. Der Beamte handelt nicht im Namen des Präsidenten, Premierministers, Kanzlers oder einer Partei, sondern für die Nation in ihrer Gesamtheit. Dadurch, dass die Beamtenschaft ihre Tätigkeit unabhängig von Regierungswechseln fortführt, trägt sie zur Stabilisierung des modernen demokratischen Staates bei.43 Dieser Auffassung sind sowohl das BVerfG in Deutschland, als auch das Koreanische Verfassungsgericht. 44 2. Die gewaltenteilende Funktion des Berufsbeamtentums Das Berufsbeamtentum ist ein Instrument der vertikalen Gewaltenteilung im modernen Verwaltungs- und Parteienstaat. Die traditionelle Lehre von der Teilung der Staatsmacht in drei Gewalten reicht nicht aus, um das staatliche Handeln im Sinne der Volkssouveränität hinreichend kontrollieren zu können.45 Auf W. Kägi lässt sich die Begründung einer neuen Theorie der Gewaltenteilung zurückführen. Das Konzept enthält neben der klassischen Einteilung in die drei Gewalten weitere Elemente. Dazu gehören u.a. der Dualismus zwischen der verfassungsgebenden und verfassungsändernden Gewalt, die Rechtssetzungsmacht, die Gesetzgebung durch zwei Kammern, die Gewaltenteilung innerhalb der Exekutivgewalt, der Parteienpluralismus, der Föderalismus, das Recht der Selbstverwaltung sowie die Trennung von privater und militärischer Gewalt.46 Das Berufsbeamtentum kann als Mittel der vertikalen Gewaltenteilung innerhalb der Exekutivgewalt angesehen werden.
___________ 43
Young Heu, Verfassungslehre und Verfassung, 2011, Rdnr. 1018. BVerfGE 7, 162 f.; BVerfGE 8, 16; KVerfG, Urt. vom 18.12.1989, 89 Hunma 32, 33; KVerfGE 1, S. 352; KVerfG, Urt. vom 24.4.1997, 95 Hunba 48; KVerfGE 9-1, S. 443. 45 Young Heu, a.a.O., Rdnr. 875. 46 Young Sung Kwon, Verfassung, 2010, S. 755 f. 44
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V. Die Problembereiche des Berufsbeamtentums Auf folgende aktuelle Problemfelder des Berufsbeamtentums möchte ich an dieser Stelle näher eingehen: die steigende Zahl von Zeitbeamten, die Erhöhung der Zahl von Teilzeitbeamten, die politische Neutralität des Beamten in seiner Amtsführung, die individuelle politische Äußerungsfreiheit der Beamten und des Präsidenten, die drei berufsbezogenen Grundrechte der Beamten und die Durchbrechung des Leistungsprinzips.47 1. Die Zunahme der tariflichen Zeitbeamten In der Bundesrepublik lässt sich eine große Zahl von Arbeitnehmern in der öffentlichen Verwaltung konstatieren.48 Am 30. Juni 2012 waren rund 4,6 Millionen Menschen im öffentlichen Dienst von Bund, Ländern und Gemeinden tätig. Dazu gehörten 1,7 Mio. Beamte, 2,7 Mio. Tarifbeschäftigte (d.h. Arbeitnehmer) und 179.500 Zeit- und Berufssoldaten. Der öffentliche Dienst beschäftigt zu 59 % Arbeitnehmer und nur zu 37 % Beamte.49 In Korea hat die Zahl der tariflich befristeten Beamten seit der Einführung des offenen Dienste- und Beamtensystems im Jahre 1999 ständig zugenommen. Die Reform diente der Überwindung der Asienkrise im Jahre 1997 in Korea.50 Im Zuge dessen wurden viele Fachkräfte als Zeitbeamte verpflichtet. Dazu gehörten insbesondere Experten für internationale Beziehungen und Umweltexperten.51 Im Jahre 2012 war die Zunahme der Zeitbeamten mit insgesamt 1.695 Neueinstellungen besonders hoch. Dazu kamen am Stichtag des 30. Dezember 2012 2.318 Tarifbeamten, die sich wiederum in 723 sog. allgemeine Tarifbeamte, 695 besondere Tarifbeamte und 900 sog. vorläufige Beamte untergliedern lassen. Mit Gesetz vom 12. Dezember 2013 soll das Tarifbeamtensystem durch das befristete Beamtensystem ersetzt werden (vgl. Art. 26 Abs. 5 SBG, Art. 25 Abs. 5
___________ 47 Zu den anderen Aufgaben des Berufsbeamtentums gehört zudem die Selbstverwaltung in Korea. 48 In diesem Zusammenhang wirft H.-W. Laubinger die Frage auf, ob die Beamten durch Arbeitnehmer ersetzt werden können und ob Arbeitnehmer die vom Bundesverfassungsgericht herausgestellte stabilisierende Funktion ebenso gut oder vielleicht sogar besser als die Beamten erfüllen können. H.-W. Laubinger, a. a. O. 49 Näher dazu H.-W. Laubinger, a.a.O. 50 Die Statistik der Regierung differenziert zwischen den 86,8% der sog. förmlichen Beamten und den 13,2% der sog. unförmlichen Beamten im Kommunalbereich (einschließlich der Teilzeitbeamten). 51 Jong Hyun Seok/Dong Soo Song, Verwaltungsrecht II, 2013, S. 220 f.
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KBG). Hierbei stellt sich die Frage, ob die Reform mit dem Prinzip lebenslänglicher Anstellung (bzw. bis zur Altersgrenze) mit dem durch die Verfassung gewährleisteten, wesentlichen Gehalt des Berufsbeamtentums vereinbar ist.52 2. Die Erhöhung der Zahl von Teilzeitbeamten Deutschland hat das Modell des Teilzeitbeamten im Jahre 1968 in § 44a BBRG und § 74 BBG eingeführt, um der Vereinbarkeit von Beruf und Familie Rechnung zu tragen. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 wurde das Modell des Teilzeitbeamten ausgeweitet. Man versprach sich davon eine Verbesserung der Lage am Arbeitsmarkt, eine Konsolidierung der Staatsfinanzen und insbesondere eine Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.53 Die Arbeitszeit des Teilzeitbeamten beträgt zwischen 65% und 80% der Hauptarbeitszeit.54 Nach bestimmten Fristen55 kann die Teilzeit in Vollzeit umgewandelt werden. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2000 bestätigt, dass die Teilzeitbeschäftigung des Beamten bei Neueinstellung – auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen – nur erfolgen kann, wenn dem Bewerber die Möglichkeit zur Wahl zwischen Vollzeit und Teilzeit eingeräumt worden ist.56 Die Teilzeitbeschäftigung von Beamten ist verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn ihre Freiwilligkeit auch beim Berufseinstieg gewährleistet ist. Die Reduzierung der Arbeitszeit eines neu eingestellten Beamten aufgrund eines ihm abverlangten Antrags ohne die Möglichkeit zur Wahl einer Vollzeitbeschäftigung ist mit den hergebrachten Grundsätzen der hauptberuflichen vollen Dienstleistungspflicht des Beamten und der Pflicht des Dienstherrn zur Gewährung des vollen amtsangemessenen Unterhalts nicht vereinbar (Art. 33 Abs. 5 GG) und verstößt zudem gegen das Leistungsprinzip (Art. 33 Abs. 2 GG).57 ___________ 52
Jong Hyun Seok/Dong Soo Song, Verwaltungsrecht II, 2013, S. 221. Seon Ug Kim, Das Berufsbeamtensystem im Grundgesetz und Teilzeitbeamte, Verwaltungsgerichtsentscheidung Untersuchung, Bd., 7(2002), S. 421 – 423. 54 Seon Ug Kim, a.a.O., S. 423 – 427. 55 Zum Beispiel nach 5 Jahren in Nordrhein-Westfalen und Hamburg, nach 8 Jahren in Niedersachsen. 56 Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. September 2008 steht jedenfalls fest, dass die Teilzeitbeschäftigung nur auf freiwilliger Basis erfolgen kann (BVerwG BB 2008, 2177). Das OVG Berlin-Brandenburg stellte in seinem Urteil fest, dass die Einstellung auf Teilzeitbasis erst recht nicht ohne formell-gesetzliche Grundlage möglich ist und die Verknüpfung von Teilzeitangebot und Versetzungsandrohung rechtswidrig ist (vgl. OVG Bln.-Bbg., Urt. vom 24.3.2006, 4 B 18.05). 57 BVerwG DÖV 2000, 731. 53
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In vielen Bundesländern wurde auf die Einführung eines Teilzeitsystems für Beamte verzichtet, in anderen wurde es nur in einzelnen Bereichen eingeführt, das Gesetz zudem zeitlich beschränkt.58 Das koreanische SGB und das KBG enthalten seit dem 19. Januar 2002 Bestimmungen über Teilzeitbeamte. Die Zahl der Teilzeitbeamten lag am Stichtag 31. Dezember 2012 bei lediglich 2.870. 913 davon waren sog. Teilzeitstaatsbeamte.59 Die koreanische Regierung plant für das Jahr 2014 die Neueinstellung von Teilzeitbeamten auf 70% zu erhöhen. Zeitungsberichten zufolge60 beträgt die Arbeitszeit etwa 20 Stunden pro Woche, die Befristung erstreckt sich auf die gesamte Dienstzeit bis zum Ruhestand, die Besoldung beträgt etwa 30∼50% der Beamten in Vollzeit. Von besonderer Bedeutung für die Zulässigkeit solcher Teilzeit-Modelle sind die Alimentationspflicht des Dienstherrn (die einen angemessenen Lebensunterhalt gewähren soll), die Treuepflicht des Beamten zu seinem Dienstherrn sowie die Beachtung von Recht und Gesetz.61 Die Treuepflicht zum Dienstherrn geht insbesondere mit dem Prinzip der Hauptberuflichkeit einher. Mit dem Eintritt in das Beamtenverhältnis wird der Beamte verpflichtet, sich voll für den Dienstherrn einzusetzen und diesem seine gesamte Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Der Beamte verliert grundsätzlich die Freiheit zu anderweitiger Erwerbstätigkeit,62 im Gegenzug sichert der Staat dem Beamten eine ausreichende Alimentierung. Da durch die Anstellung in Teilzeit eine angemessen Alimentierung des Beamten nicht ausreichend gewährleistet ist, muss der Staat die Möglichkeit zur Nebentätigkeit einräumen. Bei diesem Zwei-Herren-Modell sind Interessenkonflikte unvermeidlich und können die Einsatzbereitschaft, Loyalität und Unparteilichkeit des Beamten gefährden. Hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Nebenerwerbstätigkeit ermöglicht werden soll, in welchem Umfang der Versorgungsanspruch des Vollzeitbeamten auf den Teilzeitbeamten zu übertragen ist und wie der Staat die unparteiische Amtsführung des Teilzeitbeamten sicherstellen soll. ___________ 58 In Baden-Württemberg war die Teilzeitbeschäftigung nur für das Lehramt bis zum Ablauf des 31. Dezember 2006 vorgesehen, vgl. Sun Ug Kim, a.a.O., S. 426. 59 Davon waren 900 vorläufige Beamte, 30 allgemeine Tarifbeamte und ein besonderer Tarifbeamter. Die Arbeitszeit der vorläufigen Beamten beträgt 15∼30 Stunden pro Woche, vgl. 2013 Statistik vom Ministerium der Sicherung u. Verwaltung, S. 96, 101. 60 Vgl. nur Moneytoday vom 15. Oktober 2013; Newsroom vom 16. Oktober 2013; Seoul Tageszeitung vom 17. Oktober 2013; Seoul Tageszeitung vom 19. Oktober 2013. 61 Vgl. Jarass/Pieroth, a.a.O., Rdnr. 51 ff. 62 Stephan Szalai, Beamte in Teilzeit und Versetzung von Vollzeitbeamten, DÖV 2009, 315.
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3. Die politische Neutralität des Beamten Anders als in der Zeit des Absolutismus ist der heutige Beamte nicht Diener der Regierung (des Präsidenten oder des Bundeskanzlers) oder einer Partei, sondern Diener des ganzen Volkes. Der Beamte soll seine Tätigkeit unabhängig von Regierungswechseln ausüben. Das koreanische SBG und das KBG enthalten Bestimmungen über das Verbot der politischen Tätigkeit der Beamten (Art. 65 SBG, Art. 57 KBG). Nach dem 2. Weltkrieg entwickelten sich die politischen Systeme immer mehr zu einem Parteienstaat. Auch wenn es Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten gibt, so gefährdet die Macht der Parteien grundsätzlich die politische Neutralität der Beamtenschaft. Nach Frido Wagener entwickelte sich frühzeitig eine gegenseitige personelle Durchdringung von Parteien und Behörden.63 Er sagte: „Immer mehr frühere oder aktive Angehörige des öffentlichen Dienstes werden Abgeordnete in den Landtagen und im Bundestag. Eine immer eindeutigere Voraussetzung für den Aufstieg in politikempfindliche Funktionärsstellen des öffentlichen Dienstes ist die Mitgliedschaft in der jeweiligen Mehrheitspartei oder in einer der Koalitionsparteien. In der Mehrzahl der Ministerien und großen Behörden existieren neben der amtlichen Organisationshierarchie informelle Bediensteten-Zirkel der großen Parteien.“64
In Korea ist das Bewusstsein der Bürger über die Demokratie noch nicht voll ausgereift. Anders als in den Demokratien der westlichen Hemisphäre wie etwa in den USA, in England oder Deutschland lässt das Gesetz mehrere Freiräume für die Politik, die zu einer Gefährdung der politischen Neutralität der Beamten führen. Dies habe ich bereits erwähnt.65 Daher erlangen neben dem Verbot eines Parteieintritts für Beamte diejenigen Instrumente eine besondere Bedeutung, welche die Macht der Parteien zurückdrängen. 4. Die individuelle politische Äußerungsfreiheit des Beamten (und des Präsidenten) im Rahmen der Amtsausübung Der Beamte als Diener der Nation unterliegt einigen Einschränkungen in seinen Grundrechten. Dazu gehören z.B. das Verbot der politischen Betätigung ___________ 63 Zur gegenseitigen personellen Durchdringung von Parteien und Behörden äußerte sich H.-W. Laubinger. Nach seiner Auffassung dürfte der gelegentlich geäußerte Gedanke, den Beamten die Mitgliedschaft in politischen Parteien zu verbieten, verfassungsrechtlich kaum haltbar politisch nicht durchsetzbar sein, vgl. H.-W. Laubinger, a.a.O. 64 Frido Wagener, Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, VVDStRL 37 (1979), S. 235 f. 65 Nach Auffassung des Koreanischen Verfassungsgerichts ist die Einschränkung der politischen Tätigkeit des Beamten im Grundsatz verfassungsmäßig, KVerfG, Urt. vom 25.3.2004, 2001 Hunma 710 KVerfGE 16-1, S. 422, 439; Soo Ung Han, Verfassung, 2012, S. 1254.
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(Art. 65 SBG, Art. 57 KBG), das Verbot der Erwerbstätigkeit im Nebenamt (Art. 64 SBG, Art. 56 KBG), das Verbot des Arbeitskampfes und des Vereinigungsverbot außerhalb des Amts (Art. 66 SBG, Art. 58 KBG). Hier stellt sich die Frage, ob die individuelle politische Äußerungsfreiheit des Beamten und des Präsidenten im Rahmen der Amtsführung zulässig ist. M.E. muss diese Frage verneint werden. Die individuelle politische Äußerungsfreiheit steht in unvereinbarem Gegensatz zur politischen Neutralitätspflicht des Beamten. Das koreanische Verfassungsgericht66 war in seiner Entscheidung zur Äußerungsfreiheit des Präsidenten entsprechender Auffassung: Die Stellung des Präsidenten als Privatperson ist von derjenigen als Verfassungsorgan zu unterscheiden. Allerdings trifft den Präsidenten bei Wahläußerungen eine besondere Sorgfaltspflicht, da die Sphären zwischen seiner individuellen Grundrechtsausübung als Privatperson und seiner Tätigkeit als Präsidenten nicht klar unterschieden werden können.67 5. Drei berufsbezogene Grundrechte des Beamten Wie bereits erwähnt unterliegt der Beamte als Diener der Nation einigen Grundrechtsbeschränkungen. Dazu gehören das Verbot der politischen Betätigung (Art. 65 SBG, Art. 57 KBG), das Verbot der Erwerbstätigkeit im Nebenamt (Art. 64 SBG, Art. 56 KBG), das Verbot des Arbeitskampfes und das Vereinigungsverbot (Art. 66 SBG, Art. 58 KBG). Früher war allen Beamten die Ausübung der drei berufsbezogenen Grundrechte verboten. Dazu gehören die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Kollektivverhandlungen sowie das Recht zu gemeinschaftlichem Handeln. Nur die handwerklich tätigen Beamten waren davon ausgenommen. In Korea gilt das Recht auf Vereinigungsfreiheit und Kollektivverhandlung für Lehrer in den Schulen der Elementar-, Mittel- und der Oberstufe seit 199968 und für Beamte unterhalb der 6. Stufe seit dem Jahre 2006.69 Dagegen ist das Recht auf Arbeitskampf für Beamte und Lehrer und deren Gewerkschaften verboten, und damit jegliche Form von Streik oder Betriebssabotage.70 Entgegen ___________ 66 KVerfG, Urt. vom 14.5.2004, 2004 Hunna 1; KVerfGE 16-1, S. 609 ff.; KVerfG, Urt. vom 17.1.2008, 2007 Hunma 700; Geon Yang, Verfassung, 2013, S. 1009 f. 67 KVerfG, Urt. vom 14.5.2004, 2004 Hunna 1; KVerfGE 16-1, S. 638. 68 Gesetz über die Gründung und den Betrieb der Lehrergewerkschaft vom 1. Juli 1999, Nr. 5727. 69 Gesetz über die Gründung und den Betrieb der Beamtengewerkschaft vom 28. Januar 2006, Nr. 7380. 70 Art. 8 des Gesetzes über die Gründung und den Betrieb der Lehrergewerkschaft,
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einer Empfehlung des koreanischen staatlichen Menschenrechtsausschusses hat das Ministerium für Beschäftigung und Arbeit vor kurzem öffentlich mitgeteilt, dass die Lehrergewerkschaft nicht als rechtmäßige Gewerkschaft anerkannt werden könne. Dies sei darauf zurückzuführen, dass die Gewerkschaft einen Vorschlag des Ministeriums zur Änderung ihrer Satzung nicht akzeptiert habe, nach der auch ein Arbeitsloser der Gewerkschaft hätte beitreten können.71 6. Die Durchbrechung des Leistungsprinzips Das Leistungsprinzip enthält das Gebot, unter den zur Auswahl stehenden Anwärtern denjenigen auszuwählen, der nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung den Anforderungen der zu übertragenden Stelle am besten gerecht wird.72 Eine Reihe von Gesetzen73 enthält zugunsten der Beschäftigten bestimmter, als besonders schutz- und integrationsbedürftig angesehener Personengruppen Sonderregelungen, die mit Durchbrechungen des in Art. 33 Abs. 2 GG vorgesehenen Prinzips der Auswahl nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung verbunden sind.74 Nach herrschender Auffassung75 rechtfertigt das Sozialstaatsprinzip derartige Regelungen.76 Auch in Korea existieren entsprechende Sonderbestimmungen. Das Gesetz über die respektvolle Behandlung und Unterstützung von „Staatsverdienten“ enthält z.B. Privilegierungen wie die Unterstützung in der Erziehung (Art. 21 – 26), bei der beruflichen Eingliederung (Art. 28 – 39), in der medizinischen Versorgung (Art. 41 – 46) zugunsten von Bewerbern, die sich durch Ableistung des Wehrdienstes für den Staat besonders verdient gemacht haben. ___________ Art. 11 des Gesetzes über die Gründung und den Betrieb der Beamtengewerkschaft. 71 DongA Tageszeitung, Nr. 28684 (23. Oktober 2013). 72 Ulrich Battis, a.a.O., Rdnr. 36. 73 Für Deutschland sind z. B. das Soldatenversorgungsgesetz und das Arbeitsplatzschutzgesetz zu nennen. 74 H. Dreier (Hrsg.), a.a.O., Rdnr. 54. 75 A.A. P. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG II, Art. 33 Rdnr. 30; U. Battis, in: Sachs, GG, Art. 33 Rdnr. 38; Jarass/Pieroth, GG, Art. 33 Rdnr. 6; T. Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 33 Rdnr. 22; E. Schmidt-Aßmann, NJW 1980, 16 (19 ff.); B. Kempen, ZTR 1988, 287 (290); K.-H. Ladeur, Jura 1992, 77 (79). A.A. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 476. 76 In diesem Zusammenhang führt H. Dreier aus: Ob das Sozialstaatsprinzip für pauschale eignungsunabhängige Quoten und andere Sonderregelungen zugunsten ehemaliger Soldaten und Polizeivollzugsbeamter eine Rechtfertigung bieten kann, muss bezweifelt werden, vgl. H. Dreier (Hrsg.), a.a.O., Rdnr. 54.
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Das koreanische Verfassungsgericht77 hat das sog. Additionsnotensystem grundsätzlich als mit der Verfassung für vereinbar erachtet. Dadurch können sog. „staatsverdiente“ Bewerber privilegiert werden, die wegen ihres Einsatzes für den Staat besondere Verdienste erworben haben.78 Allerdings hielt es das Additionsnotensystem insoweit für nicht verfassungskonform, als Bewerber einzig aufgrund ihres abgeleisteten Wehrdienstes bevorzugt wurden. Die Entscheidung ist in der wissenschaftlichen Literatur nach wie vor höchst umstritten.
VI. Schluss Ich möchte zum Schluss die wichtigsten Punkte zusammenfassen: Das Beamtenverhältnis ist ein öffentlich-rechtliches Dienst- und Treueverhältnis. Im Zeitalter des Absolutismus wurde das Beamtentum zur tragenden Stütze für die Herrschaft des Monarchen. In den demokratischen Staaten der Moderne änderte sich die Rolle des Beamten. Er war nicht mehr Diener einer bestimmten Person, sondern aller Staatsangehöriger. Der Beamte handelt nicht im Namen des Präsidenten, Premierministers, Kanzlers oder einer Partei, sondern für die Nation. Dadurch, dass die Beamtenschaft ihre Tätigkeit von Regierungswechseln unbehelligt fortführen kann, trägt sie zur Stabilisierung des modernen demokratischen Staates bei. Nach dem 2. Weltkrieg entwickelten sich die politischen Systeme immer mehr zu einem Parteienstaat. Auch wenn es Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten gibt, so gefährdet die Macht der Parteien grundsätzlich die politische Neutralität der Beamtenschaft. Aktuell ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, insbesondere unter den Jugendlichen, ein drängendes Problem in Korea. Die koreanische Regierung plant daher die Erhöhung der Zahl von Teilzeitbeamten. Ich bin der Ansicht, dass man die Bedeutung und Funktion des Berufsbeamtentums auf den Prüfstand stellen und an die veränderte aktuelle Situation anpassen sollte. Ich möchte zum Schluss noch drei Eckpunkte zur Reform des heutigen Berufsbeamtentums vorstellen: Erstens ist eine umfassende Prüfung darüber erforderlich, wie das System der Teilzeitbeamten am besten zu verwirklichen ist. Dazu gehören insbesondere das Problem der angemessenen Besoldung und Versorgung sowie die Übergangsmöglichkeiten von Teilzeit auf Vollzeit. ___________ 77 Vgl. KVerfG, Urt. vom 22.2.2001, 2000 Hunma 25; KVerfG-Blatt Bd. 54, 234 (249 ff.); KVerfG, Urt. vom 23.2.2006, 2004 Hunma 625. 78 Das Koreanische Verfassungsgericht hat das Zuschlagsnotensystem in der Beamtenaufnahmeprüfung für verfassungswidrig erachtet, da sie eine unzulässige Bevorzugung von solchen Bewerbern darstellt, die Wehrdienst geleistet haben. Diese Entscheidung stieß in der koreanischen Wissenschaft auf kritische Resonanz.
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Zweitens müssen die Bestimmungen über den klassischen Beamten, den befristeten Beamten und den Teilzeitbeamten zu einem in sich stimmigen Gesamtkonzept geformt werden. Drittens ist es notwendig, das Leistungsprinzip und das offene Dienstesystem zu vereinheitlichen. Ich bin der Meinung, dass das Berufsbeamtentum mit seiner systemstabilisierenden Wirkung in Deutschland und in Korea durch wirksame Reformen erhalten werden kann.
Literatur Battis, Ulrich, Beamtenrecht, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 2 2000. DongA, Tageszeitung, Nr. 28684 (23. Oktober 2013). Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 33. Heu, Young, Verfassungslehre und Verfassung, 2011.
–, Verfassung, 2013. Han, Soo Ung, Verfassung, 2012.
–, Die Bedeutung der Art. 7 KV (koreanische Verfassung) und die Gewährleistung des Berufsbeamtentums, Juristische Zeitschrift (Bob Cho), Bd. 674 (61-11), 2012/11. Hong, Jeong Seon, Verwaltungsrecht I, 2013. Hong, Seong Bang, Verfassung II, 2010. Isensee, Josef, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: HbdStR III, § 57. Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo, Grundgesetz, Kommentar, 9. Aufl. 2007, Art. 33. Kim, Chul Yong, Verwaltungsrecht, 2011. Kim, Dong Hee, Verwaltungsrecht I, 2013.
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–, Verwaltungsrecht II, 2011. Kim, Seon Ug, Das Berufsbeamtensystem im Grundrecht und Teilzeitbeamte, Verwaltungsgerichtsentscheidung, Untersuchung, Bd. 7 (2002). Kim, Tschol Su, Verfassung, 2010.
Die systemstabilisierende Funktion und die Aufgabe des Berufsbeamtentums 199 Köpp, Klaus, Öffentliches Dienstrecht, in: Udo Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 1995. Kwon, Young Sung, Verfassung, 2010. v. Mangoldt, Hermann/Klein, Friedrich/Starck, Christian (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, 2005, Art. 33 GG. Moneytoday vom 15. Oktober 2013. Newsroom vom 16. Oktober 2013. Pak, Kyun Seong, Verwaltungsrecht I, 2011. Sachs, Michael (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2007, Art. 33. Szalai, Stephan, Beamte in Teilzeit und Versetzung von Vollzeitbeamten, DÖV 2009, Heft 8. Schmidt-Bleibtreu, Grundgesetz, Kommentar, 11. Aufl. 2008, Art. 33. Seok, Jong Hyun/Song, Dong Soo, Verwaltungsrecht I, II, 2013. Seoul, Tageszeitung vom 17. Oktober 2013. Seoul, Tageszeitung vom 19. Oktober 2013. Statistik 2013, vom Ministerium der Sicherung u. Verwaltung, 2013. Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.1, 2. Aufl. 1984. Wagener, Frido, Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, VVDStRL 37 (1979). Wolff, Hans J./Bachof, Otto/Stober, Rolf, Verwaltungsrecht II, 5. Aufl. 1987. Yang, Geon, Verfassung, 2013.
Unabhängige Ombudsleute Von Annette Guckelberger*
I. Einführung Die Europäische Union erklärte das Jahr 2013 zum „Europäischen Jahr der Bürgerinnen und Bürger“.1 Nicht nur in der Union, sondern auch in Deutschland nehmen Initiativen an Bedeutung zu, welche die Bürgerinnen und Bürger stärker in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeiten rücken. Speziell hier in Deutschland hat es in den vergangenen Jahren verstärkt Anlass gegeben, darüber nachzudenken, wie man die Öffentlichkeit aktiv in das politische Geschehen einbeziehen kann. Denn wie man an dem Streit um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 sehen kann, in dem die Beteiligten einander auch heute noch unversöhnlich gegenüberstehen,2 kann der Widerstand der Bevölkerung dazu führen, dass Großprojekte gar nicht oder nur mit erheblicher Verzögerung realisiert werden. Dementsprechend hat sich die Koalition aus CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode vorgenommen, die Potenziale der Digitalisierung zur Stärkung der Demokratie zu nutzen, die Informationen über politische Entscheidungen quantitativ und qualitativ zu verbessern und die Beteiligungsmöglichkeiten für die Menschen an der politischen Willensbildung auszubauen.3 Die Beteiligung der Öffentlichkeit an umweltpolitisch relevanten Entscheidungsprozessen soll gestärkt und bei Verkehrsinfrastrukturprojekten soll aus Gründen der Akzeptanz und Transparenz die Bürgerbeteiligung in der Vorphase der Planfeststellung ___________ * Die Verfasserin ist Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität des Saarlandes. Sie dankt ihren wissenschaftlichen Mitarbeiten, Frau Christine Zott und Herrn Dr. Frederic Geber, LL.M., für die Mithilfe bei der Überführung ihres Aufsatzes aus der DÖV 2013, 613 ff. in die Vortragsfassung. 1 Beschluss Nr. 1093/2012/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.11.2012 über das Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger (2013), ABl. L 325, S. 1 ff. vom 23.11.2012. 2 Bernhard Stüer/Dirk Buchsteiner, Stuttgart 21: Eine Lehre für die Planfeststellung?, UPR 2011, 335. 3 Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 151.
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durch die verbindliche Festschreibung von Qualitätsstandards verbessert werden.4 Es ist geplant, die Bürgerinnen und Bürger sowie die Akteure der Zivilgesellschaft konsequent in die Diskussion um Zukunftsprojekte und die Ausgestaltung von Forschungsagenden einzubeziehen.5 „Wir wollen neue Formen der Bürgerbeteiligung […] entwickeln und in einem Gesamtkonzept zusammenführen“.6 Ein Mittel, um die Öffentlichkeit stärker als bisher in den staatlichen Entscheidungsprozess einzubinden, kann in der Schaffung unabhängiger Ombudsleute liegen. Nach Jürgen Hansen versteht man unter einem Ombudsmann im staatsrechtlichen Sinne eine vom Parlament eingesetzte, aber weitgehend unabhängige Vertrauensperson, „die zum Schutz der Rechte des Individuums sowie zur parlamentarischen Kontrolle eine umfassende Aufsicht über fast sämtliche Behörden und Beamten ausübt, deren Entscheidungen sie jedoch nicht korrigieren, sondern – aufgrund eingereichter Beschwerde oder aus eigenem Antrieb – in der Regel nur beanstanden darf“.7 In Deutschland bezeichnet man derartige Ombudspersonen auch als Bürgerbeauftragte. Sie sollen sich für die Interessen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Verwaltung einsetzen. Sie nehmen Beschwerden von der Öffentlichkeit entgegen, die die Verwaltungstätigkeit betreffen8. Außerdem können sie selbst Untersuchungen anstellen, um strukturelle Missstände der Verwaltung aufzudecken9. Sie stehen außerhalb von Regierung und Verwaltung10 und agieren unabhängig11. Allerdings haben sie nicht die Be___________ 4 Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 151. 5 Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 151. 6 Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 151. 7 Jürgen Hansen, Die Institution des Ombudsman, 1972, S. 4; s. auch Julia Kruse, Der öffentlich-rechtliche Beauftragte, 2007, S. 169 sowie die Definition der International Bar Association, abgedruckt in: International Ombudsman Institute, Linda C. Reif, The International Ombudsman Yearbook Vol. 6, 2002, S. 79. 8 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 106, 122. 9 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Jürgen Hansen, Die Institution des Ombudsman, 1972, S. 4. 10 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (621); s.a. Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 114; Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 472 f., 524; Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 105, 215. 11 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 459 ff.; Gabriele KucskoStadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 10 f.
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fugnis, bestimmte Einzelentscheidungen der Behörden aufzuheben und gegebenenfalls zu korrigieren12. Sie sollen vielmehr die Verwaltung dazu anregen, getroffene Entscheidungen zu überdenken bzw. die Behörde auf grundsätzliche Missstände in ihrem Tun hinzuweisen13.
II. Herkunft Die Idee zur Schaffung eines Ombudsmannes bzw. einer Ombudsfrau stammt ursprünglich von Staaten, die im Norden Europas liegen. Diese skandinavischen Staaten – also vor allem Schweden14, Finnland15, Dänemark16 und Norwegen17 – waren überzeugt, dass das materielle Recht, das der jeweiligen Entscheidung zugrunde liegt, allein kein Garant für deren Richtigkeit sei. Vielmehr sei auch die Einhaltung des Verfahrens, das zum Erlass der Entscheidung führt, zu prüfen. Darüber hinaus haben sich die skandinavischen Ombudsleute für die Etablierung
___________ 12 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Jürgen Hansen, Die Institution des Ombudsman, 1972, S. 4. 13 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 106. 14 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 1 f., 34 ff.; Gabriele KucskoStadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 1; Joachim Stern, Die einzelnen Rechtsordnungen, Schweden, in: Kucsko-Stadelmayer, Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 360. 15 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Julia Haas, Der Ombudsman als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 2, 59 f.; Gabriele KucskoStadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 1; Joachim Stern, Die einzelnen Rechtsordnungen, Finnland, in: Kucsko-Stadelmayer, Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 170; s. auch Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 27. 16 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 2, 61ff.; Gabriele KucskoStadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 1; Joachim Stern, Die einzelnen Rechtsordnungen, Schweden, in: Kucsko-Stadelmayer, Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 130; näher Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 28 ff. 17 Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 1; Joachim Stern, Die einzelnen Rechtsordnungen, Norwegen, in: Kucsko-Stadelmayer, Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 310; Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 72.
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weicher Standards des Verwaltungshandelns eingesetzt und maßgeblich zur Entwicklung des Konzepts der „guten Verwaltung“ und seiner Umsetzung in die Praxis beigetragen.18
III. Vorkommen heute Mittlerweile kennen zahlreiche Rechtsordnungen die Figur eines Ombudsmanns19. Beispielsweise hat die Europäische Union Mitte der 1990er Jahre20 den Europäischen Bürgerbeauftragten installiert.21 Er ist zuständig für Beschwerden, welche die Verwaltungstätigkeit von Stellen der Unionsverwaltung betreffen.22 Nicht möglich ist dagegen die Beschwerde gegen Entscheidungen des EuGH in seiner Funktion als Rechtsprechungsorgan.23 Im Jahre 2012 haben sich mehr als 22.000 Menschen an den Europäischen Bürgerbeauftragten gewandt.24 Neben diesem europäischen Ombudsmann stehen die zahlreichen Ombudspersonen, die von den einzelnen EU-Mitgliedstaaten eingerichtet wurden. Nach dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union zählt diese mittlerweile 28 Mitgliedstaaten. Von diesen verfügen 26 über eine Ombudsmanninstitution,25 weshalb heute die Idee des bzw. der Bürgerbeauftragten oder einer Ombudsperson auch als eine Institution des europäischen öffentlichen Rechts qualifiziert wird.26 ___________ 18 Annette Guckelberger, Der Europäische Bürgerbeauftragte und die Petitionen zum Europäischen Parlament – Eine Bestandsaufnahme zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2004, S. 19 f. 19 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614); s.a. Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 1. 20 Annette Guckelberger, Der Europäische Bürgerbeauftragte und die Petitionen zum Europäischen Parlament – Eine Bestandsaufnahme zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2004, S. 9. 21 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614 f.); s.a. Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 165 ff.; Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 237 ff. 22 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614). 23 http://www.ombudsman.europa.eu/atyourservice/whocanhelpyou.faces#/page/4 – zuletzt abgerufen am 9.1.2014. 24 P. Nikiforos Diamandouros, Der Europäische Bürgerbeauftragte Überblick 2012, 2013, S. 2. 25 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614); s.a. Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 2; Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 1, 84. 26 Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 1.
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Nur in Deutschland fehlt auf der Bundesebene sowie vielfach auch in den einzelnen Bundesländern ebenso wie in Italien auf der gesamtstaatlichen Ebene derzeit eine solche Institution.27 Dass es in Deutschland keinen Ombudsmann auf Bundesebene gibt, bedeutet aber nicht, dass Bürgerinnen und Bürger sich hier kein Gehör verschaffen könnten. So verbürgt Art. 17 GG das Recht, sich „mit Bitten und Beschwerden an die […] Volksvertretung zu wenden“. Dieses Recht steht „jedermann“ zu und ist über die Schriftform hinaus an keine besonders strengen formellen Voraussetzungen gebunden. Aus dem Petitionsgrundrecht folgt für die Berechtigten ein Anspruch auf Entgegennahme ihrer Eingabe durch die zuständige Stelle, deren Befassung mit der Petition einschließlich ihrer Bescheidung.28 Wird eine Petition beim Bundestag eingereicht, ist es seine Aufgabe, darüber zu entscheiden. Das Grundgesetz gibt die Behandlung der Petitionen durch den Petitionsausschuss als ständigen Pflichtausschuss vor.29 Gem. Art. 45c Abs. 1 GG wird dieser vom Bundestag bestellt, dessen Mitgliedern die Behandlung der nach Art. 17 GG an den Bundestag gerichteten Bitten und Beschwerden obliegt.30 Dieses Verfahren wird zwar oft und gerne von den Bürgerinnen und Bürgern genutzt.31 Wie allerdings später noch zu zeigen sein wird, kann man durchaus darüber nachdenken, ob es nicht Möglichkeiten für die Verbesserung des Verfahrens im Umgang mit den Petitionen gibt. Deutschland ist als Bundesstaat organisiert und setzt sich aus 16 Bundesländern zusammen. Diese verfügen jeweils über eine eigene Verfassung und über eigene Zuständigkeiten beim Vollzug von Gesetzen. Die Verfassungen der meisten Bundesländer garantieren ebenfalls ein Petitionsrecht,32 das aufgrund der föderalen Vielfalt je nach Bundesland in den Einzelheiten durchaus etwas anders
___________ 27 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614); s.a. Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 2; Ulrich Riehm/Knud Böhle/Ralf Lindner, Elektronische Petitionssysteme, 2013, S. 22; s.a. Jörg Gundel, Die Stellung des Europäischen Bürgerbeauftragten im Rechtsschutzsystem der EU, in: FS für Thomas Würtenberger, 2013, S. 497. 28 s. nur VGH Kassel, Beschl. vom 20.3.2013 – 7 D 225/13 m.w.N. 29 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614). 30 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615). 31 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615); s.a. Ulrich Riehm/Christopher Coenen/Ralf Lindner/Clemens Blümel, Bürgerbeteiligung durch E-Petitionen, 2009, S. 61 zur Akzeptanz des Petitionsausschusses des Bundestags in der Bevölkerung. 32 s. im Einzelnen dazu Annette Guckelberger, Aktuelle Entwicklungen im parlamentarischen Petitionswesen: Online-Petitionen, Öffentliche Petitionen, Landesrecht BadenBaden 2011, S. 11.
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als das Petitionsrecht zum Bundestag ausgestaltet sein kann.33 Darüber hinaus folgt auch aus Art. 17 GG für die Grundrechtsberechtigten das Recht, sich mit Petitionen an die Volksvertretungen der Länder wenden zu können.34 Auch wenn die Parlamente generell für Petitionen zuständig sind,35 wird ihre „Allzuständigkeit“ durch ihre Verbandszuständigkeit limitiert.36 Infolgedessen sind Bitten und Beschwerden, welche die Gesetzgebung oder das Verwaltungshandeln der Länder betreffen, nicht an den Bundestag, sondern an das jeweilige Landesparlament zu richten.37 Wie Art. 30 und Art. 83 GG belegen, führen grundsätzlich die Bundesländer die Gesetze aus. Sie bestimmen demnach, welche Behörde nach welchem Verfahren eine Entscheidung erlässt. Daher spielen sich viele Streitigkeiten zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und Behörden andererseits nicht auf der Bundesebene, sondern auf der Landesebene ab. Darüber hinaus haben einige wenige Bundesländer auch Ombudsleute eingerichtet, die ebenfalls mit der Behandlung von Petitionen betraut sein können. Von den 16 deutschen Bundesländern sind dies derzeit das an der Ostsee gelegene Mecklenburg-Vorpommern,38 das zwischen Nord- und Ostsee gelegene Schleswig-Holstein39 sowie das in der Mitte Deutschlands gelegene Thüringen.40 Im Jahre 1974 hat Rheinland-Pfalz als erstes Bundesland einen Bürgerbeauftragten ___________ 33 So werden in manchen Bundesländern die Petitionen nicht durch einen Petitionsausschuss, sondern durch Fachausschüsse behandelt, s. dazu Annette Guckelberger, Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 17 ff.; BayVerfGH, Entscheidung vom 23.4.2013 – Vf. 22-VII-12; und zu den Formanforderungen dies., ibidem, S. 82 ff. 34 Annette Guckelberger, Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 11; Hartmut Bauer, in: Dreier, Grundgesetz, 2. Aufl. 2004, Art. 17 Rn. 30; Thomas Gnatzy, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 17, C II. 1. S. 580; Hans Jarass, in Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 17 Rn. 6. 35 BVerfG-K 7, 133, 134 spricht insoweit von „Allzuständigkeit“. 36 Annette Guckelberger, Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 11; Hartmut Bauer, in: Dreier, Grundgesetz, 2. Aufl. 2004, Art. 17 Rn. 36; Thomas Gnatzy, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 17, C II. 3. S. 586; Hans Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 12. Aufl. 2012, Art. 17, Rn. 7. 37 Annette Guckelberger, Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 11. 38 §§ 5 ff. des Gesetzes zur Behandlung von Vorschlägen, Bitten und Beschwerden der Bürger sowie über den Bürgerbeauftragten des Landes Mecklenburg-Vorpommern (PetBüG M-V) vom 5. April 1995. 39 Gesetz über die Bürgerbeauftragte oder den Bürgerbeauftragten für soziale Angelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein (BüG) vom 15. Januar 1992. 40 Thüringer Gesetz über den Bürgerbeauftragten (ThürBüBG) vom 15. Mai 2007; Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614); s.a. dies., Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 19; Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891.
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eingerichtet.41 Das benachbarte Baden-Württemberg verfügt derzeit noch nicht über eine vergleichbare Institution. Jedoch hat man dort 2013 eine Diskussion darüber begonnen, ob man nicht auch eine solche Einrichtung einführen sollte42. So meinte die Vorsitzende des Petitionsausschusses am 27. November 2013, dass in anderen Bundesländern Bürgerbeauftragte ohne Umweg über die Ministerien direkt mit den unteren Verwaltungsbehörden bürgerfreundliche Konfliktlösungen ausloten könnten und man das Petitionsrecht als Teil von Bürgerbeteiligung und Bürgerdialog begreifen und weiterentwickeln solle.43 Wegen seiner langen Tradition bietet sich der rheinland-pfälzische Bürgerbeauftragte als Ausgangsmodell an, wenn man über die Einrichtung und Ausgestaltung einer solchen Institution in Deutschland nachdenkt. Der Länder-, aber auch der Staatenvergleich zeigt dabei, dass die Ausgestaltung der Figur des Ombudsmanns durchaus in Details variieren kann.44 Denn bei der Implementierung einer derartigen Einrichtung ist zu berücksichtigen, dass sie sich in die Eigenheiten des jeweiligen Rechtssystems einzufügen und innerhalb der von der Verfassung gezogenen Grenzen zu halten hat.45 Die Rechtsstellung des rheinland-pfälzischen Bürgerbeauftragten wird im Landesgesetz über den Bürgerbeauftragten des Landes Rheinland-Pfalz46 (BürgBG) einfachgesetzlich ausgestaltet. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Stellung des Bürgers im Verkehr mit den Behörden zu stärken (§ 1 Abs. 1 BürgBG).47 Er soll darauf hinwirken, dass Streitigkeiten einvernehmlich beendet werden (§ 5 Abs. 1
___________ 41 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614); s.a. GVBl. RP 1974, S. 187 ff.; s. dazu Annette Guckelberger/Frederic Geber/Christine Zott, Das Petitionsrecht in Hessen/Rheinland-Pfalz und im Saarland, LKRZ 2012, 125 (129 ff.); Udo Kempf, Der Bürgerbeauftragte von Rheinland-Pfalz – Eine Bestandsaufnahme, in: ders./Uppendahl, Ein deutscher Ombudsman, 1986, S. 13 ff.; Brigitte Kofler, in: Kucsko-Stadlmayer, Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 137 (142 ff.); Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981; Heinz Monz, Der Bürgerbeauftragte, 1982. 42 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (613). 43 Beate Böhlen, in: LT BW, Plenarprotokoll v. 27.11.2013, S. 5009, s. auch S. 5011; kritisch unter Verweis auf die hohe Besoldung des Bürgerbeauftragten Nikolaos Sakellariou, ibidem, S. 5013. 44 s. auch Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 4. 45 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 564. 46 GVBl 1974 S. 187, zuletzt geändert durch Art. 10 des 3. StrafÄndG, GVBl. 1974, S. 469. 47 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614); dies./Frederic Geber/Christine Zott, Das Petitionsrecht in Hessen/Rheinland-Pfalz und im Saarland, LKRZ 2012, 125 (130).
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S. 2 BürgBG).48 Aus verfassungsrechtlichen Gründen49 kann jedoch immer noch der Landtag abschließend über Petitionen befinden.50
IV. Zweck des Bürgerbeauftragten, Kritik an Petitionsausschüssen Die Anforderungen zur Anrufung des Bürgerbeauftragten sind nicht besonders hoch. Dadurch ist er für die Bürgerinnen und Bürger leicht erreichbar51. Diese niedrigen Hürden tragen dazu bei, dass die Menschen die Tätigkeit der Verwaltung öfter auf den Prüfstand stellen. Da die Empfehlungen des Bürgerbeauftragten unverbindlich sind, geht es hier vor allem um eine „weiche“ Kontrolle des Verwaltungshandelns.52 Diese Kontrolle, ebenso wie die leichte Erreichbarkeit zeigen, dass der Bürgerbeauftragte für die Einbringungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger von Bedeutung ist.53 Insoweit trägt er auch zur Verwirklichung des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips bei.54 Einige Studien haben sich mit den Vor- und Nachteilen der Bearbeitung der Petitionen durch die im Parlament angesiedelten Petitionsausschüsse befasst. Als Vorteil der parlamentarischen Petitionsausschüsse wird z. B. genannt, dass diese das Parlament frühzeitig über Schwierigkeiten beim Vollzug bestimmter Gesetze informieren können.55 Dies würde es dem Parlament ermöglichen, schnell Abhilfe zu schaffen, indem es z. B. problematische Teile eines Gesetzes ändert.56 ___________ 48
Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614); dies./Frederic Geber/Christine Zott, Das Petitionsrecht in Hessen/Rheinland-Pfalz und im Saarland, LKRZ 2012, 125 (130). 49 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614); s.a. Heinz Monz, Der Bürgerbeauftragte, 1982, S. 51. 50 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614); s.a. Heinz Monz, Der Bürgerbeauftragte, 1982, S. 51. 51 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615); s.a. Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 1. 52 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 577, 579, 602; s. auch Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 1, 34. 53 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615); Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 1. 54 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615); Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 1. 55 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615); s.a. BT-Drs. 13/3578, S. 6. 56 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615).
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Soweit die Verfassung keine diesbezüglichen Vorgaben macht, stehen Art und Weise der Erledigung von Petitionen grundsätzlich im Ermessen der Volksvertretung.57 Die Petitionsbehandlung kann gesetzlich und auch in der Geschäftsordnung des Parlaments näher ausgestaltet werden. Innerhalb der durch das Verfassungsrecht gezogenen Grenzen steht der Volksvertretung ein relativ weiter Gestaltungsspielraum bei der Verfahrensausgestaltung zu.58 Aus diesem Grund können die Verfassungsgerichte nicht prüfen, ob es sich dabei um die bestmögliche und sachgerechteste Regelung der Erledigung von Petitionen handelt.59 Wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof erst vor kurzem entschieden hat, ist in der Rechtsprechung anerkannt, „dass die Belastung durch die Behandlung von Petitionen und die Praktikabilität der Verfahrensweise bei ihrer Erledigung die Arbeit des Parlaments maßgeblich beeinflussen.“60 Einige Stimmen der Literatur sehen die Petitionsausschüsse der Parlamente auch kritisch. U.a. favorisieren sie eine unparteiische Behandlung der Eingaben der Bürgerinnen und Bürger. Da alle Mitglieder des parlamentarischen Petitionsausschusses zugleich Mitglieder des Parlaments61 und damit einer gewissen Fraktion zugehörig sind, ließen sich speziell Ausschussmitglieder, die der Regierungsfraktion angehörten, nur schwer davon überzeugen, dass der Vollzug eines bestimmten Gesetzes verbesserungsbedürftig sei.62 Darüber hinaus ist das Verfahren, das bis dato in den Petitionsausschüssen zur Bearbeitung der Petitionen angewendet wird, meistens sehr anonym.63 Personen, die sich mit den Petitionen an das Parlament gewendet haben, hörten oftmals lange Zeit nichts mehr von ihrer Angelegenheit. Sie erhalten meistens nur eine Eingangsbestätigung ihrer Petition64 sowie nach Abschluss des Verfahrens eine Mitteilung darüber, wie mit ihrer Eingabe umgegangen wurde.65 Die Bürgerinnen und Bürger könnten aus diesen knappen Informationen oftmals überhaupt nicht nachvollziehen, ob sich der Petitionsausschuss ihrer Petition eingehend angenommen habe. ___________ 57
BayVerfGH, Entscheidung v. 23.4.2013 – Vf. 22-VII-12. BayVerfGH, Entscheidung v. 23.4.2013 – Vf. 22-VII-12. 59 BayVerfGH, Entscheidung v. 23.4.2013 – Vf. 22-VII-12. 60 BayVerfGH, Entscheidung v. 23.4.2013 – Vf. 22-VII-12. 61 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615). 62 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615); s.a. BT-Drs. 13/3578, S. 6; s. auch Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (897 f.); Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 11. 63 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615); s.a. Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 70; Peter Kostelka, Ombudsmann-Organisationsmodelle im deutschsprachigen Raum, in: Europäisches Ombudsmann Institut, Der Ombudsmann in alten und neuen Demokratien, 2003, S. 1 (13); siehe auch BT-Drs. 13/3578, S. 6. 64 Jahresbericht 2013 des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages (17. Wahlperiode), S. 81. 65 Deutscher Bundestag, Reihe Stichwort, Petitionen – Von der Bitte zum Bürgerrecht, 3. Aufl. 2010, S. 31. 58
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Das Verfahren, mit dem über die Petition beraten und entschieden wird, läuft bislang weitestgehend innerhalb des Petitionsausschusses ab.66 Nach den bisherigen Erfahrungen tritt der Ausschuss nur selten in direkten Kontakt mit den Petenten.67 Es ist aber manchmal nötig, bestimmte Fragen vor Ort zu klären.68 Die Mitglieder des Petitionsausschusses werden sich regelmäßig ein viel besseres Bild von der Situation des betroffenen Bürgers machen können, wenn sie ihn selbst anhören. In aller Regel entscheide der Ausschuss „nach Aktenlage“.69 Ortstermine, die Mitglieder des Petitionsausschusses z. B. zum besseren Verständnis in einer Baurechtsangelegenheit durchführten, finden eher selten statt.70 Neben dieser Kritik am Verfahren äußern manche Stimmen auch Skepsis hinsichtlich der personellen Besetzung des Petitionsausschusses. Dieser Ausschuss gehöre im Parlament zu den Einrichtungen, die man als wenig attraktiv ansehen würde.71 Oftmals seien die Ausschussmitglieder noch in anderen Ausschüssen aktiv, die ihnen lohnender – im Sinne von prestigeträchtiger – erschienen.72 Darüber hinaus bringen sich die Abgeordneten in aller Regel auch aktiv in die sonstige Arbeit ihrer Partei bzw. Fraktion ein.73 Dies könne dazu führen, dass die Arbeit im Petitionsausschuss unter ihren sonstigen Verpflichtungen leide. Die vielfältigen anderweitigen Aufgaben der Ausschussmitglieder können außerdem verhindern, dass die Abgeordneten einschlägiges Fachwissen ansammeln, durch welches die Bearbeitung der Petitionen langfristig vereinfacht würde.74 Darüber ___________ 66 Zur Möglichkeit der Übertragung der Prüfung der Zulässigkeit der Petition auf Teile des Ausschusses oder Mitarbeiter der Verwaltung BayVerfGH, Entscheidung vom 23.4.2013 – Vf. 22-VII-12. 67 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616). 68 Zu Ortsbesichtigungen auch Annette Guckelberger, Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 99 f. 69 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617). 70 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616). 71 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. BT-Drs. 13/3578, S. 7; Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 72; Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (899). 72 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (899); Peter Kostelka, Ombudsmann-Organisationsmodelle im deutschsprachigen Raum, in: Europäisches Ombudsmann Institut, Der Ombudsmann in alten und neuen Demokratien, 2003, S. 1 (12); dazu auch Robert Uerpmann-Wittzack, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, 6. Aufl. 2012, Art. 17 Rn. 28. 73 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. BT-Drs. 13/3578, S. 7; Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 71 f.; Udo Kempf, Der Bürgerbeauftragte von Rheinland-Pfalz – Eine Bestandsaufnahme, in: ders./Uppendahl, Ein deutscher Ombudsman, 1986, S. 13 (35); Peter Kostelka, Ombudsmann-Organisationsmodelle im deutschsprachigen Raum, in: Europäisches Ombudsmann Institut, Der Ombudsmann in alten und neuen Demokratien, 2003, S. 1 (12). 74 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 71 f.; Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 669; BT-Drs. 13/3578, S. 7.
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hinaus steht einer zügigen Bearbeitung der Petitionen entgegen, dass sich die Zusammensetzung des Petitionsausschusses mit der Zeit ändert.75 So wechseln dessen Mitglieder im Laufe einer Legislaturperiode. Dies verhindert es, effiziente Verfahren zu schaffen, die eine zügige Bearbeitung der Petitionen ermöglichen. Als Zusammenfassung kann man festhalten, dass Petitionsausschüsse das Parlament zwar frühzeitig auf Missstände aufmerksam machen können. Diese Frühwarnfunktion kann momentan ihre Kraft aber nicht immer vollständig entfalten. Vielmehr weist das Verfahren im Petitionsausschuss nach seiner momentanen Konzeption verschiedene Schwächen auf. So stehen die fehlende fachliche Spezialisierung der Ausschussmitglieder und auch die oft anzutreffende Rotation des Personals einer zügigen Bearbeitung der Petitionen entgegen. Aus Bürgersicht ist das Verfahren im Ausschuss intransparent und undurchsichtig. Es ist vornehmlich eine politische Entscheidung, wie man mit diesen Schwächen umgehen und ob man sie beheben möchte. So lässt sich z. B. über eine bürgerfreundlichere Ausgestaltung des Verfahrens vor dem Petitionsausschuss nachdenken, etwa indem der Ausschuss wie in Bayern den Petenten selbst anhört.76 Andere versprechen sich dagegen von der Einrichtung eines Bürgerbeauftragten eine Behebung dieser Schwächen.
V. Vorteile des Ombudsmannsystems In der Tat weisen unabhängige Ombudsleute einige Vorteile in der Bearbeitung von Eingaben auf. Diese Vorteile kann man in solche zugunsten der Bürger und solche zugunsten des Staates unterteilen. 1. Für die Bürger a) Unabhängigkeit des Bürgerbeauftragten In erster Linie ist der Ombudsmann „Außenstehender“ mit unabhängiger Rechtsstellung. Er wird als Vertrauensperson zwar vom Parlament gewählt, gehört diesem aber nicht an77 und ist weisungsunabhängig.78 ___________ 75 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); s.a. Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 72 f. 76 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616). 77 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (613; 616); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 106, 459 zur besonderen Bedeutung seiner unabhängigen Rechtsstellung, S. 461. 78 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 459 f.
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Deshalb ist er im Gegensatz zu den Mitgliedern des Parlaments keinen politischen Zwängen unterworfen.79 Das wiederum schafft Vertrauen bei den Bürgern.80 Ihre Stellung im Umgang mit der Verwaltung und den Behörden wird durch die Arbeit des Bürgerbeauftragten gestärkt. Der Bürgerbeauftragte stellt insofern auch ein Gegengewicht zum politisch administrativen System dar.81 Bei Bedarf kann er eine Vermittlerrolle annehmen. Er kann in einem Konflikt zwischen Bürger und Staat Moderator und Lotse sein.82 Der Bürgerbeauftragte ist, soweit die rechtlichen Vorgaben und die zur Debatte stehende Situation es zulassen, damit beauftragt, einen angemessenen Interessenausgleich vorzuschlagen.83 Gibt es an der Entscheidung der Verwaltung nichts zu kritisieren, hat er dies entsprechend zu kommunizieren. Bürgernähe lässt sich in einer solchen Konstellation dadurch herstellen, dass der Bürgerbeauftragte den Petenten die Entscheidung der staatlichen Stellen in verständlicher Weise erklärt und so das Verständnis bzw. die Akzeptanz für diese erhöhen kann.84 b) Selbstaufgriffsbefugnis/größerer Prüfungsumfang Dem Bürgerbeauftragten kommt eine Selbstaufgriffsbefugnis zu. Er kann in eigener Initiative Fragen oder Themen aufgreifen, also von sich aus tätig werden.85 Zudem verfügt er im Vergleich zur Verwaltungsgerichtsbarkeit über eine ___________ 79 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 670. 80 BT-Drs. 13/3578 S. 6; Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999 S. 70; Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616 f.); Helmut Kohl, Der Bürgerbeauftragte des Landes Rheinland-Pfalz, in: Kempf/Uppendahl, Ein deutscher Ombudsmann, 1986, S. 43 (45); Veith Mehde, Rechtliche und rechtspolitische Potentiale von Petitionsrecht und Ombudsmanneinrichtungen, ZG 2001 S. 145 ff.; Jürgen Hansen, Die Institution des Ombudsmans, 1972, S. 4 (hierauf bauen z. B. die Definitionen bei Kathrin Groh, in: Heun/Honecker/Morlok/Wieland, Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 1684 f.; Katja Heede, European Ombudsman: redress and control at Union level, 2000, S. 8 f.; Julia Kruse, Der öffentlich-rechtliche Beauftragte, 2007, S. 169 f.; Ulrich Riehm/Christopher Coenen/Ralf Lindner/Clemens Blümel, Bürgerbeteiligung durch E-Petitionen, 2009, S. 59 auf). 81 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (614); Michael Hornig, Die Petitionsfreiheit als Element der Staatskommunikation, 2001, S. 82; s.a. Rupert Stettner, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 94. Erg.-Lfg. Nov. 2000, Art. 17 Rn. 24 bezogen auf Petitionen. 82 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (618); s.a. Anne Debus, Der Bürgerbeauftragte – Moderator, Dolmetscher und Lotse an der Schnittstelle zwischen Bürger und Staat, ThürVBl 2009, 77 (80); Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (897 f.). 83 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (618). 84 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (618); Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (898). 85 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616, 619); Jürgen Hansen, Die Institution des Ombudsmans, 1972, S. 4.
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umfassendere Prüfungsbefugnis. Er darf bei Ermessensentscheidungen der Verwaltung neben ihrer Rechtmäßigkeit, also der rechtlichen Kontrolle dieser Maßnahme, auch ihre Zweckmäßigkeit prüfen.86 Daneben kann der Ombudsmann auch Verfahrensfehler überprüfen, die vor Gericht oftmals unbeachtlich sind.87 Auch ist es denkbar, dass er sich bereits während des Verfahrens einschaltet und z. B. im Falle einer Beschwerde wegen einer zu langen Dauer eines Verwaltungsverfahrens auf zügige Abhilfe drängt.88 Die Gerichte können sich demgegenüber, wie man an § 44a VwGO gut erkennen kann, oft erst nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens anlässlich der Überprüfung von Sachentscheidungen mit der Kontrolle von Verfahrenshandlungen befassen. Zudem kann der Bürgerbeauftragte darauf achten, ob die sog. weichen Standards, wie die Höflichkeit eines Schreibens, eingehalten wurden. Deshalb trägt die Einrichtung des Ombudsmannes auch wesentlich zur Fortentwicklung von Verfahrensanforderungen bei. Dies zeigt sich z. B. am europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis, den der europäische Bürgerbeauftragte erarbeitet hat.89 Für den Bürger bedeutet dies, dass bei einer Anrufung des Bürgerbeauftragten dieser seine Interessen umfassender berücksichtigen kann. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass der Bürgerbeauftragte der Verwaltung letztlich nur Empfehlungen geben kann. Seine Entscheidungen sind also nicht wie die eines Richters verbindlich und erwachsen auch nicht in Rechtskraft.90 c) Verständlichkeit/keine Fachsprache Ein weiterer Vorteil des Bürgerbeauftragten ist seine Sprache. Um seiner Aufgabenstellung gerecht zu werden, sollte sich der Bürgerbeauftragte möglichst nicht in der für Laien mitunter schwer verständlichen Behördensprache ausdrücken. Denn mit einer einfacheren, „unbürokratischen“ Sprache geht eine bessere Verständlichkeit für den Bürger einher.91 Deshalb wird auch davon gesprochen, ___________ 86 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (618 f.); zur Effektivität des Bürgerbeauftragten gerade im Ermessensbereich Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (897 f.). 87 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (619); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 704. 88 Bericht des Bürgerbeauftragten des Landtages Mecklenburg-Vorpommern, 2011, S. 41, 43, 44. 89 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (615); dazu Annette Guckelberger, Der Europäische Bürgerbeauftragte und die Petitionen zum Europäischen Parlament, 2004, S. 88 ff.; dies./Frederic Geber, Allgemeines Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht vor seiner unionsrechtlichen Kodifizierung?, 2013, S. 68 ff.; Entschließung des europäischen Parlaments, P7_TA(2013)0004. 90 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 106. 91 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (619).
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dass der Bürgerbeauftragte manchmal die Rolle eines Übersetzers und Dolmetschers erfülle.92 Ergeht an einen Bürger eine Entscheidung und versteht er sie nicht, besteht die Gefahr, dass er sie aus diesem Grund nicht zu akzeptieren oder zu befolgen bereit ist. Die Erläuterung durch den Bürgerbeauftragten kann hier bereits Abhilfe schaffen und mehr Verständnis bei dem jeweiligen Bürger bewirken.93 In Einzelfällen kann dies dazu führen, dass Petenten der Entscheidung doch noch nachkommen und dadurch belastende und teure Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung entbehrlich werden. d) Einfacher Zugang Nicht zu unterschätzen ist auch der niedrigschwellige, d. h. einfache Zugang des Bürgers zu dem Bürgerbeauftragten.94 Die Eingaben, die er macht, können regelmäßig ohne Beachtung besonderer Formanforderungen gestellt werden. Der Bürger kann sich sowohl schriftlich als auch mündlich, z. B. via Telefon oder in einem persönlichen Gespräch an den Bürgerbeauftragten wenden.95 Der Bürgerbeauftragte kann seinerseits auch zu den Bürgern kommen. Beispielsweise hält der rheinland-pfälzische Bürgerbeauftragte Sprechstunden in verschiedenen Gemeinden des Bundeslandes ab.96 Auf diese Weise können auch Bürger, die zur Abfassung von Schreiben weniger gewandt sind, ihm ihre Anliegen ohne besondere Anstrengungen vortragen. Anders als bei einer Eingabe an den Petitionsausschuss eines Landesparlamentes, wo es bislang häufig weder ein Anhörungs-
___________ 92 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (618); s.a. Anne Debus, Der Bürgerbeauftragte – Moderator, Dolmetscher und Lotse an der Schnittstelle zwischen Bürger und Staat, ThürVBl 2009, 77 (80); Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (898). 93 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (618); Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (898). 94 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617 f.); s.a. Anne Debus, Der Bürgerbeauftragte – Moderator, Dolmetscher und Lotse an der Schnittstelle zwischen Bürger und Staat, ThürVBl 2009, 77 (80f.); Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (895). 95 Annette Guckelberger, Aktuelle Entwicklungen im parlamentarischen Petitionswesen, 2011, S. 38 f.; Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, S. 516; Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 19 f. 96 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617); s.a. Helmut Kohl, Der Bürgerbeauftragte des Landes Rheinland-Pfalz – Entstehung und Aufgaben, in: Kempf/Uppendahl, Ein deutscher Ombudsman, 1986, S. 43 (46 f.); zur Verfahrensweise des Bürgerbeauftragten auch Peter Kostelka, Ombudsmann-Organisationsmodelle im deutschsprachigen Raum, in: Europäisches Ombudsmann Institut, Der Ombudsmann in alten und neuen Demokratien, 2003, S. 1 (11).
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noch ein Rederecht für die Petenten gibt, ist mit dem Bürgerbeauftragten der Dialog möglich.97 Neben dieser einfachen Art der Kontaktaufnahme kann sich die Bevölkerung kostenlos mit Bitten oder Beschwerden an ihn wenden. Deshalb wird auch hier keine künstliche Hemmschwelle geschaffen und sind die Voraussetzungen für den Bürger denkbar niedrig. e) Personalisierung, Verwaltung hat ein Gesicht Der vom Parlament für eine bestimmte Dauer bestellte Bürgerbeauftragte wird mit einem bestimmten Gesicht verbunden.98 Dadurch können sich die Bürger mit ihm besser identifizieren und er bei ihnen eher die Stellung eines Vertrauensmannes einnehmen. Eine so konzipierte Institution erscheint manchen sympathischer als eine anonyme Behörde, deren Personal er nicht kennt und die ihm möglicherweise nur mittels maschinell erstellter und anonym gehaltener Schreiben gegenübertritt. Durch den Ombudsmann kann Anonymität und fehlendem Kontakt entgegengewirkt werden.99 Die Einrichtung des Bürgerbeauftragten ist gemeinwohlorientiert und bürgernah konzipiert. Ihm kommt deshalb auch eine sozialpsychologische Funktion zu.100 f) Effektiver und fachkompetenter Anders als die Mitglieder eines Petitionsausschusses ist der Bürgerbeauftragte nicht mit einer Vielzahl anderer Themen beschäftigt. Er wird von einem Mitarbeiterstab unterstützt, sodass er sich voll und ganz auf die Anliegen der Bürger konzentrieren kann.101 ___________ 97 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (616); dazu, dass aus Art. 17 GG kein Anspruch auf Anhörung oder eine bestimmte Ausgestaltung des Petitionsverfahrens abgeleitet werden kann, BVerfG, DVBl. 1993, 32 (33); OVG Lüneburg, NordÖR 2008, 118 (119); Annette Guckelberger, Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 101 ff. 98 BT-Drs. 13/3578, S. 6; Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617); Veith Mehde, Rechtliche und rechtspolitische Potentiale von Petitionsrecht und Ombudsmanneinrichtungen, ZG 2001, S. 145 (156); BT-Drs. 6/3829, S. 33; s. dazu auch Annette Guckelberger, Der Europäische Bürgerbeauftragte und die Petitionen zum Europäischen Parlament, 2004, S. 16. 99 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617). 100 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617); Udo Kempf, Der Bürgerbeauftragte von Rheinland-Pfalz – Eine Bestandsaufnahme, in: ders./Uppendahl, Ein deutscher Ombudsman, 1986, S. 13 (l7). 101 Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 72; Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617).
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Er kann sich mit den Eingaben der Bürger zeitnah beschäftigen und sie auch zügig bearbeiten.102 Während es immer einige Zeit bis zur nächsten Sitzung des Petitionsausschusses braucht, kann sich der Bürgerbeauftragte um kurzfristige Lösungsmöglichkeiten bemühen, wenn es etwa um die Teilnahme einer in wenigen Tagen stattfindenden Veranstaltung103 oder unaufschiebbare Beschwerden aus dem Bereich des Strafvollzugs geht.104 Zudem kann der Ombudsmann seine Tätigkeit flexibel ausgestalten. Er kann Hintergründe beleuchten, Entscheidungen hinterfragen und unkonventionelle Lösungen anstoßen. Weil er sich auf die Kontrolle der Verwaltung spezialisiert hat, ist er in seiner Arbeit routinierter und seine Fachkompetenz diesbezüglich größer.105 2. Für den Staat Das Ombudsmannsystem hat aber nicht nur Vorteile für den Bürger, sondern auch für den Staat. a) Kontroll- und Präventionsfunktion Der Ombudsmann ist dem Parlament gegenüber berichtspflichtig.106 Deckt er bei seiner Arbeit strukturelle Schwachstellen auf, berichtet er diese dem Parlament. Dieses hat dann dafür Sorge zu tragen, dass diese erkannten Mängel so frühzeitig wie möglich behoben werden.107 Die Verwaltung und das Verwaltungshandeln werden durch die Einschaltung des Bürgerbeauftragten intensiver
___________ 102 BT-Drs. 13/3578, S. 7; Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 75, 98; Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617); Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (894 f., 900). 103 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617). 104 s. dazu Leopold Grimm, in: LT-BW, Plenarprotokoll v. 27.11.2013, S. 5014. 105 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 669; in: BT-Drs.13/3578, S. 7 wird der Bürgerbeauftragte als professionalisierter und passionierter Petitionsbearbeiteter charakterisiert. 106 Anne Debus, Der Bürgerbeauftragte – Moderator, Dolmetscher und Lotse an der Schnittstelle zwischen Bürger und Staat, ThürVBl 2009, 77 (81); Gabriele KucskoStadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 50 ff. 107 Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsman-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: Europäische Ombudsman-Institutionen, 2008, S. 11, 50 ff. auch zur Möglichkeit der Beeinflussung des Gesetzgebers durch Vorschläge für Gesetzesänderungen.
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kontrolliert.108 Trotzdem führt dies nicht zu einem Gesichtsverlust der Verwaltung. Der Bürgerbeauftragte ersucht bei entsprechendem Anlass nur informell um eine Änderung einer Entscheidung und begegnet der Verwaltung damit auf Augenhöhe. Ein Richter würde dagegen eher von oben herab über ein etwaiges Fehlverhalten urteilen. Diese Form der Kontrolle durch den Ombudsmann kann daher langfristig zu Qualitätsverbesserungen der Verwaltung beitragen. b) Arbeitsersparnis Die Tätigkeit des Ombudsmannes kommt auch dem Parlament zugute.109 Je nach Fallgestaltung treibt der Bürgerbeauftragte die Bearbeitung einer Petition so weit voran, dass für den parlamentarischen Petitionsausschuss kaum noch Arbeit anfällt bzw. sich der Ausschuss auf die wirklich problematischen Angelegenheiten konzentrieren kann.110 Insbesondere wenn die Zuständigkeiten klar verteilt werden, um Doppelbearbeitungen zu vermeiden, kann die Arbeit des Ombudsmannes zur Entlastung des Ausschusses und des Parlaments beitragen.111 Dadurch lassen sich Zeit und Personalkosten einsparen.112
___________ 108 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (619). Zum positiven Effizienzvergleich für den Bürgerbeauftragten, Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 706; Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (901 f.). Dazu, dass unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers nicht das bestmögliche Petitionswesen gefordert wird, Michael Hornig, Die Petitionsfreiheit als Element der Staatskommunikation, 2001, S. 112 f. 109 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617); Peter Kostelka, Ombudsmann-Organisationsmodelle im deutschsprachigen Raum, in: Europäisches Ombudsmann Institut, Der Ombudsmann in alten und neuen Demokratien, 2003, S. 1 (15). 110 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (619); dies., Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 20 f.; Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 80; s.a. Walter Mallmann, Zur Zusammenarbeit zwischen Petitionsausschuß und Bürgerbeauftragtem, in: Udo Kempf/Herbert Uppendahl, Ein deutscher Ombudsmann, 1986, S. 57. 111 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (619); dies., Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 20 f.; Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 80; s.a. Walter Mallmann, Zur Zusammenarbeit zwischen Petitionsausschuß und Bürgerbeauftragtem, in: Kempf/Uppendahl, Ein deutscher Ombudsman, 1986, S. 57 f. 112 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (620); Anne Debus, Der Bürgerbeauftragte – Moderator, Dolmetscher und Lotse an der Schnittstelle zwischen Bürger und Staat, ThürVBl 2009, 77 (78f.); Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (903); Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 160 f.
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c) Verbesserung des Images/der Glaubwürdigkeit Durch die bürgernahe und dialogorientierte Einrichtung des Ombudsmannes gewinnt das politische und administrative System an Glaubwürdigkeit. Die Möglichkeit, mit Bitten und Beschwerden an den Bürgerbeauftragten herantreten zu können, dient dem Staat als Kommunikationsmittel mit dem Bürger.113 Der Ombudsmann tritt dem Bürger weder autoritativ noch konfrontativ oder schwer verständlich gegenüber und verbessert so das Image des Staates.114
VI. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit In Deutschland gilt das Prinzip der Gewaltenteilung. Wie man an Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG gut erkennen kann, wird die staatliche Gewalt durch die Legislative, Judikative und Exekutive ausgeübt.115 Da eine vierte Gewalt in der Verfassung nicht vorgesehen ist, stellt sich u.a. die Frage, wie sich eine Ombudsperson in dieses Gewaltenteilungsgefüge einfügt. Da der Bürgerbeauftragte die Verwaltung als Außenstehender mit Unabhängigkeit kontrollieren soll und die Verwaltung keinen Einfluss auf seine Bestellung hat, kann er nicht dieser Gewalt zugeordnet werden.116 Angesichts der Unverbindlichkeit seiner Entscheidungen, der für ihn typisch formlosen Verfahrensweise, seiner Befugnis zu Eigeninitiativuntersuchungen und der intendierten Entlastung des Parlaments bei der Petitionsbearbeitung nimmt er auch keine Aufgaben der Judikative wahr.117 Daher bleibt die Frage, ob der Ombudsmann der Legislative zugeordnet werden kann. Dafür spricht, dass er vom Parlament gewählt wird118 und ihm Bericht erstatten muss.119 Außerdem unterstützt und entlastet er es mit seiner Arbeit.120 Sein Initiativrecht ___________ 113 Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 146 ff., 149 zum Ombudsmann als Kontakt- und Informationsquelle. 114 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (617); Udo Kempf, Der Bürgerbeauftragte von Rheinland-Pfalz – Eine Bestandsaufnahme, in: ders./Uppendahl, Ein deutscher Ombudsmann, 1986, S. 13, 38; Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsmann-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsmann-Institutionen, 2008, S. 46 f. 115 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (621). 116 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (621); Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 105. 117 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (621); Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 121 ff. 118 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (621); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 462 ff. 119 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (621); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 466. 120 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (621); Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 101, 107 argumentiert mit der Absteckung des Aufgabenbereichs mit dem
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bei der Überprüfung einer Angelegenheit entspricht dem Prinzip der parlamentarischen Kontrolle der Verwaltung.121 Deshalb spricht vieles dafür, ihn in die Nähe der Legislative, z. B. als Hilfsorgan des Parlaments,122 einzuordnen. Dies ist aber nicht unumstritten.123 Neuere Studien sehen angesichts seiner Unabhängigkeit vom Parlament ganz von einer Zuordnung zu den drei Gewalten ab124 und erblicken in ihm ein Kontrollorgan sui generis.125 Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass das Grundgesetz keine absolute Trennung der drei Gewalten vorgebe und die Verfassung selbst davon Ausnahmen begründen könne.126 Wegen des klar umrissenen Aufgabenfelds des Bürgerbeauftragten sowie seiner Beschränkung auf „softe“ Äußerungen, sei damit keine Störung für das Gewaltengleichgewicht verbunden.127
___________ parlamentarischen Kontrollrecht. Dazu, dass dieser Befund rechtsvergleichend nicht immer zutrifft, Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 483. 121 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (621); Heinz Monz, Der Bürgerbeauftragte, 1982, S. 17; ähnlich auch Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 107, 109 ff., 236. Nach Art. 46 Satz 2 BerlVerf kommt allerdings dem Berliner Petitionsausschuss eine Selbstaufgriffsbefugnis zu. 122 Lars Brocker, in: Grimm/Caesar, Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2001, Art. 90a Rn. 12; Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (622); Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1981, S. 85; i.E. auch Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 114; dazu auch Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 480 ff. 123 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (621); Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 688; Michael Hornig, Die Petitionsfreiheit als Element der Staatskommunikation, 2001, S. 146 f.; siehe auch Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsmann-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsmann-Institutionen, 2008, S. 70; dazu, dass diese Einordnung als solche für die Verortung aus Gewaltenteilungsgesichtspunkten nicht besonders aussagekräftig ist, Philipp Bergel, Rechnungshöfe als vierte Staatsgewalt?, 2010, S. 80. 124 Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 688; Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der OmbudsmannInstitutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsmann-Institutionen, 2008, S. 11. 125 Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 688. 126 s. BVerfGE 30, 1 (28); Philipp Bergel, Rechnungshöfe als vierte Staatsgewalt?, 2010, S. 76. 127 Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 706; Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der OmbudsmannInstitutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsmann-Institutionen, 2008, S. 70.
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VII. Rechtliche Gestaltung/Kosten Zu guter Letzt stellt sich die Frage nach der rechtlichen Umsetzung und den Kosten einer Ombudsmanneinrichtung. Schon um etwaige Zweifel auszuräumen und zum Schutz ihrer Unabhängigkeit, bietet es sich an, diese in der jeweiligen Landesverfassung zu verankern.128 Damit ist eine größere Kontinuität der Einrichtung verbunden. Denn für ihre Beseitigung wird eine Änderung der Verfassung benötigt.129 Ob auch eine nur einfachgesetzliche Implementierung dieser Einrichtung zulässig ist, hängt von der konkreten Ausgestaltung der Einrichtung und der jeweiligen Landesverfassung ab, insbesondere von der Frage, welche Kompetenzen auf den Ombudsmann übertragen werden sollen.130 Was die Kosten der neuen Einrichtung anbetrifft, sollte darauf geachtet werden, diese aufgrund einer entsprechend sorgfältigen rechtlichen Ausgestaltung möglichst gering zu halten.131 Insbesondere gilt es, Doppel- und Mehrfachbearbeitungen durch den Bürgerbeauftragten und den Petitionsausschuss bzw. das Parlament zu vermeiden.132 Deshalb sollten die Zuständigkeiten zwischen dem Bürgerbeauftragten und dem Parlament klar abgegrenzt sein.133 Ein Teil der Kosten, die durch die Einrichtung des Ombudsmannes und seines Mitarbeiterstabes entstehen, wird sich über die Entlastung des Parlaments abfedern lassen.134
VIII. Fazit Ob und inwieweit eine Ombudsmann-Institution auf der Bundes- oder Landesebene eingeführt werden soll, ist vornehmlich eine politische Entscheidung und hängt von der Bewertung und Gewichtung der für und gegen eine solche Einrichtung vorgebrachten Argumente ab. Bislang stößt eine solche Einrichtung ___________ 128 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (622); Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die rechtlichen Strukturen der Ombudsmann-Institutionen in Europa – Rechtsvergleichende Analyse, in: dies., Europäische Ombudsmann-Institutionen, 2008, S. 7. 129 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (622). 130 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (622); ablehnend wegen der Veränderung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsordnung Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 107; a.A. wohl Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 108. 131 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (620). 132 Anne Debus, Der Bürgerbeauftragte – Moderator, Dolmetscher und Lotse an der Schnittstelle zwischen Bürger und Staat, ThürVBl 2009, 77 (78); Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (620). 133 Anne Debus, Der Bürgerbeauftragte – Moderator, Dolmetscher und Lotse an der Schnittstelle zwischen Bürger und Staat, ThürVBl 2009, 77 (78). 134 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (620).
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in Deutschland nach wie vor auf Skepsis. Gegeneinwände sind, dass der gerichtliche Rechtsschutz in Deutschland gut ausgebaut sei135 und die Einführung eines parlamentarischen Ombudsmannes zu einer Selbstentmachtung des Parlaments bzw. des Petitionsausschusses führe.136 Deutlich wird dies etwa in der Äußerung, dass jedes zwischengeschaltete Gremium bei der Bearbeitung der Petitionen „die Bedeutung eines einzelnen Abgeordneten geringer erscheinen lassen“ und eine solche Entscheidung auch etwas mit der Selbstachtung des Parlaments zu tun habe.137 Auch wird geltend gemacht, es würde eine neue bürokratisch arbeitende Behörde entstehen,138 oder es wird die Befürchtung geäußert, es werde ein „Versorgungsposten“ für die Belohnung bzw. Unschädlichmachung verdienter Parteikameraden geschaffen,139 die ihr Amt nicht mit dem nötigen Engagement wahrnehmen würden. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass sich derartige Motivlagen schwerlich nachweisen lassen,140 und es letztlich immer von der Person des jeweiligen Bürgerbeauftragten abhängt, wie das Amt wahrgenommen und ausgeübt wird. Viele Bürgerbeauftragte setzen sich mit besonderem Engagement für die Anliegen der Bürger und die Fortentwicklung des Verwaltungsrechts ein. Dazu trägt nicht zuletzt ihre rechtlich abgesicherte Unabhängigkeit bei. Deutschland rückt aufgrund der hier bislang nach wie vor vorherrschenden Ablehnung der Ombudsmann-Idee angesichts der zwischenzeitlich weltweit anzutreffenden Verbreitung dieser Institution zunehmend in eine Außenseiterrolle.141 Möglicherweise werden dadurch Potenziale zur Verbesserung der Qualität des Verwaltungshandelns und zur Erzielung einer größeren Bürgernähe in Deutschland nicht im nötigen Maße genutzt, wodurch es im Wettbewerb der Rechtsordnungen langfristig in diesem Bereich unter Umständen in Rückstand geraten kann.142
___________ 135 Z.B. Thomas Würtenberger, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 74. Erg.Lfg. Nov. 1995, Art. 45c Rn. 40. 136 Ulrich Riehm/Knud Böhle/Ralf Lindner, Elektronische Petitionssysteme, 2013, S. 255; zur Entwicklung in Thüringen Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte, ZParl 2011, 891 (893, 899 f.). 137 Nikolaos Sakellariou, in: LT BW, Plenarprotokoll v. 27.11.2013, S. 5013. 138 Nachweise bei Markus Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999, S. 60; Hagen Matthes, Der Bürgerbeauftragte, 1980, S. 80. 139 Dazu Michael Fuchs, „Beauftragte“ in der öffentlichen Verwaltung, 1985, S. 195; Julia Kruse, Der öffentlich-rechtliche Beauftragte, 2007, S. 162. 140 Michael Fuchs, „Beauftragte“ in der öffentlichen Verwaltung, 1985, S. 195; Julia Kruse, Der öffentlich-rechtliche Beauftragte, 2007, S. 162 f. 141 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (622). 142 Annette Guckelberger, DÖV 2013, 613 (622).
Bürgerbeteiligung als systemstabilisierendes Element der parlamentarischen Demokratie Von Jan Ziekow Viele von Ihnen werden sich sicherlich noch an das deutsch-koreanische Symposium zum Verwaltungsrechtsvergleich 2009 erinnern, dessen damaliges Thema lautete: „Mediation als Methode und Instrument der Konfliktmittlung im öffentlichen Sektor“. In seinem damaligen Vortrag mit dem Titel „Mediation im Kontext von Demokratie- und Rechtsstaatsgebot“ kam Peine zu dem Ergebnis, dass Demokratieprinzip und Mediation nichts miteinander zu tun haben – abgesehen davon, dass das Demokratieprinzip der Mediation im öffentlichen Sektor rechtliche Grenzen setzt1. Anders setzte Pitschas an, der auf die Bedeutung der Mediation für eine collaborative governance im kooperativen Staat hinwies2. In Deutschland haben die Ereignisse um den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs, der unter der Projektbezeichnung „Stuttgart 21“ bekannt geworden ist3, zu zahlreichen Maßnahmen auf Bundes- und auf Landesebene bis hin zu neuen gesetzlichen Regelungen sowie einer intensiven Diskussion in der Wissenschaft geführt. Ich möchte diese Entwicklung hier nicht im Einzelnen nachzeichnen, sondern mich auf ausgewählte Gesichtspunkte beschränken.
I. Zu Begriff und Formen von „Bürgerbeteiligung“ Vorweg geschickt sei eine Eingrenzung des Themengegenstandes „Bürgerbeteiligung“. Im juristischen Bereich wird der Begriff Bürgerbeteiligung eng verstanden, nämlich im Sinne der Einbeziehung der Bürger in staatliche Entscheidungsverfahren. Der eine Zweig sind Volksbegehren und Volksentscheide, der ___________ 1 Franz-Joseph Peine, Mediation im Kontext von Demokratie- und Rechtsstaatsgebot, in: Seok/Ziekow (Hrsg.), Mediation als Methode und Instrument der Konfliktmittlung im öffentlichen Sektor, 2010, S. 45 (56). 2 Rainer Pitschas, Die Rechtswirkungen der Mediation im Bewirkungsspektrum kollaborativer Governance, in: Seok/Ziekow (Hrsg.), Mediation als Methode und Instrument der Konfliktmittlung im öffentlichen Sektor, 2010, S. 199 ff. 3 Hierzu zusammenfassend die Beiträge in: Frank Brettschneider/Wolfgang Schuster (Hrsg.), Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, 2013.
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andere Zweig besteht in der Rolle, die Bürgern in Planungs- und Genehmigungsverfahren zukommt. Dieser Bereich ist in Deutschland – entgegen den durch manche Politiker gefühlten Defiziten – auch im internationalen Vergleich stark ausgebaut. Vor der Erteilung der Genehmigung für ein größeres, z. B. nach Immissionsschutzrecht zuzulassendes Projekt sind bereits nach den gesetzlichen Vorschriften Beteiligungen u.a. in der Raumordnungsplanung, der Flächennutzungsplanung, der Bebauungsplanung und im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren vorgeschrieben.4 Für die ganz überwiegende Zahl von Planungs- und Genehmigungsentscheidungen reichen diese formellen – weil gesetzlich vorgeschriebenen – Beteiligungen der Bürger in den Planungs- und Genehmigungsverfahren völlig aus. Gleichwohl verbleiben Fälle, in denen diese formellen Beteiligungen nicht genügen, um ein Konfliktpotential abzuarbeiten. Hier könnte man nun die Achseln zucken und sagen, nun gut, das sei dann eben die Stunde der Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern. Die Erfahrung zeigt, dass ein solches Vorgehen nicht nur für den den Polizeieinsatz anordnenden Innenminister politisch kaum durchhaltbar ist, sondern auch das Fundament der Identifikation der Bürger mit der parlamentarischen Demokratie zu erodieren droht. Aus diesem Grunde werden verschiedene Varianten einer zusätzlichen informellen Beteiligung der Bürger erprobt. Ein Element aus diesem Instrumentenbaukasten hat mittlerweile in Gestalt des neuen § 25 Abs. 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) Gesetzeskraft erlangt. Auch bei einem in dieser Weise verengten Verständnis des Begriffs „Bürgerbeteiligung“ muss klar sein, dass selbst dann die Formen – oder Instrumente – von Beteiligung sehr unterschiedlich sind. Die in der Beteiligungsforschung verwendete Skala lautet: Information: Die Bürger werden über das Vorhaben und das Verfahren informiert. Eine wechselseitige Kommunikation erfolgt nicht. Konsultation: Die Bürger können sich zu dem Vorhaben äußern. Kooperation: Bürger und Vorhabenträger, ggf. unter Einbeziehung der Verwaltung, erarbeiten gemeinsam Empfehlungen. Mediation: Ein bereits entstandener Konflikt zwischen Bürgern und Vorhabenträger wird gelöst.
___________ 4 Siehe den Überblick bei Jan Ziekow, Neue Formen der Bürgerbeteiligung? Planung und Zulassung von Projekten in der parlamentarischen Demokratie, Gutachten D zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, S. D 26 ff.
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II. Die strukturelle „Sprachlosigkeit“ der Verwaltung in der legalistischen repräsentativen Demokratie Man muss sehr vorsichtig darin sein, Bürgerbeteiligung eine gleichsam universale Wirkung der Systemstabilisierung zuzuschreiben. Welche Rolle Bürgerbeteiligung mit Blick auf die Prävention von Systemkrisen zu spielen vermag, hängt vielmehr stark vom jeweiligen politischen und Verwaltungssystem ab. Die folgenden Überlegungen beziehen sich daher auf das Modell der repräsentativen Demokratie westlicher Prägung, in dem die Verwaltung – wie in den kontinentaleuropäischen Staaten – primär gesetzesdirigiert ist. Üblicherweise bezeichnet man diese Staaten als solche der legalistischen Verwaltungskultur.5 Eine durchgängig gesetzesdirigierte Verwaltung entzieht zwar den Bürger weitgehend individueller Willkür, behält diese Distanz jedoch auch dann bei, wenn sie die Erwartungen und Präferenzen der Bürger nicht zureichend abgebildet hat.6 Divergenzen werden in einer solchen Verwaltungskultur fast ausschließlich als Rechtskonflikte wahrgenommen und dementsprechend in Gerichtsverfahren zum Austrag gebracht. Es geht nicht um Präferenzen oder technisch-wissenschaftlich unterschiedliche Wahrnehmungen von Sachverhalten, sondern allein darum, ob die Verwaltung sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens gehalten hat. Für Interessenkonflikte wird eine Überbrückung zumindest für einen Teil der Fälle dadurch gesucht, dass Interessenskonflikte über die Figur des „rechtlich geschützten Interesses“7 in eine für die Gerichte verarbeitbare Form überführt werden. Dies führt dazu, dass Interessen meist nur wahrgenommen werden, wenn sie von vornherein in dieser Weise formuliert werden, auch wenn dies nicht sachangemessen ist und die eigentlichen Interessen dadurch nicht selten nicht erkannt werden. Individuelle Interessen, die nicht als rechtlich geschützte Interessen formuliert sind, werden als nicht relevant ausgeblendet. In verstärktem Maße gilt dies für das Erkennen und die Bewältigung von Wertkonflikten. Die Unterscheidung Interessen-/Wertkonflikte lässt nicht ___________ 5 Siehe zu den unterschiedlichen Verwaltungskulturen Klaus König, Verwaltungskultur – typologisch betrachtet, in: König/Kropp/Kuhlmann/Reichard/Sommermann/Ziekow (Hrsg.), Grundmuster der Verwaltungskultur, 2014, S. 13 ff. Zum Typus der legalistischen Verwaltungskultur siehe die Beiträge dort in Teil II. 6 Vgl. Klaus König, Moderne öffentliche Verwaltung, 2008, S. 111. 7 Zu ihr vgl. nur Hartmut Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, 1986, S. 138 f.; Wilhelm Henke, Das subjektive öffentliche Recht, 1968, S. 1 ff.; Johannes Masing, Der Rechtsstatus des Einzelnen im Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 7 Rdnr. 98 ff.; Jost Pietzcker, Die Schutznormlehre. In: Depenheuer u.a. (Hrsg.), Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, 2007, S. 571 (577 ff.).
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dadurch entproblematisieren, dass Interessenkonflikte der Ebene des administrativen Verfahrens und Wertkonflikte der Ebene des politischen Diskurses zugeordnet werden und hierdurch eine Entkoppelung erfolgt. Denn dies würde voraussetzen, dass das repräsentativ-demokratische System in der Lage wäre, die Pluralität von Wertkonflikten aufzunehmen und zu verarbeiten, was wegen der Kanalisierung der Verarbeitungsprozesse jedoch nur beschränkt der Fall ist. Sofern es sich nicht um die Auseinandersetzung um die „großen Fragen“ handelt, zu denen die politischen Parteien programmatische Aussagen getroffen haben, über die in („Richtungs“-)Wahlen entschieden wird, werden von denen der Politik abweichende Werthaltungen in der Regel nicht als solche erkannt. Denn derjenige mit einer abweichenden Werthaltung ist – will er Erfolg haben – gezwungen, seine Werthaltung in akzeptierte Diskursformen, vor allem das – scheinbar rationale – Sachargument zu kleiden. Das Bestehen von Wertkonflikten wird in administrativen Verfahren nicht abgebildet. Soweit Wertentscheidungen zu treffen waren, sind diese auf politischer Ebene beim Erlass der anzuwendenden gesetzlichen Regelungen getroffen worden. Ein Ebenenwechsel aus dem Verwaltungsverfahren in den politischen Diskurs ist für ein legalistisches Verwaltungssystem grundsätzlich nicht vorgesehen. Die Konsequenz ist eine strukturelle „Sprachlosigkeit“ zwischen Verwaltung und Bürgern. Kommunikationsprozesse sind für die Verwaltung in der Regel nur insoweit verarbeitbar wie es die gesetzliche Programmierung vorsieht. Selbstverständlich ist eine Behörde auch in einer legalistischen Verwaltung nicht daran gehindert, den Bürger zu informieren und mit ihm zu sprechen, und ebenso selbstverständlich wird dies in der täglichen Verwaltungspraxis auch gemacht. Gleichwohl muss die Verwaltung schon zur Vermeidung von Verfahrensfehlern die Wirkungsgrenzen dieser Kommunikation deutlich machen. Hieraus entstehen durchaus nicht immer, aber können Friktionen mit den Positionen und der Selbstwahrnehmung von Bürgern entstehen. Die strukturelle Sprachlosigkeit führt dann zu immer größerer Lautstärke. In einem legalistischen Verwaltungssystem sieht sich in erster Linie die Verwaltung als demokratisch legitimierte Institution dazu berufen, sowohl den für und gegen das Projekt streitenden Gemeinwohlbelangen als auch den Interessen Einzelner Rechnung zu tragen. Trotz aller Konzepte einer kooperativen Gemeinwohlkonkretisierung8 fehlt es an normativ gestalteten Arenen, die solche Konzepte umsetzen könnten. In der Folge werden der Verwaltung von den Bürgern immer ___________ 8 Helmuth Schulze-Fielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung. In: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.): Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 12 Rdnr. 154 ff.; Bernhard Blanke, Aktivierender Staat, aktive Bürgergesellschaft, 2001, S. 15 ff.; zur Kritik Arthur Benz, (1998): Postparlamentarische Demokratie? Demokratische Legitimation im kooperativen Staat, in: Greven (Hrsg.): Demokratie – eine Kultur des Westens?, 1998, S. 201 (204 ff.).
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häufiger ihre Kompetenz und auch ihr Wille bestritten, Gemeinwohlgesichtspunkte angemessen zur Geltung zu bringen. Das, was gerade Freiheit und Gleichheit der Bürger sichern soll, die Entscheidung in gesetzesgebundener Distanz, wird der Verwaltung von den Bürgern vorgehalten. Ganz im Gegenteil wird den Behörden gerade bei der Realisierung von großen Infrastrukturprojekten nicht selten die Rolle eines „Angreifers“ zugeschrieben, sei es, weil sie „in einem Boot“ mit dem Projektträger gesehen werden9, sei es, weil ihr unterstellt wird, sie habe individuelle Interessen oder Gemeinwohlbelange – aus welchen Gründen auch immer – verkannt. Das typisch juristische Modell der „Legitimationskette“10 stößt hier an Grenzen, weil die Kette inhaltlich eben nicht bruchfrei ist. Es kann also durchaus Bedarf bestehen, hier stabilisierend einzugreifen.
III. Bürgerbeteiligung und repräsentative Demokratie Die Ergänzung der repräsentativen Demokratie unter dem Stichwort einer partizipatorischen Governance sieht sich allerdings Befürchtungen ausgesetzt, dass der Staat selbst gleichsam eine Parallelwelt zu den Institutionen der repräsentativen Demokratie schafft. Sie sind bekannt und sollen deshalb nur kurz zusammengefasst werden11: 1. Befürchtung: Legitimation Nicht-repräsentative Beteiligungsformen könnten zu Legitimationsdefiziten führen. Bürgerbeteiligung könnte faktisch einen zweiten Legitimationsstrang eröffnen, der den durch die Verfassung vorgesehenen aushöhlen könnte.
___________ 9 Auf diese Gefahr weist auch Klaus Ferdinand Gärditz, Angemessene Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturplanungen als Herausforderung an das Verwaltungsrecht im demokratischen Rechtsstaat, GewArch 2011, S. 273 (277), hin, der daraus allerdings den Schluss zieht, dass auf einen Ausbau der Bürgerbeteiligung verzichtet werden sollte. 10 Vgl. etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 34 Rdnr. 16 f. 11 Zusammenfassend Jocelyne Bourgon, Why should governments engage citizens in service delivery an policy making?, presentation to the OECD Public Governance Committee Symposium on „Open and inclusive policy making“ held on 16 October 2007 at the OECD, Paris.
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2. Befürchtung: Verantwortung Diese Befürchtung richtet sich auf eine Beeinträchtigung der Verantwortung der gewählten Regierung durch Bürgerbeteiligung, indem das Handeln der Regierung an eigener Gestaltungskraft und Zeitgerechtigkeit verliere, wenn es durch andere Handlungszusammenhänge konterkariert werde. 3. Befürchtung: Indienstnahme des Staates Wenn staatliche Institutionen Bürgerbeteiligung förderten, so bestünde die vielfach beschriebene Gefahr, dass der Staat von selbst ernannten Eliten für ihre Betrachtungsweise, was das Gemeinwohl zu sein hat und wie es zu verwirklichen ist, gleichsam gefangen genommen werde. 4. Befürchtung: Repräsentationsdefizit Aufgrund des unterschiedlichen Zugangs zu den Ressourcen Wissen, Zeit und Geld ergäben sich extreme Ungleichheiten hinsichtlich des „Ob“ und des „Wie“ der Beteiligung. Eine solche selektive Beteiligung solle durch das Repräsentativsystem gerade verhindert werden.12 Dass diese Friktionen entstehen können, wird sich schlechterdings nicht bestreiten lassen, führt jedoch nicht dazu, dass Anreicherungen des repräsentativen Systems mit partizipatorischen Elementen von vornherein zu unterbleiben hätten. Zur Vorbeugung einer durch Repräsentationsdefizite entstehenden Legitimitätskrise kann der Staat seiner legitimatorischen Verantwortung für die Sicherstellung öffentlicher Güter ggf. nur gerecht werden, wenn er ergänzende Arenen zur Wahrung seiner Legitimität errichtet. Defiziten der Verantwortung der staatlichen Institutionen für die Verwirklichung des Gemeinwohls muss durch die Erweiterung des Rahmens verantwortlicher Akteure Rechnung getragen werden. Dabei ist Folgendes zu beachten: Bleibt man dem Ausgangspunkt der herrschenden Staatsrechtslehre verhaftet, so sieht sich die Implementation von Formen der Bürgerbeteiligung vor das Erfordernis einer besonderen Legitimation gestellt.13 Die Beteiligung selbst vermittelt hingegen keine Legitimation, insbesondere nicht für eine unter Durchführung ___________ 12 Vgl. nur Heike Walk, Partizipationsformen und neue Beteiligungsprojekte im Rahmen des Governancebegriffs, in: Beck/Ziekow (Hrsg.), Mehr Bürgerbeteiligung wagen, 2011, S. 63 (67). 13 Dazu Joachim Wentzel, Bürgerbeteiligung als Institution im demokratischen Gemeinwesen, in: Hill (Hrsg.), Bürgerbeteiligung, 2010, S. 37 (53).
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einer Bürgerbeteiligung getroffene Verwaltungsentscheidung.14 Andererseits schließt eine Bürgerbeteiligung das Vorliegen einer den Anforderungen des Demokratieprinzips genügenden Entscheidung staatlicher Organe auch nicht aus, wenn das erforderliche Legitimationsniveau durch die verschiedenen Ausprägungen demokratischer Legitimation vermittelt wird.15 Eine Öffnung für Formen der Bürgerbeteiligung kann deshalb nicht als originäre Legitimationsquelle, sondern lediglich zur Stabilisierung des Repräsentativsystems in Form der Korrektur und des Ausgleichs von Defiziten herangezogen werden.16
IV. „Frühe Öffentlichkeitsbeteiligung“ – auf dem Weg zu einer neuen Verwaltungskultur? Wenn oben auf den verwaltungskulturellen Bezugsrahmen der Überlegungen hingewiesen wurde, so führt dies zu der Einsicht, dass systemstabilisierende Effekte einer – vorsichtigen – Änderung der legalistischen Verwaltungskultur bedürfen. Ein erster Schritt dorthin ist durch den für eine legalistische Verwaltungskultur typischen Schritt, Informelles durch Gesetz zu formalisieren, mit dem im Juni 2013 in das Verwaltungsverfahrensgesetz eingefügten § 25 Abs. 3 erfolgt. Dieser § 25 Abs. 3 VwVfG verlangt von der zuständigen Behörde, auf den Vorhabenträger einzuwirken (das Gesetz verwendet das Wort „hinwirken“), damit er eine sog. frühe Öffentlichkeitsbeteiligung durchführt. Das gilt nicht für alle genehmigungspflichtigen Vorhaben, sondern nur solche, die nicht nur unwesentliche Auswirkungen auf die Belange einer größeren Zahl von Dritten haben können. Dieses Hinwirken der Behörde soll erfolgen, noch bevor der Vorhabenträger den Genehmigungsantrag bei der Behörde gestellt hat. Der Vorhabenträger soll dann – möglichst noch vor Stellung seines Genehmigungsantrags – eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung durchführen.
___________ 14 Siehe nur Fritz Ossenbühl, Welche normativen Anforderungen stellt der Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates an die planende staatliche Tätigkeit? dargestellt am Beispiel der Entwicklungsplanung, Gutachten B zum 50. DJT, 1974, S. 124; Walter Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, VVDStRL 31 (1973), S. 179 (214 ff.). 15 Siehe in diesem Zusammenhang nur Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungslegitimation als Rechtsbegriff, AöR 1991, S. 329 (373); Walter Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, VVDStRL 31 (1973), S. 179 (227 ff.). 16 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 34 Rdnr. 24 ff.
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Funktional beruht diese Regelung auf der aus der jüngeren Beteiligungsdiskussion gewonnenen Einsicht, dass Bürgerbeteiligung zu einem Zeitpunkt beginnen muss, zu dem die wesentlichen Entscheidungen über ein Vorhaben, insbesondere solche über die Auswahl zwischen mehreren Verwirklichungsvarianten, noch nicht getroffen worden sind.17 Eine Bürgerbeteiligung, die erst einsetzt, wenn die zentralen Eckpunkte des Projekts bereits unverrückbar feststehen, führt zu Frustrationen und Dysfunktionalitäten: „Konflikte um die Grundkonzeption von Vorhaben lassen sich am besten in einem Stadium der Planung austragen, in dem ein Vorhaben noch gestaltet werden kann und eine sachliche Diskussion nicht durch verhärtete Fronten erschwert wird.“18 Gemessen an diesen Anforderungen kommt der Erörterungstermin in Verfahren der Zulassung von Großvorhaben, z. B. nach § 73 Abs. 6 VwVfG, „zu spät“. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Vorhaben, bei denen bislang keine Öffentlichkeitsbeteiligung vorgesehen war, die sich gleichwohl als konfliktbehaftet erwiesen haben. Vor diesem Hintergrund zielt § 25 Abs. 3 VwVfG darauf ab, die Transparenz bei der Genehmigung von Großvorhaben zu erhöhen und hierdurch Konflikten entgegenzuwirken. Hiermit wird das Ziel verbunden, das eigentliche Planungsbzw. Genehmigungsverfahren zu entlasten und die Zahl gerichtlicher Auseinandersetzungen zu vermindern.19 Die weitere mit der Einführung der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung verbundene Erwartung der Akzeptanzschaffung20 wird sich nur auf das Verfahren, nicht auf dessen Ergebnis – das genehmigte Projekt – beziehen können. Dass aus Projektgegnern durch Öffentlichkeitsbeteiligung Projektbefürworter werden, mag allenfalls in Einzelfällen vorkommen. Verfahrensakzeptanz bedeutet demgegenüber, dass alle sich mit dem Vorhaben befassenden Personen und Institutionen die ihnen wichtigen Gesichtspunkte einbringen können, eine offene und eingehende Erörterung erfolgt und deshalb das Zulassungsverfahren in seiner Gesamtheit als fair empfunden wird, auch wenn es nicht das individuell bevorzugte Ergebnis zeitigen sollte. Die Vorschrift verpflichtet die Behörde nicht selbst zur Durchführung einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung. Vielmehr wirkt die Behörde gegenüber dem Vorhabenträger darauf hin, dass dieser die Beteiligung verantwortlich organisiert.21 Denn die zentrale Schwierigkeit besteht darin, dass die Behörde nicht in ___________ 17 Siehe für viele Alexander Schink, Öffentlichkeitsbeteiligung – Beschleunigung – Akzeptanz, DVBl. 2011, S. 1377 (1383); Reinhard Wulfhorst, Konsequenzen aus „Stuttgart 21“: Vorschläge zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung, DÖV 2011, S. 581 (588). 18 Beirat Verwaltungsverfahrensrecht, Für mehr Transparenz und Akzeptanz – frühe Öffentlichkeitsbeteiligung bei Genehmigungsverfahren, NVwZ 2011, S. 859 (860). 19 BT-Drucks. 17/9666 S. 15. 20 BT-Drucks. 17/9666 S. 15. 21 Zu dem hierdurch von der Behörde Geforderten Heribert Schmitz/Lorenz Prell, Planungsvereinheitlichungsgesetz – Neue Regelungen im Verwaltungsverfahrensgesetz, NVwZ 2013, S. 745 (747).
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jedem Fall über die beabsichtigte Antragstellung eines zukünftigen Vorhabenträgers informiert sein muss. Aus diesem Grund können die Behörden für die tatsächliche Durchführung einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung nicht in die Pflicht genommen werden. Ebensowenig besteht eine Pflicht des Vorhabenträgers, dem Hinweis der Behörde nachzukommen und eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen. Die Statuierung einer Pflicht des Vorhabenträgers, die Durchführung einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung zu veranlassen, wäre wenig zielführend. Die Statuierung einer solchen Pflicht würde schon deshalb nicht zu einer flächendeckenden Durchführung einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung bei allen relevanten Projekten führen, weil sie von einer entsprechenden Kenntnis der Behörde abhinge und es der Vorhabenträger damit in der Hand hat, ob eine derartige Hinwirkung erfolgt oder nicht. Gerade derjenige Vorhabenträger, der sein Vorhaben so lange wie möglich einer Erörterung entziehen will, würde damit belohnt. Zum anderen würde es der – bis zur Einreichung eines Antrags oder einer Anzeige bestehenden – grundrechtlich geschützten Entscheidungsfreiheit eines ein Projekt Erwägenden zuwiderlaufen, ob überhaupt ein Zulassungsverfahren eingeleitet werden soll oder nicht22, wenn er die für die Durchführung einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung erforderlichen Unterlagen zusammenstellen müsste, ohne sich ggf. schon endgültig zur Antragstellung entschlossen zu haben. Trotz dieser beschränkten zwingenden Wirkung ist § 25 Abs. 3 VwVfG durchaus nicht nur symbolische Gesetzgebung. Von Behördenseite ist häufig vorgetragen worden, vor Antragstellung könne sich die Behörde nicht um Bürgerbeteiligung kümmern, weil sie noch gar nicht zuständig sei. § 25 Abs. 3 VwVfG versperrt der Behörde nunmehr den Weg, sich auf eine mangels Antragstellung noch nicht gegebene Zuständigkeit zu berufen und sich aus diesem Grund einer vor Antragstellung erfolgenden Befassung mit einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung zu entziehen. Vielmehr begründet die Vorschrift explizit eine diesbezügliche Vorfeldzuständigkeit vor Beginn des Genehmigungsverfahrens. Allerdings erwähnt die Vorschrift die Möglichkeit einer Durchführung einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung durch die Behörde selbst nicht. Hieraus wird man die Wertung des Gesetzgebers ableiten können, dass das Angebot einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung vorrangig in der Verantwortung des Vorhabenträgers liegen soll. Dies entspricht dem Rollenverständnis der Genehmigungsbehörden als zur Durchführung staatlicher Verfahren zuständiger neutraler Institutionen, die sich nicht in Mithaftung für die Ankündigung eines privaten Projekts ___________ 22
Vgl. Heribert Schmitz, Reformvorhaben zur Bürgerbeteiligung bei Großvorhaben: Planungsvereinheitlichungsgesetz, BauR 2012, S. 1457 (1458).
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nehmen lassen sollen23. Die Durchführung einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung durch die Genehmigungsbehörde kommt daher nur nachrangig, d. h. dann in Betracht, wenn andernfalls die mit § 25 Abs. 3 VwVfG verfolgten Ziele massiv verfehlt zu werden drohen. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn die beträchtliche Konfliktbehaftung des Vorhabens bereits deutlich ist, der Vorhabenträger aber entweder nicht willens oder nicht in der Lage ist, eine den Zielen der Vorschrift gerecht werdende frühe Öffentlichkeitsbeteiligung anzubieten. Inhaltlich soll sich die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung auf die Ziele des Vorhabens, die Mittel, es zu verwirklichen, und die voraussichtlichen Auswirkungen des Vorhabens beziehen. Unter den Zielen des Vorhabens ist die Bedeutung des Vorhabens für den Vorhabenträger und die Allgemeinheit zu verstehen. Die zu beteiligende Öffentlichkeit soll in die Lage versetzt werden, den Zweck, dem das Vorhaben aus Sicht der Vorhabenträgers dient, zu verstehen, um diesen in eine Relation zu den erwarteten Auswirkungen bringen zu können. Mit Blick auf den Zweck der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung, eine Einbeziehung der Öffentlichkeit zu erreichen, bevor die wesentlichen Weichen gestellt worden sind, muss sich die Unterrichtung seitens des Vorhabenträgers auf alle ernsthaft in Betracht kommenden Varianten, bei öffentlichen Vorhabenträgern einschließlich der Nullvariante, beziehen. Verschiedene denkbare Standorte sind ebenso darzustellen wie unterschiedliche technische Lösungen. In welcher Weise der Vorhabenträger die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung durchführt, steht grundsätzlich in seinem Ermessen. § 25 Abs. 3 VwVfG gibt allerdings bestimmte Mindeststandards für die Gestaltung der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung vor. Nach ihnen muss der Vorhabenträger die Öffentlichkeit über bestimmte Inhalte unterrichten sowie ihr Gelegenheit zur Äußerung und Erörterung geben. Zentrales Element ist dabei die Erörterung des Vorhabens mit der betroffenen Öffentlichkeit. Die Wahl des Begriffs „Erörterung“ macht deutlich, dass es sich um einen mündlichen Diskurs handeln muss. Nur in einem solchen unmittelbaren Austausch besteht die Möglichkeit, die wechselseitigen Interessen herauszuarbeiten und entsprechend der Zielsetzung der frühen Bürgerbeteiligung zu einem spätere Streitigkeiten verhindernden Ausgleich zu bringen. Eine rein elektronische Kommunikation vermag dies nicht zu leisten. Das Konzept der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung beruht auf dem Ziel der Herbeiführung eines Diskurses von Vorhabenträger und Öffentlichkeit, der beidseitig auf Freiwilligkeit beruht. Führt der Vorhabenträger eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung nicht oder nicht entsprechend den vorstehend entwickelten ___________ 23 Zur Gefahr dieser Rollenzuschreibung Jan Ziekow, Neue Formen der Bürgerbeteiligung? Planung und Zulassung von Projekten in der parlamentarischen Demokratie, Gutachten D zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, S. D 71 f.
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Maßgaben durch, so können hieraus für das spätere Zulassungsverfahren relevante Verfahrensfehler nicht entstehen. Ein Verstoß der Behörde gegen die Hinwirkenspflicht stellt hingegen einen Verfahrensfehler dar24, der jedoch nach § 46 VwVfG in der Regel unbeachtlich sein wird. Dies gilt von vornherein für die Fälle, in denen es sich bei der verfahrensabschließenden Zulassungsentscheidung um eine gebundene Entscheidung handelt, ebenso aber dann, wenn wie im Planfeststellungsverfahren noch eine weitere Beteiligungsmöglichkeit mit Präklusionsandrohung besteht. In diesem Fall fehlt es an der für die Relevanz des Verfahrensfehlers gemäß § 46 erforderlichen Fehlerkausalität25.
V. Schlussbetrachtung Betrachtet man die Diskussionen um Bürgerbeteiligung in Deutschland im historischen Längsschnitt, so kann man eine deutliche Wellenbewegung feststellen. War es in den frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts der Programmsatz des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt „Mehr Demokratie wagen“, so folgte in den 80er Jahren eine breite Diskussion um die Partizipation insbesondere bei Großprojekten. In der Praxis breit angekommen sind diese Ansätze nunmehr nach „Stuttgart 21“. Ob dies Ausdruck einer Systemkrise ist, die dringend des Rückgriffs auf außerparlamentarische Legitimationsmuster bedarf, um einen Kollaps zu verhindern, dürfte für Deutschland allerdings zu verneinen sein. Wenn man den mittlerweile breiten Konsens hinsichtlich der Ausweitung der Bürgerbeteiligung im Zuge der Planung und Genehmigung von Vorhaben betrachtet, handelt es sich wohl eher um die Souveränität einer „mature democracy“, über die eigene ReVitalisierung nachzudenken: „democracy is a continuum and not a binary condition of either democratic or not“26. Unter einem solchen Blickwinkel stellt die Aufnahme von Elementen der Bürgerbeteiligung ergänzend zum parlamentarisch-repräsentativen System ein Instrument der prospektiven Implementation eines systemstabilisierenden Elements dar.
___________ 24 A. M. wohl Hans-Jörg Birk, Frühzeitige Bürgerbeteiligung – das Konzept des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren, DVBl. 2012, S. 1000 (1002): „fakultatives Verfahren“. 25 Dazu Jan Ziekow, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl. 2013, § 46 Rdnr. 10 ff. 26 Guy-Uriel E. Charles, Can Mature Democracies Be Perfected?, Election Law Journal 9 (2010), S. 157.
Unabhängige Ombudsleute und Bürgerbeteiligung Von Byoung-Hyo Moon
I. Einleitung Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen sehr für Ihre Einladung in eine solch historisch und kulturell bedeutende und schöne Stadt am Oberrhein. Auch für die Möglichkeit, zum Thema „Ombudsmann und Bürgerbeteiligung“ zu sprechen, bedanke ich mich sehr. Es ist schon fast 10 Jahre her, seitdem mein Lehrer und ich an dem koreanisch-deutschen Symposium zum Verwaltungsrechtsvergleich im Jahre 2005 in Mannheim teilgenommen haben.
II. Zum Ombudsmann 1. Bedeutung des Ombudsmannes Frau Prof. Dr. Guckelberger hat dargestellt, dass aus Anlass des europäischen Jahres der Bürgerinnen und Bürger 2013 und des Streits um das Projekt Stuttgart 21 die Forderung nach Bürgerbeteiligung in das politische Geschehen verstärkt erhoben wurde und dass die Schaffung der unabhängigen Ombudsleute eines von vielen Instrumenten dafür sein könne. Nach ihrer Beschreibung haben von den 28 EU-Mitgliedsstaaten nur Deutschland und Italien keinen Ombudsmann, obwohl sich ein Ombudsmannsystem in vielen Staaten weltweit bewährt hat. Warum also haben weder Deutschland noch Italien ein solches Ombudsmannsystem? Meines Erachtens besteht jedenfalls kein Zusammenhang zwischen dem Fehlen eines Ombudsmannsystems in Deutschland und Italien und den Ereignissen des zweiten Weltkrieges. Tatsächlich steht die Einführung eines Ombudsmannes im Zusammenhang mit der rechtlichen und politischen Situation eines jeden Staates. Die Idee, Ombudsmänner in Deutschland einzusetzen, entsprang der Diskussion über die Reform des Petitionsrechts. Sie wurde jedoch – insb. wegen der Existenz des Petitionsausschusses auf Bundesebene – nicht weiterverfolgt.
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Frau Prof. Dr. Guckelberger hat die Unterschiede zwischen dem Petitionsausschuss und dem Ombudsmann gut beschrieben. Wie von ihr erläutert, weist das Verfahren im Petitionsausschuss einige Schwächen auf. Auch in Korea ist das Petitionsrecht in der Verfassung, in Artikel 26, verankert. Wie in Deutschland ist dessen Ausgestaltung allerdings intransparent und schwer durchschaubar. Deshalb darf die Existenz eines Petitionsausschusses meines Erachtens kein Grund für die Ablehnung sein, ein Ombudsmannsystem einzuführen. Historisch wurde die Institution des Ombudsmannes erstmals in der Form eines Justizbeauftragten der Reichsstände durch die Verfassung vom 6.6.1809 in Schweden eingeführt. Das Ombudsmannsystem war das Produkt eines Machtkampfes zwischen den Reichsständen und dem schwedischen König. Der Ombudsmann hatte mithin eine gewichtige Rechtsschutzfunktion für die Bevölkerung gegen die Willkür der Verwaltung und der Gerichte unter der schwedischen Krone. Dies ist meines Erachtens bemerkenswert. Allerdings bin ich auch der Meinung, dass die Verwaltungskontrolle durch einen Ombudsmann nicht zu einem Gesichtsverlust der Verwaltung führt, sondern langfristig die Qualität der Verwaltung verbessert und dass durch die Verwaltungskontrolle sowie die leichte Erreichbarkeit des Ombudsmannes (als Kommunikationsmittel mit dem Bürger) das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip gestärkt werden kann. Aber ich bin nicht der Meinung, dass der Ombudsmann diese Funktion der „weichen“ Verwaltungskontrolle haben sollte. Dies könnte nach außen so wirken, als sei er vornehmlich eine Institution des subjektiven Rechtsschutzes und weniger eine solche der Systemkontrolle. Meines Erachtens sollte der Ombudsmann als Instrument für Menschenrechtsschutz und Verwaltungs- oder Systemkontrolle eingesetzt werden können. 2. Zwei Beispiele in Korea Der koreanische Ombudsmann kann mit seinen Funktionen anhand zweier Beispiele aus Korea wie folgt beschrieben werden: a) Die Nationale Menschenrechts-Kommission Koreas Zum einen hatte Korea in der Vergangenheit einen sehr starken Ombudsmann, die sog. Nationale Menschenrechts-Kommission Koreas (NHRCK). Die Kommission wurde im Jahr 2001 als nationale Interessenvertretungsinstitution zum Schutz der Menschenrechte gegründet. Sie setzte sich für die Einhaltung der Menschenrechte im weiteren Sinne, einschließlich der Menschenwürde sowie
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des Werts und der Freiheit eines jeden Menschen, wie sie in den internationalen Menschenrechtsabkommen bezeichnet werden, ein. Sie engagierte sich von Anfang an sehr stark für den Menschenrechtsschutz und behandelte z. B. Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen. Ihre Empfehlungen (recommendations) hatten großen Einfluss auf das Handeln von Staatsorganen und Unternehmen, in denen beispielsweise Diskriminierungen vorfielen, obwohl sie keine rechtsbindenden Wirkungen hatten. Als Beispiele seien genannt:
3. Dezember 2001: Aufgrund einer Beschwerde untersuchte die Kommission einen unnatürlichen Todesfall in einer Haftanstalt (Cheongsong Custody Office und Daegu Justizvollzugsanstalt). 6. April 2005: Die Kommission veröffentlichte eine Stellungnahme, in der sie die Abschaffung der Todesstrafe forderte. 14. April 2005: Die Kommission veröffentlichte eine Stellungnahme, zur Unterstützung einer Gesetzgebung zugunsten der Rechte nicht fest angestellter Arbeitnehmer. 26. Dezember 2005: Die Kommission forderte die Regierung auf, bei der Wehrpflicht das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen anzuerkennen und alternative Möglichkeiten zur Ableistung des Wehrdienstes einzuführen. Die Kommission forderte die Staatsanwaltschaft auf, den Tod zweier Demonstranten während der Yeoido-Kundgebung zu untersuchen und empfahl, Aufsichtsmaßnahmen gegenüber der am Einsatz beteiligten Polizeidienststelle zu ergreifen. 26. Dezember 2005: Die Kommission veröffentlichte einen Vorschlag für einen nationalen Aktionsplan zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte (NAP Menschenrechtskonvention). 9. Januar 2006: Die Kommission empfahl die Verabschiedung des Gesetzesentwurfs zum Discrimination Act. 2004 und 2007: Die Kommission leitete den Vorsitz des Asien-Pazifik-Forums. März 2007 – Juni 2009: Die NHRCK übernahm den stellvertretenden Vorsitz des ICC.
Die Kommission selbst besteht aus elf Mitgliedern (dem Vorsitzenden, drei ständigen und sieben nicht-ständigen Mitgliedern). Unter den elf Kommissaren werden vier von der Nationalversammlung gewählt, vier weitere werden von dem koreanischen Präsidenten ernannt und weitere drei werden zunächst von dem Chief Justice des Supreme Court nominiert und dann von dem koreanischen Präsidenten genehmigt. Mindestens vier Kommissionsmitglieder müssen weiblich sein. Das Sekretariat setzt sich aus drei Büros, zwölf Divisionen und drei
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regionalen Büros zusammen. Es ist ausführendes Organ für die Entscheidungen der Kommission und verantwortlich für die administrativen Aufgaben der NHRCK. Seit dem Regierungswechsel im Jahre 2008 ist die Unabhängigkeit der Kommission jedoch stark geschwächt. Diese Tendenz verstärkte sich mit der Ernennung von Hyun Byungchul als 5. Vorsitzenden am 17.7.2009 noch weiter. Das Beispiel der NHRCK lehrt uns Koreaner wie Deutsche, dass der Mut, neue Wege zu beschreiten, Großes bewirken kann. b) Die Anti-Korruptions- und Bürgerrechtskommission in Korea Die Anti-Korruptions- und Bürgerrechtskommission (Anti-Corruption and Civil Rights Commission, ACRC) wurde am 29. Februar 2008 durch den Zusammenschluss des Ombudsmanns Koreas, der Korea Independent Commission against Corruption und der Administrative Appeals-Commision ins Leben gerufen. Aufgrund der Zusammenführung dieser drei Organisationen haben die Bürger nunmehr die Möglichkeit, verschiedene öffentliche Beschwerden an einer zentralen Stelle zu erheben. Die Einlegung von Rechtsmitteln und die Bekämpfung der Korruption erfolgt seitens einer einzigen Organisation und somit schneller und für den Bürger bequemer. Dabei erfüllt sie folgende Funktionen:
Ausgestaltung und Erhebung öffentlicher Beschwerden zur Förderung der Verwaltungseffizienz, Bekämpfung der Korruption im öffentlichen Sektor, Schutz subjektiver Rechtsgüter durch Einlegung von Rechtsmitteln.
Die Anti-Korruptions- und Bürgerrechtskommission besteht aus insgesamt 15 Mitgliedern, darunter einem Vorsitzenden, drei stellvertretenden Vorsitzenden sowie drei ständigen und acht nicht-ständigen Mitgliedern. Die ACRC ist entsprechend ihrer Zusammensetzung in drei Abteilungen unterteilt: Ombudsmann, Anti-Korruption und Rechtsmittel im Verwaltungsverfahren. Diese werden jeweils von einem stellvertretenden Vorsitzenden geleitet. Sowohl die Mitgliedschaft als auch die Unabhängigkeit der Kommissionsmitglieder ist gesetzlich festgeschrieben. Die Abteilung Ombudsmann nimmt dabei folgende Aufgaben wahr:
Prüfung und Bearbeitung von Beschwerden seitens der Bürger, Förderung der Verwaltungseffizienz, Betreiben einer Online-Plattform zur Bürgerbeteiligung (e-People), Betreiben eines Call-Centers zur Aufnahme der Bürgerbeschwerden.
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III. Zur Bürgerbeteiligung 1. Bedeutung der Bürgerbeteiligung Im juristischen Bereich wird der Begriff der Bürgerbeteiligung eng verstanden, nämlich im Sinne der Einbeziehung der Bürger in staatliche Entscheidungsverfahren. Dieses Verständnis existiert auch in Korea. Mithin stößt die Einbeziehung der Bürger in Planungs- und Zulassungsverfahren in Deutschland auch in der koreanischen Rechtswissenschaft auf großes Interesse. Die Einbeziehung der Bürger in das Verwaltungsverfahren ist im koreanischen Verwaltungsverfahrensgesetz und die Einbeziehung in das Planungsverfahren ist im koreanischen Planungsgesetz festgelegt. Der Schwerpunkt der Regelungen liegt auf der formellen Seite. So ist z. B. eine öffentliche Anhörung als Instrument der formellen Bürgerbeteiligung zwar geregelt, jedoch enthält die Regelung keinerlei Aussagen zur Art und Weise dieser Art der Bürgerbeteiligung. Auf der kommunalen Ebene sind Bürgerentscheide, Bürgerbegehren, die Abwahl von Bürgermeistern und Kommunalabgeordneten, die Einberufung des Gemeinderats auf Anfrage usw. geregelt. Zudem haben sich auch Elemente direkter Demokratie bewährt. 2. Bürgerbeteiligung und Repräsentativsystem Herr Prof. Dr. Ziekow vertritt die Meinung, dass eine weitere Öffnung für Formen der Bürgerbeteiligung nicht als originäre Legitimationsquelle, sondern lediglich zur Stabilisierung des Repräsentativsystems in Form der Korrektur und des Ausgleichs von Defiziten herangezogen werden kann. Manche koreanischen Verfassungsrechtslehrer sind der gleichen Meinung. Hierbei stellt sich die Frage, wie das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG1 ausgelegt werden kann. Art. 20 Abs. 2 S. 1 und S. 2 GG sind miteinander im Zusammenhang stehend auszulegen. Art. 20 Abs. 2 GG orientiert sich stark am Repräsentativsystem, was insb. dem historischen Kontext der Weimarer Republik geschuldet ist. Einen Bezug auf das Demokratieprinzip gibt es auch in Art. 1 Abs. 2 der koreanischen Verfassung (KV). Dieser besagt: „Die Souveränität der Republik Korea gehört zum Volke. Und alle Gewalt geht vom Volke aus.“
___________ 1 Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
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Im Hinblick auf das Demokratieprinzip lautet Art. 1 Abs. 2 KV ein wenig anders. Eine Regelung wie die des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG existiert nicht. Ferner steht in Art. 1 Abs. 2 KV „alle Gewalt“, nicht „alle Staatsgewalt“. Die Koreanische Verfassung orientiert sich daher nicht so stark am Repräsentativsystem wie das Grundgesetz. Nichtsdestotrotz wird dieser Artikel von vielen in der koreanischen Rechtslehre ähnlich wie von der herrschenden Meinung in Deutschland ausgelegt, nämlich orientiert am Prinzip der indirekten Demokratie. Wie kann hierauf reagiert werden? 3. Ideal und Realität der partizipatorischen Demokratie Innerhalb meiner Ausführungen zur partizipatorischen Demokratie möchte ich insbesondere auf die materielle Partizipation eingehen. Mein Lehrer († Herr Prof. Dr. Ryu) war der Auffassung, dass zwischen direkter und indirekter Demokratie eine optimierte, beiden Prinzipien gerecht werdende Lösung gefunden werden sollte, so dass sich beide Prinzipien nicht gegenseitig ausschließen. In der Realität sind Bürger sozial und wirtschaftlich polarisiert. Der politische Einfluss des Bürgers wird immer schwächer. Nach einer Studie besteht ein Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und dem Partizipationsverhalten der Bürger. Angesichts der Globalisierung geht auch die staatliche Macht zurück. Die Macht des Marktes ist in manchen Fällen sogar weitreichender als die des Staates. Wie könnte die Systemkrise angesichts dieser Situation bewältigt werden? Hierzu müssen wir uns überlegen, wie wir uns angesichts dieser Situation verhalten sollten. Ist der Staat in der Lage, die Macht des Marktes zu regulieren? Täte er dies, würde es sich um einen demokratisch legitimierten Einfluss auf den Markt handeln. Zusätzlich möchte ich noch kurz auf § 25 Abs. 3 VwVfG eingehen. Hierbei handelt es sich um einen sehr guten Ansatz zur Einführung eines systemstabilisierenden Elementes in der parlamentarischen Demokratie. Auch in Korea könnte ein solcher Ansatz viel bewirken. Bezogen auf das Beispiel Stuttgart 21 stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die Existenz eines § 25 Abs. 3 VwVfG geeignet ist, der Problematik dieses Projektes zu begegnen. Hierzu möchte ich nur sehr zurückhaltend kommentieren. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit hier eine Verbesserung zu erwarten ist und ob hierdurch ein Beitrag zur Bewältigung der Systemkrise geleistet werden kann.
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IV. Ergebnis Zusammenfassend möchte ich folgendes sagen: Der Ombudsmann sollte als Instrument für Menschenrechtsschutz, Verwaltungskontrolle und Systemkontrolle verstanden werden. Es würde nicht ausreichen, wenn sich der Ombudsmann mehr in Richtung subjektiver Rechtsschutz orientiert als in Richtung Systemkontrolle, wie es bereits die Nationale Menschenrechts-Kommission Koreas bis zu dem Jahr 2008 praktizierte. Außerdem bin ich nicht ganz der Meinung, dass eine Öffnung für Formen der Bürgerbeteiligung nicht als originäre Legitimationsquelle, sondern lediglich zur Stabilisierung des Repräsentativsystems in Form der Korrektur und des Ausgleichs von Defiziten herangezogen werden kann. Dies ergibt sich aus der strukturellen Differenz zwischen der Koreanischen Verfassung und dem deutschen Grundgesetz. Wie Herr Ziekow ausführte, forderte Willy Brandt dazu auf, mehr Demokratie zu wagen. Bezog er sich dabei auf einen an indirekter Demokratie orientierten Begriff oder vielmehr auf einen an direkter Demokratie orientierten Begriff oder vielleicht sogar eine soziale oder wirtschaftliche Demokratisierung?
Literatur Bang, Seung-Ju, Partizipation und demokratische Legitimation, Public Law, Korean Public Law Association, Vol. 32, No. 2, Dez. 2003, S. 1-41. Bödeker, Sebastian, Soziale Ungleichheit und politische Partizipation in Deutschland, Otto Brenner Stiftung Arbeitspapier Nr. 1, 1. Feb. 2012. Choi, Woo-Yong, Ombudsman and Ombudsman of Korea, Law and Politics, Vol. 5, No. 2, S. 1073-1100. Guckelberger, Annette, Unabhängige Ombudsleute in: 6. Koreanisch-Deutsches Symposium zum Verwaltungsrechtsvergleich vom 17. bis 19. Oktober 2013 in Speyer, „Systemkrisen und Systemvertrauen“, in diesem Band. Kim, Kwang-Soo, A Balance Sheet of Participatory Democracy in Korea in the Perspective of administrative Law, Public Law, Korean Public Law Association, Vol. 35, No. 1, Oct. 2006, S. 257-297. Lee, Ki-Wu, The Experiments of the Participatory Democracy and their Merits and Demerits in the view of Public Law, Public Law, Korean Public Law Association, Vol. 35, No. 1, Oct. 2006, S. 215-255. Ryu, Jee-Tae, Selbstverwaltung und direkte Demokratie, Die Legislative, Jun. 2006, Yi, Kye-Soo, Menschenrechte, Freiheitliche Demokratie und Ombudsmann, Verfassungslehre, Vol.14, No. 2, Jun. 2008, S. 45-66.
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Byoung-Hyo Moon
–, Partizipative De und Governance unter der neoliberalen Herrschaft: Eine kritisch verfassungsrechtliche Zwischenbilanz, Public Law, Korean Public Law Association, Vol. 35, No. 1, Oct. 2006, S. 185-214. Ziekow, Jan, Bürgerbeteiligung als systemstabilisierendes Element der parlamentarischen Demokratie, in: 6. Koreanisch-Deutsches Symposium zum Verwaltungsrechtsvergleich vom 17. bis 19. Oktober 2013 in Speyer, „Systemkrisen und Systemvertrauen“, in diesem Band. Internetquellen http://www.acrc.go.kr http://www.humanrights.go.kr http://www.moleg.go.kr/knowledge/monthlyPublication;jsessionid=0eAMbPSaavntAK v8O5FWxk3HpDs1Ma1L7WMIWnELyEuz88GNrRWSz3ccT6OABVF?mpbLegPs tSeQ=131014
Verzeichnis der Autoren Dr. Josef Ruthig, Univ.-Prof., Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Dr. Sung Soo Kim, Univ.-Prof., Yonsei University, Seoul Dr. Okju Shin, Univ.-Prof., Chonbuk National University, Jeonju Dr. Wolf-Rüdiger Schenke, Univ.-Prof., Universität Mannheim Dr. Seung-pil Choi, Univ.-Prof., Hankook University of Foreign Studies, Seoul Dr. Peter Baumeister, Univ.-Prof., SRH Hochschule Heidelberg Dr. Hyun-Ho Kang, Univ.-Prof., Sungkyunkwan University, Seoul Dr. Hans-Werner Laubinger, Univ.-Prof., Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Dr. Hyun Im, Univ.-Prof., Korea University, Seoul Dr. Hee-Gon Kim, Univ.-Prof., Woosuk University, Wanju-gum Dr. Annette Guckelberger, Univ.-Prof., Universität des Saarlandes, Saarbrücken Dr. Jan Ziekow, Univ.-Prof., Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung, Speyer Dr. Byoung-Hyo Moon, Univ.-Prof., Gangwon National University, Chuncheon-si