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German Pages 261 Year 2015
Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer
Band 227
Wandlungen im Verhältnis zwischen Bürger und Staat Vorträge auf dem 1. deutsch-taiwanesischen vergleichenden Symposium zum öffentlichen Recht vom 31. Oktober bis 1. November 2013 in Speyer
Herausgegeben von
Jan Ziekow und Chien-Liang Lee
Duncker & Humblot · Berlin
JAN ZIEKOW/CHIEN-LIANG LEE (Hrsg.)
Wandlungen im Verhältnis zwischen Bürger und Staat
Schriftenreihe der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Band 227
Wandlungen im Verhältnis zwischen Bürger und Staat Vorträge auf dem 1. deutsch-taiwanesischen vergleichenden Symposium zum öffentlichen Recht vom 31. Oktober bis 1. November 2013 in Speyer
Herausgegeben von Jan Ziekow und Chien-Liang Lee
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Meta Systems GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2197-2842 ISBN 978-3-428-14612-3 (Print) ISBN 978-3-428-54612-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84612-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse des ersten Deutschtaiwanesischen vergleichenden Symposiums zum öffentlichen Recht, das unter dem Thema „Wandlungen im Verhältnis zwischen Bürger und Staat“ vom 31. Oktober bis 1. November 2013 in Speyer stattfand. Die Idee eines derartigen Symposiums geht auf Vorüberlegungen zwischen Hartmut Bauer und Chien-Liang Lee anlässlich eines von Hartmut Bauer im Jahre 2011 am Institutum Iurisprudentiae, Akademia Sinica in Taipei gehaltenen Vortrags zurück. Weitergeführt wurden diese Überlegungen im Jahre 2012 im Kontext eines von Jan Ziekow am Institutum Iurisprudentiae gehaltenen Vortrags. Jan Ziekow, Chien-Liang Lee, Tzung-Jen Tsai und Shwu-Fann Liou haben daraus ein konkretes Konzept von regelmäßigen gemeinsamen Symposien unter abwechselnder Veranstaltungsverantwortung entwickelt. Dank der anschließenden Korrespondenz zwischen Jan Ziekow und Chen-Jung Chan ist die beschriebene Idee schließlich Wirklichkeit geworden. In dem für den Auftakt der Symposienreihe ausgewählten Thema „Wandlungen im Verhältnis zwischen Bürger und Staat“ spiegeln sich Entwicklungsstand und -perspektiven des Verwaltungsrechts sowohl in Deutschland als auch in Taiwan wider. Vorgetragen und diskutiert wurden dabei die neuen Tendenzen des öffentlichen Rechts in vielen Bereichen, etwa Stadterneuerung, Produktsicherheitsrecht, Sozialrecht, Bürgerbeteiligung. Die Thematik reichte von Wechselwirkungen zwischen Demokratie und Verwaltungsrecht über das Bild der Verpflichtungen des Bürgers bis hin zum Paradigmenwechsel im Verwaltungsrecht. Aus den Vorträgen und den Diskussionen wurden wertvolle Erkenntnisse und Inspirationen für die Forschung in beiden Ländern gewonnen. Die Herausgeber verbinden dieses Vorwort mit der Hoffnung, dass die weiteren Symposien dieser Reihe einen ebenso glücklichen Verlauf nehmen mögen wie die Auftaktveranstaltung. Taipei und Speyer, im September 2014 Chien-Liang Lee Jan Ziekow
Inhaltsverzeichnis Das Verwaltungsverfahren als Ordnungsidee im kooperativen Staat? – Dargestellt am Beispiel der Stadterneuerung; zugleich eine kritische Analyse der Verfassungsauslegung Nr. 709 in Taiwan Von Chien-Liang Lee, Taipei .............................................................................
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Verwaltungsverfahren als Ordnungsidee: Kooperative Elemente im Verwaltungsverfahren Von Thorsten Siegel, Berlin ...............................................................................
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Normung, Zertifizierung und Akkreditierung im unionsrechtlich geprägten Produktsicherheitsrecht: Ein Paradigmenwechsel im gewährleistungsstaatlichen Überwachungsregime Von Shwu-Fann Liou, Taipei .............................................................................
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Akkreditierung und Zertifizierung als Instrumente gewährleistungsstaatlicher Überwachung der Wirtschaft am Beispiel des Produktsicherheitsrechts Von Matthias Knauff, Jena ................................................................................. 103 Vom verpflichteten Staat zum verpflichtenden Staat – Zur Wandlung des verwaltungsrechtlichen Staat-Bürger-Verhältnisses Von Tzung-Jen Tsai, Taipei ................................................................................ 121 Kooperationsverwaltungsrecht und die Verwirklichung von genossenschaftlichen Ideen innerhalb der Verwaltung und zwischen Verwaltung und Bürger Von Winfried Kluth, Halle .................................................................................. 135 Innere Sicherheit im Wandel: Rechtsstaat – Präventionsstaat – Sicherheitsstaat Von Markus Ogorek, Wiesbaden ........................................................................ 153
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Inhaltsverzeichnis
Bürgerbeteiligung bei Großprojekten: Auf dem Weg zur direkten Demokratie in Taiwan? Von Chen-Jung Chan, Taipei ............................................................................. 169 Die Gesundheitsreform 2011 in Taiwan und die institutionelle Bürgerbeteiligung Von Nai-Yi Sun, Taipei .................................................................................... .. 189 Petitionsrechtliche Innovationen zur Stärkung bürgerschaftlicher Partizipation: Öffentliche Petition – Europäische Bürgerinitiative – Ombudsman-Institutionen Von Hartmut Bauer, Potsdam ............................................................................ 209 Entscheidung der Bürger über Großprojekte durch Bürger-/Volksentscheid – Regelfall oder ultima ratio? Von Jan Ziekow, Speyer ..................................................................................... 237 Verzeichnis der Autoren ........................................................................................... 259
Das Verwaltungsverfahren als Ordnungsidee im kooperativen * Staat?* – Dargestellt am Beispiel der Stadterneuerung; zugleich eine kritische Analyse der Verfassungsauslegung Nr. 709 in Taiwan Von Chien-Liang Lee
I. Einleitung: „Public Private Partnerships“ und Verwaltungsverfahrensrecht als Ordnungsidee Das allgemeine Verwaltungsrecht ist eine Ordnungsidee, die dazu beitragen soll, sich der größeren Zusammenhänge der in den einzelnen Rechtsinstituten getroffenen Zuordnungen zu vergewissern1. Zu der sog. Ordnungsidee gehört sicherlich auch das Verwaltungsverfahrensrecht, das sich als Systembildung erweisen und der Probe unter dem Maßstab der Verallgemeinerungsfähigkeit standhalten soll. Seit jeher stößt das Recht als Medium zur Steuerung auf Basis hierarchischer Mechanismen in komplexen Gesellschaften immer wieder an ihre Grenzen. Das Steuerungsmodell wird daher zunehmend durch kooperative, verhandlungsbasierte Formen ersetzt. Dazu kommt, dass der Staat angesichts des Druckes von Haushalt und Deregulierung seiner öffentlichen Aufgabe faktisch kaum noch nachkommt, und oftmals versucht, mit der Idee des „Neuen Steuerungsmodells“ bürokratisch-hierarchische Strukturen abzubauen und seine Verwaltungen mit Bausteinen der „Public Private Partnerships“ zu modernisieren. Vor diesem Hintergrund sind unter dem Konzept des „kooperativen Staates“ längst Reformmodelle entwickelt worden, die darauf ausgerichtet sind, den Bereich des Privaten ___________ * Für die sprachlichen Korrekturen und die inhaltlichen Kommentare gilt der Dank des Autors Herrn Prof. Dr. Thomas Schmitz (DAAD Lecturer in Law, German Law Centre, Hanoi Law University). 1 Die Ansätze werden zuerst von Eberhard Schmidt-Aßmann in der 1982 erschienenen Schrift Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System entwickelt und dann in dem 2006 erschienenen Buch Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee weitergeführt. Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2006, S. 1.
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bei Erfüllung des öffentlichen Auftrags zu erweitern2. Der moderne Staat erfüllt also seine Aufgaben nicht mehr ausschließlich in einseitig-hoheitlicher Tätigkeit und in hierarchischen Steuerungsstrukturen. Weitgehende Ausgliederung und Privatisierung öffentlicher Aufgaben könnten aber dazu führen, dass ein Verlust der staatlichen Einflussnahme auf die Leistungsqualität stattfindet und zukünftige Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung eingeschränkt werden. Um den strukturellen Defiziten des „kooperativen Staates“ zu begegnen, ist es notwendig, die Bedingungen für die Gewährleistung öffentlicher Aufgaben rechtlich festzuschreiben. Dazu wird oft ein gesetzlich festgelegtes Verwaltungsverfahren mit einer verstärkten Bürgerbeteiligung als unerlässlich angesehen, um klare und transparente Verwaltungsvorgänge zu gewährleisten und die staatliche Steuerung und Kontrolle zu verbessern. Dem Verwaltungsverfahrensrecht kommt insbesondere dort eine gesteigerte Bedeutung zu, wo eine Vielzahl von Interessen berührt wird, private Lebensverhältnisse in erheblichem Umfang betroffen sind, so z.B. bei größeren umweltrelevanten oder flächendeckenden Projekten. Die dazu ausgestalteten Verfahren sollen dazu beitragen, Konflikte zu minimieren und möglichst Akzeptanz der Verwaltung zu erlangen. Durch Verwaltungsverfahren wird daher der allgemeine Rahmen für das Staat-Bürger-Verhältnis einigermaßen abgesteckt. Wie aber Verwaltungsverfahren im Verhältnis von Staat und Bürger durchgeführt werden, hängt nicht nur von den Verfahrensstrukturen, sondern sehr von dem materiell-rechtlichen Verhältnis ab, in dem die Verfahrensbeteiligten zueinander stehen. Dies gilt vor allem für Zuordnungsprobleme im staatlich-gesellschaftlichen Kooperationsbereich. Denn die Verwaltungsvorgänge erhalten rechtsstaatliche Konturen erst dadurch, dass sie in die Systematik eingeordnet werden, abgesehen von den Besonderheiten der einzelnen Bereiche des Fachverwaltungsrechts, wie z.B. des Baurechts, des Umweltrechts oder des Kommunalrechts. Erst wenn die Verfahrensprinzipien auf einer nachvollziehbaren verwaltungsrechtlichen Dogmatik beruhen, kann das Verwaltungsverfahren als Ordnungsidee eine Rolle beim Abstecken des Staat-Bürger-Verhältnis spielen. Also: Ohne systematische verwaltungsrechtliche Dogmatik ist kein funktionierendes Verwaltungsverfahren denkbar. Die nachfolgenden Überlegungen im vorliegenden Beitrag gehen von diesem Gesichtspunkt aus, wobei versucht wird, am Beispiel der Stadterneuerung, die sowohl verwaltungspraktisch als auch rechtswissenschaftlich von zunehmender ___________ 2 Der seit über zwanzig Jahren anhaltende Privatisierungstrend rechtfertigt es, von einem „Zeitalter der Privatisierung“ zu sprechen. Vgl. dazu ausführlich Hartmut Bauer, Neue Tendenzen des Verwaltungsrechts im Zeitalter der Privatisierung, in: Chien-Liang Lee (Hrsg.), 2011 Administrative Regulation and Judicial Remedies, 2012, S. 29 (33).
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Bedeutung ist, anhand einer neuesten Verfassungsrechtsprechung3 praxisrelevante Probleme und aktuelle Entwicklungen des allgemeinen Verwaltungsrechts in Taiwan aufzuzeigen und einige referenzwerte Gedanken zu liefern.
II. Skizze des Stadterneuerungsgesetzes und des dazu entbrannten verfassungsrechtlichen Streits 1. Verfahren der Stadterneuerung in Taiwan Unter „Stadterneuerung“ werden im Stadterneuerungsgesetz (im Folgenden: SEG4) die gesetzlich vorgesehenen Verfahren und Maßnahmen verstanden, die die Ziele der Erhaltung, Verbesserung, Umgestaltung und Weiterentwicklung bestehender Teile und Strukturen einer Stadt verfolgen (§ 3 Nr. 1 SEG). Danach ist Stadterneuerung ein Oberbegriff für den gesamten Bereich der geplanten städtebaulichen Veränderung im Bereich des bebauten Ortszusammenhangs. Dabei wird zwischen der in fest umgrenzten Flächen erfolgenden Stadterneuerung (§ 4 Nr. 1 SEG) und der objektbezogenen Modernisierung (§ 4 Nr. 2 SEG) sowie Instandsetzung von Gebäuden (§ 4 Nr. 3 SEG) unterschieden. Die Besonderheit des SEG besteht darin, dass es durch seine interne Struktur immer mit zwei Konstellationen zu hat. Die Durchführung der Stadterneuerung teilt sich in zwei Kategorien: durch die Verwaltung oder durch den Bürger. Die Zahl der letzten Fälle steigt in der Praxis immer weiter an, während die von der Verwaltung selbst durchgeführte Stadterneuerung eher die Ausnahme darstellt, weil die Gemeinde oder Städte sich oft mit beschränkten Ressourcen für Stadtsanierung auseinandersetzen müssen. Das Verfahren der vom Bürger durchgeführten Stadterneuerung besteht aus zwei Phasen, nämlich: 1. Zustimmungsverfahren und 2. Genehmigungsverfahren. Die jeweiligen Entscheidungen müssen in einem gestuften Verfahren getroffen werden. Beim Zustimmungsverfahren müssen die Grundeigentümer in dem geplanten Erneuerungsgebiet entsprechend der festgelegten Erneuerungseinheit zuerst einen Überblick (Grundzüge) des Erneuerungsprojekts entwerfen und dann nach einer öffentlichen Anhörung mit dem einzureichenden Anhörungsprotokoll die ___________ 3 In Taiwan wird die „Verfassungsrechtsprechung“ von den Hohen Richtern (Grand Justices) des Justizyuans (Gerichtshof) wahrgenommen, die als Verfassungsorgan wie das Bundesverfassungsgericht in Deutschland funktionieren. Die Entscheidungen der Hohen Richter werden jedoch nicht als „Urteile“ oder „Beschlüsse“, sondern als „Auslegung“ verkündet. 4 Das SEG wurde am 11. November 1998 verkündet. Inzwischen wurde es neunmal geändert, zuletzt am 12. Mai 2010.
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Zustimmung der zuständigen Behörde beantragen (§ 10 Abs. 1 SEG). Der oben genannte Überblick des Erneuerungsprojekts muss von über 10% der Eigentümer der jeweiligen Grundstücke und Gebäude in der festgelegten Erneuerungseinheit und zugleich von über 10% der Eigentümer der gesamten Flächen von Grundstücken und Gebäuden bewilligt werden (§ 10 Abs. 2 SEG). Erst nachdem dem Überblick des Erneuerungsprojekts von der zuständigen Behörde zugestimmt wird, kommt dann das Genehmigungsverfahren in Betracht. Dabei muss ein Erneuerungsprojekt nebst einem Rechteverteilungsplan von einem privaten Projektdurchführenden5 entworfen und bei der zuständigen Behörde zur Genehmigung vorgelegt werden (§ 19 Abs. 1 SEG). Beim Entwurf des Erneuerungsprojekts muss eine öffentliche Anhörung durchgeführt werden (§ 19 Abs. 2 SEG). Vor der Entscheidung über die Genehmigung, die von den von der zuständigen Behörde benannten Wissenschaftlern, den Spezialisten, den ständig mit der öffentlichen Sache beschäftigten Personen und den Vertretern der betroffenen Behörden zusammen in einem öffentlichen Verfahren der kollegialen Beratung zu treffen ist, muss das vorgelegte Erneuerungsprojekt der Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht und einer öffentlichen Anhörung unterzogen werden (§ 19 Abs. 3 SEG). Das oben genannte Erneuerungsprojekt muss, bevor es bei der zuständigen Behörde eingereicht wird, im Regelfall6 von über 60% der Eigentümer der jeweiligen Grundstücke und Gebäude in der festgelegten Erneuerungseinheit und zugleich von über zwei Dritteln der Eigentümer der gesamten Flächen von Grundstücken und Gebäuden bewilligt werden (§ 22 Abs. 1 SEG). 2. Verfassungsrechtlicher Streit um die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des SEG Der verfassungsrechtliche Streit um die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des SEG ergab sich aus zwei Gruppen7 von Rechtssatzverfassungsbeschwerden, die die Hohen Richter zusammen behandelt und entschieden haben. Die Beschwerdeführer wenden sich mit der Verfassungsbeschwerde nach Erschöpfung des Rechtswegs wesentlich gegen § 36 Abs. 1 SEG in der Fassung vom 12. Mai 2010, weil er den privaten Projektdurchführenden und ggf. dem Staat erlaube, ___________ 5 In der Praxis werden normalerweise die Projektplanung und Projektdurchführung von einem privaten „Bauunternehmen“ vorgenommen. 6 Der Regelfall ist von den Ausnahmefällen zu unterscheiden, in denen die Stadterneuerungen aus Gründen der Schäden von Erdbeben, Brand, Hochwasser oder Gewitter stattfinden (vgl. § 7 SEG). 7 Die zweite Gruppe enthält drei einzelne Fälle.
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Zwangsvollstreckung mit Ersatzvornahme gegen diejenigen Eigentümer auszuüben, die mit dem von privaten Durchführenden aufgestellten Erneuerungsprojekt nicht einverstanden sind. Das SEG mit den angegriffenen Vorschriften verstoße daher gegen die Grundrechte der Beschwerdeführer auf Wohnungsfreiheit und Eigentum in Art. 13 und Art. 15 der taiwanesischen Verfassung (im Folgenden abgekürzt: TwV). Darüber hinaus seien die folgenden Vorschriften8 wegen Verstoßes gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens (due process) und der Verhältnismäßigkeit verfassungswidrig: § 10 Abs. 1 SEG in der Fassung vom 11. November 1998 über die Vorschriften des Zustimmungsverfahrens, § 10 Abs. 2 SEG in der Fassung vom 29. Januar 2003 über die Vorschriften der Abschlussquote, § 19 Abs. 3 SEG in der Fassung vom 29. Januar 2003 über die Vorschriften des Genehmigungsverfahrens.
III. Leitsätze und Grundthesen der Auslegung Nr. 709 Am 26.4.2013 verkündeten die Hohen Richter die Auslegung Nr. 709, worin einige der betroffenen Gesetzesbestimmungen für verfassungswidrig erklärt wurden. Was den Umfang der Gegenstände betrifft, wurden jedoch lediglich die Vorschriften über die Zustimmungs- und Genehmigungsverfahren auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft, während die Rüge gegen § 36 Abs. 1 SEG über die Vorschriften der Vollstreckung als unzulässig zurückgewiesen wurde. Die Leitsätze und Grundthesen der Auslegung Nr. 709 werden im Folgenden dargestellt: 1. Funktion der Stadterneuerung und Verantwortung der öffentlichen Gewalt Die Stadterneuerung ist ein Teil der Stadtplanung, die sich mit der Entwicklung einer Stadt beschäftigt, mit den Zielen, die geplante Nutzung der städtischen Grundstücke zu fördern, die städtischen Funktionen wiederzubeleben, die Lebensumwelt in Städten qualitativ zu verbessern und die öffentlichen Interessen zu erhöhen9.
___________ 8 Im Antrag wurde auch geltend gemacht, dass § 22 Abs. 1 SEG in der Fassung vom 29. Januar 2003 und vom 16. Januar 2008 über die Vorschriften der Bewilligungsquote, § 22 Abs. 1 SEG in der Fassung vom 29. Januar 2003 über die Vorschriften der Bewilligungsquote und § 22 Abs. 1 SEG in der Fassung vom 16. Januar 2008 über die Vorschriften des Widerrufs der Bewilligung, verfassungswidrig wären. Dies kann allerdings wegen des begrenzten Rahmens nicht in diesem Beitrag behandelt werden. 9 Siehe den gleichen Wortlaut in § 1 SEG.
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Dies ist der Gesetzeszweck des SEG, das nicht nur den Sinn hat, zu einer sicheren, friedlichen und würdigen angemessenen Lebensumwelt beizutragen10, sondern auch eine gesetzliche Grundlage für Einschränkungen des Eigentums (Art. 15 TwV) und der Wohnungsfreiheit (Art. 13 TwV)11 bildet. Der Natur nach gehört die Stadterneuerung zu den öffentlichen Aufgaben des Staates oder der Kommune. Wenn allerdings aus praktischen Bedürfnissen und aufgrund der Eingliederungspolitik der privaten Kräfte durch das Gesetz vorgesehen ist, dass der Bürger unter bestimmten Voraussetzungen die Durchführung der Stadterneuerung beantragen kann, so muss der Staat oder die Kommune in Ausübung öffentlicher Gewalt die erforderliche Aufsicht darüber führen, und zwar den Antrag auf Durchführung der Stadterneuerung prüfen und darüber entscheiden. 2. Rechtsnatur der behördlichen Entscheidungen bei der Stadterneuerung Die Zustimmung zum Überblick des Erneuerungsprojekts und die Genehmigung des Erneuerungsprojekts sind den Einzelfall regelnde und bestimmte Personen betreffende Verwaltungsakte, weil sie dem Überblick und dem Erneuerungsprojekt rechtliche Bindungswirkung verleihen12. Die oben geschilderte Zustimmung und die Genehmigung stellen eine Beschränkung des Eigentums und der Wohnungsfreiheit dar, weil sie sich nachteilig auf die Rechte der Einwohner in der Erneuerungseinheit auswirken und Gebäude-Layout, Kostentragung für Aufwand, Abriss der Gebäude, Entfernung und Unterbringung der Einwohner sowie Finanzpläne usw. mit regelnder Wirkung betreffen, nicht zuletzt bei der nachträglichen Durchführung des Erneuerungsprojekts nicht nur die Rechte der Einwohner innerhalb der Erneuerungseinheit, sondern auch außerhalb der Erneuerungseinheit mehr oder weniger beeinträchtigen, ggf. sogar Rechte entziehen, und sie dann zwangsweise von ihrem Wohnsitz entfernen. ___________ 10
Darauf wird in Art. 11 Abs. 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, ICESCR, kurz UN-Sozialpakt) hingewiesen. 11 Unter „Wohnungsfreiheit“ verstehen die Hohen Richter „freie Wahl des Aufenthaltsorts“ und „Freiheit des privaten Lebens von Eingriffen“. In der deutschen Grundrechtsdogmatik und im juristischen Sprachgebrauch bedeutet die Wohnungsfreiheit lediglich die Freiheit der privaten Wohnung von Eingriffen (die Wohnung ist unverletzlich, vgl. Art. 13 GG), während die freie Wahl des Aufenthaltsorts zum Grundrecht der Freizügigkeit (vgl. Art. 11 GG) gehört. 12 Vgl. § 92 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz.
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3. Verfassungsrechtliche Vorgaben des Grundsatzes des fairen Verfahrens Der Inhalt des verfassungsrechtlichen Grundsatzes des fairen Verfahrens hängt von der Art der betroffenen Grundrechte, dem Maß und Umfang ihrer Beschränkung, den zu verfolgenden öffentlichen Interessen, der Funktion der zuständigen Organe, der Verfahrensalternative und den Kosten der Verfahren ab. Dabei genießt der Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum13. Um den Anforderungen der öffentlichen Interessen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Wahrnehmung der Entscheidungsaufgaben gerecht zu werden und die aktive Beteiligung des Bürgers zu fördern, Konsens zu bilden und die Akzeptanz der Verwaltungsentscheidung zu erhöhen, ist im Gesetz (also SEG) vorzusehen, dass die zuständige Behörde eine faire, fachliche und pluralistische Organisation bilden muss, darüber hinaus ein faires Verwaltungsverfahren durchgeführt werden muss, z.B. den Betroffenen Zugang zu den einschlägigen Informationen zu gewähren und Gelegenheit zu geben ist, sich rechtzeitig mündlich oder schriftlich zu den für die Entscheidung erheblichen Sachen zu äußern. Da die Genehmigung des Erneuerungsprojekts das Eigentum und die Wohnungsfreiheit besonders unmittelbar und schwer beschränkt, muss im Gesetz geregelt werden, dass die zuständige Behörde vor der Entscheidung eine Öffentliche Anhörungssitzung (ein Hearing)14 durchführen muss, wobei die Betroffenen in einer förmlichen mündlichen Verhandlung unter Beteiligung der Öffentlichkeit ihre Meinung vortragen und erörtern können, und die Behörde dann nach Abwägung der gesamten Umstände, wie sie sich aus dem Verhandlungsprotokoll ergeben, eine zu begründende Entscheidung trifft. In der Begründung der Entscheidung ist mitzuteilen, wie die in der Verhandlung vorgetragenen Meinungen und Argumente die Behörde bewogen haben. 4. Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Bestimmungen des SEG § 10 Abs. 1 SEG in der Fassung vom 11. November 1998 über die Vorschriften des Zustimmungsverfahrens ist deswegen mit dem Grundsatz des fairen Verwaltungsverfahrens unvereinbar und verfassungswidrig, weil im Gesetz nicht
___________ 13
Vgl. auch die Auslegung Nr. 689 (29.7.2011). Das Verfahren der Öffentlichen Anhörungssitzung (Hearing) ist in §§ 54–66 des Verwaltungsverfahrensgesetzes geregelt, die nach dem Modell der Gerichtsverhandlung konzipiert sind. Ob und wann eine Öffentliche Anhörungssitzung durchgeführt wird, entscheidet die Behörde nach Ermessen, wenn das Gesetz es nicht ausdrücklich regelt. 14
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vorgesehen ist, dass die zuständige Behörde eine faire, fachliche und pluralistische Organisation bilden muss, und auch weil das Gesetz den Betroffenen keine Möglichkeit des Zugangs zu den einschlägigen Informationen gewährleistet hat. Mit der Begründung, dass die gesetzlichen Voraussetzungen der Antragstellung vom Bürger auch zu einem Teil des Verwaltungsverfahrens gehört, ist § 10 Abs. 2 SEG in der Fassung vom 29. Januar 2003 über die Bewilligungsquote deswegen mit dem Grundsatz des fairen Verwaltungsverfahrens unvereinbar und verfassungswidrig, weil die dort geregelte Quote der Bewilligung zu niedrig ist, so dass ein von der Minderheit der Einwohner gestellter Antrag, der dem Bedenken unzureichender Repräsentation ausgesetzt wäre, das Verwaltungsverfahren auf Antrag dieser Minderheit der Einwohner einleiten würde und daraufhin die Mehrheit der Einwohner zu dem Verfahren gezwungen würde. Dies steht nicht im Einklang mit dem Geist der Demokratie im Hinblick auf den Respekt der Mehrheit und ihrer Mitwirkung und wird den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten des Staates nicht gerecht, das Eigentum und die Wohnungsfreiheit der Bürger zu bewahren. § 19 Abs. 3 SEG in der Fassung vom 29. Januar 2003 über die Vorschriften des Genehmigungsverfahrens ist deswegen mit dem Grundsatz des fairen Verwaltungsverfahrens unvereinbar und verfassungswidrig, weil im Gesetz nicht vorgesehen ist, dass alle einschlägigen Dokumente und Informationen an alle Eigentümer der Grundstücke und der legalen Gebäude in der Erneuerungseinheit gesondert zugestellt werden müssen, und die zuständige Behörde vor der Entscheidung eine Öffentliche Anhörungssitzung (ein Hearing) im oben geschilderten Sinne durchführen muss, und dann die mit einer Begründung versehene Entscheidung zusammen mit dem genehmigten Erneuerungsprojekt gesondert an die Eigentümer der Grundstücke und der legalen Gebäude in der Erneuerungseinheit sowie die Registerbehörde zugestellt werden müssen.
IV. Einzelne kritische Analysen der Auslegung Nr. 709 1.
Gesetzgeberische Gestaltungsspielräume oder Schutzpflichten in Bezug auf das faire Verwaltungsverfahren?
Wenn man die Auslegung Nr. 709 betrachtet, besteht kein Zweifel daran, dass die Hohen Richter die angegriffenen Bestimmungen nur am Maßstab des sog. Grundsatzes des fairen Verfahrens auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft und sie für verfassungswidrig erklärt haben. Offenbar ist beim Umgang mit einem solchen komplizierten Fall ein einfacher Weg eingeschlagen worden.
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Im Grunde genommen wurden die in der Auslegung Nr. 709 dargestellten Inhalte des fairen Verwaltungsverfahrens15 einigermaßen gemäß Vorbild und Struktur des Gerichtsverfahrens konzipiert16. Erklärungsbedürftig ist jedoch, inwieweit und mit welcher verfassungsrechtlichen Bedeutung dies die Pflicht des Gesetzgebers, die entsprechenden Verfahrensregelungen zu erlassen, bedeuten kann. Noch ungeklärt ist insbesondere der dogmatische Gehalt des Grundsatzes des fairen Verwaltungsverfahrens im Verfassungsgefüge. Liegt ein Untermaßverbot für den Gesetzgeber vor? Können damit justiziable Verpflichtungen des Gesetzgebers eingefordert werden? Oder stehen dem Gesetzgeber vielmehr Gestaltungsspielräume zu? Gemäß § 2 des taiwanesischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (im Folgenden: TVwVfG) umfasst das Verwaltungsverfahren im Sinne dieses Gesetzes die Verfahren für den Erlass des Verwaltungsaktes, den Abschluss des öffentlichrechtlichen Vertrags, die Setzung einer Rechtsverordnung und der Verwaltungsvorschriften, die Festsetzung der Planung, die Ausführung der Verwaltungslenkung und den Umgang mit der Petition. So mussten dem sog. fairen „Verwaltungsverfahren“ je nach den verschiedenen Konstellationen entsprechende Verfahrensanforderungen zugeordnet werden. In Bezug auf die vom Bürger initiierte Stadterneuerung handelt es sich um das faire Verwaltungsverfahren für den Erlass des Verwaltungsaktes. Das Kernstück des fairen Verwaltungsverfahrens, das von den Hohen Richtern betont und gefordert wird, ist offenbar die sog. öffentliche Anhörungssitzung (oder öffentliche mündliche Verhandlung). Laut den Vorschriften des TVwVfG ist die öffentliche Anhörungssitzung ein förmliches Verwaltungsverfahren, das die Funktion eines „Quasi-Gerichtsverfahrens“ erfüllen soll17 und eine Verstärkung der Verfahrensgarantie darstellt, woran wohl kein Zweifel besteht. In §§ 54, 107 TVwVfG ist zugleich vorgesehen, dass eine öffentliche Anhörungssitzung stattfindet, wenn ein Gesetz es ausdrücklich bestimmt oder die zuständige Behörde nach Ermessen darüber entscheidet. In diesem Zusammenhang ist die Anforderung der Auslegung Nr. 709 nicht nur nicht mit §§ 54, 107 TVwVG abgestimmt, sondern auch rechtspolitisch sowie verfassungsrechtlich bedenklich. Fraglich ist also, unter welchen Maßstäben der Gesetzgeber die Behörde verpflichten muss, eine öffentliche Anhörungssitzung durchzuführen. Aus der Be___________ 15 Der Gedanke und die Handhabung des fairen Verfahrens sind bereits mehrmals in den Auslegungen der Hohen Richter, z.B. in Nr. 384, 396, 491, 689, angesprochen. 16 Das von der Auslegung Nr. 709 festgelegte Verfahren ähnelt dem Planfeststellungsverfahren gemäß §§ 72 ff. VwVfG in Deutschland. 17 In Deutschland orientiert sich § 68 VwVfG für die mündliche Verhandlung im förmlichen Verwaltungsverfahren zwar auch an den Regelungen für gerichtliche Verfahren, ist aber nicht mit diesen deckungsgleich, soweit die Verhandlung grundsätzlich nicht öffentlich ist. Vgl. Jan Ziekow, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 2. Aufl., 2010, § 68 Rn. 1.
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gründung der Auslegung folgt, dass vor der Entscheidung eine öffentliche Anhörungssitzung durchgeführt werden muss, weil die Genehmigung des Erneuerungsprojekts das Eigentum und die Wohnungsfreiheit des Bürgers besonders unmittelbar und schwer einschränkt. Wenn aber die notwendige Durchführung der Öffentlichen Anhörungssitzung auf die Unmittelbarkeit, die Schwere und Tragweite der Grundrechtsbeeinträchtigung (vor allem Eigentumsbeeinträchtigung) abzielt, fragt es sich, ob eine solche sog. „Schweretheorie“ verallgemeinerungsfähig wäre, und bejahendenfalls inwieweit sie Anwendung finden würde. Soll bei der Enteignung der Grundstücke, die die Grundrechte des Bürgers im Vergleich zur Stadterneuerungsmaßnahme noch unmittelbarer und schwerer einschränkt oder zumindest genauso elementar wie bei der Stadterneuerung ist, gesetzlich zwingend eine Öffentliche Anhörungssitzung eingeführt werden? Oder wäre hier ein ausgewogenes Vorgehen gefordert, das in erster Linie in den Händen des Gesetzgebers liegen soll und u.U. den Fachgerichten übergeben wird, indem sie durch Rechtskontrolle des Ermessens von Fall zu Fall im Wege einer verfassungsrechtlichen Rechtsfortbildung darüber entscheiden? Mit anderen Worten: Ist die Notwendigkeit der Durchführung der öffentliche Anhörungssitzung anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu bewerten, was von vornherein weder ausgeschlossen noch bestimmt sein kann? Soweit also die von der Auslegung Nr. 709 auferlegte Verpflichtung, eine öffentliche Anhörungssitzung durchzuführen, für die Verwaltungsverfahren nicht systematisch gilt, bleibt sie nur eine Aussage für einen Sonderfall, ohne eine der Prüfung standhaltende Verallgemeinerungsfähigkeit zu gewinnen18. 2. „Genehmigung“ als Einschränkung der Grundrechte? Wie zu Beginn des Beitrags ausgeführt, setzt das Verwaltungsverfahren als Ordnungsidee eine Klarstellung der materiell-rechtlichen verwaltungsrechtlichen Verhältnisse voraus, wenn die Sache nicht einfach im Sand verlaufen soll. Ohne Entstehung, Veränderung und Untergang von Rechten klar zu machen, findet das Verfahrensrecht keinen gerechten und entsprechenden Stellenwert bei der Regelung der Verwaltungsrechtsverhältnisse. ___________ 18 Etwas merkwürdig ist auch, dass die Auslegung Nr. 709 die angegriffenen Bestimmungen nicht nur für verfassungswidrig erklärte, sondern auch eine Einjahresfrist setzte, nach der die angegriffenen Bestimmungen außer Kraft treten sollten, wenn der Gesetzgeber das Gesetz nicht innerhalb eines Jahres nach der Verkündung der Auslegung entsprechend den Anforderungen der Auslegung änderte. Da die angegriffenen Bestimmungen deswegen verfassungswidrig sind, weil der Gesetzgeber zu wenig geregelt hat, taucht dann die Frage auf, welche Bestimmungen außer Kraft treten sollen. Würde es bedeuten, dass der Bürger eine Stadterneuerung nicht mehr nach dem SEG durchführen könnte, wenn der Gesetzgeber nichts tut?
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Die gesamte Argumentation der Hohen Richter stützt sich auf eine These, dass das Eigentum und die Wohnungsfreiheit des Bürgers durch die behördliche Zustimmung und Genehmigung eingeschränkt werden. Hier stellt sich sogleich eine interessante Frage, wie eine „Genehmigung“ hinsichtlich ihrer Regelungswirkung als eine Einschränkung des Grundrechts anzusehen ist. Dazu haben die Hohen Richter leider lediglich eine „Bindungswirkung“ erwähnt, ohne deren Inhalt näher zu deuten19. Da die Bindungswirkung, also die Verbindlichkeit aufgrund hoheitlichen Geltungsanspruchs, gemeinsames Merkmal aller Verwaltungsakte ist und auch im Zentrum der Funktionszuschreibungen steht20, zu der materiellen Bestandskraft eines Verwaltungsaktes gehört, kann damit keine weitere Schlussfolgerung im Hinblick auf die Frage nach den Regelungsinhalten des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger gezogen werden. Wenn man den Zusammenhang und den „Intent“ der Auslegung Nr. 709 genauer betrachtet, ergibt sich aus der Begründung, dass die in Frage kommende Einschränkung wesentlich daran liegt, dass mit der späteren Durchsetzung des Erneuerungsprojekts den Einwohnern Rechte entzogen und sie dann zwangsweise von ihrem Wohnsitz entfernt werden. Solche Rechtswirkungen, also Entzug der Rechte und Zwangsvollstreckung, können allerdings nur ein Gestaltungsakt oder ein Verpflichtungsakt beinhalten, d.i. ein Verwaltungsakt mit Gestaltungsfunktion oder Titel- und Vollstreckungsfunktion, was nicht bei jedem Verwaltungsakt zum Zuge kommt. Ob die Genehmigung, die ebenfalls unmittelbar auf Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet ist, zugleich auch eine Rechtswirkung des Entzuges, wie z.B. des Entzuges des Eigentums, herbeiführen kann, ist fraglich. Dass die Genehmigung keinen Vollstreckungstitel schaffen kann, ist wohl eine klare Sache. Die Bedeutung der Genehmigung besteht nur darin, dass das genehmigte Erneuerungsprojekt nebst einem Rechteverteilungsplan durchgeführt werden darf. Wenn es um eine Zwangsvollstreckung geht, bedarf der Stadterneuerer noch zusätzlicher behördlicher oder gerichtlicher Entscheidungen.
___________ 19 Die hier betonte Bindungswirkung bezieht sich auf den Einzelfall und auch bestimmte Personen. Es stellt sich die Frage nach dem Adressatenkreis der Genehmigung. Ob es sich dabei um eine Allgemeinverfügung handelt, die nur nach allgemeinen Merkmalen bestimmt oder bestimmbar oder wesentlich sachbezogen ist, ist bedenkenswert. Dies ist insbesondere für die Fälle zu klären, in denen die Einwohner in der Erneuerungseinheit ihr Eigentum nach der Genehmigung an einen anderen übertragen haben. 20 Vgl. Ferdinand O. Kopp/Ulrich Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 13. Aufl. 2012, § 35 Rn. 9.
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3. Die „faire Organisation“ der Verwaltung als Ordnungsidee? Der Grundsatz der sog. „fairen Organisation“ der Verwaltung, der in der Auslegung Nr. 709 steht, ergibt sich aus dem rechtsstaatlichen Gedanken, eine faire, objektive und unparteiliche Verwaltungsentscheidung sicherzustellen, was als „natural justice“ gilt und auf die alten Sprüche „audi alteram partem“ und „nemo judex in causa sua“ zurückzuführen ist. Dies kann auch den Vorschriften über die ausgeschlossenen Personen und die Besorgnis der Befangenheit in §§ 32 und 33 TVwVfG21 entnommen werden, die vorsehen, dass in einem Verwaltungsverfahren nicht tätig werden darf, wer selbst Beteiligter ist, Angehöriger eines Beteiligten ist, einen Beteiligten in diesem Verwaltungsverfahren vertritt, oder bei wem ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen im Hinblick auf eine unparteiliche Amtsausübung zu rechtfertigen. Etwas anderes ist jedoch, wenn der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen verpflichtet ist, höhere Anforderungen beim Verwaltungsverfahren als die in §§ 32 und 33 TVwVfG zu stellen, vor allem ein Gremium als Entscheidungsorgan einzurichten. Dies lässt sich nicht schon aus der Intensität und der Schwere des Eingriffs in die betroffenen Grundrechte herleiten. Sonst wären die meisten Verwaltungsentscheidungen, die die Grundrechte beschränken würden, durch ein Gremium zu treffen und würden die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers bei Abwägung zwischen der Verfahrenseffizienz und der Arbeitsfähigkeit der Verwaltung sowie dem Rechtsschutz des Bürgers unangemessen verengt. Hier müssen m.E. außergewöhnliche Umstände vorliegen, die besonders die Besorgnis der Befangenheit erwecken und berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit oder Unabhängigkeit der zuständigen Behörde aufkommen lassen. In der Begründung der Auslegung Nr. 709 haben die Hohen Richter schon daraus, dass die Zustimmung der zuständigen Behörde „die Rechte und Interessen der Einwohner in der Erneuerungseinheit beeinträchtigt“, die Schlussfolgerung gezogen, dass das Gesetz verfassungswidrig ist, wenn im Gesetz nicht vorgesehen ist, dass die zuständige Behörde eine faire, fachliche und pluralistische Organisation bilden muss. Im Zusammenhang mit dem „Zustimmungsverfahren“ für das vom Bürger vorgelegte Stadterneuerungsprojekt müssen wir uns nochmals des Regelungsgehalts der Zustimmungsentscheidung vergewissern. Im Zustimmungsverfahren geht es nur um einen „Überblick“ des Erneuerungsprojekts, der die Grundzüge des Erneuerungskonzepts, den Umfang der Erneuerung, die Art und Weise seiner Durchführung darstellt, aber keine materiellen Rechtsverhältnisse festsetzt oder verändert. Insoweit ist die Zustimmung der zuständigen Behörde m.E. ein feststellender Vorbescheid, enthält keine konkludente Zusage, die Behörde werde ___________ 21
Vgl. auch §§ 20, 21 VwVfG in Deutschland.
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sich auch bei der nachfolgenden weiteren Prüfung unbedingt an der im Zustimmungsverfahren gewonnenen Beurteilung ausrichten; sie stellt dazu auch nur eine „selbständige Verfahrenshandlung“ dar, mit der erst das „echte“ Genehmigungsverfahren (Stadterneuerungsverfahren) eingeleitet wird. Da die zuständige Behörde ebenso gut wie der Bürger eine Erneuerungseinheit festsetzen kann22, unterstellt, dass diese mit dem Stadtplanungsrecht vereinbar ist, ist dabei das Verhältnis zwischen Verwaltung und Bürger nichts anderes als eine „kooperative“ Beziehung. Die Aufgabe der Verwaltung soll sich im Wesentlichen auf die Prüfung beziehen, ob der „Überblick“ des Projekts den mit der Stadtentwicklung im Einklang stehenden öffentlichen Interessen dient23. Was den Rechtsschutz der Einwohner, die mit dem Projekt nicht einverstanden sind, angeht, ist diese (Vor)Phase noch nicht so ernsthaft und schwerwiegend, dass verfassungsrechtlich unbedingt eine faire, fachliche und pluralistische Organisation, wie z.B. ein Gremium oder ein Ausschuss, einzurichten ist, weil im Weiteren noch ein Erneuerungsprojekt vom Projektdurchführenden (Bauunternehmen) entworfen und dann bei der zuständigen Behörde zur Genehmigung vorgelegt werden muss, beim Entwurf des Erneuerungsprojekts eine öffentliche Anhörung durchgeführt werden muss, das vorgelegte Erneuerungsprojekt der Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht und einer öffentlichen Anhörung unterzogen werden muss, bevor die Genehmigungsentscheidung getroffen wird. Bei dem im Prinzip lang dauernden Verfahren haben die Einwohner, die mit dem Projekt nicht einverstanden sind, viele Möglichkeiten, am Verfahren teilzunehmen, am Projekt mitzuwirken, ihre Rechte zu verteidigen. Nicht zu übersehen ist auch, dass das Erneuerungsprojekt im Regelfall von über 60% der Eigentümer der jeweiligen Grundstücke und Gebäude in der festgelegten Erneuerungseinheit und zugleich von über zwei Dritteln der Eigentümer der gesamten Flächen von Grundstücken und Gebäuden bewilligt werden muss. Es lässt sich nicht leugnen, dass die pluralistisch geprägten Verwaltungseinheiten substantiell eine Ausformung des staatlich-gesellschaftlichen Kooperationsbereichs sind24, vor allem angesichts der oftmals ungenügenden fachlichen Qualifikation der Behördenmitarbeiter. Die Bildung der pluralistisch geprägten Verwaltungseinheiten hängt jedoch sehr von der spezifischen Sachaufgabe ab, kann nicht als eine verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers festgelegt werden, auch wenn sie dem institutionellen Gesetzesvorbehalt unterfällt, liegt vielmehr in der Hand des Gesetzgebers mit seinem gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum. Verfassungsrechtlich nicht haltbar ist nach den obigen Maßstäben die Annahme der Hohen Richter, die Zustimmung ohne Bildung der pluralistisch geprägten Verwaltungseinheiten sei verfassungswidrig. ___________ 22
Vgl. § 10 Abs. 1 SEG. Auf die Frage der öffentlichen Interessen kommen wir später zurück. 24 Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2006, S. 262 ff. 23
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4. „Information“ als Faktor des Bürger-Bürger-Staat-Verhältnisses? Die Idee, eine transparentere Verwaltung zu gewinnen, und die Probleme der Daten- und Informationsbeschaffung spielen eine gewichtige Rolle im heutigen modernen Verwaltungsrecht, das über das ergebnisorientierte Entscheidungsdenken hinausgreift25. Das Informationsgefälle, wie z.B. zwischen Antragsteller und Genehmigungsbehörde, ist oft als Phänomen des „unfairen“ Verwaltungsverfahrens beschrieben worden. Wenn die Auslegung Nr. 709 sagt, dass im Stadterneuerungsverfahren „ein faires Verwaltungsverfahren durchgeführt werden muss, wie z.B. den Betroffenen die Möglichkeit des Zugangs zu den einschlägigen Informationen zu gewährleisten und ihnen Gelegenheit zu geben ist, sich rechtzeitig mündlich oder schriftlich zu den für die Entscheidung erheblichen Sachen zu äußern“, bildet die Information das Kernstück der Ausführung. Einerseits handelt es sich um die Informationsbeschaffung seitens des Bürgers, d.h. um Akteneinsicht oder Informationsfreiheit, andererseits um die Informationsbeschaffung seitens der Verwaltung, d.h. um Anhörung oder Erörterung. Diese Ausführungen hängen allerdings mit der Zustimmung und der Genehmigung zusammen. Sie lassen sich nicht auf alle Verwaltungshandlungen verallgemeinern, sondern können nur auf die Verfahrensanforderungen an den Erlass des Verwaltungsaktes hindeuten. Das betrifft in erster Linie das Akteneinsichtsrecht beim Verfahren des Erlasses des Verwaltungsakts. Abgesehen von der Frage, ob eine Übereinstimmung besteht, wenn die Hohen Richter einerseits die Zustimmung und die Genehmigung des Erneuerungsprojekts als Verwaltungsakte mit der Regelung eines Einzelfalles und bestimmter Personen ansehen, andererseits dennoch die Gewährleistung des Zugangs zu den einschlägigen Informationen nicht nur für die Adressaten der Verwaltungsakte, sondern für alle Betroffenen einfordern26, bleibt es unklar, was die Hohen Richter damit, dass Akteneinsicht im „Stadterneuerungsgesetz“ vorzuschreiben sei, vom Gesetzgeber verlangen wollen. Denn schon § 46 Abs. 1 TVwVfG bestimmt, dass die Beteiligten oder die Betroffenen Anspruch auf Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten haben, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist27. ___________ 25 Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2006, S. 278 ff. 26 In Deutschland wird Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten nur den „Beteiligten“ gestattet (Vgl. § 29 Abs. 1 VwVfG). 27 Darüber hinaus gewährt das Informationsfreiheitsgesetz vom 28.12.2005 „jedem“ Taiwaner einen verfahrensunabhängigen Anspruch auf Informationen.
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Nicht zuletzt liegt die Besonderheit des Informationsverwaltungsrechts in Bezug auf die von Privaten initiierte Stadterneuerung darin, dass das Rechtsverhältnis nicht nur zwischen Verwaltung und Bürger, sondern zwischen der Verwaltung, den privaten Projektdurchführenden und den Einwohnern besteht. Es ist ein Dreiecksverhältnis zwischen Staat, Grundrechtsbelasteten und Grundrechtsbegünstigten (Bürger-Bürger-Staat-Verhältnis), das für die Schutzpflicht charakteristisch28, allerdings keine juristische Neuigkeit ist. Vom Rechtsschutz der Einwohner her ist wohl zu bedenken, ob der Gesetzgeber den privaten Projektdurchführenden zur Erteilung der einschlägigen Informationen verpflichten muss, um die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten des Staates zu erfüllen. Es ist freilich nicht zu übersehen, dass die gesetzliche Verpflichtung der privaten Projektdurchführenden als Grundrechtsträger zur Erteilung der einschlägigen Informationen zugleich eine dem Übermaßverbot nicht entgegenstehende und rechtsfertigungsbedürftige Grundrechtseinschränkung darstellt29, vor allem wenn es um das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Grundrecht auf Datenschutz geht, soweit sich die zuständige Behörde der privaten Projektdurchführenden zur Erfüllung öffentlich-rechtlicher Aufgaben nicht bedient30. Dabei kommt der Gesetzgeber nicht um eine Güterabwägung umhin, was notwendige
___________ 28
Die Schutzpflicht eines Staates besteht eigentlich darin, den Bürger gegen Angriffe anderer Bürger durch schlichtes Bürgerhandeln (z.B. den Betrieb gefährlicher Maschinen) zu schützen. In der Konstellation der Stadterneuerung erhält der „angreifende“ Bürger aber aufgrund der Vorschriften des SEG eine Sonderstellung, die ihm Privilegien einräumt. Man könnte durchaus vertreten, dass daher das gesamte Handeln des stadterneuernden Bürgers dem Staat als aktiver Eingriff in die Rechte der anderen Bürger zuzurechnen sei. Von daher könnte die Schutzpflichtendogmatik hier nur begrenzt passen. Was allerdings die Problematik der Informationsfreiheit anbelangt, passt doch die Schutzpflichtendogmatik. Zunächst ist hervorzuheben, dass dem stadterneuernden Bürger gesetzlich abverlangt wird, einschlägige Informationen offenzulegen, bevor das Erneuerungsprojekt von der zuständigen Behörde genehmigt wird. Also entsteht die Konstellation des Bürger-Bürger-Staat-Verhältnisses während des Zustimmungs- bzw. Genehmigungsverfahrens, nicht nach der Erteilung der Genehmigung. Des Weiteren ist es fraglich, ob das gesamte Handeln des stadterneuernden Bürgers dem Staat als aktiver Eingriff in die Rechte der anderen Bürger zuzurechnen ist. Abgesehen von der Frage, ob dem stadterneuernden Bürger öffentliche Gewalt eingeräumt wird, sollte man m.E. das vom Staat genehmigte schlichte Bürgerhandeln nicht ohne Weiteres als Staatshandeln ansehen. Sonst würde sich die Rechtsstellung des Bürgers als Grundrechtsträger dadurch verschlechtern. Dass diese Verpflichtung des stadterneuernden Bürgers nur im Zusammenhang des ihm zum Zwecke der Stadterneuerung eingeräumten Privilegs besteht, kann gerade die Schutzpflicht des Staates belegen, den Bürger gegen Eingriffe des stadterneuernden Bürgers zu schützen. 29 Vgl. Chien-Liang Lee, Grundrechtsschutz unter Untermaßverbot?, in: Rainer Grote u.a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit, Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag, 2007, S. 297–317. 30 Darauf ist noch zurückzukommen.
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Handlungsspielräume für den Gesetzgeber offenlässt, denn sonst würde der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu Unrecht beengt und somit das ganze gewaltenteilige Verfassungssystem beeinflusst31. 5. „Zustellung“ als Element des fairen Verfahrens: Verwechslungsgefahr? a) Allgemeines Die Eigentümlichkeit der Auslegung Nr. 709, wenn sie darauf besteht, dass der Gesetzgeber die obengenannten Verfahrensanforderungen, die bereits im TVwVG vorgesehen sind, ins SEG schreiben muss, könnte sicher darin begründet liegen, dass die „Zustellung“ von den Hohen Richtern als ein Element des fairen Verwaltungsverfahrens eingestuft worden ist. Aus der Begründung, dass „alle einschlägigen Dokumente und Informationen an alle Eigentümer der Grundstücken und der legalen Gebäude in der Erneuerungseinheit zugestellt werden müssen“, folgt, dass die mit einer Begründung versehene Entscheidung zusammen mit dem genehmigten Erneuerungsprojekt gesondert an die Eigentümer der Grundstücke und der legalen Gebäude in der Erneuerungseinheit sowie die Registerbehörde zugestellt werden muss. Hier liegt indes eine Begriffsverwechslung vor, denn die Hohen Richter haben die „Art und Weise des Zugangs zu den Informationen“, die „Ausführung der Anhörung“ und die „Art und Weise der Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes“ verwechselt, wobei vor allem die Begriffe „Bekanntgabe“ und „Zustellung“ gleichgestellt werden, was im Übrigen seit langem ein unbemerktes, aber schwerwiegendes Missverständnis der Verwaltungsrechtslehre und der Verwaltungsrechtspraxis in Taiwan ist. Während es sich bei der Gewährleistung des Zugangs zu den Informationen wesentlich um etwas handelt, bevor der Verwaltungsakt erlassen wird32, betrifft die Bekanntgabe oder die Zustellung die Frage der Wirksamkeit des Verwaltungsaktes, was normalerweise erst nach dem Erlass des Verwaltungsaktes in Frage kommt. Vor und nach dem Erlass des Verwaltungsaktes lässt sich das Genehmigungsverfahren der Stadterneuerung im SEG wesentlich wie folgt unterteilen: ‒ Einreichen des Projekts ‒ Auslegung des Projekts ___________ 31 Vgl. ausführlich Christian Starck, Grundrechtliche Schutzpflichten, in: ders., Praxis der Verfassungsauslegung, 1994, S. 64 ff. 32 Obgleich das Recht auf Akteneinsicht nach h.M. über den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts hinaus bis zur Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts andauert. Vgl. Ferdinand O. Kopp/Ulrich Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 13. Aufl. 2012, § 29 Rn. 23; a.A. Jan Ziekow, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2010, § 29 Rn. 2, m.w.N.: Das Recht der Akteneinsicht besteht nur innerhalb des laufenden Verfahrens.
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Bekanntmachung der Projektauslegung Ausführung des Erörterungstermins Bekanntmachung des Erörterungstermins Erlass des Verwaltungsaktes Bekanntgabe des Verwaltungsaktes oder Zustellung des Verwaltungsaktes b) „Zustellung“ als Bekanntmachung der Projektauslegung?
Die Auslegung des Projekts dient dazu, das Bedürfnis der Betroffenen nach Informationseinsicht zu befriedigen. Sie unterscheidet sich von der Akteneinsicht im Sinne von § 46 TVwVfG33 nur dadurch, dass hier die Möglichkeit einer Einsichtnahme in die ausgelegten Projektunterlagen genügt, um die praktischen Probleme bei einer Vielzahl von Betroffenen zu bewältigen. Abgesehen von den Modalitäten gehören die Auslegung von Unterlagen und die Akteneinsicht beide zu der Kategorie „Freigabe der Information“ oder „Informationsfreiheit“. Sie sollen einen Beitrag dazu leisten, dem Bürger die wichtigen Informationen zugänglich werden zu lassen. Die Bekanntmachung der Projektauslegung hat dann Anstoßfunktion34, indem sie die Betroffenen auf die bevorstehende Auslegung hinweisen soll. Dies hat nichts mit der Wirksamkeit des Verwaltungsakts zu tun. Der Zeitpunkt der Bekanntmachung der Auslegung ist auch verwaltungsprozessual nicht von Relevanz. Vielmehr liegen die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Bekanntmachung darin, ob diese die Hinweisfunktion tatsächlich erfüllt, also ob sie eine relativ konkrete Beschreibung des Projekts, auf das sich die Auslegung der Unterlagen beziehen soll, und einen hinreichenden Hinweis (auf Ort und Zeit) enthält. Die Anforderungen dürfen allerdings nicht überspannt werden und auch nicht mit Formen der Bekanntmachung in Bezug auf die Wirksamkeit des Verwaltungsakts verwechselt werden. Hervorzuheben ist nicht zuletzt, dass die Akteneinsicht u.U. gebührenpflichtig oder kostenpflichtig ist, wenn sie auf Antrag der Beteiligten oder der Betroffenen erfolgt, vor allem mit Ablichtungen der Unterlagen (Kopiermöglichkeit)35. Es wäre systemwidrig, wenn die Verpflichtung der Behörde zur Auslegung und ihre Bekanntmachung mit der Akteneinsicht gleichgestellt würden. Von daher ist die verfassungsrechtliche Anforderung in der Auslegung Nr. 709 höchst bedenklich, die besagt, dass „alle einschlägigen Dokumente und Informationen an alle Eigentümer der Grundstücken und der legalen Gebäude in der Erneuerungseinheit gesondert zugestellt werden müssen“. Dadurch könnte nicht nur die Arbeitsfähigkeit der Behörde erheblich beeinträchtigt werden. Schwerwiegender ist, dass das Institut der „Zustellung“, die ___________ 33
Vgl. auch § 29 VwVfG. Vgl. auch Ferdinand O. Kopp/Ulrich Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 13. Aufl. 2012, § 73 Rn. 56. 35 Vgl. § 16 Informationsfreiheitsgesetz in Taiwan. 34
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eigentlich eine besondere Form der Bekanntgabe für den Verwaltungsakt ist, mit der Modalität der Auslegung verwechselt wird und daher die Klarheit und Systematik der verwaltungsrechtlichen Dogmatik beeinträchtigt wird. c) „Zustellung“ als Bekanntmachung des Erörterungstermins? Von der Bekanntmachung der Projektauslegung ist begrifflich die Bekanntmachung des Erörterungstermins zu unterscheiden, obgleich in der Praxis die zuständige Behörde den Erörterungstermin bereits in der Bekanntmachung der Projektauslegung bestimmen und sich dadurch eine weitere Bekanntmachung ersparen kann. Die Anhörungsbehörde muss also, abgesehen von der Form der Anhörung, den Ort, den Verhandlungsraum und die Zeit der Erörterung vorher ortsüblich bekannt machen, um die Transparenz des Verfahrens, die Partizipation der Betroffenen und möglicherweise durch eine gemeinsame Erörterung eine einvernehmliche Lösung zu fördern und zu ermöglichen, weil das Stadterneuerungsprojekt gerade durch eine Interdependenz der diversen Belange der Betroffenen geprägt ist. Unter diesem Gesichtspunkt lässt es sich selbstverständlich fragen, ob man dieser Funktion mit einer „öffentlichen“ Bekanntmachung genügt. Zu überlegen ist dann, ob zusätzlich zu der öffentlichen Bekanntmachung eine individuelle Benachrichtigung einzuführen ist, um die Betroffenen gesondert über den Termin zu unterrichten36. Allerdings darf man nicht dadurch über Eigenschaften der Verfahrenshandlung hinwegtäuschen, die mit der förmlichen Einladung im verwaltungsprozessualen Sinne nicht gleichzustellen ist. Der begrifflichen und dogmatischen Klarheit halber muss zwischen Bekanntmachung der Auslegung, Bekanntmachung des Erörterungstermins und Bekanntgabe des Verwaltungsakts streng und scharf getrennt werden37. Die Bekanntmachung oder Benachrichtigung des Erörterungstermins gehört zu der Pflicht zur Durchführung eines mündlichen Erörterungstermins mit den Betroffenen. Eine mangelhafte Bekanntmachung des Termins könnte zwar zur Fehlerhaftigkeit des Verfahrens führen, spielt aber eine geringe Rolle für die Befriedigung des Bedürfnisses der Betroffenen nach Akteneinsicht. Bedauerlicherweise haben die Hohen Richter mit der Auslegung Nr. 709 alles durcheinandergebracht, wenn sie den Gesetzgeber zu einer Regelung verpflichten, wonach vor der Entscheidung alle einschlägigen Unterlagen und Informationen an alle Eigentümer der Grundstücke und der legalen Gebäude in der Erneuerungseinheit gesondert zugestellt werden müssen. Obgleich der Gesetzgeber das trotz allem machen darf, obliegt es ihm aber jedenfalls nicht. ___________ 36
Vgl. z.B. wie § 73 Abs. 6 S. 3 VwVfG in Deutschland. In Deutschland wird auch zwischen der öffentlichen Bekanntmachung und der ortsüblichen Bekanntmachung unterschieden, wobei die erste im Wesentlichen für Massenverfahren gilt. Vgl. Jan Ziekow, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2010, § 72 Rn. 34, § 73 Rn. 57. 37
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d) „Zustellung“ als Bekanntgabe des Verwaltungsaktes? Dass Verwaltungsakte erst mit der Bekanntgabe Wirksamkeit erlangen, ist eine zwingende Folge des Rechtsstaatsprinzips, des Grundrechtsschutzes und der Rechtsschutzgarantie38. Die Bekanntgabe des Verwaltungsakts ist nicht nur Voraussetzung für die Wirksamkeit des Verwaltungsakts, sondern auch verwaltungsprozessual von Bedeutung. Hält der Bürger einen Verwaltungsakt für rechtswidrig und seine Rechte für verletzt, hat er die Möglichkeit, gegen den Verwaltungsakt Widerspruch einzulegen (§ 1 Widerspruchsverfahrensgesetz, kurz: WiVfG) und dann Anfechtungsklage zu erheben (§ 4 Verwaltungsprozessgesetz, kurz: VwPG). Die Einlegung von Rechtbehelfen ist an Fristen gebunden, die regelmäßig an die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes anknüpfen. Von der Bekanntgabe als solcher sind Anforderungen an ihre Form zu unterscheiden. Im deutschen Recht kann der Verwaltungsakt mündlich oder in jeder anderen geeigneten Form bekannt gegeben werden, wenn keine besondere Form vorgeschrieben ist (formlose Bekanntgabe)39. Die Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsakts kann z.B. durch einfachen Brief per Post erfolgen. Demgegenüber stellt die Zustellung eine besondere Form der Bekanntgabe dar40. Die Bekanntgabe eines Verwaltungsakts durch Zustellung ist vorzunehmen, wenn das Gesetz dies vorschreibt. Darüber hinaus kann ein Verwaltungsakt unter bestimmten Voraussetzungen öffentlich bekannt gegeben werden (öffentliche Bekanntgabe)41. Z. B. darf eine Allgemeinverfügung auch dann öffentlich bekannt gegeben werden, wenn eine individuelle Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist42. Im Gegensatz dazu liegt die Besonderheit der Bekanntgabe des Verwaltungsakts in Taiwan darin, dass der schriftliche Verwaltungsakt erst mit der Zustellung an die Adressaten und an die von ihm Betroffenen, soweit sie bekannt sind, wirksam wird, während der unschriftliche Verwaltungsakt dadurch wirksam werden kann, dass er in jeder anderen geeigneten Form bekannt gegeben wird43. Darüber hinaus genügt bei der Allgemeinverfügung die öffentliche Bekanntgabe, um ihre Wirksamkeit zu erlangen44.
___________ 38 Vgl. auch Ferdinand O. Kopp/Ulrich Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 13. Aufl. 2012, § 41 Rn. 2. 39 Vgl. § 41 Abs. 1 VwVfG. 40 Vgl. § 41 Abs. 5 VwVfG i.V.m. den Verwaltungszustellungsgesetzen des Bundes und der Länder. 41 Vgl. § 41 Abs. 3, 4 VwVfG. 42 Vgl. § 41 Abs. 3 S. 2 VwVfG. 43 Vgl. § 110 Abs. 1 TVwVfG. 44 Vgl. § 110 Abs. 2 TVwVfG.
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Im Vergleich zum deutschen Recht zeigt sich einerseits eine zu hoch gesetzte Anforderung an die Bekanntgabe des schriftlichen Verwaltungsakts45, was die Grenzziehung zwischen Bekanntgabe und Zustellung sinnlos gemacht hat, andererseits eine zu locker gesetzte Anforderung an die öffentliche Bekanntgabe der Allgemeinverfügung, wenn es nicht damit bedingt wird, ob eine individuelle Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist. D.h., es darf die Allgemeinverfügung in Taiwan ohne weiteres öffentlich bekannt gegeben werden. Diese Begriffsverwechslung46 liegt der Auslegung Nr. 709 zugrunde. Diese geht aber noch einen Schritt weiter, wenn sie der zuständigen Behörde als Pflicht auferlegt, die mit einer Begründung versehene Entscheidung zusammen mit dem genehmigten Erneuerungsprojekt gesondert an die Eigentümer der Grundstücken und der legalen Gebäude in der Erneuerungseinheit sowie die Registerbehörde zuzustellen. Auf den ersten Blick scheint dies eine Verstärkung des Verfahrensschutzes zu sein. Bei genauerer Betrachtung steckt ein Systembruch beim Ausbau eines folgerichtigen Verwaltungsverfahrens dahinter. Denn der Kreis der Adressaten der Zustellung geht weiter, als es im Verwaltungsverfahrensgesetz vorgesehen ist. Aus was für einem Grund das verfassungsrechtlich unbedingt erforderlich sein soll, dazu schweigt die Auslegung Nr. 709.
V. Gesamtbetrachtung: Machtverhältnis im kooperativen Staat bezüglich der Zwangsvollstreckungsfrage im Stadterneuerungsverfahren Ob und wie Verwaltungsverfahren im Verhältnis von Staat und Bürger erfolgreich durchgeführt werden, hängt nicht nur von den Verfahrensstrukturen, sondern sehr von den Akteuren ab, die als Vorhabenträger, beteiligte Behörden, Betroffene und Öffentlichkeit zueinander ins Verhältnis gesetzt werden47. Es wäre ___________ 45 In Deutschland genügt es sogar für die Wirksamkeit des Verwaltungsakts, dass die Behörde dem Adressaten des Verwaltungsakts von dessen Inhalt formlos Kenntnis verschafft, auch wenn es an der gesetzlich vorgeschriebenen Zustellung fehlt. Vgl. BVerwG, NVwZ 1992, 565 (566). 46 Der Grund dieser Begriffsverwechslung liegt wahrscheinlich darin, dass die Verfasser des Gesetzesentwurfs die Unterscheidung zwischen Bekanntgabe und Zustellung nicht richtig verstanden haben. Dabei ist darauf aufmerksam zu machen, dass eine Neuausrichtung des Verwaltungsrechts ohne Rechtsvergleichung kaum möglich ist, diese aber eine gründliche und richtige Untersuchung der in Betracht kommenden Rechtsordnungen voraussetzt. Zur Rechtsvergleichung im Verwaltungsrecht vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrechtliche Dogmatik, 2013, S. 25 ff. 47 Zum Umweltschutzbereich vgl. Ivo Appel, Staat und Bürger in Umweltverwaltungsverfahren, NVwZ 2012, 1362 ff.
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eine oberflächliche Einsicht und Denkweise, wenn man annähme, dass das Verhältnis von Staat und Bürger allein durch Verfahrensregelungen geprägt würde, ohne das Machtverhältnis zwischen Staat und Bürger genauer zu recherchieren. Wenn es um Machtverhältnisse geht, taucht im öffentlichen Recht eine interessante Frage auf, was unter „Macht“ zu verstehen und wie es von „öffentlicher Gewalt“ zu unterscheiden ist. Max Weber versteht „Macht“ als jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht48. So ist Macht keine Wesenseigenschaft des Staates, weil auch andere über Macht verfügen, wie wirtschaftliche, religiöse, erzieherische Macht usw. Ebenfalls ist Gewalt keine Eigentümlichkeit des Staates. Jedermann kann Gewalt anwenden, Zwang ausüben. Versteht man weiterhin den „modernen Staat“ mit Max Weber als einen anstaltsmäßigen Herrschaftsverband, der innerhalb eines Gebietes die legitime physische Gewaltsamkeit als Mittel der Herrschaft zu monopolisieren mit Erfolg getrachtet hat und zu diesem Zweck die sachlichen Betriebsmittel in der Hand seiner Leiter vereinigt49, dann wird die legitime physische Gewalt dem Staat nur durch Recht vermittelt. Der Einsatz von Gewalt bedarf der rechtlichen Berechtigung. Das Recht legt die Grundlagen und Bedingungen für den Einsatz öffentlicher Gewalt durch den Staat fest, was als eine der Grundlagen für das Funktionieren des Rechtsstaates gilt50. Wenn die Verwaltung sich durch Erlass eines Verwaltungsakts ihren Vollstreckungstitel selbst schaffen kann, bedeutet das im materiell-rechtlichen Sinne die Grundlagen und Bedingungen dafür, dass die Verwaltung die Bürger in Pflicht nehmen darf, und zwar mit einem Verwaltungsakt einseitig zu einer öffentlich-rechtlichen Geldleistung, Handlung, Unterlassung und Duldung verpflichten darf. Der Abriss der Gebäude und die Entfernung der Einwohner mit Zwangsmaßnahmen (ggf. mit physischer Gewalt) gehören zu der Durchführungsphase der Stadterneuerung im bürgerschaftlichen Engagement, die erst nach Abschluss der vorangegangenen Genehmigungsverfahren eingeleitet werden darf. In Anbetracht dessen, dass die Zwangsvollstreckung unmittelbar in die Rechte des Bürgers eingreift, hätten die Hohen Richter § 36 Abs. 1 SEG, der den privaten Projektdurchführenden und ggf. dem Staat erlaubt, Zwangsvollstreckung mit Ersatzvornahme gegen die Eigentümer auszuüben, als wesentlich relevant in den Prüfungsgegenstand einbeziehen müssen. Abgesehen davon muss jedenfalls geklärt werden, ob und wie den privaten Projektdurchführenden und u.U. der Verwal___________ 48
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, 5. Aufl. 1980, S. 28. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, 5. Aufl. 1980, S. 824, Abdruck aus „Politik als Beruf“. 50 Vgl. auch Dieter Grimm, Das Öffentliche Recht vor der Frage nach seiner Identität, 2012, S. 63 f. 49
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tung als „Privathelfer“ eine Vollstreckungsmacht (eine physische Gewalt) zustehen kann51, in concreto, ob § 36 Abs. 1 SEG, mit dem der Gesetzgeber einfach die Zwangsgewalt den Projektdurchführenden (in der Praxis den Bauunternehmen) überlassen hat, im Einklang mit den oben geschilderten rechtsstaatlichen Grundprinzipien des modernen Staates steht. Die Hohen Richter hätten in der Auslegung zu dieser „privaten“ Gewaltsamkeit eine gewisse materielle Legitimation geben können. Zwei Anhaltspunkte für die Auseinandersetzung mit der Problematik finden sich in der Begründung der Auslegung Nr. 709, nämlich: „Die Stadterneuerung ist ein Teil der Stadtplanung“ und „Der Natur nach gehört die Stadterneuerung zu den öffentlichen Aufgaben des Staates oder der Kommune“. Wenn die Stadterneuerung bzw. die Stadtplanung zu einem Teil der Verwaltungsplanung gehört, die die Vorgehensweisen zur Erstellung und Durchführung von Verwaltungsplänen umfasst52, sollte sie grundsätzlich von der öffentlichen Verwaltung aktiv eingeleitet, gestaltet und durchgeführt werden. Dass die Stadterneuerung die rechtlichen Rahmenbedingungen der Bebauungsplanung und des Städtebaurechts einhalten muss, versteht sich von selbst53. Unter dem Blickwinkel der Bebauungsplanung wäre die Erstellung, Festsetzung und Durchführung der Erneuerungsprojekte ohne eine bestimmte „Idee der Stadtplanung bzw. des Städteumbaus“, die auf die zukünftige Stadtentwicklung gerichtet ist und gar auf eine menschengerechte Stadt zielt, kaum möglich und vorstellbar. So lässt sich feststellen, dass die sog. „öffentlichen Interessen“ im Rahmen des Stadterneuerungsrechts54 die oben dargestellte Idee der Stadtplanung beinhalten müssen, die dann erst die Maßnahmen der Verwaltung zur Durchführung der Stadterneuerung einschließlich der Enteignung55 und der Zwangsvollstreckung rechtfertigt. Die Begründung der Auslegung Nr. 709, dass „der Natur nach die Stadterneuerung zu den öffentlichen Aufgaben des Staates oder der Kommune gehört“, sind nur in diesem Verständnis zu interpretieren. Fraglich ist jedoch, ob es etwas anderes wäre, wenn die der Natur nach zu den Aufgaben des Staates gehörende Stadterneuerung an Private übertragen wird, wie sich die von privaten initiierte Stadterneuerung zur öffentlichen Stadtplanung verhält, was es bedeuten soll, wenn die Hohen Richter sagen, dass aus praktischen Bedürfnissen und aufgrund der Eingliederungspolitik der privaten Kräfte ___________ 51 In der Praxis nimmt der private Projektdurchführende (sic. Bauunternehmen) normalerweise die Zwangsgewalt nicht in Anspruch, sondern beantragt bei der zuständigen Behörde eine „Ersatzvornahme“. Gleichwohl steht im Vordergrund die Frage, ob und wie den privaten Projektdurchführenden eine Vollstreckungsmacht zustehen kann, weil die Verwaltung nur als „Helfer“ der Privaten zum Einsatz von öffentlicher Gewalt kommt. 52 Vgl. auch § 163 TVwVfG. 53 Vgl. § 20 SEG. 54 Vgl. § 1 SEG. 55 Vgl. § 25 Abs. 1 SEG.
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durch das Gesetz vorgesehen ist, dass der Bürger unter bestimmten Voraussetzungen die Durchführung der Stadterneuerung beantragen kann und der Staat oder die Kommune in Ausübung öffentlicher Gewalt die erforderliche Aufsicht darüber führen und Antrag und Durchführung prüfen und darüber entscheiden muss. Wenn es die Ziele der Stadterneuerung sind, die geplante Nutzung der städtischen Grundstücke zu fördern, die städtischen Funktionen wiederzubeleben, die Lebensumwelt in Städten qualitativ zu verbessern und zu einer sicheren, friedlichen und der Würde angemessenen Lebensumwelt beizutragen, kann auch der Bürger bei der „Stadterneuerung“ theoretisch und praktisch die Initiative ergreifen. Von einer öffentlichen Aufgabe von der Natur der Sache her kann hier kaum die Rede sein, weil die Verbesserung der Lebensumwelt, die Förderung der Lebensqualität und der Schutz der Menschenwürde zu der Privatsphäre und den Grundrechten gehören. In Ausübung der Grundrechte, z.B. des Eigentums, kann der Bürger eine „Stadterneuerung“ von unten in Gang setzen, die allerdings im Gefüge der Grundrechtsdogmatik und im Verhältnis zwischen Bürger und Staat eher der Privatautonomie zuzuordnen ist. Hierbei bestehen zwei Arten von Stadterneuerung: die staatliche und die nichtstaatliche, die durch die Zivilgesellschaft hergestellt und gepflegt wird. Beide Rechtsregime verschränken sich gegenseitig, sind aber jeweils Teilgebiete einer einheitlichen Rechtsordnung, die nicht einfach zu überspielen sind. In einem Rechtsstaat muss die vom Bürger initiierte Stadterneuerung auch an Recht und Gesetz, vor allem das Öffentliche Recht, gebunden sein und wird dadurch mit der öffentlichen Gewalt verbunden. Die Grundstruktur der Privatautonomie ändert sich dennoch nicht durch eine solche Koppelung zwischen privaten und öffentlichen Bereichen. Vielmehr indiziert sie eine Beschränkung der Grundrechte. Während die Verwaltung unter einer gesetzlichen Ermächtigung mit Verwaltungsakt einseitig den Bürger verpflichten und damit einen Vollstreckungstitel schaffen kann, kann sich der Bürger im Wesentlichen nur durch einen Vertrag, der freiwillig zwischen zwei oder mehr Parteien geschlossen wird, auf Basis der Gegenseitigkeit selbst verpflichten. Grundsätzlich bindet der Vertrag nur die Vertragspartner, kann aber nicht einen Dritten verpflichten, es sei denn, dass der Dritte mit den vertraglichen Verpflichtungen einverstanden ist. Dementsprechend gilt das „Mehrheitsprinzip“, das eher eine Ausnahme von der Privatautonomie macht und eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung der Grundrechte darstellt, im Prinzip nicht für den Vertragsschluss56. Wenn aber der Ge-
___________ 56 In der staatsphilosophischen Auseinandersetzung über die Herrschaftslegitimation unterliegt die Theorie des Gesellschaftsvertrags, wonach eine politische Gesellschaft durch die interindividuellen Verträge konstituiert wird, immer einer theoretischen Lücke
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setzgeber das Mehrheitsprinzip trotz allem, damit also die Minderheit die Mehrheitsentscheidung akzeptieren muss, ins Privatrechtsverhältnis einführt und dadurch die privatrechtliche Gleichstellung des Bürgers und die Mechanismen der autonomen Zustimmung verändert oder verengt, bedarf es der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, und zwar durch ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut, das über die Interessen der Vertragspartner hinausgeht. Dass eine solche schwerwiegende Einschränkung auch dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügen muss, ist selbstverständlich. Infolgedessen kann es, wenn der Bürger unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen die Durchführung der Stadterneuerung beantragen kann, nichts anderes bedeuten, als dass die Rechte der bestimmten Minderheit unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen eingeschränkt werden können, was mit der Antrag-Genehmigung-Konstellation in der Leistungsverwaltung nicht vergleichbar ist. Abgesehen von der Frage, ob die gesetzlichen Regelungen dazu als solche verfassungswidrig sind, muss die zuständige Behörde beim Genehmigungsverfahren auch prüfen, ob das angetragene Erneuerungsprojekt eine mit den stadtplanungsrechtlichen Rahmenbedingungen im Einklang stehende Stadtentwicklungsidee verfolgt, die über rein kommerzielle Interessen hinausgeht, d.h. bei der Abwägung von konfligierenden Interessen im Entscheidungsprozess eine Entscheidung zugunsten der gesunden Stadtentwicklung treffen. Unter dem grundrechtlichen Gesichtspunkt ist hervorzuheben, dass die „privaten Rechte“ nicht automatisch in „öffentliche Gewalt“ und die „privat-rechtlichen Verpflichtungen“ nicht ohne Weiteres in „öffentlich-rechtliche Verpflichtungen“ umgewandelt werden können, auch wenn die innere Struktur der Privatautonomie vom Staat (dem Gesetzgeber) aus welchen Gründen auch immer verändert und ein Mehrheitsprinzip eingeführt wird, soweit das Gesetz nicht die Verwaltung zum Erlass eines Verpflichtungsaktes (befehlenden Verwaltungsakts) ermächtigt oder ein öffentlich-rechtlicher Vertrag zwischen Verwaltung und Bürger unter Vorbehalt entgegenstehender Rechtsvorschriften zustande gekommen ist. Genauer gesagt ist der private Projektdurchführende als Privatrechtsträger nicht der Beliehene, dem öffentliche Befugnisse der Verwaltung übertragen wurden, um öffentliche Aufgaben zu erfüllen. Das Rechtsverhältnis zwischen dem Projektdurchführenden und den Einwohnern bleibt im Gegensatz zu der von der Verwaltung eingeleiteten Stadterneuerung immer noch das von privatrechtlicher Natur. Die von der Verwaltung erteilte Genehmigung ist im ___________ und einer Spannung zwischen dem normativ notwendigen gesellschaftsvertraglichen Egalitarismus und dem pragmatisch unerlässlichen Mehrheitsprinzip. Man hat mit dem Argument eine Brücke zu schlagen versucht, dass die demokratische Urversammlung die Aufgabe hat, durch einmütige Einigung auf das Entscheidungsverfahren des Mehrheitsprinzips dieser Entscheidungsregel die erforderliche normative Begründung zu verleihen. Vgl. dazu Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 127–131.
Das Verwaltungsverfahren als Ordnungsidee im kooperativen Staat?
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Hinblick auf ihren Regelungsinhalt lediglich als ein sog. privatrechtsgestaltender Verwaltungsakt57 einzustufen, dem es an Vollstreckungswirkung fehlt.
VI. Schlussbemerkung: Verfahren als Ordnungsidee und Herausforderungen für die verwaltungsrechtliche Dogmatik im kooperativen Staat Der sog. kooperative Staat lässt sich heute oft durch die Privatisierung, die als ein Oberbegriff für die öffentlich-private Partnerschaft gilt, kennzeichnen. Mit der Privatisierung kann nicht nur das staatliche Eigentum auf welche Weise auch immer in private Hand gerückt, sondern auch die Aufgabe privatisiert (sog. Aufgabenprivatisierung) bzw. das damit einhergehende Staat-Bürger-Verhältnis grundlegend verändert werden. Während die Privatisierung anscheinend Freiheit des Bürgers vermittelt, bleibt der Staat immer noch an die Grundrechte gebunden. Ob die Übergabe der öffentlichen Aufgaben auf die private Hand zur Verengung der Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung führen könnte, lässt sich erst im Lauf der Zeit beweisen. Nun stehen schon eine Fragmentierung politischer Steuerung und die Erosion der repräsentativen Demokratie in Taiwan bevor. Wie man die rechtsstaatliche Grundordnung bewahren oder gar zurückgewinnen kann, hängt sehr von der Klarstellung des Ordnungszusammenhangs zwischen dem materiell-rechtlichem Rechtsverhältnis und der Gestaltung der Verfahrensstrukturen ab. In einem demokratischen Verfassungsstaat sollen Recht und Freiheit durch den grundrechtsverpflichteten Staat garantiert werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die im Verwaltungsverfahren angelegte Ordnungsidee bzw. Schutzfunktion mindestens eine Anstoßfunktion58, Desinfektionsfunktion (Transparenz)59, Friedensfunktion60 und Interessenausgleichsfunktion beinhaltet, die wesentlich auf die Garantie der bürgerlichen Rechte und Freiheit abzielen. Aber aus der Verfassung ergibt sich schwer ein „Verfahrens-Grundrecht“ aus der Hand des Gesetzgebers, sondern eher ein „Regelungsauftrag“ an den Gesetzgeber, der Idee des fairen Verwaltungsverfahrens durch Gesetz einen für die ___________ 57 Zum Begriff vgl. Axel Tschentscher, Der privatrechtsgestaltende Verwaltungsakt als Koordinationsinstrument zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, DVBl. 2003, 1424 ff. 58 Diese Funktion hängt mit dem Rechtsinstitut der Bekanntmachung zusammen. 59 Die Vorteile der Offenheit und der Transparenz beruhen auf einem berühmten Spruch aus dem Grand Justice Louis Brandeis des U.S. Supreme Court: „Sunlight is the best disinfectant“. 60 Der Rechtsfrieden setzt die Akzeptanz der öffentlichen Verwaltung voraus.
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praktische Handhabung hinreichenden Inhalt zu geben61. Dabei ist es die Aufgabe der verwaltungsrechtlichen Dogmatik, durch einen systematischen Ansatz bzw. Systemdenken Folgerichtigkeit und Einsehbarkeit der Verfahrensstrukturen zu sichern und durch ein systematisch ausgerichtetes Verwaltungsrecht dazu beizutragen, administratives Handeln transparent zu gestalten und der öffentlichen Verwaltung die notwendige Akzeptanz zu gewährleisten, um auf die Herausforderungen der technischen Fortschritte, vor allem auf die im Zuge von Privatisierungen eintretenden Verschiebungen im staatlich-gesellschaftlichen Gefüge zu reagieren62. Als Ordnungsidee kann das Verwaltungsverfahren nur zusammen mit der Bindung an die Grundrechte, an den Rechtsstaatsgrundsatz und an das Gebot demokratischer Legitimation und auch die Rechtsschutzgarantie ausgerichtet werden. Die Ordnungsidee des Verwaltungsverfahrens scheint durch die Auslegung Nr. 709 gefestigt. Leider kann sie mit einer Art von „kategorischem Imperativ“ ohne aufschlussreiche Begründung für die ganze Rechtsstruktur nur wenig leisten. Soweit man es noch schwierig findet, irgendeine Form von Struktur und Dogmatik in dieser Verfassungsauslegung zu finden, kann von Verwaltungsverfahren als Ordnungsidee noch nicht die Rede sein.
___________ 61 Der Gedanke gilt insbesondere auch für den verfassungsrechtlichen Schutzinhalt des Privateigentums. Vgl. Paul Kirchhof, Eigentum als Ordnungsidee – Wert und Preis des Eigentums, in: Otto Depenheuer (Hrsg.), Eigentum: Ordnungsidee, Zustand, Entwicklung, 2005, S. 19 (21). 62 Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2006, S. 1 f.
Verwaltungsverfahren als Ordnungsidee: Kooperative Elemente im Verwaltungsverfahren Von Thorsten Siegel Das Verwaltungsverfahren als Ordnungsidee1 wird zunehmend von kooperativen Elementen geprägt. In dem Beitrag werden die verschiedenen Ebenen kooperativer Elemente analysiert. Einleitend wird zunächst der verwaltungswissenschaftliche Hintergrund aufgezeigt (u. I.). Nach einer Unterscheidung zwischen den beiden Grundkategorien imperativer Verwaltungsverfahren einerseits und kooperativer Verwaltungsverfahren andererseits (u. II.) werden zunächst imperative Elemente in kooperativen Verfahren dargelegt (u. III.). Im Mittelpunkt steht jedoch eine Analyse der unterschiedlichen Stufen kooperativer Elemente in imperativen Verfahren, die in einer Verselbständigung kooperativer Elemente mündet (u. IV.). Abschließend erfolgt ein kurzes Fazit (u. V.).
I. Verwaltungswissenschaftlicher Hintergrund 1. Grundlegender Verständniswandel Das Verständnis öffentlicher Verwaltung im Allgemeinen und des Verwaltungsverfahrens im Besonderen ist von einem grundlegenden Wandel geprägt. So wird das zumindest primär hoheitliche Verständnis der öffentlichen Verwaltung zunehmend durch ein Verständnis der Verwaltung als Dienstleister ergänzt.2 Damit korrespondiert ein Wandel im Verständnis des Bürgers, der nicht mehr nur Adressat hoheitlicher Maßnahmen der Verwaltung ist, sondern zugleich auch Kooperationspartner der Verwaltung.3 Aber auch das Verwaltungsverfahren unterliegt einem zunehmenden Verständniswandel. Die zuvor als gegenüber der materiellen Entscheidung lediglich „dienende“ Funktion des Verfahrens wird ___________ 1 Grundlegend Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, Kap. 6 Tz. 46 ff. 2 Zum Ausdruck kommt dies etwa in der Figur der einheitlichen Stelle nach §§ 71a ff. VwVfG. 3 Zum Ausdruck kommt dies etwa in der Figur der Public Private Partnership.
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immer stärker von der Erkenntnis abgelöst, dass das Verfahren Eigenwert besitzt.4 Schließlich ist auch ein Wandel bei der Anerkennung von Verfahrenszielen zu konstatieren: Insbesondere die Stärkung der Informationsfunktion und der Akzeptanzfunktion verkörpern hier geradezu sinnbildhaft die Stärkung kooperativer Elemente.5 2. Grenzen des Verständniswandels Allerdings unterliegt dieser Verständniswandel notwendigerweise auch Grenzen. So ist zunächst hinzuweisen auf den hoheitlichen Pflichtbestand der Verwaltung, wie er etwa in der Bestimmung des Art. 33 Abs. 4 GG oder aber auch in den allgemeinen Grenzen der Privatisierung zum Ausdruck kommt.6 Zudem mag das Verfahren unzweifelhaft einen Eigenwert besitzen; die Anerkennung eines reinen Selbstzweckes wäre jedoch überzogen.7 Skepsis ist insbesondere angebracht bei der Anerkennung „absoluter Verfahrensrechte“, deren Verletzung alleine die Aufhebung der Sachentscheidung nach sich zöge.8 Schließlich darf nicht verkannt werden, dass kooperationsfreundlichen Verfahrenszielen auch solche gegenüberstehen, die in einem Spannungsverhältnis zu einem allzu hohen Maß an Kooperation stehen können; hierzu zählt insbesondere das Postulat der Effizienz.9
II. Ausgangspunkt: Unterscheidung zwischen imperativen und kooperativen Verfahren Im dogmatischen Ausgangspunkt ist zu unterscheiden zwischen imperativen Verwaltungsverfahren und kooperativen Verwaltungsverfahren. Diese Unterscheidung ist auch in § 9 VwVfG angelegt mit der Unterscheidung zwischen Verwaltungsvertrags- und Verwaltungsaktsverfahren: Das Verwaltungsvertragsverfahren ist grundsätzlich als kooperatives Verwaltungsverfahren ausgestaltet, Verwaltungsaktsverfahren als grundsätzlich imperatives Verfahren. Im Folgenden sollen wechselseitige interpretative Annäherungen zwischen diesen beiden Grundmodellen analysiert werden. ___________ 4 Zusammenfassend Friedhelm Hufen/Thorsten Siegel, Fehler im Verwaltungsverfahren, 5. Aufl. 2013, Rn. 31 ff. 5 Zu diesen beiden Verfahrenszielen Thorsten Siegel, Entscheidungsfindung im Verwaltungsverbund, 2009, S. 55 ff. und S. 78 ff. 6 Zu diesen Grenzen Jan Ziekow, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2013, § 8 Rn. 11 ff. 7 Siegel (Fn. 5), S. 25. 8 Hufen/Siegel (Fn. 4), Rn. 46. 9 Siegel (Fn. 5), S. 68 f.
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III. Imperative Elemente in kooperativen Verfahren 1. Am Beispiel des Verwaltungsvertragsverfahrens Da der Verwaltungsvertrag als solches ein kooperatives Element verkörpert, ist geradezu notwendigerweise auch das Verwaltungsvertragsverfahren kooperativ ausgestaltet. Gleichwohl sind auch insoweit imperative Elemente festzustellen. Dies gilt insbesondere für subordinationsrechtliche Verträge mit dem für sie spezifischen Merkmal eines Über-/Unterordnungsverhältnisses.10 Diese imperativen Elemente sind aber nicht institutionalisiert, sondern ergeben sich gerade aus dem „Machtgefälle“ zwischen Übergeordnetem und Untergeordnetem. In Reaktion darauf hat der Gesetzgeber Schutzmechanismen in die Bestimmungen der §§ 54 ff. VwVfG integriert, die einer allzu starken Ausgestaltung imperativer Elemente Grenzen setzen. Dies gilt insbesondere für die Anforderungen an subordinationsrechtliche Austauschverträge nach § 56 VwVfG, nach dessen Abs. 1 S. 2 die Gegenleistung angemessen sein und in sachlichem Zusammenhang mit der Leistung stehen muss.11 2. Teilweise Hinwendung zu imperativen Elementen in der Praxis Trotz des eingangs dargelegten gewandelten Verwaltungsverständnisses ist zudem auch in der Praxis eine teilweise Hinwendung zu imperativen Elementen festzustellen. Zu beobachten war dies etwa im Zusammenhang mit einem Modellversuch zum Vergaberecht in Nordrhein-Westfalen. Im diesem wurden Modellkommunen Befreiungen von bestimmten verfahrensrechtlichen Anforderungen erteilt, unter anderem vom Nachverhandlungsverbot. Das überwiegend privatrechtlich verfasste Vergabeverfahren ist zwar weder als Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG noch im Sinne des § 1 VwVfG einzustufen, kann jedoch als Verwaltungsverfahren im weitesten (formellen) Sinne definiert werden.12 Dabei bilden auch (Nach-)Verhandlungen ebenso wie Verträge ein klassisches kooperatives Element. Allerdings sind Nachverhandlungen grundsätzlich unzulässig, da sie letztlich auch ein Einlasstor für Intransparenzen bilden und eine „Achillesferse“ für eine etwaige Korruptionsanfälligkeit des Vergaberechts. Ziel der Befreiungen war es, die ausgeschriebene Leistung unter Einbeziehung ___________ 10 Zum Wesen dieser subordinationsrechtlichen Verträge unter gleichzeitiger Abgrenzung von sonstigen öffentlich-rechtlichen Verträgen Jan Ziekow, VwVfG, 3. Aufl. 2013, § 54 Rn. 26 ff. 11 Hierzu etwa Ziekow (Fn. 10), § 56 Rn. 10 ff. 12 Hufen/Siegel (Fn. 4), Rn. 47 f.
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der Qualität und des Preises zu optimieren.13 Die Evaluation des Modellversuchs durch das (Deutsche) Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung hat allerdings ergeben, dass im Ergebnis eine starke Fokussierung auf den Preisnachlass stattfand.14 Eine solche Entwicklung kann letztlich als „faktische Hinwendung zu imperativen Elementen“ bezeichnet werden. Aufgrund der Evaluation wurde der Modellversuch weder fortgesetzt noch ausgeweitet.
IV. Kooperative Elemente in imperativen Verfahren Im Mittelpunkt des Beitrags sollen jedoch kooperative Elemente in imperativen Verfahren stehen, insbesondere das Anhörungsrecht nach § 28 VwVfG und die Informationsgewinnung. Dabei kann zwischen vier Stufen unterschieden werden: Die erste Stufe bildet die Auslegung kooperativer Elemente, eng verwoben mit der zweiten Stufe, der Ausgestaltung kooperativer Elemente in der Praxis. Als dritte Stufe ist die Ausweitung kooperativer Elemente durch den Gesetzgeber zu benennen, die insbesondere in der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 25 Abs. 3 VwVfG zu Ausdruck kommt. Die vierte und letzte Stufe verkörpert die Verselbständigung kooperativer Elemente. Auf jeder Stufe wird zugleich auch auf die Grenzen kooperativer Elemente im Verwaltungsverfahren eingegangen. 1. Auslegung kooperativer Verfahrenselemente a) Anwendungsbereich des § 28 VwVfG Schon lange ist eine Abkehr von rein imperativen Verfahren zu beobachten unter gleichzeitiger Anerkennung kooperativer Verfahrensrechte durch den Gesetzgeber. Dies gilt insbesondere für das Anhörungsrecht Betroffener nach § 28 VwVfG.15 Zwar ist das Anhörungsrecht nach dem Wortlaut § 28 Abs. 1 VwVfG auf eingreifende Verwaltungsakte beschränkt. Allerdings erweist sich die exakte Abgrenzung Eingriffsverwaltung und Leistungsverwaltung bisweilen als diffizil. So korrespondiert mit der formellen Begünstigung einer Baugenehmigung die grundrechtliche Wertung, dass das normative Genehmigungserfordernis einen Eingriff in die von Art. 14 GG auch geschützte Baufreiheit verkörpert, der mit der Genehmigungserteilung wieder beseitigt wird. Unabhängig davon darf die ___________ 13
S. 13. 14
Zur Konzeption Ziekow/Siegel, Flexibilisierung des Vergabeverfahrens?, 2007,
Ziekow/Siegel (Fn. 13), S. 40 ff. Hierzu etwa Annette Guckelberger, Anhörungsfehler bei Verwaltungsakten, JuS 2011, S. 577 ff. 15
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wichtige Ergänzungsfunktion des § 28 VwVfG zum Gebot rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht übersehen werden, welche gerade nicht zwischen eingreifenden und leistenden Maßnahmen differenziert.16 Daher ist die allgemeine Beschränkung auf Eingriffsverwaltungsakte nicht (mehr) gerechtfertigt.17 b) Grundsätzliches Erfordernis einer weiten Auslegung des Anhörungsrechts Aber auch ansonsten besteht ein grundsätzliches Gebot einer weiten Auslegung des Anhörungsrechts. So beschränkt sich das Anhörungsrecht nach § 28 Abs. 1 VwVfG auf „erhebliche“ Tatsachen. Der Begriff der Erheblichkeit ist jedoch weit auszulegen, eine „Unerheblichkeit“ nur bei Ausschluss einer Auswirkung auf die Entscheidung anzuerkennen.18 Umgekehrt sind die in § 28 Abs. 2 und 3 VwVfG normierten Ausnahmetatbestände eng auszulegen.19 c) Aber: systematische Begrenzung auf Betroffene im engeren Sinne Andererseits gilt es, die systematischen Grenzen des Anhörungsrechts nach § 28 VwVfG zu beachten. Dies betrifft insbesondere den persönlichen Anwendungsbereich. Denn die Vorschrift knüpft an den Begriff des Beteiligten nach § 13 VwVfG an mit dem dort in Abs. 2 S. 1 normierten Schlüsselmerkmal der Betroffenheit in rechtlichen Interessen. Die Betroffenheit in rechtlichen Interessen kann auch als Betroffenheit im engeren Sinne definiert werden. Sie ist zugleich abzugrenzen von einer Betroffenheit im weiteren Sinne, welche die Betroffenheit (lediglich) in eigenen Belangen und damit zugleich nicht nur rechtlich geschützten umschreibt. Relevant wird diese Unterscheidung im Zusammenhang mit der Einwendungsbefugnis im Planfeststellungsverfahren nach § 73 Abs. 4 VwVfG: So haben die (lediglich) Betroffenen im weiteren Sinne nicht auch das Anhörungsrecht nach § 28 VwVfG, sondern lediglich die Verfahrensrechte des Planfeststellungsrechts nach § 73 VwVfG.20
___________ 16 17 18 19 20
Hierzu Helge Sodan, in: derselbe, Grundgesetz, 2. Aufl. 2011, Art. 103 Rn. 1. Eingehend Hufen/Siegel (Fn. 4), Rn. 287 ff. Hufen/Siegel (Fn. 4), Rn. 299 f. Hufen/Siegel (Fn. 4), Rn. 304 ff. Hierzu Ziekow (Fn. 10), § 73 Rn. 42 ff.
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2. Ausgestaltung kooperativer Verfahrenselemente a) Erfordernis effektiver Anhörung Aber auch bei der eng mit der Auslegung verwobenen praktischen Ausgestaltung der Beteiligungsrechte ist eine zunehmende Stärkung kooperativer Elemente zu beobachten. Denn Beteiligungsrechte sind keine bloße „Formalität“, und das Verwaltungsverfahren darf nicht zu einem „Absegnungsritual“ einer bereits feststehenden Entscheidung verkommen. Insbesondere besteht ein Erfordernis substantieller Anhörung21, das zugleich Ausdruck der eingangs beschriebenen Aufwertung des Verfahrensgedankens ist. Insbesondere ist eine Anhörung nur dann effektiv, wenn sie rechtzeitig erfolgt. b) Wesentlichkeitsvorbehalt? Allerdings stellt sich auch hier die Frage nach einer Kehrseite des Effektivitätsgebots. Zwar wäre es verfehlt, die Anhörung von vornherein zu beschränken auf „wesentliche“ Aspekte. Denn ein etwaige „Wesentlichkeit“ wird oftmals erst im Verfahren erkennbar, und es ist ja gerade ein zentraler Verfahrenszweck, Wesentliches zu ermitteln. Hiervon zu unterscheiden sind jedoch die möglichen Folgen einer unzureichenden Beteiligung. Hier stellt sich die Frage, ob bei jeglicher Verletzung von Verfahrensrechten ein erfolgreicher Angriff auf die Sachentscheidung möglich sein soll. Würde man dies akzeptieren, so käme dies letztlich einer Anerkennung absoluter Verfahrensrechte gleich.22 Blickt man auf das gewandelte Verfahrensverständnis zurück, so weist das Verfahren zwar nicht mehr nur eine dienende Funktion gegenüber der materiellen Entscheidung auf, sondern verkörpert einen gewissen Eigenwert. Allerdings besitzt auch das Verfahren keinen reinen Selbstzweck. Deshalb wäre es unangemessen, bei jeglichem, auch noch so geringem Verstoß gegen Beteiligungsrechte einen erfolgreichen Angriff auf die Sachentscheidung zu ermöglichen. Dies gilt insbesondere bei Planfeststellungsverfahren, die sich durch ein komplexes Interessengeflecht und komplexes Verfahrensgefüge auszeichnen. Der nationale Gesetzgeber hat sich dieser Thematik in der Regelung des § 46 VwVfG angenommen. Danach kann die Aufhebung einer Sachentscheidung nicht aufgrund eines Form- oder Verfahrensfehlers beansprucht werden, wenn dieser offensichtlich keinen Einfluss auf die Sachentscheidung hatte. Allerdings stellt sich die Frage einer Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Unionsrecht. Deshalb hat das Bundesverwaltungsgericht ___________ 21
Hufen/Siegel (Fn. 4), Rn. 292 f. Gegen die Anerkennung absoluter Verfahrensrechte trotz grundsätzlicher Verfahrensfreundlichkeit auch Steinberg/Wickel/Müller, Fachplanung, 4. Aufl. 2012, § 6 Rn. 16. 22
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im Jahre 2012 eine entsprechende Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof gerichtet.23 3. Ausweitung kooperativer Verfahrenselemente a) Ausweitung in besonderen Verwaltungsverfahren Die dritte Stufe bildet die Ausweitung kooperativer Elemente durch den Gesetzgeber. Eine solche Ausweitung ist vornehmlich in den besonderen Verwaltungsverfahren des VwVfG zu beobachten, die neben das Verwaltungsverfahren nach §§ 9 ff. VwVfG als „Grundmodell“ treten. So zeichnet sich etwa das der Umsetzung der europäischen Dienstleistungsrichtlinie dienende Verfahren über die einheitliche Stelle nach §§ 71a ff. VwVfG24 auch durch die in § 71c VwVfG normierten Informationspflichten aus. Im Unterschied zu den allgemeinen Beratungspflichten nach § 25 VwVfG verlangt § 71c Abs. 1 S. 1 VwVfG ausdrücklich ein Hinweis auf Verfahrensrechte. Andererseits sind aber auch die Hinweispflichten nach § 71c VwVfG nicht grenzenlos; insbesondere statuieren auch sie keine Pflicht zur individuellen Rechtsberatung.25 b) Insbesondere: frühe Öffentlichkeitsbeteiligung Eine Ausweitung kooperativer Elemente durch den Gesetzgeber bildet auch die im Jahre 2013 eingeführte Neuregelung zur frühen Öffentlichkeitsbeteiligung in § 25 Abs. 3 VwVfG.26 Den zentralen Anwendungsfall für diese Bestimmung, die im Wesentlichen eine Folge des Bauvorhabens „Stuttgart 21“ bildet, sind komplexe Planfeststellungsverfahren; gleichwohl ist sie außerhalb der Vorschriften zum Planfeststellungsverfahren angesiedelt und daher auch in sonstigen Verwaltungsverfahren anwendbar, sofern die Merkmale der nicht unwesentlichen Auswirkungen auf die Belange einer größeren Anzahl Dritter erfüllt sind.27 Im Ausgangpunkt ist diese Neuregelung sicherlich zu begrüßen. Insbesondere bildet ___________ 23 BVerwG, NVwZ 2012, 448 ff. Bewertung bei Siegel, DÖV 2012, 709 (714 f.) m.w.N. Unmittelbar nach der Tagung hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 7.11.2013 – wie nicht unbedingt zu erwarten war – ein Kausalitätskriterium im Grundsatz anerkannt, jedoch zugleich eine restriktive Auslegung des Kriteriums verlangt; EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – Rs. C 72/12, Rn. 52 ff. – Rheinpolder Altrip. 24 Zur Umsetzung grundlegend Ziekow/Windoffer (Hrsg.), Ein Einheitlicher Ansprechpartner für Dienstleister, 2007. 25 Hierzu etwa Ziekow (Fn. 10), § 71c Rn. 2 und 3. 26 Hierzu etwa Heribert Schmitz/Lorenz Prell, Planungsvereinheitlichungsgesetz, NVwZ 2013, 745 ff. 27 Hierzu Ziekow (Fn. 10), § 25 Rn. 26 f.
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sie konsequente Folge aus dem eingangs dargelegten Verständniswandel. Insbesondere ist eine möglichst frühe Beteiligung eine sachgerechte Ableitung aus dem Gebot effektiver Beteiligung. Andererseits sind aber auch kritische Aspekte festzustellen, die in der gegenwärtigen Diskussion nur selten artikuliert worden sind: So stellt sich auch hier die Frage, ob eine Akzeptanz im Sinne einer „Annahme“ der Entscheidung Verfahrensziel ist oder lediglich – richtigerweise – eine Akzeptabilität im Sinne eine Hinnehmbarkeit.28 Zudem birgt eine allzu frühe Beteiligung auch das Risiko eines Substanzverlustes in sich, da in diesem Stadium oftmals sehr abstrakte Fragen erörtert werden.29 Weiterhin stellt sich die Frage der genauen Reichweite der beteiligungsberechtigten „betroffenen Öffentlichkeit.30 Schließlich darf (auch) durch eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung die Entscheidungsverantwortung der Administrative nicht abgewälzt werden. 4. Verselbständigung kooperativer Verfahrenselemente Die gleichsam intensivste Stufe einer Stärkung kooperativer Elemente bildet die Verselbständigung kooperativer Verfahrenselemente. So fungiert die Informationsgewinnung im Ausgangspunkt als „Nebenzweck“ im Verfahren. Dies gilt etwa für das Akteneinsichtsrecht nach § 39 VwVfG.31 Aufgrund dieses Nebenzwecks können solche Informationsrechte auch als akzessorisch bezeichnet werden. Allerdings ist eine zunehmende Tendenz zur Verselbständigung der Informationsgewinnung zu beobachten, die teilweise auf unionsrechtlichen Vorgaben beruht. Neben den besonderen Bereichen der Verbraucherinformationen und Umweltinformation sind hier insbesondere die Informationsfreiheitsgesetze des Bundes und der Länder zu nennen.32 Auch diese Entwicklung ist im Ausgangspunkt zu begrüßen, da das Ziel der Informationsgewinnung einen Eckpfeiler im gewandelten Verständnis der Verfahrensziele bildet. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Entwicklung zur Verselbständigung mittlerweile nicht allzu weit vorangeschritten ist. Denn dies hat zur Herausbildung eines besonderen Informationsverfahrensrechts geführt und damit zugleich zu einer (partiellen) Entwertung des VwVfG als zentralem Verfahrensgesetz.33 De lege ferenda wäre daher eine Integration des Informationsverfahrensrechts in das VwVfG zu wünschen. ___________ 28
Zu dieser Unterscheidung Siegel (Fn. 5), S. 78 ff. Zur Beteiligung Vorstufen zu eigentlichen Zulassungsverfahren de lege lata und ferenda Jan Ziekow, Neue Formen der Bürgerbeteiligung?, 2012, S. D 89 ff. 30 Zur Ausweitung auf Gemeinden und Privatpersonen, die als Eigentümer oder Nutzer von Grundstücken betroffen sind, EuGH, Urt. vom 7.11.2013 – Rs. C 72/12, Rn. 16, 43 ff. – Rheinpolder Altrip. 31 Hierzu etwa Johannes Saurer, Die Begründung im deutschen, europäischen und US-amerikanischen Verwaltungsrecht, VerwArch 100 (2009), S. 364 ff. 32 Hierzu jüngst etwa Friedrich Schoch, Aktuelle Entwicklungen im Informationsfreiheitsrecht nach dem IFG des Bundes, NVwZ 2013, 1033 ff. 33 Hierzu Hufen/Siegel (Fn. 4), Vorwort und Rn. 71 ff. 29
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V. Fazit Der Gegensatz zwischen imperativen und kooperativen Verfahren erweist sich bei genauerer Betrachtung lediglich als teilweise auflösbar; denn es bestehen viele wechselseitige interpretative Annäherungen zwischen beiden Grundtypen. Neben imperativen Elementen in kooperativen Verfahren zeichnen sich im Ausgangspunkt imperative Verfahren zunehmend durch kooperative Elemente aus. Stufen dieser Entwicklung sind die Auslegung und Ausgestaltung kooperativer Verfahrenselemente, ihre Ausweitung durch den Gesetzgeber und schließlich ihre Verselbständigung. Diese Entwicklung ist zwar grundsätzlich zu begrüßen als Ausdruck des eingangs dargelegten Verständniswandels; allerdings müssen gerade bei der Ausweitung sowie der Verselbständigung auch die Grenzen einer solchen Ausweitung sachgerecht ausgelotet werden.
Normung, Zertifizierung und Akkreditierung im unionsrechtlich geprägten Produktsicherheitsrecht: Ein Paradigmenwechsel im gewährleistungsstaatlichen Überwachungsregime Von Shwu-Fann Liou
I. Genese eines innovativen, verantwortungsteilenden gefahrenabwehrrechtlichen Systems der Produktsicherheit im Rahmen der europäischen Binnenmarktintegration Der moderne freiheitliche Rechtsstaat ist verpflichtet, die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter der Bürger vor Übergriffen privater Dritter zu schützen und die Gefahr von Rechtsgutsverletzungen abzuwenden. Diese Gewährleistung resultiert aus den grundrechtlichen Schutzpflichten.1 Für den Staat erwächst daraus die Legitimation, insbesondere über den Weg der Gesetzgebung ein umfassendes System nationaler Überwachungsaufgaben und -instrumente gegenüber Privaten auf- und auszubauen.2 Traditionelle staatliche Überwachungsaufgaben ___________
In Huldigung an den Kaiser- und Mariendom zu Speyer. Die Pflicht des Staates zum Schutz der Individualrechtsgüter ist auf Grund der neueren deutschen verfassungsrechtlichen Dogmatik fest in den Grundrechten verankert. Die heute ausgefeilte Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten lässt sich auf das epochale Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurückführen, in der das Gericht die Grundrechte als objektive Wertordnung bezeichnet und ihre objektiv-rechtliche Dimension hervorgehoben hat, vgl. systematisch und ausführlich zur grundrechtlichen Schutzpflicht Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 3. Aufl., Heidelberg 2011, § 191, Rn. 1 ff., 146 ff. Über die Bundesrepublik Deutschland hinaus findet die grundrechtliche bzw. grundfreiheitliche Schutzpflicht auch in der Rechtspraxis des europäischen Unionsrechts und der Europäischen Menschenrechtskonvention ihre Anerkennung, vgl. hierzu Winfried Kluth, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl., München 2011, Art. 56/57 AEUV, Rn. 50; Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl., München u.a. 2012, § 19, Rn. 3 ff. 2 Dem Begriff „Überwachung“ fehlt es trotz wissenschaftlicher Bemühungen immer noch an festen Konturen und der synonyme Gebrauch von Aufsicht, Kontrolle und Überwachung ist selbst in der neueren Literatur keine Seltenheit. Der Begriff der Aufsicht wird vor allem im Verhältnis des Staates zu Privaten verwendet, so etwa unter der Bezeichnung 1
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sind im Bereich von Gewerbe und Wirtschaft anzutreffen. Sie zielen auf die Abwehr der von der wirtschaftlichen Betätigung ausgehenden Gefahren. Angesichts der Entwicklung von Wissenschaft und Technik seit Beginn der 1970er Jahre ist der Staat unter dem Aspekt der Vorsorge zunehmend gezwungen, die Überwachung auf den Bereich der Abwehr möglicher neuartiger , aber ungewisser Risiken auszudehnen. Vor allem findet die der Risikovorsorge dienende staatliche Überwachung ihren gesetzlichen Niederschlag im Umwelt- und Technikrecht. Neben die klassischen hoheitlich-imperativen Instrumente der Ordnungsverwaltung entsteht dadurch eine Instrumentenvielfalt, in der gemäß dem Gedanken der Verantwortungsteilung eine kooperative Steuerung von Staat und Privaten im Vordergrund steht. Dadurch soll wachsenden gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnissen Rechnung getragen werden.3 Die Liberalisierung und Privatisierung
___________ als Wirtschaftsaufsicht oder Staatsaufsicht über die Wirtschaft. Dieser weite Aufsichtsbegriff und die damit verbundene begriffliche Gleichsetzung privater und öffentlicher Sektoren wird in der Literatur zunehmend kritisiert: Die mangelnde Differenzierung sei ein historisches Relikt und verstelle den Blick auf rechtsfolgenerhebliche Unterschiede zwischen beiden Sektoren. Unter dem Oberbegriff „Kontrolle“ vollzieht sich eine präzise terminologische Dichotomie. „Überwachung“ ist Freiheitskorrelat und erfasst jede staatliche Kontrolle privater Teilnehmer am Rechts- und Wirtschaftsverkehr, wohingegen „Aufsicht“ Verwaltungs- und Selbstverwaltungskorrelat ist, sich daher auf den Bereich der öffentlichen Hand beschränkt. Darüber hinaus ist eine deutliche Tendenz in der modernen deutschen Gesetzgebung erkennbar: Der Begriff der Überwachung statt der Aufsicht wird grundsätzlich (eine Ausnahme bildet das Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz) im Zusammenhang mit der Kontrolle von freiheitsberechtigten Privaten benutzt. Dieser klaren begrifflichen Zweiteilung ist zuzustimmen, sie wird dem vorliegenden Beitrag zugrunde gelegt. Vgl. stellvertretend zur begrifflichen Abgrenzung von Überwachung und Aufsicht Rolf Gröschner, „Aufsicht“ und „Überwachung“ im öffentlichen Wirtschaftsrecht: zwei Wörter für einen Begriff?, in: Winfried Kluth/Martin Müller/Andreas Peilert (Hrsg.), Wirtschaft – Verwaltung – Recht, Festschrift für Rolf Stober zum 65. Geburtstag, Köln 2008, S. 509 ff.; Rolf Stober, Zur Entwicklung des Wirtschaftsüberwachungsrechts: Ein Rechtsgebiet zwischen Gefahrenabwehr, Risikobewältigung, Regulierung und unternehmerischer Eigenverantwortung, in: Peter Baumeister/Wolfgang Roth/Josef Ruthig (Hrsg.), Staat, Verwaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke zum 70. Geburtstag, Berlin 2011, S. 1291 (1293 ff.); Peter M. Huber, Überwachung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2. Aufl., München 2013, § 45, Rn. 11 ff.; siehe auch Foroud Shirvani, Amtshaftung und Wirtschaftsüberwachung durch Private, Die Verwaltung 47 (2014), S. 57 (57 mit Fn. 1). 3 Vgl. umfassend zu den Grundmodi und Instrumenten der Aufgabenwahrnehmung Helmuth Schulze-Fielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl., München 2012, § 12; ferner von einem umfassenden Regulierungsbegriff ausgehend Martin Eifert, Regulierungsstrategien, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl., München 2012, § 19.
Normung, Zertifizierung und Akkreditierung im Produktsicherheitsrecht
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sowie der kontinuierlich fortschreitende Europäisierungsprozess4 führen schließlich zum Rückzug des Staates nicht nur aus einer gewissen Erfüllungsverantwortung im Bereich der Daseinsvorsorge, sondern auch aus bestimmten hoheitlichen Überwachungsaufgaben. Den nun privaten Akteuren neu auferlegten öffentlichrechtlichen Pflichten steht eine komplexe staatliche Gewährleistungsverwaltung5 und damit einhergehend eine „Gewährleistungsüberwachung“6 gegenüber. Eine ___________ 4
Entwicklungsgeschichtlich lässt sich der tiefgreifende Prozess der Europäisierung des nationalen Verwaltungsrechts allgemein in drei Hauptphasen einteilen. Die dritte Phase, in deren Vordergrund eine umfangreiche Verflechtung der Rechtsordnungen steht, ist „gekennzeichnet durch den Übergang vom Mehrebenensystem zum gegenwärtig vorherrschenden Paradigma des Verwaltungsverbundes“. Siehe dazu Wolfgang Kahl, Entwicklung des Rechts der Europäischen Union und der Rechtsprechung des EuGH, in: Hermann Hill/Karl-Peter Sommermann/Ulrich Stelkens/Jan Ziekow (Hrsg.), 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz – Bilanz und Perspektiven, Vorträge der 74. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 9. bis 11. Februar 2011 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 2011, S. 111 (111); weiterführend zum Begriff der Europäisierung des Verwaltungsrechts Thorsten Siegel, Europäisierung als Rechtsbegriff, JöR N.F. 61 (2013), S. 177 ff. Um dem Kohärenzbedürfnis bei der Durchsetzung des Unionsrechts durch organisatorisch getrennte mitgliedstaatliche Verwaltungen zu genügen, bildet sich immer dichter „ein Informations-, Handlungs- und Kontrollverbund gemeinschaftlicher und mitgliedstaatlicher Verwaltungsinstanzen“ heraus, der als „Europäischer Verwaltungsverbund“ bezeichnet wird. Dieser maßgeblich von Eberhard Schmidt-Aßmann geprägte Begriff beschreibt metaphorisch im funktionellen Sinne die auf dem Kooperationsprinzip aufbauende europäische Verwaltungsordnung, siehe grundlegend dazu Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., Berlin 2006, 1. Kap., Rn. 61, 63, 7. Kap., Rn. 6, 10 f. Im Europäischen Verwaltungsverbund vollziehen sich die Verwaltungsverflechtungen in unterschiedlicher Intensität, wofür das Produktsicherheitsrecht eine spezifische Verbundstruktur bietet, vgl. zu den Grundstrukturen des Europäischen Verwaltungsverbundes Hans Christian Röhl, Ausgewählte Verwaltungsverfahren, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/ Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl., München 2012, § 30, Rn. 50 ff. 5 Vgl. grundlegend zur Herausbildung des Gewährleistungsverwaltungsrechts Andreas Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 266 (307 ff.); zum Leitbild des Gewährleistungsstaates Claudio Franzius, Der Gewährleistungsstaat, VerwArch. 99 (2008), S. 351 (351 ff.); Matthias Knauff, Gewährleistungsstaatlichkeit in Krisenzeiten: Der Gewährleistungsstaat in der Krise?, DÖV 2009, S. 581 (581 f.). 6 s. zum Begriff „Gewährleistungsüberwachung“ Peter M. Huber, Überwachung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, München 2009, § 45, Rn. 65; Stober (Fn. 2), S. 1292 f., dort wird der Akzent des Begriffs „Gewährleistungsüberwachung“ auf eine vornehmlich marktoptimierende „Regulierungsüberwachung“ gesetzt. Gunnar Folke Schuppert, Staatsaufsicht im Wandel, DÖV 1998, S. 831 (834 ff.), stellt bei der Entwicklung einer Aufsichtstypologie die „Gewährleistungsaufsicht“ zwischen die verwaltungsinterne Staatsaufsicht einerseits und die verwaltungsexterne Wirtschaftsaufsicht andererseits und unterscheidet dabei wiederum zwischen „Regulierungsaufsicht“ als Konsequenz des Aufgabentransfers durch Privatisierung einerseits und „Überwachungsaufsicht“ als Konsequenz des Übergangs von der Fremd- zur Eigenüberwachung andererseits; ähnlich auch Franzius (Fn. 5), S. 375 ff.
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besondere Ausprägung findet diese neue staatliche Überwachungsdimension insbesondere im Produktsicherheitsrecht. Das Produktsicherheitsrecht, das sich als präventiv ausgerichtetes öffentlichrechtliches Gefahrenabwehrrecht darstellt,7 umfasst die Überwachung sowohl des Marktzutritts von Produkten (pre-market assessment, Vormarktkontrolle) wie auch der in den Verkehr gebrachten Produkte (post-market surveillance, Nachmarktkontrolle oder sog. Marktüberwachung). Der vorliegende Beitrag setzt sich lediglich mit der Vormarktkontrolle näher auseinander. Für verschiedene Produktkategorien gelten verschiedene Marktzugangsbedingungen. Herkömmlicherweise bestehen zwei Ansätze zur Vermarktung von Produkten auf nationaler Ebene: zum einen durch freien Marktzutritt, etwa grundsätzlich bei Lebensmitteln,8 zum anderen durch behördliche Zulassung, etwa von Arzneimitteln9, Pflanzenschutzmitteln10 oder seit kurzem allgemein von Chemikalien.11 ___________ 7 Vgl. zur rechtlichen Einordnung des Produktsicherheitsrechts und zu seinem Verhältnis zum Schadensregulierung und -kompensation bezweckenden zivilrechtlichen Produkthaftungsrecht Florian Schumann, Bauelemente des europäischen Produktsicherheitsrechts: Gefahrenabwehr durch Zusammenwirken von Europäischer Gemeinschaft, Mitgliedsstaaten und Privaten, Baden-Baden 2007, S. 25 ff.; ausführlich dazu Holger Tobias Weiß, Die rechtliche Gewährleistung der Produktsicherheit, Baden-Baden 2008, S. 518 ff. An dieser Stelle wird auf eine im neueren Wirtschafts- und Umweltrecht häufig anzutreffende begriffliche Differenzierung zwischen Gefahrenabwehr, Gefahrenvorsorge und Risikovorsorge verzichtet. Vgl. zum Paradigmenwechsel von der Gefahrenabwehr zur Risikovorsorge und zum Wandel des Gefahrenbegriffs im modernen Gefahrenabwehrrecht Udo Di Fabio, Gefahr, Vorsorge, Risiko: Die Gefahrenabwehr unter dem Einfluss des Vorsorgeprinzips, Jura 1996, S. 566 ff.; Michael Johannes Pils, Zum Wandel des Gefahrenbegriffs im Polizeirecht – Oder: Wie viele Körner bilden einen Haufen?, DÖV 2008, S. 941 ff. 8 Vgl. Moritz Hagenmeyer/Tobias Teufer, in: Manfred A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, C. IV., Stand: 20. EL November 2006, Rn. 96. Allerdings ist auf Grund der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 ein einheitliches europäisches Zulassungsverfahren für genetisch veränderte Lebensmittel eingeführt worden. Darüber hinaus haben zahlreiche Lebensmittelskandale in den vergangenen Jahrzehnten die EG bzw. EU zur Einrichtung von Lebensmittelsicherheitskontrollen, -systemen und -gesetzgebung veranlasst, vgl. hierzu nur http://www.eufic.org/article/de/lebensmittel-sicherheit-qualitat/lebensmittelverunreinigung/artid/Lebensmittelkontrollen-Europaeisc-hen-Union/(Stand: August 2014). 9 Für Arzneimittel gilt auf Grund der Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 (heute Verordnung [EG] Nr. 726/2004) seit 1. 1. 1995 – teils zwingend, teils wahlweise – ein europäisches zentrales Zulassungssystem, vgl. hierzu Andreas Fleischfresser, in: Stefan Fuhrmann/Bodo Klein/Andreas Fleischfresser (Hrsg.), Arzneimittelrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2014, § 3, Rn. 11 ff. 10 Vgl. Joachim Scherer/Sebastian Heselhaus, in: Manfred A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, O., Stand: 26. EL Juni 2010, Rn. 534. 11 Auf Grund der REACH-Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 und CLP-Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 gilt ein neues europäisches Zulassungsverfahren für chemische Stoffe, vgl. zum REACH-Zulassungsverfahren Andreas Hermann/Jan Boris Ingerowski, in: Martin Führ (Hrsg.), Praxishandbuch REACH, Köln 2011, Kap. 15.
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Neben beide Ansätze rückt – infolge von regionalen oder internationalen Impulsen – das aus Zertifizierung und Akkreditierung bestehende Konformitätsbewertungssystem als mäßiges und alternatives Überwachungsinstrument zum Produktzugang allmählich in den Mittelpunkt. Hierbei tritt – unter Beibehaltung materieller Sicherheitsanforderungen – an die Stelle eines präventiven Verbots mit Erlaubnisvorbehalt12 ein umfassendes System betrieblicher Eigenüberwachung bzw. Fremdüberwachung durch staatlich akkreditierte Dritte. Das Konformitätsbewertungssystem für das Inverkehrbringen von Produkten in der Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union ist bisher maßgeblich durch das sekundäre Gemeinschaftsrecht geprägt. Während das Gemeinschaftsrecht ursprünglich in erster Linie auf die Verwirklichung eines gemeinsamen Binnenmarktes abzielte, setzt es nunmehr immer stärker auf eine balancierte Entfaltung sowohl des Binnenmarktes als auch des Produktsicherheitsrechts. Dies lässt sich mit der primärrechtlichen Verpflichtung der Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union erklären, Gesundheit, Sicherheit, Umwelt und Verbraucher zu schützen.13 Somit ist die Europäische Gemeinschaft bzw. Europäische Union die erste hoheitliche Organisation, die den ursprünglich auf Freiwilligkeit basierenden Zertifizierungs- und Akkreditierungsmechanismus im Produktbereich immer mehr durch einen normativ durchdrungenen supranationalen gemeinsamen Rechtsrahmen ersetzt hat. Den Mitgliedstaaten verbleibt nur noch ein geringer eigener Gestaltungsspielraum. Die europäische Entwicklungslinie lässt sich in drei Stufen einteilen. Die Anfangsphase bildete das sog. Neue Konzept („New Approach“)14 aus dem Jahre 1985. In Abkehr vom alten, unrealistischen Ansatz der Detailharmonisierung führte nunmehr die Europäische Gemeinschaft eine neue Strategie für die zukünftige Richtliniengebung ein: geregelt wurden nur noch grundlegende Sicher___________ 12 Ulrich Stelkens, Europäisches Verwaltungsrecht, Europäisierung des Verwaltungsrechts und Internationales Verwaltungsrecht, in: Paul Stelkens/Heinz Joachim Bonk/Michael Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 8. Aufl., München 2014, Rn. 227. 13 Siehe nun etwa Art. 4 II f) und k), 9, 12, 36, 114, 168, 169 sowie 191 AEUV. Anders als die in Art. 36 S. 1 AEUV vorgesehene „öffentliche Sicherheit“ meint der Begriff „Sicherheit“ i.S.d. Art. 114 Abs. 3 AEUV die technische Sicherheit von Produkten und Dienstleistungen, vgl. Wolfgang Kahl, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl., München 2011, Art. 114 AEUV, Rn. 36. Siehe auch zum Art. 114 Abs. 3 AEUV die Darstellung unter II. 3. 14 Die deutsche Terminologie für „New Approach“ ist nicht einheitlich. Außer dem „Neuen Konzept“ wird auch die „Neue Konzeption“ verwendet, vgl. Hans Christian Röhl, Konformitätsbewertung im Europäischen Produktsicherheitsrecht, in: Eberhard SchmidtAßmann/Bettina Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund – Formen und Verfahren der Verwaltungszusammenarbeit in der EU, Tübingen 2005, S. 153 (154 mit Fn. 1).
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heitsanforderungen in den Produktrichtlinien bzw. in den die jeweiligen Richtlinien konkretisierenden und zur Vermutung der Richtlinienkonformität eines Produktes führenden „harmonisierten technischen Normen“ (Spezifikationen, Standards).15 Damit wurden die allgemeinen Grundsätze für die Harmonisierung der materiellen Anforderungen an die Produktsicherheit zum Marktzugang festgelegt. Unmittelbar darauf folgte in den Jahren 1989/90 die zweite Stufe, in der das materiell-rechtliche Neue Konzept weiter durch das organisations- und verfahrensrechtliche sog. Globale Konzept („Global Approach“)16 ergänzt wurde. Um die Grundlage für das Vertrauen und die gegenseitige Anerkennung zu schaffen, fand das System der Zertifizierung und Akkreditierung Eingang in das Produktsicherheitsrecht des europäischen Binnenmarktes. Der Begriff der Zertifizierung betrifft die Sicherheit eines Produktes, Akkreditierung die Kompetenz der Prüfstelle. Demzufolge hat die Akkreditierung die Funktion einer Kontrolle des Kontrolleurs, mithin stellt sie eine Kompensation für den Wegfall einer behördlichen Produktzulassung dar. Obwohl die Mitgliedstaaten eine akkreditierte Zertifizierung frühzeitig praktiziert hatten, wurde die Akkreditierung im Globalen Konzept lediglich erwähnt und angemahnt. Die auf der Grundlage des Neuen und des Globalen Konzeptes erlassenen Harmonisierungsrichtlinien (Binnenmarktrichtlinien) konzentrierten sich auf die Regulierung der unter Wettbewerbsbedingungen betätigten Zertifizierung von Produkten mit der CE-Kennzeichnung. Ein
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Der Begriff der technischen Norm erfährt bislang verschiedene Definitionsbemühungen auf Seiten der Normungsorganisationen, der juristischen Literatur und nicht zuletzt der EG bzw. EU. So enthielt die Richtlinie 98/34/EG („Informationsrichtlinie“, vormalig Richtlinie 83/189/EWG) in Art. 1 Abs. 6 auch eine Legaldefinition davon. Diese Vorschrift wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2013 durch Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 (siehe dazu die Darstellung unter III. 3.) aufgehoben und ersetzt. Allgemein bezeichnet dieser Begriff eine technische Spezifikation, die von einer anerkannten nationalen, regionalen oder internationalen Normungsorganisation privatrechtlicher Art zur wiederholten oder ständigen Anwendung angenommen wurde. Solche Spezifikation bezieht sich auf Merkmale für ein Produkt oder eine Dienstleistung, wie etwa Qualitätsstufen und Sicherheit einschließlich Festlegungen über Konformitätsbewertungsverfahren, sie hat rechtlich keine Bindungswirkung. Terminologisch wird häufig die Bezeichnung „Standard“ als Synonym für eine technische Norm verwendet. Dies liegt an dem englischen Fachterminus „standard“ für technische Norm. Hingegen beinhalten die Begriffe wie „technische Standards“ bzw. „Umweltstandards“ im deutschen Schrifttum vielfach aber auch gesetzliche Vorschriften bzw. administrative Rechtsetzung. Vgl. näher zum Begriff der technischen Norm Stefan Wiesendahl, Technische Normung in der Europäischen Union, Berlin 2007, S. 17 ff.; zur diesbezüglichen Problematik die Darstellung unter III. 2. 16 Ebenso wie für „New Approach“ ist die deutsche Terminologie für „Global Approach“ nicht einheitlich. Außer dem „Globalen Konzept“ wird auch die Bezeichnung „Gesamtkonzept“ verwendet, wobei das Globale Konzept als weitergehend verstanden wird, vgl. Georgios Dimitropoulos, Zertifizierung und Akkreditierung im Internationalen Verwaltungsverbund, Tübingen 2012, S. 95 mit Fn. 251.
Normung, Zertifizierung und Akkreditierung im Produktsicherheitsrecht
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konturenscharfes, zweistufiges Konformitätsbewertungssystem von Zertifizierung und Akkreditierung zeichnete sich im Rahmen des europäischen Produktsicherheitsrechts noch nicht ab. Nachdem das Neue und das Globale Konzept über zwanzig Jahre im Ansatz gut funktioniert hatten, entstanden weitere Probleme: in erster Linie der Mangel an einer Rechtsvereinheitlichung hinsichtlich der Akkreditierung auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union. Dies bildete den Anlass für die dritte Stufe der Entwicklung im Jahre 2008, den sog. Neuen Rechtsetzungsrahmen („New Legislative Framework“). Das groß angelegte Maßnahmenpaket, das die beiden vorherigen Konzepte unter ein übergeordnetes Dach bringt und novelliert, setzt sich aus drei komplementären Rechtsakten zusammen. Dabei verdienen zwei Neuerungen Beachtung, die für den vorliegenden Beitrag von besonderer Relevanz sind: zum einen die fortan auf europäischer Ebene einheitliche Regelung und mithin die ausschließlich staatliche Aufgabe der Akkreditierung von Zertifizierungsstellen und Prüflaboratorien, wodurch die bis dahin zersplitterte Akkreditierungslandschaft in Deutschland überwunden wurde, zum anderen die Aufwertung und Vereinheitlichung der Notifizierung (Meldung, Benennung) von Zertifizierungsstellen gegenüber der Europäischen Kommission und den anderen Mitgliedstaaten. Entgegen den im Schrifttum gegen eine grundlegende Europäisierung staatlicher Überwachungsaufgaben erhobenen grundsätzlichen Bedenken bezüglich eines Steuerungsverlustes und sonstiger negativer Auswirkung17 erntet das europäisch inspirierte Gesamtsystem von Normung, Zertifizierung und Akkreditierung im Produktsicherheitsrecht auch Lob. Angesichts seiner ökomischen Vorteile sei es eine „great invention“18. Jedenfalls vollzieht dieses supranational geprägte und national ausgeformte neue Kontrollmodell einen vom Zusammenwirken von Europäischer Union, Mitgliedstaaten und privaten Akteuren getragenen Paradigmenwechsel19 im gewährleistungsstaatlichen Überwachungsregime und wird in Deutschland weitverbreitet für technische Produkte erfolgreich übernommen.20 Der vorliegende Beitrag zeichnet zunächst die Ausgangslage für das Ent-
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Huber (Fn. 2), § 45, Rn. 76. Jacques Pelkmans, Mutual Recognition: rationale, logic and application in the EU internal goods market, in: Peter Behrens/Thomas Eger/Hans-Bernd Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Europarechts, Beiträge zum XII. Travemünder Symposium zur ökonomischen Analyse des Rechts (24. bis 26. März 2010), Tübingen 2010, S. 341 (363). 19 Stober (Fn. 2), S. 1300; ähnlich auch Dimitropoulos (Fn. 16), S. 121: paradigmatische Ausprägung. 20 Der Europäisierungsprozess schreitet stetig fort. Dies erfolgt nicht nur durch die notwendige Umsetzung zahlreicher produktsicherheitsrechtlicher Harmonisierungsrichtlinien ins nationale Recht, sondern geht auch darüber hinaus. So führt nun das neue Mess18
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stehen eines neuen Binnenmarktkonzeptes nach (dazu II.), bevor das global einzigartige und erfolgreiche Modell der Europäischen Union auf die jeweiligen wesentlichen Bausteine der oben beschriebenen drei legislativen Schritte untersucht wird (dazu III. bis V.). Anschließend wird im Hinblick auf die Umsetzung des europäischen Produktsicherheitsrechts in Deutschland die kontrovers disku___________ und Eichgesetz (MessEG) vom 25. Juli 2013 (BGBl. I S. 2722), das auf einer grundlegenden Reform basiert und am 1. Januar 2015 in Kraft trifft, den Zertifizierungs- und Akkreditierungsmechanismus auch für das Inverkehrbringen von jenen Messgeräten ein, die rein national geregelt sind. Mittelfristig wird in Deutschland der einheitliche Ansatz zur Regelung des Inverkehrbringens von Messgeräten realisiert sein, siehe BT-Drs. 17/12727, S. 32. Das bedeutet, dass zukünftig gleichermaßen für den Marktzutritt europäisch und national geregelter Messgeräte auf staatliche Ex-ante-Genehmigungsverfahren (amtliche Ersteichung) verzichtet wird. Damit tritt das Mess- und Eichgesetz als moderne deutsche Gesetzgebung im Produktsicherheitsrecht neben das Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) vom 8. November 2011 (BGBl. I S. 2178, 2179; 2012 I S. 131), das Bauproduktengesetz (BauPG), das Gesetz über die elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln (EMVG), das Medizinproduktegesetz (MPG) und das Gesetz über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen (FTEG). Das neue Produktsicherheitsgesetz samt zahlreichen dazugehörigen Rechtsverordnungen ersetzt das bisherige Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (GPSG) vom 6. Januar 2004 (BGBl. I S. 2 [219]), das wiederum seinerzeit das frühere Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) vom 22. April 1997 (BGBl. I S. 934) und das Gerätesicherheitsgesetz (GSG) vom 24. Juni 1968 (BGBl. I S. 717) zusammengefasst und gleichzeitig abgelöst hatte. Dieses neue Gesetz gilt in Deutschland als „Allgemeiner Teil“ des national umgesetzten Produktsicherheitsrechts. Ihm kommen demnach einmal eine Auffangfunktion für die bislang nicht spezialgesetzlich geregelten technischen Produkte und zum anderen eine ergänzende Dachfunktion im Verhältnis zu den nicht abschließend regelnden Spezialgesetzen zu. Vgl. hierzu Schumann (Fn. 7), S. 71 f. Im Einzelnen bestehen aber schwierige Abgrenzungsfragen. Ein umfassendes einheitliches System der Produktsicherheit, das zugleich den Zwecken des öffentlich-rechtlichen Gefahrenabwehrrechts, des technischen Verbraucherschutzes und des öffentlichrechtlichen Warenvertriebsrechts dient, ist eine großartige Errungenschaft der europäischen Harmonisierungspolitik. Historisch betrachtet existierte in Deutschland ehedem das vornehmlich dem gewerblichen Arbeitsschutz zuzuordnende Recht der überwachungsbedürftigen Anlagen, das die Arbeitgeber in die Pflicht nahm. Im Übrigen gab es nur fragmentarisch eine von der Industrie initiierte selbstregulative Prüfung in einigen Produktsektoren. Den legislativen Auftakt zum Ausbau eines sich unmittelbar den Herstellern zuwendenden nationalen öffentlich-rechtlichen Produktsicherheitsrechts machte schließlich das oben erwähnte Gerätesicherheitsgesetz a. F. aus dem Jahre 1968, das jedoch zunächst nur die Abwehr der von technischen Arbeitsmitteln ausgehenden Gefahren und mithin den Arbeitsschutz bezweckte. Auch im mehr auf Verbraucherschutz angelegten Produktsicherheitsgesetz bleibt der eher systemfremde Teil der überwachungsbedürftigen Anlagen noch erhalten. Vgl. zur Vorgeschichte des Produktsicherheitsrechts in Deutschland Thomas Klindt, Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (GPSG), Kommentar, 1. Aufl., München 2007, Einführung, Rn. 1 ff.; Schumann (Fn. 7), S. 32 f.; Franz-Joseph Peine, Vom „Gesetz über technische Arbeitsmittel“ zum „Produktsicherheitsgesetz“ – Entwicklungsschritte im Recht des Verkehrsverbots, in: Claudio Franzius/ Stefanie Lejeune/ Kai von Lewinski/ Klaus Meßerschmidt/ Gerhard Michael/ Matthias Rossi/ Theodor Schilling/ Peter Wysk (Hrsg.), Beharren. Bewegen.: Festschrift für Michael Kloepfer zum 70. Geburtstag, Berlin 2013, S. 469 (469 ff.).
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tierte Rechtsnatur der Zertifizierung als Kernstück des Konformitätsbewertungssystems erörtert (dazu VI.). Der Beitrag schließt mit einem Resümee und einem international vergleichenden Ausblick (dazu VII.).
II. Die Ausgangslage: Unter der Flagge des Binnenmarktziels 1. Abbau technischer Handelshemmnisse als Herzstück des freien Warenverkehrs Seit Abschluss der Römischen Verträge im Jahre 1957 ist die Schaffung und Sicherung eines Binnenmarktes (internal market oder single market)21 ohne Binnengrenzen das zentrale Ziel der EG bzw. EU. Damit wird die Verwirklichung der vier grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Grundfreiheiten des freien Waren-, Dienstleistungs-, und Kapitalverkehrs sowie der Freizügigkeit der Arbeitnehmer angestrebt. Ohne Zweifel ist der freie Warenverkehr innerhalb aller Mitgliedstaaten von erstrangiger Bedeutung. Es gilt dabei, sowohl tarifäre als auch nichttarifäre Handelshemmnisse zu beseitigen. Vor allem ist die Verwirklichung eines Binnenmarktziels untrennbar mit dem Abbau technischer Handelshemmnisse bzw. mit der Regulierung der Produktsicherheit verbunden. Unter den Begriff der technischen Handelshemmnisse fallen zunächst einmal unterschiedliche materiell-rechtliche Produktbeschaffenheitsanforderungen, zum anderen aber auch divergierende verfahrensrechtliche Vollzugs- und Kontrollsysteme zur Sicherstellung der Einhaltung technischer Produktanforderungen.22 Die Kumulation derartiger Hemmnisse würde Kosten und Zeitaufwand beim Produktzugang zu den anderen nationalen Märkten in die Höhe treiben und folglich einen freien Warenverkehr innerhalb der EG bzw. EU behindern, im Extremfall sogar verhindern. Es liegt daher auf der Hand, dass der Abbau technischer Handelshemmnisse eine vorrangige Aufgabe für die Binnenmarktintegration darstellt.
___________ 21 Der Begriff „Binnenmarkt“ im heutigen Art. 26 AEUV (ex Art. 14 EGV, zuvor Art. 8a EWGV) besteht seit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1987. Dem war der Begriff „Gemeinsamer Markt“ (ursprünglich Art. 2, 8 EWGV) vorangegangen. Über das Verhältnis zwischen beiden Begriffen bestanden im Schrifttum lange Zeit Meinungsverschiedenheiten, vgl. dazu Kahl (Fn. 13), Art. 26 AEUV, Rn. 8 ff. Der Vertrag von Lissabon hat nun den Begriff des Gemeinsamen Marktes durchgängig durch den des Binnenmarktes ersetzt. 22 Vgl. zum Begriff der technischen Handelshemmnisse Jan O. Merten, Private Entscheidungsträger und Europäisierung der Verwaltungsrechtsdogmatik – Zur Einbindung benannter Stellen in den Vollzug des Medizinprodukterechts, Berlin 2005, S. 24.
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2. Primärrechtlicher Rahmen a) Verbotsprinzip des Art. 34 AEUV (ex Art. 28 EGV, zuvor Art. 30 EWGV) Für die Beseitigung technischer Handelshemmnisse und damit für die Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit kommt auf der Ebene des Primärrechts Art. 34 AEUV (ex Art. 28 EGV, zuvor Art. 30 EWGV) eine Schlüsselrolle zu, der grundsätzlich mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen (Kontingentierungen) sowie Maßnahmen gleicher Wirkung verbietet. Von diesem die Warenverkehrsfreiheit gewährleistenden Verbotsprinzip besteht allerdings in Art. 36 AEUV (ex Art. 30 EGV, zuvor Art. 36 EWGV) eine Schranken- und Ausnahmeregelung, die mitgliedstaatliche handelsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz der dort abschließend aufgezählten Rechtsgüter (vor allem Sicherheit, Gesundheit und Leben) rechtfertigt und gestattet. Die Auslegung dieser beiden Vertragsregelungen wurde maßgeblich durch die zwei Leitentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen Dassonville und Cassis de Dijon geprägt.23 Entsprechend der bekannten, weiten Dassonville-Formel zum Verbot des Art. 34 AEUV (ex Art. 28 EGV, zuvor Art. 30 EWGV) gelten als „Maßnahmen gleicher Wirkung“ wie mengenmäßige Beschränkungen alle nationalen Regelungen, die geeignet sind, den innergemeinschaftlichen Handel „unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“.24 Die extensive Auslegung des Begriffs der Maßnahmen gleicher Wirkung hat deswegen eine hohe Bedeutung, da sie die ursprünglich als Diskriminierungsverbot konzipierte Warenverkehrsfreiheit zum umfassenden Beschränkungsverbot fortentwickelt.25 Seitdem werden auch diskriminierungsfreie Handelsbeschränkungen wie insbesondere nationale technische Sicherheitsregelungen, die inländische und aus anderen Mitgliedstaaten eingeführte Waren gleichermaßen treffen, vom Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung, mithin vom Beschränkungsverbot erfasst. Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof dieses primärrechtliche Verbot ab dem 1.1.1970 (Ende der Übergangszeit des Gemeinsamen Marktes) für unmittelbar anwendbar erklärt,26 so dass es Rechte Einzelner unmittelbar ohne Vermittlung mitgliedstaatlichen Rechts begründet. Insofern dient Art. 34 AEUV (ex Art. 28 ___________ 23 Vgl. zu diesen zwei Leitentscheidungen des EuGH Thorsten Kingreen, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl., München 2011, Art. 34-36 AEUV, Rn. 37 ff. 24 EuGH, Urt. vom 11.7.1974, Rs. 8/74, Slg. 1974, S. 837 (852), Rn. 5 (Dassonville). 25 Vgl. hierzu Eckhard Pache, Grundfreiheiten, in: Reiner Schulze/Manfred Zuleeg/Stefan Kadelbach (Hrsg.). Europarecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2010, § 10, Rn. 74 ff. 26 EuGH, Urt. vom 22.3.1977, Rs. 74/76, Slg. 1977, S. 557 (576), Rn. 13 (Iannelli & Volpi); EuGH, Urt. vom 29.11.1978, Rs. 83/78, Slg. 1978, S. 2347 (2374), Rn. 66/67 (Pigs Marketing Board).
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EGV, zuvor Art. 30 EWGV) als grundlegendes gemeinschafts- bzw. unionsrechtliches Instrument zur Gewährleistung des freien Warenverkehrs.27 Das in der Dassonville-Formel enthaltene umfassende Beschränkungsverbot wurde jedoch in der Cassis de Dijon-Entscheidung modifiziert, um zu vermeiden, dass es bei konsequenter Anwendung dieser weiten Formel zu einer Einebnung mitgliedstaatlicher Schutzvorschriften auf dem jeweils niedrigsten Niveau kommt.28 Im Rahmen der rechtlichen Prüfung, ob eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit zulässig ist, hat der Europäische Gerichtshof – außerhalb der in der oben erwähnten Ausnahmeregelung des Art. 36 AEUV (ex Art. 30 EGV, zuvor Art. 36 EWGV) aufgezählten Rechtfertigungsgründe – das Kriterium der zwingenden Erfordernisse eingeführt. Demnach sind „in Ermangelung einer gemeinschaftlichen Regelung der Herstellung und Vermarktung“ nationale handelsbeschränkende Regelungen hinzunehmen, „soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes.“29 Der hier beispielhaft genannte Katalog von zwingenden Erfordernissen wurde in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kontinuierlich um weitere Allgemeinwohlbelange wie etwa den Umweltschutz erweitert.30 Bemerkenswert ist, dass das Gericht in der Cassis de Dijon-Entscheidung das Merkmal der zwingenden Erfordernisse als teleologische Reduktion der Dassonville-Formel sowie als immanente Tatbestandsschranke für das Verbot des Art. 34 AEUV (ex Art. 28 EGV, zuvor Art. 30 EWGV) und nicht als zusätzlichen Rechtfertigungsgrund neben Art. 36 AEUV (ex Art. 30 EGV, zuvor Art. 36 EWGV) aufgefasst hat.31 Daraus folgt, dass nationale handelsbeschränkende ___________ 27 Reimer von Borries/Matthias Petschke, Gleichwertigkeitsklauseln als Instrument zur Gewährleistung des freien Warenverkehrs in der Europäischen Gemeinschaft, DVBl. 1996, S. 1343 (1343). 28 Vgl. zu dieser Befürchtung Christian Tünnesen-Harmes, Die CE-Kennzeichnung zum Abbau technischer Handelshemmnisse in der Europäischen Union, DVBl. 1994, S. 1334 (1335). 29 EuGH, Urt. vom 20.2.1979, Rs. 120/78, Slg. 1979, S. 649 (662), Rn. 8 (Cassis de Dijon). [kursive Hervorhebungen durch die Verfasserin] 30 Vgl. hierzu Pache (Fn. 25), § 10, Rn. 54, 80; Kingreen (Fn. 23), Art. 34-36 AEUV, Rn. 80. 31 Die dogmatische Einordnung der zwingenden Erfordernisse wird in der nachfolgenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und dem Schrifttum nicht einheitlich beurteilt. Entgegen der Annahme der immanenten Tatbestandsschranke für Art. 34 AEUV (ex Art. 28 EGV, zuvor Art. 30 EWGV) werden die zwingenden Erfordernisse teilweise als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe neben Art. 36 AEUV (ex Art. 30 EGV, zuvor Art. 36 EWGV) eingeordnet. Vgl. zur gründlichen Auseinandersetzung mit der Streitfrage über die dogmatische Einordnung zwingender Erfordernisse Michael Fremuth, „Cassis de Dijon“ – Zu der dogmatischen Einordnung zwingender Erfordernisse, EuR 2006, S. 866 ff.; ferner Kingreen (Fn. 23), Art. 34-36 AEUV, Rn. 80 ff.
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Maßnahmen vom Verbotsprinzip des Art. 34 AEUV (ex Art. 28 EGV, zuvor Art. 30 EWGV) ausgenommen sind, soweit sie sich entweder auf die in Art. 36 AEUV (ex Art. 30 EGV, zuvor Art. 36 EWGV) genannten Rechtsgüter oder auf zwingende Erfordernisse im Sinne der EuGH-Rechtsprechung stützen. Die unterschiedlichen technischen Produktsicherheitsrechte der Mitgliedstaaten dienen gerade den Schutzzwecken beider Kategorien. Im Ergebnis bietet das primärrechtliche Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen und seine unmittelbare Geltung ein unzureichendes Instrument, um in ausreichendem Maße technische Handelshemmnisse zu beseitigen und einen freien Warenverkehr zu ermöglichen. b) Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gleichwertiger Regelungen Die Europäische Kommission hat in ihrer Mitteilung über die Auswirkungen des Cassis de Dijon-Urteils32 aus dieser Entscheidung Auslegungskriterien für eine strengere Kontrolle der Anwendung der Vertragsvorschriften über den freien Warenverkehr abgeleitet. Richtungsweisend führte die Kommission aus: „Jedes in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Erzeugnis ist grundsätzlich auf dem Markt der anderen Mitgliedstaaten zuzulassen.“33 Daraus kristallisierte sich in der Folgezeit das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gleichwertiger Regelungen bzw. das Herkunftslandprinzip heraus.34 Nationale technische Vorschriften und Handelsregelungen, die – entweder aufgrund der zwingenden Erfordernisse oder durch die Schrankenregelung des Art. 36 AEUV (ex Art. 30 EGV, zuvor Art. 36 EWGV) – als Ausnahmen vom Verbotsprinzip des Art. 34 AEUV (ex Art. 28 EGV, zuvor Art. 30 EWGV) gerechtfertigt sind, müssen sich als verhältnismäßig erweisen.35 Im Mittelpunkt der aus Elementen von legitimem Ziel, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit bestehenden Verhältnismäßigkeitsprüfung steht die Stufe der Erforderlichkeit, die das für den Handel am wenigsten hinderliche Mittel zum ___________ 32 Mitteilung der Kommission über die Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom 20. Februar 1979 in der Rechtssache 120/78 („Cassis de Dijon“), ABl. EG 1980 Nr. C 256, S. 2 f. 33 Mitteilung der Kommission über die Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom 20. Februar 1979 in der Rechtssache 120/78 („Cassis de Dijon“), ABl. EG 1980 Nr. C 256, S. 2 (2). [kursive Hervorhebung durch die Verfasserin]. 34 Vgl. hierzu Merten (Fn. 22), S. 26, 28 f.; Schumann (Fn. 7), S. 38 ff. 35 Mitteilung der Kommission über die Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom 20. Februar 1979 in der Rechtssache 120/78 („Cassis de Dijon“), ABl. EG 1980 Nr. C 256, S. 2 (2 f.).
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verfolgten Schutzzweck voraussetzt und einer erhöhten Kontrolldichte des Europäischen Gerichtshofs unterliegt.36 Bei der Konkretisierung des Kriteriums der Erforderlichkeit kommt vor allem das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gleichwertiger Regelungen zum Tragen.37 Demnach ist eine übermäßige Beschränkung des freien Warenverkehrs dann gegeben, wenn Importprodukte einer erneuten Marktzugangskontrolle im Einfuhrstaat unterworfen werden, obwohl sicherheitstechnischen Anforderungen bereits durch gleichwertige Kontrollen im Herkunftsstaat entsprochen werden können. So gesehen ist das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gleichwertiger Regelungen Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips.38 Als entscheidendes Kriterium für die Verhältnismäßigkeitsprüfung nationaler Produktsicherheitsregelungen im Wege des Anerkennungsprinzips stellt sich die Gleichwertigkeit dar, die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht als Gleichartigkeit der getroffenen Maßnahmen in einem modalen Sinn, sondern als Vergleichbarkeit des Schutzniveaus in einem finalen Sinn verstanden wird.39 Während die Kommission in ihrer oben genannten Mitteilung von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit nationaler Regelungen über die Anforderungen an Herstellung und Vermarktung von Produkten ausging, gelingt jedoch in der Praxis der Nachweis einer Gleichwertigkeit, d.h. eines vergleichbaren Sicherheitsniveaus, nur selten; eine entsprechende Bestätigung vom Europäischen Gerichtshof ist eher die Ausnahme als die Regel.40 Folglich können divergierende mitgliedstaatliche Produktsicherheitsregelungen weitgehend bestehen bleiben.41 Insgesamt besehen lässt sich der Abbau technischer Handelshemmnisse und mithin die Warenverkehrsfreiheit allein auf der Grundlage des Primärrechts nicht bewerkstelligen. 3. Entstehung eines neuen Binnenmarktkonzeptes Zum Abbau technischer Handelsbarrieren bedarf es vielmehr eines weitergehenden Instruments der sekundärrechtlichen Harmonisierung oder Angleichung hinsichtlich des Schutzniveaus der Produktsicherheit. Denn die Mitgliedstaaten ___________ 36 Vgl. zum Verhältnismäßigkeitsprinzip als die bedeutendste Schranken-Schranke für die Gewährleistung der Grundfreiheiten Kingreen (Fn. 23), Art. 34-36 AEUV, Rn. 87 ff. 37 Kingreen (Fn. 23), Art. 34-36 AEUV, Rn. 96. 38 Vgl. Tünnesen-Harmes (Fn. 28), S. 1335 f.; von Borries/Petschke (Fn. 27), S. 1345 f. 39 Vgl. Merten (Fn. 22), S. 28 f.; Kingreen (Fn. 23), Art. 34-36 AEUV, Rn. 96. 40 Vgl. Tünnesen-Harmes (Fn. 28), S. 1336; Schumann (Fn. 7), S. 39 f. 41 Vgl. Hans Christian Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht – Zur Entwicklung einer neuen Europäischen Verwaltungsstruktur, Berlin 2000, S. 3.
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dürfen sich für divergierende innerstaatliche Sicherheitsstandards oder Kontrollmechanismen nicht mehr auf die zwingenden Erfordernisse der Allgemeinwohlbelange oder die Rechtfertigungsgründe des Art. 36 AEUV (ex Art. 30 EGV, zuvor Art. 36 EWGV) berufen, wenn durch gemeinschaftliche bzw. unionale Rechtsakte ein einheitliches Sicherheitskonzept geschaffen wird, das eine Sperrwirkung gegenüber abweichenden mitgliedstaatlichen Regelungen entfaltet.42 Schon zu Beginn der 1960er Jahre bahnte sich der Prozess der Harmonisierung nationaler technischer Vorschriften an. In den ersten Jahrzehnten wurde das Konzept einer Detailharmonisierung des jeweiligen Produktbereichs verfolgt43 (die einzige Ausnahme davon bildete die Niederspannungsrichtlinie von 1973).44 Die detaillierte Vorgehensweise bietet zwar ein Höchstmaß an Rechtssicherheit. Mit ihr waren jedoch viele Nachteile verbunden. So wirkten sich die anfänglichen detaillierten Harmonisierungsrichtlinien schwerfällig auf die Verfahrenspraxis aus.45 Sie beanspruchten oft ein langwieriges Verhandlungsverfahren und behinderten deshalb eine flexible technische Gesetzgebung. Die stete Anpassungsfähigkeit ist aber erforderlich, um dem rasant fortschreitenden Stand der Sicherheitstechnik Rechnung zu tragen. Ferner verschärfte sich die missliche Lage dadurch, dass die klassische Rechtsangleichungsermächtigung des damaligen Art. 100 EWGV (ex Art. 94 EGV, jetzt Art. 115 AEUV an das Erfordernis der Einstimmigkeit im Rat geknüpft war.46 Es verwundert daher nicht, dass bei der Angleichung mitgliedstaatlichen Produktsicherheitsrechts nur ein geringer Erfolg erzielt werden konnte und die Rechtsangleichung zu einem „Sorgenkind“ wurde.47 Das alte Detailregelungskonzept führte somit zu einer Krise, die Anfang ___________ 42
87.
Vgl. Röhl (Fn. 41), S. 3 f.; Schumann (Fn. 7), S. 40 f.; Pache (Fn. 25), § 10, Rn. 79,
43 Vgl. zum anfänglichen Konzept der Detailharmonisierung Merten (Fn. 22), S. 30 ff.; Schumann (Fn. 7), S. 48 ff. 44 Richtlinie 73/23/EWG des Rates vom 19. Februar 1973 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend elektrische Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen, ABl. EG Nr. L 77, S. 29 ff., vgl. hierzu Merten (Fn. 22), S. 32 ff. Diese Richtlinie wurde neu kodifiziert durch die Richtlinie 2014/35/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung elektrischer Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen auf dem Markt, ABl. EU Nr. L 96, S. 357 ff. 45 Thomas Bruha, Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – Deregulierung durch „Neue Strategie“?, ZaöRV 46 (1986), S. 1 (2): „Traktoren-Richtlinien“. 46 Vgl. zu den Nachteilen des anfänglichen Konzeptes der Detailharmonisierung Merten (Fn. 22), S. 31 f.; Schumann (Fn. 7), S. 49 f.; Thomas Klindt/Carsten Schucht, Internationales, europäisches und nationales Technikrecht, in: Dirk Ehlers/Michael Fehling/Hermann Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl., Heidelberg 2012, § 36, Rn. 32. 47 Bruha (Fn. 45), S. 3.
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der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nahezu zum Stillstand im Prozess der Binnenmarktintegration führte.48 Schließlich beschritt die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1985 einen völlig neuen Weg zur effektiveren Verwirklichung des Binnenmarktes.49 Dieser neue Ansatz wurde im Wesentlichen in drei Dokumenten entwickelt:50 Zunächst in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 31. Januar 1985;51 daraufhin in der Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985;52 letztlich in dem von der Kommission unter der Federführung des damaligen Präsidenten Jacques Delors am 14. Juni 1985 vorgelegten und vom Europäischen Rat am 28./29. Juni 1985 gebilligten Weißbuch über die „Vollendung des Binnenmarktes“.53 Das Weißbuch der Kommission diente als entscheidende Grundlage für die Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) vom 2./3. Dezember 1985, die am 1. Juli 1987 in Kraft trat54 und verlieh dem Binnenmarkt neue Dynamik und Schubkraft. Es zielte mit seinem äußerst immensen Rechtsetzungsunterfangen darauf ab, die wichtigsten materiellen, technischen und steuerlichen Schranken zu beseitigen und dadurch die vier Grundfreiheiten zu gewährleisten. Jedoch bestand sein Primärziel in der Beseitigung technischer Schranken im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr.55 Hierfür wurde die „Neue Strategie“ der Rechtsangleichung konzipiert56, welche zu einem grundsätzlichen Kurswechsel57 und innovativen Lösungen führte. Zuvörderst erfolgte mit der EEA in Art. 100a EWGV (ex Art. 95 EGV, jetzt Art. 114 AEUV) die Einführung einer neuen Binnenmarktkompetenznorm, die – unter Mitwirkung des Europäischen Parlaments – lediglich eine qualifizierte Mehrheitsentscheidung des Rates vorsah ___________ 48
Kahl (Fn. 13), Art. 26 AEUV, Rn. 1. Der unmittelbare Anlass zur neuen Konzeption war die Richtlinie 86/663/EWG (Flurförderzeuge = Gabelstapler), siehe André Schneider, Zertifizierung im Rahmen der CE-Kennzeichnung – Konformitätsbewertung und Risikobeurteilung nach der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG und anderen europäischen Richtlinien, 3. Aufl., Berlin 2012, S. 8. 50 s. Bruha (Fn. 45), S. 2. 51 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 31. Januar 1985 über „Technische Harmonisierung und Normung: eine neue Konzeption“, KOM (85) 19 endg. 52 Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine „Neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung“, ABl. EG 1985 Nr. C 136, S. 1 ff. 53 Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat vom 14. Juni 1985 über die „Vollendung des Binnenmarktes“, KOM (85) 310 endg. 54 ABl. EG 1987 Nr. L 169, S. 1 ff. 55 Vgl. Bruha (Fn. 45), S. 6 ff. 56 KOM (85) 310 endg., Rn. 61 ff. 57 Bruha (Fn. 45), S. 8. 49
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und außer der Rechtsform der Richtlinie noch andere Mittel wie insbesondere die Verordnung zuließ.58 Diese viel effizientere Rechtsangleichungsermächtigung wird durch den Vertrag von Lissabon anstelle des „Urgesteins“ des heutigen Art. 115 AEUV (ex Art. 94 EGV, zuvor Art. 100 EWGV)59 zur Grundnorm der binnenmarktbezogenen Rechtsangleichung60 erhoben61 und entsprechend auch im Schrifttum als „Fundament des europäischen Produktsicherheitsrechts“62 bezeichnet. Trotz der Erleichterung des Entscheidungsverfahrens im Rat enthält Art. 114 Abs. 3 AEUV (ex Art. 95 Abs. 3 EGV) eine Schutzniveauklausel, die die Unionsorgane bei Gesundheit, (technischer) Sicherheit,63 Umweltschutz und Verbraucherschutz auf ein hohes Schutzniveau verpflichtet.64 Über den Anstoß zur neuen Ermächtigungsnorm hinaus strebt die „Neue Strategie“ ein kumulatives und flexibleres Harmonisierungskonzept an, das aus den sich gegenseitig ergänzenden Strukturelementen der Rechtsangleichung, der gegenseitigen Anerkennung und der privaten technischen Normung besteht.65 Unter dem Gesamtkonzept der „Kernangleichung statt Detailangleichung“66 wird die harmonisierende Rechtsangleichung sowohl auf das Notwendige hinsichtlich des Regelungsbereichs als auch auf das Grundsätzliche hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung beschränkt.67 Gemäß dieser doppelten Beschränkung68 besteht die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Rechtsangleichung nur für diejenigen Kernbereiche, in denen Handelshemmnisse durch die in Art. 36 AEUV (ex ___________ 58 Nach der der Schlussakte zur EEA beigefügten Erklärung der Kommission zu Art. 100a EWGV soll jedoch der schonenderen Rechtsform der Richtlinie der Vorzug gegeben werden, siehe ABl. EG 1987 Nr. L 169, S. 1 (24). 59 Kahl (Fn. 13), Art. 115 AEUV, Rn. 1. 60 Thomas Oppermann/Claus Dieter Classen/Martin Nettesheim, Europarecht, 5. Auflage, München 2011, § 32, Rn. 8; Kahl (Fn. 13), Art. 115 AEUV, Rn. 3. 61 Schon wegen des Einstimmigkeitserfordernisses und der Beschränkung auf das Mittel der Richtlinie wurde Art. 94 EGV a.F. (zuvor Art. 100 EWGV) als Kompetenzgrundlage praktisch von Art. 95 EGV a.F. (zuvor Art. 100a EWGV) verdrängt. Entsprechend dieses Bedeutungswandels erfolgte durch den Vertrag von Lissabon eine neue Reihung der beiden Vorschriften. Dem heutigen Art. 115 AEUV (ex Art. 94 EGV) bleibt nur die Funktion einer subsidiären Auffangnorm für die von Art. 114 Abs. 2 AEUV ausgenommenen Bereiche, hauptsächlich für die Angleichung der direkten Steuern. Vgl. zum Verhältnis zwischen Art. 114 AEUV und Art. 115 AEUV Kahl (Fn. 13), Art. 115 AEUV, Rn. 2 f.,11, 14 f. 62 Schumann (Fn. 7), S. 41. 63 s. Fn. 13. 64 Vgl. Oliver Remien, Rechtsangleichung im Binnenmarkt, in: Reiner Schulze/Manfred Zuleeg/Stefan Kadelbach (Hrsg.). Europarecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2010, § 14, Rn. 8; Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 60), § 32, Rn. 15. 65 KOM (85) 310 endg., Rn. 65; vgl. hierzu Schumann (Fn. 7), S. 50. 66 Kahl (Fn. 13), Art. 114 AEUV, Rn. 2; ähnlich von Borries/Petschke (Fn. 27), S. 1344: „Kern- anstelle Vollharmonisierung“. 67 Vgl. Bruha (Fn. 45), S. 2. 68 Wiesendahl (Fn. 15), S. 65.
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Art. 30 EGV, zuvor Art. 36 EWGV) genannten Rechtsgüter oder durch zwingende Erfordernisse im Sinne des Cassis de Dijon-Urteils gerechtfertigt werden können und mithin eine Harmonisierung unerlässlich ist. Zur Konkretisierung der Harmonisierungsvorschriften wird zudem die technische Normung privater europäischer Normungsorganisationen herangezogen. Im Übrigen soll dann auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nationaler Regelungen und Normen gesetzt werden. Die dem umfassenden Programm des Weißbuchs zugrunde gelegte Neue Strategie der Rechtsangleichung fasste allerdings bereits kurz zuvor festen Fuß in der Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine „Neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung“,69 die unter der Bezeichnung „Neue Konzeption“ oder „Neues Konzept“ oder auch „New Approach“70 berühmt geworden ist. Die Entschließung gilt als Geburtsstunde der bis in die Gegenwart unangetastet gebliebenen New-Approach-Entwicklungslinie. Diese bahnbrechende Weichenstellung wird zutreffend als der „wohl bedeutendste industriepolitische Wurf“71 der EG bzw. EU beschrieben, denn damit ist ein konzeptionell neuartiger Rahmen für zahlreiche künftige Binnenmarktrichtlinien zur Vermarktung von Produkten festgelegt. Weitergehend sieht die Kommission im Neuen Konzept einen „Wendepunkt in der Entwicklung der gemeinschaftlichen Ordnungspolitik“,72 der das Tor zur Übernahme einer besonderen Rolle für die europäische Normung öffnet.
III. Das Neue Konzept („New Approach“): Ein innovatives Rechtsetzungskonzept 1. Grundstruktur der Modellrichtlinie nach dem Neuen Konzept Die europäischen Richtlinien des Produktsicherheitsrechts gliedern sich in drei Regulierungsebenen: a) die Normsetzungsebene hinsichtlich der Anforderungen an die Produkte, b) die Marktzugangskontrolle, vor allem mittels der
___________ 69
s. Fn. 52. s. etwa Thomas Klindt, Der „new approach“ im Produktrecht des europäischen Binnenmarkts: Vermutungswirkung technischer Normung, EuZW 2002, S. 133 ff. [kursive Hervorhebungen durch die Verfasserin]. 71 Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 34. 72 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die stärkere Nutzung der Normung in der Gemeinschaftspolitik, KOM (95) 412 endg., S. 4. 70
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Konformitätsbewertung und c) die Marktüberwachung der in den Verkehr gebrachten Produkte.73 Diese Systematik lässt sich auf die oben genannte Entschließung des Europäischen Rates zurückführen. Im Anhang II dieser Entschließung ist ein ausführliches „Schema der Hauptgrundsätze und -elemente, die den Kern der Richtlinien bilden sollten“ aufgestellt. Damit liefert das Schema ein selbstbindendes, allgemeines Konzept – eine Art „Modellrichtlinie“74 – als Fundament für die zukünftige Richtliniengebung. Allerdings liegt der Schwerpunkt des Neuen Konzepts ganz eindeutig auf der Normsetzungsebene. Im Anhang II stehen eingangs die „Leitlinien“, wonach sich die Neue Konzeption auf vier Grundprinzipien für die Rechtsangleichung stützt.75 Als Vorbild dafür diente die mit der Regelungstechnik des Normverweises ausgestattete Niederspannungsrichtlinie 73/23/EWG76, die zuvor noch als „völliger Fremdkörper“ oder als „einmaliger Sündenfall“ bezeichnet worden war und nunmehr schlagartig zum Hoffnungsträger aufstieg.77 2. Grundprinzipien des Neuen Konzeptes a) Festlegung der „grundlegenden Anforderungen“ in den Harmonisierungsrichtlinien Die Produktrichtlinien enthalten künftig nur noch „grundlegende Anforderungen“, insbesondere an Sicherheit und Gesundheit, aber auch an den Verbraucherund Umweltschutz. Der Anwendungsbereich der Richtlinien soll nach großen Produktkategorien und nach den abzudeckenden Gefahrentypen festgelegt werden. Dementsprechend sind die Anforderungen in der Regel in sog. vertikalen bzw. sektoralen Richtlinien produktbezogen, können aber auch in horizontalen Richtlinien phänomen- bzw. gefahrenspezifisch (wie etwa im Bereich der Niederspannung oder der elektromagnetischen Verträglichkeit [EMV]) sein.78 Neben den produkt- bzw. gefahrenspezifischen Richtlinien existiert noch die horizontale allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG79, die am ___________ 73
Vgl. Röhl (Fn. 14), S. 155. Vgl. Merten (Fn. 22), S. 46 ff.; Schumann (Fn. 7), S. 52. 75 Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung, ABl. EG 1985 Nr. C 136, S. 1 (2 f.). 76 s. Fn. 44. 77 Vgl. Klindt (Fn. 70), S. 134; Wiesendahl (Fn. 15), S. 67. 78 Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 36. 79 Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Dezember 2001 über die allgemeine Produktsicherheit, ABl. EG 2002 Nr. L 11, S. 4 ff. 74
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15. Januar 2002 in Kraft getreten ist und die ursprüngliche Produktsicherheitsrichtlinie 92/59/EWG80 zum 15. Januar 2004 aufgehoben hat.81 Die erheblich novellierte und um wesentliche Merkmale des Neuen Konzeptes erweiterte Produktsicherheitsrichtlinie gilt konzeptionell produktspartenübergreifend für alle – insbesondere für die nicht durch spezifische Harmonisierungsrichtlinien erfassten – Verbraucherprodukte.82 In dieser Produktsicherheitsrichtlinie sind enthalten: (1) eine generalklauselartig formulierte, allgemeine Sicherheitsanforderung an Verbraucherprodukte im Zusammenhang mit einem objektivierten Maßstab der „vernünftigerweise vorhersehbaren Verwendung“,83 (2) eine gewichtige Aufwertung der harmonisierten technischen Normen, verbunden mit einem neuartigen Steuerungsinstrument für die Kommission, (3) zusätzliche Pflichten der Hersteller und Händler, (4) ein ausdifferenziertes marktüberwachungsbehördliches Aufgaben- und Befugnissystem mit verschiedenen Standardmaßnahmen sowie (4) das europäische internetbasierte Schnellinformationssystem RAPEX („Rapid Exchange of Information System“) als Notfallsystem.84 Im Gegensatz zur alten Rechtslage nach der Produktsicherheitsrichtlinie 92/59/EWG bleibt nun festzuhalten, dass der Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG aufgrund ihrer Klarstellung insbesondere in Art. 1 Abs. 2 eine Auffang- und Dachfunktion zukommt. Sie gilt damit nicht nur für die bisher nicht spezialrechtlich harmonisierten Produktbereiche, sondern tritt auch als lex generalis ergänzend neben die produktbzw. gefahrenspezifischen Richtlinien.85 Die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie wurde treffend als zukünftiger „Dreh- und Angelpunkt“86 der europarechtlich angelegten mitgliedstaatlichen Nachmarktkontrolle bezeichnet. Ihre ___________ 80
Richtlinie 92/59/EWG des Rates vom 29. Juni 1992 über die allgemeine Produktsicherheit, ABl. EG 1992 Nr. L 228, S. 24 ff. 81 Die nationale Umsetzung der Produktsicherheitsrichtlinie 92/59/EWG bzw. der Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG erfolgte in Deutschland zunächst hauptsächlich durch das Produktsicherheitsgesetz von 1997, dann durch das Geräte- und Produktsicherheitsgesetz von 2004 und zuletzt durch das neue Produktsicherheitsgesetz 2011, siehe dazu Fn. 20. 82 s. zum Begriff des Verbraucherprodukts Dörte Gauger/Roland Hartmannsberger, Rechtliche Anforderungen an Verbraucherprodukte – Pflichten, Risiken, Praxisprobleme, NJW 2014, S. 1137 (1137 f.). 83 Dieser materielle Sicherheitsmaßstab ist nun aufgrund der VO (EG) Nr. 765/2008 (siehe Fn. 157) ein flächendeckendes Konzept für sämtliche europäisch-harmonisierten Produkte, siehe Carsten Schucht, Entwicklungslinien im deutschen Produktsicherheitsrecht, DVBl. 2013, S. 760 (761). 84 Vgl. ausführlich zur Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG Schumann (Fn. 7), S. 56 ff.; Wiesendahl (Fn. 15), S. 90 ff. 85 Vgl. zum Verhältnis der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie zu den produktbzw. gefahrenspezifischen Richtlinien Schumann (Fn. 7), S. 61 ff.; Wiesendahl (Fn. 15), S. 88 ff. 86 Klindt (Fn. 70), S. 136.
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Stellung als „Kernbereich des europäischen Produktsicherheitsrechts“87 ist heute zweifellos gefestigt. Bevor die Produkte innerhalb des Binnenmarktes in den Verkehr gebracht werden, müssen sie mit den in den einschlägigen Harmonisierungsrichtlinien bzw. in der Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG geregelten und entsprechend in nationales Recht umgesetzten wesentlichen bzw. allgemeinen Anforderungen konform sein. Die auf der Kompetenzgrundlage des Art. 114 AEUV (ex Art. 95 EGV, zuvor Art. 100a EWGV) nach dem Neuen Konzept erlassenen Richtlinien enthalten trotz mangelnder Detailregelung grundsätzlich eine totale, vollständige Harmonisierung88 des entsprechenden Produktbereichs und jeweils einheitliche europäische Sicherheitsanforderungen. Die produktsicherheitsrechtlichen Richtlinien stellen keine Mindestharmonisierung89 dar, bei der nationale Regelungen weiterhin über die in den europäischen Harmonisierungsvorschriften festgelegten Mindestanforderungen hinausgehen dürfen.90 Vielmehr sind die Harmonisierungsrichtlinien des Neuen Konzeptes grundsätzlich abschließend und entfalten eine Sperrwirkung gegenüber abweichenden Regelungen der Mitgliedstaaten.91 Lediglich in Ausnahmenfällen darf ein Mitgliedstaat eigene strengere Rechtsvorschriften als in der Richtlinie vorgesehen beibehalten oder einführen. Die Möglichkeit eines solchen „nationalen Alleingangs“92 wird als Kompensation für den Verzicht auf das Einstimmigkeitserfordernis in der EEA angesehen.93 Allerdings sind die strengeren mitgliedstaatlichen Bestimmungen nur unter den engen materiellen wie formellen Voraussetzungen der sog. Schutzergänzungs- bzw. Schutzverstärkungsklauseln („opting-out clauses“) nach Art. 114 Abs. 4 bis 6 AEUV (ex Art. 95 Abs. 4 bis 6 EGV) zulässig und bedürfen einer
___________ 87 Carsten Schucht, Grundrechtsschutz durch Verfahren – Zur Risikobewertung im Produktsicherheitsrecht, DÖV 2014, S. 21 (22). 88 So ausdrücklich Europäische Kommission, Leitfaden für die Umsetzung der nach dem neuen Konzept und dem Gesamtkonzept verfassten Richtlinien, 2000, S. 12. 89 Unzutreffend wird jedoch hier im Schrifttum gelegentlich eine Mindestharmonisierung angenommen, siehe etwa Jürgen Ensthaler/Kai Strübbe/Leonie Bock, Zertifizierung und Akkreditierung technischer Produkte, Berlin 2007, S. 56; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 94; Schneider (Fn. 49), S. 5. 90 Eine derartige Mindestharmonisierung ist etwa in Art. 193 AEUV (ex Art. 176 EGV) vorgesehen. Vgl. ferner zur begrifflichen Unterscheidung von Voll- und Mindestharmonisierung Remien (Fn. 64), § 14, Rn. 42. 91 Vgl. auch Tünnesen-Harmes (Fn. 28), S. 1338; Merten (Fn. 22), S. 41 f., 47; Schumann (Fn. 7), S. 40 f. (mit Fn. 118), 74. 92 Jörg Gundel, Die Neuordnung der Rechtsangleichung durch den Vertrag von Amsterdam – Neue Voraussetzungen für den „nationalen Alleingang“, JuS 1999, S. 1171 ff. [kursive Hervorhebung durch die Verfasserin]. 93 Remien (Fn. 64), § 14, Rn. 10. Siehe auch die Darstellung unter II. 3.
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Billigung durch die Kommission.94 Sie unterliegen ferner einer strengen gerichtlichen Kontrolle. Einen aktuellen Fall liefert die von der Bundesrepublik Deutschland erhobene Klage auf Nichtigerklärung des ablehnenden Beschlusses der Kommission. Hintergrund war, dass die Bundesrepublik die mitgeteilten nationalen Grenzwerte für bestimmte Schwermetalle in Spielzeug die dem früheren Sicherheitsstandard der Spielzeugrichtlinie 88/378/EWG95 entsprechen, beibehalten wollte, obwohl sie von den in der neuen Spielzeugrichtlinie 2009/48/EG96 festgelegten Grenzwerten abweichen. Das Gericht der Europäischen Union (EuG) hielt am strengen Prüfungsmaßstab der EuGH-Rechtsprechung fest und kam zu dem Schluss, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht den ihr obliegenden Nachweis eines höheren Schutzniveaus durch die mitgeteilten nationalen Bestimmungen für bestimmte Schwermetalle erbracht hatte. Aufgrund dessen wies das Gericht die Nichtigkeitsklage Deutschlands zum überwiegenden Teil ab.97 b) Konkretisierung durch harmonisierte „Europäische Normen“ Allerdings ist die Harmonisierung durch die Festlegung der grundlegenden bzw. allgemeinen Anforderungen in den Richtlinien selbst nur eine Angleichung auf „halbem Wege“.98 Deshalb wird die konkrete und spezifische Ausgestaltung des unbestimmten Rechtsbegriffs grundlegender bzw. allgemeiner Anforderungen auf private Normungsorganisationen verlagert, deren Verfahren vor allem von Konsens und Transparenz geprägt sind99. Es erfolgt damit eine „Aufsplittung
___________ 94
Vgl. ausführlich hierzu Kahl (Fn. 13), Art. 114 AEUV, Rn. 48 ff. Richtlinie 88/378/EWG des Rates vom 3. Mai 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug, ABl. EG 1988 Nr. L 187, S. 1 ff. 96 Richtlinie 2009/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über die Sicherheit von Spielzeug, ABl. EU 2009 Nr. L 170, S. 1 ff. 97 EuG, Urt. vom 14.5.2014, Rs. T-198/12 (Deutschland/Kommission), http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=9ea7d0f130d59a2ae24dbe874359ad55fc5f79987052.e34KaxiLc3eQc40LaxqMbN4OaNmQe0?text=&docid=152201&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=482240. Hintergrund des Streits sind unterschiedliche Methoden zur Bewertung des Risikos einer Aufnahme der Stoffe in den Körper. Nach deutschem Recht gelten einheitliche Grenzwerte für einen Schadstoff unabhängig von der Konsistenz der Spielzeugmaterialien. Für das Gericht ist hingegen das Material des Spielzeugs entscheidend und das Risiko einer Gefährdung bei bestimmten Schwermetallen in Spielzeug variiert je nach Material. Somit könne Deutschland nicht behaupten, dass die eigenen Grenzwerte Kinder in jedem Fall besser schützten. 98 Schneider (Fn. 49), S. 5. 99 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die stärkere Nutzung der Normung in der Gemeinschaftspolitik, KOM (95) 412 endg., S. 7. 95
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von Regelungsverantwortungen“.100 Demnach überträgt die Kommission in der Regel dem CEN101 oder/und dem CENELEC102 als den „besonders zuständigen europäischen Normeninstitutionen“103 sowie seit einiger Zeit auch dem ETSI104 die Aufgabe, europäische technische Normen im Rahmen der jeweiligen Richtlinien und in Übereinstimmung mit den zwischen diesen Organisationen und der Kommission im Benehmen mit den Mitgliedstaaten vereinbarten Leitlinien auszuarbeiten und zu verabschieden.105 Die in verschiedenen Konkretisierungsgraden106 festgelegten technischen Normen werden dann als „Europäische Normen“ („EN“) im Amtsblatt der EG bzw. EU veröffentlicht und anschließend von den nationalen Normungsorganisationen unverändert als nationale Normen („Spiegelnormen“, z. B. „DIN EN“ in Deutschland)107 übernommen und national bekanntgemacht. Erst die so entstandenen harmonisierten „Europäischen Normen“ liefern handhabbare Direktiven für die Hersteller in der Praxis.108 Bei der Erteilung der Normungsaufträge verschiebt sich das Gewicht von den Normen,
___________ 100
Klindt (Fn. 20), Einführung, Rn. 53. Zur Koordination der nationalen und europäischen Normungsarbeit etablierte die Informationsrichtlinie 83/189/EWG (siehe dazu Fn. 15) ein „Frühwarnsystem“, das die Mitgliedstaaten zu rechtzeitiger Information über Normungsvorhaben und mithin zu einer „Stillhaltezeit“ verpflichtete. Dies wurde als Anhaltspunkt für eine Trendwende zur europäischen Normung betrachtet. Vgl. dazu Merten (Fn. 22), S. 34 f.; Schumann (Fn. 7), S. 51 mit Fn. 180. 101 Comité Européen de Normalisation, European Committee for Standardization. 102 Comité Européen de Normalisation Électrotechnique, European Committee for Electrotechnical Standardization. 103 Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung, ABl. EG 1985 Nr. C 136, S. 1 (6). Die Ratsentschließung enthält jedoch dort auch eine Öffnungsklausel für die Normungsaufträge an andere Einrichtungen als CEN und CENELEC. 104 European Telecommunications Standards Institute. 105 CEN und CENELEC sind nach dem Grundsatz der nationalen Delegation organisiert, demzufolge Mitglieder die nationalen Normungsorganisationen der EU-Mitgliedstaaten sind und mithin alle nationalen Interessengruppen durch ihre nationalen Normungsorganisationen in CEN und CENELEC vertreten werden. Hingegen verfügt ETSI über ein gemischtes Mitgliedermodell, bei dem Vertreter der Industrie unmittelbar an der Entwicklung europäischer Normen beteiligt sind, der Beschluss über europäische Normen jedoch den nationalen Normungsorganisationen vorbehalten bleibt. Vgl. ausführlich zu Organisationsstruktur und Verfahrensordnung der europäischen Normungsorganisationen CEN, CENELEC und ETSI Wiesendahl (Fn. 15), S. 111 ff. 106 Es wird zwischen Typ-A-Normen (Grundnormen), Typ-B-Normen (Gruppennormen) und Typ-C-Normen (Produkt- oder Fachnormen) unterschieden, vgl. hierzu Klindt (Fn. 20), Einführung, Rn. 54; Schneider (Fn. 49), S. 12 f. 107 Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 38. 108 Schneider (Fn. 49), S. 9.
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die der Erfüllung der in der jeweiligen Richtlinie festgelegten spezifischen Anforderungen dienen, allmählich in Richtung kohärenter Normungsprogramme, die den globalen Anforderungen der entsprechenden Richtlinien genügen.109 c) Freiwilligkeit harmonisierter „Europäischer Normen“ Die europäischen Normungsorganisationen nehmen ihre Normungstätigkeit ausschließlich auf der Grundlage einer vertraglichen Beauftragung durch die Kommission wahr. Eine weitere Ermächtigung, Delegation oder verfahrensrechtliche Vorgabe für ihre Normungsbefugnis besteht weder in den Richtlinien des Neuen Konzeptes noch in sonstigen Rechtsakten der EG bzw. EU.110 Bei den von ihnen erarbeiteten europäisch harmonisierten Normen handelt es sich wegen der privaten Provenienz um private Regelwerke im Rahmen grundrechtlich geschützter Tätigkeit. Folglich haben diese technischen Normen keinen Rechtsnormcharakter und entfalten keinerlei Rechtswirkung.111 Die Befolgung derartiger technischer Spezifikationen ist vielmehr freiwillig. Konsequenterweise dürfen die Hersteller grundsätzlich ihre Produktionen mit anderen technischen Methoden durchführen, um den allein rechtsverbindlichen, grundlegenden bzw. allgemeinen Anforderungen der einschlägigen Richtlinien zu entsprechen. Diese rechtliche Wahlfreiheit der Hersteller dient ggf. industriepolitisch technologischer Vielfalt und Innovation.112 d) Vermutung der Richtlinienkonformität eines normkonformen Produktes Den harmonisierten europäischen Normen kommt zwar keine Rechtsverbindlichkeit zu und die Anwendung dieser Normen steht den Herstellern frei. Jedoch lässt die Einhaltung harmonisierter Normen die Hersteller in den Genuss einer „Beweisprivilegierung“113 kommen. Denn die mitgliedstaatlichen Verwaltungen werden dazu „verpflichtet“114, bei Produkten, die nach harmonisierten Normen hergestellt wurden, von einer Konformität mit den grundlegenden bzw. allgemeinen Anforderungen der einschlägigen Richtlinien auszugehen. Das heißt: Die ___________ 109 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die stärkere Nutzung der Normung in der Gemeinschaftspolitik, KOM (95) 412 endg., S. 11. 110 Vgl. Merten (Fn. 22), S. 43 f.; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 99. 111 Vgl. zur Rechtsnatur europäischer technischer Normen Wiesendahl (Fn. 15), S. 203 ff. 112 Klindt (Fn. 70), S. 134. 113 Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 40 f. 114 Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung, ABl. EG 1985 Nr. C 136, S. 1 (3).
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normenkonforme Herstellung zieht eine Vermutung der Richtlinienkonformität eines Produktes nach sich und erlaubt mithin richtlinienrechtlich zulässiges Inverkehrbringen. Diese Konformitätsvermutung115 wird mit der Technik des Normenverweises116 oder als Rechtsinstitut117 in die Produktrichtlinien eingeführt. Im Gegensatz zur jederzeit widerlegbaren Vermutungswirkung normkonkretisierender Verweisungen im nationalen Technikrecht118 muss die Widerlegung der produktsicherheitsrechtlichen Vermutungswirkung auf Seiten der Mitgliedstaaten im Rahmen der besonderen Schutzklauselverfahren erfolgen, die in den Harmonisierungsrichtlinien vorgesehen werden müssen und von der Kommission mit Unterstützung eines ständigen Ausschusses abgewickelt werden.119 Die Bestätigung des Mangels einer europäisch harmonisierten Norm kann zu deren Streichung aus der veröffentlichten Liste und mithin zum Wegfall der beschriebenen Vermutungswirkung führen; nach einem erfolglosen Schutzklauselverfahren wird hingegen die Konformität für ein normenkonform hergestelltes Produkt unwiderlegbar vermutet. Die Vorkehrung der Schutzklauselverfahren, die primärrechtlich in Art. 114 Abs. 10 AEUV (ex Art. 95 Abs. 10 EGV, zuvor Art. 100a Abs. 5 EWGV) verankert sind,120 gibt den nationalen Überwachungsbehörden die Möglichkeit, die Qualität einer europäisch harmonisierten Norm bei normenkonform hergestellten Produkten anzufechten. Sie spielen zudem eine besondere Rolle im Marktüberwachungssystem.121 Daneben können die Kommission oder die Mitgliedstaaten ein abstraktes Normprüfungsverfahren auf der ___________ 115 Kritisch zur Vermutungswirkung Eifert (Fn. 3), § 19, Rn. 65: „Die Vermutungswirkung verwandelt die Frage der Bindung in ein Beweisproblem.“ 116 Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung, ABl. EG 1985 Nr. C 136, S. 1 (8 f.). Vgl. zur Technik des Normenverweises nach dem Vorbild der Niederspannungsrichtlinie 73/23/EWG („Stand der Sicherheitstechnik“) Merten (Fn. 22), S. 32 ff. Es handelt sich bei der Verweisungstechnik der Richtlinien nach dem Neuen Konzept und der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie typologisch um eine normkonkretisierende dynamische Verweisung mit widerlegbarer Vermutungswirkung, siehe näher dazu Wiesendahl (Fn. 15), S. 220 ff.; Schumann (Fn. 7), S. 123 ff. 117 Vgl. dazu Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 41. Das Rechtsinstitut der Konformitätsvermutung ist nun erstmals im Rahmen des „New Legislative Framework“ in Art. R8 des Anhangs I zum Beschluss Nr. 768/2008/EG (siehe Fn. 151) als eine Musterbestimmung für die zukünftige Richtliniengebung verbindlich festgelegt. 118 Merten (Fn. 22), S. 44. 119 Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung, ABl. EG 1985 Nr. C 136, S. 1 (3, 6 f.); vgl. ausführlich zur konkreten Normprüfung im Rahmen der richtlinienrechtlichen Schutzklauselverfahren Wiesendahl (Fn. 15), S. 249 ff., 269 ff. 120 Die Verbindung der Harmonisierungsmaßnahmen mit einer Schutzklausel entspricht einer langjährigen Praxis der EG bzw. EU und ermächtigt die Mitgliedstaaten zur Ergreifung vorläufiger Maßnahmen in Notfällen, vgl. dazu Kahl (Fn. 13), Art. 114 AEUV, Rn. 78. 121 Vgl. nur Dimitropoulos (Fn. 16), S. 120.
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Grundlage entsprechender richtlinienrechtlicher Vorschriften einleiten, um die Güte europäisch harmonisierter Normen präventiv sicherzustellen.122 Als Umkehrschluss aus der Konformitätsvermutung für ein normkonform hergestelltes Produkt ergibt sich, dass die Hersteller zwar die Wahl haben, nicht nach den harmonisierten Normen zu produzieren, ihnen aber dann die Beweislast für eine Konformität ihrer Produkte mit den in den Richtlinien festgelegten grundlegenden bzw. allgemeinen Anforderungen obliegt.123 Wegen des damit verbundenen Zeit- und Kostenaufwandes, des Risikos der Nichtanerkennung durch andere Mitgliedstaaten sowie der Minderung der Wettbewerbsfähigkeit bringt eine Nichtbeachtung harmonisierter Normen in der Regel beträchtliche wirtschaftliche Nachteile mit sich. Somit übt der Anreiz der oben beschriebenen Konformitätsvermutung einen faktischen Zwang auf die Unternehmen zu normkonformer Produktion aus und kommt im Endeffekt einer Rechtsverbindlichkeit sehr nahe.124 3. Zwiespältige Resonanz auf das Neue Konzept Die Entschließung des Rates aus dem Jahre 1985 hat den Grundstein für die Nutzung der Normung zur Unterstützung der Entwicklung von technischen Vorschriften der Gemeinschaft gelegt. Die Zielvorgaben sind in vollem Maße umgesetzt worden. Ökonomisch betrachtet ist es unbestreitbar, dass das Neue Konzept ein äußerst erfolgreicher Wurf der EG bzw. EU ist. Es führte zu einem Quantensprung nicht nur in der Entwicklung der europäischen Binnenmarktintegration für Waren, sondern zugleich in der Durchsetzung gemeinschaftlicher bzw. unionaler sicherheitspolitischer Zielsetzungen. Allein die Tatsache, dass für eine große Bandbreite von Produkttypen bzw. Produktphänomenen auf der Grundlage der oben dargestellten vier Grundprinzipien – zusätzlich gestützt auf neuere ver-
___________ 122 Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung, ABl. EG 1985 Nr. C 136, S. 1 (6); vgl. ausführlich hierzu Wiesendahl (Fn. 15), S. 236 ff., 265 ff. 123 Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung, ABl. EG 1985 Nr. C 136, S. 1 (3); Europäische Kommission (Fn. 88), S. 31. 124 Vgl. Merten (Fn. 22), S. 46, 49; Schneider (Fn. 49), S. 6.; ähnlich auch Huber (Fn. 2), § 45, Rn. 217: auf eine faktische Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen hinauslaufend; zur Qualifikation technischer Standards als Soft Law siehe Matthias Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, Tübingen 2010, S. 242 f.
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fahrensbeschleunigende Kompetenznorm des heutigen Art. 114 AEUV – zahlreiche Harmonisierungsrichtlinien125 einschließlich der verbraucherschützenden allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG erlassen wurden, zeugt von der Effizienz des eingeschlagenen neuen Weges. Die gemeinschafts- bzw. unionsweit einheitliche Geltung des in den produktsicherheitsrechtlichen Harmonisierungsrichtlinien festgelegten umfassenden Gesamtsystems materieller sowie formeller Anforderungen ist auch durch weitestgehend übereinstimmende, nationale Umsetzungsakte sichergestellt.126 Eine technologieunabhängige Richtliniengebung, in die zudem privater Sachverstand einbezogen wird, führt zu einer erheblichen Beschleunigung und Flexibilisierung des Rechtsetzungsprozesses und fördert gleichzeitig die Innovation und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft.127 Die europäische Normung erweist sich dabei als ein wichtiger Faktor für die Selbstregulierung und dient als eine effiziente Ergänzung zu Rechtsvorschriften. Auf der Grundlage einer starken Infrastruktur und eines klar definierten Status ist ihre fördernde Rolle bei der europäischen Integration und vor allem im öffentlich-rechtlich geprägten, gefahrenabwehrenden Produktsicherheitsrecht bereits gefestigt worden. Das Schwergewicht der Normungstätigkeiten hat sich daher von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert und sich dabei von der Harmonisierung nationaler Praktiken zur antizipierenden Ausarbeitung neuer europäischer Normen gewandelt.128 Trotz seines unbestreitbaren Erfolgs beschwört das innovative und praktikable Rechtsetzungskonzept einer Verknüpfung zwischen Richtliniengebung und Beweisprivilegierung harmonisierter europäischer Normen jedoch andererseits ein strukturelles Problem herauf, das in der Verlagerung der Entscheidungsverantwortung von den Gemeinschafts- bzw. Unionsorganen auf die europäischen Normungsorganisationen begründet liegt. In der Praxis neigen die nationalen Überwachungsbehörden häufig dazu, ungeachtet der oben beschriebenen Vermutungsregel eine echte Identität zwischen richtlinienrechtlichen Sicherheitsanforderungen und harmonisierten europäischen Normen anzunehmen.129 Ferner wird im Schrifttum die theoretisch unverbindliche, jedoch faktisch zwingend wirkende europäische Normung im Lichte demokratischer und rechtsstaatlicher Erfordernisse unterschiedlich bewertet. Teilweise stößt sie auf den Einwand einer ___________ 125 Siehe zu den erlassenen New-Approach-Harmonisierungsrichtlinien Wiesendahl (Fn. 15), S. 71 ff.; ferner European Commission, The „Blue Guide“ on the implementation of EU product rules 2014, S. 103 ff. 126 Schumann (Fn. 7), S. 69. 127 Vgl. Merten (Fn. 22), S. 48. 128 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die stärkere Nutzung der Normung in der Gemeinschaftspolitik, KOM (95) 412 endg., S. 4 f., 9 f. 129 Vgl. Klindt (Fn. 20), Einführung, Rn. 55.
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EG- bzw. EU-Vertragswidrigkeit.130 Abgesehen von den Meinungsverschiedenheiten ist der Appell an eine „steuernde Rezeption“131 durch die Kommission oder andere EU-Organe angebracht. In diesem Zusammenhang wird einer Steuerung der europäischen Normung durch die Kommission in einem formalisierten Verfahren der abstrakten Normprüfung gemäß Art. 4 der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG Vorbildfunktion beigemessen.132 Aufgewertet werden sollte zudem die Funktion der oben genannten Schutzklauselverfahren, die sicherstellen, dass die dem freien Warenverkehr dienenden Harmonisierungsrichtlinien letztlich nicht auf Kosten hohen Schutzniveaus gehen. Primärrechtlich ist hervorzuheben, dass die auf einem Konsens sowie einem offenen und transparenten Entscheidungsprozess beruhende europäische Normung in hohem Maße eine Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips darstellt.133 Die europäische Normung erfreut sich aktuell einer hohen Aufmerksamkeit und die fortschreitend aktive Normungspolitik der Europäischen Union ist im Begriff, eine weitere ambitionierte Erfolgsgeschichte zu werden. Nach einer umfassenden Überprüfung hatte die Kommission Anfang Juni 2011 ein Normungspaket vorgelegt, das aus einer politisch-strategischen Mitteilung134 und einem Verordnungsentwurf135 bestand. Die Reformvorhaben der Kommission zielten darauf ab, zur Verbesserung und Modernisierung des europäischen Normungssystems beizutragen. Neben einer Reihe nicht legislativer Maßnahmen stand der Vorschlag für eine Verordnung zur europäischen Normung im Mittelpunkt. Nach intensiven Verhandlungen und einigen Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Kommissionsentwurf trat die Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 zur europäischen Normung136 in allen EU-Mitgliedstaaten am 7. Dezember 2012 in Kraft ___________ 130 s. umfassend zur Frage nach den primärrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Technik des Normenverweises Wiesendahl (Fn. 15), S. 273 ff. 131 Huber (Fn. 2), § 45, Rn. 217. 132 So Wiesendahl (Fn. 15), S. 315. 133 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die stärkere Nutzung der Normung in der Gemeinschaftspolitik, KOM (95) 412 endg., S. 6. 134 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Eine strategische Vision der europäischen Normung: Weitere Schritte zur Stärkung und Beschleunigung des nachhaltigen Wachstums der europäischen Wirtschaft bis zum Jahr 2020, KOM (2011) 311 endg. 135 Europäische Kommission, Vorschlag für Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur europäischen Normung und zur Änderung der Richtlinien 89/686/EWG und 93/15/EWG des Rates sowie der Richtlinien 94/9/EG, 94/25/EG, 95/16/EG, 97/23/EG, 98/34/EG, 2004/22/EG, 2007/23/EG, 2009/105/EG und 2009/23/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, KOM (2011) 315 endg. 136 Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur europäischen Normung, zur Änderung der Richtlinien 89/686/EWG und 93/15/EWG des Rates sowie der Richtlinien 94/9/EG, 94/25/EG, 95/16/EG, 97/23/EG, 98/34/EG, 2004/22/EG, 2007/23/EG, 2009/23/EG und 2009/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung des Beschlusses 87/95/EWG
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und gilt seit dem 1. Januar 2013. Die neue Verordnung baut weiterhin auf den anerkannten Grundpfeilern des europäischen Normungssystems wie dem nationalen Delegationsprinzip,137 der Gewährleistung der Marktrelevanz sowie der freiwilligen Anwendung harmonisierter Normen auf, enthält aber eine kombinierte und aktualisierte Revision der gesetzlichen Rahmenbedingungen für die europäische Normung im Verhältnis zu den bisher einschlägigen Rechtsakten.138 Der neue Rechtsrahmen soll in erster Linie die Erarbeitung harmonisierter Normen für Produkte zur Unterstützung von Harmonisierungsrechtsvorschriften der Europäischen Union beschleunigen. Über die Steigerung der Effizienz sowie der Legitimität des Normungsverfahrens hinaus werden auch neue Aspekte und Gebiete einer europäischen Normung erschlossen, um eine Anpassung an das sich rasch weiterentwickelnde Umfeld und die Globalisierung zu ermöglichen. Die wesentlichen Elemente der europäischen Normungsverordnung sind: 1) als zentrales Anliegen die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Normungsorganisationen, den nationalen Normungsorganisationen, den Mitgliedstaaten und der Kommission;139 2) die stärkere Einbeziehung von kleinen und mittleren Unternehmen und gesellschaftlichen Interessengruppen (z. B. Verbraucherverbänden) in den Normungsprozess über die nationalen Normungsorganisationen; 3) die Ausweitung des europäischen Normungssystems auf Dienstleistungen; 4) die Identifizierung referenzierbarer weltweiter IKT140Normen und schließlich 5) die Finanzierung der europäischen Normungen. Bei solch einem dynamischen und bedürfnisorientierten europäischen Normungssystem sollte man allerdings beachten: „Europäische Normen können europäische Rechtsvorschriften keinesfalls ersetzen, sondern nur ergänzen, und sie können den europäischen Gesetzgeber nicht davon abhalten, wichtige Fragen auf EU-Ebene zu behandeln.“141
___________ des Rates und des Beschlusses Nr. 1673/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. EU 2012 Nr. L 316, S. 12 ff. 137 s. Fn. 105. 138 Die Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 ersetzt die Informationsrichtlinie 98/34/EG (siehe Fn. 15) nicht vollständig, sondern ändert sie nur teilweise. 139 s. ausführlich hierzu European Commission (Fn. 125), S. 33 ff. 140 Informations- und Kommunikationstechnologien. 141 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Eine strategische Vision der europäischen Normung: Weitere Schritte zur Stärkung und Beschleunigung des nachhaltigen Wachstums der europäischen Wirtschaft bis zum Jahr 2020, KOM (2011) 311 endg., S. 3. [kursive Hervorhebungen durch die Verfasserin].
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IV. Das Globale Konzept („Global Approach“): Einrichtung der Konformitätsbewertungsverfahren 1. Rechtliche Grundlagen Das Neue Konzept, das lediglich der Harmonisierung der materiell-rechtlichen Sicherheitsanforderungen an die Produkte diente, stellte einen ersten, weichenstellenden Schritt zum Abbau der technischen Handelshemmnisse für den europäischen Binnenmarkt dar. Das Inverkehrbringen der unter die Harmonisierungsrichtlinien fallenden Produkte erfordert zudem die Einhaltung der in den einschlägigen Richtlinien geregelten grundlegenden Anforderungen. Ohne die verfahrens- und organisationsrechtliche Vereinheitlichung der Marktzugangskontrollen waren Forderungen nach erneuten Prüfungen oder gar Bescheinigungen für die Richtlinienkonformität von eingeführten Produkten in den Mitgliedstaaten häufig unvermeidbar. Es bedurfte daher eines gemeinschaftsweit gleichförmigen und transparenten Kontroll- und Vollzugsmechanismus zur Vertrauenserzeugung und gegenseitigen Anerkennung von Produktzulassungen. Diese fehlende zweite Säule zur Beseitigung der technischen Handelsbarrieren wurde bereits in der genannten Ratsentschließung zum Neuen Konzept angedeutet.142 Aufbauend auf dem Neuen Konzept legte die Kommission 1989 ein „Globales Konzept für Zertifizierung und Prüfwesen“143 vor, das ein kohärentes System der modular konzipierten Konformitätsbewertungsverfahren für alle bereichsspezifischen Harmonisierungsrichtlinien144 entwickelte. Der Kommissionsvorschlag wurde sogleich vom Rat durch die Entschließung des Rates zu einem Gesamtkonzept für die Konformitätsbewertung145 angenommen. Die Umsetzung des Globalen Konzeptes146 erfolgte zunächst 1990 durch den sog. Modulbeschluss,147 der der künftigen Richtliniengebung acht Grundmodule für die verschiedenen Phasen der Konformitätsbewertungsverfahren zur Verfügung stellte und die ___________ 142
Vgl. Wiesendahl (Fn. 15), S. 76; Schumann (Fn. 7), S. 55. Europäische Kommission, Ein Globales Konzept für Zertifizierung und Prüfwesen – Instrument zur Gewährleistung der Qualität bei Industrieerzeugnissen, KOM (1989) 209 endg.; Mitteilung der Kommission an den Rat vom 15. Juni 1989, ABl. EG 1989 Nr. C 267, S. 3 ff. 144 Die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG enthält überhaupt keine Regelung des Verfahrens zur Produktzulassung. 145 Entschließung des Rates vom 21. Dezember 1989 zu einem Gesamtkonzept für die Konformitätsbewertung, ABl. EG 1990 Nr. C 10, S. 1 f. 146 Zu den uneinheitlichen Bezeichnungen von Globalem Konzept bzw. Gesamtkonzept siehe Fn. 16. 147 Beschl. 90/683/EWG des Rates vom 13. Dezember 1990 über die in den technischen Harmonisierungsrichtlinien zu verwendenden Module für die verschiedenen Phasen der Konformitätsbewertungsverfahren, ABl. EG 1990 Nr. L 380, S. 13 ff. 143
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grundsätzliche Pflicht zur CE-Kennzeichnung auf den richtlinienrechtlich harmonisierten Produkten einführte. Dieser Modulbeschluss wurde im Jahre 1993 durch den Beschluss 93/465/EWG148 ersetzt, der neben den novellierten Konformitätsbewertungsmodulen die Regeln für die Anbringung und Verwendung der CE-Kennzeichnung vereinheitlichte. Gemeinsam mit dem Modulbeschluss von 1993 wurde auch die Änderungsrichtlinie 93/68/EWG149 verabschiedet, welche die bis dahin erlassenen Harmonisierungsrichtlinien in Bezug auf den Modulbeschluss in einem Akt nachträglicher Systematisierung anglich.150 Der im Rahmen des „New Legislative Framework“ 2008 erlassene Beschluss Nr. 768/2008/EG151 hebt wiederum den Modulbeschluss von 1993 auf und geht zugleich weit über diesen hinaus.152 Die von den Harmonisierungsrichtlinien vorgesehenen Konformitätsbewertungsverfahren sind entweder eigenverantwortlich durch die Hersteller selbst oder für risikoreichere Produkte durch die unabhängigen dritten, sog. notifizierten (benannten) Stellen durchzuführen. Da den notifizierten Stellen eine zentrale Rolle im Marktzugangsregime zukommt, hat der bisherige Modulbeschluss bereits eine Regelung einheitlicher Anforderungen an die Tätigkeit und Kompetenz der notifizierten Stellen ins Visier genommen. Der Beschluss Nr. 768/2008/EG enthält diesbezüglich bedeutend detailliertere und präzisere Bestimmungen. Dagegen standen die Verfahren der Akkreditierung und Notifizierung (Benennung) zur Sicherstellung der Qualifikation solcher Stellen bis zum „New Legislative Framework“ nicht im Harmonisierungsprogramm des Globalen Konzeptes. ___________ 148 Beschl. 93/465/EWG des Rates vom 22. Juli 1993 über die in den technischen Harmonisierungsrichtlinien zu verwendenden Module für die verschiedenen Phasen der Konformitätsbewertungsverfahren und die Regeln für die Anbringung und Verwendung der CE-Konformitätskennzeichnung, ABl. EG 1993 Nr. L 220, S. 23 ff. 149 Richtlinie 93/68/EWG des Rates vom 22. Juli 1993 zur Änderung der Richtlinien 87/404/EWG (einfache Druckbehälter), 88/378/EWG (Sicherheit von Spielzeug), 89/106/EWG (Bauprodukte), 89/336/EWG (elektromagnetische Verträglichkeit), 89/392/EWG (Maschinen), 89/686/EWG (persönliche Schutzausrüstungen), 90/384/EWG (nicht selbsttätige Waagen), 90/385/EWG (aktive implantierbare medizinische Geräte), 90/396/EWG (Gasverbrauchseinrichtungen), 91/263/EWG (Telekommunikationsendeinrichtungen), 92/42/EWG (mit flüssigen oder gasförmigen Brennstoffen beschickte neue Warmwasserheizkessel) und 73/23/EWG (elektrische Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen), ABl. EG 1993 Nr. L 220, S. 1 ff. 150 Vgl. zu den bisherigen rechtlichen Grundlagen zum Globalen Konzept Hans Christian Röhl/Yvonne Schreiber, Konformitätsbewertung in Deutschland, im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, 2006, S. 51 f.; Wiesendahl (Fn. 15), S. 76 f. 151 Beschl. Nr. 768/2008/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung des Beschlusses 93/465/EWG des Rates, ABl. EU 2008 Nr. L 218, S. 82 ff. 152 Vgl. Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 51.
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2. Begriffsbestimmungen: Konformitätsbewertung, Zertifizierung und Akkreditierung Die Konformitätsbewertung ist ein typisch auf (technische) Normen bezogenes Kontrollinstrument privatwirtschaftlicher Provenienz und bildet die Grundlage für Qualitätssicherung und Vertrauen in Produkte, Dienstleistungen und Herstellungsprozesse.153 Sie hat sich in der Entwicklung der europäischen Binnenmarktintegration als ein rechtlich verflochtenes System von Selbststeuerung und privater wie auch hoheitlicher Fremdsteuerung herauskristallisiert. Der Beschluss Nr. 768/2008/EG geht von einem umfassenden Verständnis der Konformitätsbewertung aus. Zum einen sieht Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses vor, dass die Konformitätsbewertung durch Behörden, Hersteller oder notifizierte Stellen vorzunehmen ist. Zum anderen enthält Art. R1 Abs. 12 des Anhangs I zum Beschluss eine Definition als Musterbestimmung, wonach mit Hilfe der Konformitätsbewertung bewertet wird ob spezifische Anforderungen an ein Produkt, ein Verfahren, eine Dienstleistung, ein System, eine Person oder eine Stelle erfüllt worden sind.154 Diese mit der internationalen Norm ISO/IEC 17000:2005 übereinstimmende Bestimmung155 stellt im Hinblick auf Gegenstand, Maßstab, Subjekt und Tätigkeit einen weiten und neutralen Begriff der Konformitätsbewertung dar. Demzufolge kann sich die Konformitätsbewertung insbesondere auch auf Dienstleistungen beziehen, anhand Rechtsvorschriften oder/und privater unverbindlicher Normen erfolgen, von Herstellern und Anbietern („first-party“) oder von Kunden und Nutzern („second-party“) oder nicht zuletzt von unabhängigen dritten Stellen („third-party“), mithin auch von Behörden vorgenommen werden. Ferner umfasst die Konformitätsbewertung bezüglich der Art der Tätigkeit die Prüfung, Kalibrierung, Inspektion, Zertifizierung und Akkreditierung.156 Eine Legaldefinition für den Begriff Akkreditierung findet sich nun in Art. 2 Abs. 10 der im Rahmen des „New Legislative Framework“ erlassenen Verordnung (EG)
___________ 153 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung der Konformitätsbewertung Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 12 ff. 154 Eine entsprechende Legaldefinition der Konformitätsbewertung ist in Art. 2 Abs. 12 der ebenfalls im Rahmen des „New Legislative Framework“ 2008 erlassenen Verordnung (EG) Nr. 765/2008 (siehe Fn. 157) vorgesehen. 155 Siehe zur Definition der Konformitätsbewertung nach ISO/IEC 17000:2005 Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 3 ff.; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 38 ff. 156 Näher zu den diesbezüglichen Definitionen in der internationalen Norm ISO/IEC 17000:2005 siehe Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 5 f.; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 39 f.
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Nr. 765/2008157 aus dem Jahre 2008.158 Demnach stellt sich die Akkreditierung als eine besondere Form der Konformitätsbewertung dar, deren Gegenstand eine Konformitätsbewertungsstelle ist. Durch Bestätigung und Überwachung der Kompetenz und Eignung von Konformitätsbewertungsstellen anhand harmonisierter Normen sichert sie die Qualität und Gleichwertigkeit der Konformitätsbewertung auf einer zweiten, höheren Stufe.159 In diesem Sinne ist die Akkreditierung von Konformitätsbewertungsstellen eine „Konformitätsbewertung zweiter Ordnung“.160 Allerdings soll – um einer besseren Unterscheidung der verschiedenen Ebenen willen – eine die Akkreditierung durchführende Stelle stets als Akkreditierungsstelle bezeichnet werden, wohingegen sich der Begriff Konformitätsbewertungsstelle auf die Stellen beschränkt, die die Konformitätsbewertungstätigkeiten der Prüfung, Kalibrierung, Inspektion oder/und Zertifizierung durchführen.161 Dem entspricht nun auch die Definition der Konformitätsbewertungsstelle als Musterbestimmung in Art. R1 Abs. 13 des Anhangs I zum Beschluss Nr. 768/2008/EG.162 Ungeachtet des zugrundeliegenden umfassenden Verständnisses der Konformitätsbewertung soll nach der Systematik des geltenden „Neuen Rechtsetzungsrahmens“ die Konformitätsbewertung im engeren Sinne die Regel werden.163 Während die genannte Legaldefinition der Konformitätsbewertungsstelle die ___________ 157 Verordnung (EG) Nr. 765/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 339/93 des Rates, ABl. EU 2008 Nr. L 218, S. 30 ff. 158 „Akkreditierung“: Bestätigung durch eine nationale Akkreditierungsstelle, dass eine Konformitätsbewertungsstelle die in harmonisierten Normen festgelegten Anforderungen und gegebenenfalls zusätzlichen Anforderungen, einschließlich solcher in relevanten sektoralen Akkreditierungssystemen erfüllt, um eine spezielle Konformitätsbewertungstätigkeit durchzuführen. 159 Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 6. 160 Dimitropoulos (Fn. 16), S. 40. Eine terminologische Ausnahme macht die „Akkreditierung“ von Studiengängen. Im Rahmen des sog. Bologna-Prozesses etablierte sich ein Akkreditierungssystem zur Qualitätssicherung von neu eingeführten Bachelor- und Masterstudiengängen an deutschen Hochschulen. Dieses System ähnelt dem Konformitätsbewertungssystem. Auf der ersten Stufe des Systems erfolgt die „Akkreditierung“ von Studiengängen durch unabhängige Akkreditierungsagenturen. Diese werden wiederum auf der zweiten Stufe durch den Akkreditierungsrat akkreditiert. Der Terminus Akkreditierung wird hier auf beiden Stufen der Qualitätssicherung verwendet, wobei die „Akkreditierung“ von Studiengängen eigentlich eine Zertifizierung darstellt. Ausführlich zur Akkreditierung von Studiengängen siehe Karin Bieback, Zertifizierung und Akkreditierung – Das Zusammenwirken staatlicher und nichtstaatlicher Akteure in gestuften Prüfsystemen, Baden-Baden 2008, S. 132 ff. 161 Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 4 (mit Fn. 10), 29 f.; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 40. 162 Eine entsprechende Legaldefinition der Konformitätsbewertungsstelle ist in Art. 2 Abs. 13 der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 vorgesehen. 163 Dimitropoulos (Fn. 16), S. 100.
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Akkreditierungsstelle begrifflich ausschließt, bezeichnet das Konformitätsbewertungsverfahren ein systematisches Verfahren zur Prüfung und Bestätigung der Konformität eines Produktes mit den grundlegenden Anforderungen der jeweiligen Harmonisierungsrichtlinien. Die Bestätigung der Richtlinienkonformität eines Produktes erfordert häufig eine von einer unabhängigen dritten, notifizierten Stelle ausgestellte Konformitätsbescheinigung, ein sog. Zertifikat („certificate“).164 Daraus ergibt sich, dass die Zertifizierung neben der Akkreditierung die bedeutendste Form der Konformitätsbewertung ist. Sie wird zwar hinsichtlich der Tätigkeitsbereiche der Konformitätsbewertungsstelle in Art. R1 Abs. 13 des Anhangs I zum Beschluss Nr. 768/2008/EG aufgeführt, jedoch nicht weiter definiert. Entsprechend der internationalen Norm ISO/IEC 17000:2005 beinhaltet die Zertifizierung, die sich gegenständlich auf Produkte, Dienstleistungen, Prozesse, Systeme oder Personen beziehen kann, eine formelle Bestätigung über die Erfüllung der festgelegten Anforderungen. Charakteristisch ist dabei, dass die Zertifizierung – im Unterschied zu den übrigen Formen der Konformitätsbewertung im engeren Sinne – stets durch eine unabhängige dritte Stelle (Zertifizierungsstelle) erfolgt.165 Dieser drittbezogene Begriff der Zertifizierung liegt nun auch dem geltenden europäischen Neuen Rechtsetzungsrahmen zugrunde.166 Die Zertifizierungsstellen entscheiden selbst über die Richtlinienkonformität der Produkte und stellen die wichtigste Unterkategorie der Konformitätsbewertungsstellen dar. Hingegen können die Prüf- und Kalibrierlaboratorien von den Zertifizierungsstellen im Rahmen der Zertifizierungsverfahren herangezogen werden, aber sie erteilen keine Zertifikate.167 Unter den einzuschaltenden notifizierten Konformitätsbewertungsstellen für die Durchführung bestimmter Konformitätsbewertungsverfahren nach den Harmonisierungsrichtlinien des Neuen und Globalen Konzeptes stehen daher die notifizierten Zertifizierungsstellen im Vordergrund. Zertifizierung und Akkreditierung sind die wichtigsten Formen der Konformitätsbewertung. Die Zertifizierung zielt auf den Nachweis der Richtlinienkonformität von Produkten, während sich die Akkreditierung auf die Sicherung der Kompetenz und Eignung von Zertifizierungsstellen bezieht. Die beiden Konformitätsbewertungsformen sind voneinander unabhängig, aber komplementär. Ein unionsrechtlich verflochtenes zweistufiges System der Zertifizierung und Akkreditierung soll dazu beitragen, die Vertrauens- sowie Anerkennungsfähigkeit der Konformitätsnachweise zu fördern und damit den freien Warenverkehr im Binnenmarkt zu gewährleisten. ___________ 164
Dimitropoulos (Fn. 16), S. 48, 109. Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 5, 7; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 40, 47. 166 Dimitropoulos (Fn. 16), S. 102 mit Fn. 274; im gleichen Sinne auch Bieback (Fn. 160), S. 33, 57. 167 Bieback (Fn. 160), S. 58. 165
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3. Harmonisierung der Konformitätsbewertungsverfahren nach modularer Konzeption Das Konformitätsbewertungsverfahren dient der Prüfung und dem Nachweis der Richtlinienkonformität eines Produktes vor seinem Inverkehrbringen. Der Hersteller trägt die primäre Verantwortung für die ordnungsmäßige Durchführung des jeweiligen Konformitätsbewertungsverfahrens. Die Regelung der relevanten Konformitätsbewertungsverfahren in den Harmonisierungsrichtlinien nach dem Neuen und dem Globalen Konzept erfolgte bisher auf der Grundlage des genannten Modulbeschlusses aus den Jahren 1990/1993. Der Beschluss Nr. 768/2008/EG, der den Modulbeschluss aufhebt und ersetzt,168 übernimmt in seinem Anhang II die acht typisierten Grundmodule (Module A bis H) und enthält zusätzlich noch viele Varianten zu den einzelnen Modulen, so dass für den Richtliniengeber ein breites Spektrum der Kombinationsmöglichkeiten zur Auswahl bereitsteht.169 Diese Module beziehen sich auf die Produktentwurfs- und/oder die Produktfertigungsphase und stellen verschiedene Verfahrensbausteine170 dar, aus denen die in den Harmonisierungsrichtlinien jeweils zu verwendenden Konformitätsbewertungsverfahren ausgewählt werden können. Damit wird die Verabschiedung der produktsicherheitsrechtlichen Richtlinien erleichtert171 und mithin die Sicherstellung der Richtlinienkonformität harmonisierter Produkte durch die mitgliedstaatlichen Behörden ermöglicht.172 Die Produkte werden in der Regel auf der Produktentwurfs- und der Produktfertigungsphase einer Konformitätsbewertung unterzogen.173 Die acht Grundmodule und ihre Varianten betreffen überwiegend die beiden Phasen des Konformitätsbewertungsverfahrens und decken diese vollständig ab (Module A, A1, A2, D1, E1, F1, G, H und H1); im Übrigen beziehen sie sich teils nur auf die Produktentwurfsphase (Modul B), teils nur auf die Produktfertigungsphase (Module C, C1, C2, D, E und F).174 Ferner lassen sich die Module nach der Art und Weise der Bewertung differenzieren: Baumusterprüfung, Bauartzulassung, Einzelprüfung oder prozedurale Qualitätssicherung. Ein wesentlicher Unterschied liegt vor allem in der Prüfperson, wobei zur Konformitätsbewertung entweder eine bloße Eigenerklärung des Herstellers ausreicht oder eine Pflicht zur Drittprüfung und Zertifizierung besteht. Lediglich im Modul A (interne Fertigungskontrolle), das ___________ 168
Art. 8 Beschl. Nr. 768/2008/EG. Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 52, 81; ausführlich zur modularen Konzeption der Konformitätsbewertung European Commission (Fn. 125), S. 54 ff. 170 Dimitropoulos (Fn. 16), S. 102. 171 Wiesendahl (Fn. 15), S. 77. 172 Wiesendahl (Fn. 15), S. 78. 173 Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 52; European Commission (Fn. 125), S. 63. 174 Eine anschauliche Übersicht über alle Module bieten die Tabelle und Graphik bei European Commission (Fn. 125), S. 59 ff. 169
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in einigen Richtlinien für die Anwendung europäisch harmonisierter Normen durch den Hersteller in Bezug auf weniger gefährliche oder einfach konstruierte Produkte gilt,175 genügt es, wenn der Hersteller selbst die Konformität seines Produktes mit den einschlägigen grundlegenden Anforderungen bewertet und bestätigt. Hingegen sind in der Mehrzahl der Module Konformitätsbewertungsverfahren vorgesehen, zu deren Durchführung der Hersteller zur Einschaltung von notifizierten Konformitätsbewertungs- bzw. Zertifizierungsstellen verpflichtet ist. Darüber hinaus tritt nun als dritte Alternative die Konformitätsbewertung durch eine akkreditierte interne Stelle176 hinzu (Module A1, A2, C1 und C2), die einen Mittelweg zwischen einfacher Herstellererklärung und dritter Zertifizierung darstellt.177 Das Globale Konzept legt von Anfang an nicht nur auf die Harmonisierung der Konformitätsbewertungsverfahren für den jeweiligen Produktbereich Wert, sondern auch auf die Vereinheitlichung der Verfahren einzelner Bereiche untereinander.178 Um die Kohärenz sektorenübergreifend zu gewährleisten und Adhoc-Gesetzgebungen zu vermeiden,179 sind für die Auswahl der in den sektoralen Rechtsvorschriften zu verwendenden Konformitätsbewertungsverfahren aus dem „horizontal menu“180 von Verfahrensmodulen allgemeine Kriterien in Art. 4 Beschluss Nr. 768/2008/EG detailliert festgelegt. Die Auswahl eines Konformitätsbewertungsverfahrens unterschiedlicher Strenge und Intensität richtet sich in erster Linie nach Maßgabe der Art und des Gefahrenpotentials eines Produktes. Dabei gilt es auch, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten und mithin den Hersteller nicht übermäßig zu belasten. Zudem soll der Unionsgesetzgeber die wirtschaftliche Infrastruktur des zu harmonisierenden Sektors, die Produktionsweise und den Produktionsumfang berücksichtigen. Dem Hersteller soll ferner im vertretbaren Rahmen die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Verfahrensmodulen der jeweiligen Richtlinie eingeräumt werden. Nicht zuletzt ist die Kohärenz der Konformitätsbewertungsverfahren für den häufig anzutreffenden Fall zu gewährleisten, dass ein Produkt unter mehrere Richtlinien fällt.181 ___________ 175
s. die Beispiele hierzu bei Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 54 mit Fn. 108; Wiesendahl (Fn. 15), S. 84 mit Fn. 298 f. 176 Die akkreditierte interne Stelle stellt einen eigenen und gesonderten Teil des Herstellerunternehmens mit gewisser Unabhängigkeit dar, näher dazu Art. 4 Abs. 5 lit. c und Anhang I Art. R21 Beschluss Nr. 768/ 2008/EG. 177 Vgl. Dimitropoulos (Fn. 16), S. 101, 103; European Commission (Fn. 125), S. 55. 178 Merten (Fn. 22), S. 52. 179 Erwägungsgrund 15 zum Beschluss Nr. 768/2008/EG. 180 European Commission (Fn. 125), S. 54. 181 Vgl. zu den allgemeinen Auswahlkriterien nach Art. 4 Beschl. Nr. 768/2008/EG Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 81 ff.; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 102 f.; European Commission (Fn. 125), S. 54 f., 63.
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Lapidar ausgedrückt: Die notifizierten Zertifizierungsstellen kommen in der Regel dort zum Einsatz, wo ein erhöhtes Risikopotential von Produkten ausgeht oder europäisch harmonisierte Normen (noch) fehlen oder nicht vom Hersteller beachtet werden. 4. Einführung der CE-Kennzeichnungspflicht Ungeachtet der diversen Ausgestaltungen der oben skizzierten Konformitätsbewertungsmodule steht die Eigenverantwortung des Herstellers im Mittelpunkt des Marktzugangsregimes des Neuen und des Globalen Konzeptes. Nach erfolgreicher Durchführung eines der in den Harmonisierungsrichtlinien vorgesehenen Konformitätsbewertungsverfahren ist der Hersteller berechtigt und verpflichtet, eine EG(EU)-Konformitätserklärung182 auszustellen und das CE-Kennzeichen auf seinem Produkt anzubringen. Die CE-Kennzeichnung183 wurde bisher durch den genannten Modulbeschluss 93/465/EWG vereinheitlicht. Im geltenden europäischen Neuen Rechtsetzungsrahmen legt zum einen die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 in Art. 30 die allgemeinen Grundsätze der CE-Kennzeichnung fest, zum anderen führt Anhang I des Beschlusses Nr. 768/2008/EG in Art. R12 die Vorschriften und Bedingungen für die Anbringung der CE-Kennzeichnung in den zukünftigen Richtlinien aus.184 Die CE-Kennzeichnung ist das sichtbare Resultat eines erfolgreich durchgeführten Konformitätsbewertungsverfahrens und sie darf – unabhängig vom Falle einer einfachen Herstellererklärung oder einer Zertifizierungspflicht – nur vom Hersteller oder seinen Bevollmächtigten angebracht werden.185 Denn mit der CEKennzeichnung stellt der Hersteller nach außen hin sicher, dass das vorgeschriebene Konformitätsbewertungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist und das betreffende Produkt die Anforderungen aller einschlägigen Harmonisierungsrichtlinien erfüllt.186 Dementsprechend übernimmt der Hersteller die ___________ 182 Vgl. Art. 5 und Anhang I Art. R10 Beschl. Nr. 768/ 2008/EG; näher dazu Schneider (Fn. 49), S. 73 ff. Anders im Bauproduktenbereich gilt nun die sog. Leistungserklärung nach der neuen Bauproduktenverordnung VO (EU) Nr. 305/2011 (BauPVO), die zum 1. Juli 2013 die bisherige Bauproduktenrichtlinie RL 89/106/EWG ablöste. Nunmehr muss der Hersteller für jedes Bauprodukt, das von einer europäisch harmonisierten Norm erfasst ist oder einer Europäischen Technischen Bewertung entspricht, eine Leistungserklärung nach Art. 4 und Art. 6 der neuen Verordnung erstellen. Diese Leistungserklärung ersetzt somit die bisherige Konformitätserklärung. 183 Die Abkürzung „CE“ steht für „Communautés Européennes“ (Europäische Gemeinschaften) bzw. für „Conformité Européenne“ (Übereinstimmung mit EU-Richtlinien), siehe Wiesendahl (Fn. 15), S. 82; Schneider (Fn. 49), S. 19, 165. 184 Vgl. hierzu Klindt/Schucht (Fn. 46),§ 36, Rn. 104 ff., 168 ff. 185 Art. 30 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 186 Vgl. Wiesendahl (Fn. 15), S. 78; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 110.
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volle Verantwortung für die Richtlinienkonformität seines Produktes.187 Folglich ist die CE-Kennzeichnung kein Prüfzeichen, das von einer Zertifizierungsstelle vergeben wird. Allerdings berechtigt erst die Erteilung des Zertifikates im Falle einer Zertifizierungspflicht den Hersteller zur Anbringung der CE-Kennzeichnung.188 Die Kennnummer der notifizierten Zertifizierungsstelle steht nach der CE-Kennzeichnung, falls diese Stelle in der Produktfertigungsphase des Konformitätsbewertungsverfahrens tätig war.189 Die CE-Kennzeichnung ist grundsätzlich eine zwingende Voraussetzung für den Marktzugang der Produkte in den bereichsspezifischen Harmonisierungsrichtlinien des Neuen bzw. des Globalen Konzepts.190 Sie richtet sich unmittelbar an die mitgliedstaatlichen Behörden, die von der Einhaltung der für das Inverkehrbringen eines Produktes maßgeblichen Anforderungen der Richtlinien ausgehen können und müssen. Die Verknüpfung der Freiverkehrsklausel191 mit der CE-Kennzeichnung in den Harmonisierungsrichtlinien begründet eine Vermutung der Richtlinienkonformität und mithin Verkehrsfähigkeit von harmonisierten Produkten. Konsequenterweise dürfen die mitgliedstaatlichen Behörden den freien Verkehr von CE-gekennzeichneten Produkten nicht behindern. Insbesondere sind systematische hoheitliche Produktprüfungen unzulässig. Nur im Rahmen der Marktüberwachung können die mitgliedstaatlichen Behörden stichprobenartige Kontrollen vornehmen und unter Einhaltung der in allen Richtlinien enthaltenen Schutzklauselverfahren die genannte Vermutungswirkung von mit der CE-Kennzeichnung versehenen Produkten widerlegen.192 Aufgrund ihrer Freiverkehrsfunktion wird die CE-Kennzeichnung metaphorisch als „Reise- oder Warenpass“193 oder als „Schlüssel“194 zum Binnenmarkt beschrieben. Folgerichtig wird verbreitet im Schrifttum hervorgehoben, dass die CE-Kennzeichnung kein verbraucherorientiertes Qualitätszeichen bzw. Gütesiegel, sondern lediglich ein an die staatlichen Überwachungsbehörden gewandtes
___________ 187
Vgl. Art. 30 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. Dimitropoulos (Fn. 16), S. 111 mit Fn. 337. 189 Anhang I Art. R12 Abs. 3 Beschl. Nr. 768/ 2008/EG. 190 Vgl. zur Ausnahmemöglichkeit von der CE-Kennzeichnungspflicht Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 104 mit Fn. 129. Die EG(EU)-Richtlinien mit der CE-Kennzeichnungspflicht sind zu finden unter http://www.ce-richtlinien.eu/richtlinien.-html. 191 Zur unterschiedlichen Ausgestaltung der Freiverkehrsklauseln in den einzelnen Richtlinien siehe Wiesendahl (Fn. 15), S. 83. 192 Vgl. zur Bedeutung und Funktion der CE-Kennzeichnung Merten (Fn. 22), S. 57 ff.; Schumann (Fn. 7), S. 135 ff.; Wiesendahl (Fn. 15), S. 82 ff.; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 110 ff. 193 Bieback (Fn. 160), S. 51. 194 Schumann (Fn. 7), S. 137. 188
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Verwaltungszeichen darstellt.195 Vor allem gilt es, das europäische Institut der pflichtigen und exklusiven CE-Kennzeichnung vom deutschen System des freiwilligen GS-Zeichens196 abzugrenzen. 5. Die notifizierten (benannten) Zertifizierungsstellen als strukturelles Kernelement des Globalen Konzeptes Wie oben bereits dargestellt, sieht die Mehrzahl der Konformitätsbewertungsmodule die Einbeziehung einer notifizierten Zertifizierungsstelle vor. Solche Verfahrensmodule werden in der Regel in den Richtlinien für Produkte mit einem erhöhten Risikopotential oder für den Fall des Fehlens oder der Nichtanwendung europäisch harmonisierter Normen durch den Hersteller verwandt. Die gemeinsame Aufgabe aller notifizierten Zertifizierungsstellen ist es, die Konformität der Produkte mit den einschlägigen, grundlegenden Anforderungen der Richtlinien zu zertifizieren. Die den zur Aufgabenwahrnehmung übertragenen Stellen haben für alle Konformitätsbewertungsverfahren im Grunde genommen dieselben Befugnisse, die allerdings in der Ausgestaltung der einzelnen Verfahrensmodalitäten variieren.197 Die den notifizierten Zertifizierungsstellen zustehende zentrale Befugnis ist die Ausstellung einer Konformitätsbescheinigung bzw. eines Zertifikats bei positivem Ausgang der Bewertung, ungeachtet dessen, dass es verschiedene Formen der Konformitätsbescheinigung gibt. Die Zertifikate berechtigen den Hersteller zur Anbringung der CE-Kennzeichnung auf die Produkte und haben eine unionsweite Wirkung. So entscheiden die notifizierten Zertifizierungsstellen europaweit abschließend und bindend über den Marktzugang der Produkte.198 Als Pendant zur zentralen Zertifizierungsbefugnis verfügen die notifizierten Zertifizierungsstellen zudem über die Möglichkeit, die dem Hersteller erteilten Zertifikate wieder einseitig einzuschränken, auszusetzen oder gar zurückzunehmen, soweit die Richtlinienkonformität nicht oder nicht mehr
___________ 195 s. etwa Tünnesen-Harmes (Fn. 28), S. 1339; Merten (Fn. 22), S. 57; Wiesendahl (Fn. 15), S. 83; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 112. 196 Das 1977 eingeführte GS-Zeichen steht für „Geprüfte Sicherheit“ und ist eine in Deutschland eingetragene bekannte Marke. Es ist ein auf freiwilliger Basis aufbauendes echtes Qualitätszeichen und wird stets von einer hierfür zugelassenen GS-Stelle zuerkannt. Im Rahmen des neuen Produktsicherheitsgesetzes (ProdSG) von 2011 (siehe Fn. 20) erfährt das GS-Zeichen erneut eine Stärkung durch den deutschen Gesetzgeber. Näher zum GS-Zeichen vgl. Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 233 ff.; Schneider (Fn. 49), S. 81 ff. 197 Vgl. zu den Befugnissen der notifizierten Zertifizierungsstellen Merten (Fn. 22), S. 98 ff. 198 Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 56 f., 61; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 104, 109, 122.
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vorliegt. Diese einseitigen Entscheidungsbefugnisse wurden entweder ausdrücklich vorgeschrieben oder stillschweigend vorausgesetzt.199 Sie sind nun in Art. R.27 Abs. 4, 5 des Anhangs I zum Beschluss Nr. 768/2008/EG geregelt. Darüber hinaus üben die notifizierten Zertifizierungsstellen im Rahmen ihrer Zertifizierungstätigkeiten noch zusätzliche Befugnisse aus.200 Funktional betrachtet kompensieren die obligatorisch in das produktsicherheitsrechtliche Konformitätsbewertungsverfahren einzubeziehenden notifizierten Zertifizierungsstellen den Entfall der systematischen staatlichen Vormarktkontrolle und bilden ein strukturelles Kernelement des Globalen Konzeptes.201 Angesichts der europarechtlichen Ausprägung ihrer Rolle müssen die Konformitätsbewertungsbzw. Zertifizierungsstellen, die die Konformitätsbewertungsaufgaben im Rahmen der Harmonisierungsrichtlinien des Neuen bzw. Globalen Konzeptes wahrnehmen möchten, durch den jeweiligen Mitgliedstaat der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten notifiziert (benannt, gemeldet) werden.202 Daraus ergibt sich der Ausdruck „notifizierte Stelle“.203 Die Kommission veröffentlicht und aktualisiert im Amtsblatt der EU ein Verzeichnis der notifizierten Stellen zusammen mit den ihnen zugewiesenen Kennnummern und Tätigkeiten.204 Die Zertifizierungsstellen sind in der Regel privatrechtlich organisierte Institutionen, die von den mitgliedstaatlichen Behörden akkreditiert oder zugelassen worden sind. Um die Kompetenz der notifizierten Zertifizierungsstellen und die Gleichwertigkeit ihrer Tätigkeit sicherzustellen und mithin die Grundlage für die Vertrauens- sowie Anerkennungsfähigkeit ihrer Zertifikate zu schaffen, ist es unabdingbar, dass für die Akkreditierung und Notifizierung von Zertifizierungsstellen verbindliche Anforderungen auf europäischer Ebene festgelegt werden. Während das Verfahren und die Struktur der Akkreditierung und Notifizierung ___________ 199
Vgl. Merten (Fn. 22), S. 99; Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 60. Vgl. dazu Merten (Fn. 22), S. 100; Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 60. 201 Schumann (Fn. 7), S. 142; ähnlich Dimitropoulos (Fn. 16), S. 121: „den zentralen Baustein des neuen Systems darstellen“. 202 Vgl. Anhang I Art. R. 13 Beschl. Nr. 768/ 2008/EG. 203 Die deutschen Bezeichnungen „Notifizierung“ bzw. „notifizierte Stelle“ entsprechen den englischen Begriffen „notification“ bzw. „notified body“. Wurden früher noch die Bezeichnungen „gemeldete Stelle“ bzw. „benannte Stelle“ verwendet, ist heute in der deutschen Terminologie der Begriff der „notifizierten Stelle“ üblich. Vgl. dazu Dimitropoulos (Fn. 16), S. 121 mit Fn. 392. Die Benennung im Sinne des § 15 des deutschen Medizinproduktegesetzes (MPG) stellt eigentlich einen nationalen Verwaltungsakt dar, mit dem einer Konformitätsbewertungsstelle die Erlaubnis erteilt wird, eine bestimmte Konformitätsbewertungsaufgabe auszuführen. Im Hinblick auf die Bezeichnung „benannte Stelle“ impliziert die Benennung auch eine nachfolgende Notifizierung auf europäischer Ebene. Vgl. dazu Merten (Fn. 22), S. 186 f. 204 Vgl. Anhang I Art. R. 24 Beschluss Nr. 768/ 2008/EG. Eine online Datenbank aller notifizierten Stellen „Nando (New Approach Notified and Designated Organisations) Information System“ steht unter http://ec.europa.eu/enterprise/newapproach/nando/index.cfm. 200
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zunächst den Mitgliedstaaten überantwortet waren, wurden im Rahmen des Globalen Konzepts sektorenübergreifend allgemeine Anforderungen an die notifizierten Zertifizierungsstellen entwickelt. Diese Anforderungen waren bislang jedoch lediglich abstrakte Mindestanforderungen.205 Der Beschluss Nr. 768/2008 EG legt nunmehr in Abkehr davon in Anhang I absolute Anforderungen an die notifizierten Zertifizierungsstellen der Mitgliedstaaten fest, die erheblich detaillierter und präziser formuliert sind.206 Es handelt sich dabei um Musterbestimmungen organisations- und verfahrensrechtlicher Natur. Die abschließende Aufzählung der für die Notifizierung maßgeblichen organisatorischen Kriterien in Art. R17 des Anhangs I zum Beschluss zielt auf die Gewährleistung der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Kompetenz der notifizierten Zertifizierungsstellen. Die Auftragsvergabe an Zweigunternehmen oder Unterauftragnehmer ist nun in Art. R 20 geregelt. In Bezug auf die Verfahrenspflichten der notifizierten Zertifizierungsstellen sind zum einen die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in Art. R 27 Abs. 2, zum anderen ein ganzer Katalog von Meldepflichten sowohl gegenüber der notifizierenden Behörde als auch gegenüber den übrigen notifizierten Stellen in Art. R 28 hervorzuheben. Ebenso bedeutsam ist die neue Grundsatzbestimmung in Art. 4 Abs. 7, wonach zukünftig in den Harmonisierungsrichtlinien ein Einspruchsverfahren gegen die Entscheidungen der notifizierten Zertifizierungsstellen vorzusehen ist. Die Anforderungen an die Kompetenz der notifizierten Zertifizierungsstellen werden durch die europäisch harmonisierten Normen präzisiert und ergänzt. Die bisher anwendbare Normenreihe EN 45000 ff. wird mit dem geltenden Neuen Rechtsetzungsrahmen durch die Normenreihe EN ISO/IEC 17000 ff. ersetzt.207 Auch hier gilt entsprechend der oben dargestellten Regelungstechnik des Neuen Konzeptes die Konformitätsvermutung der europäisch harmonisierten Normen. Eine ausdrückliche Musterbestimmung hierfür bietet Art. R18 des Anhangs I zum Beschluss Nr. 768/2008/EG.208 Demnach wird vermutet, dass die zu notifizierenden Zertifizierungsstellen die in Art. R17 formulierten Anforderungen erfüllen, wenn sie auf der Grundlage der Normenreihe EN ISO/IEC 17000 ff. akkreditiert wurden. Allerdings lässt Art. R18 die Vermutungswirkung nur insoweit eingreifen, als die anwendbaren harmonisierten Normen die Anforderungen des Art. R17 abdecken. In dieser Einschränkung der Vermutungswirkung stellt
___________ 205
Schumann (Fn. 7), S. 140 f.; Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 91. Näher zu den Anforderungen an die notifizierten Zertifizierungsstellen nach dem Beschluss Nr. 768/2008/EG vgl. Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 91 ff.; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 106 ff. 207 European Commission (Fn. 125), S. 8. 208 Vgl. Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 93, 97; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 107. 206
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der Beschluss Nr. 768/2008/EG ein Novum gegenüber dem Modulbeschluss 93/465/EWG dar.209 Insgesamt zeichnet sich eine „Administratifizierung und Publifizierung“ der auf dem Markt bereits bestehenden Zertifizierungsstellen ab, was als die größte Innovation des Neuen und Globalen Konzeptes gepriesen wird.210 Dies löst freilich auch die Frage der rechtlichen Einordnung der Zertifizierung aus.211
V. Der Neue Rechtsetzungsrahmen („New Legislative Framework“): Vereinheitlichung des Akkreditierungs- und Notifizierungssystems 1. Rechtliche Grundlagen Das Neue und das Globale Konzept erweisen sich unbestreitbar als zweckmäßige, effiziente und innovative Rechtsetzungsmodelle, welche die Grundlagen für den freien Warenverkehr unter Produktsicherheitsgesichtspunkten schaffen. Dennoch mehrten sich die Stimmen, die eine Verbesserung des Gesamtsystems des europäischen Produktsicherheitsrechts forderten, um bestimmte Lücken und Schwachstellen zu beseitigen. Dies gilt sowohl für die Konformitätsbewertung und Akkreditierung als auch für die Marktüberwachung.212 Auf Basis der Vorlagen der Kommission213 wurde 2008 das europäische Maßnahmenpaket namens „New Legislative Framework“ eingeführt. Dieser Neue Rechtsetzungsrahmen besteht aus drei komplementären Rechtsakten:214 erstens die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 zur Akkreditierung und Marktüberwachung,215 zweitens der Beschluss Nr. 768/2008/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten 216 und drittens die Verordnung (EG) Nr. 764/2008.217
___________ 209 Vgl. Jürgen Ensthaler, Konformitätsbewertung – das System der Zertifizierung, Akkreditierung und Normung, in: Jürgen Ensthaler/Dagmar Gesmann-Nuissl/Stefan Müller, Technikrecht, Berlin 2012, 4.3.2, S. 211. 210 So Dimitropoulos (Fn. 16), S. 122. 211 Siehe die Darstellung unter VI. 212 Näher zur Kritik am Neuen und Globalen Konzept vgl. Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 42 ff. 213 Europäische Kommission, KOM (2007) 37 endg.; KOM (2007) 53 endg. 214 Dimitropoulos (Fn. 16), S. 92. 215 s. Fn. 157. 216 s. Fn. 151. 217 Verordnung (EG) Nr. 764/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 zur Festlegung von Verfahren im Zusammenhang mit der Anwendung be-
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Im Folgenden werden die beiden erstgenannten Rechtsakte näher beleuchtet, wohingegen die letzte Verordnung europäisch nicht-harmonisierte Produktbereiche betrifft und daher außer Betracht bleibt. Die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 und der Beschluss Nr. 768/2008/EG haben zwar unterschiedliche rechtliche Wirkungen, bilden aber eine Einheit.218 Sie halten einerseits an den Grundsäulen und der Architektur des Neuen und des Globalen Konzeptes fest, andererseits schreiten sie im Europäisierungsprozess des Produktsicherheitsrechts zu einem präziseren und vollkommeneren horizontalen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten fort. Die Verordnung (EG) Nr. 765/2008, die in allen Mitgliedstaaten seit dem 1. Januar 2010 unmittelbar gilt, enthält neben den oben skizzierten allgemeinen Grundsätzen zur CEKennzeichnung zwei Bestandteile: zum einen eine einheitliche Regelung zu Organisation und Verfahren der Akkreditierung von Konformitätsbewertungs- bzw. Zertifizierungsstellen, zum anderen einen sektorübergreifenden Rechtsrahmen für eine effektivere hoheitliche Marktüberwachung von Produkten. Auch wenn diese Verordnung im Schrifttum schlicht als Marktüberwachungsverordnung bezeichnet wird,219 muss die vorliegende Arbeit den Bestandteil der Marktüberwachung unberücksichtigt lassen und sich auf die Regelung der Akkreditierung beschränken. Ferner übernimmt der Beschluss Nr. 768/2008/EG als Sammelbecken220 die Elemente des Neuen Konzeptes, des Modulbeschlusses und der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/-EG. Mit den allgemeinen Grundsätzen, zahlreichen präziseren Musterbestimmungen und Verfahrensmodulen kommt dem Beschluss, der selbst keine unmittelbare Wirkung entfaltet, die Funktion einer Musterrichtlinie221 zu, an der sich der Unionsgesetzgeber zukünftig bei der Überarbeitung bestehender Binnenmarktrichtlinien oder auch beim Erlass neuer Richtlinien für bisher nicht harmonisierte Produktbereiche orientieren kann und soll.222 Auf diese Weise wird eine größere Kohärenz einzelner Richtlinien gewährleistet. Zur Anpassung einzelner produktbezogener sowie gefahrenspezifischer Richtlinien an diesen Beschluss hatte die Kommission Vorschläge im Jahre unter der Bezeichnung „Alignment Package“ vorgelegt; dieses
___________ stimmter nationaler technischer Vorschriften für Produkte, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden sind, und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 3052/95/EG, ABl. EU 2008 Nr. L 218 S. 21 ff. 218 Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 49. 219 So Bernd Wiebauer, Import und Produktsicherheit, EuZW 2012, S. 14 (15); Schucht (Fn. 87), S. 23. 220 Dimitropoulos (Fn. 16), S. 92. 221 Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 52. 222 Vgl. Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 49, 51, 110.
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legislative Maßnahmenpaket wurde am 26. Februar 2014 angenommen.223 Da sich der Beschluss Nr. 768/2008/EG überwiegend mit den im Neuen bzw. Globalen Konzept geregelten Materien befasst und zusammenhängende Aspekte bereits oben an verschiedenen Stellen skizziert wurden, wird im Folgenden nur die neue Regelung der Notifizierung näher erläutert. 2. Vereinheitlichung des Akkreditierungssystems Wie oben skizziert, bedeutet Akkreditierung die Bestätigung und Überwachung der Kompetenz und der Eignung von Konformitätsbewertungsstellen anhand harmonisierter Normen. Sie ist somit eine Konformitätsbewertung zweiter Ordnung. Dementsprechend spielt die Akkreditierungsstelle die Rolle des Kontrolleurs der Kontrolleure.224 Obwohl die Akkreditierung im Globalen Konzept erwähnt und angemahnt worden ist, blieb sie weniger legislative Initiative als vielmehr politische Strategie.225 Dies hat in der Tat zur Infrastruktur und Praxis der Akkreditierung in sämtlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft beigetragen. Allerdings führte das Fehlen gemeinsamer Regelungen für das Akkreditierungswesen gleichzeitig auch zu unterschiedlichen Verfahren der Akkreditierung und zur Entstehung voneinander abweichender Systeme. Dies lag vor allem daran, dass sich neben der hoheitlichen Akkreditierungsaufgabe in den 1990er Jahren die Tendenz zu einer privaten Akkreditierungstätigkeit und ihrer Kommerzialisierung abzeichnete. Die divergierenden Akkreditierungssysteme der einzelnen Mitgliedstaaten führten zu einer unterschiedlich strengen Handhabung der Akkreditierungsanforderungen, mithin zu sinkender Vertrauens- und Anerkennungsfähigkeit der Konformitätsbewertung im gemeinschaftlichen Produktsicherheitsrecht.226 Der Neue Rechtsetzungsrahmen betont nunmehr die Rolle der Akkreditierung als letzte Kontrollebene der Konformitätsbewertungskette227 und als Bestandteil eines Gesamtsystems, zu dem noch die Konformitätsbewertung und die Marktüberwachung gehören, und dessen Zweck in der Bewertung und Gewährleistung der Konformität mit den geltenden Anforderungen besteht.228 Konsequenterweise hält der Gemeinschaftsgesetzgeber dabei ___________ 223 Nähere Information darüber unter http:// ec.europa.eu / enterprise / policies / single-market-goods/internal-market-for-products/new-legislative-framework /index_en.htm (Stand: August 2014). 224 Dimitropoulos (Fn. 16), S. 113. 225 European Commission (Fn. 125), S. 9. 226 Zum Hintergrund der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 siehe Erwägungsgrund 10 derselben Verordnung; European Commission (Fn. 125), S. 73; ferner Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 114 ff. 227 Erwägungsgrund 19 zur Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 228 Erwägungsgrund 8 zur Verordnung (EG) Nr. 765/2008.
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die Errichtung eines auf der Grundlage verbindlicher Regelungen funktionierenden europäischen Akkreditierungssystems für notwendig. Dadurch soll das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Kompetenz der Konformitätsbewertungsstellen und mithin in die Qualität der von ihnen ausgestellten Bescheinigungen und Prüfberichte gestärkt werden. Gleiches gilt letztlich auch für den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung.229 Die aus der Taufe gehobene Verordnung (EG) Nr. 765/2008 macht deshalb in ihrem ersten Teil detaillierte verbindliche Vorgaben an die Organisation und Durchführung der Akkreditierung von Konformitätsbewertungsstellen. Dieses erstmalig auf europäischer Ebene bestehende einheitliche Akkreditierungssystem ist zugleich so „engmaschig“230, dass es sowohl für reglementierte (richtlinienrechtlich geregelte) als auch für nicht reglementierte (richtlinienrechtlich nicht geregelte) Bereiche gilt.231 Insoweit geht die Verordnung in ihrem Anwendungsbereich deutlich über das europäisch harmonisierte Binnenmarktrecht hinaus.232 Die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 baut auf dem Leitgedanken auf, dass der besondere Wert der Akkreditierung in der „offiziellen“ Bestätigung der fachlichen Kompetenz von Konformitätsbewertungsstellen liegt.233 Es dreht sich organisationsrechtlich um die Zentralfigur der nationalen Akkreditierungsstelle. Aus der Legaldefinition der Akkreditierung in Art. 2 Abs. 10 der Verordnung234 ist zu entnehmen, dass das Subjekt der Akkreditierung eine nationale Akkreditierungsstelle ist. Im unmittelbar darauffolgenden Art. 2 Abs. 11 wird der Begriff der nationalen Akkreditierungsstelle charakterisiert als die einzige Stelle in einem Mitgliedstaat, die im Auftrag dieses Staates Akkreditierungen durchführt. Dementsprechend darf jeder Mitgliedstaat nur noch eine einzige nationale Akkreditierungsstelle einrichten und der Kommission benennen.235 Damit ist zugleich klargestellt, dass die Akkreditierung eine den einzelnen Mitgliedstaaten obliegende hoheitliche Aufgabe darstellt. Allerdings muss die hoheitliche Akkreditierungsaufgabe nicht zwingend von herkömmlichen staatlichen Behörden wahrgenommen werden. Vielmehr kann ein Mitgliedstaat seine nationale Akkreditierungsstelle mit der Durchführung der Akkreditierung als einer hoheitlichen Tätigkeit betrauen und ihr eine offizielle Anerkennung erteilen.236 Daher kommt ___________ 229
Erwägungsgrund 13 zur Verordnung (EG) Nr. 765/2008. Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 117. 231 Vgl. Art. 3 Verordnung (EG) Nr. 765/2008; Erwägungsgrund 13 derselben Verordnung; European Commission (Fn. 125), S. 73. 232 Arun Kapoor/Thomas Klindt Die Reform des Akkreditierungswesens im Europäischen Produktsicherheitsrecht, EuZW 2009, S. 134 (137); Dimitropoulos (Fn. 16), S. 59 f. 233 Erwägungsgrund 9 zur Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 234 s. Fn. 158. 235 Art. 4 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 236 Vgl. Art. 4 Abs. 5 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 230
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der Rechtsstatus einer beliehenen Stelle für eine nationale Akkreditierungsstelle durchaus in Betracht.237 Aus diesen Grundeinstellungen ergeben sich richtigerweise folgende Grundsätze und Anforderungen: die nationalen Akkreditierungsstellen dürfen nicht gewinnorientiert arbeiten,238 die Stellen müssen von gewerblichen Konformitätsbewertungstätigkeiten unabhängig sein239 und durch ihre Organisationsweise unabhängig, objektiv, unparteilich und vertraulich arbeiten,240 sie dürfen weder mit den Konformitätsbewertungsstellen noch mit anderen nationalen Akkreditierungsstellen in Wettbewerb treten.241 Ferner ist es erforderlich, dass die nationalen Akkreditierungsstellen für die ordnungsgemäße Wahrnehmung ihrer Aufgaben über die notwendige fachliche Kompetenz und die geeigneten finanziellen und personellen Mittel verfügen.242 Schließlich bedarf es der Überprüfung der nationalen Akkreditierungsstellen auf die laufende Einhaltung der Anforderungen und Verpflichtungen nach der Verordnung. Die Überwachung erfolgt zum einen durch die jeweiligen Mitgliedstaaten, zum anderen über ein strenges und transparentes System zur Beurteilung unter Gleichrangigen („peer evaluation system“), das von der Europäischen Kooperation für Akkreditierung (die „EA“) organisiert wird.243 Dieses Beurteilungssystem bildet die Grundlage für die Vertrauenserzeugung und gegenseitige Anerkennung,244 weshalb die nationalen Akkreditierungsstellen der Mitgliedstaaten Mitglieder der EA sein müssen.245 Die Einbindung der nationalen Akkreditierungsstellen in die EA und die Rolle der EA erfahren damit eine klare europarechtliche Konturierung. Auch für die nationalen Akkreditierungsstellen gilt die oben skizzierte Regelungstechnik der Konformitätsvermutung.246 Die Festlegung der hoheitlichen Rechtsnatur der Akkreditierung mit einer einzigen nationalen Akkreditierungsstelle ist eine begrüßenswerte Weichenstellung für das europäische produktsicherheitsrechtliche Marktzugangsregime. Allerdings beschwor sie die Erforderlichkeit einer tiefgreifenden Reform für einige Mitgliedstaaten herauf. Nicht zuletzt bedeutet dieser europäische Meilenstein für die Bundesrepublik Deutschland einen „paradigmatischen Regimewechsel“.247 ___________ 237 Vgl. Erwägungsgrund 11 zur Verordnung (EG) Nr. 765/2008; Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 123. 238 Art. 4 Abs. 7 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 239 Vgl. Art. 4 Abs. 8 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 240 Vgl. Art. 8 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 241 Vgl. Art. 6 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 242 Vgl. Art. 4 Abs. 9, Art. 8 Abs. 7 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 243 Vgl. Art. 10 und 14 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 244 Vgl. Erwägungsgründe 22, 23 zur Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 245 Art. 4 Abs. 10 Verordnung (EG) Nr. 765/2008; näher zur EA vgl. Dimitropoulos (Fn. 16), S. 62 ff. 246 Vgl. Art. 11 Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 247 Klindt/Schucht (Fn. 46), § 36, Rn. 122.
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Denn es bestand vor der Neuregelung eine unübersichtliche duale und sektorale Akkreditierungsstruktur, die aus etwa 20 behördlichen und privatwirtschaftlichen Akkreditierungsstellen bestand.248 Ein allgemeines Akkreditierungsgesetz existierte nicht. Auch wurde in der Behördenpraxis nicht immer trennscharf zwischen Erlaubniserteilung und Akkreditierung unterschieden.249 Die durch die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 notwendig gewordene organisatorische Reform brachte das Akkreditierungsstellengesetz (AkkStelleG) vom 31. Juli 2009250 und die begleitende AkkStelleG-Beleihungsverordnung (AkkStelleGBV) vom 21. Dezember 2009251 zustande. Mit dem 1. Januar 2010 endete die ehemals bunte Akkreditierungslandschaft und es begann eine neue Ära.252 Die aufgrund der genannten beiden Rechtsakte errichtete Deutsche Akkreditierungsstelle (DAkkS) GmbH253 ist als beliehene Stelle die nationale Akkreditierungsstelle der Bundesrepublik Deutschland.254 Die Erteilung der Akkreditierung erfolgt nunmehr stets mittels Verwaltungsaktes. Der nationale Akkreditierungsbescheid entfaltet ferner aufgrund der Struktur der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 grenzüberschreitende Wirkung und ist ein transnationaler Verwaltungsakt.255 Die Akkreditierung stellt nach dem Neuen Rechtsetzungsrahmen keine Pflicht dar.256 Der Kompetenznachweis einer Konformitätsbewertungsstelle kann im ___________ 248 Ausführlich zur früheren deutschen Akkreditierungsstruktur vgl. Ensthaler/Strübbe/Bock (Fn. 89), S. 85 ff. 249 Wolfgang Tiede/Christoph Ryczewski, Einführung in das Akkreditierungsrecht Deutschlands, NVwZ 2012, S. 1212 (1213). 250 BGBl. I S. 2625. 251 BGBl. I S. 3962. 252 Zur Neuordnung des deutschen Akkreditierungswesens vgl. Tiede/Ryczewski (Fn. 249), S. 1212 ff. 253 Gesellschafter der GmbH sind zu jeweils einem Drittel die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesländer (Bayern, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt) und die durch den Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) vertretene Wirtschaft, siehe http://www.dakks.de/content/profil (Stand: August 2014). 254 Die DAkkS GmbH ist jedoch (noch) nicht die einzige nationale Akkreditierungsstelle der Bundesrepublik Deutschland. Denn einige behördliche Akkreditierungsstellen des gesetzlich geregelten Bereiches bestehen weiterhin, darunter insbesondere die Deutsche Akkreditierungs- und Zulassungsgesellschaft für Umweltgutachter (DAU) mbH für die Akkreditierung im Bereich der EMAS-Verordnung der EU. Dieser Zustand ist in Anbetracht der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 bedenklich. Vgl. hierzu Dimitropoulos (Fn. 16), S. 74. 255 Vgl. Dimitropoulos (Fn. 16), S. 61 f., 242 f.; grundlegend zum Institut des transnationalen Verwaltungsaktes siehe Eberhard Schmidt-Aßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht – Wechselseitige Einwirkungen, DVBl. 1993, S. 924 (935 f.); Volker Neßler, Der transnationale Verwaltungsakt – Zur Dogmatik eines neuen Rechtsinstituts, NVwZ 1995, S. 863 ff. 256 Plädierend für die Einführung der Akkreditierung als eine pflichtige Voraussetzung Dimitropoulos (Fn. 16), S. 125 mit Fn. 413.
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Wege einer Akkreditierung erfolgen. Die Entscheidung darüber liegt letztendlich bei den Mitgliedstaaten. Eine entsprechende Vorgabe enthält die neue Bauproduktenverordnung VO (EU) Nr. 305/2011 (BauPVO)257 in Art. 40 Abs. 2. Infolge der Anpassung an diese EU-Verordnung legt das neue deutsche Bauproduktengesetz (BauPG) vom 5. Dezember 2012258 in § 3 Abs. 2 eine Akkreditierungspflicht für notifizierte Konformitätsbewertungsstellen fest. Die Einführung der Akkreditierung als alleiniger Kompetenznachweis für die Notifizierung im Bauproduktenbereich wird auch vom beteiligten Deutschen Institut für Bautechnik (DIBt) als notifizierender Behörde und der oben genannten DAkkS als Erfolg gewertet.259 Die Stellung der Akkreditierung gewinnt trotz ihrer grundsätzlichen Freiwilligkeit durch den Neuen Rechtsetzungsrahmen an Bedeutung: Die anhand harmonisierter Normen erfolgende transparente Akkreditierung nach der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 zur Gewährleistung des notwendigen Maßes an Vertrauen in Konformitätsbescheinigungen soll unionsweit von den nationalen Behörden als bevorzugtes Mittel zum Nachweis der fachlichen Kompetenz der Zertifizierungsstellen genutzt werden.260 Der politische Wille, die Nutzung der Akkreditierung als Instrument zur Vertrauensbildung weiter auszubauen, kommt schließlich im neugeordneten Notifizierungsverfahren zum Ausdruck. Die Notifizierung auf Grundlage einer Akkreditierung soll einfacher und schneller sein. Ein zweistufiges Konformitätsbewertungssystem zeichnet sich im unionsrechtlich harmonisierten Produktsicherheitsrecht deutlich ab. 3. Vereinheitlichung des Notifizierungssystems Wie oben skizziert, müssen die Zertifizierungsstellen, die die Konformitätsbewertungsaufgaben im Rahmen der Harmonisierungsrichtlinien des Neuen und Globalen Konzeptes wahrnehmen möchten, gegenüber der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten durch den jeweiligen Mitgliedstaat notifiziert261 werden. Diese Notifizierungspflicht ist im Beschluss Nr. 768/2008/EG und den jeweiligen Richtlinien bzw. Verordnungen verankert. Der tatsächliche Vorgang einer
___________ 257
s. Fn. 182. BGBl. I S. 2449, 2450. 259 Eine umfangreiche Studie zur Konformitätsbewertung und Akkreditierung in einigen wichtigen Schlüsselfeldern in Deutschland siehe Technopolis Group und DIN Deutsches Institut für Normung e.V., Entwicklungsperspektiven der Konformitätsbewertung und Akkreditierung in Deutschland, Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, 2013, S. 66 ff. 260 Erwägungsgrund 12 zur Verordnung (EG) Nr. 765/2008. 261 Zur Terminologie siehe Fn. 203. 258
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Notifizierung stellt einen über den innerstaatlichen Bereich hinausgehenden behördeninternen Mitteilungsakt dar,262 d. h. einen rein formalen Akt ohne inhaltliche Entscheidung.263 Allerdings ist die Notifizierung eine zwingende Voraussetzung dafür, dass die Zertifizierungsstellen im bestimmten Umfang die Konformitätsbewertung und Zertifizierung unionsweit durchführen dürfen. Der Beschluss Nr. 768/2008/EG mit seinen umfangreichen Musterbestimmungen für alle Binnenmarktrichtlinien vereinheitlicht erstmalig das Notifizierungsverfahren und die Rolle der Akkreditierung im Rahmen dieses Verfahrens. Art. R15 des Anhangs I zum Beschluss legt zunächst Anforderungen an die notifizierenden Behörden fest. Diese Anforderungen ähneln denjenigen, die an die nationalen Akkreditierungsstellen nach der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 gestellt werden. Akkreditierung und Notifizierung sind gleichermaßen hoheitliche Instrumente zur Kontrolle der Kompetenz und Eignung von Zertifizierungsstellen. Dennoch sind beide voneinander zu unterscheiden. Das Notifizierungsverfahren ist nach dem genannten Beschluss zweistufig aufgebaut. Es besteht aus einem Nachweis der fachlichen Kompetenz und einer formellen Erlaubnis.264 Die formelle Erlaubnis wird von einer mitgliedstaatlichen Behörde aufgrund jeweiliger europarechtlicher und nationaler Rechtsvorschriften in der Rechtsform eines Verwaltungsakts (z. B. in Deutschland) erteilt. Bevor die Befugnis erteilende Behörde bzw. benennende Behörde diesen innerstaatlichen Zulassungsakt erlassen kann, muss sie zuvor der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten ihre Absicht mitteilen. Dies ist die oben skizzierte schlichte Notifizierung.265 Hinsichtlich des Kompetenznachweises von Zertifizierungsstellen gibt der Beschluss zwei mögliche Wege vor. Der erste und bevorzugte Weg ist die anhand einschlägiger harmonisierter Normen erteilte Akkreditierung durch eine nationale Akkreditierungsstelle. Auf dieser Grundlage erteilt die Befugnis erteilende Behörde nach einer Notifizierung in einem zweiten Schritt die Erlaubnis. Darüber hinaus kann die Befugnis erteilende und notifizierende Behörde die fachliche Kompetenz von Zertifizierungsstellen selber überprüfen. Da die notifizierten Zertifizierungsstellen ihre Dienstleistungen mit ver___________ 262
Merten (Fn. 22), S. 187. Bieback (Fn. 160), S. 69. 264 Vgl. die amtliche Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes über die Neuordnung des Geräte- und Produktsicherheitsrechts, BT-Drucks. 17/6276, S. 44. 265 Die Befugnis erteilende Behörde bzw. benennende Behörde („designating authority“) kann gleichzeitig die notifizierende Behörde („notifying authority“) sein. Dies ist jedoch nicht zwingend. Eigentlich wird eine benannte Zertifizierungsstelle („designated body“) nur durch den Notifizierungsakt auf europäischer Ebene zu einer notifizierten Zertifizierungsstelle („notified body“). Vgl. dazu European Commission (Fn. 125), S. 69. Aus der Legaldefinition der Notifizierung in § 2 Abs. 21 des neuen deutschen ProdSG (siehe Fn. 20) ist zu entnehmen, dass im Anwendungsbereich dieses Gesetzes die Befugnis erteilende Behörde zugleich die notifizierende Behörde ist. 263
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waltungsähnlichen Befugnissen unionsweit anbieten können, räumt der Beschluss nunmehr sowohl der Kommission als auch den anderen Mitgliedstaaten das Recht ein, binnen festgelegter Fristen Einwände bezüglich der fachlichen Kompetenz einer notifizierten Zertifizierungsstelle, mithin gegen die beabsichtigte Erlaubniserteilung zu erheben. Nur wenn die Fristen ohne Einwände verstrichen sind, dürfen die betreffenden Zertifizierungsstellen die Aufgaben notifizierter Zertifizierungsstellen wahrnehmen. Die Länge der Einwendungsfrist hängt vom Vorliegen einer Akkreditierung ab. Liegt eine Akkreditierungsurkunde vor, gilt eine kürzere Einwendungsfrist von zwei Wochen ab dem Zeitpunkt der Notifizierung. Im Übrigen gilt eine längere Einwendungsfrist von zwei Monaten ab dem Zeitpunkt der Notifizierung, zudem müssen alle notwenigen Unterlagen der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten vorgelegt werden.266 Der alternative Kompetenznachweis durch die Befugnis erteilende und notifizierende Behörde bringt nicht nur ein längeres Notifizierungsverfahren mit sich. Das Verfahren ist auch weniger transparent als eine Akkreditierung auf Grundlage harmonisierter Normen und löst daher größere Einspruchsrisiken aus.267 So gesehen ist die Akkreditierung für die notifizierten Zertifizierungsstellen ein vorteilhafteres Instrument zum Kompetenznachweis. Allerdings kann die Akkreditierung in Einzelfällen zu einer insgesamt längeren Verfahrensdauer führen. Der Grund dafür liegt vor allem in den Differenzen zwischen richtlinienrechtlichen besonderen Anforderungen und harmonisierten generellen Normen. Insofern greift die Einschränkung der Konformitätsvermutung,268 eine zusätzliche Überprüfung durch die notifizierende Behörde wird erforderlich. Einen Lösungsweg bietet die Ausgestaltung bereichsspezifischer Akkreditierungsregeln zur Auslegung der Normen nach dem Vorbild im Bauproduktenbereich.269 Generell betrachtet dürfte die Entwicklungsperspektive der Akkreditierung im harmonisiert gesetzlich geregelten Bereich von einer engen Zusammenarbeit zwischen den notifizierenden Behörden und den nationalen Akkreditierungsstellen sowie der EA abhängen.270
___________ 266
Vgl. Anhang I Art. R.23 Abs. 4, 5 Beschluss Nr. 768/ 2008/EG. Vgl. Technopolis Group und DIN Deutsches Institut für Normung e.V. (Fn. 259), S. 179 f. 268 s. die Darstellung unter IV. 5. 269 Vgl. Technopolis Group und DIN Deutsches Institut für Normung e.V. (Fn. 259), S. 71, 81 f., 181; kritisch zu Akkreditierungsregeln siehe Röhl/Schreiber (Fn. 150), S. 68 f. 270 Vgl. Technopolis Group und DIN Deutsches Institut für Normung e.V. (Fn. 259), S. 180 ff. 267
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VI. Die Rechtsnatur der Zertifizierung 1. Ausgangslage Sowohl das europäische als auch das deutsche Recht enthalten keine ausdrückliche Regelung zur Rechtsnatur der Zertifizierungstätigkeit und die Rechtsstellung der Zertifizierungsstelle. Beides gehört zu den umstrittensten Fragen im Rahmen des deutschen Produktsicherheitsrechts.271 Der Grund liegt vor allem darin, dass im gesetzlich geregelten und harmonisierten Bereich – abgesehen von den Modulen der Herstellererklärung – die Zertifizierung durch eine unabhängige notifizierte (benannte) Stelle eine zwingende Marktzugangsvoraussetzung für Produkte ist272 und die notifizierte Zertifizierungsstelle als einzige Stelle abschließend und bindend über das Inverkehrbringen eines Produktes im Binnenmarkt entscheidet. Als Pendant zur zentralen Zertifizierungsbefugnis stehen der notifizierten Zertifizierungsstelle noch die einseitigen Entscheidungsbefugnisse zur Einschränkung, Aussetzung oder gar Entziehung eines dem Hersteller erteilten Zertifikates zu. Die Verweigerung bzw. Entziehung der Zertifizierung wirkt dann wie eine Marktzutrittsbarriere gegenüber dem Hersteller.273 Zudem kommt der notifizierten Zertifizierungsstelle bei Anwendung der Module von Qualitätssicherungssystemen im Konformitätsbewertungsverfahren auch eine dauernde Überwachungsaufgabe zu. Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe kann sie die Geschäftsräume des Herstellers betreten, Unterlagen vom Hersteller herausverlangen und stichprobenartig Überwachungen durchführen. Durch die Kopplung von Zertifizierungs- und Überwachungsaufgaben bildet die notifizierte Zertifizierungsstelle das entscheidende Bindeglied zwischen dem Hersteller und der mitgliedstaatlichen Marktüberwachungsbehörde.274 Die so mit hoheitsähnlich ausgestalteten Befugnissen275 ausgestatteten und unionsweit tätigen notifizierten Zertifizierungsstellen lassen sich nur schwierig in das herkömmliche System des Verwaltungsrechts einordnen. In Deutschland wie im europäischen Raum sind in der Regel privatrechtlich organisierte Institutionen als notifizierte Zertifizierungsstellen unter Wettbewerbsbedingungen tätig. Daneben existieren in manchen besonderen Gebieten ___________ 271 s. die ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage der rechtlichen Qualifizierung von Tätigkeit notifizierter Zertifizierungsstellen im Medizinprodukterecht bei Uwe Kage, Das Medizinproduktegesetz – Staatliche Risikosteuerung unter dem Einfluss europäischer Harmonisierung, Berlin 2005, S. 181 ff. 272 Als dritte Möglichkeit tritt nun das Konformitätsbewertungsverfahren durch eine akkreditierte (firmen)interne Stelle hinzu, siehe dazu die Darstellung unter IV. 3. 273 Huber (Fn. 2), § 45, Rn. 174. 274 Kage (Fn. 271), S. 180, 191. 275 Kage (Fn. 271), S. 190.
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auch staatliche Behörden als notifizierte Zertifizierungsstellen.276 Die organisationsrechtliche Form der Zertifizierungsstellen ist aber kein maßgebliches Kriterium für die Rechtsnatur der Zertifizierung.277 Es bedarf vielmehr einer näheren Auseinandersetzung mit der Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses der Zertifizierung gerade im Produktsicherheitsrecht. 2. Die Zertifizierung als Beleihung? Eine Mindermeinung sieht die staatliche Akkreditierung bzw. Befugniserteilung als einen beleihenden Verwaltungsakt an. Daraus folgt, dass die privaten Zertifizierungsstellen als Beliehene eine hoheitliche Zertifizierungstätigkeit wahrnehmen.278 Somit kommt die Zertifizierung einer herkömmlichen behördlichen Produktzulassung gleich. Diese Meinung berücksichtigt zutreffend die Marktzugangskontrolle als eine dem Sicherheitsschutz dienende öffentliche Aufgabe sowie die Zweistufigkeit des Konformitätsbewertungssystems. Die dogmatische Einstufung der Zertifizierung als Beleihung entspricht aber nur einer rein nationalen Perspektive. Sie vernachlässigt die unionsrechtliche Dimension dieses neueren alternativen Kontrollmodells, das gerade eine staatenunabhängige, direkte Marktzugangskontrolle anstrebt.279 Die Aufgaben und Regelungsbefugnisse der notifizierten Zertifizierungsstellen sind vornehmlich in den Harmonisierungsrichtlinien verankert, während die Beleihung nur auf der Grundlage des deutschen öffentlichen Rechts zustande kommen kann. Angesichts der auf das Unionsrecht zurückgehenden grenzüberschreitenden Tätigkeit der notifizierten Zertifizierungsstellen und der unionsweiten Regelungswirkung ihrer Zertifikate kommt eine nationale Beleihung notifizierter Zertifizierungsstellen mit Hoheitsbefugnissen daher nicht in Frage. Ferner wird die Zertifizierung mangels einer Kompetenzgrundlage im Primärrecht auch nicht als europarechtlich verankerte hoheitliche Tätigkeit qualifiziert und mithin werden die notifizierten Zertifizierungsstellen nicht als Bestandteile einer eigenständigen europäischen Verwaltungsstruktur charakterisiert.280
___________ 276
s. die Beispiele bei Weiß (Fn. 7), S. 351 mit Fn. 1819. Vgl. Merten (Fn. 22), S. 174 ff. 278 Stellvertretend vor allem Kurt-Christian Scheel, „Benannte Stellen“: Beliehene als Instrument für die Verwirklichung des Binnenmarktes, DVBl. 1999, S. 442 (445 ff.); ähnlich auch Huber (Fn. 2), § 45, Rn. 174. 279 Vgl. Röhl (Fn. 14), S. 166 f.; auch Merten (Fn. 22), S. 160; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 128; Eifert (Fn. 3), § 19, Rn. 84. 280 Vgl. Kage (Fn. 271), S. 196; auch Schumann (Fn. 7), S. 144; hingegen für eine eigenständige europäische Verwaltungsstruktur plädierend Röhl (Fn. 41), S. 28 ff. 277
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3. Die Zertifizierung zwischen privater und hoheitlicher Ausgestaltung Im Gegensatz zur oben skizzierten Mindermeinung setzt sich im Schrifttum zunehmend die Auffassung durch, wonach das Rechtsverhältnis zwischen einer notifizierten Zertifizierungsstelle und einem Hersteller privatrechtlicher Natur ist.281 Dies gilt auch dann, wenn staatliche Behörden als notifizierte Zertifizierungsstellen tätig sind.282 Die notifizierte Zertifizierungsstelle nimmt ihre Prüfund Kontrolltätigkeit im Auftrag des Herstellers und im Rahmen eines Werkvertrages wahr. Der Hersteller kann im gesamten Binnenmarkt eine notifizierte Zertifizierungsstelle frei auswählen.283 Die privatrechtliche Qualifizierung der Zertifizierungstätigkeit hat auch weitreichende Auswirkungen auf den Rechtsschutz. Sowohl der Streit zwischen dem Hersteller und der notifizierten Zertifizierungsstelle im Rahmen des Konformitätsbewertungsverfahrens als auch der Schadensersatzanspruch eines Dritten gegen die notifizierte Zertifizierungsstelle werden vor den Zivilgerichten nach Maßgabe des Privatrechts (Werkvertragsrecht) ausgetragen.284 Trotz ihrer formellen Einordnung als privatrechtliches Rechtsverhältnis ist die zwingende Produktzertifizierung – funktionell-materiell betrachtet – nicht als eine rein private Tätigkeit bzw. reine Selbstaufgabe der Wirtschaft zu beurteilen, ___________ 281 Vgl. Matthias Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 160 (167 in Fn. 18, 173 in Fn. 38); Udo Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 235 (244 f.); Achim Seidel, Privater Sachverstand und staatliche Garantenstellung im Verwaltungsrecht, München 2000, S. 269 f.; Merten (Fn. 22), S. 159 ff., 172 ff., 214 ff.; Kage (Fn. 271), S. 185 ff.; Hermann Pünder, Zertifizierung und Akkreditierung – Private Qualitätskontrolle unter staatlicher Gewährleistungsverantwortung, ZHR 170 (2006), S. 567 (578 ff.); Schmidt-Aßmann (Fn. 4), 3. Kapitel, Rn. 56 f.; Anselm Christian Thoma, Regulierte Selbstregulierung im Ordnungsverwaltungsrecht, Berlin 2008, S. 201 ff.; Weiß (Fn. 7), S. 351 ff.; Bieback (Fn. 160), S. 62 f.; Martin Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Gestaltungsmöglichkeiten, Grenzen, Regelungsbedarf, Gutachten D für den 67. Deutschen Juristentag, München 2008, S. 42 ff., 68 f.; Stelkens (Fn. 12), Rn. 228. 282 So ausdrücklich die amtliche Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des gesetzlichen Messwesens, BR-Drucks. 32/13, S. 67. 283 Vgl. Art. 4 Abs. 5 lit. c Beschluss Nr. 768/ 2008/EG. 284 Ein aktuelles und bekanntes Beispiel liefert der Streit um mangelhafte Brustimplantate. Im eklatanten Skandal um minderwertige Implantate der inzwischen insolventen französischen Firma Poly Implant Prothèse (PIP) kam es auch in Deutschland zu mehreren zivilrechtlichen Schadensersatzklagen von betroffenen Frauen gegen den TÜV Rheinland, der als benannte (notifizierte) Zertifizierungsstelle nach der Medizinprodukterichtlinie RL 93/42/EWG die Qualitätssicherungssysteme der Firma PIP zertifiziert und überwacht hatte. Beim BGH ist bereits ein Revisionsverfahren anhängig. Vgl. hierzu Michael Molitoris/Thomas Klindt, Die Entwicklungen im Produkthaftungs- und Produktsicherheitsrecht, NJW 2014, S. 1567 (1572).
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die dem privatautonomen Rechtsregime bzw. der privatwirtschaftlichen Selbstregulierung nach den Kriterien von Markt und Wettbewerb überlassen ist.285 Die notifizierte Zertifizierungsstelle handelt nicht lediglich „im Lager des Herstellers“ oder „als Erfüllungsgehilfe des Herstellers“,286 sondern vor allem auch im öffentlichen Interesse. Die private Fremdkontrolle durch eine unabhängige und kompetente Stelle kompensiert bei Produkten mit einem höheren Gefahrenpotential den Entfall der systematischen staatlichen Vormarktkontrolle und stellt an deren Stelle die Einhaltung der Sicherheitsanforderungen sicher. Um dieser gemeinwohlbezogenen Gefahrenabwehraufgabe Rechnung zu tragen, ist die Zertifizierung in einen von staatlicher Gewährleistungsverantwortung getragenen öffentlich-rechtlichen Rahmen eingebunden, in dem privaten Kontrolleuren die zentrale Funktion zukommt und unionale wie auch staatliche Hoheitsträger die Rolle der Regulierer und der Kontrolleure zweiter Ordnung spielen. Wie oben skizziert, ist die Tätigkeit einer notifizierten Zertifizierungsstelle sowohl in organisationsrechtlicher als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht nun durch den Beschluss Nr. 768/2008/EG detaillierter und präziser vorgegeben: so wie Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität und Kompetenz einerseits, Verhältnismäßigkeit, Meldepflichten und Einspruchsverfahren andererseits. Das komplexe, kooperative System, das sich aus privaten und hoheitlichen Verantwortungsbeiträgen zusammensetzt, wird vielfach mit dem Schlüsselbegriff der – supranational geprägten – hoheitlich regulierten gesellschaftlichen Selbstregulierung287 oder auch mit dem sinnverwandten Schlüsselbegriff der Verantwortungsteilung288 beschrieben. Anstatt des klassischen, rein hoheitlichen Überwachungsmodells zielt das den Rollenwechsel des Staates bezeichnende Steuerungskonzept der regulierten Selbstregulierung289 bzw. der Verantwortungsteilung290 mittels einer Verbindung staatlicher und gesellschaftlicher Hand___________ 285
Vgl. Kage (Fn. 271), S. 189 f. So Pünder (Fn. 281), S. 581 f. 287 Vgl. Schmidt-Preuß (Fn. 281), S. 172 ff.; Seidel (Fn. 281), S. 21 f., 264 ff., 269; Eberhard Schmidt-Aßmann, Regulierte Selbstregulierung als Element verwaltungsrechtlicher Systembildung, in: Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, Die Verwaltung, 2001, Beiheft 4, S. 253 (258); Merten (Fn. 22), S. 134 ff., 163 ff., 177 ff.; Thoma (Fn. 281), passim; Weiß (Fn. 7), S. 354 f.; Martin Burgi, Verwaltungsorganisationsrecht, in: Hans-Uwe Erichsen/Dirk Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., Berlin 2010, zweiter Abschnitt, § 10, Rn. 38 f.; Eifert (Fn. 3), § 19, Rn. 52 ff., 82 ff.; Dimitropoulos (Fn. 16), S. 128 ff. 288 Vgl. Schumann (Fn. 7), S. 80 ff. 289 Vgl. zum Schlüsselbegriff der regulierten Selbstregulierung nur Andreas Voßkuhle, „Regulierte Selbstregulierung“ – Zur Karriere eines Schlüsselbegriffs, in: Regulierte 286
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lungsrationalitäten auf die Wahrnehmung der staatlichen Gewährleistungsverantwortung durch die Einrichtung privater Fremdkontrolle und die Schaffung eines rechtlichen Organisations- und Verfahrensrahmens. Allerdings weisen die Begriffe der regulierte Selbstregulierung bzw. Verantwortungsteilung nur die grobe Richtung hin auf ein neues Steuerungskonzept. Sie sind wie alle anderen Schlüsselbegriffe ganz besonders auf Konkretisierung angewiesen.291 Die einseitigen Entscheidungsbefugnisse der notifizierten Zertifizierungsstellen sind eigentlich dem Verwaltungsverfahrensrecht immanent. Neben die Aufgabe einer rechtsdogmatischen Präzisierung der die behördliche Produktzulassung substituierenden Zertifizierung tritt das erst in der Entwicklung befindliche Konzept des Privatverwaltungsrechts.292 Nicht zuletzt sind bei Fehlen ausdrücklicher Vorgaben in Harmonisierungsrichtlinien und Umsetzungsgesetzen verwaltungsverfahrensgesetzliche Regelungen hinsichtlich der Anhörungs- und Begründungspflicht für negative Entscheidungen der notifizierten Zertifizierungsstellen analog anzuwenden. Graphisch lässt sich das gesamte Konformitätsbewertungssystem im harmonisierten Bereich nach dem deutschen ProdSG wie folgt darstellen:
Befugnis erteilende Behörde Befugniserteilung
Antrag
Akkreditierung
Antrag
DAkkS GmbH (Beliehene)
Notifizierung
Keine Vormarktkontrolle
Kommission und andere Mitgliedstaaten
Werkvertrag
Zertifizierungsstelle Zertifizierung und Notifizierung nach dem ProdSG
Hersteller
___________ Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, Die Verwaltung, 2001, Beiheft 4, S. 197 ff. 290 Vgl. zum Schlüsselbegriff der Verantwortungsteilung nur Gunnar Folke Schuppert, Die Verwaltungsrechtswissenschaft im Kontext der Wissenschaftsdisziplinen, in: Armin von Bogdandy/Sabino Cassese/Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. IV, Heidelberg 2011, § 70, Rn. 37 ff. 291 Voßkuhle (Fn. 289), S. 198. 292 Vgl. Merten (Fn. 22), S. 221 ff.; Pünder (Fn. 281), S. 583; Schmidt-Aßmann (Fn. 4), 6. Kapitel, Rn. 28 ff.; Franzius (Fn. 5), S. 373.
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VII. Resümee und vergleichender Ausblick 1. Das Normungs- und Konformitätsbewertungssystem als moderner europäischer Verwaltungsverbund Das Leitbild des verantwortungsteilenden Gewährleistungsstaates ist facettenreich und führt zu grundlegenden Veränderungen in der Struktur des Staates und der öffentlichen Verwaltung sowie im Verhältnis zwischen hoheitlicher und privater Aufgabenwahrnehmung. Dieser neue Steuerungsgedanke erstreckt sich sowohl auf die Leistungsverwaltung als auch auf die Ordnungsverwaltung. Nicht zuletzt durch das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht wird das Gewährleistungsstaatsmodell vorangetrieben. Die Europäische Union hat in der Entwicklung der Binnenmarktintegration ein ausgeprägtes, supranational eingerahmtes Gesamtsystem von Normung, Zertifizierung und Akkreditierung sowie Marktüberwachung im Bereich der Produktsicherheit etabliert. Das System von Normung, Zertifizierung und Akkreditierung betrifft die präventive Marktzugangskontrolle und ist gekennzeichnet durch ein komplexes, arbeitsteiliges Regulierungs- und Überwachungsregime, in dem supranationales, öffentliches Recht, Privatrecht und private Standardisierung sowie überstaatliche, staatliche und private Akteure eng miteinander verschränkt sind. Die Einbeziehung der privatwirtschaftlich verwurzelten, normbezogenen Konformitätsbewertungsmechanismen in das europäische Produktsicherheitsrecht ermöglicht es, den Marktzutritt von Produkten freiheitsschonender und flexibler zu gestalten und auf europäischer Ebene effizienter zu vereinheitlichen. Im Rahmen der europäischen Harmonisierungsbestrebungen gelangen Warenverkehrsfreiheit und Produktsicherheit etappenweise zu einer Ausbalancierung. Als Ergänzung zur gestuften Mischstruktur des Konformitätsbewertungssystems verbleibt die repressive Marktüberwachung hingegen bei mitgliedstaatlichen Marktüberwachungsbehörden. Um eine hohe Produktsicherheit langfristig zu gewährleisten, soll für ein enges Zusammenspiel zwischen Marktzugangskontrolle und Marktüberwachung, mithin für eine Stärkung des Gesamtsystems gesorgt werden.293 Die Einführung einer neuen, unionsweit einheitlichen Marktüberwachungsverordnung tritt nun auf den Plan.294 ___________ 293
Vgl. Technopolis Group und DIN Deutsches Institut für Normung e.V. (Fn. 259), S. 184 ff. 294 Die Europäische Kommission hat im Februar 2013 ein neues europäisches „Produktsicherheits- und Marktüberwachungspaket“ (COM [2013] 74 final) vorgestellt, um die Sicherheit von Verbraucherprodukten und die Marktüberwachung in der Europäischen Union zu stärken. Das Paket beinhaltet vor allem zwei Gesetzgebungsvorschläge: zum einen den Vorschlag für eine Verordnung über die Sicherheit von Verbraucherprodukten („Verbraucherproduktsicherheitsverordnung“, COM [2013] 78 final) und zum anderen den Vorschlag für eine Verordnung über die Marktüberwachung von Produkten („Marktüberwachungsverordnung“, COM [2013] 75 final). Beide Verordnungen sollen noch 2014 verabschiedet werden und 2015 in Kraft treten. Im Fokus dieses Gesetzgebungsvorhabens steht die Novellierung des allgemeinen Produktsicherheitsrechts. Hierbei wird die
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Das auf dem Neuen und Globalen Konzept aufbauende und durch den Neuen Rechtsetzungsrahmen vervollständigte System von Normung, Zertifizierung und Akkreditierung erweist sich als ein innovatives Erfolgsmodell des Gewährleistungsstaates für die Architektur des vorsorgenden Produktsicherheits- und Warenvertriebsrechts. Die Einbindung dieses bewährten Systems in die europäische Binnenmarktordnung avanciert nun weiter zur Dienstleistungsbranche. Zum Zweck der freiwilligen Qualitätssicherung in Bezug auf Dienstleistungen greift die Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie = DLR)295 in Art. 26 die Normungs- und Konformitätsbewertungsmechanismen auf. Ein anderes bekanntes Referenzgebiet für die Nutzung des Konformitätsbewertungssystems stellt das freiwillige, vor allem in Deutschland verbreitete Öko-Audit-System nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 1221/2009 („EMAS III-VO“)296 dar. Infolgedessen wird das unionsrechtlich herausdestillierte Konformitätsbewertungssystem im Schrifttum als „europäisches Standardmodell des Verwaltungsverfahrens“297 bezeichnet. Dieser bewunderte Emporkömmling Europas kann durchaus in die Welt „exportiert“ werden. 2. Die europäische Aufklärung: Akkreditierung als hoheitliche Aufgabe Die Normungs- und Konformitätsbewertungsmechanismen spielen nicht nur bei der Schaffung des europäischen Binnenmarktes, sondern auch für den internationalen Handel mit Waren eine bedeutende Rolle. Mit der Liberalisierung und Globalisierung des Wirtschaftslebens gehen Marktchance und Herausforderung zugleich einher. Einerseits gehen vom Wachstum des weltweiten Handels positive volkswirtschaftliche Effekte aus, andererseits stellt der Abbau von tarifären und insbesondere nichttarifären Handelshemmnissen eine schwierige Aufgabe ___________ allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG aufgehoben und durch die genannten zwei neuen Verordnungen ersetzt. Während die geplante Verbraucherproduktsicherheitsverordnung nur auf Verbraucherprodukte Anwendung findet, gilt die geplante Marktüberwachungsverordnung grundsätzlich für alle Produkte, wodurch es zur Änderung zahlreicher Richtlinien und Verordnungen kommt. Die neue Marktüberwachungsverordnung zielt auf eine effizientere und besser koordinierte Marktüberwachung. Vgl. hierzu Sebastian Polly, Vorschlag der Europäischen Kommission für ein „Produktsicherheits- und Marktüberwachungspaket“, BB 2013, S. 1164 ff. 295 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. EU 2006 Nr. L 376, S. 36 ff. 296 Verordnung (EG) Nr. 1221/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 über die freiwillige Teilnahme von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 761/2001, sowie der Beschlüsse der Kommission 2001/681/EG und 2006/193/EG, ABl. EU 2009 Nr. L 342, S. 1 ff. 297 Stelkens (Fn. 12), Rn. 227.
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dar. Neben der World Trade Organization (WTO) sind bilaterale oder regionale Freihandelsabkommen („free trade agreement“ = FTA) voll im Trend. Die Freihandelsabkommen neuer Generation zeichnen sich durch ihre ambitionierte Großdimension aus. Die Europäische Union hat auf der Basis ihrer neuen handelspolitischen Strategie „Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt“298 das erste Freihandelsabkommen neuer Generation mit Südkorea299 abgeschlossen, das am 1. Juli 2011 provisorisch in Kraft trat. Ein Freihandelsabkommen mit Kanada300 soll noch 2014 paraphiert werden. Im Brennpunkt stehen vor allem die laufenden Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA,301 das die größte Freihandelszone der Welt begründen würde. Aufgrund der stark exportabhängigen Marktwirtschaft ist Taiwan auf freien Handel angewiesen. Nach dem – trotz der unterschiedlichen politischen Richtungen – vereinbarten Abschluss eines Wirtschaftsrahmenabkommens mit China302 im Jahre 2010 traten inzwischen bilaterale Freihandelsabkommen jeweils mit Neuseeland303 und Singapur304 in Kraft. Angestrebt wird derzeit der Beitritt zu den regionalen Freihandelsabkommen TPP305 und RCEP306. Diese ambitionierten Freihandelsabkommen werden nicht zuletzt als Plattform für den Abbau nichttarifärer, insbesondere technischer Handelshemmnisse genutzt, um Handelserleichterungen („trade facilitation“) zu erreichen, wobei ein Kapitel über technische Handelshemmnisse im jeweiligen Freihandelsabkommen inkorporiert ist. Instrumente dazu sind zum einen die Harmonisierung technischer Gesetze und Standards für Produkte, zum anderen die Regeln für die Konformitätsbewertung und Akkreditierung. Eine steigende Nachfrage nach den Konformitätsbewertungsmechanismen ist zu erwarten. Diese anhaltende Entwicklung wird signifikante Auswirkungen auf das bisherige grundlegende System der behördlichen Marktzugangskontrolle bei technischen Produkten in Taiwan haben. Ein rechtsstaatlich konturierter Rechtsrahmen für das taiwanesische Konformitätsbewertungswesen wäre wünschenswert. ___________ 298 Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt“ – Ein Beitrag zur EU-Strategie für Wachstum und Beschäftigung, KOM (2006) 567 endg. 299 „Free Trade Agreement between the European Union and its Member States, of the one part, and the Republic of Korea, of the other part“. 300 „Comprehensive Economic and Trade Agreement“ (CETA). 301 „Transatlantic Trade and Investment Partnership“ (TTIP). 302 „Economic Cooperation Framework Agreement“ (ECFA). 303 „Agreement between the Separate Customs Territory of Taiwan, Penghu, Kinmen and Matsu and New Zealand on Economic Cooperation“ (ANZTEC). 304 „Agreement between Singapore and the Separate Customs Territory of Taiwan, Penghu, Kinmen and Matsu on Economic Partnership“ (ASTEP). 305 „Trans-Pacific Partnership“. 306 „Regional Comprehensive Economic Partnership“.
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Ein funktionsfähiges Normungs- und Konformitätsbewertungssystem kann zur Herstellung eines geordneten, freien globalen Marktes beitragen, in dem Produkte und Dienstleistungen ohne übermäßigen bürokratischen Aufwand weltweit zirkulieren und zugleich der Schutz universaler Gemeinwohlinteressen wie Gesundheit, Sicherheit, Verbraucher und Umwelt sichergestellt wird. Als flexibles und effektives Instrumentarium zur Harmonisierung und Vertrauensbildung gewinnt das Normungs- und Konformitätsbewertungssystem in der globalen Wirtschaft in zunehmendem Maße an Bedeutung. Dabei kommt der Akkreditierung ein hoher Stellenwert zu, indem sie sich als Schlüssel zur Bildung einer Vertrauenskette erweist.307 Die Akkreditierungsstellen sichern auf der letzten Stufe der Vertrauenskette die Qualität der Konformitätsbewertungs- bzw. Zertifizierungsstellen und mithin des ganzen Konformitätsbewertungssystems. Anders gewendet: „Certified once – accepted everywhere“.308 An diese entscheidende Garantenfunktion wird folgerichtig der hoheitliche, nicht gewinnorientierte Charakter der Akkreditierungsaufgabe geknüpft. Die diesbezügliche unionsrechtliche Festlegung ist besonders aufschlussreich gerade für Taiwan.309
___________ 307
Vgl. Dimitropoulos (Fn. 16), S. 53 f.; Technopolis Group und DIN Deutsches Institut für Normung e.V. (Fn. 259), S. 56 ff. 308 Siehe die Rolle von IAF („International Accreditation Forum“) unter http://www. iaf.nu/articles/Role/7 (Stand: August 2014). 309 Die TAF („Taiwan Accreditation Foundation“) ist die einzige, staatlich anerkannte Akkreditierungsstelle Taiwans und eine eingetragene Stiftung des Privatrechts. Sie wurde 2003 vom taiwanesischen Wirtschaftsministerium errichtet, ist jedoch eine mehrheitlich von Privaten beherrschte Organisation. Außerdem ist ihre Tätigkeit und Organisation nicht gesetzlich geregelt. Siehe die Einführung in die TAF unter http://www.taftw.org.tw/dispPageBox/TAFENCP.aspx?ddsPageID=TAFENABOUTA& (Stand: August 2014).
Akkreditierung und Zertifizierung als Instrumente gewährleistungsstaatlicher Überwachung der Wirtschaft am Beispiel des Produktsicherheitsrechts Von Matthias Knauff
I. Gewährleistungsstaatlichkeit in Deutschland Vor einigen Jahren war der Gewährleistungsstaat in aller Munde: Politik1 und Wissenschaft2 hatten ein großes Interesse am Konzept eines Staates, der unter Überwindung des Gegensatzes zwischen dem überkommenen, als unbeweglich qualifizierten Leistungsstaat und dem als sozial kalt empfundenen schlanken Nachtwächterstaat in nie da gewesener Weise private Initiative ermöglichen und zugleich einen hohen Leistungsstandard staatlich garantieren soll. Heute ist es weitgehend still um den Gewährleistungsstaat geworden. Die politischen Akteure vermeiden es weithin, sich zu diesem zu positionieren. Die mit der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise verbundenen Unsicherheiten3 mögen hierzu ebenso beigetragen haben wie der „Ideologieverdacht“, dem sich jedes erkennbare staatstheoretische Bekenntnis aussetzt und für den in der aktuellen deutschen Politik kein Raum zu sein scheint. Doch auch in der rechtswissenschaftlichen Diskussion in Deutschland spielt der Gewährleistungsstaat in neuerer Zeit kaum mehr eine Rolle.4 Dieses allseitige Desinteresse – zu welchem die heutige Veranstaltung einen erfreulichen Kontrapunkt setzt und das in Anbetracht der ___________ 1 Grundlegend Bundesregierung, Moderner Staat – Moderne Verwaltung, 1999 (http://www.verwaltunginnovativ.de/cln_117/nn_684674/SharedDocs/Publikationen/Bestellservice/programm_der_bundesregierung,templateId=raw,property =publicationFilepdf/programm_der_bundesregierung.pdf [Internetzitate v. 17.9.2013]). 2 Begriffsprägend Eifert, Grundversorgung mit Telekommunikationsleistungen im Gewährleistungsstaat, 1998, S. 18. 3 Zur Kriseneignung des Staatsmodells Knauff, DÖV 2009, 581 (582 ff.). 4 Die juristische Datenbank juris und der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek verzeichnen seit 2010 jeweils weniger als zehn Publikationen, die den Begriff des Gewährleistungsstaats im Titel tragen. Diese befassen sich überdies sämtlich nicht mit konzeptionellen Aspekten des Gewährleistungsstaatsmodells, sondern mit spezifischen Fragen seiner Umsetzung.
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derzeit in Deutschland vorherrschenden Präferenz für ein „Mehr an Staatlichkeit“5 kaum als Zeichen von Normalität gedeutet werden kann – geht jedoch in merkwürdiger Weise mit einer fortschreitenden Realisierung von Gewährleistungsstaatlichkeit in der deutschen Rechtsordnung einher. Erweist sich hierbei auch die Europäische Union als nicht unbedeutender Faktor, so handelt es sich keineswegs um eine aufgezwungene Entwicklung. Vor diesem Hintergrund erscheint es als ebenso lohnende wie notwendige Aufgabe, sich erneut mit dem Gewährleistungsstaat, seinen Entwicklungen und neu aufgetretenen Fragestellungen zu befassen. Das vor nicht allzu langer Zeit in einem gewährleistungsstaatlichen Sinne umgestaltete Produktsicherheitsrecht bietet hierfür ein geeignetes Referenzgebiet, dem ich mich nach einigen Bemerkungen zur Theorie des Gewährleistungsstaates unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftsüberwachung (II.) im Einzelnen widmen werde (III.).
II. Theorie des Gewährleistungsstaates 1. Konzeptionelle Grundlagen6 Das Leitbild des Gewährleistungsstaates7 basiert auf der Unterscheidbarkeit der Qualifikation von Staatsaufgaben und den Modalitäten ihrer Wahrnehmung.8 Während die Bestimmung von Staatsaufgaben ausschließlich dem Staat in den Grenzen der Verfassung obliegt, setzt ihre Realisierung keine zwangsläufige Alleinzuständigkeit staatlicher Stellen, insbesondere der Verwaltung, voraus.9 Die ___________ 5 Dies zeigt sich nicht zuletzt im Abbruch von Privatisierungsprozessen, prominent etwa bei der Deutschen Bahn AG, oder in Form von Rekommunalisierungen, also der Rückführung zuvor privatisierter Einrichtungen in die Trägerschaft der Gemeinden, dazu Brüning, VerwArch 100 (2009), S. 453 ff.; Bauer, DÖV 2012, 329 ff.; Burgi, NdsVBl. 2012, 225 ff.; Guckelberger, VerwArch 104 (2013), S. 161 ff.; Leisner-Egensperger, NVwZ 2013, 1110 ff. 6 Die folgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf Knauff, DÖV 2009, 581 (581 f.). 7 Im Einzelnen zur Konzeption etwa Franzius, VerwArch 99 (2008), S. 351 (351 ff.); Knauff, Der Gewährleistungsstaat: Reform der Daseinsvorsorge, 2004, S. 59 ff.; Reichard, in: Göbel u.a., Neue Institutionenökonomik, Public Private Partnership, Gewährleistungsstaat, 2004, S. 48 ff.; Schuppert, in: ders., Der Gewährleistungsstaat – ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005, S. 11 ff.; spezifisch verwaltungsbezogen Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 2. Aufl. 2012, § 12 Rn. 158 ff. 8 Vgl. schon Reusch, Gemeindliche Rechtspflichten auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge, Diss. jur. Bonn 1970, S. 59 f.; dahingehend auch Rennert, Die Verwaltung 35 (2002), S. 319 (324 f.). 9 Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 51; König/Benz, in: dies., Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 13 (63); Schulze-Fielitz, in:
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unmittelbare staatliche Leistungserbringung bildet nur eine Möglichkeit, nicht aber eine Notwendigkeit der Erfüllung von Staatsaufgaben. Vielmehr ist der Staat hinsichtlich der Organisation der Aufgabenerfüllung grundsätzlich frei, die Rollen von Staat und Wirtschaft neu zu definieren10 und insbesondere die jeweilige „staatliche Leistungstiefe“11 mit Blick auf die Aufgabenerfüllung zu bestimmen. Staatliche und private Beiträge sind dabei so zu koordinieren, dass die ausschließlich seitens des Staates zu Staatsaufgaben bestimmten Aufgaben qualitativ möglichst hochwertig und effizient erfüllt werden.12 Von staatstheoretischem Interesse ist primär der staatliche Anteil an der Leistungserbringung. Diesbezüglich sind verschiedene Grade staatlichen Engagements unterscheidbar, die sich als „Verantwortungsstufen“ verstehen lassen.13 Die „Grundform“ staatlicher Verantwortung im Hinblick auf die Erfüllung von Staatsaufgaben bildet im Gewährleistungsstaat die „Gewährleistungsverantwortung“14. Diese lässt sich auch als Ergebnisverantwortung15 für von Privaten durchgeführte Tätigkeiten16 begreifen. Soweit diese unmittelbar aufgrund staatlicher Veranlassung erfolgen,17 bedarf es spezifischer Auswahlregeln und Steu-
___________ Grimm, Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 11 (30); Bull, in: König/Siedentopf, Öffentliche Verwaltung in Deutschland, 2. Aufl. 1997, S. 343 (351); dahingehend auch Hill, in: ders., Kommunalwirtschaft, 1998, S. 3 (11); Kulas, Privatisierung hoheitlicher Verwaltung – Zur Zulässigkeit privater Strafvollzugsanstalten, 2. Aufl. 2001, S. 41. 10 Benz, Die Verwaltung 28 (1995), S. 337; Greiling, in: Budäus, Organisationswandel öffentlicher Aufgabenwahrnehmung, 1998, S. 235; Sturm/Müller, in: Die Zukunft der Daseinsvorsorge – Öffentliche Unternehmen im Wettbewerb, 2001, S. 107 (108). 11 Kißler, in: Gusy, Privatisierung von Staatsaufgaben, 1998, S. 57 (60); Reichard, Umdenken im Rathaus: Neue Steuerungsmodelle in der deutschen Kommunalverwaltung, 3. Aufl., 1994, S. 43; Schedler/Proeller, New Public Management, 2000, S. 33. 12 Naschold u.a., Leistungstiefe im öffentlichen Sektor, 2. Aufl., 2000, S. 43 f.; ähnlich Hoffmann-Riem, in: FS Vogel, 2000, S. 47 (52). 13 Grundlegend Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 11 (43 f.); zur Problematik des Verantwortungsbegriffs umfassend Klement, Verantwortung, 2006; zusammenfassend Knauff (Fußn. 7), S. 265 ff. 14 Vgl. Badura, in: Schwarze, Daseinsvorsorge im Lichte des Wettbewerbsrechts, 2001, S. 25 (27); Ruffert, AöR 124 (1999), S. 237 (247); Schuppert, in: Gusy, (Fußn. 11), S. 72 (81). 15 Franzius, VerwArch 99 (2008), S. 351 (355); Schoch, NVwZ 2008, 241 (245); Trute, DVBl. 1996, 950 (952); Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), S. 266 (311). 16 Osborne/Gaebler, Der innovative Staat, 1997, S. 49. 17 Schedler, in: Mastronardi/Schedler, New Public Management in Staat und Recht, 1998, S. 8 (17).
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erungsmechanismen hinsichtlich der Leistungserbringer, so dass der Gewährleistungsstaat nicht zuletzt als Vergabe(rechts)-18 und Regulierungsstaat19 erscheint. Zugleich setzt eine Wahrnehmung der Gewährleistungsverantwortung die Existenz effektiver Rückhol- und Zugriffsmechanismen voraus, welche eine Sicherstellung der Aufgabenerfüllung auch im Falle des Scheiterns privater Leistungserbringer garantieren.20 2. Wirtschaftsüberwachung im Gewährleistungsstaat Die Überwachung der Wirtschaft ist eine staatliche Aufgabe, die sich auch und gerade dem Gewährleistungsstaat stellt, zeichnet sich dieser doch dadurch aus, dass an die Stelle einer vormaligen oder potenziellen21 staatlichen Leistung die Organisation privater Leistungserbringung tritt. Diese bedarf jedoch einer – gegebenenfalls anleitenden – Beaufsichtigung.22 Andernfalls besteht das Risiko, dass das private Interesse der Leistungsanbieter an einer Gewinnmaximierung einseitig zu Lasten der Verbraucher- und Allgemeininteressen durchgesetzt wird. Die Methoden und Instrumente der staatlichen Aufsicht über die Wirtschaft sind vielfältig.23 Traditionell erfolgt die Überwachung durch Verwaltungsbehörden, welche die Einhaltung eines gesetzlich vorgegebenen Programms mit hoheitlichen Mitteln durchsetzen.24 Ihre rechtsstaatliche Bindung an dieses Programm geht mit einer Verpflichtung zur Objektivität und Marktneutralität einher.25 Verwaltungsorganisatorisch bedarf es daher auch einer Trennung zwischen ___________ 18 Siehe Franzius, Gewährleistung im Recht, 2009, S. 503 ff.; Burgi, ZSE 2007, 46 (48 ff.). 19 Kämmerer, JZ 1996, 1042 (1050), spricht insoweit plastisch von einem „Zwang zur Regulierung“; siehe auch umfassend Inkook, Regulierung als Erscheinungsform der Gewährleistungsverwaltung. Eine rechtsdogmatische Untersuchung zur Einordnung der Regulierung in das Staats- und Verwaltungsrecht, 2013, S. 86 ff. 20 Vgl. Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), S. 266 (326); umfassend dazu B. Wollenschläger, Staatliche Rückholoptionen bei gesellschaftlicher Schlechterfüllung, 2006, insb. S. 140 ff. 21 Eine Verengung von Gewährleistungsstaatlichkeit auf Privatisierungsfolgenaspekte greift zu kurz. Das Potenzial des Gewährleistungsstaatsmodells weist weit darüber hinaus, vgl. näher Knauff, VR 2003, 269 ff. 22 Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, S. 182; König/Benz, in: dies., Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 13 (35); umfassend Edelbluth, Gewährleistungsaufsicht, 2008. 23 Näher zum Folgenden Knauff, ZVglRWiss 112 (2013), S. 136 (138 f.). 24 Dazu Kluth, in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht I: Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2012, § 12 Rn. 1 ff. 25 Vgl. nur Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 305 ff.; umfassend aus verwaltungsrechtlicher Perspektive Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe, 2001, insb. ab S. 195.
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Aufsichtsbehörden und Verwaltungseinheiten, die selbst und gegebenenfalls im Wettbewerb mit privaten Anbietern marktgängige Leistungen erbringen.26 Die Beachtung dieser Anforderungen unterliegt der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte. Neben diese klassische Form der Wirtschaftsaufsicht sind in neuerer Zeit weitere Ausprägungen getreten. Zunehmend bedeutsam ist die gleichsam staatsfreie Wirtschaftsüberwachung durch Private. Das insbesondere im Wettbewerbsrecht verbreitete „Private Enforcement“ knüpft an die Übereinstimmung öffentlicher und individueller Interessen an: Der Staat greift auf den aus (häufig wirtschaftlichem) Eigeninteresse gerichtlich gegen einen Rechtsbrecher vorgehenden Bürger als „Durchsetzungshelfer“ zurück – und kann in Anbetracht dessen auf eigene Überwachungsmaßnahmen zumindest teilweise verzichten. Der deutsche wie auch der europäische Gesetzgeber sind in den vergangenen Jahren dazu übergegangen, „Private Enforcement“ zu vereinfachen und attraktiver zu machen. Daneben verzichtet der Staat teilweise ganz auf eine Steuerung durch und Überwachung am Maßstab des Rechts. Dieses wird partiell durch eine ökonomisch determinierte Regulierung sowie durch informelle Instrumente, insbesondere Soft Law, ersetzt oder zumindest ergänzt. Darüber hinaus finden Selbstverpflichtungen der Wirtschaft Anwendung, die auch von dieser eigenständig durchgesetzt werden (sollen). Diese Entwicklungen lassen sich nicht als spezifische Ausprägungen von Gewährleistungsstaatlichkeit deuten. Sie weisen jedoch insoweit eine Nähe zu dieser auf, als sie mit einer Ersetzung der staatlichen „Erfüllungsverantwortung“ und ihrer traditionellen Wahrnehmung einhergeht. Von einer spezifisch gewährleistungsstaatlichen Ausprägung der Wirtschaftsüberwachung lässt sich demgegenüber dann sprechen, wenn auch diese Aufgabe im Wege einer „Verantwortungsteilung“ zwischen dem Staat und Privaten erfüllt wird. Eine solche geht über ein bloßes „Private Enforcement“ hinaus, da bei diesem der Staat letztlich keinen Einfluss darauf hat, ob Rechtsverstöße von interessierten Privaten gerichtlich angegriffen werden und damit der Rechtsordnung zur Durchsetzung verholfen wird. Eine derartige Einbeziehung Privater in die Wirtschaftsüberwachung, die sich durchaus als „Überwachungsprivatisierung“27 verstehen lässt, kann insbesondere28 auf dem Wege erfolgen, dass Tätigkeits___________ 26 Vgl. Schuppert, Verwaltungswissenschaft. Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, 2000, S. 895 ff; Krebs, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 339 (351). 27 So etwa Akbarian, Die Zertifizierung zum Entsorgungsfachbetrieb nach § 52 KrW/AbfG. Eine verfassungs- und gemeinschaftsrechtliche Bewertung der freiwilligen Unterwerfung unter ein privates Überwachungssystem, 2001, S. 115; Röthel, in: Schulte, Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 155 (172). 28 Siehe darüber hinaus zum Einsatz von Sachverständigen Windmann, DÖV 2010, 396 ff.
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oder Produktprüfungen anhand der – im vorliegenden Kontext gesetzlich – vorgegebenen Maßstäbe durch private Akteure29 vorgenommen werden, statt durch Verwaltungsbehörden. Sind diese Maßstäbe eingehalten worden, erfolgt eine Zertifizierung der Tätigkeit oder des Produkts, durch welche die Konformität mit den bestehenden Anforderungen bestätigt und – im Zusammenwirken mit entsprechenden gesetzlichen Regelungen – ein Marktzutritt ermöglicht wird. Ein solches Modell kann jedoch nur verlässlich funktionieren, wenn auch die Kontrolleure ihrerseits der Kontrolle unterliegen.30 Diese kann staatlich31 oder wiederum durch Private ausgeübt werden. Im letzteren Falle bedarf es jedoch einer Aufsicht durch den Staat als Ausprägung seiner Gewährleistungsverantwortung. Für die Verleihung der Berechtigung zur Zertifizierung hat sich der Begriff der Akkreditierung durchgesetzt. Beide Prüfungsformen stehen daher in einem engen Zusammenhang.32 Wenngleich sie unabhängig vom Konzept des Gewährleistungsstaates in einem privatwirtschaftlichen Zusammenhang entwickelt wurden und nicht zuletzt der Nutzbarmachung privaten Spezialwissens für die Zwecke der Allgemeinheit dienen, lassen sie sich in dieses unschwer einfügen.33 In die deutsche und europäische Rechtsordnung34 haben Akkreditierung und Zertifizierung bereichsspezifisch Eingang gefunden, ohne dass jedoch die Begrifflichkeit stets Verwendung fände. Neben dem sogleich näher in den Blick zu nehmenden Produktsicherheitsrecht finden sich diese Instrumente etwa im Kreislaufwirtschaftsrecht35, im Gesetz über die Errichtung eines Kraftfahrt-Bundesamts,36 in den Vorschriften über
___________ 29
Zu deren Grundrechtsberechtigung Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht, 2000, S. 54 ff. 30 Vgl. auch Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160 (211). 31 So etwa § 3 Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorge- und Basisrentenverträgen (BGBl. 2001 I, S. 1310, 1322). 32 Näher dazu Ensthaler/Strübbe/Bock, Zertifizierung und Akkreditierung technischer Produkte. Ein Handlungsleitfaden für Unternehmen, 2007, S. 3 ff. 33 Nicht ausgeschlossen ist, darin zugleich einen Ausdruck des kooperativen Staates zu sehen, vgl. Di Fabio, Produktharmonisierung durch Normung und Selbstüberwachung, 1996, S. 129. 34 Siehe ausführlich unter Einbeziehung auch der internationalen Ebene Dimitropoulos, Zertifizierung und Akkreditierung im Internationalen Verwaltungsverbund. Internationale Verbundverwaltung und gesellschaftliche Administration, 2012, S. 38 ff. 35 § 56 KrWG: Zertifizierung von Entsorgungsfachbetrieben (BGBl. 2012 I, S. 212). 36 § 2 Abs. 1 Nr. 1 lit. b, c KBAG: Zertifizierung von Technischen Diensten bzw. Konformitätsbewertungsstellen (BGBl. 2011 I, S. 1124, 1125).
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die außergerichtliche Mediation,37 im Recht der Arbeitsförderung38 und sogar im Rüstungsrecht39.
III. Praktische Ausgestaltung von Gewährleistungsstaatlichkeit am Beispiel des Produktsicherheitsrechts Das Produktsicherheitsrecht bietet sich im vorliegenden Kontext in doppelter Weise als Referenzgebiet an:40 Zum einen sind die Zertifizierung von Produkten und die Akkreditierung der Zertifizierungsstellen im Bereich der Produktsicherheit erprobte Instrumente.41 Zum anderen ist mit dem Gesetz über die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt (ProdSG)42 ein Zentralbereich der Rechtsmaterie im Jahr 2011 novelliert worden. Seine geltende Fassung lässt sich daher als aktueller Ausdruck gewährleistungsstaatlich geprägter Gesetzgebung ansehen.43 Nach einem kurzen Überblick über Gegenstand, Ausprägungen und Ziele des Produktsicherheitsrechts (1.) werde ich die maßgeblichen Vorgaben für die Akkreditierungsstelle (2.) und für die für die Zertifizierung zuständige Konformitätsbewertungsstelle (3.) sowie ihre jeweiligen Aufgaben und Befugnisse darstellen. Zusätzlich zu diesen gewährleistungsstaatlichen Elementen sieht das Produktsicherheitsrecht jedoch auch eine klassische Marktüberwachung durch Verwaltungsbehörden vor, die zur Vervollständigung des Gesamtbildes notwendig ebenfalls in den Blick zu nehmen ist (4.).
___________ 37 § 6 MediationsG: Verordnungsermächtigung zur Zertifizierung von Mediatoren (BGBl. 2012 I, S. 1577, 1587). 38 §§ 176 ff. SGB III: Zulassung von Trägern und Maßnahmen (BGBl. 2011 I, S. 2854, 2905 ff.). 39 Art. 2 des Gesetzes zur Umsetzung der Verteidigungsgüterrichtlinie: Zertifizierung für Teilnehmer am Außenwirtschaftsverkehr (BGBl. 2011 I, S. 1595). 40 Siehe auch schon Gesmann-Nuissl/Strübbe, DÖV 2007, 1046 (1048 f.). 41 Zur Entwicklung des Akkreditierungswesens in Deutschland zusammenfassend Tiede/Ryczewski/Yang, NVwZ 2012, 1212 (1213); näher zur früheren Ausgestaltung Scheel, DVBl. 1999, 442 ff.; aus europarechtlicher Perspektive umfassend Grützner, Normung, Zertifizierung und Akkreditierung im EU-Binnenmarkt, 1994, insb. S. 21 ff., 67 ff. 42 BGBl. 2011 I, S. 2178, 2179; 2012 I, S. 131. 43 Gleiches gilt bereits für die Vorgängerfassung, das Gesetz über technische Arbeitsmittel und Verbraucherprodukte (Geräte- und Produktsicherheitsgesetz), BGBl. 2004 I, S. 2, ber. S 219.
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1. Gegenstand, Ausprägungen und Ziele des Produktsicherheitsrechts Das Produktsicherheitsrecht befasst sich ausweislich § 1 Abs. 1 ProdSG mit der Bereitstellung, Ausstellung oder erstmaligen Verwendung von Produkten auf dem Markt, die im Rahmen einer Geschäftstätigkeit erfolgt. Als Produkte gelten dabei alle „Waren, Stoffe oder Zubereitungen, die durch einen Fertigungsprozess hergestellt worden sind“ (§ 2 Nr. 22 ProdSG). Ziel der gesetzlichen Vorgaben ist die Ungefährlichkeit dieser Produkte (§ 3 ProdSG), wobei für Produkte, die von Verbrauchern verwendet werden sollen wegen deren besonderer Schutzbedürftigkeit erhöhte Anforderungen bestehen (§ 6 ProdSG). Das Produktsicherheitsrecht hat sich zu einem komplexen Rechtsgebiet entwickelt.44 Seinen Kern bildet das Produktsicherheitsgesetz, das jedoch nur wenige materiell-rechtliche Vorgaben enthält. Diese sind in ergänzenden Spezialregelungen enthalten. Zu nennen sind das Medizinproduktegesetz,45 das Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorge- und Basisrentenverträgen46 oder das Familienpflegezeitgesetz47 im Hinblick auf die Zertifizierung der Familienpflegezeit-Versicherung. Zudem wird das Produktsicherheitsgesetz durch zahlreiche Rechtsverordnungen ergänzt, die sich jeweils auf spezifische Produkte beziehen.48 Ebenso wie zahlreiche andere Bereiche des deutschen Rechts ist auch das Produktsicherheitsrecht stark europarechtlich geprägt. Zentrale Bedeutung kommt insoweit der Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Dezember 2001 über die allgemeine Produktsicherheit49 zu, die eine prä___________ 44
Im Überblick Kapoor/Klindt, NVwZ 2012, 719 (720 ff.). BGBl. 2002 I, S. 3146. 46 BGBl. 2001 I, S. 1310, 1322. 47 BGBl. 2011 I, S. 2564. 48 Verordnung über die Bereitstellung elektrischer Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen auf dem Markt (1. ProdSV), BGBl. 1979 I, S. 629; Verordnung über die Sicherheit von Spielzeug (2. GPSGV), BGBl. 2011 I, S. 1350; Verordnung über die Bereitstellung von einfachen Druckbehältern auf dem Markt (6. ProdSV), BGBl. 1992 I, S. 1171; Gasverbrauchseinrichtungsverordnung (7. ProdSV), BGBl. 1993 I, S. 133; Verordnung über die Bereitstellung von persönlichen Schutzausrüstungen auf dem Markt (8. ProdSV), BGBl. 1997 I, S. 316; Maschinenverordnung (9. ProdSV), BGBl. 1993 I, S. 704; Verordnung über die Bereitstellung von Sportbooten und den Verkehr mit Sportbooten (10. ProdSV), BGBl. 2004 I, S. 1605; Explosionsschutzverordnung (11. ProdSV), BGBl. 1996 I, S. 1914; Aufzugsverordnung (12. ProdSV), BGBl. 1998 I, S. 1393; Aerosolpackungsverordnung (13. ProdSV), BGBl. 2002 I, S. 3777, 3805; Druckgeräteverordnung (14. ProdSV), BGBl. 2002 I, S. 3777, 3806. 49 ABl. 2002 L 11/4. 45
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gende Bedeutung für die geltende Fassung des Produktsicherheitsgesetzes entfaltet. Hervorzuheben ist im vorliegenden Zusammenhang darüber hinaus aber auch die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 339/93 des Rates50. Mit der Existenz des Produktsicherheitsrechts tragen der deutsche Staat und die Europäische Union dem Umstand Rechnung, dass aufgrund der Komplexität zahlreicher Produkte, undurchschaubarer globaler Handelsströme und daher in nicht hinreichendem Maße gegebenen Eigenkontrolle durch den Nutzer besondere Gefahren für den Einzelnen wie für die Allgemeinheit ausgehen. Die Gewährleistung von Produktsicherheit ist daher zu einer Staatsaufgabe geworden. Ungeachtet dessen muss und kann Produktsicherheit primär nur von den Produzenten und Importeuren gewährleistet werden. Der Staat ist vielmehr von vornherein auf eine Kontrollfunktion beschränkt. Auch für deren Wahrnehmung fehlen ihm jedoch in erheblichem Maße Kompetenzen und Kapazitäten.51 Das moderne Produktsicherheitsrecht52 zeichnet sich daher und in besonderer Weise durch eine Einbeziehung Privater auch in die Kontrollaufgabe und damit zugleich durch ein dieses ermöglichendes Instrumentarium aus. 2. Akkreditierungsstelle Als gleichsam „obere Kontrollebene“ zur Durchsetzung der Produktsicherheit in Deutschland agiert die Deutsche Akkreditierungsstelle (DAkkS)53. Dabei handelt es sich um eine juristische Person des Privatrechts in Gestalt einer GmbH, an der der Bund, die Länder und der Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) jeweils ein Drittel der Anteile halten. Formal betrachtet, handelt es sich mithin um ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen,54 das auf Grundlage der Art. 1 ff. Verordnung (EG) Nr. 765/2008 und des Akkreditierungsstellengesetzes (AkkStelleG) über einen spezifischen normativen Auftrag verfügt. Die Beteiligung des BDI ist rechtlich nicht zwingend. Sie steht jedoch einer öffentlichrechtlichen Organisationsform entgegen und ruft die Notwendigkeit einer Beleihung hervor, die durch die Beleihungsverordnung (AkkStelleGBV) erfolgt ist. ___________ 50
ABl. L 218 vom 13.8.2008, S. 30. Vgl. BT-Drucks. 16/12983, S. 9; Fraenkel-Haeberle, DÖV 2012, 945 (948). 52 Anders noch das Gesetz über technische Arbeitsmittel (Gerätesicherheitsgesetz), BGBl. 1968 I, S. 717, und das Gesetz zur Regelung der Sicherheitsanforderungen an Produkte und zum Schutz der CE-Kennzeichnung, BGBl. 1997 I, S. 934. 53 Eigendarstellung unter http://www.dakks.de; siehe auch Tiede/Ryczewski/Yang, NVwZ 2012, 1212 (1214). 54 Die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/12983, S. 9, spricht von einer „wirtschaftsnahe(n) und staatsdominierte(n) Akkreditierungsstelle“. 51
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a) Aufgaben und Organisation Gemäß der Legaldefinition in Art. 2 Nr. 10 Verordnung (EG) Nr. 765/2008 und § 2 Nr. 1 ProdSG handelt es sich bei der Akkreditierung um die „Bestätigung durch eine nationale Akkreditierungsstelle, dass eine Konformitätsbewertungsstelle die in harmonisierten Normen festgelegten Anforderungen und, gegebenenfalls, zusätzliche Anforderungen, einschließlich solcher in relevanten sektoralen Akkreditierungssystemen, erfüllt, um eine spezielle Konformitätsbewertungstätigkeit durchzuführen“. Die Akkreditierung „dient also der Bildung von Vertrauen in die Qualität von Produkten, indem sichergestellt wird, dass die [Konformitätsbewertungsstellen] selbst die erforderliche Qualität und Zuverlässigkeit besitzen. Auf diese Weise entsteht ein Instrument zur Gewährleistung der Produktsicherheit, indem die Kompetenz der benannten Stellen durch akkreditierte, also selbst überprüfte Prüfer sichergestellt wird.“55 Das AkkStelleG qualifiziert die Akkreditierung in § 1 Abs. 1 „als hoheitliche Aufgabe des Bundes“, ermöglicht aber in Übereinstimmung mit den europarechtlichen Vorgabe für die Nationale Akkreditierungsstelle zugleich die Beleihung einer juristischen Person des Privatrechts mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe. Im Hinblick auf die zuvor aufgeführten gewährleistungsstaatlichen Kategorien wird mithin eine „Überwachungsprivatisierung“ gesetzlich ermöglicht, nicht aber erzwungen. Zentrale Aufgabe der Akkreditierungsstelle ist es gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1 Verordnung (EG) Nr. 765/2008, „[a]uf Antrag einer Konformitätsbewertungsstelle [zu überprüfen], ob diese Konformitätsbewertungsstelle über die Kompetenz verfügt, eine bestimmte Konformitätsbewertungstätigkeit auszuführen.“ Ist dies der Fall, stellt sie eine entsprechende Akkreditierungsurkunde aus.56 Darüber hinaus obliegt ihr die Überwachung der akkreditierten Konformitätsbewertungsstellen. Stellt sie dabei fest, „dass eine Konformitätsbewertungsstelle, der eine Akkreditierungsurkunde ausgestellt wurde, nicht mehr über die Kompetenz verfügt, eine bestimmte Konformitätsbewertungstätigkeit auszuführen, oder ihre Verpflichtungen gravierend verletzt hat, trifft“ sie nach Art. 5 Abs. 4 Verordnung (EG) Nr. 765/2008 „innerhalb einer angemessenen Frist alle geeigneten Maßnahmen, um die Akkreditierungsurkunde einzuschränken, auszusetzen oder zurückzuziehen.“ Ihr kommen mithin im Hinblick auf die Akkreditierung umfassende Pflichten und Befugnisse zu.
___________ 55 Kapoor/Klindt, EuZW 2009, 134 (135); zur gebotenen Unabhängigkeit siehe bereits Kollmer, GewArch 1999, 48 (51 ff.). 56 Zudem können akkreditierte Konformitätsbewertungsstellen das Akkreditierungssymbol nach der Verordnung zur Gestaltung und Verwendung des Akkreditierungssymbols der Akkreditierungsstelle (Akkreditierungssymbolverordnung – SymbolVO) verwenden.
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Damit die Akkreditierungsstelle diese Aufgaben erfüllen kann, stellt die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 eine Vielzahl spezifische Anforderungen auf. Neben den Erfordernissen ausreichenden und kompetenten Personals, geeigneter Organisationsformen und Prozesse unterliegt sie einer „Beurteilung unter Gleichrangigen“57. Vor allem aber darf sie zur Sicherung ihrer Neutralität weder gewinnorientiert arbeiten noch in Wettbewerb zu den der Akkreditierung unterliegenden Konformitätsbewertungsstellen oder anderen Akkreditierungsstellen treten. Das AkkStelleG ergänzt diese Anforderungen um die Einrichtung eines Akkreditierungsbeirats. Zudem unterstellt es die Akkreditierungsstelle einer bundesministerialen Fach- und Rechtsaufsicht.58 b) Maßstab und Durchführung der Akkreditierung Der von der Akkreditierungsstelle bei der Beurteilung der Kompetenz der Konformitätsbewertungsstelle anzulegende Maßstab ergibt sich allenfalls partiell aus denjenigen Rechtsnormen insbesondere des Produktsicherheitsrechts, deren Realisierung die Konformitätsbewertungsstelle sicherstellen soll. Zentrale Bedeutung kommt dagegen technischen Normen zu.59 Im vorliegenden Kontext ist insbesondere die DIN EN 45011 für Zertifizierungsstellen für Produkte zu nennen. Dieser Maßstab wird in 5 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AkkStelleG in Bezug genommen, indem die Vorschrift dem Akkreditierungsbeirat aufgibt, „allgemeine oder sektorale Regeln zu ermitteln, welche die Anforderungen, insbesondere aus Rechtsvorschriften, an Konformitätsbewertungsstellen bzw. Akkreditierungstätigkeiten konkretisieren oder ergänzen“. Diese Vorschriften sind nach § 5 Abs. 3 AkkStelleG im Bundesanzeiger zu veröffentlichen und von der Akkreditierungsstelle nach § 2 Abs. 1 S. 2 anzuwenden. Hierin zeigt sich ein Dilemma der Überwachungsprivatisierung, wird diese gleichsam auf die Spitze getrieben: Letztlich erfolgt nicht nur eine Privatisierung der Kontrolle, sondern auch – zumindest in gewissem Umfang – der Kontrollmaßstäbe. Der Verweis auf die mit ihrer Formulierung verbundenen Schwierigkeiten verfängt insoweit nicht: Diese stellen sich nicht nur dem Gesetz- oder Verordnungsgeber, sondern in grundsätzlich gleicher Weise auch den Normungsstellen. Sie sind daher kein überzeugender Grund für den Verzicht auf ein höheres Maß an demokratischer Legitimation60, mag diese auch im (gerade) noch verfassungsrechtlich erforderlichen Umfang ___________ 57
Dazu Kapoor/Klindt, EuZW 2009, 134 (137). Konkretisierung durch § 2 AkkStelleGBV; vgl. Tiede/Ryczewski/Yang, NVwZ 2012, 1212 (1214). Kapoor/Klindt, EuZW 2009, 134 (137), heben gleichwohl die Notwendigkeit fachlicher Unabhängigkeit hervor. 59 Vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/12983, S. 6. 60 Vgl. auch Röhl (Fußn. 29), S. 67 f. 58
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gegeben sein.61 Dies gilt umso mehr, als deren Anwendung tiefgreifende Eingriffe in die Betätigungsmöglichkeiten der Konformitätsbewertungsstellen und mittelbar auch der von diesen zu beurteilenden Produzenten und Importeure mit sich bringen. Der Ablauf des Akkreditierungsverfahrens62 wird durch das AkkStelleG teilweise vorgegeben. Es beginnt mit einem Antrag der zu akkreditierenden Konformitätsbewertungsstelle, dem regelmäßig eine informelle Anfrage vorausgeht. An die Übersendung und Prüfung der Dokumente schließt sich – ggf. unter Einbeziehung von Fachbehörden – die Begutachtung an. Hierzu kann nach § 3 AkkStelleG „[d]ie Akkreditierungsstelle […] von der Konformitätsbewertungsstelle und ihrem mit der Leitung und der Durchführung von Fachaufgaben beauftragten Personal die zur Feststellung und Überwachung der fachlichen Kompetenz und der Eignung einer Konformitätsbewertungsstelle erforderlichen Auskünfte und sonstige Unterstützung, insbesondere die Vorlage von Unterlagen, verlangen sowie die dazu erforderlichen Anordnungen treffen. Die Bediensteten und sonstigen Beauftragten der Akkreditierungsstelle sind befugt, zu den Betriebs- und Geschäftszeiten Betriebsstätten, Geschäfts- und Betriebsräume der Konformitätsbewertungsstelle zu betreten, zu besichtigen und zu prüfen, soweit dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist […].“ Der Akkreditierungsausschuss erlässt schließlich den Akkreditierungsbescheid in Form eines auf grundsätzlich fünf Jahre befristeten Verwaltungsakts63, hinsichtlich dessen sowohl in Bezug auf den Rechtsschutz64 als auch auf seine Aufhebung, die wiederum der Akkreditierungsstelle obliegt, keine Besonderheiten bestehen. 3. Konformitätsbewertungsstelle Wir kommen damit zur „zweiten Kontrollebene“ im überwachungsprivatisierten Produktsicherheitsrecht. Die gleichsam tägliche Arbeit der Kontrolle von Produkten obliegt der Konformitätsbewertungsstelle. Diese muss nach § 13 Abs. 1 ProdSG über eigene Rechtspersönlichkeit verfügen. Regelmäßig handelt es sich um private Unternehmen. Die Konformitätsbewertungsstelle ist nach der in Art. 2 Nr. 13 Verordnung (EG) Nr. 765/2008 und § 2 Nr. 17 ProdSG identisch enthaltenen Legaldefinition „eine Stelle, die Konformitätsbewertungstätigkeiten einschließlich Kalibrierungen, Prüfungen, Zertifizierungen und Inspektionen ___________ 61 Näher Hill/Martini, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts II, 2. Aufl. 2012, § 34 Rn. 71 f.; instruktiv in weiterem Kontext Di Fabio, VVDStRL 56 (1997), S. 235 (263 ff.). 62 Siehe im Detail DAkkS, Allgemeine Regeln zur Akkreditierung von Konformitätsbewertungsstellen, 2012, S. 4 ff. (http://www.dakks.de/sites/default/files/71%20SD% 200%20001%20Akkreditierungsprozess_20120829_v1.3.pdf); Überblick bei Tiede/Ryczewski/Yang, NVwZ 2012, 1212 (1215). 63 Scheel, DVBl. 1999, 442 (448). 64 Vgl. Tiede/Ryczewski/Yang, NVwZ 2012, 1212 (1216).
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durchführt“. Der Begriff der Konformitätsbewertung bezeichnet dabei nach Art. 2 Nr. 12 Verordnung (EG) Nr. 765/2008 und § 2 Nr. 16 ProdSG „das Verfahren zur Bewertung, ob spezifische Anforderungen an ein Produkt, ein Verfahren, eine Dienstleistung, ein System, eine Person oder eine Stelle erfüllt sind“. a) Tätigkeitsvoraussetzungen Eine Konformitätsbewertungsstelle darf nur als solche tätig werden, wenn ihr diese Befugnis von der „Befugnis erteilenden Behörde“ eingeräumt wurde. Bei letzter handelt es sich um die Zentralstelle der Länder für Sicherheitstechnik65, die beim Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen angesiedelt ist.66 Die Akkreditierung durch die Akkreditierungsstelle allein genügt mithin nicht; sie bestätigt allein das Vorhandensein der erforderlichen technischen Kompetenz.67 Sie ist nicht einmal zwingende Voraussetzung für die Erteilung der Befugnis nach § 15 ProdSG.68 Gleichwohl spielt sie insoweit eine zentrale Rolle, als die Akkreditierung (im Rahmen ihres Gegenstandes) als Nachweis der Erfüllung der in § 13 ProdSG normierten Anforderungen an eine Konformitätsbewertungsstelle dient, welche im weiten Bereich der europarechtlich harmonisierten Produkte tätig werden will und die daher zusätzlich der Notifizierung bedarf. Dabei handelt es sich nach § 2 Nr. 21 ProdSG um „die Mitteilung der Befugnis erteilenden Behörde an die Europäische Kommission und die übrigen Mitgliedstaaten, dass eine Konformitätsbewertungsstelle Konformitätsbewertungsaufgaben gemäß den nach § 8 Absatz 1 zur Umsetzung oder Durchführung von Rechtsvorschriften der Europäischen Union erlassenen Rechtsverordnungen wahrnehmen kann.“ Bei fehlender Akkreditierung gebotene umfangreiche behördliche Prüfungen vor Erteilung einer Befugnis im Hinblick auf die Vornahme dieser spezifischen Konformitätsbewertungstätigkeiten und der Notifizierung entfallen in diesem Fall, da die Voraussetzungen des § 13 ProdSG denjenigen für die Akkreditierung grundsätzlich entsprechen.69 Darüber hinaus ist die Akkreditierung insoweit von wesentlicher Bedeutung, als Art. 5 Verordnung (EG) Nr. 764/2008 die gegenseitige Anerkennung der Befugnisse akkreditierter Konformitätsbewertungsstellen vorschreibt.70 ___________ 65
http://www.zls-muenchen.de/. Rechtsgrundlage ist das Abkommen über die Zentralstelle der Länder für Sicherheitstechnik. Es handelt sich um einen von den Ländern abgeschlossenen Staatsvertrag, dessen aktuelle Fassung am 1.1.2013 in Kraft getreten ist. 67 Vgl. BT-Drucks. 16/12983, S. 14. 68 Dimitropoulos (Fußn. 34), S. 75. Besonderheiten bestehen bei der Zulassung als GS-Stelle nach § 23 ProdSG, vgl. dazu Kapoor/Klindt, NVwZ 2012, 719 (722 f.). 69 Die Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 17/6276, S. 45, bezeichnet die Akkreditierung als „bevorzugtes Instrument im Rahmen einer Notifizierung“. 70 Zur damit verbundenen Herausbildung einer Europäischen Verwaltungsstruktur Röhl (Fußn. 29), S. 23 ff.; unter Einbeziehung der internationalen Ebene Dimitropoulos (Fußn. 34), S. 224 ff. 66
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In dieser recht komplizierten Konstruktion lässt sich eine „innere Logik“ bei oberflächlicher Betrachtung kaum erkennen. Deutscher Föderalismus und Europäisierung werden vielmehr in einer Art und Weise verbunden, die für konzeptionelle Einordnungen kaum Raum lässt. Eine Realisierung der gewährleistungsstaatlichen Überwachungsprivatisierung wird jedoch zumindest in Ansätzen sichtbar: Zwar verzichtet der Staat nicht auf eine behördliche Entscheidung als Voraussetzung des Tätigwerdens von Konformitätsbewertungsstellen. Eine wie auch immer geartete „Privatisierung“ findet insoweit also nicht statt. Zugleich ist die Erteilung der Befugnis jedoch normativ so eng mit der Akkreditierung durch die Akkreditierungsstelle verbunden, dass eine davon unabhängige Bewertung durch die Zentralstelle der Länder für Sicherheitstechnik als Befugnis erteilende Behörde grundsätzlich nicht mehr erfolgt. Akkreditierten Konformitätsbewertungsstellen wird die Befugnis mithin gleichsam „automatisch“ erteilt. Diese gesetzlich angeordnete Bindung der zuständigen Behörde lässt sich im Kontext des Gewährleistungsstaatsmodells dahingehend deuten, dass die Erfüllungsverantwortung des Staates für die Kontrolle der Konformitätsbewertungsstellen in materieller Hinsicht nur dann realisiert werden soll, wenn sich diese nicht der Akkreditierung unterzogen haben. Überdeutlich tritt darin jedoch auch die Inkonsequenz des Regelungsansatzes hervor: Bedarf es in materieller Hinsicht nicht der Prüfung und Entscheidung durch die Behörde bei vorhandener Akkreditierung, erscheint ihre Befassung zumindest entbehrlich. Auf Grundlage einer Akkreditierungspflicht der Konformitätsbewertungsstellen, wie sie durch § 8 Abs. 2 S. 1 ProdSG ermöglicht wird, könnte der staatliche Beitrag in Form der Befugniserteilung sogar vollständig entfallen, sofern die Aufgabe der Notifizierung ebenfalls der Akkreditierungsstelle übertragen wird. Die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 schließt ein solches Modell nicht aus. b) Befugnisse und Pflichten Die Aufgabe der Konformitätsbewertungsstellen besteht in der Durchsetzung der Anforderungen des Produktsicherheitsrechts mittels Prüfung neuer Produkte nach den vorgesehenen Verfahren, vgl. § 16 Abs. 1 ProdSG. Im Falle eines positiven Prüfergebnisses stellt sie eine Konformitätsbescheinigung aus. Eine solche ist teilweise normativ als Voraussetzung für deren Marktzutritt vorgesehen ist, so etwa auf Grundlage der Maschinen-71 und der Druckgeräteverordnung72. Darüber hinaus hat die Konformitätsbewertungsstelle eine Pflicht zur fortlaufenden Überwachung. Stellt sich dabei heraus, dass die Voraussetzungen für die Erteilung der Konformitätsbescheinigung nicht mehr uneingeschränkt vorliegen, ___________ 71 § 4 Neunte Verordnung zum Produktsicherheitsgesetz (BGBl. 2008 I, S. 1060, 1062). 72 § 4 Abs. 1 Nr. 1 lit. b Vierzehnte Verordnung zum Produktsicherheitsgesetz (BGBl. 2002 I, S. 3777, 3806, 3808).
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hat sie nach § 16 Abs. 3 ProdSG den Hersteller zur Ergreifung von Korrekturmaßnahmen aufzufordern. Werden diese nicht oder in unzureichendem Maße ergriffen, hat dies die Einschränkung, Aussetzung oder Einziehung der Konformitätsbescheinigung zur Folge. Dies kann zur Folge haben, dass das betreffende Produkt nicht mehr vertrieben werden darf. Zugleich hat die Konformitätsbewertungsstelle über die getroffene Maßnahme nach § 17 ProdSG vielfach zu informieren, um dieser die erforderliche Publizität zu verleihen und ihren Rechtsfolgen zur Durchsetzung zu verhelfen. Darin liegt zugleich eine umfassende Realisierung der Überwachungsprivatisierung. Bei ihrem Handeln ist die Konformitätsbewertungsstelle nach § 16 Abs. 1 ProdSG verpflichtet, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Wie Art. 8 Nr. 10 Verordnung (EG) Nr. 765/2008 zu erkennen gibt, müssen „Konformitätsbewertungen auf angemessene Art und Weise durchgeführt werden, indem unnötige Belastungen für die Betriebe vermieden werden und die Größe eines Betriebs, die Branche, in der er tätig ist, die Unternehmensstruktur, das Maß der Komplexität der betreffenden Produkttechnologie und der Massenproduktionsoder serienmäßige Charakter des Produktionsprozesses beachtet werden“. Die gebotene Rücksichtnahme findet gleichwohl ihre Grenze an der ordnungsgemäßen Erfüllung des Prüfauftrags. Uneingeschränkt gilt dagegen das Gebot der vertraulichen Behandlung von Geschäftsgeheimnissen, von denen die Konformitätsbewertungsstelle bei ihrer Tätigkeit Kenntnis erlangt hat. 4. Behördliche Marktüberwachung Das geltende Produktsicherheitsrecht lässt ungeachtet der zentralen Funktion der akkreditierten Konformitätsbewertungsstellen einen Beitrag des Staates zur Gewährleistung der Produktsicherheit nicht entfallen. Seine Erfüllungsverantwortung wird somit bereichsspezifisch nicht völlig beseitigt; die Überwachungsprivatisierung nicht uneingeschränkt vorgenommen. Vielmehr sehen die Art. 15 ff. Verordnung (EG) Nr. 765/2008 und die §§ 24 ff. ProdSG eine ergänzende behördliche Marktüberwachung vor. Als Marktüberwachung gilt dabei nach § 2 Nr. 18 ProdSG „jede von den zuständigen Behörden durchgeführte Tätigkeit und von ihnen getroffene Maßnahme, durch die sichergestellt werden soll, dass die Produkte mit den Anforderungen dieses Gesetzes übereinstimmen und die Sicherheit und Gesundheit von Personen oder andere im öffentlichen Interesse schützenswerte Bereiche nicht gefährden“. Die Marktüberwachungsbehörden – regelmäßig die Gewerbeaufsichtsämter – verfügen dabei über umfassende Befugnisse.73 Gleichwohl handelt es sich um eine „kosten- und ressourcensparende, nachträgliche Marktüberwachung in Gestalt von Stichproben“74. Die Marktüberwachungsbehörden wirken zugleich in spezifischer Art und Weise mit ___________ 73 74
Näher Kapoor/Klindt, NVwZ 2012, 719 (723 f.); Polly/Lach, BB 2012, 71 (73 f.). Kapoor/Klindt, EuZW 2009, 134 (135).
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den Konformitätsbewertungsstellen zusammen. Produktsicherheit wird somit in einem System sich überlappender Zuständigkeiten von privaten Organisationen und hoheitlicher Verwaltung gewährleistet. Diese Ergänzung des durch akkreditierte Konformitätsbewertungsstellen durchgeführten privaten Überwachungsregimes durch eine behördliche Marktüberwachung lässt sich in den Kategorien des Gewährleistungsstaates kaum erfassen. Es bringt jedoch den „unideologischen Ansatz“ des europäischen wie auch des deutschen Gesetzgebers in neuerer Zeit zum Ausdruck: Gewährleistungsstaatliche Instrumente finden (nur) insoweit Anwendung, wie sie sachlich angemessene, d.h. nicht zuletzt politisch für richtig erachtete Ergebnisse versprechen. Bei Zweifeln hinsichtlich ihrer Effektivität kommen dagegen – gegebenenfalls ergänzend – Instrumente klassischer hoheitlicher Verwaltung zum Einsatz. Dies hat im Bereich der Produktsicherheit gleichsam eine Verdoppelung der Aufgabenerfüllung zur Folge und bedingt einen Mitteleinsatz über das unbedingt notwendige Maß hinaus. Die Aufgabenerfüllung wird auf diesem Wege jedoch auch für den Fall sichergestellt, dass die „privatisierte Überwachung“ versagt. Überdies wird eines der Kernprobleme rein gewährleistungsstaatlicher Aufgabenerfüllung umgangen, da ein Verlust behördlicher Kompetenzen nicht eintritt.
IV. Fazit Die aktuelle Ausgestaltung des Produktsicherheitsrechts zeigt: Die Idee des Gewährleistungsstaates lebt; zugleich verliert dieser im Zuge der normativen Realisierung jedoch seine Konturen. Die dem europäisierten deutschen Produktsicherheitsrecht eigene hohe Komplexität der Kontrollstrukturen unter Einbeziehung verschiedener staatlicher und privater Akteure lässt sich dabei kaum als legislatives Meisterstück qualifizieren. Mit Akkreditierung und Konformitätsbewertung stellt es jedoch ein Instrumentarium zur Verfügung, welches eine eigenverantwortliche Einbeziehung fachkundiger Privater in die Erfüllung der Staatsaufgabe Produktsicherheit und somit eine Überwachungsprivatisierung ermöglicht. In welchem Umfang diese erfolgt, ist gesetzlich nur teilweise vorgegeben. Dem Verordnungsgeber kommt ein erheblicher Spielraum bei der Bestimmung derjenigen Bereiche zu, in welchen eine positive Beurteilung durch eine Konformitätsbewertungsstelle anhand der ihr vorgegebenen Maßstäbe Voraussetzung für den Marktzutritt und -verbleib eines Produkts ist. Soweit dies geschieht, geht damit eine Entlastung der andernfalls primär zur Kontrolle berufenen Verwaltung75 und zugleich eine partielle Reduzierung des staatlichen Anteils an der Aufgabenerfüllung auf die Wahrnehmung der Gewährleistungsverantwortung einher. In Anbetracht der verbleibenden Marktüberwachungszuständigkeiten nimmt ___________ 75
Eifert, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fußn. 7), § 19 Rn. 85.
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der Staat daneben jedoch zusätzlich in nicht unerheblichem Umfang eine Erfüllungsverantwortung wahr. Akkreditierung und Konformitätsbewertung als (zumindest auch) gewährleistungsstaatliche Instrumente stehen im Produktsicherheitsrecht in einem engen, keineswegs aber unlösbaren Zusammenhang. Während die Konformitätsbewertung von Produkten durch eine Konformitätsbewertungsstelle in nicht geringem Umfang normativ zwingend vorgesehen ist, kann an die Stelle der Akkreditierung der Konformitätsbewertungsstelle durch die Akkreditierungsstelle grundsätzlich auch eine behördliche Prüfung der Voraussetzungen für die – zwingend auch neben der Akkreditierung notwendige – Erteilung der Befugnis zur Durchführung von Konformitätsbewertungen treten. Gleichwohl gibt die Ausgestaltung des Produktsicherheitsrechts zu erkennen, dass die Akkreditierung von Konformitätsbewertungsstellen den Regelfall bilden soll. Aus der sich hieraus ergebenden Zuständigkeit der Akkreditierungsstelle tritt zugleich eine Präferenz für die Kontrolle der Konformitätsbewertungsstellen jenseits der traditionellen staatlichen Verwaltungsorganisation unter Einbeziehung privaten Sachverstands zu Tage, wenn auch in Anbetracht der gesetzlichen Qualifikation der Akkreditierung als hoheitliche Aufgabe nicht jenseits des Staates.
Vom verpflichteten Staat zum verpflichtenden Staat – Zur Wandlung des verwaltungsrechtlichen Staat-Bürger-Verhältnisses Von Tzung-Jen Tsai
I. Ausgangslage Der zentrale Akteur des Verwaltungsrechts ist zweifellos die staatliche Verwaltung. Es handelt sich beim Verwaltungsrecht also um nichts anderes als um die Rechtsgrundlagen für die Tätigkeit der staatlichen Verwaltung. Denn aus den Berechtigungen und Verpflichtungen der staatlichen Verwaltung ergeben sich regelmäßig schon die korrespondierenden Verpflichtungen und Berechtigungen des Bürgers. Die Inpflichtnahme des Bürgers zu einem Tun, Unterlassen oder Dulden gilt als selbstverständlicher Bestandteil des Verwaltungsrechts, was ein folgerichtiges Ergebnis der Ausübung von Staatsgewalt ist. Die umfangreichen verwaltungsrechtlichen Verpflichtungen des Bürgers sind daher in der Regel als ein Element im System des Verwaltungsrechts anzusehen. Von der Warte des Verfassungsrechts bedeuten die verwaltungsrechtlichen Verpflichtungen des Bürgers üblicherweise bestimmte Grundrechtseinschränkungen. Was und wieviel von dem Grundrechtsversprechen der Verfassung in der Wirklichkeit übrig bleibt, hängt in erheblichem Maße vom Umfang und Inhalt der zahlreichen verwaltungsrechtlichen Verpflichtungen des Bürgers ab. Unter dem Aspekt der Verpflichtungen des Bürgers lässt sich das aktuelle StaatBürger-Verhältnis aus einer anderen Sichtweise betrachten. Der vorliegende Beitrag versucht das mögliche Verpflichtungsbild des Bürgers in Taiwan darzustellen, um das darin implizierte verwaltungsrechtliche Staat-Bürger-Verhältnis zu verdeutlichen. Als Hintergrundinformation sind die folgenden Sachverhalte bzw. konkreten Fälle für die Erörterung der oben geschilderten Problematik zu nennen: (Fall 1) Gem. § 35 Abs. 4 Straßenverkehrsgesetz in Taiwan wird einem Fahrzeugführer eine Geldbuße in Höhe von ca. 2250 Euro auferlegt und die Fahrerlaubnis entzogen, wenn er das Haltezeichen der Polizei bei einer Polizeikontrolle missachtet oder den Blutalkoholtest bei der Polizeikontrolle verweigert. Dabei können die Polizeibeamten den Fahrer zum Alkoholtest vor Ort sogar dann auf-
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fordern, wenn Anhaltspunkte oder Verdachtsmomente für den Konsum alkoholischer Getränke nicht vorliegen. Das heißt, dass jeder Fahrzeugführer von Gesetzes wegen dazu verpflichtet ist, sich bei einer Polizeikontrolle einem Blutalkoholtest zu unterziehen. Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung ist nicht nur mit einer hohen Geldbuße, sondern auch mit dem Führerscheinentzug1 verbunden. Ist eine solche gesetzliche Verpflichtung zum Alkoholtest verfassungsgemäß? Die Hohen Richter sagen eindeutig: „Ja“2! (Fall 2) § 12 Abs. 1, 2 Gesetz zur Vorbeugung von Gesundheitsschäden infolge Tabakkonsums sieht vor, dass Minderjährige unter 18 Jahren nicht rauchen dürfen. Verstößt ein Minderjähriger unter 18 Jahren gegen dieses Verbot, so wird ihm die Verpflichtung auferlegt, an einem Kurs zur Tabakentwöhnung („Nichtraucherkurs“) teilzunehmen. Niemand darf gem. § 14 Gesetz zur Vorbeugung von Gesundheitsschäden infolge Tabakkonsums Süßwaren, Snacks, Spielzeuge oder andere Sachen in Gestalt von Zigaretten produzieren, importieren oder verkaufen. Für rechtswidrige Handlungen wird eine Geldbuße angedroht. Darüber hinaus müssen die Waren zurückgenommen werden. (Fall 3) Für Trinken, Essen und das Kauen von Kaugummis in den Kontrollbereichen von U-Bahn-Stationen/S-Bahn-Stationen wird ein Bußgeld in Höhe von ca. 40 bis 190 Euro angedroht (§ 50 Abs. 1 Nr. 9 Schnellverkehrsgesetz). Vor diesem Hintergrund könnte gegenüber einem Fahrgast schon dann ein Bußgeld in Höhe von ca. 40 Euro verhängt werden, wenn er einen Schluck Wasser trinkt.
___________ 1 Nach § 68 Straßenverkehrsgesetz werden im Fall eines Entzugs des Führerscheins gemäß § 35 Abs. 4 Straßenverkehrsgesetz alle Führerscheine, die der Betroffene besitzt, entzogen, also nicht nur der Führerschein für das vor Ort geführte Fahrzeug. Der Fahrer eines schweren Motorrads würde also seinen LKW-Führerschein und PKW-Führerschein auch verlieren, wenn er mit dem Führerscheinentzug wegen Verweigerung des Alkoholkonzentrationstest vor Ort angeordnet ist. Der betroffene Fahrer darf innerhalb von drei Jahren keinen Führerschein aller Art erwerben. Damit läuft der Führerscheinentzug auf ein totales Fahrverbot für drei Jahre hinaus. 2 Auslegung von Justiz-Yuan Nr. 699 vom 18.5.2012.
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II. Skizze des verwaltungsrechtlichen Verpflichtungsbildes des Bürgers im taiwanesischen Verwaltungsrecht 1. Unterscheidung von primären und sekundären Verpflichtungen im Verwaltungsrecht Die verwaltungsrechtlichen Verpflichtungen des Bürgers sind zunächst nach primären und sekundären Verpflichtungen in Bezug auf ihre Entstehungskausalität zu unterscheiden. Primäre Verpflichtungen sind die originären, erstmalig auferlegten verwaltungs-rechtlichen Pflichten des Bürgers. Werden diese Pflichten nicht von dem jeweiligen Adressaten erfüllt, so entstehen weitere, sekundäre (abgeleitete) Pflichten, zumeist in Form von verwaltungsrechtlichen Sanktionen, wie z.B. Geldbußen oder Wiedergutmachungspflichten. Werden diese Pflichten nicht oder nur unzureichend erfüllt, so können hieraus weitere Verpflichtungen in Gestalt des Verwaltungszwangs folgen, wie z.B. die Zahlung eines Zwangsgeldes. Die primären Verpflichtungen und die darauf bezogenen sekundären Verpflichtungen bilden nicht selten eine verwaltungsrechtliche Verpflichtungskette für die betroffenen Adressaten. Während in Taiwan primäre Verpflichtungen des Bürgers in der Regel durch Vorschriften in Spezialgesetzen oder Rechtsverordnungen unmittelbar begründet werden, sind Verwaltungshandlungen in Form von Verwaltungsakten oder – ausnahmsweise – verwaltungsrechtlichen Verträgen für die Begründung von sekundären Verpflichtungen unerlässlich. Die von den Spezialgesetzen oder Rechtsverordnungen auferlegten primären Verpflichtungen des Bürgers können in den gesetzlichen Sanktionsvorschriften impliziert bzw. immanent vorgesehen werden. Dies gilt auch und insbesondere für die meisten strafrechtlichen Sanktionsvorschriften. In Taiwan sind zahlreiche gesetzliche Verpflichtungen des Bürgers auf diese Weise geregelt, wie die im Fall 1) erwähnte Vorschrift § 35 Abs. 4 Straßenverkehrsgesetz zeigt. Dies hat zur Folge, dass die primären Verpflichtungen als solche und deren Legitimität manchmal übersehen werden3. Die verwaltungsrechtlichen primären Verpflichtungen des Bürgers bestimmen das Grundverhältnis des Staates zum Bürger. Ein Verwaltungsrechtssatz, welcher Pflichten des Bürgers begründet, impliziert in der Regel auch die Ermächtigung der zuständigen Behörde, die Beachtung und Erfüllung der Pflichten ___________ 3
In diesem Zusammenhang scheint es sehr bedenklich zu sein, wenn Stober meint, „…Gleichzeitig entspricht es dem auf Selbstverantwortung angelegten Menschenbild der Verfassung, dass Verpflichtungen von Zivilpersonen nicht immer einer öffentlich-rechtlichen Anordnung bedürfen. Vielmehr entfällt eine hoheitliche Pflichtauferlegung, wenn sich Zivilpersonen freiwillig zu Selbstverpflichtungen bereit erklären. Das klassische Verpflichtungsinstrumentarium wird als latent vorhandenes Drohpotenzial nur dann aktiviert, wenn die Selbstverpflichtung nicht erfüllt wird ….“, siehe Stober, in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. München 2007, S. 533.
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durchzusetzen. Im Ausgangsfall 1 ist z.B. dem Fahrzeugfahrer durch das Straßenverkehrsgesetz die Verpflichtung auferlegt, sich bei einer Polizeikontrolle einem Blutalkoholtest zu unterziehen. Die zuständige Polizeibehörde ist kraft Gesetzes ermächtigt, gegenüber demjenigen, der den Alkoholkonzentrationstest vor Ort verweigert, ein Bußgeld und den Führerscheinentzug anzuordnen. Die Verpflichtungen des Bürgers und die Handlungsbefugnisse der Behörden stellen normalerweise also zwei Seiten derselben Medaille dar. Die Rechtssätze, die die primären Verpflichtungen des Bürgers begründen, statuieren Verbote, Gebote sowie Verbote mit Erlaubnisvorbehalt. Dementsprechend kann dem Bürger ein Unterlassen, Tun oder Dulden auferlegt werden. Die wegen Verstoßes gegen die primären Verpflichtungen des Tuns, Unterlassens oder Duldens entstehenden sekundären Verpflichtungen sind vor allem die auf verwaltungsrechtlichen Sanktionsvorschriften beruhenden Verwaltungssanktionen. 2. Begründung der verwaltungsrechtlichen Verpflichtung des Bürgers Die verwaltungsrechtlichen Verpflichtungen des Bürgers ergeben sich entweder aus abstrakten Rechtssätzen, wie Gesetzen, Rechtsverordnungen und Satzungen, oder aus konkretem Verwaltungshandeln, wie Verwaltungsakten und Verwaltungsverträgen. Folgt eine verwaltungsrechtliche Verpflichtung des Bürgers unmittelbar aus einer bestimmten normativen Vorschrift, so wird diese Pflicht durch den Eintritt des den Tatbestand erfüllenden Sachverhalts konkretisiert und individualisiert. Ein Verwaltungshandeln, das die abstrakte Verpflichtung konkretisiert, ist dabei nicht erforderlich. Die in einer normativen Vorschrift abstrakt vorgesehene Verpflichtung wird damit in eine konkrete Pflicht des betroffenen Bürgers umgewandelt. So ist es normalerweise bei der verwaltungsrechtlichen primären Verpflichtung des Bürgers. Die Frage nach der Legitimität einer solchen gesetzlichen Inpflichtnahme des Bürgers kraft Gesetzes läuft dann auf die verfassungsrechtliche Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften hinaus, die nur von den Verfassungsrichtern (Hohen Richtern) verbindlich beantwortet werden kann. In Taiwan sind die primären Verpflichtungen des Bürgers in der Regel mit verwaltungsrechtlichen Sanktionen verknüpft. Die Verletzung der primären Verpflichtungen des Bürgers ist daher regelmäßig ein Tatbestandsmerkmal einer verwaltungsrechtlichen Sanktionsvorschrift. Auf Grundlage dieser Sanktionsvorschrift ist ein die sekundäre Verpflichtung der Betroffenen begründender Verwaltungsakt, und zwar ein belastender Verwaltungsakt, also ein „Sanktionsverwaltungsakt“, von der zuständigen Behörde zu erlassen. Ein derartiger belastender Verwaltungsakt ist meistens die erste Erscheinungsform einer Verwaltungshandlung gegenüber den Betroffenen im Bereich der Eingriffsverwaltung und
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kann daher auch als die zentrale Rechtsfigur des taiwanesischen Verwaltungsrechts betrachtet werden. 3. Besonderheiten der verwaltungsrechtlichen Sanktionsvorschriften Bei den verwaltungsrechtlichen Sanktionsvorschriften in der taiwanesischen Rechtsordnung gibt es einige Besonderheiten. Erstens setzt eine verwaltungsrechtliche Sanktionsvorschrift (sog. Sanktionsregelung) gedanklich eine verwaltungsrechtliche Verpflichtung (sog. Verpflichtungsregelung) voraus. Allerdings bedarf die primäre Verpflichtung, auf die sich der Tatbestand der verwaltungsrechtlichen Sanktionsvorschrift bezieht, in Taiwan nicht unbedingt einer von der Sanktionsvorschrift getrennten gesetzlichen Grundlage. Nach der ständigen Rechtsprechung der Hohen Richter sind die Tatbestände der verwaltungsrechtlichen Sanktionsvorschriften im Gesetz oder in der aufgrund eines Gesetzes erlassenen Rechtsverordnung zu regeln. Die vom Gesetz erteilte Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung muss aber dem Bestimmtheitsgebot genügen; das heißt, Zweck, Inhalt und Ausmaß der erteilten Ermächtigung müssen im Gesetze hinreichend bestimmt werden4. In der Rechtspraxis wird das Bestimmtheitsgebot allerdings nicht streng befolgt, sondern von den Hohen Richtern sehr großzügig gehandhabt. Zweitens ist die Forderung nach der tatbestandlichen Bestimmtheit einer verwaltungsrechtlichen Sanktionsvorschrift auch im Vergleich zu Deutschland relativ schwach. Zum Beispiel ist die Formulierung „Ein Verstoß gegen die Regelungen dieses Gesetzes wird mit einem Bußgeld … geahndet“ oder „Wer den Regelungen dieses Gesetzes oder den der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Verordnung zuwiderhandelt, wird mit einem Bußgeld … belegt, ...“ im Gesetz sehr üblich. Wenn der Tatbestand der Verwaltungssanktion nicht hinreichend genau bestimmt wird, kann der Normadressat gar nicht vorhersehen, welches Verhalten verboten oder geboten und mit Sanktion verbunden ist. Es führt zu der Unbestimmtheit der auferlegten Verpflichtung. Die Macht der zuständigen Behörde wird dadurch gewissermaßen de facto vergrößert. Drittens sind die typischen Rechtsfolgen, die in einer verwaltungsrechtlichen Sanktionsvorschrift für die Verletzung einer primären Verpflichtung vorgesehen werden können, normalerweise nicht nur die Zahlung eines Bußgeldes, sondern auch Anordnungsbefugnisse der zuständigen Behörde bezüglich verschiedener Eingriffsmaßnahmen, woraus weitere sekundäre Verpflichtungen des Adressaten begründet werden können, wie z.B. die Entziehung des Führerscheins, eine Wiederherstellungspflicht, die Auferlegung der Pflichtstunde, eine Besserungspflicht ___________ 4 Dieses von den Hohen Richtern entwickelte Gebot entspricht inhaltlich der Regelung in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG.
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etc. Eine typische gesetzliche Formulierung ist etwa: „Wer den in § 27 Abs. 1 geregelten Beschränkungsmaßnahmen in einem wegen Gewässerverschmutzung kontrollierten Gebiet zuwiderhandelt, kann von der zuständigen Behörde mit einem Bußgeld von 100,000 bis zum 500,000 NTD belegt und zur Ausbesserung innerhalb einer festgesetzten Frist verpflichtet werden. Nach Ablauf der Ausbesserungsfrist ohne Erfolg wird jeder Verstoß einzeln sanktioniert. Bei schwerwiegenden Umständen kann die zuständige Behörde dem Verpflichteten gegenüber Anordnungen zum Unterlassen, Einstellen des Betriebs oder Geschäfts erlassen. Eine Anordnung zur Zwangsaufgabe des Geschäfts kann erlassen werden, wenn es erforderlich ist.“ (§ 41 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz zur Prävention der Boden- und Grundwasserverschmutzung). Es gibt also regelmäßig zwei Arten der Rechtsfolgenbestimmung in den verwaltungsrechtlichen Sanktionsvorschriften: die Bußgeldbewehrung und die an den Verpflichteten adressierten Eingriffsanordnungen. Daraus folgt Zweierlei: Erstens, solange diese beiden Arten der Rechtsfolgebestimmung parallel und nicht alternativ geregelt sind, besteht für die zuständige Behörde bei der Rechtsanwendung nach der herrschenden Meinung keine Wahl. In der Verwaltungspraxis enthält der auf einer solchen Sanktionsvorschrift beruhende Verwaltungsakt regelmäßig eine Bußgeldanordnung und eine kraft Gesetzes bestehende Handlungsverpflichtung (meistens in Form von einer befristeten Ausbesserungsanordnung). Dabei besitzt die zuständige Behörde nach der h.M. kaum Ermessensspielraum, ob sie die den Tatbestand erfüllende Zuwiderhandlung durch eine Bußgeldanordnung oder Handlungsverpflichtung ahndet. Zweitens zählt nicht nur die Bußgeldbewehrung, sondern auch die anzuordnende Handlungsverpflichtung zu der Rechtsfolge der den Tatbestand erfüllenden Zuwiderhandlung. Der auf einer solchen Rechtsvorschrift beruhende Verwaltungsakt ist folglich ein eigenständiger Sanktionsverwaltungsakt, der von dem verwaltungsrechtlichen Sanktionscharakter geprägt ist. Dies führt dazu, dass die typische Erscheinungsform einer Verwaltungshandlung in Taiwan der Erlass eines mit Bußgeldanordnung und Handlungsverpflichtung zusammengesetzten Sanktionsverwaltungsakts ist. Der Schwerpunkt der Verwaltung, insbesondere der traditionellen Eingriffsverwaltung, wird dabei allmählich auf das Sanktionieren verlagert, insofern gesetzliche Sanktionsvorschriften bestehen. Nicht zuletzt wird dadurch auf dem traditionellen Gebiet der Eingriffsverwaltung die Funktion und Aufgabe der öffentlichen Verwaltung und das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Bürger bei einem derartigen „Sanktions-Staat“ grundsätzlich verändert. Richten die Verwaltungsbehörden die Aufmerksamkeit nun überwiegend auf das Sanktionieren der verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlungen des Bürgers, führt dies zu einer Reduzierung der Aufgaben der öffentlichen Gewalt auf mehr oder weniger repressive Tätigkeiten. Die gestaltenden, ordnenden und auf Verwaltungszwecke gerichteten Verwaltungsaufgaben rücken leicht aus dem Blickfeld.
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Hervorzuheben ist auch, dass der Gesetzgebungsstil bei der verwaltungsrechtlichen Inpflichtnahme des Bürgers eine entscheidende Rolle spielt. Sähe der Gesetzgeber hauptsächlich nur Sanktionsmittel für Verstöße gegen verwaltungsrechtliche Verpflichtungen vor, hätte die zuständige Behörde keine andere Wahl als „Sanktionierer“ zu sein.
III. Die sich auf die verwaltungsrechtliche Pflichtenstellung des Bürgers auswirkenden Faktoren in Taiwan 1. Grundrechtsverständnis und Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Rechtsnormen durch die Hohen Richter Wie oben dargestellt, werden die verwaltungsrechtlichen primären Verpflichtungen des Bürgers hauptsächlich durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes begründet, was ein eigenes Verhältnis des Staates zum Bürger in Taiwan darstellt. Die Legitimität solcher Verpflichtungen hängt jedoch davon ab, ob die vorgesehenen Verpflichtungen verfassungsgemäß sind. Es ist ausschließlich Aufgabe der Hohen Richter, im Rahmen von Normkontroll- und Beschwerdeverfahren dieser Frage nachzugehen. Da jede verwaltungsrechtliche Verpflichtung des Bürgers in der Regel einen Grundrechtseingriff darstellt, ist bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit solcher Verpflichtungen zunächst die verfassungsrechtliche Grundrechtsgarantie heranzuziehen. Bei der Verfassungsmäßigkeitskontrolle eines die bürgerlichen Pflichten auferlegenden Rechtssatzes spielt das Grundverständnis der Grundrechte also eine entscheidende Rolle. Wenn die Vorschriften in Gesetzen oder Rechtsverordnungen, die primäre Verpflichtungen begründen, nicht als verfassungswidrig angesehen werden, bestehen an den sekundären Verpflichtungen in der Regel kaum noch Zweifel bezüglich ihrer Verfassungsmäßigkeit. Auffallend ist, dass die Hohen Richter bislang nur sehr selten verwaltungsrechtliche primäre Verpflichtungen des Bürgers aufgrund einer Grundrechtsverletzung für verfassungswidrig erklärt haben. Das heißt, dass die Verfassungsmäßigkeit des Inhalts der primären Verpflichtung des Bürgers im verwaltungsrechtlichen Bereich in der Regel nicht in Zweifel gezogen wird. In Verfassungsauslegung Nr. 699 wird die gesetzliche Verpflichtung der Fahrzeugfahrer zur Mitwirkung bei einem Alkoholtest bei der Polizeikontrolle indirekt als verfassungsgemäß bestätigt. In Verfassungsauslegung Nr. 672 haben die Hohen Richter die Regelung des Devisenkontrollgesetzes, wonach jede ohne vorherige Anmeldung ins Inland oder Ausland eingeführte Fremdwährung vollkommen eingezogen werden soll, für verfassungsgemäß erklärt. Die vom Devisenkontrollgesetz begründete Anmeldepflicht und die damit einhergehende Sanktion (Einziehung) wird in ihrem Bestand nicht angezweifelt. Die Gründe für eine solche Zurückhaltung bei der Verfassungsmäßigkeitskontrolle könnten darin liegen, dass der
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Gedanke der Abwehrfunktion der Grundrechte in der Gesetzgebung Taiwans nur relativ schwach rezipiert wird und dass die Interessenabwägung zwischen den Grundrechtsgütern und öffentlichen Interessen bei der Verfassungsmäßigkeitsprüfung der Grundrechtseingriffe durch den Gesetzgeber fast ausnahmslos zugunsten der öffentlichen Interessen ausfällt. Es mangelt außerdem an einer zentralen Werteorientierung in der Verfassung, wie sie etwa durch die Menschenwürdegarantie im Grundgesetz gewährleistet wird. Die Idee eines stärker geschützten Kernbereichs des jeweiligen Grundrechts kommt in den bisherigen Verfassungsauslegungen der Hohen Richter kaum vor. Die Abwehrfunktion der Grundrechte gegen ein Gesetz ist noch schwächer, wenn die allgemeine Handlungsfreiheit Maßstab der verfassungsrechtlichen Kontrolle ist. Diese Situation kommt nicht selten vor, denn die primären verwaltungsrechtlichen Verpflichtungen des Bürgers – meistens Handlungspflichten – nehmen sehr häufig Bezug auf die allgemeine Handlungsfreiheit. Die allgemeine Handlungsfreiheit, die aus der generellen Garantieklausel des Art. 22 TaiwanVerfassung abgeleitet wird, sei auch von der Verfassung zu schützen, wenn sie nicht gegen die soziale Ordnung und öffentliche Interessen verstoße, betonen die Hohen Richter häufig. Dabei deutet sich schon an, dass die allgemeine Handlungsfreiheit zuweilen gegenüber öffentlichen Interessen zurücktreten muss. Wie sich die verfassungsrechtlich geschützte Handlungsfreiheit gegenüber einer verwaltungsrechtlichen Verpflichtung verhält, zeigt sich bei der Verfassungsauslegung Nr. 699 deutlich. In der Verfassungsauslegung Nr. 699 ist zunächst darauf hingewiesen, dass die Handlungsfreiheit auch die Freiheit umfasst, ein Fahrzeug zu fahren. Diese Freiheit lasse sich aber gemäß Art. 23 Taiwan-Verfassung einschränken. Die hohen Richter erklärten, dass es Aufgabe der Polizeibehörden sei, die öffentliche Ordnung zu erhalten, soziale Sicherheit zu wahren, Gefahren abzuwehren und das Gemeinwohl zu fördern. Laut der gesetzlichen Regelungen im „Gesetz über die Ausübung der Polizeibefugnisse“ sei die Polizei befugt, das fahrende Fahrzeug anzuhalten und den Fahrer zu einem Alkoholtest zu zwingen. „Alle Fahrzeugfahrer sind daher von Gesetzes wegen zum Alkoholtest verpflichtet“, behaupteten die Hohen Richter, ohne eine nähere Begründung hierfür zu geben. Eine derartige Verpflichtung scheint den Hohen Richtern geradezu selbstverständlich zu sein. Die Hohen Richter führten weiter aus, dass im Hinblick darauf, dass der Einfluss von Alkohol auf die Fahrer eine der Hauptunfallursachen sei, die Regelung in § 35 Abs. 4 Straßenverkehrsgesetz („wer den Alkoholtest bei der Polizeikontrolle verweigert, dem gegenüber werden eine Geldbuße, Verlagerung des Fahrzeugs auf der Stelle sowie Führerscheinentzug angedroht“) zweckmäßig und auch verhältnismäßig sei. „Obwohl die in Frage kommende Sanktionsvorschrift die von der Verfassung geschützte Handlungsfreiheit des Fahrzeugführers begrenzt, ist der Fahrzeugführer aber ohnehin schon von Gesetzes wegen zum
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Alkoholtest verpflichtet5. Außerdem gefährdet das Fahren unter Alkoholeinfluss nicht nur das Leben, den Körper, die Gesundheit, das Eigentum des Fahrers selbst und von Dritten, sondern auch die öffentliche Sicherheit und die Verkehrsordnung. Es ist daher nicht ersichtlich unverhältnismäßig, zwischen den eingeschränkten Rechtsgütern und den zu schützenden Rechtsgütern abzuwägen.“ Dabei liegt der logische Irrtum der Hohen Richter auf der Hand: Die Hohen Richter haben die eigentlich zu bewältigende Frage, ob die Inpflichtnahme aller an einer Polizeikontrolle vorbeifahrenden Fahrzeugfahrer zum Alkoholtest durch Gesetz verfassungsgemäß ist, irrtümlicherweise zur feststehenden Voraussetzung der Verfassungsmäßigkeitsprüfung gemacht. Sie übersehen, ja verkennen sogar den schwerwiegenden Eingriffscharakter einer solchen Verpflichtung durch Gesetz. Es lässt sich darüber nachdenken, ob eine den Fahrer zum Alkoholtest zwingende Verpflichtung verbunden mit der Androhung eines Bußgeldes und des Führerscheinentzugs nur die als Auffanggrundrecht konzipierte allgemeine Handlungsfreiheit oder eher ein Spezialgrundrecht, wie etwa das allgemeine Persönlichkeitsrecht, tangiert. Außerdem leiten die Hohen Richter eine Eingriffsbefugnis irrtümlicherweise aus einer Aufgabennorm ab. 2. Fehlen eines dogmatischen Konzepts der Gefahrenabwehr Das Verwaltungsrecht als ein Rechtsgebiet in Taiwan hat zweifellos Elemente des deutschen Verwaltungsrechts, hauptsächlich des allgemeinen Verwaltungsrechts, übernommen. Die Folge davon ist, dass Taiwan das Gedankengut des besonderen Verwaltungsrechts, insbesondere des mit der Entstehung der Rechtsstaatlichkeit eng zusammenhängenden Polizei- und Ordnungsrechts, relativ fremd ist. Positiv gesehen, findet die rechtliche Auseinandersetzung mit dem Begriff „Gefahrenabwehr“ und der polizeirechtlichen Generalklausel bei uns daher von vornherein nicht statt. In Taiwan spielt der Begriff der „Gefahr“ keine ordnungsbildende Rolle im verwaltungsrechtlichen Bereich und es existiert auch keine auf Gefahrenabwehr ausgerichtete allgemeine Ermächtigungsgrundlage für ein Handeln der Polizeibehörden, wie sie in den Landespolizeigesetzen vorgesehen ist (etwa „Die Polizeibehörden können die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren“6). Stattdessen ist immer eine bestimmte Ermächtigungsgrundlage im Spezialgesetz für das eingreifende Tätigwerden der Verwaltungsbehörden, einschließlich der Polizeibehörden i.e.S. vorgesehen. Es gibt folglich ___________ 5
Hervorhebung vom Verfasser. Eine derartige Formulierung findet sich in allen Landespolizeigesetzen, vgl. Frederik Rachor, Das Polizeihandeln, in: E. Denninger/H. Lisken, Handbuch des Polizeirechts, 2012, Rn. F 779. 6
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auch kein Bedürfnis danach, den Begriff der Gefahr dogmatisch auszuformen und zu erschließen, um die darauf bezogenen Abwehraufgaben der Polizei einzuschränken. Die abzuwehrende „Gefahr“ wird vielmehr als Tatbestandsmerkmal in gesetzlichen Regelungen konkret beschrieben oder umgeformt. Dies führt dazu, dass die Art und Zahl der Eingriffsgesetze kontinuierlich zunimmt, durch die in erster Linie die Betroffenen in Form von Verboten und Geboten zu bestimmten Handlungen mit Sanktionsbewehrung verpflichtet werden. Die gesetzliche Eingriffsermächtigung der Verwaltungsbehörde ist in der Regel die Befugnis der Behörde, eine Sanktion aufgrund einer festgestellten Pflichtverletzung zu verhängen, nicht aber die Befugnis zur Vornahme bestimmter Eingriffsmaßnahmen. Darin verbirgt sich aber eine „Entfremdungskrise“ des Gesetzgebers auf dem Gebiet der Eingriffsverwaltung. In Deutschland dient der in der Generalklausel enthaltene klassische Gefahrenbegriff als Angelpunkt und Legitimation polizeilichen Handelns. Das Bestehen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder öffentliche Ordnung ist also ein entscheidendes Tatbestandsmerkmal der Generalklausel. Eine derartige Gefahrenlage ist stets Voraussetzung der Gefahrenabwehrmaßnahmen und des Eingreifens oder Beendens polizeilichen Handelns. In Taiwan ist eine „Gefahr“ oder die „Gefahrvorsorge“ für die öffentliche Sicherheit/öffentliche Ordnung eher nur Beweggrund oder Ausgangspunkt der gesetzgeberischen Aktivitäten, nicht aber Tatbestand der zum Eingriff ermächtigenden gesetzlichen Regelung. Es ist wohl so zu formulieren, dass die Gefahrenlage meistens auf eine fiktive Weise im Eingriffsgesetz des Gefahrenabwehrbereichs Einzug erhält. Oder: Die vom Gesetzgeber abzuwehrende Gefahr wird in den konkreten Tatbeständen umgesetzt, in denen meistens auf bestimmte Orte, Handlungsarten, Zustände hingewiesen wird. Daher mag keine Spur von einem derartigen fiktiven oder umgesetzten Gefahrenbezug in diesem Gesetz zu finden sein. Es ist schon rätselhaft, welche Gefahrenlage den Gesetzgeber in Fall 3 dazu veranlasst hat, im Kontrollbereich von U-Bahn-Stationen ein totales Verbot des Verzehrs von Essen und Getränken – und damit auch das Verbot des Trinkens eines Schlucks Wasser – auszusprechen und eine entsprechende Bußgeldbewehrung vorzusehen. Des Weiteren fehlt noch die Konzeption einer polizei- und ordnungsrechtlichen Verantwortlichkeit in Taiwan. Theoretisch gesehen, sollte die Verantwortlichkeitsfrage nicht nur eine Rolle bei der konkreten Zuordnung der Polizei- und Ordnungspflicht durch die Verwaltungsbehörde spielen, sondern auch in der Gesetzgebung. Um den Adressatenkreis für Pflichten gesetzlich zu bestimmen, muss der Gesetzgeber auch erkennen, welche polizei- und ordnungsrechtliche Verantwortlichkeit heranzuziehen ist. Problematisch ist vor allem, wenn der Gesetzgeber nicht oder nicht nur den Täter, sondern auch den Eigentümer, Benutzer oder Verwahrer einer Sache als Verpflichtungsadressat der primären Pflichten ansieht, was in verwaltungsrechtlichen Regelungen bei uns oft vorkommt. Der
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Grund, weshalb der Gesetzgeber sich relativ leicht damit tut, Eigentümer, Benutzer oder Verwahrer als Verpflichtungsadressaten in Anspruch zu nehmen, liegt auf der Hand. Denn, wie der chinesische Spruch sagt: „Die Mönche können vom Tempel weglaufen, der Tempel nicht“, sind Eigentümer, Benutzer oder Bewahrer einer Sache ohne größere Mühe zu ermitteln als der „Täter“. Der andere Grund ist wohl die fehlende Auseinandersetzung mit der Funktion und Bedingtheit der polizei- und ordnungsrechtlichen Zustandsverantwortlichkeit. Bei uns besteht schon seit Langem kaum eine rechtswissenschaftliche Erörterung hinsichtlich dieser Problematik. Sie ist uns daher weitgehend fremd. Es lässt sich insgesamt sagen, dass in Taiwan die Tendenz vorherrscht, dass sich die gesetzlichen Verpflichtungen der Bürger, insbesondere im Bereich der Gefahrenabwehr, losgelöst von den Merkmalen der Gefahrenabwehr als Anhaltspunkt und Grenzlinie der Eingriffsverwaltungshandlungen entwickeln. Es fehlt ein auf die verfassungsrechtliche Grundrechtsgarantie ausgerichtetes Rechtfertigungssystem solcher gesetzlichen Verpflichtungen des Bürgers. Es ist auch nicht verwunderlich, dass zahlreiche verwaltungsrechtliche Regelungen, die primäre Verpflichtungen des Bürgers enthalten, in der Verwaltungspraxis missbraucht werden. Zum Beispiel werden die Verpflichtungsregelung der planmäßigen Nutzung eines Bauwerks und die entsprechende Sanktionsvorschrift im Baugesetz für ein entdecktes Prostitutionsgeschäft herangezogen. Dem Eigentümer oder Benutzer (Mieter) eines Gebäudes kann wegen Zuwiderhandlung gegen das Gebot der planmäßigen Nutzung des Bauwerks eine Geldbuße und befristete Ausbesserungspflicht auferlegt werden, wenn ein Prostitutionsgeschäft in seinem Gebäude entdeckt wird. Der Eigentümer oder Benutzer des Gebäudes hat also unter diesen Umständen das Gebäude für ein „Vermittlungsgewerbe des Prostitutionsgeschäfts“ illegal genutzt. 3. Umfangreicher Anwendungsbereich des „Verwaltungssanktionsgesetzes“ Während die Verwaltungssanktion durch Bußgelder in Deutschland eine Reaktion der Verwaltung auf ein Zuwiderhandeln des Bürgers entgegen seinen verwaltungsrechtlichen Verpflichtungen ist7, wird der Begriff der Verwaltungssanktion in Taiwan sehr weit verstanden. Diese Haltung ist durch die Kodifiktion des „Verwaltungssanktionsgesetzes“ (VSG, 2011) noch deutlicher hervor getreten. Nach § 1 S. 1 VSG sind alle Sanktionen in Form von Bußgeldern, Einziehungen sowie andersartiger Verwaltungssanktionen wegen Verstoßes gegen eine verwaltungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzes anzuwenden. Die „andersartigen ___________ 7 Vgl. § 1 Abs. 1 OWiG: „Eine Ordnungswidrigkeit ist eine rechtswidrige und vorwerfbare Handlung, die den Tatbestand eines Gesetzes verwirklicht, das die Ahndung mit einer Geldbuße zuläßt.“
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Verwaltungssanktionen“ sind nach § 2 VSG die dort vorgesehenen Erscheinungsformen „belastender Verwaltungsakte mit Sanktionscharakter“, wie z.B. der beschränkende oder verbietende Verwaltungsakt, einschließlich aller Verwaltungsakte mit bestimmtem Handlungsverbot (§ 2 Nr. 1 VSG); Verwaltungsakt zum Qualifikationsentzug (§ 2 Nr. 2 VSG). Durch diese umfangreiche Definition der „andersartigen Verwaltungssanktionen“ des VSG werden fast alle im Gesetz vorgesehenen Erscheinungsformen der Reaktionsbefugnisse der Verwaltung auf den Verstoß gegen eine verwaltungsrechtliche Verpflichtung erfasst. Die Folge davon ist, dass das Verwaltungssanktionsgesetz auch bei derartigen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen (in der Regel in Form von Verwaltungsakten) anzuwenden ist. Das Verwaltungssanktionsgesetz ist aber die gesetzliche Grundlage für die Verfolgung und Verhängung der gesetzlich vorgesehenen Verwaltungssanktionen gegen Verstöße des Bürgers gegen verwaltungsrechtliche Verpflichtungen. Wenn die Sanktion als Mittel gegen Unrecht, auch wenn es sich nur um ein solches im verwaltungsrechtlichen Bereich handelt, in Betracht kommt, unterliegt diese schon einer Reihe von rechtsstaatlichen Anforderungen, wie etwa dem Schuldprinzip (nulla poena sine culpa) und der Verfolgungsverjährung. Das Verwaltungssanktionsgesetz enthält auch eine Reihe von Regelungen über das Schuldprinzip8 und die Verjährungsfrist für die Sanktion usw.9. Umstritten ist jedoch, ob solche Regelungen auch für die „andersartigen Verwaltungssanktionen“ gelten. Wenn ja, sind fast alle auf den Verstoß gegen eine verwaltungsrechtliche Verpflichtung reagierenden verwaltungsrechtlichen Maßnahmen „Verwaltungssanktionen“; wenn nein, würde die große Schwierigkeit bestehen, zwischen der Geldbuße und den übrigen Rechtsfolgenteilen zu unterscheiden und getrennt zur Anwendung zu bringen, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen dieselben sind. Beispielsweise wäre es schwer vorstellbar, eine Wiederherstellungspflicht gegenüber einem eine Pflicht verletzenden Täter, dem weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist (und dem damit keine Geldbuße auferlegt werden kann), auf Grundlage derselben Regelungen anzuordnen. Bisher herrscht wohl noch jene Meinung. 4. Durchsetzbarkeit der Verwaltungsvollstreckung im Rechtsschutzverfahren In Taiwan gilt der Grundsatz, dass Verpflichtungsverwaltungsakte im Widerspruchsverfahren und eine Anfechtungsklage grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung auslösen. Der Widerspruch oder die Anfechtungsklage vor dem Gericht gegen einen Verpflichtungsverwaltungsakt hindern die Verwaltungsvollstre___________ 8 § 7 Abs. 1 VSG: Zuwiderhandlung gegen eine verwaltungsrechtliche Verpflichtung wird nicht geahndet, wenn Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Handelnden fehlt. 9 § 27 VSG.
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ckung also in der Regel nicht, wenn nicht ausdrücklich die Aussetzung der Vollziehung von der den Verwaltungsakt erlassenden Behörde, der Widerspruchsbehörde oder dem Verwaltungsgericht gewährt wurde. Die Aussetzung der Vollziehung setzt auch einen eigenen Antrag voraus. Daraus folgt eine latente Werteorientierung in Bezug auf eine Priorität der Verpflichtung vor dem Rechtsschutz. Es wird dadurch mehr oder weniger auch die pflichtorientierte Grundstellung des Bürgers gegenüber dem Staat verstärkt.
IV. Schlussbemerkung Im Verfassungsstaat soll alle Staatsgewalt freiheitsbewusst und -verpflichtet ausgeübt werden. Ohne Bekenntnis und institutionelle Sicherung zur Freiheitsverpflichtung als Voraussetzung der Ausübung der Staatsgewalt würde der gewaltmonopolisierte Staat leicht das Instrumentarium der verwaltungsrechtlichen Verpflichtung des Bürgers missbrauchen und könnte zu einem allmächtigen, patriarchalischen Staat werden, der alle Lebenssituationen des Bürgers überwacht und kontrolliert. Im Verwaltungsrecht Taiwans stellen die Kodifikation des Verwaltungsverfahrensgesetzes und die Rechtsreformen der Verwaltungsprozessordnung und des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes im Jahre 2000 den Markstein der Entwicklung dar. Dazu kommt dann das VSG im Jahre 2005. Seitdem wird die Grundstruktur des Verwaltungsrechts oder gar das Rechtsstaatsbild schrittweise unter Bezugnahme auf das deutsche Verwaltungsrecht abgelöst und die Verwaltungswissenschaft und -praxis entwickeln sich allmählich auf eigenen Wegen weiter. Während für die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft die Rechtsmäßigkeitskontrolle der Verwaltungshandlungen, vor allem der Verwaltungsakte, im Vordergrund steht und daraufhin die Verwaltungssanktion nicht zur Kernthematik des deutschen Verwaltungsrechts gehört, werden sich die „verwaltungsrechtlichen Pflichten“ und die damit verbundenen Verwaltungssanktionen im Laufe der Zeit als ein Schlüsselbegriff erweisen. Insgesamt betrachtet kennzeichnet sich bislang das taiwanesische Rechtsstaatsbild dadurch: Erstens spielt die „Verwaltungssanktion“ in den Rechtsvorschriften und der -praxis eine gewichtige Rolle. Zweitens bilden die Geldbuße und die sog. „andersartigen Verwaltungssanktionen“ die Kernvorschriften der Fachgesetze. Dies führt in gewissem Umfang zur Entfremdung des Eingriffsverwaltungsrechts. Drittens kommen die gesetzlichen Ermächtigungen für das Ergreifen von Maßnahmen durch die Zuständigen oft erst im Anschluss an die Verpflichtungen des Bürgers. Die durch ein sich immer mehr verdichtendes Verpflichtungsnetz aus der Sicht des Bürgers dargestellte Figur eines „verpflichtenden“, ja sogar „sanktionierenden“ Staates ist meines Erachtens wohl die ernsthafteste Krise für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat in Taiwan.
Kooperationsverwaltungsrecht und die Verwirklichung von genossenschaftlichen Ideen innerhalb der Verwaltung und zwischen Verwaltung und Bürger Von Winfried Kluth
I. Einführung in die Thematik: Ebenen und Formen der Kooperation Das deutsche Staats- und Verwaltungsrecht geht von dem sowohl einfachen als auch klaren Grundsatz aus, dass jeder Verwaltungsträger die ihm zugewiesenen Aufgaben selbständig und mit eigenen Mitteln erfüllt. Dieses Modell hat den Vorzug, dass es der verfassungsrechtlichen Vorgabe einer klaren Zuständigkeitsund Verantwortungszuweisung1 entspricht und so auch die eindeutige demokratische Legitimation nicht in Frage gestellt wird. Die Grenzen dieses Leitbildes werden aber schon dann erreicht, wenn für das betreffende Verwaltungshandeln die eigenen „Mittel“ in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht nicht ausreichen und andere „Stellen“ einbezogen werden müssen. Nicht ohne Grund hat der Gesetzgeber des Verwaltungsverfahrensgesetzes gleich an die Spitze des Regelungssystems nach den Eingangsvorschriften zum Anwendungsbereich die Regelungen zur Amtshilfe gestellt, die eine ganz klassische Form der behördlichen Kooperation darstellt und zugleich die grundsätzliche Angewiesenheit und Verwiesenheit der öffentlichen Verwaltung auf Kooperation sinnfällig zum Ausdruck bringt.2 Die verfassungsrechtlich-föderale Dimension der Amtshilfe thematisiert das Grundgesetz selbst in seinem Art. 35 Abs. 1 GG mit dem ebenso lapidaren wie praktisch bedeutsamen Grundsatz: „Alle Behörden des Bundes und der Länder leisten sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe.“3 ___________ 1 Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der Zuständigkeitsordnung näher Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl. 2010, § 83, Rn. 1 ff. Zur verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit klarer Zuordnungsregeln BVerfGE 119, 331 ff. 2 Zur Amtshilfe (abgesehen von den VwVfG-Kommentierungen) ausführlich Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 1), § 83, Rn. 82 ff. 3 Zu Einzelheiten der Regelung Epping, in: ders./Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl. 2013, Art. 35, Rn. 4 ff.; Schlink, Die Amtshilfe, 1982.
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Von dort aus ist es nur ein kleiner Schritt, wenn – nun wiederum im Verwaltungsgesetz – auch für die unionsrechtliche Ebene in den §§ 8a ff. VwVfG seit der Novellierung des Gesetzes im Jahr 2009 die Europäische Verwaltungszusammenarbeit4 geregelt wird, wobei diese Regelung zugleich der Umsetzung von Richtlinienrecht5 der Europäischen Union dient.6 Vor dem Hintergrund dieses Ausgangsbefundes auf nationaler Ebene und der weiteren Entwicklungen auf europäischen Ebenen hat sich vor allem in den letzten Jahren eine intensive wissenschaftliche Bearbeitung entwickelt, die auf Grund ihrer Breite und Tiefe dazu berechtigt, von einem ausdifferenzierten Kooperationsverwaltungsrecht zu sprechen.7 Betreffen die bislang erwähnten Formen der Verwaltungskooperation die Zusammenarbeit in und durch Verfahren, so betrifft eine zweite Stufe der Kooperation die organisatorische Ebene. Dabei geht es um die Schaffung gemeinsamer organisatorischer Einheiten, die der gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung dienen. Das klassische Referenzgebiet für diese institutionelle Kooperation stellt die kommunale Gemeinschaftsarbeit dar.8 Anders als im Bereich der Amtshilfe steht das Verfassungsrecht der institutionellen Kooperation reserviert gegenüber, wie die nur ausnahmsweise Zulassung von Gemeinschaftsaufgaben in Art. 91a ff. GG leicht erkennen lässt.9 Allerdings zeigt etwa die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften, dass es auch gemeinsam von Bund und Ländern getragene Einrichtungen gibt. Die umstrittenen verfassungsrechtlichen Gründe für die Vermeidung von Mischverwaltungen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zu den Arbeitsgemeinschaften nach § SGB II dargelegt und vor allem den Grundsatz der Verantwortungsklarheit herangezogen, um Voraussetzungen und Grenzen einer institutionellen Kooperation zu verdeutlichen.10 Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat darauf mit der Einfügung des Art. 91e GG reagiert.11 Auch auf der Ebene der Europäischen Union sind gemeinsame Einrichtungen von Union und Mitgliedstaaten die Ausnahme, da die Union in ___________ 4
Dazu Schmitz/Prell, NVwZ 2009, 1121 ff. Siehe zu den unionsrechtlichen Vorgaben Schliesky, Die Europäisierung der Amtshilfe, 2008. 6 Dazu näher Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 1), § 83, Rn. 131 ff. 7 Siehe exemplarisch Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der europäische Verwaltungsverbund: Formen und Verfahren der Verwaltungszusammenarbeit, 2005; Weiß, Der europäische Verwaltungsverbund, 2010. 8 Zu ihr näher Wolff/Bachof/Stober/Kluth, (Fn. 1), § 98. 9 Zu Einzelheiten Suerbaum, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl. 2013, Art. 91a, Rn. 1 ff.; Seckelmann, DÖV 2009, 747 ff. 10 BVerfGE 119, 331 ff. 11 Zu Einzelheiten Mehde, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl. 2013, Art. 91e, Rn. 7 ff. 5
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den meisten Bereichen die mitgliedstaatlichen Verwaltungsstrukturen für die Erledigung ihrer Aufgaben nutzt und daneben eigene Strukturen vorhält, insbesondere die Agenturen.12 Schließlich ist jenseits der öffentlich-rechtlichen Formen der Kooperationen ein weites Feld der Kooperation der öffentlichen Verwaltung mit Privaten aber auch untereinander in privaten Organisationsrechtsformen entstanden, mit dessen institutioneller und materiell-rechtlicher Domestizierung die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht lange Jahre beschäftigt war.13 Dieser Prozess kann inzwischen als abgeschlossen betrachtet werden.14 Neben diesen normativ erfassten und ausgestalteten Kooperationsformen existieren zahlreiche weitere Formen der Kooperation, die nicht minder bedeutsam sind, sich aber gleichwohl schwerer einordnen und klassifizieren lassen. Dies betrifft unter anderem das weite Feld der Verwaltungshilfe, das zwar inzwischen dogmatisch gut vermessen ist15, in tatsächlicher Hinsicht aber viele Ansatzpunkte für stille Machtverschiebungen in der Kooperation von Staat und Privaten in sich birgt. Trotz formaler Einbindungen und Kontrollen ist davon auszugehen, dass in diesem Bereich privater Sachverstand und private Ressourcen einen dominierenden Einfluss auf die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben gewinnen können, auch wenn formal die Verwaltung das letzte Wort hat. Dieser knappe Überblick über die seit langem praktizierten Kooperationsformen genügt um die erhebliche rechtliche und praktische Reichweite von Kooperation in, zwischen und durch die öffentliche Verwaltung zu verdeutlichen. Bevor auf den thematischen Schwerpunkt der genossenschaftlichen Kooperation eingegangen wird, soll zunächst noch eine kurze Reflexion über einige Systemaspekte von Kooperation eingeschoben werden, die dann zu den neuen Fragestellungen überleiten.
___________ 12
Dazu Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 1), § 88. Siehe etwa Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984; Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, 1981; Möstl, Grundrechtsbindung öffentlicher Wirtschaftstätigkeit, 1999. 14 Zum aktuellen Stand Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 1), § 89 und § 92. 15 Siehe nur Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999; Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 1), § 91. 13
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II. Systemaspekte von Kooperation und neue Fragestellungen Um die Systemaspekte von Kooperation aus der staats- und verwaltungsrechtlichen Perspektive zu erschließen ist es hilfreich, diese aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Aus dem Blickwinkel der Leistungsfähigkeit, die in vielen Bereichen eine wichtige Voraussetzung für die sachgerechte Aufgabenwahrnehmung ist16, kann Kooperation insoweit zu einer Kompetenzwahrung führen, weil dadurch die Aufgabenwahrnehmung auf einer unteren Ebene überhaupt erst ermöglicht wird. Das ist einer der zentralen Zwecke der kommunalen Gemeinschaftsarbeit. Hinzu kommt die bessere Ausschöpfung der Verwaltungskraft, also die Effizienzsteigerung.17 Für die Legitimation der Aufgabenwahrnehmung, d.h. für die Steuerung und Kontrolle der Entscheidungen und ihrer Umsetzung, ist Kooperation – wie es Frido Wagener ausgedrückt hat18 – mit „Einflussknicken“ verbunden.19 Er weist damit auf den Umstand hin, dass die für eine Kooperation genutzten Organisationen nur mittelbar durch mehrere Träger gesteuert werden und dass dabei in einem bestimmten Umfang Transparenz und Effektivität der Legitimation gemindert werden. Wir kennen das Thema auch aus der Europäischen Union und ihrer auf zwei Säulen beruhenden besonderen Legitimationsarchitektur.20 Aus einer anderen Perspektive kann Kooperation auch dem Ziel dienen, durch eine institutionelle Verflechtung eine politische und kulturelle Stabilisierung zu erzeugen sowie zur langfristigen Sicherung von Infrastrukturen beizutragen. Das ___________ 16 Siehe etwa § 2 Abs. 1 GO LSA: „Die Gemeinde ist in ihrem Gebiet der ausschließliche Träger der gesamten öffentlichen Aufgaben, soweit die Gesetze nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmen. Sie stellt in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit die für ihre Einwohner erforderlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen öffentlichen Einrichtungen bereit.“ 17 Siehe § 1 GKG LSA: „Gemeinden und Landkreise (kommunale Gebietskörperschaften) können Aufgaben gemeinschaftlich oder füreinander wahrnehmen, um ihre Verwaltungskraft besser auszuschöpfen oder Aufgaben durchzuführen, die über das eigene Gebiet hinaus wirken.“ 18 Wagener, Typen der verselbständigten Erfüllung öffentlicher Aufgaben, in: ders. (Hrsg.), Verselbständigung von Verwaltungsträgern, 1976, S. 40. 19 Dazu auch Kluth, Kommunale Selbstverwaltung kontra (staatliche) Verwaltungseffizienz? Selbstverwaltungsaufgaben und übertragener Wirkungskreis, in: Meyer/Wallerath (Hrsg.), Gemeinden und Kreise in der Region, 2004, S. 65 ff. 20 Zu ihr näher Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995; ders., Demokratie, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Handbuch Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 5.
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ist nicht nur eine zentrale Grundmotivation der Europäischen Integration, sondern spielt auch unterhalb der staatlichen Ebene in vielen Bereichen eine wichtige Rolle. Nicht vergessen werden darf schließlich eine kritische ökonomische Sichtweise die darauf hinweist, dass Kooperation sich auch nachteilig auswirken kann, weil sie in den betroffenen Bereichen des Wettbewerbsprinzips ausschließt. Dieser Aspekt spielte unter anderem bei den Föderalismusreformen eine wichtige Rolle, bei denen die Wahl zwischen Wettbewerbs- und Kooperationsföderalismus für einzelne Aufgabenfelder durchaus unterschiedlich getroffen wurde.21 Dieses etablierte Muster der Gründe für Kooperation wird seit einiger Zeit um ein weiteres ergänzt, das indes bislang unter anderen Überschriften formiert. Ich meine damit die vielfältigen Forderungen nach einer erweiterten Bürgerbeteiligung in Angelegenheiten der öffentlichen Verwaltung22, die unter anderem den Deutschen Juristentag im Jahr 2012 beschäftigt hat.23 Anliegen der nachfolgenden Überlegungen ist es, durch einen Rückblick auf vergleichbare Forderungen in der genossenschaftlichen Debatte des 19. Jahrhunderts Anregungen für die Nutzung bestimmter Formen der Kooperation für die Verwirklichung neuer Formen der Bürgerbeteiligung zu entwickeln.
III. Merkmale genossenschaftlicher Kooperation 1. Der Selbsthilfegedanke als Kern der Genossenschaftsidee Sowohl historisch als auch nach heutigem Verständnis steht im Zentrum der Genossenschaftsidee der Selbsthilfegedanke. Seine Ursprünge in der praktischen Entwicklung und theoretischen Diskussion des 19. Jahrhunderts, die eng mit den Namen Schulze-Delitzsch, Raiffeisen, Huber, Lassalle, Gierke, Preuß und Rosin verbunden ist, um nur einige der wichtigsten Protagonisten zu erwähnen, sind hinlänglich bekannt und müssen deshalb an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden. Es reicht aus, den damit verbundenen rechtlichen Gehalt im Sinne einer Mindestanforderung an eine Genossenschaft herauszuarbeiten. Diese Mindestanforderung kann durch zwei Elemente bestimmt werden: Erstens durch einen ___________ 21 Dazu näher Kluth, in: ders. (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2007, Einführung, Rn. 57. 22 Zur Bürgerbeteiligung im Bereich der Gesetzgebung siehe Neumann, Sachunmittelbare Demokratie, 2009. 23 Siehe nur Ziekow, Verhandlungen des 69. Deutschen Juristentages, Band I: Gutachten/Teil D: Neue Formen der Bürgerbeteiligung?, 2012.
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direkten Bezug der genossenschaftlich wahrgenommenen Aufgabe zu den Mitwirkenden (den Genossen), kurz die Selbstbetroffenheit.24 Zweitens ist der Genossenschaftsgedanke durch die Mitwirkung der Mitglieder gekennzeichnet, kurz: die Selbstverwaltung. Beide Elemente können durch den Begriff der Betroffenen-Selbstverwaltung zum Ausdruck gebracht werden, der auch die öffentlich-rechtliche funktionale Selbstverwaltung prägt.25 Ausgeschlossen sind damit Organisationen, die vorwiegend oder ausschließlich fremde Aufgaben wahrnehmen (klassische „Dienstleister“), aber auch Organisationen, die den Mitgliedern keine ausreichenden Mitwirkungsrechte einräumen, obwohl sie deren Aufgaben wahrnehmen. Dies trifft im Bereich des öffentlichen Rechts vor allem auf die anstaltlichen Organisationsformen26 wie z.B. die Sparkassen und andere öffentliche Unternehmen zu. 2. Formeller und materieller Genossenschaftsbegriff des Rechts Die juristische Erfassung der Genossenschaft ist zudem durch den Umstand geprägt, dass zur Verwirklichung der auf dem Gedanken der Selbsthilfe beruhenden Genossenschaftsidee mit dem Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften vom 1.05.188927 zwar eine eigene Rechtsform geschaffen wurde, die bis heute zur Verfügung steht. Sie ist aber nicht die einzige Rechtsform, mit deren Hilfe die Genossenschaftsidee verwirklicht werden kann. Vielmehr können auch andere körperschaftliche Rechtsformen wie der rechtsfähige und nichtrechtsfähige Wirtschaftsverein, die GmbH, die Aktiengesellschaft und schließlich auch die Personal- und Verbandskörperschaften des öffentlichen Rechts28 zur Umsetzung der Genossenschaftsidee genutzt werden. Dieser Befund spiegelt sich in der Unterscheidung zwischen der Genossenschaft im formellen Sinne, die durch die Nutzung der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft bestimmt ist, und der Genossenschaft im materiellen Sinne, die alle Verwirklichungen der Genossenschaftsidee unabhängig von der verwendeten Rechtsform umfasst, wider. In der Praxis spielen neben steuerrechtlichen auch zahlreiche Gründe der Governance eine wichtige Rolle, bei der Wahl der formalen Rechtsform für die Umsetzung einer genossenschaftlichen Kooperation. Dabei ist bedeutsam, dass z.B. das GmbH-Recht insoweit sehr flexibler ist als das Genossenschaftsgesetz. ___________ 24 25 26 27 28
Es wird auch vom „Identitätsprinzip“ gesprochen. Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997, S. 18 ff., 541 ff. Zu diesen näher Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 1), § 86. RGBl. S. 55. Zu ihnen näher Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 1), § 85.
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3. Folgen für den Kooperationsbegriff Für eine an der – nicht auf das Privatrecht begrenzten – Genossenschaftsidee ausgerichtete Kooperationsforschung ergeben sich aus diesen Prägungen begrenzende Vorgaben für den Kooperationsbegriff. Zwar erfasst der Begriff der Kooperation jegliche Form der Zusammenarbeit unabhängig von Dauer, Gegenstand und institutioneller Verfestigung. Für eine Genossenschafts- und Kooperationsforschung kommt aber nur die institutionalisierte Kooperation als Forschungsgegenstand in Betracht. Ein weiter gefasstes Verständnis des Forschungsgegenstandes würde diesen bis zur Unkenntlichkeit erweitern und kaum zu fokussierten Untersuchungen und Aussagen in der Lage sein. Der Forschungsgegenstand ist zudem auf die sog. kompetenzwahrende Kooperation beschränkt, bei der es um die gemeinsame Wahrnehmung eigener Angelegenheiten und die „Förderung der Mitglieder“ bzw. Kooperationspartner geht. Den Anlass für die Kooperation bildet in diesen Fällen häufig die höhere Effizienz (Kosteneinsparung durch Größenvorteile) und teilweise auch höhere Effektivität (Qualitätsverbesserung durch höhere Spezialisierung) einer gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung. Schließlich ist aus dem Blickwinkel der Selbstverwaltungskomponente nur die mitwirkungsorientierte Kooperation von Interesse, bei der die Mitglieder selbst die Leitungsorgane besetzen und ihren besonderen Sachverstand sowie das Eigeninteresse in die Leitung der Organisation einbringen. Dieses Paradigma schließt die unterstützende Einbeziehung noch Dritten, die hauptberuflich in der Geschäftsführung tätig werden, nicht vollständig aus. Schließlich setzt Kooperation eine (weit zu verstehende) materielle Eigenbetroffenheit voraus, die über rein finanzielle Interessen hinausgeht. Damit wird das Modell der Kapitalgesellschaft, bei der den Gesellschaftern bzw. Aktionären jegliches Eigeninteresse an den Gesellschaftsaufgaben fehlt und die Gewinnerzielung den alleinigen Beteiligungszweck darstellt, ausgeschlossen.
IV. Der staatsrechtliche Hintergrund 1. Die staatsrechtliche Tradition des Genossenschaftsgedankens Die Herausbildung des Genossenschaftsgedankens fand in Deutschland in einer Zeit statt, in der sich das öffentliche Recht nicht nur in seiner eigenständigen Methodik herausbildete, sondern auch die Leitbilder der Staatsorganisation im
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Wandel begriffen waren.29 Dabei spielte vor allem der Übergang vom obrigkeitlichen Anstaltsstaat zum körperschaftlich verfassten demokratischen Verfassungsstaat eine zentrale Rolle.30 Die Vertreter der Genossenschaftstheorie, insbesondere Otto von Gierke, wollten aus dem Genossenschaftsgedanken nicht nur eine zivilrechtliche Organisationsform, sondern auch ein Gestaltungsprinzip für den Staat ableiten, indem sowohl die Kommunalverwaltung als auch andere Selbstverwaltungsverbände als ursprüngliche Gründungen der Bürgerschaft gedeutet wurden.31 Damit war ein pluralistisches Staatsverständnis verbunden gewesen, das die Gemeinden und andere Selbstverwaltungskörperschaft als ursprüngliche Gebilde und nicht, wie es zum Ende des 19. Jahrhunderts Georg Jellinek ausdrückte, auf einer „Delegation von Imperium“ beruhte. Die Einheit des Staates und seiner Rechts- und Legitimationsordnung wäre damit ein Stück weit in Frage gestellt worden. Der bis heute dominierende Mainstream der Staatsrechtslehre hat sich dieser Sichtweise nicht angeschlossen, sondern die u.a. von Jellinek formulierte Sichtweise übernommen.32 Danach beruhen auch Selbstverwaltungskörperschaften auf der einheitlichen, vom Volk ausgehenden Staatsgewalt, wie sie das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG postuliert. Das Spannungsverhältnis zwischen gesamtstaatlicher Demokratie auf der einen und kommunaler und funktionaler Selbstverwaltung auf der anderen Seite ist bis heute jenseits verfassungspositivistischer Lösungen, die auf die ausdrückliche Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 GG und den Landesverfassungen sowie der „Hinnahme“ der bestehenden weiteren Selbstverwaltungstypen (Kammern usw.) im Übrigen33 abstellen, nicht einvernehmlich aufgelöst worden.34 Allerdings zeichnen sich im Anschluss an die Wasserverbands-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Kompromisslinien ab. Exemplarisch kann insoweit auf die Ausführungen von Bernd Grzeszik in seiner Kommentierung des Art. 20 Abs. 2 GG verwiesen werden. Dort heißt es: „Die demokratische Legitimation funktionaler Selbstverwaltung kann auch als ein ___________ 29 Dazu näher Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts. Staatslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 bis 1914, Bd. II, 1992, S. 330 ff. 30 Dazu vertiefend Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat, 1997. 31 Dazu näher Stolleis (Fn. 29), S. 359 ff. (mit Ausführungen zu v. Gierke, Preuß und Rosin). 32 Dazu näher Kluth (Fn. 25), S. 351 ff. 33 Dazu etwa Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1992, S. 485 ff.; Köller, Funktionale Selbstverwaltung und ihre demokratische Legitimation, 2009, S. 265 ff. 34 Dazu näher Kluth, Demokratische Legitimation in der funktionalen Selbstverwaltung – Grundzüge und Grundprobleme, in: Schnapp (Hrsg.), Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip, 2001, S. 17 ff.
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Fall der kollektiven demokratischen Legitimation oder autonomen demokratischen Legitimation gesehen werden, die jeweils vom legitimatorischen Grundsatzmodell der Regellegitimation der Ministerialverwaltung abweichen. Die im Errichtungsakt der Selbstverwaltungseinheit nach bestimmten Kriterien definierte und in der Selbstverwaltungseinheit zusammengefasste Gruppe von Bürgern verleiht in dieser kollektiven Zusammenfassung der Selbstverwaltung eine demokratische Legitimation, die von der allgemeinen Verwaltungslegitimation unabhängig und insoweit autonom ist.“35 Die Versuche, den genossenschaftlichen Gedanken in ein Demokratieverständnis einzubinden, das auf dem Gedanken der Volkssouveränität beruht und daher gesamtstaatlich geprägt36 ist, spiegeln sich auch in den neueren Auseinandersetzungen mit dem Republikprinzip wider, das in seiner US-amerikanischen Variante auch die örtliche Demokratie und damit ein dem Genossenschaftsprinzip verwandtes Merkmal zugrunde legt.37 Der damit verbundene Argumentations- und Konstruktionsansatz kann hier nur grob skizziert werden und ist ein Gegenstand künftiger Forschungsarbeiten. 2. Die Bedeutung des genossenschaftlichen Prinzips für die öffentlich-rechtlichen Verbände In der aktuellen rechtswissenschaftlichen Diskussion über Kommunen, Kammern und andere öffentlich-rechtliche Verbände spielt das Genossenschaftsprinzip keine relevante Rolle und ist auch als Stichwort in den einschlägigen Werken kaum noch anzutreffen. Anders sieht es naturgemäß bei denjenigen Verbänden aus, die explizit als Genossenschaften formieren, also die Jagdgenossenschaften und die Waldwirtschaftsgenossenschaften. In der rechtswissenschaftlichen Debatte zu diesen Organisationen wird aber auch nur selten auf den Genossenschaftsgedanken rekurriert.
___________ 35
Grzeszik, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG., EGL 66, 2012, Art. 20, Rn. 193 m.w.N. Man kann dies mit den Theorieansätzen oder der historischen Zufälligkeit begründen, dass die moderne Demokratie in Europa in der Zeit der Nationalstaaten entstanden ist. Jürgen Habermas spricht deshalb auch von der Gefahr einer „Überverallgemeinerung einer zufälligen historischen Konstellation“; vgl. Habermas, Zur Verfassung Europas, 2011, S. 52. Formuliert man das demokratische Prinzip als „Herrschaftslegitimation durch die Beherrschten“ (siehe dazu auch Böckenförde, Das demokratische Prinzip, in: Isensee/Kirchhof Hrsg., Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 2004, § 24, Rn. 35 ff. – zu Selbstregierung und Selbstbestimmung), so wird der damit eröffnete Konstruktionsrahmen deutlich erweitert. 37 Dazu näher Richter, Das republikanische Europa, 1999; Thiel, Republikanismus und Europäische Union, 2012. 36
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Eine Ausnahme bildet indes die von Ulrich Irriger vorgelegte Untersuchung zu genossenschaftlichen Elementen bei öffentlich-rechtlichen Körperschaften38, die zusammen mit der Untersuchung von Christiane Weller zu den Wasser- und Bodenverbänden39 und Joachim Goldbeck zu den Deichgenossenschaften40 am Institut für Genossenschaftswesen in Münster entstanden ist. Irriger macht deutlich, dass wesentliche genossenschaftliche Elemente in den Innungen und Wirtschaftskammern verwirklicht sind und liefert damit auch Hinweise für die Weiterentwicklung des Selbstverständnisses dieser Organisationen. Irriger zeigt in seiner Untersuchung entsprechende Zusammenhänge für folgende Bereiche auf:41
Mitgliederförderung: zu den wichtigsten Aufgaben der Kammern und Innungen gehört die Förderung der Interessen der Mitglieder, wie es auch für Genossenschaften typisch ist.
Identitätsprinzip: Die Fördertätigkeit ist auf die Mitglieder bzw. die Verbandskompetenz beschränkt.
Personalverband: Die meisten Organisationen sind als Personalkörperschaften verfasst. Soweit bei den Realkörperschaften das Eigentum an einem Grundstück das entscheidende Kriterium für die Mitgliedschaft darstellt, hat dies lediglich Zuordnungscharakter und hebt die personale Prägung der Organisation nicht auf.
Selbsthilfe und Solidarität: Hier sind Unterschiede zu verzeichnen, da nicht alle Kammern diese Grundsätze verwirklichen.
Selbstverwaltung: Dieses Prinzip ist prägend für alle erfassten Körperschaften und ist in seinem rechtlichen Kern durch die „fachweisungsfreie Aufgabenerfüllung nur unter Rechtsaufsicht“ und damit einen breiten Bereich eigener Gestaltungsbefugnisse gekennzeichnet.
Diese Merkmale decken zwar nicht alles ab, was für die privatrechtliche Genossenschaft relevant ist. Es wird daran aber deutlich, dass der Rechtsrahmen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ohne weiteres in der Lage ist, die genossenschaftliche Konzeption adäquat umzusetzen. Hinzu kommt die von Irriger nicht thematisierte Bedeutung der demokratischen Binnenlegitimation und ihrer Ausgestaltungsmöglichkeiten in genossenschaftlich verfassten öffentlich-rechtlichen Verbänden. ___________ 38
1991.
Irriger, Genossenschaftliche Elemente bei öffentlich-rechtlichen Körperschaften,
39 Weller, Aufgaben, Organisation und Finanzierung der Wasser- und Bodenverbände – Grundprobleme öffentlich-rechtlicher Genossenschaften, 1991. 40 Goldbeck, Die Deichgenossenschaften – Eine Analyse ihrer historischen Entwicklung auf der Basis der Kollektivgüter- und Genossenschaftstheorie, 1991. 41 Irriger (Fn. 38), S. 242 ff.
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Insgesamt zeichnet sich damit ein weites und interessantes Forschungsspektrum ab, das nicht zuletzt für die Bewältigung des demografischen Wandels im ländlichen Raum viele aktuelle Anwendungsfelder bereithält. 3. Aktualität des Ansatzes vor dem Hintergrund neuer Legitimationserwartungen Vergleicht man die „Lage“ im 19. Jahrhundert, wie sie etwa Lorenz von Stein schildert, mit den öffentlichen Debatten über mehr Bürgerbeteiligung in Deutschland in den letzten Jahren, so fällt auf, dass in beiden Fällen die repräsentative Beteiligung an der Gesetzgebung als unzureichend für die Verwirklichung des demokratischen Prinzips angesehen wird. Für gewöhnlich werden die weiter gehenden Forderungen mit Hinweis zurückgewiesen, die Verwaltung des Grundgesetzes sei durch das allgemeine Gesetz demokratisch legitimiert und nicht mit der Verwaltung in der konstitutionellen Monarchie zu vergleichen. Dieser Hinweis bleibt aber zu vordergründig, weil er sich nicht einmal im Ansatz Gedanken darüber macht, ob und wie im demokratischen Verfassungsstaat mehr Bürgerbeteiligung ermöglicht werden kann. Dafür bietet das Modell der genossenschaftlichen Kooperation meines Erachtens eine Reihe von Anknüpfungspunkten, die zwar nicht alle Bereiche abdecken, in denen mehr bürgerschaftliche Mitwirkung verlangt wird, aber durchaus eine Reihe von Feldern, die von großer aktueller Bedeutung sind. Auf der verfassungsrechtlichen Ebene kann dabei an die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seiner Wasserverbandsentscheidung angeknüpft werden, die trotz ihrer geringen Konsistenz die grundsätzliche Möglichkeit einer weiteren Öffnung für mehr Bürgerpartizipation aufzeigen.42 Öffnung und Weiterentwicklung sollten müssen sich verfassungsrechtlich am Subjekt demokratischer Legitimation ausrichten und den egalitären Grundgedanken beachten. Das Genossenschaftsmodell ist dafür in besonderer Weise geeignet ... und mit einigen Wenigen zusätzlichen Annahmen bzw. Vorgaben. Als mögliche Anwendungsfelder für eine genossenschaftliche Kooperation kommen unter anderem in Betracht:
die Sicherung von lokalen und regionalen Infrastrukturen,
die kooperative Trägerschaft von Bildungseinrichtungen sowie
neue Formen der Innovationskooperation im Hochschulbereich.
___________ 42
BVerfGE 107, 59 ff.
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Bevor darauf näher eingegangen wird, müssen aber zunächst die angedeuteten verfassungsrechtlichen Problemlagen genauer in den Blick genommen werden.
V. Verfassungsrechtsdogmatische Aspekte 1. Genossenschaftliche Bürgerbeteiligung und Demokratieprinzip Um die verfassungsrechtsdogmatischen Schwierigkeiten der Umsetzung genossenschaftlicher Kooperation unter dem Grundgesetz zu verstehen, bedarf es einer Rückbesinnung auf die Argumentation der frühen Theoretiker der Selbstverwaltung sowie der Kontrastierung ihrer Sichtweise mit der späteren Entwicklung des demokratischen Verfassungsstaates. So war für Lorenz von Stein der Staat ein lebendiger Organismus, der durch eine differenzierte Aktivierung (bürgerlicher) Freiheit bestimmt sein sollte. Stein arbeitete heraus, dass es inkonsequent und widersprüchlich ist, den Bürger (im Rahmen des zu seiner Zeit prägenden Systems der konstitutionellen Monarchie) an der Gesetzgebung teilhaben zu lassen, ihn aber aus dem Bereich der Verwaltung auszuklammern. Er folgerte daraus, dass staatsbürgerliche Teilnahme auch an der administrativen Tätigkeit mit Hilfe des Selbstverwaltungsgedankens zu ermöglichen: „Die Selbstverwaltung aber ist es, welche bestimmt und fähig ist, das Prinzip, welches in der freien Gesetzgebung lebendig ist, auch in die Verwaltung hinüber zu leiten.“43 Von einem völlig anderen Ausgangspunkt gelangte auch Rudolf von Gneist zu einem ähnlichen Ergebnis. Er orientierte sich sehr intensiv an den Ehrenamtstraditionen in Grußbritannien, dessen Verfassung er als einer aus einer Außenperspektive wegweisen beschrieb und analysierte. Für ihn war es das Ehrenamt in der öffentlichen Verwaltung, das anders als der Beamtenapparat in der Lage ist, eine „organische Verbindung“ zwischen Staat und Gesellschaft herzustellen. Er formuliert aus diesem Grundgedanken heraus eine partizipatorische Verwaltungskonzeption, die vor allem die „besonders Leistungsfähigen“ Bürger in die Pflicht nahm.44 Für Otto von Gierke als Vertreter der germanistischen Rechtsschule war es wiederum die „tätige bürgerliche Freiheit“ bzw. der „aktive Volkswille“, den es in Staat und Gesellschaft für das Gemeinwesen nutzbar zu machen gelte. Für Gierke stand anders als bei liberalen Theoretikern nicht die Freiheit vom Staat, ___________ 43
Stein, Die Verwaltungslehre, Teil I, 2. Aufl. 1969, S. 129. Siehe Gneist, Verwaltung, Justiz, Rechtsweg: Staatsverwaltung und Selbstverwaltung nach englischen und deutschen Rechtsverhältnissen, 1869. 44
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sondern die Freiheit zur Mitgestaltung im Vordergrund seines Denkens.45 Dabei kam der Selbstverwaltung eine herausragende Rolle zu. Sie schaffte, wie Hendler treffend zusammenfasst, „einmal Freiheit gegenüber staatsbürokratischer Einwirkung und Reglementierung, und sie ermöglicht zum anderen die Teilnahme des Einzelnen an der hoheitlichen Erledigung öffentlicher Angelegenheiten.“46 Diese Reflektionen über die Gründe und Ziele von Selbstverwaltung wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Vorherrschaft des rechtswissenschaftlichen Positivismus und Dogmatismus im öffentlichen Recht abgeschnitten. Fortan arbeitete man mit einem juristischen Selbstverwaltungsbegriff, der sich darauf beschränkte, die Selbstverwaltung als dezentrale fachweisungsfreie Aufgabenerfüllung zu charakterisieren47 und sich über die Funktion von Selbstverwaltung im Staat wenig zu kümmern.48 Für die Beurteilung dieser Argumentationen ist es zwar bedeutsam zu beachten, dass sie in einem anderen verfassungsrechtlichen Kontext entwickelt wurden und dass inzwischen auch die Verwaltung demokratisch legitimiert ist. Bedenkt man aber, dass dieser Schritt konstruktiv minimalinvasiv dadurch erfolgte, dass der „Kopf“ des Staatssystems ausgetauscht wurde, also an die Stelle des aufgeklärten Fürsten der demokratische Gesetzgeber in seiner realen Herrschaftsunion von Regierung und Parlament49 gesetzt wurde, so hat sich jedenfalls aus der Perspektive des einzelnen Bürgers50 nicht viel geändert. Er sieht sich einer nahezu unverändert verfassten Herrschaftshierarchie51 gegenüber, sieht man von den einzelnen Bereichen der Selbstverwaltung52, die in ihrer Bedeutung nicht zu vernachlässigen sind, einmal ab. Die ganz überwiegende Zahl staatlicher Aufgaben wird aber nach wie vor hierarchisch administriert, ohne dass der Bürger einen spürbaren Einfluss hat. ___________ 45
Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. I, 1869, S. 3. Hendler, in: Kluth (Hrsg.), Handbuch des Kammerrechts, 2. Aufl. 2010, § 2, Rn. 25. 47 Rosin, Souveränität, Staat, Gemeinde, Selbstverwaltung, ADR 1883, 263 (312). Siehe auch Rosin, Das Recht der öffentlichen Genossenschaft, 1886. 48 Hendler (Fn. 46), § 2, Rn. 26. 49 Damit soll verdeutlicht werden, dass de facto die Regierung auf Grund des Gesetzesinitiativrechts die Macht über die Gesetzgebung und die Steuerung der Verwaltung hat, auch wenn das Parlament der eigentliche Gesetzgeber ist. 50 Anders sieht es für den (parteipolitisch) organisierten Bürger aus, dem im demokratischen Verfassungsstaat weitergehende Einflussnahmen möglich sind. Zum Spannungsverhältnis zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie siehe auch Kluth, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., 2013, Art. 21, Rn. 65 f. 51 Dazu ausführlich Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991. 52 Ausführlicher Überblick bei Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 1), §§ 96 – 100 (zu kommunaler und funktionaler Selbstverwaltung). 46
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Die verfassungsrechtliche Dogmatik hat diesen Zustand von Beginn an damit gerechtfertigt, dass Legitimationssubjekt im demokratischen Verfassungsstaat „das Volk“ ist und dieses seinen Willen nur zentral durch das Parlament und die von ihm ausgehenden Legitimationsströme (Gesetzgebung, Wahl der Regierung usw.) umsetzen könne. Nicht nur für Hans Kelsen war deshalb die Selbstverwaltung ein Fremdkörper im demokratischen Verfassungsstaat, wobei die kommunale Selbstverwaltung wegen ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung zumindest formal unanfechtbar war und ist. Die funktionale Selbstverwaltung stand und steht bis heute indes unter einem fundamentalen Rechtfertigungszwang.53 Für weitere Formen der bürgerschaftlichen Partizipation im Bereich der öffentlichen Verwaltung gilt dies gleichermaßen. Obwohl es natürlich sehr gute Gründe für die tragende Rolle des Berufsbeamtentums und der bürokratischen Hierarchie54 im demokratischen Verfassungsstaat gibt, weil beide der getreuen Umsetzung des gesetzgeberischen Willens dienen55, darf das bereits von Lorenz von Stein beschriebene Unbehagen des Bürgers auch heute nicht ignoriert werden. Es erscheint zwar verständlich, dass in der Phase der Konstituierung einer neuen Ordnung besonders strenge Regeln gelten und durchgesetzt werden müssen. So war es im Übergang von der Monarchie bzw. der Diktatur zum demokratischen Verfassungsstaat sicher folgerichtig, die Rolle des allgemeinen Gesetzes als Quelle demokratischer Legitimation des Verwaltungshandelns besonders zu betonen.56 Indes muss in einer gefestigten demokratischen Ordnung57 weiter gedacht und dem berechtigten Verlangen der Bürger nach „tätiger Freiheit“ wieder verstärkt Rechnung getragen werden, sollen es nicht zu einer neuen, selbstgenügsamen Herrschaft eines Bürokratie- und Beamtensystems kommen, an dem die politischen Parteien mit ihrem Eigeninteresse der Machterhaltung beteiligt sind. Die___________ 53 Dazu näher Kluth, Demokratische Legitimation in der funktionalen Selbstverwaltung – Grundzüge und Grundprobleme, in: Schnapp (Hrsg.), Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip – am Beispiel der Sozialversicherung, 2001, S. 17 ff. 54 In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass das Verwaltungsrecht unter anderem auf die wirksame Herstellung der staatlichen Einheit im Bereich der Öffentlichen Verwaltung ausgerichtet ist. Siehe dazu näher und aus rechtsvergleichender Sicht Cassese, Die Entfaltung des Verwaltungsstaats in Europa, in: von Bogdandy/Cassese/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. III, Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen, 2010, § 41, Rn. 39 ff. 55 Dazu näher Lecheler, Öffentlicher Dienst, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 110. 56 Dazu näher G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 174 ff. 57 Dieser Gesichtspunkt wird in Bezug auf Deutschland alle zehn Jahre aus Anlass der Jubiläumsfeiern zum Grundgesetz betont. Siehe exemplarisch Depenheuer (Hrsg.), Bewährung und Herausforderung: die Verfassung der Zukunft, 1999.
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ser primär soziologische Befund diskreditiert nicht die verfassungsrechtlich vorgegebene institutionelle Ordnung und zieht auch nicht den Repräsentationsauftrag der Parteien aus Art. 21 GG in Zweifel. Es geht vielmehr lediglich darum, die Gründe für ein offeneres Verständnis von demokratischer Legitimation einerseits und bürgerschaftlicher Partizipation andererseits in das Bewusstsein zu rufen und dafür auf die historischen Grundlagen der Entwicklung moderner Verfassungsstaatlichkeit in Deutschland Bezug zu nehmen. Das dabei verfolgte Anliegen kann auf den knappen Nenner gebracht werden, dem Bürger im Verhältnis zum Kollektivsingular Volk wieder mehr Beachtung zu schenken. Dazu – so die These des Vortrags – kann die stärkere Nutzung genossenschaftlicher Organisationsformen einen Beitrag leisten. Jede Forderung nach einer (weiteren) Stärkung dezentraler Organisationsformen und partizipatorischer Instrumente stößt in Deutschland auf den Einwand, damit werde die unverzichtbare staatliche Einheit bedroht.58 In der Tat hat der „ursprüngliche“, d.h. auf reale politische „Kräfte“ abstellende und nicht normativ konstruierte Charakter des genossenschaftlichen Staatsverständnisses zur Folge, dass der Staat weniger als abstrakte Organisation und Macht verstanden wird, die durch ihre repräsentativ gebildeten Organe handelt, sondern sich in den zahlreichen dezentralen Organisationen jeweils eigenständig konstituiert. Die staatliche Einheit wird dabei nicht als zwingende Voraussetzung der Rechtsordnung gedacht, sondern als Resultat der Integration sozialer und politischer Vielheit durch rechtliche Vorgaben erzeugt. Grundlage der Staatlichkeit ist damit dezentral, plurale Vielfalt aus der staatliche Einheit geformt wird und nicht ein als „juristische Person“ gedachte (souveräne) Staatsperson, von der alle weiteren Kompetenzen und Funktionen ausgehen müssen. Die zwischen beiden Modellen noch am besten vermittelnde Sichtweise findet sich bei Georg Jellinek, der zwar in seiner Untersuchung zu den subjektiven öffentlichen Rechten prägnant ebenfalls von der einheitlichen Staatsgewalt als Ausgangspunkt aller Kompetenzen und damit auch der Selbstverwaltung ausgeht und sich insoweit deutlich von genossenschaftlichen und pluralistischen Ansätzen abgrenzt.59 Indem er aber die subjektiven Rechte der Selbstverwaltungsträger und die mitgliedschaftlichen Rechte in ihnen betont, erkennt er ihre (relative)
___________ 58 Allerdings fehlt umgekehrt die Kraft zu einer durchaus naheliegenden Reform der bundesstaatlichen Ordnung i.S.d. Art. 29 GG. Zu den Zielsetzungen und Kompromissen der Föderalismusreform I in diesem Zusammenhang siehe Kluth, in: ders. (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz – Einführung und Kommentar, 2007, Einführung, Rn. 37 ff. 59 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1892, S. 251 ff.
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Eigenständigkeit an und arbeitet zudem einen Weg zur Aktivierung und rechtlichen Anerkennung bürgerschaftlicher Partizipation heraus.60 Dass diese vermittelnde Sichtweise bis heute viel zu wenig Beachtung gefunden hat, hängt mit einer einseitigen Rezeption der grundlegenden Arbeit Jellineks zusammen, die zu stark auf die subjektiven Rechte der Bürger fixiert war61 und zu der nicht überzeugenden Aussage geführt hat, subjektive Rechte und der damit verbundene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit seien typisch für das Bürger-Staat-Verhältnis und nicht auf das Staatsorganisationsrecht zu übertragen.62 Überwindet man diese Blickverengung, so öffnen sich Wege, um partizipatorischen Rechten eine breitere Anerkennung zu verschaffen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zu den Wasserverbänden aus dem Jahr 2002 dafür eine Grundlage geschaffen, indem es die Vereinbarkeit der auf mitgliedschaftlicher Partizipation basierenden funktionalen Selbstverwaltung mit dem Grundgesetz und dem demokratischen Prinzip anerkannt hat.63 Die Begründung leidet jedoch unter dem wenig geglückten Kompromiss, das Ergebnis aus dem wenig einschlägigen Art. 1 Abs. 1 GG herzuleiten und es in die herkömmliche Argumentation der Legitimationsketten einzubinden.64 Die der Entscheidung attestierte Begründungsschwäche könnte durch eine Weiterentwicklung des demokratischen Prinzips durch die stärkere Betonung der gesetzgeberischen Ausgestaltungsbefugnisse und der legitimationsfördernden Anerkennung sachlich klar umgrenzter, gesetzlich zugewiesener Partizipationsrechte überwunden werden. Dafür gibt es in der wissenschaftlichen Literatur bereits mehrere gründliche Vorschläge, so dass an dieser Stelle nur darauf verwiesen werden soll.65 Auch das explizit pluralistisch ausgerichtete Demokratiemodell der Europäischen Union66 weist in die gleiche Richtung.
___________ 60
Jellinek (Fn. 59), S. 255 f. Das zeigt auch der Streit darüber, ob man in Bezug auf den Staat bzw. die öffentliche Verwaltung überhaupt von subjektiven öffentlichen Rechten sprechen könne; siehe dazu Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 12. 62 Dazu „aufklärend“ Heusch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Staatsorganisationsrecht, 2003. 63 BVerfGE 107, 59 ff. 64 Zur Kritik Jestaedt, in: Jahrbuch des Kammer- und Berufsrechts 2003, 2004, 9 ff.; „Unterfütterungsversuche“ in der Literatur z.B. bei Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 60. EGL 2010, Art. 20, Rn. 178 ff. 65 Siehe etwa (in anderem Anwendungszusammenhang) Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004. 66 Siehe Art. 9 ff. EUV und dazu Kluth, Demokratie, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Handbuch Europarecht, 2. Aufl. 2010, § 5. 61
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Es geht bei alledem auch nicht um eine Abwertung der Bedeutung staatlicher Einheit (im Rechtssinne), sondern um eine Überwindung einer weder historisch noch dogmatisch schlüssigen, noch sachlich gerechtfertigten Engführung der Staatskonzeption im Bereich des demokratischen Prinzips. Staatliche Einheit kann nach meiner Überzeugung heute und in Zukunft in anderer Art und Weise hinreichend effektiv gesichert werden als durch eine einseitige und ausschließliche Ausrichtung demokratischer Legitimation aus Legitimationsketten, deren praktische Bedeutung in einigen Bereichen gegen null tendiert.67 Zugleich müssen nachvollziehbare Legitimationsformen ernster genommen und vermehrt werden. 2. Rechtsbindung und Eröffnung von Gestaltungsspielräumen Für die Verwirklichung der Idee genossenschaftlicher Kooperation sollten entgegen dem seit langem vorherrschenden Trend, privatrechtliche Organisationsformen zu nutzen, Rechtsformen des öffentlichen Rechts genutzt werden. Dafür spricht zunächst, dass diese den besonderen Charakter der Bürgerbeteiligung besser erkennen lassen und durch die damit verbundenen Rechtsbindungen, u.a. an die Grundrechte, die Gemeinwohlbezüge des Organisationshandelns deutlicher und wirksamer umsetzen. Dabei ist es weiter wesentlich, dass den Organisationen ein Selbstverwaltungsrecht mit ausreichend weiten Gestaltungsfreiräumen eröffnet wird. Nur so kann eine substanzielle Bürgerbeteiligung erreicht werden.
VI. Verwaltungsrechtsdogmatische Aspekte 1. Erweiterung der Organisationsrechtsformen Für die praktische Umsetzung entsprechender Modelle müssen die Organisationsrechtsformen durch den Gesetzgeber entsprechend weiterentwickelt werden. Dabei ist zwischen weiteren Spezialregelungen und der Einführung allgemein nutzbarer Organisationsrechtsform zu unterscheiden, wobei letzteres im öffentlichen Recht ein Novum wäre. Überall dort, wo der genossenschaftlichen Kooperation voraussichtlich eine größere praktische Bedeutung zukommt und die wahrzunehmenden Aufgabenfelder bereits gesetzlich detailliert erfasst sind, wie z.B. im Schulrecht, liegt es näher, spezielle Regelungen in den jeweiligen Gesetzen zu schaffen. Das hat den ___________ 67 Man spricht in diesem Zusammenhang von den „homöopathischen Dosierungen“ der Legitimationswirkungen am Ende von langen Legitimationsketten.
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Vorteil, dass Aufgabe und Organisation schon aufeinander abgestimmt werden können. Ob und in welcher Form auch eine für nicht vorherbestimmte Zwecke eine genossenschaftliche Kooperationsform des öffentlichen Rechts bereitgestellt werden sollte, bedarf noch der genaueren Untersuchung. Hinzuweisen ist an dieser Stelle nur darauf, dass bislang bereits bei den Zweckverbänden eine Beteiligung Privater möglich ist. 2. Anforderungen an die staatliche Aufsicht Es wurde bereits verdeutlicht, dass mehr Bürgerbeteiligung durch genossenschaftliche Kooperation nur verwirklicht werden kann, wenn die Aufgaben als Selbstverwaltungsaufgaben ausgestaltet werden und nur einer staatlichen Rechtsaufsicht unterliegen. Ergänzt werden muss aber, dass zugleich die normativen Vorgaben für die zu erfüllenden Aufgaben nicht zu eng gefasst sein dürfen. Selbstverwaltung kann auch dadurch ad absurdum geführt werden, dass der Gesetzgeber die Aufgaben zu detailliert regelt und für Zweckmäßigkeitserwägungen kaum noch Raum bleibt. Zudem muss die Staatsaufsicht konsequent in einem kooperativ-subsidiären Verständnis normiert und gehandhabt werden, wie dies heute bereits im Bereich der Kommunalaufsicht der Fall ist.68
VII. Ausblick Der Blick in die Geschichte, insbesondere in die Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert, bietet immer wieder Anregungen für die Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen. Die Überlegungen zur genossenschaftlichen Kooperationen sollten das gezeigt haben und dazu ermutigen, mit der gleichen konstruktiven Kraft voranzugehen, wie es die Wissenschaftler und Gesetzgeber in der damaligen Zeit vorgelebt haben. Eine Rückbesinnung auf die Gestaltungsfreiheit und -vielfalt im Bereich der öffentlichen Rechts sowie eine Erweiterung der Möglichkeiten genossenschaftlicher Kooperation unter Einbeziehung der Bürger und anderer Akteure aus der Welt von Wirtschaft und Gesellschaft sowie dem Dritten Sektor kann in mehreren Bereichen dazu beitragen, gefährdete Infrastrukturen zu sichern und den sozialen Zusammenhalt in den Regionen zu stärken. Dafür muss das Verwaltungsorganisationsrecht überhaupt und insbesondere in Ausbildung und Forschung einen deutlich höheren Stellenwert erhalten, als dies bislang der Fall ist. ___________ 68 Dazu näher Kahl, Die Staatsaufsicht, 2000, S. 472 ff.; Wolff/Bachof/Stober/Kluth (Fn. 1), § 96, Rn. 130 ff.
Innere Sicherheit im Wandel: Rechtsstaat – Präventionsstaat – Sicherheitsstaat Von Markus Ogorek
I. Das Polizeirecht als Referenzmaterie für dasVerwaltungsrecht Das Polizeirecht gilt gemeinhin als klassische Referenzmaterie für das Verwaltungsrecht und Prototyp des Rechts der ordnenden Verwaltung1. Diesen Gedanken aufgreifend, stellte schon Erich Kaufmann im Jahr 1914 in dem „Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts“ fest: „Unser gesamtes Verwaltungsrecht ist im Grunde Polizeirecht.“2 Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, dass dem Polizeirecht in der juristischen Ausbildung in Deutschland – im Vergleich zu den anderen Materien des Besonderen Verwaltungsrechts – ein überragender Stellenwert zukommt. Die große Bedeutung des Polizeirechts ist nicht nur dogmen- und ideengeschichtlich gerechtfertigt, sondern entspricht auch der Funktion, die dieses Rechtsgebiet erfüllt. Es muss zwei wichtige, mitunter widerstreitende Staatszwecke miteinander in Einklang bringen: die Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit3.
___________ 1 Vgl. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 30; v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 352; Lepsius, Besitz und Sachherrschaft im öffentlichen Recht, 2002, S. 11; Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, 1983, S. 17; Volkmann, NVwZ 2009, 216, 222; Poscher/Rusteberg, JuS 2011, 888 f. 2 Kaufmann, Artikel Verwaltung, Verwaltungsrecht, in: Stengel-Fleischmann, Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts, 2. Aufl. 1914, S. 688, 710. 3 Zum Staatszweck Sicherheit Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 21 ff.; Link, in: VVDStRL 48 (1990), S. 7, 27 ff.; Stoll, Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, 2003, S. 2 ff.; Calliess, ZRP 2002, 1; Dietlein, in: Dietlein/Burgi/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, 4. Aufl. 2011, § 3 Rn. 1 ff.; Papier, Wie der Staat Freiheit und Sicherheit vereint, DIE WELT, im Internet abrufbar unter http://www.welt.de/politik/article2055921/Wie-der-Staat-Freiheit-und-Sicher-heitvereint.html.
Markus Ogorek
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II. Erosion des Gefahrenbegriffs 1. Die konkrete Gefahr als klassische Eingriffsschwelle Der Staat der Neuzeit findet seine maßgebliche Legitimationsgrundlage darin, dass er den inneren und äußeren Frieden garantiert. Das Entstehen des modernen Staates war von dem Wunsch beseelt, eine Macht- und Friedenseinheit zu schaffen, die einer unkontrollierten und zum Teil willkürlichen Gewaltanwendung seitens Privater ein Ende setzt4. Die Verfassungsordnung des Grundgesetzes hat diese Sicherungszwecke des Staates aufgegriffen und fortentwickelt. Schon dem liberalen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts ging es nicht mehr allein um die Beendigung eines als „Krieg aller gegen alle“ verstandenen Naturzustands. Vielmehr sollte der Staat zugleich das Bedürfnis des Einzelnen nach Sicherheit gegenüber staatlichen Eingriffen befriedigen5. Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit ist für das moderne Polizeirecht prägend. Einerseits ermächtigt das Gefahrenabwehrrecht die Polizei dazu, die Freiheitssphäre des Bürgers zu begrenzen, andererseits unterwirft es die hoheitlichen Eingriffsbefugnisse rechtsstaatlichen Schranken. Nimmt man die polizeigesetzlichen Befugnisnormen in den Blick, so findet sich eine wichtige Schranke auf der Rechtsfolgenseite, nämlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – dessen Ursprünge in Deutschland übrigens im Polizeirecht liegen6 – bildet eine Grenze für die polizeiliche Ermessensausübung. Er ist heute in allen Polizeigesetzen ausdrücklich niedergelegt. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip stellt sicher, dass die Polizei die Belastungen, die ihr Eingriffshandeln beim Bürger hervorruft, nicht aus dem Blick verliert. Begrenzungen der polizeilichen Machtbefugnisse finden sich zudem auf der Tatbestandsseite der in den Polizeigesetzen enthaltenen Eingriffstitel. Schlüsselbegriff der polizeirechtlichen Dogmatik ist dabei die konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Die Eingriffsschwelle der konkreten Gefahr ist ein Vermächtnis des liberalen Rechtsstaates7. Sie fand sich bereits in § 10 II 17 des Allgemeinen Landrechts ___________ 4
Papier, Wie der Staat Freiheit und Sicherheit vereint, o. Fußn. 3. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 55 ff. 6 Vgl. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 14. Aufl. 2008, § 12; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Loseblatt, Stand: 69. Erg.-Lfg. 2013, Art. 20 VII. Rn. 107; Ossenbühl, FS Lerche, 1993, S. 151, 152 f.; Stern, FS Lerche, 1993, S. 165 ff.; umfassend Remmert, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbotes, 1995. 7 Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (o. Fußn. 1), S. 10; Schoch, Der Staat Bd. 43 (2004), 347, 348. 5
Innere Sicherheit im Wandel: Rechtsstaat – Präventionsstaat – Sicherheitsstaat 155
für die preußischen Staaten von 17948. Trotz seiner Unbestimmtheit und seiner prognostischen Elemente steht der Begriff der konkreten Gefahr für ein hohes Maß an Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit. Grund hierfür ist, dass er in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung immer weiter konkretisiert und konturiert wurde. Bekanntlich wird eine konkrete Gefahr definiert als Sachlage, in der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden für eines der Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung eintreten wird9. Das im Gefahrenbegriff enthaltene Erfordernis hinreichender Wahrscheinlichkeit ist flexibel zu handhaben10. Weder muss der Schadenseintritt mit Gewissheit zu erwarten sein, noch ist grundsätzlich die bloße Möglichkeit des Schadenseintritts ausreichend. Der erforderliche Grad der Schadenswahrscheinlichkeit ist vielmehr abhängig vom Rang des Rechtsguts, in das eingegriffen werden soll, sowie von der Valenz des gefährdeten Schutzguts11. Ob die für die Annahme einer Gefahr erforderliche Schadenswahrscheinlichkeit zu bejahen ist, soll aus der exante-Sicht eines gut ausgebildeten, fähigen, erfahrenen, „objektivierten“ oder – wie manche sagen – „typischen“ Polizeibeamten zu beurteilen sein12. Ist der Schaden bereits eingetreten, liegt eine Störung vor. In einer solchen Situation kann eine bereits verwirklichte Gefahr zwar nicht mehr abgewehrt werden. Störungsbeseitigung gehört aber dann zur Gefahrenabwehr, wenn von der Störung noch weitere Gefahren ausgehen13. ___________ 8 Die Vorschrift lautete: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit, und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey“. Ausführlich zur polizeilichen Generalklausel des Allgemeinen Preußischen Landrechts Naas, Die Entstehung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931, S. 117 ff. 9 Entsprechende Legaldefinitionen des Gefahrenbegriffs finden sich in § 2 Nr. 1a NdsSOG; § 2 Nr. 3a BremPolG; § 3 Nr. 3 lit. a SOG LSA. Vgl. auch Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 2011, Rn. 111; Voßkuhle, JuS 2007, 908; Krüger, JuS 2013, 985, 987 f.; Poscher/Rusteberg, JuS 2011, 984 986 f.; Faßbender, NVwZ 2009, 563, 565. 10 Statt vieler Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht (o. Fußn. 9), Rn. 119; Dietlein, in: Dietlein/Burgi/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, 5. Aufl. 2014, § 3 Rn. 61; Krüger, JuS 2013, 985, 986: „dynamisches Maß“. 11 BVerwGE 88, 348, 351; 116, 347, 356; Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht (o. Fußn. 9), Rn. 119; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 2013, Rn. 77; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2012, § 4 Rn. 7; Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 2012, § 14 Rn. 465; Schütte, in: Schütte/Braun/Keller, PolG NRW, 2012, § 1 Rn. 4. 12 Vgl. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl. 2007, § 10 Rn. 95; Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht (o. Fußn. 11), § 14 Rn. 464; Krüger, JuS 2013, 985, 986. 13 Zur Störung eines gefahrenabwehrrechtlichen Schutzguts Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht (o. Fußn. 9), Rn. 103 ff.
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Will die Polizei z.B. einen Platzverweis aussprechen, die Ausweispapiere einer Person kontrollieren, einen Pkw abschleppen oder eine auf die polizeigesetzliche Generalklausel gestützte Maßnahme ergreifen, so setzt dies grundsätzlich eine Gefahr für ein polizeirechtliches Schutzgut voraus. Wenn die Befugnisnormen der Polizeigesetze von einer Gefahr sprechen, so ist damit die konkrete Gefahr in Bezug genommen. Bei vielen polizeilichen Maßnahmen, die mit besonders schweren Grundrechtseingriffen verbunden sind, gehen die Polizeigesetze der Länder allerdings weiter und stellen qualifizierte Anforderungen an die Gefahrensituation. So macht etwa das nordrhein-westfälische Polizeigesetz die Sicherstellung einer Sache davon abhängig, dass eine „gegenwärtige Gefahr“ vorliegt. Voraussetzung hierfür ist, dass das schädigende Ereignis bereits begonnen hat oder unmittelbar in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht14. Die Inanspruchnahme eines Nichtstörers – d.h. einer Person, die selbst keinen Beitrag zur Entstehung einer polizeirechtlich relevanten Gefahr geleistet hat – ist nur bei Vorliegen einer „erheblichen Gefahr“ erlaubt, also dann, wenn die konkret gefährdeten Rechtsgüter besonders hochrangig sind15. Auch der Begriff der „dringenden Gefahr“ wird in den Polizeigesetzen verwendet. Seine Funktion liegt darin, die konkrete Gefahr im Zusammenhang mit dem Betreten und Durchsuchen von Wohnungen zu qualifizieren16. Festzuhalten bleibt: Der jeweils einschlägige Gefahrenbegriff markiert im allgemeinen Polizeirecht die klassische Eingriffsschwelle: Wo keine Gefahr droht, hat die Verwaltung keine Handhabe, in die Rechtssphäre des Bürgers einzugreifen und von ihm ein bestimmtes Verhalten zu fordern. 2. Der Siegeszug des Vorsorgegedankens Wenn – um es noch einmal mit den Worten von Erich Kaufmann zu formulieren – das gesamte Verwaltungsrecht im Grunde Polizeirecht ist, dann ist auch und insbesondere das Umweltrecht als „Polizeirecht“ zu qualifizieren. Für eine solche Sichtweise lässt sich anführen, dass das Umweltrecht in seinem Ausgangspunkt der Gefahrenabwehr verpflichtet ist17. Nach wie vor räumen weite Teile des Umweltrechts dem klassischen Konzept der Gefahrenabwehr eine zentrale Bedeutung ein. Zu nennen sind in diesem Kontext etwa das Bodenschutzrecht, das anlagenbezogene Immissionsschutzrecht des Bundes und das ___________ 14 BVerwGE 45, 51, 58; Wolffgang/Hendricks/Merz, Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl. 2011, Rn. 271; Krüger, JuS 2013, 985, 987. 15 Wolffgang/Hendricks/Merz, Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen (o. Fußn. 14), Rn. 275. 16 Vgl. § 41 Abs. 3 PolG NRW. 17 Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 140; Reese, ZUR 2010, 339 f.
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Abwasserrecht. Zahlreiche Vorschriften des Umweltverwaltungsrechts begnügen sich indessen nicht mehr mit der traditionell verstandenen Gefahrenabwehr, sondern verlagern die Eingriffsschwelle nach vorne. Sie erlauben der Verwaltung ein Tätigwerden bereits in einem Bereich, in dem allenfalls der Verdacht einer Gefahr, im Übrigen aber Ungewissheit herrscht18. Dahinter steht die Erkenntnis, dass auch (vermeintlich) gesichertes Wissen im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts veralten kann. An die Stelle der Gefahrenabwehr tritt deshalb zunehmend die sog. Vorsorge19. Im Rahmen der Vorsorge geht es nicht um die Abwehr konkreter Gefahren, die sich in absehbarer Zeit zu realisieren drohen. Der Vorsorgegedanke stellt vielmehr die Risikominimierung im Vorfeld der Gefahrenabwehr in den Mittelpunkt20. Die hiermit verbundene Vorverlagerung des staatlichen Eingriffsinstrumentariums zeigt sich besonders deutlich im Anlagenrecht des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG). So verpflichtet § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG den Betreiber einer genehmigungsbedürftigen Anlage zur Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren21. Damit sind präventive Maßnahmen zur Begrenzung von Emissionen angesprochen, ohne dass diese Maßnahmen vom Bestehen einer konkreten Gefahr abhängig gemacht würden. 3. Die Gefahrenvorsorge als neue polizeirechtliche Kategorie Der Siegeszug des Vorsorgegedankens blieb nicht auf das Umweltrecht begrenzt. Im Gegenteil hat das polizeirechtlich determinierte Umweltrecht nun seinerseits das Polizeirecht beeinflusst. Nach den einschlägigen Legaldefinitionen in den Polizeigesetzen der Länder schließt der Begriff der Gefahrenabwehr heute auch die Strafverfolgungsvorsorge ein22. Bei der Strafverfolgungsvorsorge geht es darum, eine Straftat schon im Vorfeld zu verhindern und eine wirksame Bekämpfung sich später realisierender, momentan aber noch nicht konkret drohender Straftaten zu ermöglichen. Wegen des grundrechtlichen und aus dem Rechtstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes muss die polizeiliche Eingriffsverwal___________ 18
Hierzu Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr“, 2011, S. 70 ff. Zur gesetzlichen Rezeption des Vorsorgegedankens, insbesondere im deutschen Umweltrecht Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, S. 17 ff. 20 Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr (o. Fußn. 18), S. 67 ff.; Schoch, Der Staat Bd. 43 (2004), S. 350 ff. 21 Vgl. zu den Vorsorgepflichten des Anlagenbetreibers Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr (o. Fußn. 18), S. 77 ff. 22 Vgl. etwa § 1 Abs. 1 Satz 2 PolG NRW; § 1 Abs. 4 HSOG. Zur Strafverfolgungsvorsorge, insbesondere zur Gesetzgebungskompetenz auf diesem Gebiet Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht (o. Fußn. 11), § 5 Rn. 4 ff. 19
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tung ihr Handeln stets auf eine parlamentsgesetzliche Befugnisnorm zurückführen können23. Auf dem Gebiet der Gefahrenvorsorge haben die Landesgesetzgeber daher in den letzten Jahren zahlreiche neue polizeirechtliche Eingriffsermächtigungen erlassen, um den rechtsstaatlichen Vorgaben zu genügen. Angesichts dieser Entwicklung ist vor einiger Zeit danach gefragt worden, ob der polizeiliche Gefahrenbegriff nicht mittlerweile selbst in Gefahr geraten sei24. In der Tat kann die Polizei heute auf ein breites Spektrum an Maßnahmen der Gefahrenvorsorge zurückgreifen. Zu denken ist hier etwa an die Einführung verdachtsloser Polizeikontrollen oder an die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten zu präventivpolizeilichen Zwecken. Auch die sog. Schleierfahndung zählt zu den Maßnahmen der Gefahrenvorsorge. Im Unterschied zur Rasterfahndung handelt es sich hierbei um eine verdachts- und ereignisunabhängige Identitätskontrolle zur Bekämpfung von Straftaten mit internationalem Bezug, die trotz geöffneter Binnengrenzen einen „Sicherheitsschleier“ über bestimmte Bereiche des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland legen soll25.
III. Die Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Orte Ein weiteres prominentes Beispiel für eine Maßnahme der Gefahrenvorsorge ist die Videoüberwachung des öffentlichen Raums, deren Einsatz zuletzt vor der Bundestagswahl im Jahr 2013 intensiv diskutiert worden ist26. Auf sie soll im Folgenden näher eingegangen werden. 1. Grundrechtsrelevanz der Videoüberwachung Einer parlamentsgesetzlichen Grundlage bedarf die Videoüberwachung des öffentlichen Raums, wenn sie mit Grundrechtseingriffen verbunden ist. Richtigerweise lässt sich die Grundrechtsrelevanz der Videoüberwachung nicht schon mit dem Hinweis auf einen vermeintlichen Grundrechtsverzicht in Frage stellen. Ein Grundrechtsverzicht i.S. eines Verzichts auf einzelne Aspekte grundrechtli___________ 23 Ausführlich zum Gesetzesvorbehalt für die Eingriffsverwaltung Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Komm. (o. Fußn. 6), Art. 20 VI. Rn. 111 ff. 24 Kugelmann, DÖV 2003, 781. 25 Vgl. zu Schleier- und Rasterfahndung Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht (o. Fußn. 11), § 14 Rn. 41 ff. sowie § 15 Rn. 50 ff. 26 Zu den mit der Videoüberwachung des öffentlichen Raums aufgeworfenen Rechtsfragen: Siegel, NVwZ 2012, 738; Zöller, NVwZ 2005, 1235; Roggan, NVwZ 2001, 134; Collin, JuS 2006, 494; Wolfarth, LKRZ 2007, 54; Dolderer, NVwZ 2001, 130, 131 f.; Mann/Fontana, JA 2013, 734, 736.
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chen Schutzes kommt nur dann in Betracht, wenn die betroffenen Grundrechtsträger wissen, in welchem Umfang sie ihren grundrechtlichen Schutz preisgeben27. Hiervon kann bei denjenigen, die einen videoüberwachten Platz betreten, nicht ausgegangen werden. Grund hierfür ist, dass die von der Polizei eingesetzten Videokameras sehr unterschiedlich ausgestattet sein können. Während einige Kameras über eine Zoom-, Standbild- und Einzelbildfunktion sowie über einen Dreh- und Schwenkmechanismus und Vorkehrungen zur Überwindung ungünstiger Lichtverhältnisse verfügen, weisen andere diese technischen Merkmale nicht auf. Wenn die Betroffenen aber nicht wissen, welche Art von Bildern – Nah- oder Überblicksaufnahmen – die Polizei von ihnen anfertigt, dann kann auch nicht von einer in Kenntnis der Grundrechtseinbuße abgegebenen Einwilligung die Rede sein. Hinzu kommt, dass die einschlägigen Ermächtigungsnormen der Polizei die Möglichkeit einräumen, die von der Kamera übermittelten Bilder aufzuzeichnen und mit anderweitig gewonnenen und über entsprechende Datenbanken verfügbaren Informationen abzugleichen. Ob und in welchem Ausmaß dies geschieht, ist für den Bürger, der sich an einem öffentlich zugänglichen Ort mit einer Videokamera der Polizei konfrontiert sieht, nicht im Geringsten abschätzbar. 2. Persönlichkeitsentfaltung auch im öffentlichen Raum geschützt Die polizeilich durchgeführte Videoüberwachung des öffentlichen Raums betrifft v.a. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung28. Dieses Grundrecht ist vom Bundesverfassungsgericht in seinem sog. Volkszählungsurteil aus dem Jahr 1983 als eine besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG anerkannt worden29. Es gewährleistet ___________ 27 Vgl. Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung, S. 148; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Komm., 12. Aufl. 2012, Vorbem. vor Art. 1 Rdnr. 36a; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG-Komm. (o. Fußn. 6), Art. 2 Rdnr. 229; Pietzcker, Der Staat Bd. 17 (1978), S. 527, 549, mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG. 28 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG-Komm. (o. Fußn. 6), Art. 2 Rn. 176; Dolderer, NVwZ 2001, 130, 131; Roggan, NVwZ 2001, 134, 135. Zur Relevanz der Videoüberwachung im Hinblick auf andere Grundrechtsgewährleistungen Maximini, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsprävention, 2010, S. 90 ff. 29 BVerfGE 65, 1. Ausführlich dazu Trute, Informationelle Selbstbestimmung, 2005; Albers, Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2008, § 22; Britz, Informationelle Selbstbestimmung zwischen rechtswissenschaftlicher Grundsatzkritik und Beharren des Bundesverfassungsgerichts, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, 2010, S. 561 ff.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG-Komm. (o. Fußn. 6), Art. 2 Rn. 173 ff. m.w.N.
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die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Die Betroffenheit des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung scheitert nicht etwa daran, dass die Datenerhebung im öffentlichen Raum stattfindet. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist keineswegs darauf beschränkt, einen persönlichen Nahbereich gegenüber staatlicher Ingerenz abzuschirmen. Hierfür gibt es mehrere Gründe: Erstens ist auch der öffentlichen Raum für die von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsentfaltung bedeutsam. Richtigerweise dürfte sogar davon auszugehen sein, dass durch staatliche Überwachungsmaßnahmen im öffentlichen Raum im Einzelfall der von Verfassungs wegen unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung betroffen sein kann. Hieran ist etwa zu denken, wenn nicht nur Bild-, sondern auch Tonaufzeichnungen gefertigt werden. Es würde der Bandbreite des öffentlichen Raums nicht gerecht, wollte man in ihm einen Schutz der höchstpersönlichen Lebenssphäre von vornherein ausschließen. Schutzbedürftige und schutzwürdige Enklaven der Privatheit bestehen auch im öffentlichen Raum. Es lässt sich daher zu Recht fragen, wieso z.B. ein in der Abgeschiedenheit eines Waldspaziergangs30 oder ein auf einem menschenleeren Marktplatz geführtes Gespräch, das sich auf höchstpersönliche Themen bezieht, vom verfassungsrechtlichen Schutz der Intimsphäre ausgenommen werden sollte. Der hiergegen erhobene Einwand, die Gesprächsteilnehmer dürften außerhalb einer Wohnung nicht von der Vertraulichkeit ihrer Unterredung ausgehen, greift zu kurz. Auch in der eigenen Wohnung können intime Gespräche von Dritten belauscht oder ungewollt wahrgenommen werden. Gelegentlich ist der Einzelne deshalb sogar auf den öffentlichen Raum angewiesen, um Vertraulichkeit herzustellen. Zweitens ist zu bedenken, dass die Übergänge zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum oftmals fließend sind. Das belegt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die den grundrechtlichen Schutz der Wohnung auch auf den Arbeitsplatz erstreckt31. Schließlich und drittens darf das Ausmaß der Überwachung, die heute technisch möglich ist, nicht ausgeblendet werden. Schon in seinem Volkszählungsurteil vom Dezember 1983 – also vor mehr als 30 Jahren – gelangte das Bundesverfassungsgericht zu der Erkenntnis, dass die Befugnis des Einzelnen aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen, unter den „heutigen und künftigen Bedingungen der automatisierten Datenverarbeitung in besonderem Maße des Schutzes“32 bedarf.
___________ 30 31 32
Poscher, JZ 2009, 269, 272. BVerfGE 44, 353, 371; 97, 228, 265. BVerfGE 65, 1, 42.
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3. Eingriffscharakter der Videoüberwachung Es ist allgemein anerkannt, dass die Aufzeichnung der von einer Kamera übermittelten Bilder in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingreift33. Hierfür spricht, dass die Videoüberwachung, die mit der Speicherung von Bildern einhergeht, gerade auf die Individualisierung und Identifizierung der beobachteten Personen angelegt ist. Der Eingriffscharakter der (mit einer Speicherung der Bilder verbundenen) Videoüberwachung ergibt sich überdies daraus, dass die aufgezeichneten Bilder technisch überarbeitet werden können (Vergrößerung, Aufhellung etc.). Von einem Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist aber auch dann auszugehen, wenn die Polizei eine Örtlichkeit lediglich nach dem sog. Kamera-Monitor-Prinzip überwacht34. Bei einem Vorgehen nach dem Kamera-Monitor-Prinzip wird das von der Kamera erfasste Geschehen nicht gespeichert, sondern auf Monitore in einer polizeilichen Leitstelle übertragen, wo die diensthabenden Polizeibeamten es beobachten. Der Eingriffscharakter folgt daraus, dass die Videoüberwachung mit einem nicht unerheblichen Anpassungsdruck einhergeht. Selbst für den Fall, dass die Polizei lediglich Gesamt- oder Übersichtsaufnahmen des öffentlichen Raums anfertigt, ist an dem Eingriffscharakter und damit an dem Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für die Videoüberwachung festzuhalten. Es lässt sich zwar argumentieren, dass bei Gesamt- oder Übersichtsaufnahmen der für die Betroffenheit des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung erforderliche Personenbezug fehlt. Ein solcher Personenbezug setzt voraus, dass die erhobenen Daten einer bestimmten oder bestimmbaren Person zugeordnet werden können. Im Ergebnis sprechen jedoch gute Gründe dafür, einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der im überwachten Bereich befindlichen Personen nicht davon abhängig zu machen, dass Nahaufnahmen erstellt werden, auf denen einzelne Personen zu erkennen sind. Im Volkszählungsurteil hatte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgehalten, dass eine Rechtsordnung, in welcher die Bürger nicht mehr wissen könnten, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie wisse, gegen das Recht auf informationelle Selbstbe___________ 33 BVerwG, NVwZ 2012, 757, 758; VGH Mannheim, NVwZ 2004, 498, 500; VG Halle, LKV 2000, 164; Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung, 2002, S. 142; Maximini, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsprävention (o. Fußn. 28), S. 89 f.; Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht (o. Fußn. 11), § 18 Rn. 606; Braun, in: Schütte/Braun/Keller, Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen, 2012, § 15a Rn. 2; Zöller, NVwZ 2005, 1235, 1238; Collin, JuS 2006, 494. 34 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht (o. Fußn. 12), § 20 Rn. 199a; Braun, in: Schütte/Braun/Keller, Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen, 2012, § 15a Rn. 2. Vgl. zu den einzelnen Formen der Videoüberwachung Schoch, Der Staat Bd. 43 (2004), S. 347, 357; Zöller, NVwZ 2005, 1235 f.
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stimmung verstoße35. Die Personen, die in das Visier einer Kamera schauen, wissen nicht, ob und gegebenenfalls welche Daten erhoben werden. Von den Kameras geht daher auch in den Fällen, in denen lediglich Übersichtsaufnahmen erstellt werden, eine erhebliche verhaltenssteuernde Wirkung aus36. Abgesehen davon ermöglichen die in der Praxis eingesetzten Videokameras ohne weiteres eine Vergrößerung des Bildmaterials und damit auch eine Individualisierung der gefilmten Personen. Dementsprechend geht bereits mit der Anfertigung der Übersichtsaufnahmen eine eingriffsgleiche Gefährdung der informationellen Selbstbestimmung einher, wenn die technische Möglichkeit des Heranzoomens besteht. Richtigerweise ist somit für jede Form der polizeilichen Videoüberwachung eine parlamentsgesetzliche Grundlage zu fordern. 4. Ausgestaltung der Videoüberwachung in Nordrhein-Westfalen Anders als dies in der Literatur teilweise angenommen wird37, sind für den Erlass von Befugnisnormen zur Videoüberwachung öffentlicher Orte die Länder zuständig38. Mittlerweile haben alle Bundesländer entsprechende Eingriffstitel in ihre Polizeigesetze aufgenommen. So findet sich z.B. im nordrheinwestfälischen Polizeigesetz in § 15a39 eine polizeiliche Ermächtigung zur Datenerhebung durch den offenen Einsatz optisch-technischer Mittel. Der erste Absatz der Vorschrift lautet: „Zur Verhütung von Straftaten kann die Polizei einzelne öffentlich zugängliche Orte, an denen wiederholt Straftaten begangen wurden und deren Beschaffenheit die Begehung von Straftaten begünstigt, mittels Bildübertragung beobachten und die übertragenen Bilder aufzeichnen, solange Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass an diesem Ort weitere Straftaten begangen werden. Die Beobachtung ist, falls nicht offenkundig, durch geeignete Maßnahmen erkennbar zu machen.“
Diese Ermächtigungsnorm bereitet schon deshalb Auslegungs- und Anwendungsprobleme, weil sie den Einsatz der Videotechnik nicht ausdrücklich vom Vorliegen einer konkreten Gefahr abhängig macht, sondern Tatsachen ausreichen lässt, die die Annahme rechtfertigen, dass an einem Ort weitere Straftaten ___________ 35
BVerfGE 65, 1, 43. OVG Münster, DVBl. 2011, 175; Maximini, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsprävention (o. Fußn. 28), S. 80 ff.; Siegel, NVwZ 2012, 738, 739. 37 Statt vieler Roggan, in: Roggan/Kutscha, Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit, 2. Aufl. 2006, S. 207, 217 ff. 38 BVerwG, NVwZ 2012, 757, 759 ff.; Collin, JuS 2006, 494 f.; Fischer, VBlBW 2002, 89, 90 f. 39 Vergleichbare Regelungen finden sich z.B. in Art. 32 Abs. 3 BayPAG; § 21 Abs. 3 BWPolG, § 25 BlnSOG; § 29 Abs. 3 BremPolG; § 8 Abs. 3 HmbPolDVG; § 27 Abs. 1 SaarlPolG § 32 Abs. 2 ThürPAG. 36
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begangen werden. Die Formulierung des Gesetzes wirft eine Vielzahl von Fragen auf: Wann genau rechtfertigen Tatsachen die „Annahme“, dass an einem Ort Straftaten begangen werden? Welche Anforderungen sind insoweit an die polizeiliche Prognose zu stellen? Muss nicht an jedem Ort mit Kriminalität gerechnet werden, an dem Menschen zusammenkommen? Wie muss die Polizei Kenntnis von den betreffenden Tatsachen erlangt haben? Wie ausführlich und präzise muss die Lagebeurteilung ausfallen, welche der Videoüberwachung zugrunde liegt? Welche Maßstäbe gelten im Hinblick auf die Deliktsschwere? Schließlich könnte aus verfassungsrechtlicher Sicht problematisch sein, dass es sich bei der polizeilichen Lagebeurteilung um ein Verwaltungsinternum handelt, das nicht unbedingt zur Kenntnis des Bürgers gelangt. Bereits dieser kurze Blick auf die nordrhein-westfälische Regelung zur Videoüberwachung belegt, dass die Verlagerung polizeilicher Eingriffsbefugnisse in das Vorfeld einer konkreten Gefahr mit einer Einbuße an Rechtssicherheit einhergehen kann. Die zahlreichen Fragen, die die vom nordrhein-westfälischen Gesetzgeber erlassene Eingriffsermächtigung aufwirft, erlauben allerdings nicht den Rückschluss, die Norm sei verfassungswidrig. Auch der VGH Mannheim hat in Bezug auf eine vergleichbare Regelung in Baden-Württemberg die Vorverlagerung der Eingriffsschwelle bei restriktiver Auslegung der Vorschriften über die Videoüberwachung als verfassungsgemäß angesehen40. Das Gericht geht allerdings davon aus, dass eine Videoüberwachung nur an sog. Kriminalitätsbrennpunkten zulässig ist. Die Annahme eines solchen Kriminalitätsbrennpunktes setzt zunächst voraus, dass sich die Kriminalitätsbelastung des Ortes deutlich von der an anderen Orten abhebt. Da die Überwachung nach ihrer Zweckrichtung den besonderen örtlichen Gefahrenschwerpunkten gilt und damit einen örtlichen Bezug hat, müssen die Vergleichsorte innerhalb derselben Stadt liegen41. Ferner muss auf Grund konkreter Anhaltspunkte die Annahme gerechtfertigt sein, dass dort in Zukunft weitere Straftaten begangen werden und dass die Videoüberwachung zu deren Bekämpfung erforderlich ist. Bezugspunkt der Kriminalitätsbelastung ist nach der gesetzgeberischen Intention in erster Linie der Bereich der Straßenkriminalität42. Die vom VGH Mannheim vorgenommene interpretatorische Restriktion des Vorfeldtatbestands zur Videoüberwachung erscheint im Hinblick auf die rechtsstaatlichen Vorgaben des Grundgesetzes dringend geboten. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass der sich abzeichnende Präventionsstaat, der seine Tätigkeit an dem Ziel ausrichtet, Sicherheit durch Vorsorge gegen Kriminalität zu gewährleisten, zu einem Sicherheitsstaat ver___________ 40 VGH Mannheim, NVwZ 2004, 498, bezüglich § 21 Abs. 3 BWPolG a.F. Siehe hierzu die Anm. von Stephan, VBlBW 2004, 28; Vahle, DVP 2004, 218. 41 VGH Mannheim, NVwZ 2004, 498, 503. 42 VGH Mannheim, NVwZ 2004, 498, 503.
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kommt, in dem alle Bürger gleichsam zum Sicherheitsrisiko erklärt und unter Generalverdacht gestellt werden.
IV. Rechtsstaatliche Anforderungen an Vorfeldtatbestände Ein Bollwerk gegen eine allzu extensive Auslegung und Anwendung von Vorfeldtatbeständen durch die Verwaltung – und damit gegen eine anlasslose und zugleich flächendeckende Überwachung durch staatliche Stellen – ist das Bestimmtheitsgebot. Folgt man dem integralen Rechtsstaatsverständnis des Bundesverfassungsgerichts, so stellt das Bestimmtheitsgebot eine Ausprägung des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips dar43. Für Normen, die die Verwaltung zu Eingriffen in die Freiheitssphäre des Bürgers ermächtigen, folgen aus dem Bestimmtheitsgebot strenge Maßstäbe. Die Eingriffe, zu denen der Gesetzgeber die Verwaltung ermächtigt, müssen nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend begrenzt sein, so dass sie messbar und in gewissem Umfang für den Staatsbürger voraussehbar sind44. 1. Der Bestimmtheitsgrundsatz – ein relatives Optimierungsgebot Im Hinblick auf Vorfeldmaßnahmen ist problematisch, dass es sich beim Bestimmtheitsgebot lediglich um ein relatives Optimierungsgebot handelt45. Hierauf hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt hingewiesen. Regelungen seien – so das Bundesverfassungsgericht – „so bestimmt zu fassen, wie dies nach der Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist.“46 Je weiter die polizeirechtliche Eingriffsschwelle abgesenkt und in das Vorfeld der konkreten Gefahr verlagert wird, desto schwieriger dürfte es allerdings sein, die Voraussetzungen für ein Einschreiten der Polizei präzise festzulegen47. Auf den ersten Blick ließe sich daher argumentieren, dass bei den Vorfeldtatbeständen keine überzogenen Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit gestellt werden dürfen, weil sie an einem Punkt ansetzen, der noch sehr weit von einem Schaden entfernt sein kann. Einer solchen Argu___________ 43 Zum summativen und integralen Rechtsstaatsverständnis Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Komm. (o. Fußn. 6), Art. 20 VII. Rn. 42 ff. Für ein summatives Verständnis, welches das Rechtsstaatsprinzip als Sammelbezeichnung für einzelne Gewährleistungen des Verfassungsrechts begreift, tritt vor allem Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, ein. 44 VerfGE 8, 274, 276, Ls. 7; 110, 33, 53 ff. 45 Vgl. Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 70 m.w.N. 46 BVerfGE 49, 168, 181; 59, 104, 114; 78, 205, 212; 102, 254, 337; 103, 332, 384. 47 Vgl. Schoch, Der Staat Bd. 43 (2004), S. 347, 354.
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mentation ist jedoch entschieden zu widersprechen. Das Bestimmtheitsgebot soll sicherstellen, dass die Verwaltung über nachvollziehbare (gesetzliche) Handlungsanweisungen verfügt und in einer rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Weise gebunden ist, es soll eine Kontrolle des Verwaltungshandelns durch die Gerichte ermöglichen und das Handeln der Exekutive für den Bürger vorhersehbar machen48. Will man diese Funktionen des Bestimmtheitsgebots nicht leerlaufen lassen, so müssen auch Rechtsnormen, die zu Vorfeldmaßnahmen ermächtigen, handlungsbegrenzende Tatbestandsmerkmale enthalten, die einen Standard an Anwendbarkeit, Bindung, Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit vergleichbar demjenigen schaffen, der für die überkommenen Aufgaben der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung rechtsstaatlich geboten ist49. 2. Bezugspunkt der Bestimmtheitsprüfung: Der objektivierte „Normalbürger“ Im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit des Verwaltungshandelns ist dabei die Perspektive des vom Eingriffshandeln betroffenen (objektivierten) Bürgers maßgeblich50. Es reicht keinesfalls aus, dass nur die Verwaltung und die Gerichte die Grenzen des Eingriffshandelns bestimmen können. Anderslautende Vorschläge zu einer Rekonstruktion des Bestimmtheitsgebots sind in der Literatur bereits veröffentlicht worden. Danach soll die Bestimmtheit einer Norm nicht aus der Sicht eines (objektivierten) Normadressaten zu beurteilen sein; maßgeblich sei vielmehr der Verständnishorizont eines ausgebildeten Juristen51. Gegen den vorgeschlagenen Perspektivwechsel sind jedoch durchgreifende Einwände zu erheben. Zwar ist davon auszugehen, dass die Bestimmtheitsprüfung am Maßstab des Juristen insgesamt eine geringere Streubreite aufweist als eine Prüfung am Maßstab des „Normalbürgers“. Genauso wenig wie es den „Normalbürger“ gibt, existiert aber ein „Normaljurist“, denn Juristen sind in unterschiedlichen Berufsfeldern tätig. Diejenigen, die sich das Motto „Gesetze sind für Juristen gemacht“ 52 auf die Fahnen geschrieben haben, verlieren zudem das Demokratieprinzip aus den Augen. Der Perspektivwechsel vom „Normalbürger“ zum Juristen trägt zu einer besorgniserregenden Entfremdung der Gesetzessprache von der allgemeinen Sprach- und damit auch Vorstellungswelt bei. Hierdurch wird die Möglichkeit ___________ 48
So auch Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 160 f. Vgl. BVerfGE 110, 33, 56; 113, 348, 377 f. 50 BVerfGE 31, 255, 264; 45, 400, 420; 52, 1, 41; 62, 169, 183; 78, 205, 212; 83, 130, 145; 87, 234, 263; 108, 52, 75; 110, 33, 53 f. 51 So etwa Beaucamp, Rechtstheorie Bd. 42 (2011), S. 21, 34 ff.; Towfigh, Der Staat Bd. 48 (2009), S. 29, 67 ff. 52 Towfigh, Der Staat Bd. 48 (2009), S. 29. 49
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der Kontrolle des Parlaments durch die Laien-Öffentlichkeit unterlaufen. Vor diesem Hintergrund müssen die Landesgesetzgeber bei der Ausgestaltung der polizeilichen Vorfeldbefugnisse – also immer dann, wenn sie die traditionelle Eingriffsschwelle der konkreten Gefahr absenken – auf eine Sprache zurückgreifen, die dem Bürger eine Vorstellung von Art und Umfang der Freiheitseinbuße vermittelt. Sieht der Gesetzgeber hiervon ab, so läuft er Gefahr, dass seine Regelung dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterfällt. 3. Weitere Determinanten für die Ausgestaltung von Vorfeldbefugnissen Auch wenn die „Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts“ einer trennscharfen Konturierung des Eingriffstatbestandes entgegenstehen sollte, ist dem Gesetzgeber kein Freibrief ausgestellt. Denn wenn der Eingriffstatbestand nicht hinreichend konturiert ist, wird die Vorfeldmaßnahme einen sehr weiten, wenn nicht gar flächendeckenden Anwendungsbereich haben, was regelmäßig ihre Unverhältnismäßigkeit zur Folge haben dürfte53. Eine interpretatorische Korrektur der Norm durch den Richter – etwa im Wege einer im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip erfolgenden verfassungskonformen Auslegung – wird in einer solchen Situation nur selten in Betracht kommen. Entgegenstehen dürften ihr sowohl die Wortlautgrenze, von der die verfassungskonforme Auslegung nicht befreit ist, als auch der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, dem zufolge alle wesentlichen Entscheidungen vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst getroffen werden müssen (sog. Wesentlichkeitstheorie)54. Wesentlich in diesem Sinne ist auch die tatbestandliche Fixierung einer mit Grundrechtseingriffen verbundenen Vorfeldmaßnahme55. In diesem Kontext ist auch an das Gebot erhöhter Regelungsdichte zu erinnern, das einen wesentlichen Bestandteil des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes bildet. Das Gebot erhöhter Regelungsdichte verknüpft das Kriterium der Eingriffsintensität mit dem Vorbehalt des Gesetzes und erlaubt auf diese Weise Aussagen darüber, wie feinmaschig und detailliert eine gesetzliche Regelung ausfallen muss. Faustformelartig lässt sich sagen: Je höher die Eingriffsintensität einer staatlichen Maßnahme ist, desto
___________ 53 Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip als Grenze zulässiger Vorsorge Eifert, Umweltschutzrecht, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, Kap. 5 Rn. 56. 54 Zur Wesentlichkeitstheorie siehe Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Komm. (o. Fußn. 6), Art. 20 VI. Rn. 105 f. 55 Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht (o. Fußn. 53), Kap. 2 Rn. 342: „Angesichts des zT intensiven Grundrechtseingriffs darf eine Maßnahme nicht anlasslos („verdachtslos“) und ziellos erfolgen.“
Innere Sicherheit im Wandel: Rechtsstaat – Präventionsstaat – Sicherheitsstaat 167
genauer muss der Gesetzgeber ihre Voraussetzungen umschreiben56. Das gilt auch und insbesondere für die Vorfeldtatbestände, die wegen ihrer geringen Eingriffsschwelle nicht selten eine Vielzahl von Personen betreffen und deshalb nicht nur für den Einzelnen, sondern auch mit Blick auf die Gesellschaft insgesamt zu erheblichen Einbußen an Freiheit führen können. Schließlich wird auch die verfahrensrechtliche Dimension der Grundrechte bei der Neujustierung von Freiheit und Sicherheit eine wichtige Rolle einnehmen57. Der Schutz grundrechtlicher Freiheit kann bei Vorfeldmaßnahmen nämlich auch auf verfahrensrechtlichem Weg erfolgen, z.B. durch einen Richter- oder Behördenleitervorbehalt58.
V. Fazit Bei der Kategorie der konkreten Gefahr handelt es sich um eine bereits in vorkonstitutioneller Zeit (im liberalen Rechtsstaat) entwickelte Begrenzung der exekutivischen Staatstätigkeit. Auch heute spielt der Gefahrenbegriff noch eine wichtige limitierende Funktion, er ist aber nicht von Verfassungs wegen als Eingriffsschwelle vorgegeben. Der Gesetzgeber ist folglich nicht daran gehindert, ein Einschreiten der Eingriffsverwaltung bereits im Vorfeld der konkreten Gefahr zuzulassen. Die Rahmenordnung des Grundgesetzes steht einem „Präventionsstaat“, der einen Schwerpunkt auf die Gefahrenvorsorge legt, nicht kategorisch entgegen. Allerdings unterliegt auch der Präventionsstaat verfassungsrechtlichen Schranken. Das Absenken der Eingriffsschwelle darf nicht dazu führen, dass der Staat zu voraussetzungslosen oder aus Sicht des Bürgers nicht mehr absehbaren Grundrechtseingriffen ermächtigt wird. Das folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes und dem Bestimmtheitsgebot. Umso bedenklicher ist es, wenn manche dafür plädieren, die Maßstäbe des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots aufzulockern. Die Verlagerung staatlicher Maßnahmen in das Vorfeld der Gefahr darf nicht dazu führen, dass die im traditionellen Polizeirecht gefundene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit verloren geht. Die gegenwärtige Konjunktur des Vorsorgegedankens gebietet vielmehr eine Rückbesinnung auf die freiheitssichernden Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips. Die Entwicklung hin zum Prä___________ 56 Vgl. BVerfGE 101, 1, 34 m.w.N. Siehe auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 29. Aufl. 2013, § 6 Rn. 278; Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG-Komm. (o. Fußn. 6), Art. 20 VI. Rn. 106; Voßkuhle, JuS 2007, 118, 119. 57 Zur Verfahrensdimension der Grundrechte BVerfGE 35, 79; 53, 30; Kischel, Die Begründung, 2003, S. 123 ff.; Voßkuhle/Kaiser, JuS 2011, 411, 412; Gostomzyk, JuS 2004, 949, 951 f. 58 So zu Recht Schoch, Der Staat Bd. 43 (2004), S. 347, 367 f.
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ventionsstaat kann auch durch eine Aktivierung der verfahrensrechtlichen Dimension der Grundrechte in rechtsstaatliche Bahnen gelenkt werden. Geraten diese Grundsätze aus dem Blick, so steht zu befürchten, dass der rechtsstaatliche Präventionsstaat zu einem Durchgangsstadium auf dem Weg in einen Sicherheitsstaat wird, dessen vorsorgende Handlungskonzepte verfassungsrechtlich nur unzureichend eingehegt sind. Eine solche Entwicklung ist auch deshalb bedenklich, weil ein „Weniger“ an Freiheit nicht notwendigerweise ein „Mehr“ an Sicherheit zur Folge hat. Das wusste schon Benjamin Franklin, der nicht ohne Grund zu der Einschätzung gelangte: „They who can give up essential liberty to obtain a little temporary safety, deserve neither liberty nor safety“59.
___________ 59
Zitiert nach W. T. Franklin, Memoirs of the life and writings of Benjamin Franklin, Bd. 1, 1818. S. 270.
Bürgerbeteiligung bei Großprojekten durch die Volksabstimmung: Auf dem Weg zur direkten Demokratie in Taiwan? Von Chen-Jung Chan
I. Einleitung Die Kernkraft macht den größten Anteil an der Stromerzeugung in Taiwan aus. Allerdings tobt seit Jahrzehnten ein heftiger Streit um die Zukunft der Atomenergie. Zurzeit sind drei Kernkraftwerke in Betrieb. Die Eigengesellschaft der öffentlichen Hand Taipower AG stellte in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen Plan für den Neubau eines vierten Kernkraftwerks vor, der allerdings von Anfang an von Massenprotesten begleitet wurde. Dennoch wurde dieses Großprojekt letztlich genehmigt. Jedoch hat die staatliche Politik hinsichtlich der Durchführung dieses Infrastrukturprojekts ständig geschwankt. Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima haben Auseinandersetzungen um den Weiterbau des vierten Kernkraftwerks wieder die Aufmerksamkeit der Politik, Wissenschaft und Wirtschaft geweckt. Der Widerstand gegen das Vorhaben hat auch deshalb dramatisch zugenommen. Zur endgültigen Beilegung der Meinungsverschiedenheiten hat der Präsident der Exekutive Yuan, Dr. Yi-huah Jiang, der zum obersten Organ der Exekutivgewalt in der taiwanesischen Verfassungsordnung zählt, am 25. Februar 2013 einen unerwarteten Vorschlag unterbreitet. Danach könne die Zukunft des noch in Bau befindlichen vierten Kernkraftwerks möglicherweise im Wege der Volksabstimmung entschieden werden. Die Debatte um die „Volksabstimmung zum vierten Kernkraftwerk“ ist zwar nicht neu in der Öffentlichkeit in Taiwan, jedoch wurde sie von der Regierung erstmalig ernsthaft in Erwägung gezogen. Zwar hat eine derartige projektbezogene Volksabstimmung noch nicht stattgefunden, die Bürgerbeteiligung durch Formen plebiszitärer Demokratie hat allerdings in Taiwan an Bedeutung gewonnen. Die Volksabstimmung als Lösungsvorschlag bei kontroversen Großprojekten stellt kein spezifisch taiwanesisches Phänomen dar. Vielmehr finden sich in modernen Staaten fast durchgängig Parallelen. In Deutschland fand z. B. am 27. November 2011 eine auf ein Sachthema bezogene Volksabstimmung in BadenWürttemberg statt. Die baden-württembergische Bevölkerung war aufgerufen, über den Ausstieg des Landes aus der Finanzierung des Bahnprojekts „Stuttgart
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21“ abzustimmen.1 Im Rahmen der Volksabstimmung sprach sich eine Mehrheit von 58,8 Prozent der gültigen Stimmen2 gegen die Umsetzung des von der Landesregierung vorgestellten Entwurfes zum „Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21“ aus, der die Rücknahme der Landesbeteiligung an der Projektfinanzierung vorsah und bereits vom Landtag abgelehnt worden war. Daher wurde die Landesfinanzierung für das Projekt beibehalten. Obwohl solche Volksabstimmungen, in deren Rahmen über haushaltrelevante Angelegenheiten entschieden wird, in der Literatur teilweise auf landesverfassungsrechtliche Bedenken stoßen, können sich daraus dennoch neue Wege zur besseren Einbindung der Bürger in staatliche Entscheidungsvorgänge auf Länderebene in Deutschland gefunden werden, die in der Praxis auch eingeschlagen wurden. Darüber hinaus betreffen Schwerpunkte der Volksgesetzgebung in den neuen Bundesländern auch Infrastrukturprojekte.3 Die oben erwähnte jüngere gemeinsame Entwicklung der Bürgerbeteiligung bei Großvorhaben in Taiwan und Deutschland bietet genügenden Anlass zur näheren Untersuchung über den Einsatz mehr direkter Demokratie im Planung- und Zulassungsverfahren von kontroversen Großprojekten.4 Der nachfolgende Beitrag befasst sich mit dem Gegenstand „projektbezogene Volksabstimmung“, die eine Form der Bürgerbeteiligung darstellt. Nach einem kurzen Überblick über die Schaukelpolitik zum Neubau eines vierten Kernkraftwerks in Taiwan (II.) wird die Zulässigkeit einer projektbezogenen Volksabstimmung in der geltenden taiwanesischen Rechtsordnung erörtert (III.). Zum Schluss werden die rechtspolitischen Möglichkeiten zum verbreiteten Einsatz einer Volksabstimmung im Rahmen der Lösung von ideologischen Grundsatzkonflikten unter besonderer Berücksichtigung der taiwanesischen Bürgergesellschaft und politischen Lage analysiert (IV.).
___________ 1 Zum Ablauf des Planungsverfahrens „Stuttgart 21“ näher Th. Groß, Stuttgart 21: Folgerungen für Demokratie und Verwaltungsverfahren, DÖV 2011, 510 f. 2 An der Volksabstimmung haben 48,3 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen. Vgl. http://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/mehrheit -stimmt-gegen-s-21-kuendigungsgesetz/. 3 Dazu näher H. Obermann, Entwicklung direkter Demokratie im Ländervergleich, LKV 2012, 242. 4 Zur Diskussion über die deutsche Rechtslage näher vgl. J. Ziekow, Neue Formen der Bürgerbeteiligung? Planung und Zulassung von Projekten in der parlamentarischen Demokratie. Gutachten D zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, D 111 ff.
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II. Schaukelpolitik beim Neubau eines vierten Kernkraftwerks 1. Zurückhaltende Phase Der Neubau eines vierten Kernkraftwerks hat zu anhaltenden Protesten geführt. Diese werden nicht nur von einzelnen Bürgern und Bürgerinnen, Wissenschaftlern, Umweltschutzorganisationen und Anti-Atomkraft-Organisationen sowie Trägern öffentlicher Belange etc. unterstützt, sondern auch von Politikern, Abgeordneten, Volksvertretungen auf Kommunalebene, politischen Parteien und sogar von der Regierung selbst. Wenn man die ursprüngliche Position der taiwanesischen Regierung zum hier interessierenden Infrastrukturprojekt betrachtet, ist deutlich festzustellen, dass die Politik, betreffend den Neubau eines vierten Kernkraftwerks, zwischen den „Pro“- und „Contra“-Argumenten hin und her schwankte.5 Als der Plan von der staatlichen Eigengesellschaft Taipower AG im Jahre 1984 zum zweiten Mal vorgestellt wurde, beschloss die Exekutive Yuan im Mai des darauffolgenden Jahres unter Berücksichtigung der geringeren Steigerung des Strombedarfs des Landes, den Bau eines vierten Kernkraftwerks zu verschieben. Dementsprechend blockierte die Legislative Yuan, die nach der taiwanesischen Verfassung als Parlament einzuordnen ist, die dafür beschlossenen Haushaltsmittel. 2. Phase der Fortsetzung des Atomenergieprogramms Im Jahre 1992 wurde die Verwendung der Haushaltsmittel für den Bau eines vierten Kernkraftwerks von der Legislative Yuan wiederum zugelassen. Im Juli 1994 wurden sogar in dem für einen Zeitraum von sechs Jahren beschlossenen Haushaltsplan Mittel für den Bau eines vierten Kernkraftwerks vorgesehen. Das Parlament verärgerte mit diesem Beschluss erneut Anti-Atomkraft-Organisationen. Um die Bevölkerung und die politische Lage zu beruhigen, beschloss das Plenum der Legislative Yuan am 24. Mai 1996 überraschenderweise den Baustopp für ein viertes Kernkraftwerk. Die Exekutive Yuan widersprach dem Beschluss und forderte gem. Art. 57 Nr. 2 Verfassung Republik China (im Folgenden „tw. Verf.“), der nun durch Art. 3 Abs. 2 Nr. 2 der Ergänzungsklausel zur Verfassung ersetzt wird, die Legislative Yuan auf, ihrem Beschluss erneut zuzustimmen. Die Legislative Yuan stimmte schließlich diesem Widerspruch zu. Damit wurde ihr Ausgangsbeschluss endgültig aufgehoben. Dies führte dazu, dass die Umsetzung des Atomenergieprogramms sich wiederum planmäßig fortsetzen ließ. ___________ 5 Vgl. Chien-Liang Lee, Zur verfassungsrechtlichen Streitigkeit über den Stillstand des Baus eines vierten Kernkraftwerks, The Taiwan Law Review 67 (2000), 37 f. (auf Chinesisch).
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3. Verfassungsrechtliche Streitigkeit aufgrund des Baustopps Mit der Präsidentenwahl im Jahre 2000 erlebte Taiwan zum ersten Mal seit 50 Jahren einen Regierungswechsel. Statt der Kuomintang (KMT) regierte die Demokratische Progressions-Partei (DPP), die zuvor die größte Oppositionspartei in Taiwan war. Die Energiepolitik der DPP tendiert seit langem zur Verwirklichung der Idee „Heimat ohne Atomkraft“. Kurz nach dem Regierungswechsel beschloss die Exekutive Yuan am 27. Oktober 2000, die vom Parlament bewilligten Haushaltsmittel für den Bau eines vierten Kernkraftwerks nicht zu verwenden. Ziel war es, den Bau des konfliktträchtigen Kernkraftwerks zu verhindern. Die Nichtverwendung der bewilligten Haushaltsmittel seitens der Regierung löste jedoch einen verfassungsrechtlichen Kompetenzkonflikt zwischen Exekutive und Legislative aus. Anlässlich dieser Streitigkeit haben die Hohen Richter, denen gem. Art. 78 f. tw. Verf. die ausschließliche Kompetenz zur Auslegung der Verfassung zusteht, mit der Auslegung Nr. 520 vom 15. Januar 2001 festgestellt, dass der Präsident der Exekutive Yuan oder die zuständigen Minister, aufgrund der politischen Verantwortung der Regierung gegenüber der Legislative Yuan und des verfassungsrechtlich verankerten Mitwirkungsrechtes der Legislative Yuan, bei wichtigen staatlichen Angelegenheiten gem. Art. 3 der Ergänzungsklausel zur tw. Verf. und § 17 des Gesetzes über die Wahrnehmung der Kompetenzen der Legislative Yuan dazu verpflichtet seien, der Legislative Yuan über die Nichtverwendung der Haushaltsmittel Bericht zu erstatten und eine Befragung des Parlaments zu akzeptieren, soweit sie sich auf die Änderung von Richtlinien bzw. wichtiger Staatspolitik beziehe. Daraus folgt, dass nach Auffassung der Hohen Richter die Verwendung bzw. Nichtverwendung der vom Parlament beschlossenen Haushaltsmittel nicht in allen Fällen im Ermessen der Exekutive liege. Daher dürfe sie darüber auch nicht einseitig entscheiden. Vielmehr hinge dies von der Art der Haushaltsmittel ab. Über die zur Änderung von Richtlinien oder wichtiger Staatspolitik beitragende Nichtverwendung von Haushaltsmitteln, z.B. die hier genannte zur Verwirklichung der Idee „Heimat ohne Atomkraft“ dienende Nichtverwendung der Haushaltsmittel für den Bau eines vierten Kernkraftwerks, entscheidet nicht nur die Regierung, sondern auch die Legislative Yuan. Im Ergebnis ist festzustellen, dass der Baustopp für ein viertes Kernkraftwerk mittels der Nichtverwendung der Haushaltsmittel von den Hohen Richtern als
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„Frage der wichtigen Staatspolitik“ angesehen wird.6 Darüber muss auch die Legislative Yuan mitentscheiden, um auch das in Art. 63 tw. Verf. vorgesehene Mitwirkungsrecht7 zu gewährleisten.
III. Projektbezogene Volksabstimmung im geltenden taiwanesischen Recht Die Frage, ob das Mammutinfrastrukturprojekt fortzusetzen oder einzustellen ist, war und ist, wie oben dargestellt, nicht nur zwischen Verfassungsorganen und Politikern umstritten. Sie führt vielmehr generell ständig zu kontroversen energiepolitischen Debatten in der Öffentlichkeit und im Einzelfall sogar zu häufigen bürgerkriegsartigen Protesten der taiwanesischen Anti-Atomkraft-Bewegung. Die Auslegung Nr. 520 der Hohen Richter kann zwar zur Lösung des Kompetenzkonflikts zwischen Exekutive und Legislative beitragen, aber keineswegs auch zur Überzeugung der „Wutbürger“.8 Besonders seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahre 2011 stößt der Bau eines vierten Kernkraftwerks auf der Hauptinsel in Taiwan, die selbst regelmäßig von Erdbeben erschüttert wird, auf zahlreiche Proteste. Angesichts des erheblichen Konfliktpotentials dieses Großprojekts hat der Präsident der Exekutive Yuan, Dr. Yi-huah Jiang, am 25. Februar 2013 vorgeschlagen, dass die Frage des Baustopps für den vierten Atommeiler direkt von Bürgerinnen und Bürgern in einer Volksabstimmung entschieden werden solle. Die Einführung einer seit langem von der Öffentlichkeit geforderten Form der Bürgerbeteiligung wird nun auch von der Regierung offiziell in Erwägung gezogen und ggf. sogar eingeleitet. Die Demokratisierung staatlicher Entscheidungen durch Formen der Volksabstimmung ist daher in Taiwan von aktueller Bedeutung.
___________ 6 Dennoch wurde diese Auslegung nicht von allen Hohen Richtern vertreten. Einige sprachen sich gegen die Einordnung der Angelegenheit in die allgemeine staatliche Energiepolitik aus. Es ginge hierbei nur um die behördliche Entscheidung über ein konkretes Infrastrukturprojekt. Kritisch dazu ähnlich vgl. Tzong-Li Hsu, Geburt eines Parlamentsstaats?! Anmerkung zur Auslegung Nr. 520 der Hohen Richter, in: ders., Recht und Staatsgewalt, Bd. 2, 2007, S. 394 ff. (auf Chinesisch). 7 Art. 63 der taiwanesischen Verfassung sieht vor, dass die Legislative Yuan das Recht hat, Gesetzentwürfe, Haushaltspläne, …. und „sonstige wichtige Angelegenheiten des Staates“ zu beschließen. 8 Das Wort „Wutbürger“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden zum deutschen „Wort des Jahres“ 2010 gewählt.
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1. Zum Begriff der Volksabstimmung Nach allgemeiner Auffassung wird der Begriff „Volksabstimmung“ generell als ein politisches Entscheidungsverfahren bezeichnet, in dem das Volk unmittelbar über politische Gegenstände abstimmt. Ziel ist es, dass es direkt Einfluss auf die staatliche Willensbildung nehmen kann. Im Unterschied zu anderen Formen der Bürgerbeteiligung, die lediglich auf eine Einbindung der Bürgerinnen und Bürger zum frühestmöglichen Zeitpunkt und bei größtmöglicher Offenheit der Entscheidungsalternativen gerichtet sind,9 bezieht sich die Volksabstimmung normalerweise auf die unmittelbare Entscheidung des Volkes über Gesetzesvorlagen oder konkrete politische Sachfragen. In diesem Sinne stellt die Volksabstimmung „die Bürgerbeteiligung mit der stärksten rechtlichen Verbindlichkeit“ dar. 2. Volksabstimmung aus verfassungsrechtlicher Sicht Angesichts der Gesetzgebung bzw. Sachentscheidung unmittelbar durch das Volk ist die Volksabstimmung sicherlich eine Form direkter Demokratie. Es fragt sich jedoch, wie die Debatte um eine direkte Demokratie und die daraus gewonnene Legitimationssteigerung bei kontroversen Großvorhaben in der Öffentlichkeit und Politik rechtlich zu beurteilen ist. Im Folgenden wird daher auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer projektbezogenen Volksabstimmung eingegangen. a) Direkte Demokratie in der taiwanesischen Verfassung Art. 2 tw. Verf. sieht vor, dass die Souveränität der Republik China dem gesamten Volk zusteht. In dieser Norm ist nach allgemeiner Meinung das Volkssouveränitätsprinzip verankert und daraus ergibt sich zugleich, dass Taiwan ein demokratischer Staat10 ist. In diesem Sinne kann diese Vorschrift unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden: Zum einen ist das Volk der höchste und letztliche Entscheidungsträger über alle auf die Staatsgewalt zurückzuführenden Angelegenheiten. Zum anderen muss alle Staatsgewalt vom Volk ausgehen und es
___________ 9
Vgl. J. Ziekow, a.a.O. (Fn. 4), S. D 100 ff.; M. Burgi, Das Bedarfserörterungsverfahren: Eine Reformoption für die Bürgerbeteiligung bei Großprojekten, NVwZ 2012, S. 277 ff. 10 Vgl. Tzung‐Jen Tsai, Die konkrete Struktur der Volkssouveränität im Verfassungsstaat und deren Fragen, in: ders., Verfassung und Staat, Bd. 1, 2004, S. 59 f. (auf Chinesisch).
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muss eine demokratische Legitimationsgrundlage für die Ausübung der Staatsgewalt vorhanden sein.11 Art. 2 tw. Verf. allein spricht sich noch nicht für eine bestimmte Form der Demokratie aus. Aus dem Kontext der verfassungsrechtlichen Regelungen ergibt sich erst, dass der taiwanesische Verfassungsgeber sich grundsätzlich für eine Staatsform „repräsentativer Demokratie“ entschieden hat.12 Politische Sachentscheidungen werden nämlich nicht unmittelbar durch das Volk selbst, sondern grundsätzlich durch vom Volk gewählte Abgeordnete getroffen (Art. 4 Abs. 1 der Ergänzungsklausel zur tw. Verf.). Das Volk in Taiwan handelt nämlich durch allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlen (Art. 129 tw. Verf.) und somit durch die gewählte, mit einem für vier Jahre befristeten Mandat ausgestattete Volksvertretung. Parallel zur repräsentativen Demokratie existiert in Taiwan auch eine direkte Demokratie, bei der das Volk in Form von Volksabstimmungen direkt Einfluss auf das politische Geschehen nehmen kann. Gem. Art. 17 tw. Verf. sind Bürgerinnen und Bürger dazu berechtigt, das Recht auf Durchführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auszuüben. Daraus ergibt sich, dass direktdemokratische Komponenten verfassungsrechtlich nicht völlig ausgeschlossen sind. Die Ausübung direkter Demokratie in Form von Volksabstimmungen wird vielmehr in der taiwanesischen Verfassung als politisches Grundrecht des Volkes bezeichnet.13 b) Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer projektbezogenen Volksabstimmung Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein projektbezogenes Volksbegehren oder ein projektbezogener Volksentscheid von dem in der Verfassung verankerten Begriff des Volksbegehrens bzw. Volksentscheides erfasst wird und damit verfassungsrechtlichen Rang hat. Dies ist in der Literatur umstritten, da der Begriff des ___________ 11 Vgl. Hwai-Tzong Lee, Grundriss Verfassungsrecht, 6. Aufl., 2012, S. 73. (auf Chinesisch). 12 Vgl. J. P. Fa/Bau-Cheng Dung, Verfassungsrecht – Neue Darstellung, 4. Aufl., 2010, S. 21. (auf Chinesisch). 13 Zu beachten ist, dass die Durchführung von Volksbegehren und Volksentscheiden zwar nach der taiwanesischen Verfassung zweifellos als politisches Grundrecht der Bürger betrachtet wird. Die Ausübung dieses Rechts lag jedoch gem. Art. 27 Abs. 2 vorrangig bei der Volksversammlung, die ein Verfassungsorgan mit der Kompetenz zur Ausübung bestimmter Volkssouveränitätsrechte darstellte. Dieses Verfassungsorgan wurde aufgrund einer Verfassungsänderung abgeschafft. Infolgedessen können Volksbegehren und Volksentscheide nach der geltenden taiwanesischen Verfassung unmittelbar von Bürgerinnen und Bürgern durchgeführt werden, soweit das Nähere durch ein Gesetz geregelt wird. Zum Überblick über diese Verfassungsentwicklung vgl. Shu-Perng Hwang, Das gegen direkte Demokratie widersprechende Volksabstimmungsgesetz?, SOCIETAS: A Journal for Philosophical Study of Public Affairs No. 37, 2011, S. 81 ff. (auf Chinesisch).
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Volksbegehrens bzw. Volksentscheides als solche verfassungsrechtlich nicht definiert werden. Abgesehen von den Sonderregelungen gem. Art. 4 Abs. 5 und Art. 12 der Ergänzungsklausel zur tw. Verf., die den obligatorischen Volksentscheid über die Änderung des staatlichen Territoriums und die Verfassungsänderung regeln, fehlen Bestimmungen über den Gegenstand, das Verfahren und die Reichweite sonstiger Volksbegehren und Volksentscheide auf Verfassungsebene. Das Nähere kann jedoch durch ein Gesetz geregelt werden (Art. 136 tw. Verf.). Dem Gesetzgeber werden damit Gestaltungsspielräume für die Durchführung von Volksbegehren und Volksentscheiden eingeräumt. Allerdings beziehen sich Volksbegehren und Volksentscheid im Sinne des Art. 17 tw. Verf. nach enger Auffassung in der Literatur unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der Verfassung allein auf die „Gesetzgebung“ und werden daher als Instrumente der „unmittelbaren Volksgesetzgebung“ bezeichnet,14 dem ein „Misstrauen gegenüber der Volksvertretung“ zugrunde liegt. Während mittels eines Volksbegehrens Bürgerinnen und Bürgern in Form der Abstimmung den Entwurf einer Rechtsnorm in ein Volksvertretungsorgan unmittelbar einbringen können, zielt ein Volksentscheid in der Regel darauf ab, einem erfolgreichen Volksbegehren oder einer vom Volksvertretungsorgan beschlossenen Rechtsnorm zuzustimmen oder es bzw. sie abzulehnen. Zu beachten ist, dass Volksbegehren und Volksentscheid nicht nur auf Zentralregierungsebene durchgeführt werden können, sondern gem. Art. 123 tw. Verf. auch auf Landkreisebene, soweit es sich um Selbstverwaltungsangelegenheiten handelt. In diesem Zusammenhang ist der Gegenstand eines Volksbegehrens und Volksentscheides auf Landkreisebene selbstverständlich die „kommunale Satzung“. Daraus folgt, dass ein Volksbegehren oder Volksentscheid über „einzelne politische Sachfragen“, z.B. über den Bau eines Kernkraftwerks, nach zutreffender Auffassung sowohl auf Zentralregierungsebene als auch auf Landkreisebene verfassungsrechtlich unzulässig ist.15 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass eine projektbezogene Volksabstimmung auf Zentralregierungs- und Landkreisebene in Taiwan keine verfassungsrechtliche Grundlage findet.
___________ 14 Vgl. Hwai-Tzong Lee (Fn. 11), S. 325 f.; Shin-Min Chen, Darstellung zur Verfassung der Republic China, 7. Aufl., 2011, S. 378 f. (auf Chinesisch). 15 Vgl. Tzong-Li Hsu, Verfassungsrecht und Volksabstimmung: Verfassungsmäßige Analyse und institutionelle Gestaltung einer Volksabstimmung, in: ders., Verfassungsrecht und rechtsstaatliche Verwaltung, 1999, S. 74. (auf Chinesisch).
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3. Projektbezogene Volksabstimmung im Volksabstimmungsgesetz Um das in der Verfassung verankerte Recht des Volkes auf Durchführung von Volksbegehren und Volksentscheiden zu realisieren und damit direkte Demokratie zu verwirklichen, wurde in Taiwan das Volksabstimmungsgesetz (VabstG) am 27. November 2003 vom Parlament beschlossen, das am 2. Januar 2004 in Kraft trat.16 Damit ist die allgemeine gesetzliche Grundlage für direkte Demokratie in Form von Volksabstimmungen geschaffen worden.17 Der Erlass des Volksabstimmungsgesetzes als solches wird von den Hohen Richtern durch die Auslegung Nr. 645 vom 11. Juli 2008 mit der folgenden Begründung für verfassungsgemäß erklärt: „Die Entscheidung des Volkes über die staatliche Willensbildung in Form von Volksbegehren und Volksentscheid wird in Art. 17 und 136 tw. Verf. ausdrücklich vorgesehen. Es verstößt deswegen nicht gegen die Verfassung, wenn das Gesetzgebungsorgan unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für die Struktur repräsentativer Demokratie das Volksabstimmungsgesetz beschlossen hat und dem Volk die Möglichkeit zur unmittelbaren Meinungsäußerung über wesentliche Politik usw. einräumt. Das Gesetz fördert die Durchführung von Volksbegehren und Volksentscheiden.“
Nach dem Inkrafttreten des VabstG haben bislang insgesamt sechs Volksabstimmungen auf nationaler Ebene stattgefunden,18 die alle aber an der FünfzigProzent- Hürde bezüglich des Abstimmungsquorums scheiterten. Die Volksabstimmung im Sinne des VabstG lässt sich zwischen der Volksabstimmung auf nationaler Ebene und der auf kommunaler Ebene unterscheiden (§ 2 Abs. 1 VabstG). Zur Volksabstimmung auf nationaler Ebene zählen Volksentscheide über Gesetze, Volksbegehren über gesetzgeberische Grundsätze, Volksbegehren oder Volksentscheide über wichtige Politik und Volksentscheide über Verfassungsänderungen. Im Vergleich dazu umfasst die Volksabstimmung ___________ 16
Es ist zuletzt am 17. Juni 2009 geändert worden. Darüber hinaus werden in Taiwan die Zulässigkeit und Durchführung einer Volksabstimmung über eine bestimmte Sachfrage auch in Spezialgesetzen geregelt. Z.B. sollen lokale Volksabstimmungen gem. § 10b Abs. 1 des Gesetzes über die Entwicklung der vorgelagerten Inseln Taiwans in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Januar 2013 stattfinden, die die Errichtung von Casinos auf den vorgelagerten Inseln zum Gegenstand haben. In der Praxis fand diese sog. Glücksspiel-Volksabstimmung kürzlich am 7. Juli 2012 auf der Insel Matsu statt. Das Abstimmungsergebnis fiel zugunsten der Errichtung von Casinos auf der Insel aus. 18 Dazu zählen die am 20. März 2004 stattgefundenen Abstimmungen über die Verstärkung der staatlichen Verteidigung und die faire Verhandlung mit der Volksrepublik China, die am 20. Januar 2008 durchgeführten Abstimmungen über die Rückgabe des Vermögens durch die politische Partei Kuomintang (KMT) und Anti-Korruption sowie die Abstimmungen vom 20. März 2008 über den Beitritt zur UN und die Rückkehr in die UN. 17
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auf kommunaler Ebene nur Volksentscheide über kommunale Satzungen, Volksbegehren über die im Rahmen der Satzungsgebung zu beachtenden Grundsätze sowie Volksbegehren oder Volksentscheide über wichtige Politik für kommunale Selbstverwaltungsangelegenheiten (§ 2 Abs. 2 VabstG). Über Haushalts-, Abgaben-, Investitions-, Besoldungs- und Personalangelegenheiten dürfen keine Volksabstimmungen durchgeführt werden (§ 2 Abs. 3 VabstG). Im Zusammenhang mit der hier zu untersuchenden Thematik stellt sich die Frage, ob eine projektbezogene Volksabstimmung auch von den im VabstG vorgesehenen Volksabstimmungen erfasst wird. Zunächst ist zu erklären, wie eine projektbezogene Volksabstimmung aufgrund ihres unscharfen terminologischen Ausdrucks sich in die Regelungsstruktur des VabstG einordnen lässt. Diese könnte unter verschiedene Erscheinungsformen der Volksabstimmung fallen. Sie stellt z.B. einen „Volksentscheid über ein Gesetz“ dar, wenn die Planung, Zulässigkeit oder Durchführung eines bestimmten Großvorhabens durch ein Gesetz umgesetzt worden ist und nun als projektbezogenes Maßnahmegesetz Gegenstand der Volksabstimmung wird.19 In diesem Fall fällt eine projektbezogene Volksabstimmung unproblematisch in den Anwendungsbereich des VabstG. Nicht ganz eindeutig ist die rechtliche Einordnung, wenn ein kontroverses Projekt nicht in Gestalt eines Gesetzes beschlossen wurde. In Betracht kommt hierbei ein „Volksbegehren oder Volksentscheid über wichtige Politik“, wenn es als solches politisch derart bedeutsam wäre. Für die Beantwortung dieser Frage ist die folgende Untersuchung daher nur auf die Volksabstimmung über wichtige Politik zu beschränken. a) Die Entstehungsgeschichte Die Exekutive Yuan hat am 28. März 2001 den Entwurf eines Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid vorgestellt. In § 2 Abs. 2 dieses Entwurfs wurde zunächst ein Volksentscheid über wichtige gemeinwohlbezogene Staatspolitik ausdrücklich verankert. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der anschließende § 3 des Entwurfs Folgendes vorsah: „Ein Volksentscheid über wichtige Politik hinsichtlich der Schaffung von Infrastrukturen, die die Lebensinteressen der in einem bestimmten Kreis des Standortes des Infrastrukturvorhabens wohnhaften Bürger beeinträchtigen könnten, kann nach Feststellung des Überprüfungsausschusses in der Weise durchgeführt werden, dass über den Volksentscheid 1. 2.
von den innerhalb des Kreises wohnhaften Bürger entschieden wird, oder von den innerhalb des Kreises wohnhaften Bürgern und von den außerhalb des Kreises wohnhaften Bürgern nacheinander entschieden wird.“
___________ 19 Zur näheren Analyse der Zulässigkeit des Erlasses eines ausschließlich auf ein konkretes Infrastrukturvorhaben gerichteten Gesetzes vgl. Chien-Liang Lee (Fn. 5), S. 41 ff.
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Dadurch wurde eine Volksabstimmung über Infrastrukturvorhaben bewusst eingefügt, soweit dadurch eine starke Beeinträchtigung der Interessen der benachbarten Einwohner möglicherweise verursacht werden könnte. Der Grund lag darin, dass in der öffentlichen Debatte eine kontroverse Staatspolitik häufig mit Infrastrukturvorhaben eng verbunden war. Die Durchführung direkter Demokratie in Form von Volksentscheiden über Infrastrukturvorhaben könnte möglicherweise Beiträge zur effizienten Lösung politischer Konflikte leisten.20 Daraus folgte, dass ein Volksentscheid über wichtige Politik hinsichtlich der Schaffung von Infrastrukturen in § 3 des Entwurfs eine „Sonderform zum Volksentscheid über die allgemeine wichtige gemeinwohlbezogene Staatspolitik gem. § 2 Abs. 2“ darstellte. Die Regelung zum Volksentscheid über Infrastrukturvorhaben wurde jedoch in dem von der Exekutive Yuan selbst später vorgestellten Entwurf des Gesetzes über Volksabstimmung vom 29. Oktober 2004 gestrichen. Diese normative Lage bleibt auch im geltenden VabstG unverändert. b) Die Auffassung der Hohen Richter Über die Frage, ob die Feststellung oder Änderung eines konkreten Großprojektes seitens der Regierung mit der wichtigen Staatspolitik gleichgestellt werden kann, hat das taiwanesische Verfassungsinterpretationsorgan, die Hohen Richter, bereits im Zusammenhang mit der oben dargelegten verfassungsrechtlichen Streitigkeit über die Nichtverwendung der von der Legislative Yuan bewilligten Haushaltsmittel für den Bau eines vierten Kernkraftwerks entschieden,21 dass der Bau eines vierten Kernkraftwerks unvermeidlich im engen Zusammenhang mit der Energiespeicherung, der Umweltpolitik und der Wirtschaftsentwicklung stehe. In Anbetracht der beträchtlichen Haushaltsmittelausgaben und der aufgrund des Baustopps für das Infrastrukturvorhaben resultierenden Kompliziertheit für die Lösung der verbleibenden Probleme solle die Nichtverwendung der Haushaltsmittel für den Bau eines vierten Kernkraftwerks als Änderung der „wichtigen Staatspolitik“ angesehen werden. Daraus folgt, dass ein von der öffentlichen Hand geplantes und durchgeführtes konkretes Infrastrukturvorhaben seinem Wesen nach zugleich als wichtige Staatspolitik gelten kann, soweit es für Politik, Wirtschaft, Umwelt, Kultur etc. des Staates von allgemeiner Bedeutung ist. Obwohl die Auslegung Nr. 520 der Hohen Richter vor dem Inkrafttreten des VabstG erfolgte, gilt sie bislang noch als verbindliche Verfassungsinterpretation ___________ 20 Vgl. Wen-Shih Liu/Yu-Chi Lin, Die gesetzgeberische Richtung der Institution von Volksabstimmungen in Taiwan – im Mittelpunkt des Entwurfs eines Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid von 2001, The Constitutional Review Vol. 27 Nr. 2, Okt. 2001, S. 87 f. (auf Chinesisch). 21 Die Auslegung Nr. 520 der Hohen Richter vom 15. Januar 2001.
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fort. Daraus ergibt sich, dass aufgrund der Auffassung der Hohen Richter eine Volksabstimmung über ein kontroverses konkretes Infrastrukturprojekt als eine Volksabstimmung über wichtige Politik im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 3 und Abs. 3 Nr. 3 VabstG zu qualifizieren ist, soweit das betroffene Projekt als Teil der wichtigen staatlichen oder kommunalen Politik beurteilt werden kann oder es deren Umsetzung dient. In diesem Kontext kann man grundsätzlich davon ausgehen, dass für eine Volksabstimmung über den Baustopp für ein viertes Kernkraftwerk eine Rechtgrundlage in 2 Abs. 2 Nr. 3 VabstG gesehen werden kann. c) Kritik in der Literatur Der dargestellten Rechtsauffassung der Hohen Richter sind jedoch einige Stimmen aus der Literatur mit entkräftenden Argumenten entgegengetreten. Nach deren Meinung sei der Baustopp für ein viertes Kernkraftwerk lediglich eine „konkrete Verwaltungsentscheidung“ im Einzelfall. Es handele sich hierbei überhaupt nicht um eine staatliche Politik, die auf einen bestimmten Staatszweck gerichtete Planung, gerichteten Prozess und gerichtete Tätigkeit zum Inhalt hat. Der Ausstieg aus der Atomenergie betreffe ohne Zweifel die staatliche Energiepolitik. Zwar diene der Bau oder Baustopp für ein viertes Kernkraftwerk der Verwirklichung der atomkraftfreien Energiepolitik, jedoch sei darin noch keine Wende in der Energiepolitik zu sehen. In diesem Zusammenhang sei es rechtlich sehr bedenklich, wenn ein Volksentscheid über den Baustopp für ein viertes Kernkraftwerk aufgrund des § 2 Abs. 2 Nr. 3 VabstG stattfinde.22 Darüber hinaus gehen einige Stimmen aus der Literatur von der verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit der sog. „Politikvolksabstimmung“ aus und vertreten die Meinung, dass die im § 2 Abs. 2 Nr. 3 VabstG geschaffene Volksabstimmung über „konkrete wichtige Staatspolitik“ sowohl auf Zentralregierungs- als auch auf Landkreisebene die verfassungsrechtlich zulässige Grenze für die Ausübung direkter Demokratie überschreite und verfassungswidrig sei.23 Denn direkte Demokratie diene in der taiwanesischen demokratischen Verfassungsordnung nur subsidiär zur Ergänzung repräsentativer Demokratie. Direkte Demokratie dürfe daher insofern nur ausgeübt werden, wenn die verfassungsrechtliche Grundstruktur für repräsentative Demokratie und das ihr zugrunde liegende Gewaltenteilungsprinzip unverändert bleibe.24 Diese Hürde der Ausübung direkter Demokratie sei eben von den Hohen Richtern in ihrer Auslegung Nr. 645 anerkannt wor___________ 22
Vgl. Hwai-Tzong Lee (Fn. 11), S. 359. Vgl. Tzong-Li Hsu (Fn. 15), S. 74. 24 Vgl. Bau-Tscheng Dung, Die Volksabstimmung und der Entwurf des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid, The Constitutional Review Vol. 27 Nr. 2, Okt. 2001, S. 96 (auf Chinesisch). 23
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den. Aufgrund des Gewaltenteilungsprinzips zähle die Kompetenz zur Gestaltung und Durchführung der konkreten wichtigen Staatspolitik traditionell zum Kernbereich der Exekutive. Infolgedessen sei es verfassungswidrig, wenn der Gesetzgeber im VabstG dem Volk die der Exekutive vorbehaltene Kernkompetenz für die Entscheidung über wichtige Staatspolitik übertrage.25 d) Eigene Stellungnahme Bei den oben geschilderten Meinungsverschiedenheiten über die Rechtmäßigkeit einer Volksabstimmung zum Fortgang eines staatlichen Großprojekts sind zwei zentrale Fragen von Bedeutung, die auch miteinander verknüpft sind: Kann „wichtige Staatspolitik“ als solche Gegenstand einer verfassungsmäßigen Volksabstimmung sein? Wenn dies bejaht wird, dann stellt sich als zweite Frage: Fällt die Entscheidung über ein konkretes Großprojekt unter „wichtige Staatspolitik“? aa) Mitentscheidung der Legislative über wichtige Staatspolitik? Zur Beantwortung der ersten Frage ist die Ausgestaltung des Gewaltenteilungsverhältnisses zwischen Exekutive und Legislative in der taiwanesischen Verfassungsordnung heranzuziehen. Im Hinblick auf das Gewaltenteilungsprinzip ist die Gestaltung der Richtlinien der wichtigen Regierungspolitik und deren Durchführung grundsätzlich der Exekutive Yuan vorbehalten. Die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung besteht nicht nur in einem mechanischen Gesetzesvollzug, sondern genießt vielfältige Entscheidungsspielräume. Ein typisches Beispiel dafür ist die Planung und Festlegung der wichtigen Regierungspolitik. Im Gegensatz dazu ist die Legislative Yuan als direkt gewählte Volksvertretung funktionell für die Kontrolle der Regierung zuständig. Die bloße Existenz eines Parlaments und einer Regierung macht, wie Klaus Stern zutreffend geschildert hat, allerdings noch keine parlamentarische Regierung aus. Nur bestimmte systemprägende, den Vertrauens- und Verantwortlichkeitszusammenhang konkretisierende Beziehungen zwischen Parlament und Regierung gestatten es, von einem parlamentarischen Regierungssystem zu sprechen.26 Für die effiziente Wahrnehmung der Funktion als Regierungskontrolle stellt die taiwanesische Verfassung der Legislative Yuan mehrere Instrumente zur Verfügung. Dazu zählen Fragestunden, Regierungsbefragungen (Art. 3 Abs. 2 Nr. 1 Ergänzungsklausel zur tw. ___________ 25 Tzong-Li Hsu (Fn. 6), S. 392; Tzung‐Jen Tsai, Streitigkeiten über die Volksabstimmung aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: Tzung‐Jen Tsai (Fn. 10), S. 426 (auf Chinesisch). 26 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 22, S. 973 f.
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Verf.) und das sogenannte Misstrauensvotum (Art. 3 Abs. 2 Nr. 3 Ergänzungsklausel zur tw. Verf.). Darüber hinaus hat die Legislative Yuan gem. Art. 63 tw. Verf. auch das Mitwirkungsrecht bei wichtigen Staatsangelegenheiten. Daher verstößt die (Mit)Entscheidung des Organs der Legislative über wichtige Regierungspolitik als solche meines Erachtens grundsätzlich nicht gegen das Gewaltenteilungsprinzip, das zu den Grundsätzen der taiwanesischen Verfassung gehört.27 Vielmehr entspricht die Mitwirkung der Legislative Yuan aus Sicht der „funktionalen Gewaltenteilung“ dem in der Verfassung konstruierten Modell der staatlichen Willensbildung. Die Gestaltung und Durchführung der Regierungspolitik mit dem absoluten Vorbehalt der Exekutive sind meiner Meinung nach dem verfassungsrechtlichen System der Gewaltenteilung kaum zu entnehmen. Unter der Voraussetzung, dass das Mitwirkungsrecht der Legislative Yuan bei wichtiger Regierungspolitik verfassungsrechtlich bejaht wird, ist die Legislative Yuan ferner dazu berechtigt, selbst das Mitwirkungsrecht auszuüben oder einen Volksentscheid über die Staatspolitik einzuleiten. Daraus folgt, dass die Einführung einer Volksabstimmung über wichtige Staatspolitik durch das taiwanesische Volksabstimmungsgesetz nicht gegen die verfassungsrechtliche Grundstruktur der Gewaltenteilung verstößt und daher nicht verfassungswidrig ist.28 Mit anderen Worten stellt die Einfügung der Volksabstimmung über wichtige Staatspolitik in § 2 Abs. 2 Nr. 3 VabstG keinen willkürlichen Akt des Gesetzgebers dar, sondern hat eine verfassungsrechtliche Grundlage. Dadurch wird der Kernbereich der Exekutive grundsätzlich nicht berührt. bb) Ein konkretes Großprojekt als wichtige Staatspolitik? Es stellt sich weiter die Frage, ob ein konkretes Großprojekt unter „wichtige Staatspolitik“ fällt. Die Beantwortung dieser Frage hängt vom Verständnis des Begriffs „Politik“ ab. Hierbei kann in der Regel zwischen der Politik im weiteren Sinne und im engeren Sinne unterschieden werden. Während erstere alle politischen Willensbildungen und -erklärungen umfasst, bezieht letztere sich lediglich auf die für die Erfüllung von staatlichen Aufgaben geltenden Richtlinien und die grundsätzliche Zielsetzung der Verwaltungstätigkeiten in bestimmten Bereichen, ___________ 27 Mit Blick auf die deutsche Rechtslage sind Entscheidungen über projektbezogene Angelegenheiten auch nicht zwingend der Exekutive vorbehalten, sondern können im Ausnahmefall auch von der Legislative getroffen werden. Vgl. BVerfGE 95, 1 (StendalEntscheidung); W. Ewer, Kein Volksentscheid über die Zulassung von Infrastrukturprojekten, NJW 2011, S. 1929. 28 In diese Richtung auch Hwai-Tzong Lee (Fn. 11), S. 361. Er stellt fest, dass eine Volksabstimmung nicht deswegen gegen die verfassungsrechtliche Grundwertordnung verstößt, wenn es lediglich um einen Formwechsel der parlamentarischen Kontrolle gegenüber der Regierung geht oder die Rechtsbindung des Ergebnisses der Volksabstimmung nur „ex nunc“ wirkt.
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wobei konkrete Verwaltungsentscheidungen über einzelne Verwaltungsplanungen auszuschließen sind. Daher kann ein konkretes Großprojekt vom Begriff „Politik im weiteren Sinne“ erfasst werden, aber keineswegs vom Begriff „Politik im engeren Sinne“, weil es bei der Planung und Durchführung eines großen Infrastrukturvorhabens grundsätzlich nicht um eine allgemeine Richtlinie oder Zielsetzung des betroffenen Aufgabenbereichs geht, sondern um einen konkreten Einzelfall. Ein ähnlicher terminologischer Unterschied ist auch zwischen Art. 63 tw. Verf. und § 2 Abs. 2 Nr. 3 VabstG festzustellen. Während die Legislative Yuan gem. Art. 63 tw. Verf. zur Mitwirkung bei „wichtigen Staatsangelegenheiten“ berechtigt ist, beschränkt sich die Volkabstimmung im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 3 VabstG nur auf Volksbegehren oder Volksentscheid über „wichtige Politik“. In aller Regel wird der Begriff „Angelegenheit“ weiter als der Begriff „Politik“ verstanden. Staatsangelegenheit als Sammelbegriff umfasst nicht nur die Politik, sondern grundsätzlich auch die auf den Einzelfall bezogene Verwaltungsentscheidung. In diesem Sinne hat der Gesetzgeber theoretisch gesetzgeberische Gestaltungsspielräume, seine verfassungsrechtliche Kompetenz zur Entscheidung über konkrete Infrastrukturprojekte dem Volk zu übertragen, das im Rahmen von Volksabstimmungen darüber bestimmen kann. Trotzdem ist der Begriff „wichtige Politik“ in § 2 Abs. 2 Nr. 3 VabstG meines Erachtens eng zu verstehen. Er bezieht sich nur auf die staatliche Willensbildung mit dem relativ abstrakten Charakter. Auszuschließen sind dabei konkrete Sachfragen und Einzelfälle. In diesem Sinne darf der Begriff der Politik nicht mit dem des Einzelfalls und dem des konkreten Vorhabens verwechselt werden. Der Grund hierfür besteht vor allem darin, dass das Volk bei einer Entscheidung durch Volksbegehren und Volksentscheid im Lichte des Institutionszweckes als „Gesetzgeber“ tätig wird. Die Volksabstimmung als direktdemokratische Bürgerbeteiligung zielt in erster Linie darauf ab, die Funktion der Legislative zu ergänzen. In diesem Kontext steht die Volksgesetzgebung auf jeden Fall im Vordergrund, bei der das Volk eine Entscheidung der Legislative über die von ihm eingebrachte Gesetzesvorlagen oder gesetzgeberischen Grundsätze herbeiführen kann. Außerdem kann es über Gesetze der Legislative entscheiden. Die Volksabstimmung über ein konkretes Infrastrukturprojekt würde zu weit gehen, so dass der verfassungsrechtlich vorbehaltliche Kernbereich der Kompetenz der Exekutive zur Planungsgestaltung und -durchführung berührt werden würde. Im Rahmen der Grundentscheidung für das System repräsentativer Demokratie in der taiwanesischen Verfassung ist die direktdemokratische Bürgerbeteiligung an politischer Willensbildung durch Volksabstimmungen zwar nicht von vornherein ausgeschlossen. Jedoch kann sie nicht dazu führen, dass der Rolle der Exekutive vollständig vom Volk übernommen wird. Obwohl der Legislative Yuan gem. Art. 63 tw. Verf. das Mitwirkungsrecht bei „wichtigen Staatsangelegenheiten“ zusteht und nach der Auslegung Nr. 645 der Hohen Richter deren Zustimmung im Rahmen der Änderung „wichtiger Politik“ erforderlich ist, ersetzt sie dennoch
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insoweit auf keinen Fall die Funktion der Exekutive und wird daher nicht als „Entscheidungsträger einer konkreten Fachplanung“ tätig. Die Rolle der Legislative Yuan als demokratischer „Kontrolleur“ soll im System der verfassungsrechtlichen Gewaltenteilung unverändert bleiben. Dies gilt ebenfalls für die Volksabstimmung über wichtige Politik. Ein minimaler politischer Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum für ein konkretes Großvorhaben muss daher der Exekutive vorbehalten bleiben. Daher kann ein konkretes Großvorhaben meines Erachtens nicht unter die Volksabstimmung im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 3 VabstG fallen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass unter Berücksichtigung der in Art. 63 tw. Verf. verankerten Struktur der Gewaltenteilung eine Volksabstimmung über wichtige Staatspolitik nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 VabstG in der Regel verfassungsrechtlich unproblematisch ist. Allerdings zählt ein konkretes Großprojekt grundsätzlich nicht zum Begriff „wichtige Staatspolitik“. Es stellt vielmehr einen konkreten Verwirklichungsakt der Politik dar. Daher ist z. B. eine Volksabstimmung über die Frage, ob die Atomenergie in Taiwan weiterhin genutzt werden soll, im geltenden taiwanesischen Recht zulässig, weil sie eindeutig die staatliche Energiepolitik betrifft. Im Gegenteil dazu ist jedoch eine Entscheidung über den Weiterbau oder Baustopp für ein konkretes Kernkraftwerk mittels Volksabstimmung verfassungsrechtlich sehr bedenklich.
IV. Rechtspolitische Analyse zur direktdemokratischen Bürgerbeteiligung bei Großprojekten Die Erfahrungen mit dem Bau eines vierten Kernkraftwerks haben in Taiwan eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit ausgelöst, die Forderungen nach direktdemokratischer Bürgerbeteiligung an Planung, Zulassung und Durchführung von Großprojekten gestärkt hat. Gefordert wird nicht nur die verstärkte Demokratisierung im Verwaltungsverfahren, die vor allem in Deutschland ein aktuelles Thema ist,29 sondern auch die unmittelbare Beteiligung an der politischen Willensbildung durch Volksabstimmungen. Es stellt sich daher die Frage, ob es sich aus rechtspolitischer Sicht empfiehlt, das direktdemokratische Instrument von projektbezogenen Volksabstimmungen in das taiwanesische Rechtssystem einzuführen. ___________ 29 Vgl. J. Ziekow (Fn. 4), S. D 76 ff.; ders., Frühe Öffentlichkeitsbeteiligung. Der Beginn einer neuen Verwaltungskultur, NVwZ 2013, S. 754 ff.; W. Erbguth, Infrastrukturgroßprojekte: Akzeptanz durch Verfahren und Raumordnung, DÖV 2012, S. 821 ff.; M. Burgi/W. Durner, Modernisierung des Verwaltungsverfahrensrechts durch Stärkung des VwVfG, 2012; W. Hertel/Chr.-D. Munding, „Frühe Öffentlichkeitsbeteiligung“ bei der Planung von Großvorhaben, NJW 2012, S. 2622 ff.
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Viele haben den Einwand vorgebracht, dass die Planfeststellung von Großprojekten wegen der Notwendigkeit der Durchführung von hochkomplexen Abwägungsprozessen ungeeignet sei, dem Ja/Nein-Schema einer Volksabstimmung unterworfen zu werden.30 Im Hinblick auf die Qualität von Infrastrukturgroßprojekten ist diesem Einwand grundsätzlich zuzustimmen. Freilich kommt den Befürwortern für projektbezogene Volksabstimmungen zugute, dass aufgrund einer Volksabstimmung über ein hoch kontroverses Infrastrukturprojekt mehr demokratische Legitimation für die Wahrung oder Änderung des betroffenen Vorhabens gewonnen werden kann.31 In Bezug auf die taiwanesische politische Lage haben sich die Gegensätze zwischen Bürgern und der Regierung immer mehr verschärft. Das Volk hat das Vertrauen in die Politik verloren. Proteste gegen die Regierungspolitik und Infrastrukturvorhaben gehören seit langem zum Alltag in der taiwanesischen Gesellschaft. Hinzu kommt, dass die politischen Parteien, insbesondere die Opposition, häufig die umweltbelastenden oder sicherheitsbedenklichen Infrastrukturgroßvorhaben als Instrument des politischen Kampfes ausnutzen und das Volk zur direktdemokratischen Beteiligung durch Volksabstimmungen aufrufen. Eine hitzige und unvernünftige Debatte um das umstrittene Bauprojekt „viertes Kernkraftwerk“ hat vor kurzem sogar eine Massenprügelei im taiwanesischen Parlament ausgelöst.32 Wie oben bereits skizziert wurde, hat der Streit um den Bau oder Baustopp für ein viertes Kernkraftwerk in Taiwan über 30 Jahre gedauert und ist immer noch nicht beigelegt.33 Die ideologische Trennlinie zwischen Befürwortern und Gegnern hinsichtlich des Baus des umstrittenen Kernkraftwerks ist so eindeutig, dass die Meinungsverschiedenheiten kaum zu überwinden sind. Aus diesen Gründen könnte die direktdemokratische Bürgerbeteiligung an der Durchführung von kontroversen Großprojekten mittels projektbezogener Volksabstimmung möglicherweise einen Beitrag zur politischen Einigkeit leisten. In ___________ 30
Vgl. z. B. W. Ewer (Fn. 27), S. 1329 ff. Vgl. Chun-Sheng Chen, Die Lösung der Problematik zum „vierten Kernkraftwerk“ unter dem Aspekt des Rechtsstaatsprinzips, The Taiwan Law Review 67 (2000), 27 f. (auf Chinesisch). 32 Über diese Schlägerei berichteten sogar auch deutsche Nachrichtenagenturen. Z. B. hat das bekannte Nachrichtenmagazin Stern auf seiner Webseite wie folgt berichtet: „Diesmal war eine hitzige Parlamentsdebatte um ein neues Atomkraftwerk in Taipeh Auslöser der Schlägerei. Über die Frage, ob das Volk in einem Referendum über einen Baustopp für Taiwans vierten Atommeiler nahe der Hauptstadt Taipeh entscheiden soll, brachte die Parlamentarier in Rage. Die Opposition stemmt sich gegen das Projekt und begründet dies mit Sicherheitsbedenken, die regierende Kuomintang-Partei (KMT) warnt hingegen vor Problemen bei der Energieversorgung und wirtschaftlichen Einbußen, falls das Mammutprojekt eingestellt werden sollte.“ Vgl. http://www.stern. de/ panorama/eklat-im-parlament-pruegelei-made-in-taiwan-2046306.html. 33 Siehe oben III. 3. a). 31
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diesem Kontext hat Christian Pestalozza zutreffend geschildert: „Einer Demokratie steht nicht schlecht an, wenn sie ihre Bürger – auch außer der Reihe – befragt. Sie gesteht damit keine Schwäche ein, sondern beweist einen ganz natürlichen Willen zur Kooperation mit dem Souverän. Dazu braucht sie nicht einmal überzeugt zu sein, dass der Bürger die betreffende Frage ‚besser‘ entscheiden kann als der Berufspolitiker.“34 Die Ausweitung der Bürgerbeteiligung an umstrittenen Großvorhaben mittels Volksabstimmungen soll freilich sehr vorsichtig erfolgen, damit die Funktionsfähigkeit der Exekutive und Legislative in der demokratischen Verfassungsordnung nicht vollständig beseitigt wird. Rechtspolitisch gesehen sind meines Erachtens vor allem folgende Überlegungen maßgeblich: Der Gegenstand der Volksabstimmung soll sich nach wie vor auf „wichtige Politik“ beschränken. Es empfiehlt sich sowohl theoretisch als auch praktisch nicht, eine Volksabstimmung unmittelbar über konkrete Großvorhaben einzuführen, wie § 3 des Regierungsentwurfs eines Volksabstimmungsgesetzes im Jahr 2001 es ursprünglich vorsah. Diese Einschränkung von Volksabstimmungsgegenständen hat den Vorteil, dass eine Verfassungsänderung nicht erforderlich ist. Allerdings könnte man möglicherweise den Begriff der wichtigen Politik in gewissem Maße weiter verstehen. Darunter könnte ein Infrastrukturvorhaben fallen, das wesentliche Auswirkungen auf die Belange einer größeren Zahl von Bürgerinnen und Bürgern hat oder eine Schlüsselstellung bei der Änderung einer bestimmten wichtigen Politik einnimmt. Die formellen Hürden für die direktdemokratische Bürgerbeteiligung im geltenden taiwanesischen Volksabstimmungsgesetz sollen durch Gesetzänderung beseitigt oder zumindest verringert werden, damit die unmittelbare Entscheidung des Volkes über die politische Willensbildung nicht allein von formeller Bedeutung ist. Gemeint sind hiermit z.B. die zu hohen Abstimmungsquoren (§ 30 VabstG), das kritische Überprüfungsverfahren des Überprüfungsausschusses für die Volksabstimmung (§§ 9 ff. VabstG) sowie die unklare Darstellungsweise der im Rahmen von Volksabstimmungen vorzulegenden Fragestellungen.
V. Fazit Es gibt heutzutage kaum ein größeres Infrastrukturvorhaben, das in der politischen Öffentlichkeit nicht hoch umstritten ist bzw. nicht auf Proteste stößt. Die ___________ 34
S. 733.
Chr. Pestalozza, Volksbefragung – das demokratische Minimum, NJW 1981,
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Gestaltung wichtiger Politik und Großvorhaben durch die Exekutive und die parlamentarische Mitwirkung, die anhand der verfassungsrechtlich geschaffenen Grundstruktur repräsentativer Demokratie erfolgen, gewinnen weder das Vertrauen der Bürger noch wirken sie sich positiv auf die Effizienz der Durchführung von Großvorhaben aus. Die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern bei der Planung, Zulassung und Durchführung von kontroversen Großprojekten dient daher der Erzielung einer politischen Einigkeit. Vor allem sollte das direktdemokratische Instrument von Volksabstimmungen als geeignetes Lösungsmedium für die ideologischen Grundsatzkonflikte in Taiwan genutzt werden.
Die Gesundheitsreform 2011 in Taiwan und die institutionelle Bürgerbeteiligung Von Nai-Yi Sun
I. Problemstellung In Anbetracht der allgemeinen Zugänglichkeit der medizinischen Versorgung, der umfassenden Leistungen und ihres günstigen Verhältnisses zu den Beiträgen gilt die seit 1995 bestehende National Health Insurance (NHI) in Taiwan als eines der erfolgreichsten Gesundheitssysteme in der Welt1. Auch für die Innenpolitik ist die NHI von mehrfacher Bedeutung. Die kurz nach der politischen Demokratisierung eingeführte NHI machte es zum ersten Mal möglich, alle Bürger, unabhängig von Herkunft, Beruf und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, gleichberechtigt in die Solidargemeinschaft einzugliedern und ihnen einen Anspruch auf medizinische Versorgung durch den Staat zuteilwerden zu lassen. Damit konnte sich die Sozialversicherung in Taiwan aus ihrer früheren wohlfahrtsstaatlich-klientelistischen Funktion als Teilsystem der autoritären Herrschaft2 emanzipieren und sich an verfassungsgemäßen Grundprinzipien wie Risikoausgleich, Solidarität und Zwangsversicherung ausrichten. Die National Health Insurance Administration, die dem Ministerium für Gesundheit und Soziales3 unterstellt ist, verteilt als einziger behördlicher Versicherungsträger zwischen ca. 23 Millionen Bürgern, Kranken und Gesunden, wirtschaftlich Stärkeren und Schwächeren aktuell jährlich ca. 125 Milliarden Euro Ressourcen nach einem einheitlichen Leistungskatalog und Bewertungsmaßstab um; die medizinische Behandlung durch Ärzte und Krankenhäuser ist dabei detailliert gesetzlich geregelt. Die nachhaltige ___________ 1 Frederic P. Miller/Agnes F. Vandome/John McBrewster (eds.), Healthcare Reform: health care reform in the United States, health care in Russia, healthcare in Taiwan, healthcare in the United States, 2009; Kieke G. H. Okma/Luca Crivelli (eds.), Six countries, six reform models: the healthcare reform: experience of Israel, the Netherlands, New Zealand, Singapore, Switzerland and Taiwan, 2010. 2 Wan-I Lin, The Constitution and the realization of social rights, in: Su, Yeong-Chin (ed.), Branch Constitution, 2006, S. 294 (Chinesisch). 3 Nach der Organisationsreform des Exekutiv-Yuans wurden am 23.07.2013 das ehemalige Gesundheitsministerium und das Department of Social Welfare, das zu einer der inneren Abteilungen des vorherigen Innenministeriums gehörte, zum Ministerium für Gesundheit und Soziales zusammengeschlossen. Im Folgenden wird vom Gesundheitsministerium gesprochen, wenn es um das für die NHI zuständige Ministerium vor 2013 geht.
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Finanzierung und Leistungsfähigkeit der NHI bilden seither bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen kontroverse Themen. Allerdings lassen sich im demokratischen Entscheidungsprozess Anpassungsmaßnahmen wie die Erhöhung des Beitragssatzes zum Ausgleich eines Finanzdefizits sowie Reformvorschläge zur Verbesserung der Beitragsbelastungsgerechtigkeit und der Wirtschaftlichkeit immer nur unter Schwierigkeiten treffen. Politisch bestünde zwar der Konsens, dass die NHI einer grundlegenden Reform bedarf. Ob und inwieweit die NHI durch Reformen sozial gerechter wird, bleibt allerdings umstritten. Vor allem aber fehlt den Bürgern das Vertrauen in das System. So mussten seit dem Jahr 2000 mehrere Gesundheitsminister die „politische Verantwortung“ übernehmen und vom Amt zurücktreten, weil sie lediglich die Entscheidung getroffen hatten, den Beitragssatz zu erhöhen, bzw. die Reformvorschläge der Regierung im Parlament verteidigten. Bereits 2001 beauftragte die Regierung ein Expertenkomitee, eine nachhaltige Zukunftsperspektive für die NHI – die sogenannte zweite Generation der NHI – zu entwickeln. Der daraus hervorgegangene Reformvorschlag wurde erst im Jahr 2011 vom Parlament in Teilen aufgegriffen und in die Neufassung des National Health Act aufgenommen. Diese neue Fassung des Gesetzes trat 2013 in Kraft. Schwerpunkte der Reform sind die Erweiterung der Beitragsbemessungsgrundlage, eine größere Informationstransparenz und die erweiterte Beteiligung von Betroffenen und Bürgern an den Entscheidungsverfahren der staatlichen Verwaltung. Bei den letzteren Punkten geht es um das Organisations- und Prozessrecht der NHI. In der Literatur wurden diese Vorgänge nicht selten mit den Prinzipien von Demokratie und Bürgerbeteiligung in Verbindung gebracht. In welchem Kontext diese Argumente im Gesundheitswesen Taiwans von besonderem Belang sind (II) und wie die Literatur und die Verfassungsrichter die verfassungsrechtlichen Fragen in Bezug auf die NHI bewertet haben (III), soll im Folgenden zuerst erörtert werden. Anschließend wird darauf eingegangen, ob eher ein zentralistisches oder ein pluralistisches Demokratieverständnis einen geeigneten Ansatzpunkt zur Analyse der Kernprobleme der NHI und zur Bewertung der Gesundheitsreform 2011 darstellen (IV).
II. Die National Health Insurance im Kontext der politischen Demokratisierung in Taiwan 1. Die berufsständischen sozialen Versicherungen gegen den Krankheitsfall vor der Entstehung der NHI Vor der Gründung der NHI bestanden bereits soziale Versicherungen, die innerhalb des jeweiligen Sozialversicherungszweiges gegen einige soziale Risiken wie Schwangerschaft, Krankheitsfall, Arbeitsunfall, Todesfall und Ruhestand gänzlich versicherten; für Arbeitnehmer und Selbstständige existierten derartige
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Versicherungen seit 1950, für militärische Bedienstete seit 1953 und für Beamte seit 1958. Nach einer langen Phase der Stagnation entstanden erst in den achtziger Jahren kurz vor der politischen Demokratisierung weitere soziale Versicherungen gegen den Krankheitsfall. Sie waren ebenfalls berufsständisch gegliedert. Dazu zählen z.B. die Sozialversicherung für Lehrer und Angestellte privater Schulen und Hochschulen, die Krankenversicherungen für deren Familienmitglieder und für Lehrer und Angestellte im Ruhestand und deren Ehegatten, die Krankenversicherungen für Familienmitglieder von Beamten und für pensionierte Beamte und deren Ehegatten sowie die Krankenversicherung für Abgeordnete der Kommunalräte. Zu den Beiträgen aller oben genannten Sozialversicherungen hat der Staat je nach Beruf und Status der Versicherten Subventionen mit unterschiedlichen Prozentsätzen gewährt. Nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes (1949–1987) wurden die Sozialversicherungen gegen den Krankheitsfall für Landwirte, für Sozialhilfeempfänger und für Schwerbehinderte gegründet, deren Finanzierung überwiegend vom Staat übernommen wurde. Trotz des enormen Ausbaus der Sozialversicherungen seit 1980 war vor der Einführung der NHI mehr als die Hälfte der Bürger noch nicht gegen den Krankheitsfall versichert. Das betraf vor allem Arbeitnehmer in kleinen Unternehmen und deren Familienmitglieder, nicht berufstätige Ehegatten, Kinder und Eltern von versicherten Arbeitnehmern sowie Arbeitslose und deren Familienmitglieder4. In dieser Phase übernahm die Sozialversicherung in Taiwan insgesamt wichtige politische Konsolidierungsmaßnahmen5. 2. Das Konzept einer Bürgerversicherung und ihre Durchsetzbarkeit Angesichts der Schutzbedürftigkeit der zuvor vom berufsständischen Sozialversicherungssystem ausgeschlossenen Bürger entwickelte die Regierung ab 1987 das Konzept einer alle Bürger versichernden NHI, welches einer Umfrage zufolge von 99 % der befragten Bürger unterstützt wurde, ohne dass sie Bedenken wegen des Eingriffs in die Freiheits- und Eigentumsrechte geäußert hätten6. Allerdings gab es keine institutionelle Möglichkeit, die unterschiedlichen und ___________ 4 Ad Hoc Committee of Research Project of the National Health Insurance of the Council for Economic Planning and Development of the Executive Yuan, Planning Report of the National Health Insurance System, June 1990, S. 14 f., 94–97 und Tafel 8-1 (Chinesisch). 5 Li-Yeh Fu, The social insurance system in Taiwan: a social control explanation, in: Taiwan: A radical quarterly in social studies, 15 (November 1993), S. 39–64 (Chinesisch). 6 Kuo-Ming Lin, Under the shadow of authority: national health insurance and democratic construction of moral solidarity, in: Yeong-Shyang Chien/Hei-Yuan Chiu/ChungHwa Ku (eds.), Equality, justice and social welfare, 2002, S. 203 (Chinesisch).
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miteinander konkurrierenden Interessen der damals erst seit Kurzem von der autoritären Herrschaft emanzipierten Zivilgesellschaft in einen sozialen Dialog zu führen. Andererseits wurden sie vom Parlament nur sehr begrenzt repräsentiert, weil weder die herrschende Kuomintang-Partei (KMT, Chinese Nationalist Party) noch die 1986 gegründete Oppositionspartei Democratic Progress Party (DPP) eine klar erkennbare linke oder rechte Orientierung hatten. Die gesamte Grundstruktur und der fertige Gesetzentwurf der NHI wurden ohne hinreichende Beteiligung der Zivilgesellschaft allein von Sachverständigen und der bürokratischen Elite ausgearbeitet und schließlich 1994 vom Parlament verabschiedet7. Dies hatte zur Folge, dass die NHI von Anfang an nicht auf der Solidarität aller Bürger beruhte. Auch wenn die NHI mittlerweile seit mehreren Jahren in der Praxis angewandt wird, kommt es in der Bürgerschaft jedes Mal, wenn der Beitragssatz angepasst werden soll, zum Streit darüber, ob die NHI als eine gegenseitige Sozialversicherung oder eine einseitige Sozialleistung angesehen werden soll8. Denn wie aus dem alten System der staatlichen Subventionen gewohnt, wird auch im neuen System eine geringe Beitragspflicht verbunden mit umfassenden Rechten auf medizinische Versorgung erwartet9. Bis zum Erlass des Gesetzes war es zu keinem Konsens über die Grundprinzipien einer Sozialversicherung gekommen. Im parlamentarischen Prozess wurde vielmehr darüber debattiert, ob die Bürger bei den Beitragsbelastungen des neuen Systems genauso günstig wie die Beamten in der früheren Sozialversicherung und – umgekehrt – ob die Beamten bei der medizinischen Versorgung nach dem neuen System schlechter als vorher behandelt werden sollten10. Daraus erklärt sich, warum in der ersten Fassung des National Health Insurance Act keine Zwangsversicherungsklausel aufgenommen wurde. Erst einen Monat später holte das Parlament dieses Versäumnis nach. Ein anderes Beispiel dafür ist, dass das Gesetz für den Fall des Aufsuchens eines Krankenhauses oder Klinikums durch den Patienten ohne vorherige Überweisung eines Praxisarztes eine gestufte Selbstbeteiligung an den Kosten der medizinischen Versorgung von 30 bis 50 % vorsieht. Ziel der Maßnahme war die Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung. Allerdings stieß die Einfüh___________ 7 Kuo-Ming Lin, Democratization and public participation in social policy: the policymaking process of NHI, in: Hsin-Huang Michael Hsiao & Kuo-Ming Lin (eds.), Social welfare movement in Taiwan, 2000, S. 135–175 (Chinesisch). 8 Die Debatte um „social insurance or social welfare“. 9 Die Beitragssätze aller Sozialversicherungen vor Gründung der NHI waren seit Langem zu tief angesetzt. Siehe Kuo-Ming Lin, Toward nationalism: path dependence and administration of national health insurance, in: Taiwanese sociology, Vol. 5 (June 2003), S. 44–48 (Chinesisch). 10 Kuo-Ming Lin (Anm. 6), S. 222–224 (Chinesisch).
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rung dieser Klausel auf heftigen Widerstand von Gewerkschaften, Krankenhäusern und Kliniken. Der Grund lag darin, dass die Versicherten sämtlicher ehemaliger Versicherungszweige bisher ohne Überweisung und ohne zusätzliche finanzielle Belastungen in den Krankenhäusern und Kliniken ihrer Wahl sowohl ambulant als auch stationär behandelt wurden. Für sie spielte die Frage der Finanzierbarkeit der Sozialversicherung keine Rolle. Dem politischen Druck gab das Gesundheitsministerium schnell nach und änderte ohne weitere gesetzliche Ermächtigung die Rechtspraxis: Patienten, die sich ohne Überweisung direkt in Krankenhäusern oder Kliniken behandeln lassen, müssen nur einen gestuften Festbetrag zuzahlen, nicht aber den vollen, gesetzlich festgelegten Prozentsatz der Behandlungskosten11. Paradoxerweise wurde dieser offene Verstoß gegen die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowohl von den Bürgern als auch vom Parlament hingenommen. 3. „Privatisierung“ als ein Ausweg aus der Finanzkrise der NHI? Aufgrund der mangelnden Bereitschaft, gegenseitig Verantwortung zu übernehmen und füreinander einzustehen, war jegliche erforderliche Anpassungsund Sparmaßnahme politisch kaum durchsetzbar. Um die politische Blockade zu umgehen, erwog die Regierung Ende der neunziger Jahre einen Reformvorschlag ähnlich dem deutschen Modell der Gesundheitsreform 2007. Danach sollte eine vom Staat subventionierte privatrechtliche Stiftung gegründet werden, der unter staatlicher Aufsicht eine gewisse Autonomie bei der Festlegung des Beitragssatzes gesetzlich eingeräumt werden würde. Die Stiftung sollte den verschiedenen Versicherungsträgern je nach Morbidität ihrer Mitglieder die Beiträge aller Versicherten zuteilen. Die bisherige Versicherungsanstalt als einziger Versicherungsträger würde als juristische Person umstrukturiert werden, sodass sie mit anderen zertifizierten privatrechtlichen Versicherungsträgern in Wettbewerb treten könnte. Den Versicherten sollte es somit erlaubt sein ihren Versicherungsträger selbst zu wählen und zwischen ihnen zu wechseln. Das Ziel war es, mittels Privatisierung und „Entpolitisierung“ des Entscheidungsprozesses die globale Äquivalenz der Finanzierung der NHI aufrechtzuerhalten12. Der entsprechende Reformentwurf wurde wegen erheblicher Bedenken hinsichtlich der Sozialpolitik und infolge des Regierungswechsels im Jahr 2000 fallen gelassen. Seitdem gilt, dass die unter dem Gesundheitsministerium eingerichtete Behörde der „National Health Insurance Administration“ als einziger Versicherungsträger für die ___________ 11 Kuo-Ming Lin, History, institution and policy: the copayment and referral system of national health insurance in Taiwan, in: National Taiwan University journal of sociology, Vol. 29 (February 2001), S. 111–184 (Chinesisch). 12 Joseph Wong, Healthy democracies: welfare politics in Taiwan and South Korea, 2004, S. 115–117; Kuo-Ming Lin, The political logic of privatizing Taiwan´s National Health Insurance, in: National Taiwan University journal of social work, Vol. 2 (May 2000), S. 55–96 (Chinesisch).
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Pflichten und Rechte der Versicherten und die Leistungserbringungen zuständig ist. Die unmittelbare staatliche Verwaltung der NHI ist strikt an Gesetze gebunden; die wichtigen Entscheidungen wie die Erhöhung des Beitragssatzes oder der Umfang des jährlichen Gesamtbudgets werden nicht allein von dem Versicherungsträger, sondern vom Exekutiv-Yuan getroffen. Dafür tragen der Ministerpräsident und der Gesundheitsminister dem Parlament gegenüber die politische Verantwortung. 4. Die ungelösten systemimmanenten Probleme der NHI Die oben geschilderte Entwicklung zeigt deutlich, dass ohne gegenseitiges solidarisches Bewusstsein und ohne die Möglichkeit eines institutionalisierten Dialogs zum Ausgleich der unterschiedlichen Interessen sowohl der Beitragszahler, sprich der Versicherten und Arbeitgeber, als auch der Berechtigten, sprich der Patienten, als auch der Leistungserbringer, sprich der Ärzte, die Finanzierbarkeit und die Wirtschaftlichkeit der NHI nicht nachhaltig aufrecht erhalten werden können. Nach dem Reformvorschlag der „zweiten Generation der NHI“, den vom Gesundheitsministerium im Jahr 2001 beauftragte Sachverständige vorgelegt haben, soll die Solidarität zwischen den Bürgern und das Vertrauen ins System gestärkt werden, indem die Unterscheidung der Versicherten nach Beruf und die daraus folgende ungerechte Beitragsbelastung abgeschafft13, Informationen zur Verfügbarkeit und Finanzierung der medizinischen Versorgung transparenter gemacht, Institutionen der Partizipation von Interessengruppen und Bürgerinitiativen innerhalb des Systems erweitert und eine Organisationsreform, die die globale Äquivalenz fördert, durchgeführt werden14. Dabei stehen die letzteren drei Maßnahmen, die bisher gar nicht oder nur begrenzt Berücksichtigung fanden, miteinander in engem Zusammenhang. Gemäß der alten Fassung des NHI Act, der sogenannten ersten Generation der NHI, wurde das jährliche Globalbudget vorjährig vom Gesundheitsministerium mit Zustimmung des Exekutiv-Yuan festgelegt (§ 47 NHI Act a.F.). Anschließend wurde die gesamte Summe im Vermittlungsausschuss, der aus Vertretern der Leistungserbringer, der Beitragszahler und der zuständigen Behörden sowie Sachverständigen bestand, auf die Bereiche Standardmedizin, Chinesische Medizin und Zahnmedizin verteilt (§§ 48, 49 NHI Act a.F.). Die Versicherungsträ___________ 13 Nai-Yi Sun, Equal treatment within and crossing the social insurance systems: on the legitimacy of categorization of insurants and the different legal treatment of their rights and liabilities, in: Shu-Perng Hwang (ed.), Constitutional interpretation: theory and practice, Vol. 7, Institutum Jurisprudentiae Academiae Sinicae, Taipei, Taiwan, 2010, S. 63– 135. 14 Department of Health, Overview of the National Health Insurance reform, 2004 (Series of National Health Insurance Reform, Bd. 1), S. 103–174 (Chinesisch).
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ger und die Leistungserbringer beschlossen mit Zustimmung des Gesundheitsministeriums den Bewertungsmaßstab für einzelne medizinische Behandlungen und Arzneimittel (§ 51 NHI Act a.F.). Das Gesundheitsministerium beaufsichtigte die Geschäftsführung der NHI Administration. Dazu wurde eine besondere Aufsichtskommission innerhalb des Ministeriums eingesetzt, die sich aus Vertretern der zuständigen Behörden, der Versicherten, der Arbeitgeber, der Leistungserbringer und der Sachverständigen zusammensetzte (§ 63 NHI Act a.F.). Ihr oblag es gesetzlich, der Regierung unverbindliche Ratschläge zur Anpassung des Beitragssatzes und des Patientenanteils an den Versorgungskosten, zum Umfang des Leistungskatalogs, zu Gesetzesänderungen und zu Reformmaßnahmen vorzulegen. Insgesamt führte dieses System dazu, dass die medizinische Versorgung einerseits und die Finanzierbarkeit andererseits sowie die Eigenverantwortung der Patienten nicht als ein Ganzes wahrgenommen wurden15. Die undurchsichtige, zwischen Versicherungsträger und Interessengruppen auszuhandelnde Entscheidungsfindung ließ bei den Bürgern die Skepsis wachsen, ob das finanzielle Defizit der NHI tatsächlich aus der veränderten Demographie und den wachsenden Behandlungskosten resultierte. 5. Die Gesundheitsreform der NHI von 2011 Auch wenn es misslang, die Differenzierung der Versicherten abzuschaffen und das Modell des „gesamteinkommensabhängigen Beitrags pro Haushaltseinheit“ einzuführen, enthält die neue Fassung des NHI Act 2011 – die sogenannte zweite Generation der NHI – eine Reihe von Reformmaßnahmen zur Bewältigung der systemimmanenten Probleme. Zu erwähnen ist das neu eingerichtete National Health Insurance Committee (NHIC) innerhalb des Gesundheitsministeriums, dessen Mitglieder aus zwölf Vertretern für die Versicherten, fünf für die Arbeitgeber, zehn für die Leistungserbringer, drei für die zuständigen Behörden und fünf für die Sachverständigen, Wissenschaftler oder unparteiischen Persönlichkeiten bestehen. Das NHIC ersetzt die Aufsichtskommission und den Vermittlungsausschuss und übernimmt deren Aufgaben, sodass die Anpassung des Beitragssatzes, die Leistungsliste für medizinische Behandlungen und Medikamente, die Verhandlung des Globalbudgets und dessen weitere Verteilung aufeinander abgestimmt und gemeinsam diskutiert werden können. Die Beschlüsse des NHIC bedürfen der Genehmigung des Ministeriums für Gesundheit und Soziale oder des Exekutiv-Yuan je nach der Sachzuständigkeit. Wenn die Verhandlungen im NHIC nicht innerhalb der ___________ 15 Feng-Ming Hao, A study on the democratization of the supervision on the National Health Insurance system in Taiwan, in: National Chung Cheng University law journal, Vol. 14 (January 2004), S. 83–111; Yu-Jun Lee, Review on the reform of the organization of the 2nd generation National Health Insurance program, in: National Taiwan University law journal, Vol. 37, No. 4 (December 2008), S. 1–64 (Chinesisch).
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gesetzlichen Frist erfolgt sind, hat das Exekutiv-Yuan das letzte Wort (§§ 5, 6061 NHI Act n. F.). Darüber hinaus erweitert das neue Gesetz die Grundlage, aufgrund derer die Bewertungsmaßstäbe für die medizinische Versorgung und Arzneimittel legitimiert werden. Neben den Vertretern der Versicherungsträger und der Leistungserbringer werden auch Sachverständige, Wissenschaftler und Vertreter der Versicherten, der Arbeitgeber und der zuständigen Behörden in den Beratungs- und Entscheidungsprozess einbezogen, indem Vertreter der Pharmaindustrie sowie Patientengruppen zur Anhörung eingeladen werden können (§ 41 NHI Act n.F.). Von besonderer Bedeutung ist die Berücksichtigung der deliberativen Demokratie in der neuen Fassung des Gesetzes. Um das solidarische Bewusstsein der Bürger im Gesundheitswesen zu stärken, hat die Arbeitsgemeinschaft der Sachverständigen im Jahr 2002 im Rahmen des Forschungsprojektes zur zweiten Generation der NHI die Probe aufs Exempel gemacht und verschiedene Formen der deliberativen Demokratie in Bezug auf die Finanzbarkeit der NHI und die Eigenverantwortung der Versicherten getestet16. Das neue Gesetz erlaubt es dem NHIC, vor der Sitzung ein Stimmungsbild der Bürger zu ermitteln, wenn wichtige oder umstrittene Anpassungs- oder Reformmaßnahmen auf der Agenda stehen. Dazu kann das NHIC vor Sitzungen Bürgerforen oder Bürgerkonferenzen veranstalten (§ 5 Abs. 3 NHI Act n.F.). Der Beschluss zur Bürgerbeteiligung als solcher ist zwar für die Behörde nicht gesetzlich bindend, setzt die zuständige Behörde jedoch hinreichend unter Druck, glaubhafte Begründungen zu liefern, sollte eine davon abweichende Entscheidung getroffen worden sein17. Außerdem sind angesichts der Forderung nach Transparenz zahlreiche neue gesetzliche Regelungen hinzugekommen: So müssen z.B. alle Mitglieder des NHIC und des Ausschusses für Bewertungsmaßstäbe Informationen zu ihrer eigenen beruflichen oder geschäftlichen Position und der ihres Ehegatten und ihrer Verwandten in gerader Linie offenlegen; die Agenden des NHIC müssen spätestens sieben Tage vor den Sitzungen bekanntgegeben werden, die Beschlussprotokolle des NHIC und des Ausschusses für Bewertungsmaßstäbe und des Gremiums der medizinisch-technischen Evaluation müssen innerhalb von zehn Tagen nach der jeweiligen Sitzung veröffentlicht werden. Wenn ein Gutachten über die ___________ 16
Department of Health, Citizen participation: practices of deliberative democracy in national health insurance, 2004 (Series of National Health Insurance reform, Bd. 6), S. 11– 83 (Chinesisch).Von 2004 bis 2005 wurden in Taiwan mehrfach sogenannte „Konsenskonferenzen“ zu umstrittenen nationalen Themen wie Leihmutterschaft, Steuerreform oder lokalen Themen, wie beispielsweise die Planung einer Seilbahnlinie oder der Raumplan einer Altstadt, durchgeführt; siehe Jin Liao/Hsing-chung Wang, The light in our mouth: the theories and practices of deliberative democracy, 2007, S. 65–138 (Chinesisch). 17 Wenmay Rei, An institutional design to enhance citizen participation in the policymaking of Taiwan´s National Health Insurance: the pilot project of citizen conference as an example, in: Taiwan democracy quarterly Vol. 1, No. 4 (December 2004), S. 57–81 (Chinesisch).
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Wirtschaftlichkeit einer medizinischen Behandlung oder eines Arzneimittels aufgrund der Anforderung des Versicherungsträgers erstellt wird, ist das Ergebnis vor der Verhandlungssitzung für Bewertungsmaßstäbe bekannt zu geben (§§ 5, 41 NHI Act n.F.). Krankenhäuser und Kliniken müssen jeden Tag die Verfügbarkeit ihrer Krankenbetten nachweisen (§ 67 NHI Act n.F.); sollte ihr Anteil am Globalbudget im jeweiligen Jahr eine bestimmte Summe überschreiten, haben sie laut Gesetz beim Versicherungsträger ihren Bilanzabschluss anzumelden und zu veröffentlichen (§ 73 NHI Act n.F.). Der Versicherungsträger und die Krankenhäuser müssen regelmäßig die Öffentlichkeit über die Qualität der medizinischen Versorgung informieren (§ 74 NHI Act n.F.).
III. NHI und Verfassungsrecht 1. Die NHI betreffende Justiz-Yuan-Interpretationen taiwanesischer Verfassungsrichter Mit der Einführung der die Rechte und Pflichten aller Bürger tangierenden NHI wird eine Reihe von verfassungsrechtlichen Problemen hinsichtlich der Grundstruktur der Sozialversicherung aufgeworfen. Gleich nach dem In-KraftTreten des Gesetzes wurde die Verfassungswidrigkeit der Zwangsversicherungsklausel von Arbeitgebern und von zuvor begünstigten Beamten beanstandet. Die Verfassungsrichter legitimierten in der Justiz-Yuan-Interpretation Nr. 472 die Zwangsversicherung aller Bürger damit, dass sie als unverzichtbares Mittel für die Verwirklichung des Solidaritätsprinzips und des Risikoausgleichs gilt, ohne den Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit zu erläutern. Demnach dürfe der Staat leistungsunfähigen Bürgern die medizinische Versorgung nicht vorenthalten. Vielmehr solle er dem Verfassungsauftrag gemäße Maßnahmen treffen, um sie in die Bürgerversicherung effektiv einzubeziehen. Zugleich betonten die Verfassungsrichter, dass das Vertrauensschutzprinzip keine Unabänderbarkeit der bestehenden Systeme bedeute; die zuvor besser gestellten Versicherten könnten nicht vor Enttäuschungen im neuen System bewahrt werden. Die drei Dimensionen der Begründungen sichern die solidarische Basis der Bürgerversicherung. Des Weiteren ist in den Justiz-Yuan-Interpretationen Nr. 473 und 676 über die Ober- und Untergrenze der beitragspflichtigen Einkommen eine gerechte Gestaltung der Beitragsbemessung nach dem Solidaritätsprinzip und unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit der Versicherten festgelegt worden. Eine gründliche Auslegung der Grundprinzipien der Sozialversicherung findet sich in der Justiz-Yuan-Interpretation Nr. 609, die zwar keinen direkten Zusammenhang mit der NHI hat, aber sich mit dem nicht seltenen Missverständnis der Kernstruktur der Sozialversicherung befasst: Vor der Einführung der NHI erließ der Versicherungsträger der Arbeitnehmerversicherung eine Reihe von Verwaltungsvorschriften, wonach die Familienangehörigen von Versicherten keinen Anspruch
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auf Leistungen im Todesfall von Versicherten hatten, wenn sie bereits vor dem Eintritt in die Sozialversicherung unter schweren Erkrankungen wie Krebs litten und später wegen eben dieser Erkrankungen starben. Die Vorschriften zielten darauf, die Finanzierbarkeit der Sozialversicherung vor arglistiger Täuschung zu schützen. Wie oben bereits erwähnt, waren damals mehr als die Hälfte der Bürger nicht sozialversichert; sie waren zwar schutzbedürftig, konnten aber nur versuchen, sich mit unrichtigen oder unvollständigen Angaben rechtswidrig in die Sozialversicherung einzuschleichen. Die Verfassungsrichter waren sich dieses Kontextes bewusst. Trotzdem haben sie am Sozialstaatsprinzip festgehalten und erklärt, dass der selektive Ausschluss von kranken Versicherten aus der Sozialversicherung auf das Leitbild der Privatversicherung zurückzuführen sei und daher mit den Prinzipien der Solidarität und der Zwangsversicherung nicht vereinbar sei; gemäß dem Arbeitnehmerversicherungsgesetz dürfe der Versicherungsträger nicht Leistungen im Todesfall wegen der vor Einbeziehung in die Sozialversicherung bereits bestehenden Erkrankung der Versicherten pauschal ablehnen, es sei denn, es lägen Beweise für arglistige Täuschung oder ein ähnliches Verhalten von Seiten der Versicherten vor. Daneben ist die rechtliche Ausgestaltung der Sozialversicherung durch mehrere verfassungsrechtliche Auslegungen festgelegt: Nach der Justiz-Yuan-Interpretation Nr. 533 ist das Rechtsverhältnis zwischen dem Versicherungsträger und dem jeweiligen Leistungserbringer nach deutscher Rechtsdogmatik als ein öffentlich-rechtlicher Vertrag anzusehen. Die Verfassungsrichter haben mehrmals klargemacht, dass sowohl die Rechte und Pflichten der Versicherten als auch ihr Rechtsverhältnis zum Versicherungsträger durch Gesetze oder gesetzliche Ermächtigung festzulegen sind. Vom Ausgangpunkt des Gesetzesvorbehalts fordert die Justiz-Yuan-Interpretation Nr. 524 weiterhin, dass sowohl Art und Umfang der Krankenbehandlungen in der NHI als auch von der NHI ausgeschlossene Krankenbehandlungen dem Gebot der Bestimmtheit und Klarheit der Rechtsnorm entsprechen müssen; sie müssen gesetzlich oder durch gesetzliche Ermächtigung in Rechtsverordnungen konkretisiert werden; vor allem darf die Behörde nicht die gesetzliche Ermächtigung übergehen und stattdessen mit Verwaltungsvorschriften den Inhalt der Krankenbehandlungen vorschreiben. Insgesamt kreisen die die NHI betreffenden verfassungsrechtlichen Auslegungen vorwiegend um das Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip. Die Frage der demokratischen Legitimation, die in den sozialpolitischen Debatten bei der Entwicklung der NHI immer wieder auftaucht, steht nicht im Vordergrund und wird folglich von Verfassungsrichtern bisher nicht weiter behandelt.
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2. Das Verhältnis zwischen Demokratisierung und Entwicklung der NHI in Taiwan In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird die Stärkung der demokratischen Legitimation der behördlichen Entscheidungen und damit die Institutionalisierung der Bürgerbeteiligung meistens als eine rechtspolitische Vorgabe in Bezug auf die Organisationsreform der NHI behandelt. Ob und inwieweit es neben dem vorherrschenden Semipräsidentialismus einer zusätzlichen demokratischen Legitimationsgrundlage bedarf, ist bisher nicht eingehend erörtert worden18. Hwang Shu-Perng setzt sich am Beispiel des anfänglichen Misserfolgs der Einführung der gestuften prozentualen Eigenbeteiligung beim In-Kraft-Treten des NHI Act auf der Grundlage von Böckenfördes monistischem Demokratieverständnis mit diesem Problem auseinander19. Nach monistischem Demokratieverständnis ist das Staatsvolk, von dem sich das Innehaben und die Ausübung aller Staatsgewalt herleiten, als eine Gesamtheit der Bürger zu begreifen. Dadurch werden sowohl beliebig gruppierte einzelne Bürger als auch Bürgerinitiativen oder von staatlichen Maßnahmen Betroffene vom Begriff des Staatsvolks abgegrenzt20. Aus dem kollektiven Bezugspunkt wird eine ununterbrochene demokratische Legitimationskette für die Ausübung staatlicher Befugnisse hergeleitet. Dabei unterscheidet Böckenförde drei Formen demokratischer Legitimation: die funktionelle und institutionelle, die organisatorisch-personelle und die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation. Die funktionelle und institutionelle Legitimation bezieht sich auf die Gewaltenteilung des Grundgesetzes, durch die das Volk die von ihm ausgehende Staatsgewalt ausübt. Die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt sind für sich als demokratisch autorisierte Ausübung von Staatsgewalt anerkannt. Ihre konkrete Legitimation wird weiter durch die anderen zwei Formen vermittelt. Die organisatorisch-personelle demokratische Legitimation besteht darin, dass im parlamentarischen Regierungssystem die personelle demokratische Legitimation von Amtswaltern, die mit der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben betraut sind, durch parlamentarische Zustimmung mittelbar auf das Volk zurückgeführt werden kann, während das Parlament als Repräsentationsorgan des Volkes ein notwendiges Glied innerhalb der demokratischen Legitimationskette darstellt. Hinzu tritt noch die sachlich-inhaltliche Form demokra___________ 18
Feng-Ming Hao (Anm. 15), S. 83–111; Yu-Jun Lee (Anm. 15), S. 1–64 (Chinesisch). Shu-Perng Hwang, The democratic legitimation of the administrative regulation of the medical system: the National Health Insurance as an example, Taipei, National Taiwan University, Department of Law, Thesis of Master Degree, 1998, S. 108–166. 20 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 22 Rn. 27. 19
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tischer Legitimation, die fordert, dass die Ausübung der Staatsgewalt ihrem Inhalt nach den Volkswillen zu vermitteln hat. Sie kommt zum einen dadurch zum Ausdruck, dass die Exekutive und Judikative an die vom Repräsentationsorgan des Volkes beschlossenen Gesetze gebunden sind. Zum anderen werden die Volksvertreter durch den periodisch wiederkehrenden Wahlakt unmittelbar vom Volk kontrolliert; für die Regierung und die Minister besteht sodann die Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung.21 Nach diesem Demokratieverständnis können Gruppen von Bürgern, die bestimmte Interessen oder Auffassungen vertreten und zur Geltung bringen oder gar in den offenen Prozess politischer Meinungsbildung hineinwirken wollen, sich nicht auf die demokratische Legitimation berufen, weil diese ausschließlich auf das Volk als Gesamtheit zurückzuführen ist22. Auch der funktionalen Selbstverwaltung fehlt das entscheidende Merkmal. Demgemäß ist die Autonomie der funktionalen Selbstverwaltung kein Ausdruck demokratischer Partizipation, sondern vielmehr Ausdruck eigenverantwortlicher Beteiligung von Betroffenen an den auf sie bezogenen Verwaltungsaufgaben23. Nach Hwangs Auffassung stellt Böckenfördes Modell ein überzeugendes Leitbild für das Demokratieverständnis in Taiwan dar, weil einerseits nach dem Wortlaut von Art. 2 der Verfassung in Taiwan die „Gesamtheit“ der Bürger Inhaber der Souveränität der Republik China ist und andererseits die durch die Rechtsprechung der Verfassungsrichter festgelegten Grundsätze des gestuften Gesetzesvorbehalts und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gerade der sachlich-inhaltlichen Legitimation entsprechen. Zugleich bemerkt Hwang auch, dass in der semipräsidentialen Regierung Taiwans der Präsident direkt vom Volk gewählt wird und die Ernennung des Premierministers von der Zustimmung des Parlaments losgelöst ist. Insofern weicht die politische Willensbildung von der organisatorisch-personellen Legitimation des deutschen Modells ab. Der Unterschied ist Hwangs Meinung nach nicht relevant, weil die demokratische Legitimation aller Staatsorgane auf dieselbe Gesamtheit des Staatsvolks zurückgeführt wird24. In dieser Hinsicht bewertet Hwang den oben erwähnten Fall der anteiligen Kostenübernahme durch Patienten als Mangel demokratischer Legitimation: Zwar könne sich die Regierung bei ihrer gesetzeswidrigen Entscheidung, einen dreistufigen Festbetrag für die Kostenbeteiligung anstelle der gesetzlich vorgesehenen prozentualen Kostenbeteiligung einzuführen, auf die eigene organisatorisch-personelle Legitimation stützen. Dies widerspreche aber dem Vorrang des
___________ 21 22 23 24
Ernst-Wolfgang Böckenförde (Anm. 20), § 22 Rn. 10–25. Ernst-Wolfgang Böckenförde (Anm. 20) § 22 Rn. 29. Ernst-Wolfgang Böckenförde (Anm. 20), § 22 Rn. 33. Shu-Perng Hwang (Anm. 19), S. 127–132.
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Gesetzes und auch der sachlich-inhaltlichen Legitimation. Ohne das Zusammenwirken der organisatorisch-personellen und der sachlich-inhaltlichen Dimensionen habe die demokratische Legitimation als defizitär zu gelten25. Den Legitimationsmangel des Vermittlungsausschusses für Bewertungsmaßstäbe führt Hwang als ein weiteres Beispiel an. Die informellen und beliebigen Verhandlungen zwischen Versicherungsträgern und medizinischen Leistungserbringern vor Einführung der NHI nahm der Gesetzgeber zum Anlass, im NHI Act einen transparenten und institutionalisierten Verhandlungsmechanismus einzurichten. Ziele sind zum einen die Stärkung der sachlich-inhaltlichen Legitimation der Entscheidungen von Versicherungsträgern durch die Partizipation der Leistungserbringer, zum anderen die Beibehaltung des Gesetzesvorrangs gegenüber dem vom Vermittlungsausschuss erlassenen Bewertungsmaßstab durch die Ermächtigung des Gesetzes und die Aufsichts- und Genehmigungsbefugnis des Gesundheitsministeriums. Allerdings ist fraglich, ob und inwieweit die am Ausschuss teilnehmenden Delegierten der Taiwan Medical Association und der Taiwan Hospital Association die einander entgegenstehenden Interessen von Krankenhäusern und Praxen, von lokalen Krankenhäusern und Kliniken in großen Städten angemessen und ausgewogen vertreten können, weil bisher kein koordinierender und integrierender Verhandlungsprozess für Interessenkonflikte innerhalb der berufsständischen Vereinigungen existiert26. Obwohl das Gesetz das Überweisungssystem und die entsprechende prozentuale Kostenbeteiligung von Patienten zugunsten der Praxisärzte und der lokalen Krankenhäuser regelt, wurden die Regelungen des Überweisungssystems wegen des enormen Protestes von Patienten und unter dem politischen Druck von Kliniken und großen Krankenhäusern kurz nach deren Einführung ausgesetzt und die Regelungen der prozentualen Kostenbeteiligung durch den dreistufigen Festbetrag ersetzt27. In Bezug auf den letzteren Punkt steht das Verhältnis zwischen Demokratisierung und Bürgerbeteiligung im Mittelpunkt der sozialpolitischen Literatur. Nach der institutionengeschichtlichen Forschung in diesem Bereich sind die Gewerkschaften im Vergleich zu Ärztekammern und Krankenhausvereinigungen noch weniger im Stande, die internen Interessenkonflikte effektiv zu bündeln und als solidarisches Kollektiv mit dem Versicherungsträger und den Leistungserbringern zu verhandeln, weil sie sich früher unter der autoritären Herrschaft fragmentiert herausgebildet haben und ihre politische Kompetenz entsprechend eingeschränkt ist28. Ähnliches gilt auch für die Parteien. Seit der Demokratisierung ___________ 25
Shu-Perng Hwang (Anm. 19), S. 117-118, 138–140. Shu-Perng Hwang (Anm. 19), S. 147-152, 155–164. 27 Kuo-Ming Lin (Anm. 7), S. 164-168 (Chinesisch); Kuo-Ming Lin (Anm. 11), S. 159– 171 (Chinesisch). 28 Kuo-Ming Lin (Anm. 7), S. 158–164; Department of Health, Organizational reform in the National Health Insurance – public administration and policy perspectives, 2004 26
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richtet sich der Wettbewerb zwischen den Parteien überwiegend auf die verschiedenen Staatsidentitäten aus. Weder die großen Parteien der KMT und der DPP noch andere kleinere Parteien vertreten einen deutlichen Standpunkt in Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Es passiert nicht selten, dass sich Abgeordnete derselben Partei gegen den Gesetzentwurf ihrer eigenen Partei stellen29. Dafür ist die Gesundheitsreform von 2011 ein gutes Beispiel. 2008 hatte die KMT die Präsidentschaftswahl samt 71 % der Parlamentssitze gewonnen. In den dem Parlament von der Regierung vorgelegten Gesetzesänderungsentwurf des NHI Act wurden – wie während der Regierungszeit der DPP von 2000 bis 2008 von den zuständigen Sachverständigen vorgeschlagen – das neue Finanzierungsmodell, der sogenannte „gesamteinkommensabhängige Beitrag pro Haushaltseinheit“, und die damit einhergehende Abschaffung der Differenzierung der Versicherten aufgenommen. Bei den parlamentarischen Sitzungen wurde das neue Modell nicht von den Abgeordneten derselben Partei unterstützt. Selbst der Finanzminister war nicht damit einverstanden. In letzter Sekunde einigten sich die Regierung und das Parlament auf einen Kompromiss „innerhalb der regierenden Partei“ und zwischen der Exekutive und der KMT-Parlamentsfraktion, wonach statt des gesamteinkommensabhängigen Beitrags ein Ergänzungsbeitrag aus Mieten, Zinsen und weiteren Einkünften neben dem bisherigen Lohnbeitrag eingeführt wurde. Der Kern der Reform, eine gerechte Beitragsbelastung mit dem Ziel einer stärkeren Solidarität unter den Versicherten, wurde von der Regierungspartei aufgegeben30. Wegen der mangelnden Integrationsfunktion der Gewerkschaften und Parteien spielen Bürgerinitiativen seit der politischen Emanzipation eine bedeutende Rolle. Je nach Thema schließen sie sich zusammen, überprüfen kontinuierlich die Finanzberichte der NHI, kommentieren die Gesetzesentwürfe der Regierung und versuchen mit bestimmten Politikern zusammenzuarbeiten, um bei der staatlichen Sozialpolitik mitzuwirken31. Im Bereich der NHI sind soziale Bewegungen von Patienten für Kinder- und Jugendwohlfahrt, Frauen-, Arbeiter-, Altersund Behindertenrechte die Hauptakteure. Allerdings werden die Bündnisse meist ___________ (Series of second generation of National Health Insurance, Bd. 5), S. 118–126 (Chinesisch). 29 Kuo-Ming Lin (Anm. 7), S. 154–158 (Chinesisch). Vgl. auch Shih-Jiunn Shi und Yu-Man Yeh, Political democratization and social policy: exploring the impact of political institutions on the pension scheme-building in Taiwan, in: National Taiwan University social work review, No. 23 (June 2011), S. 47–92 (Chinesisch). 30 Ku-Yen Lin, Volkskrankenversicherung, ZIAS 2012, S. 350–372. 31 Die DPP hat mit einigen Bürgerinitiativen eine Form der Zusammenarbeit entwickelt, wonach sie bei Parlamentswahlen einen Vertreter der Bürgerinitiativen als Kandidat auf die eigene Wahlliste setzt. Die KMT ist diesem Beispiel bei der Parlamentswahl von 2012 gefolgt und hat ihrerseits Akteure aus Kinder- und Jugendwohlfahrtsvereinen und eine Anzahl Behinderter in ihre Wahlliste aufgenommen.
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kurzfristig geschlossen, sodass ihr kontinuierlicher kollektiver Einfluss auf eine bestimmte Sozialpolitik eingeschränkt bleibt32. Nach der Gesundheitsreform von 2011 wurde eine Bürgerinitiative, The Federation for the Welfare of the Elderly, als einer der Vertreter der Beitragszahler in das neu eingerichtete NHIC einbezogen. Ob und inwieweit das NHIC und der Vermittlungsausschuss für Bewertungsmaßstäbe ein funktionsfähiges Institut der Partizipation darstellen, ist langfristig zu beurteilen33.
IV. Vom monistischen zum pluralistischen Demokratieverständnis Zusammenfassend zeigt sich in Taiwan deutlich, dass mit Blick auf die Bürgerversicherung NHI und ihre Reform zwei Gruppen nebeneinander stehen, zum einen die sich an den Interessen der Betroffenen ausrichtenden Berufsgruppen, wie die Ärztekammern und die Gewerkschaften, und zum anderen die pluralistischen Bürgerinitiativen, die bestimmte nicht von den Berufsgruppen vertretene Interessen, wie die der Patienten, oder übergreifende Interessen der Allgemeinheit vertreten. Dabei verflechten sich in der Bürgerversicherung die Interessen von Betroffenen und solche der Allgemeinheit. Ein institutioneller Zusammenhang zwischen ihnen besteht aber nicht. Zwar hat der Gesetzgeber in der ersten Generation der NHI versucht, die vielfältigen Interessen in die kollektiven Verhandlungen zwischen Versicherten, Versicherungsträgern und Leistungserbringern und in die Durchführung dieser staatlichen Aufgaben durch die Aufsichtskommission und den Vermittlungsausschuss für Bewertungsmaßstäbe einzubinden, womit dem deutschen Vorbild entsprochen werden sollte. Aus derselben Überlegung verstärkte der Gesetzgeber in der zweiten Generation der NHI die Beteiligung von Interessengruppen an Entscheidungsprozessen sowie die integrierende Funktion des NHIC und des Vermittlungsausschusses für Bewertungsmaßstäbe. In der jungen demokratischen Gesellschaft fehlt es allerdings an institutionellen Rahmenbedingungen für Selbstregulierung. Demgegenüber kann die durch den Versicherungsträger verkörperte staatliche Verwaltung nach wie vor eine führende Rolle in sozialpolitischen Entscheidungen spielen. Unter bestimmten Umständen kann sie dabei punktuell durch die Gesellschaft oder durch Politiker aus der eigenen Partei mittels politischer Mobilisierung abgelenkt werden. Diese vom deutschen Modell abweichende Entwicklung wird in der Literatur als staatlicher Korporatismus bezeichnet34. Wie bewertet man aus der Perspektive ___________ 32
Kuo-Ming Lin (Anm. 7), S. 157 f. (Chinesisch). Die veröffentlichten Beschlussprotokolle des NHIC belegen, dass die Vertreter der Konsumvereine, der Krankenhausvereinigungen, der Ärztekammern und der Gewerkschaften verglichen mit denen der sonstigen Gruppen, wie den Landwirtschafts- und Fischereivereinigungen und den Sachverständigen, aktiver sind. 34 Department of Health (Anm. 28), S. 22, 50–57 (Chinesisch). 33
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der demokratischen Legitimation diesen Entwicklungsprozess in Taiwan? Ist das in der juristischen Literatur angeführte zentralistische Demokratieverständnis ein geeigneter Ansatzpunkt hierfür? Wenn man auf die Geschichte vor und nach Einführung der NHI sowie die Vorgänge rund um die Reform von 2011 zurückblickt, kann man feststellen, dass trotz der schrittweisen Verwirklichung des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips seit 1987 immer noch fraglich ist, ob sich in Taiwan ein gesamter Volkswille aller Staatsangehörigen bezüglich der Sozialpolitik durch Präsidenten- und Parlamentswahlen ermitteln lässt. Das Scheitern des „gesamteinkommensabhängigen Beitrags pro Haushaltseinheit“ bei der Gesundheitsreform 2011 zeigt auch, dass die herrschende Partei nicht in der Lage ist, ihre Amtswalter und Abgeordneten, deren demokratische Legitimation sich parallel auf denselben Volkswillen zurückführen lässt, auf eine einheitliche Politiklinie einzuschwören. Vielmehr ist die Demokratie in Taiwan, entsprechend dem Entwicklungsstand des Landes, nach pluralistischem Verständnis als freie Selbstbestimmung des einzelnen Menschen zu konzipieren35. In diesem Kontext ist allerdings zu beachten, dass die in der deutschen Literatur umstrittene Frage der demokratischen Legitimation im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung und der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses für die Legitimationsfrage der NHI in Taiwan nicht von derselben Bedeutung ist36, weil keine der in die Beratungs- und Entscheidungsprozesse miteinbezogenen Vereinigungen als funktionale Selbstverwaltung ausgebildet ist. Sowohl die Gewerkschaften als auch die Ärztekammern und die Krankenhausvereinigung sind rein privatrechtliche juristische Personen37. Auch die Organisationsform der im NHI Act vorgeschriebenen Gremien ist verwaltungsintern konstruiert. Ihre Beschlüsse, an denen Vertreter von Beitragszahlern, Ärztekammern, Krankenhausvereinigungen, Sachverständigen und zuständigen Behörden neben einigen unparteiischen Mitgliedern mitwirken, müssen mit Genehmigung des Exekutiv-Yuan oder des Ministeriums für Gesundheit und Soziales und in seinem Namen bekannt gegeben werden. Die Ministerialverwaltung kann nur im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung Hoheitsgewalt ausüben. ___________ 35 Görg Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 339-341; zusammenfassend siehe Alexander Hanebeck, Bundesverfassungsgericht und Demokratieprinzip, DÖV 2004, S. 901– 909. 36 Winfried Kluth, Demokratische Legitimation in der funktionalen Selbstverwaltung – Grundzüge und Grundprobleme, in: Friedrich Schnapp (Hrsg.), Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip – am Beispiel der Sozialversicherung, 2001, S. 17–43; Thorsten Kingreen, Verfassungsrechtliche Grenzen der Rechtsetzungsbefugnis des Gemeinsamen Bundesausschusses im Gesundheitsrecht, NJW 2006, S. 877–880; ders., Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, VVDStRL Bd. 70 (2011), S. 176–180 (152–194); Hans Michael Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 475–505; Volker Neumann, Verantwortung, Sachkunde, Betroffenheit, Interesse: zur demokratischen Legitimation der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, NZS 2010, S. 593–600. Vgl. BVerfGE 107, 59 (Lippeverband-Entscheidung). 37 In Taiwan sind nur Bewässerungsvereine als funktionale Körperschaft des öffentlichen Rechts organisiert.
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Damit ist die personale und sachlich-inhaltliche Legitimation der Beschlüsse der Gremien in der NHI begründet. Ungeachtet des Problempunktes der demokratischen Legitimation funktionaler Selbstverwaltung ist die Wahrnehmung des pluralistischen Modells im Hinblick auf die demokratische Entwicklung in Taiwan sehr wichtig. Nur wenn das konkrete Anliegen jedes einzelnen Bürgers in seinem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext berücksichtigt wird, kann das Kernproblem der Sozialversicherung in Taiwan im Gesetzgebungsverfahren und von der unmittelbaren Staatsverwaltung ernstgenommen werden. Dazu trägt die Hypothese einer Gesamtheit des Volkswillens nichts bei. Wie oben ausgeführt, ist das Bewusstsein des Füreinanders aller Bürger als Fundament sozialstaatlichen Gebens und Nehmens in der jungen demokratischen Gesellschaft noch nicht tief verwurzelt. Im Sozialversicherungswesen kämpfen die Bürger noch gegen die Nachwirkungen ungerechter Finanzmittelverteilung während der autoritären Herrschaft; das Vertrauen der Versicherten ins staatliche System muss sich erst noch herausbilden38. Dafür ist ein offenes, transparentes Entscheidungsverfahren sowohl in der Gesetzgebung als auch in der unmittelbaren Staatsverwaltung erforderlich, denn Verteilungsgerechtigkeit im demokratischen Sozialstaat setzt Verfahrensgerechtigkeit voraus39. Ohne ausreichende Bürgerbeteiligung wird sich kein soziales Mitgefühl entwickeln. Demzufolge kann sich mindestens ein Zwei-Ebenen-System der Bürgerbeteiligung entwickeln: Das durch die gesamten Bürger gewählte Parlament muss die wesentliche Verteilungsentscheidung treffen und getreu der Justiz-Yuan-Interpretation Nr. 524 die Rechte und Pflichten der Versicherten konkret ausformulieren. Bezüglich der medizinischen Versorgung als Versicherungsleistungen ist allerdings das Wesentlichkeitsprinzip oft nicht durchführbar. Daher muss die Konkretisierung der Krankenbehandlung auf die Verwaltung verlagert werden, weil dort sinnvolle Abwägungen vorgenommen werden können. Die Verfassungsrichter haben in der Justiz-Yuan-Interpretation Nr. 524 dem zuständigen Ministerium das Recht zugestanden, Inhalt und Ausschluss von Krankenbehandlungen präziser auszuführen, und zugleich ein hohes Niveau der Bestimmtheit und Klarheit der Ermächtigungsklausel verlangt. Davon ausgehend ist vom pluralistischen Standpunkt aus zu fordern, dass der Gesetzgeber eine hinreichend breite Berücksichtigung der Interessen in den Entscheidungen der Verwaltung ermöglicht, die Verfahrensteilnahme der Betroffenen an der Entscheidung sicherstellt und staatliche Mitwirkungs- und Aufsichtsrechte vorsieht40. Um eine ___________ 38
Vgl. Görg Haverkate (Anm. 35), S. 296–298. Thorsten Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, VVDStRL Bd. 70 (2011), S. 175 f. (152–194). 40 Ingwer Ebsen, Rechtsquellen, in: Betram Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1: Krankenversicherung, 1994, § 7 Rn. 19. 39
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Nai-Yi Sun
sinnvolle Bürgerbeteiligung auf der zweiten Ebene zu garantieren, hat der Gesetzgeber dem Grundkonzept der zweiten Generation der NHI folgend die Informationentransparenz und den Umbau der Partizipationsmechanismen in die neue Fassung des NHI Act ausführlich miteinbezogen. Diese stärken die Möglichkeiten der Bürgergesellschaft gegenüber den Fachvertretungen und gegenüber dem Staat, das Bewusstsein des Füreinanders aller Bürger zu pflegen und somit zu einem ausreichenden demokratischen Legitimationsniveau der Staatsverwaltung beizutragen41. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber bei der Gesundheitsreform von 2011 in Taiwan die Möglichkeit einer dritten Ebene der Bürgerbeteiligung in bescheidenem Umfang eröffnet. Der NHI Act lässt dem NHIC einen gewissen Spielraum, die demokratische Legitimation seiner wichtigen sozialpolitischen Entscheidungen durch Bürgerkonferenzen oder Bürgerforen zu stärken. Die auf der Idee deliberativer Demokratie beruhende Regelung richtet sich, abgesehen von den beruflich oder finanziell Betroffenen, an normale Bürger und zielt nicht auf die Aushandlung von Interessen, sondern auf Konsensbildung ethischer Solidarität zu bestimmten konkreten Maßnahmen der Verwaltung, was bei Parlamentswahlen oder bei Verhandlungen zwischen Betroffenen nicht stattfindet. Die Verbindlichkeit von Beschlüssen derartiger Bürgerbeteiligungen hat der Gesetzgeber offen gelassen. Die Antwort lässt sich im Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip finden: Das NHIC kann nur im Rahmen seiner gesetzlichen Aufgaben vor Entscheidungen um Unterstützung durch Bürger werben. Insoweit trägt die deliberative Demokratie zur Legitimation der Entscheidung der Staatsverwaltung bei, ersetzt aber nicht ihre politische Verantwortung42.
V. Resümee Seit der politischen Demokratisierung in Taiwan stellt sich die Frage, wer zukünftig anstelle der autoritären Herrschaft den Staat regieren wird. Die Hauptakteure im neuen politischen System sind vor allem die Bürokratie, die Partei und politische Eliten aus dem alten autoritären Regime, Kapitalisten, lokale politische Bündnisse und lebendige Bürgerinitiativen. In der Literatur werden ihre Beziehungen untereinander und ihre Mitwirkung an der politischen Willensbildung
___________ 41 Vgl. Chih-Hong Lin und Jen-Der Lue, The social groups participation in the policymaking of national health insurance: the global budgeting as an example, in: National Chung Cheng University law journal, No. 76 (December 2003), S. 159–210 (Chinesisch). 42 Wenmay Rei (Anm. 17), S. 57–81 (Chinesisch).
Die Gesundheitsreform in Taiwan und die institutionelle Bürgerbeteiligung
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analysiert43. Im Bereich der Sozialversicherungssysteme konnten in den neunziger Jahren Bürokratie und politische Eliten weiterhin durch ihren dominierenden Einfluss gegenüber allen anderen Akteuren die berufsständischen Sozialversicherungen in die Bürgerversicherung überführen. Durch den Erlass des NHI Act wurde zum ersten Mal eine umfassende Umverteilung durchgeführt und ein Herkunft, Beruf und soziale Klassen überschreitendes Gefühl des Füreinanders geweckt44. Freilich bleibt dies in der jungen demokratischen Gesellschaft noch instabil und nicht tief verwurzelt. Die herkömmlichen Interessenkonflikte zwischen Begünstigten und Benachteiligten sind nicht endgültig gelöst; das fehlende Vertrauen der Bürger ins System steht weiteren Anpassungs- und Reformmaßnahmen der NHI im Wege. Diese Herausforderung lässt sich nur durch mehr Transparenz der Entscheidungsverfahren und mehrstufige Bürgerbeteiligungen bewältigen. Der solidarische Konsens aller Bürger über die Nachhaltigkeit der NHI besteht nur unter der Voraussetzung der Verteilungsgerechtigkeit, die es im demokratischen Sozialstaat durch Verfahrensgerechtigkeit zu erreichen gilt.
___________ 43 Jenn-Hwan Wang, Who governs Taiwan actually? The state and structure of power in political transition, 1996 (Chinesisch). 44 Jen-Der Lue, Solidarity with disadvantaged: seeking foundations of justice in the Nation Health Insurance, in: Taiwan: A radical quarterly in social studies, No. 51 (September 2003), S. 51-94 (Chinesisch).
Petitionsrechtliche Innovationen zur Stärkung bürgerschaftlicher Partizipation: Öffentliche Petition – Europäische Bürgerinitiative – Ombudsman-Institutionen Von Hartmut Bauer
I. Vom entbehrlichen Relikt vergangener Verfassungsepochen zum Hoffnungsträger bürgerschaftlicher Partizipation Das Petitionsrecht gehört zum Urgestein europäischer Rechtskultur.1 Wegen wirkungsgeschichtlicher Traditionszusammenhänge namentlich mit der Untertanenbitte sehen manche2 in dieser „Urinstitution“3 allerdings ein angestaubtes und nicht mehr zeitgemäßes Relikt vergangener Verfassungsepochen.4 Danach soll die „Bedeutung des Petitionsrechts“ im demokratischen Rechtsstaat moderner Prägung „überwunden“5 sein. In den Beratungen des Grundgesetzes stand das Petitionsrecht zeitweise sogar auf der Streichliste, weil es „nicht mehr erforderlich“ sei.6 Diese Einschätzung hat sich seinerzeit zwar nicht durchgesetzt. Ge___________ 1 Näheres zur traditionsreichen Verankerung des Petitionsrechts in der europäischen Rechts- und Verfassungskultur bei Hartmut Bauer, Petitionsrecht, in: HGR V, 2013, § 117 Rn. 2 ff., 19, 20 ff., 24 ff. und 52 ff. m.w.N.; aus der Kommentarliteratur insb. Hans Hugo Klein, in: Theodor Maunz/Günter Dürig u.a., Grundgesetz, Kommentar, Art. 17 (2011) Rn. 4 ff. 2 In Sonderheit mit Assoziationen zu der etwas naiven, weil insgesamt historisch unaufgeklärten Vorstellung eines händeringend auf den Knien liegenden Supplikanten, der den Landesherrn devot und servil um eine besondere Gunsterweisung ersucht; vgl. dazu anschaulich Rupert Schick, Petitionen. Von der Untertanenbitte zum Bürgerrecht, 3. Aufl. 1996. 3 Hans Ludwig Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden, 1908, S. 1. 4 Vgl. zur Diskussion in den 1970er Jahren mit einer knappen, aber instruktiven historischen Skizze Karl Korinek, Das Petitionsrecht im demokratischen Staat, 1977, S. 5 ff. m.w.N.; aus aktueller Sicht Ulrich Riehm/Christopher Coenen/Ralf Lindner/Clemens Blümel, Bürgerbeteiligung durch E-Petitionen, 2009, S. 50 f. 5 So eine vielzitierte Wendung aus den Beratungen des Grundgesetzes; dazu KlausBerto v. Doemming/Rudolf Werner Füßlein/Werner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR 1 (1951), S. 1 (171). 6 v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), S. 1 (171).
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Hartmut Bauer
blieben sind aber eine verbreitete Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit dieses Grundrechts,7 die Redeweise von einem zunehmenden Bedeutungsverlust8 und mitunter bis heute zu beobachtende Geringschätzungen, die das Petitionsrecht in die Nähe einer Petitesse rücken.9 Dem entspricht eine auffällige Vernachlässigung10 von Petitionsrecht und Petitionspraxis in der deutschen Staatsrechtslehre.11 Die stiefmütterliche Behandlung dürfte sich nicht zuletzt aus der hierzulande viel zu einseitigen Gerichtsund Pathologieorientierung der Staatsrechtswissenschaft erklären. Denn in der Verfassungspraxis gilt die Handhabung des Petitionsrechts als weitgehend unproblematisch, und sie ist kaum je Gegenstand öffentlichkeitswirksam ausgetragener gerichtlicher Kontroversen oder gar aufsehenerregender Leitentscheidungen gewesen.12 Auch mag die primäre Ausrichtung13 des Petitionsrechts auf die ___________ 7 Namentlich nach dem Vorbild des schlechten Juristenwitzes „formlos, fristlos, fruchtlos“; siehe nur Martin Pagenkopf, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 17 Rn. 6. 8 Vgl. nur Pagenkopf (Fn. 7), Art. 17 Rn. 4 ff.; Annette Guckelberger, Neue Erscheinungen des Petitionsrechts: E-Petitionen und öffentliche Petitionen, DÖV 2008, S. 85 (85): „Zunehmend mehren sich die Stimmen, wonach beim Petitionsrecht ein Bedeutungsverlust zu verzeichnen sei.“ 9 Dazu und zur Kritik dieser Einschätzung Hartmut Bauer, Das Petitionsrecht: Eine Petitesse?, in: Michael Sachs/Helmut Siekmann (Hrsg.), Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, 2012, S. 1211 ff.; ders. (Fn. 1), § 117 Rn. 29 ff.; jeweils m.w.N. 10 Vgl. etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Zum Gewährleistungsgehalt der Petitionsfreiheit, in: Lerke Osterloh/Karsten Schmidt/Hermann Weber (Hrsg.), Festschrift für Peter Selmer, 2004, S. 94 (94); Annette Guckelberger, Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 12; Robert Uerpmann-Wittzack, in: Ingo v. Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 17 Rn. 28. Vgl. ganz allgemein zur nur geringen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Petitionsrechtsmodernisierungen Ulrich Riehm/Knud Böhle/Ralf Lindner, Elektronische Petitionssysteme, 2013, S. 11. 11 Monographische Bearbeitungen des (deutschen) Petitionsrechts sind in der Rechtswissenschaft rar; seltene Ausnahmen sind in jüngerer Zeit Guckelberger (Fn. 10) und aus der Dissertationsliteratur Michael Hornig, Die Petitionsfreiheit als Element der Staatskommunikation, 2001. Auffallend anders verhält es sich mit den Gewährleistungen auf der europäischen Ebene, auf der freilich bis hin zum Vertrag von Lissabon wiederholt Änderungen des Normenbestandes zu verzeichnen waren; vgl. zum europäischen Petitionsrecht etwa Annette Guckelberger, Der Europäische Bürgerbeauftragte und die Petition zum Europäischen Parlament, 2004, und Axel Rolf Schneider, Petitionen zum Europäischen Parlament unter Berücksichtigung des Bürgerbeauftragten, 2009, jeweils m.w.N. 12 Das bedeutet freilich nicht, dass es überhaupt keine bemerkenswerten gerichtlichen Auseinandersetzungen über das Petitionsrecht gäbe. Ein instruktives, von der Fachöffentlichkeit bislang viel zu wenig beachtetes Beispiel sind die beim VG Berlin und OVG Berlin-Brandenburg ausgetragenen Kontroversen über die Behandlung einer Petition als Öffentliche Petition; dazu Bauer (Fn. 9), S. 1213 ff., 1223 ff. m.w.N. 13 Vgl. Michael Brenner, in: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, 6. Aufl. 2010, Art. 17 Rn. 4, der die heutige
Petitionsrechtliche Innovationen zur Stärkung bürgerschaftlicher Partizipation 211
„menschliche Purgationsfunktion des ‚Herzausschüttenkönnens‘“14 eine Rolle spielen, weil sie die historisch herangewachsene Funktionenvielfalt15 dieses Grundrechts verzerrt und vorschnell verkürzt. Was immer auch die Gründe für die Vernachlässigung sein mögen – wirklich überzeugen können sie nicht. Denn mit seiner „multifunktionalen Einsetzbarkeit“16 hat das Petitionsrecht jedenfalls ausgeprägte demokratisch-partizipatorische Dimensionen, die historisch und aktuell für eine wirklichkeitswissenschaftlich interessierte Verfassungsrechtslehre von besonderem Reiz sind. Bekannte historische Beispiele sind das frühere ständische Petitionsrecht, das gemeinhin als Vorläufer von Gesetzesinitiativrechten gilt,17 und der massenhafte Einsatz von Petitionen als politisches Artikulations- und Agitationsmittel im Vor- und Umfeld der März-Revolution des Jahres 184818. In der Bundesrepublik Deutschland avancierte das Petitionsrecht in der wissenschaftlichen Wahrnehmung vor allem im Zuge der 68er-Bewegung zum „Zentralgrundrecht der Bürgerinitiativen“19, auch wenn Art. 17 GG in den damaligen staatsrechtlichen Partizipationsdebatten in aller Regel keine herausragende oder gar zentrale Rolle spielte20. ___________ Bedeutung des Petitionsrechts in erster Linie in dieser „kleinen“ Funktion des herkömmlichen Bitt- und Beschwerderechts sehen will. 14 So eine vielzitierte Formulierung von Günter Dürig, in: Theodor Maunz/Günter Dürig u.a., Grundgesetz, Kommentar, Art. 17 (1960) Rn. 1; im Original teilweise hervorgehoben. 15 Neben der im bereits erwähnten Funktion hervorzuheben sind die Interessen- und Rechtsschutzfunktionen, die Partizipations- und Integrationsfunktionen, Artikulations-, Informations-, Kontroll- und Innovationsfunktionen; Näheres dazu m.w.N. bei Bauer (Fn. 1), § 117 Rn. 14, 20, 36, 59, 65 ff., 73, 75. 16 Rupert Stettner, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 17 (Drittbearbeitung 2000) Rn. 22; sachlich übereinstimmend etwa Johannes Dietlein, in: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 286; Christine Langenfeld, Das Petitionsrecht, in: HStR III, 3. Aufl. 2005, § 39 Rn. 9 ff. (12); Hartmut Bauer, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 17 Rn. 7, 12, 16, 19; einschränkend Klein (Fn. 1), Art. 17 (2011) Rn. 137. 17 Johann Heinrich Kumpf, „Petition“, in: HRG III, 1984, Sp. 1639 (1640: „Surrogat für das den Ständen vorenthaltene Gesetzesinitiativrecht“); vgl. dazu mit wirkungsgeschichtlichen Bezügen zur Gegenwart etwa Korinek (Fn. 4), S. 8 f. (zum Petitionsrecht allgemein); Michael Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 76 Rn. 5, 7 (zum Initiativpetitionsrecht); Eckhard Barth, Bürgerbeauftragter und Petitionsrecht im Prozeß der europäischen Verfassungsgebung, 2004, S. 196 f. (zur europäischen Ebene). 18 Allein die Frankfurter Nationalversammlung soll „mit schätzungsweise 25 000 bis 30 000 Petitionen bedacht [worden sein], an denen sich vermutlich 2,5 bis 3 Millionen Menschen beteiligt haben“ (Kumpf [Fn. 17], Sp. 1643). 19 Josef Isensee, Staatshoheit und Bürgerinitiativen, in: Kurt Biedenkopf/Rüdiger v. Voss (Hrsg.), Staatsführung, Verbandsmacht und innere Souveränität, 1977, S. 138 (146). 20 Vgl. zur damaligen Partizipationsdebatte in der Staatsrechtswissenschaft etwa die Berichte auf der Salzburger Staatsrechtslehrertagung zum Thema „Partizipation an Verwaltungsentscheidungen“ von Robert Walter und Walter Schmitt Glaeser, VVDStRL 31
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Hartmut Bauer
Letzteres gilt, soweit ersichtlich, aktuell auch für die von den Vorgängen um „Stuttgart 21“ wirkungsvoll befeuerten Diskussionen über eine Verbesserung der Bürgerbeteiligung vor allem bei der Planung und Zulassung von Großvorhaben21. Gleichwohl sind seit geraumer Zeit Vorstöße zu verzeichnen, die auf eine stärkere Instrumentalisierung des Petitionsrechts für politische Einflussnahme22 und „Bürgerbeteiligung durch Petitionen“23 drängen. Inzwischen haben die davon ausgehenden Impulse die Ausgestaltung des herkömmlichen Petitionswesens erreicht und für bemerkenswerte Wandlungen im Verhältnis zwischen Bürger und Staat gesorgt. Dort ist es in den letzten Jahren nämlich rechtsebenenübergreifend zu demokratisch inspirierten Petitionsrechtsmodernisierungen24 gekommen; weitere Fortentwicklungen und Ergänzungen sind im Gespräch25. Die Innovationen bereichern das Eingaberecht um neue Institute oder lassen zumindest herkömmliche Petitionsformen in neuem Licht erscheinen. Sie machen das Petitionsrecht zu einem Hoffnungsträger bürgerschaftlicher Partizipation und verbinden sich in der Diskussion nicht selten mit Visionen eines demokratischen Aufbruchs in Szenarien elektronischer Demokratie.
___________ (1973), S. 147 ff., 179 ff.; thematisch ähnlich ausgerichtet der zweite Beratungsgegenstand der Bielefelder Staatsrechtslehrertagung „Organisierte Einwirkungen auf die Verwaltung – Zur Lage der zweiten Gewalt“ mit Berichten von Walter Schmidt und Richard Bartlsperger, VVDStRL 33 (1975), S. 183 ff., 221 ff.; außerdem Gunnar Folke Schuppert, Einflußnahme auf die Verwaltung durch Bürgerbeteiligung und kollektive Interessenwahrnehmung, in: Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Bürgernahe Verwaltung?, 1979, S. 279 ff. Gegenbeispiel für thematische Verknüpfung mit dem Petitionsrecht: Thomas Würtenberger, Massenpetitionen als Ausdruck politischer Diskrepanzen zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, ZParl. 18 (1987), S. 383 ff. 21 Siehe dazu aus der überbordenden Literatur an dieser Stelle nur Jan Ziekow, Neue Formen der Bürgerbeteiligung? Planung und Zulassung von Projekten in der parlamentarischen Demokratie, Gutachten D zum 69. Deutschen Juristentag, 2012, sowie die Referate von Kay Waechter und Thomas Mann zum Thema „Großvorhaben als Herausforderung für den demokratischen Rechtsstaat“, VVDStRL 72 (2013), S. 499 ff. und 544 ff., jeweils m.w.N. In der Verfassungswirklichkeit wurde das Petitionsrecht freilich durchaus für Eingaben an den Deutschen Bundestag gegen „Stuttgart 21“ und sogar für eine Öffentliche Petition genutzt; Näheres dazu unten bei Fn. 76 ff. 22 Siehe etwa Reinhard Bockhofer (Hrsg.), Mit Petitionen Politik verändern, 1999; ders. (Hrsg.), Demokratie wagen – Petitionsrecht ändern!, 2004. 23 Vgl. den Titel der Monographie von Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fn. 4). 24 Hartmut Bauer, Demokratisch inspirierte Petitionsrechtsmodernisierungen, in: Dirk Heckmann/Ralf P. Schenke/Gernot Sydow (Hrsg.), Festschrift für Thomas Würtenberger, 2013, S. 639 ff. 25 So etwa in (erneuten) Diskussionen über die Einführung eines Bürgerbeauftragten im Landesverfassungsrecht; dazu Annette Guckelberger, Argumente für und gegen einen parlamentarischen Ombudsmann aus heutiger Sicht, DÖV 2013, S. 613 ff.
Petitionsrechtliche Innovationen zur Stärkung bürgerschaftlicher Partizipation 213
II. Neue Petitionsformen Neubelebung und Ausbau des Petitionsrechts sowie die Partizipations- und Demokratiedebatten sind hier nicht in der ganzen Breite aufzunehmen. Stattdessen stehen drei neue oder zumindest in neuem Licht erscheinende Petitionsformen26 im Vordergrund, die mit innovativer Kraft zu einer Verbesserung bürgerschaftlicher Partizipation beitragen wollen, nämlich die Öffentliche Petition, die Europäische Bürgerinitiative und die im deutschen Verfassungsrecht bislang vernachlässigte Anrufung einer Ombudsperson. 1. Die Öffentliche Petition Parlamentspetitionen sind traditionsreiche Erscheinungsformen des Eingaberechts mit demokratisch-partizipatorischen Bezügen27, die in der bundesdeutschen Verfassungsentwicklung durch die Einrichtung eines eigenen Petitionsausschusses28 eine deutliche Aufwertung erfahren haben. Hier setzt die Öffentliche Petition an.29 Sie verknüpft die konventionellen Eingaben an die Volksvertretung
___________ 26
Allgemein zum Desiderat einer wissenschaftlich aufbereiteten Lehre von den Petitionsformen Bauer (Fn. 9), S. 1215 ff. 27 Dies gilt unabhängig von der funktionellen Einordnung des Petitionsgrundrechts in plebiszitär-demokratische oder repräsentativ-demokratische Funktionszusammenhänge; vgl. zu diesen Kontroversen klassisch einerseits Korinek (Fn 4), insb. S. 24 ff.; Wolfgang Graf Vitzthum, Petitionsrecht und Volksvertretung, 1986, S. 29; ders./Wolfgang März, Das Grundrecht der Petitionsfreiheit, JZ 1985, S. 809 (816 f.); andererseits Würtenberger, ZParl. 18 (1987), S. 383 (386 ff.); Langenfeld (Fn. 16) § 39 Rn. 13; Klein (Fn. 1), Art. 17 (2011) Rn. 50 ff., 140 f.; jeweils m.w.N. Zur hier vertretenen Position Bauer (Fn. 24), S. 644 ff. 28 Vgl. zu der 1975 erfolgten Einfügung von Art. 45c GG sowie seitherigen Ergänzungs- und Fortentwicklungsvorschlägen Thomas Würtenberger, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 45c (1995) Rn. 1 ff., 38 ff.; Hans Hugo Klein, in: Theodor Maunz/Günter Dürig u.a., Grundgesetz, Kommentar, Art. 45c (2011) Rn. 4 ff.; Hartmut Bauer, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 45c Rn. 3 ff., 10. 29 Vgl. dazu und zum Folgenden insb. Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (88 ff.); Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fn. 4), insb. S. 107 ff., 207 ff.; Ralf Lindner/Ulrich Riehm, Modernisierung des Petitionswesens und der Einsatz neuer Medien, ZParl. 40 (2009), S. 495 (500 ff.); Ulrich Riehm/Matthias Trénel, Öffentliche Petitionen beim Deutschen Bundestag, ZParl. 40 (2009), S. 512 ff.; Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), insb. S. 41 ff., 233 ff.; Bauer (Fn. 9), S. 1217 ff.; ders. (Fn. 24), S. 641 ff.; jeweils m.w.N.
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mit den Möglichkeiten moderner Informations- und Kommunikationstechnologien und generiert daraus in der Governance-Landschaft30 einen neuen Petitionstyp mit eigenständigen Funktionen, Voraussetzungen und Rechtsfolgen, die sich von denen anderer Erscheinungsformen unterscheiden. In ihrer ursprünglichen Konzeption geht die Öffentliche Petition auf ein schottisches Vorbild zurück. Sie wurde zunächst 2005 als Modellversuch beim Deutschen Bundestag gestartet, später in den Regelbetrieb übernommen, wiederholt modifiziert, nachgebessert und technisch ambitioniert fortentwickelt.31 Der typologisch-systematischen Einordnung nach handelt es sich um elektronisch eingereichte Öffentliche Petitionen mit kommunikativen und partizipativen Elementen.32 a) Leitmotiv und Innovationsidee Funktionelles Leitmotiv der Initianten war es, „allen Nutzern […] dieses interaktiven Instrumentariums zusätzliche Kommunikations-, Deliberations- und Partizipationsmöglichkeiten zu bieten und die repräsentative Demokratie zu stärken“33. Die Begleitforschung konstatierte alsbald einen Bedeutungszuwachs des Petitionswesens, begrüßte die Schritte zu mehr Transparenz, Zugänglichkeit und Teilhabe, rechnete die elektronischen Petitionssysteme zu den zentralen Aktivitäten im Bereich von E-Demokratie und E-Partizipation und stellte bereits Anfang 2009 zusammenfassend fest: „Alles in allem stecken die E-Partizipation und die parlamentarische E-Demokratie noch in den Kinderschuhen, und die darin eingebetteten E-Petitionssysteme erscheinen fast als Speerspitze einer Entwicklung hin zu größerer Transparenz der politischen Verfahren und zu einer stärkeren Bürgerbeteiligung“.34 Das sieht auch der Petitionsausschuss so, der in seinen Berichten die Öffentliche Petition „als wichtigen Beitrag zu mehr e-Demokratie“35 oder allgemeiner „zu mehr Demokratie“36 würdigt und mit erkennbarem ___________ 30 Vgl. allgemein zur Governancestruktur des deutschen Petitionswesens Barbara Lippa/Herbert Kubicek/Stephan Bröchler, Bekanntheit und Ansehen des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages und Nutzung des Petitionsrechts in Deutschland, 2009, S. 21 ff. 31 Dazu Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fn. 4), S. 207 ff.; Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), S. 51 ff.; Ralf Lindner/Ulrich Riehm, Broadening Participation Through E-Petitions. An Empirical Study of Petitions to the German Parliament, Policy & Internet, Vol. 3: Iss. 1, 2011, Article 4. 32 So Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), S. 12, in Abgrenzung zu den beiden Kategorien lediglich „elektronisch eingereichter Petitionen“ und „öffentlicher elektronischer Petitionen“. 33 Petitionsbericht für 2005, BT-Drucks. 16/2500, S. 10. 34 Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fn. 4), S. 13 ff. (Zitat: S. 18); vgl. auch Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), insb. S. 9 f. 35 Petitionsbericht für 2007, BT-Drucks. 16/9500, S. 9. 36 Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 8.
Petitionsrechtliche Innovationen zur Stärkung bürgerschaftlicher Partizipation 215
Stolz auf den „Politikaward“ verweist37, mit dem die Innovation im Dezember 2008 ausgezeichnet wurde.38 b) Rechtsgrundlagen Inzwischen ist die Öffentliche Petition „zu einer etablierten Einrichtung geworden“39. Gleichwohl finden sich dazu weder im Grundgesetz noch im Petitionsgesetz40 ausdrückliche Bestimmungen. Vielmehr ist das derzeitige Design der Öffentlichen Petition im Kern in den auf § 110 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT) gestützten Grundsätzen des Petitionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Beschwerden (Verfahrensgrundsätze)41 und der dazu erlassenen „Richtlinie für die Behandlung von öffentlichen Petitionen (öP) gem. Ziff. 1 (4) der Verfahrensgrundsätze“ (Richtlinie)42 geregelt. Diese Rechtsgrundlagen enthalten auch eine Legaldefinition: „Öffentliche Petitionen sind Bitten oder Beschwerden von allgemeinem Interesse an den Deutschen Bundestag“43. c) Voraussetzungen und Rechtsfolgen Die beiden Regelwerke legen zugleich eine ganze Reihe von Voraussetzungen fest, denen Öffentliche Petitionen genügen müssen. Dazu gehören in formeller Hinsicht die Zuständigkeit des Petitionsausschusses für das mit der Eingabe verfolgte Anliegen, die Petitionseinreichung in elektronischer Form und unter Verwendung des dafür vorgesehenen elektronischen Formulars, Anforderungen an Gegenstand und Begründung des Anliegens sowie die Erreichbarkeit des Petenten über eine gültige E-Mail-Anschrift. Inhaltlich muss die Eingabe „ein Anliegen von allgemeinem Interesse zum Gegenstand“ haben; außerdem müssen „das
___________ 37
Petitionsbericht für 2008, BT-Drucks. 16/13200, S. 10. Eingehender zu den Äußerungen des Petitionsausschusses Bauer (Fn. 24), S. 642 f., 644 f. m.w.N. 39 Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 8. 40 Gesetz über die Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages (Gesetz nach Artikel 45c des Grundgesetzes) vom 19. 7. 1975 (BGBl. I S. 1921), geändert durch Gesetz vom 5. 5. 2004 (BGBl. I S. 718). 41 Zuletzt geändert mit Wirkung zum 1. Januar 2012, abgedruckt als Anlage 8 IV. zum Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 89 ff. 42 Ebenfalls abgedruckt in Anlage 8 IV. zum Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 96 f. 43 Nr. 2.2 Abs. 4 der Verfahrensgrundsätze (Fn. 41). 38
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Anliegen und dessen Darstellung für eine sachliche öffentliche Diskussion geeignet“44 sein. Die Erfüllung dieser und anderer Voraussetzungen45 überprüft der beim Petitionsausschuss eingerichtete Ausschussdienst, der hinsichtlich der Veröffentlichung im Internet einen strengen Bewertungsmaßstab anlegt.46 Führt die Überprüfung durch den Ausschussdienst zu einem negativen Ergebnis, dann wird die Eingabe als solche nicht etwa abgewiesen. Vielmehr erfolgt die weitere Behandlung der nicht als Öffentliche Petition zugelassenen Eingabe nach den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen.47 Am Ende dieses allgemeinen Verfahrens steht bekanntlich kein Anspruch auf Abhilfe im Sinne des Petitums. Stattdessen hat der Petent Anspruch auf Kenntnisnahme, Prüfung und auf einen sachlichen „Bescheid, aus dem ersichtlich ist, wie die angegangene Stelle die Petition zu behandeln gedenkt,“48 und der richtiger Ansicht nach auch begründet sein muss49. Im Ergebnis gilt dies alles auch für Eingaben, die zwar als Öffentliche Petition angenommen und zugelassen sind, in der Sache schlussendlich aber erfolglos bleiben. Allerdings bestehen bei einer Eingabe, die als Öffentliche Petition angenommen ist, ganz beträchtliche Unterschiede im Verfahren der Petitionsbehandlung. Sind nämlich die Zulassungsvoraussetzungen erfüllt und die erwähnten Hürden genommen, dann wird die Öffentliche Petition „im Einvernehmen mit dem Petenten auf der Internetseite des Petitionsausschusses veröffentlicht. Mit der Veröffentlichung erhalten weitere Personen oder Personengruppen über das Internet die Gelegenheit zur Mitzeichnung der Petition oder zur Abgabe eines Diskussionsbeitrages hierzu“50. Rechtsfolge der Annahme einer Petition als Öffentliche Petition ist demnach zuallererst der Zugang zu der vom Petitionsausschuss bereitgestellten elektronischen Plattform, auf der das mit der Eingabe verfolgte Anliegen öffentlich gemacht, diskutiert und die Eingabe selbst durch Mitzeichnung unterstützt werden kann. In diesen Optionen für elektronische Kommunikation, Interaktion, Partizipation, Unterstützung und Mitzeichnung liegt die eigentliche Innovation der Öffentlichen Petition für die Modernisierung des Eingaberechts.51 ___________ 44
Nr. 2.1 der Richtlinie (Fn. 42). Nähere Erläuterungen zu den im Text genannten und weiteren Anforderungen finden sich vor allem in Nrn. 1 bis 3 der Richtlinie (Fn. 42). 46 Nr. 5 der Richtlinie (Fn. 42). 47 Nr. 5 der Richtlinie (Fn. 42). 48 BVerfGE 2, 225 (239); ähnlich BVerfGE 13, 54 (90); BVerfG (Kammer), DVBl. 1992, S. 32 (33). 49 Vgl. zu dieser Streifrage ablehnend etwa Uerpmann-Wittzack (Fn. 10), Art. 17 Rn. 8, und bejahend Klein (Fn. 1), Art. 17 (2011) Rn. 90 ff.; vgl. ferner Guckelberger (Fn. 10), S. 102 ff.; zur hier vertretenen Position Bauer (Fn. 1) 117 Rn. 38, 44, 47 m.w.N. 50 Nr. 2.2 (4) der Verfahrensgrundsätze (Fn. 41). 51 Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), S. 81 ff. 45
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Doch erschließt das neue Institut nicht nur diese kommunikativen und interaktiven Möglichkeiten internetgestützter Diskussionsforen. In der praktischen Handhabung können sich vielmehr noch ganz andere Wirkungen ergeben. Hervorzuheben ist zunächst vor allem das Quorum von 50.000 Unterstützern, dessen Erreichung weitere Rechtsfolgen auslöst: Einzelaufruf und Anhörung in öffentlicher Ausschusssitzung! Dementsprechend werden solche Petitionen in der Ausschusssitzung einzeln aufgerufen.52 Und in der öffentlichen Ausschusssitzung werden regelmäßig ein Petent oder mehrere Petenten angehört,53 damit sie die Petition eingehender darstellen und erläutern können. Diese weiteren Rechtswirkungen sind zwar keine Besonderheit der Öffentlichen Petition, weil sie nach den Verfahrensgrundsätzen ganz allgemein bei Sammel- und Massenpetitionen eintreten.54 Doch liegt es auf der Hand, dass sich bei herkömmlichen Eingaben Unterschriftensammlungen etwa im öffentlichen Straßenraum zumindest potentiell bereits im Ansatz deutlich schwieriger gestalten und wesentlich aufwendiger sind als das Einsammeln von Unterstützer-Mitzeichnungen per Mausklick in einem elektronisch unterstützten Verfahren.55 Unabhängig davon sind Öffentliche Petitionen gegenüber konventionellen Eingaben jedenfalls durch die Veröffentlichung der abschließenden Entscheidung einschließlich ihrer Begründung im Internet56 privilegiert.57 In der Sache schafft die Unterrichtung der Öffentlichkeit zusätzliche Transparenz und bietet damit Bürgern (und Presse) leicht zugängliche Ansatzpunkte für nachsetzende ___________ 52
Nr. 8.2.1 der Verfahrensgrundsätze (Fn. 41). Nr. 8.4 (4) der Verfahrensgrundsätze (Fn. 41). 54 Deshalb stößt die doppelte Privilegierung auch ganz allgemein auf verfassungsrechtliche Vorbehalte; dazu Klein (Fn. 28), Art. 45c (2011) Rn. 69, nach dessen Ansicht die Privilegierung ohne Verfassungsänderung nicht zu haben ist. 55 In der Verfassungspraxis ist (bislang) allerdings eine eher geringe Zahl an Öffentlichen Petitionen mit mehr als 50.000 elektronischen Mitzeichnungen zu verzeichnen. Das dürfte sich daraus erklären, dass trotz E-Mail und sozialer Netzwerke wie Facebook die Gewinnung von Unterstützern bzw. Mitzeichnern auch heute (noch) kein Selbstläufer ist (siehe zu Befund und Erklärungsansätzen sowie zum Folgenden Riehm/Böhle/Lindner [Fn. 10], S. 76 ff.). Doch ändert dies nichts an dem in der „Petition per Mausklick“ angelegten Potential, das beispielsweise Szenarien freisetzen kann, in denen sich einflussreiche und mitgliederstarke Verbände (wie der ADAC) und ebenso auflagen- wie mobilisierungsstarke Medien (wie die Bild-Zeitung) zusammenschließen und eine Öffentliche Petition etwa gegen die Einführung eines Tempo-Limits auf Autobahnen (nach dem Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“) oder einer PKW-Maut initiieren. 56 Nr. 12 der Richtlinie (Fn. 42). 57 Neben der Veröffentlichung der Petition auf der Internetseite des Petitionsausschusses ist dies die zweite allein an der Rechtsform anknüpfende Privilegierung der Öffentlichen Petition gegenüber einer „normalen“ Standard-Eingabe. Erreicht die Öffentliche Petition das Quorum von 50.000 Mitzeichnungen, kommen als dritte und vierte Privilegierung, die die Öffentliche Petition freilich mit anderen Sammel- und Masseneingaben teilt, Einzelaufruf und regelmäßig auch Anhörung in öffentlicher Ausschusssitzung hinzu. 53
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und nachhaltige Anschlusskommunikation mit dem Parlament und Abgeordneten, Ansatzpunkte für die Einflussnahme auf die Öffentliche Meinung und damit insgesamt für die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen. d) Praktische Bedeutung In der Verfassungswirklichkeit erfreut sich die Öffentliche Petition großer Beliebtheit. Sie gilt als „Erfolgsmodell“58, als „das mit Abstand erfolgreichste Internetangebot des Deutschen Bundestages“59 und „klarer Spitzenreiter der Internetangebote des Deutschen Bundestages“60. Millionenfache Seitenaufrufe und Besucherzugriffe pro Jahr61 und die inzwischen auf weit über eine Million angestiegene Zahl der auf der Internetseite des Petitionsausschusses angemeldeten Nutzer62 veranschaulichen die praktische Bedeutung eindrucksvoll. „Der größte Teil der Besucher des Petitionsportals kommt gezielt, etwa um eine bestimmte Petition mitzuzeichnen oder im Diskussionsforum dazu eigene Beiträge zur Diskussion zu stellen.“63 Die elektronische Plattform bietet die Möglichkeit, Lebenssachverhalte, Gesetzgebungsvorschläge, Sachverstand, Kritik und Beschwerden aus unterschiedlichen Sichtweisen und politischen Milieus kennen zu lernen, diese Stellungnahmen in die Meinungsbildung einzubeziehen, in den politischen Prozess einzubringen und dort wirksam werden zu lassen.64 Auch wenn bei weitem nicht alle als Öffentliche Petition eingereichten Eingaben vom Petitionsausschuss auch als solche zugelassen werden, bei weitem nicht alle zugelassenen Öffentlichen Petitionen eine hohe Zahl von Mitzeichnern gewinnen können und die Erfolgsbewertung Öffentlicher Petitionen unsicher ___________ 58
Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), S. 12; ähnlich bereits die frühere Begleitforschung (Riehm/Coenen/Lindner/Blümel [Fn. 4], S. 13). Diese Gesamteinschätzung schließt Kritik an tatsächlichen oder vermeintlichen Schwachstellen nicht aus; das betrifft etwa eine gewisse, gut nachvollziehbare Unzufriedenheit bei den Einreichern Öffentlicher Petitionen mit der Nichtzulassung als Öffentliche Petition (dazu Riehm/Coenen/Lindner/Blümel [Fn. 4], S. 237; Riehm/Böhle/Lindner [Fn. 10], S. 72 f.), die bereits zu gerichtlichen Auseinandersetzungen geführt hat. 59 Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 7. 60 So erst unlängst wieder Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 8. 61 Der Petitionsbericht für 2011 berichtet von „4 bis 5 Millionen Seitenaufrufen im Monat“ (BT-Drucks. 17/9900, S. 8), der Petitionsbericht für das Jahr 2012 von monatlich „durchschnittlich 200.000 Besucherzugriffen auf die Petitionsseiten im Internet“ (BTDrucks. 17/13660, S. 8). 62 Siehe dazu die Petitionsberichte für die Jahre 2011 (BT-Drucks. 17/9900, S. 8) und 2012 (BT-Drucks. 17/13660, S. 7 f. mit Hinweis auf mittlerweile mehr als 1,4 Millionen registrierte Nutzer). 63 Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 8. 64 Vgl. Präambel der Richtlinie (Fn. 42).
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ist,65 sprechen die Zahlen doch für sich. Allein im vergangenen Jahr gingen 6.784 Eingaben (43 % aller Petitionen) auf elektronischem Weg mit dem Web-Formular über das Petitionsportal beim Bundestag ein, haben sich über 85.000 neue Nutzer angemeldet und wurden zu den 526 veröffentlichten Petitionen „über 500.000 elektronische Mitzeichnungen registriert“66. Das bestätigt den Trend hin zur Elektronisierung der Petitionspraxis, der sich schon vor Jahren in vielbeachteten Öffentlichen Petitionen niedergeschlagen hat.67 In jüngerer Zeit fanden beispielsweise Öffentliche Petitionen zur Senkung des Flächenverbrauchs und zum Schutz landwirtschaftlicher Nutzflächen gut 212.000, zur Zulassungsbegrenzung von genetisch veränderten Pflanzen mehr als 105.000, zur Verbesserung der Rahmenbedingungen in der Altenpflege annähernd 93.000 und zur Aussetzung der Ratifizierung von ACTA fast 62.000 Mitzeichnungen als Unterstützung.68 Für die Zukunft durchaus vorstellbar sind Öffentliche Petitionen, bei denen die Zahl der Unterstützer die Millionengrenze überschreitet.69
___________ 65 Ausweislich des Petitionsberichts für 2012 (BT-Drucks. 17/13660, S. 8, 69) wurden 2012 insgesamt 526 Petitionen im Internet veröffentlicht, diskutiert und mitgezeichnet. Von diesen Öffentlichen Petitionen erreichten 20 mehr als 5.000 Mitzeichnungen (der Spitzenwert lag 2012 bei 97.078 Mitzeichnungen). Die Erfolgsquote ist wegen der uneinheitlichen Petitionsgegenstände, der differenzierten Erledigungsarten (vgl. BT-Drucks. 17/13660, S. 64) und deren teilweise unsicheren Auswirkungen, aber auch wegen der unterschiedlichen Sichtweisen von Bundestag und Petenten nicht exakt zu benennen. Ausweislich der Begleitforschung ist seit der Einrichtung des Modellversuchs ein Anstieg der eingereichten und auch der zugelassenen Öffentlichen Petitionen zu verzeichnen (von 761 [Einreichung] und 284 [Zulassung] im Jahr 2006 über 5.113 [Einreichung] und 701 [Zulassung] im Jahr 2009 auf 4.039 [Einreichung] und 559 [Zulassung] im Jahr 2010), wobei sich die Zulassungsquote der 10%-Marke nähert; die große Mehrzahl der Öffentlichen Petitionen erhält weniger als 1.000 Mitzeichnungen (siehe zu diesen Angaben und zur schwierigen Erfolgsbewertung Riehm/Böhle/Lindner [Fn. 10], S. 68 ff., 76 f., 98 ff.). 2012 gingen 6.748 Eingaben auf elektronischem Weg mit dem Web-Formular beim Petitionsausschuss ein, der für denselben Zeitraum 526 im Internet veröffentlichte Petitionen nennt; dazu Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 7. 66 Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 7, mit dem instruktiven ergänzenden Hinweis: „Nimmt man noch die Unterstützer per Post und Fax hinzu, dann verdoppelt sich die Zahl derjenigen sogar, die sich hilfesuchend an das Parlament wandten.“ 67 So etwa bei einer im Internet von über 100.000 Personen unterstützten Petition zur „Generation Praktikum“, bei einer von 25.000 Mitunterzeichner getragenen Eingabe gegen die Einführung von Wahlcomputern und bei dem von über 15.000 E-Petenten verfolgten Anliegen, die Hundesteuer abzuschaffen; dazu Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (86 m.w.N.). 68 Petitionsberichte für die Jahre 2011 (BT-Drucks. 17/9900, S. 72) und 2012 (BTDrucks. 17/13660, S. 69). Es bedarf keiner hellseherischen Kräfte, um potentiell auch Petitionen mit die Millionengrenze überschreitenden Unterstützerzahlen für realistisch zu halten; zu möglichen Szenarien vgl. oben Fn. 55. 69 Vgl. Fn. 55.
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e) Insbesondere: Erfolgsaussichten Zumal im systematischen Gesamtzugriff ist die Bewertung der Erfolgsaussichten derartiger Petitionen, wie erwähnt,70 schwierig. Zur näheren Verdeutlichung der Chancen, aber auch der Probleme und Grenzen von (Öffentlichen) Petitionen müssen an dieser Stelle einige Schlaglichter genügen: Das betrifft zunächst den Anteil der abgelehnten Petitionen, der über die Jahre hinweg sehr stark schwankt und 2012 bei rund 25 % lag71. Indes können sich auch mit einer solchen Ablehnung positive Effekte verbinden, etwa wenn es im und durch das Petitionsverfahren gelingt, bei den Petenten Verständnis für die jeweilige staatliche Entscheidung zu wecken und sie wenn schon nicht damit auszusöhnen,72 so doch wenigstens durch den dialogischen Diskurs im Gemeinwesen zu integrieren. Den Ablehnungen stehen nach den Mitteilungen des Petitionsausschusses 2012 mehr als ein Drittel im weiteren Sinn positiv erledigte Vorgänge gegenüber, „wobei einige Anfragen der Petenten bereits im Vorfeld des parlamentarischen Verfahrens abgeschlossen werden konnten.“73 Zu den jedenfalls aus Sicht des Ausschusses unlängst erfolgreich abgeschlossenen Verfahren gehören zwei Öffentliche Petitionen zur „Generation Praktikum“ aus dem Jahr 2007, die nach ihrer Einreichung von über 100.000 Mitzeichnern im Internet unterstützt wurden. Für diese Eingaben hatte der Ausschuss alsbald empfohlen, sie der Bundesregierung zur Erwägung zu überwiesen und den Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Kenntnis zu geben.74 Die positive Erledigung der Angelegenheit erfolgte 2012 durch die Mitteilung der Bundesregierung, dass nach zweijähriger Verhandlungsphase mit der Arbeitgeberseite ein praxisgerechter Leitfaden über Praktika vorliege, der insbesondere in Sozialversicherungsfragen auf den Schutz der Praktikanten ziele.75 ___________ 70
Fn. 65. Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 64; die dort in der Erledigungsart „Dem Anliegen wurde nicht entsprochen“ ausgewiesenen 24,96 % bewegen sich im Bereich des langjährigen Durchschnitts von 25, 3 % (dazu Riehm/Böhle/Lindner [Fn. 10], S. 99). 72 Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 7. Im Übrigen kann es aus einer übergeordneten Warte bereits als Erfolg gelten, durch die Bereitstellung des Petitionsverfahrens das Vertrauen der Bürger in die parlamentarische Demokratie und den Rechtsstaat zu fördern (Riehm/Böhle/Lindner [Fn. 10], S. 99). 73 Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 7, mit Hinweis darauf, dass oft „bereits Stellungnahmeersuchen des Petitionsausschusses bei den staatlichen Stellen eine gründlichere Abwägung des Sachverhalts“ bewirkten. 74 Petitionsbericht für 2007, BT-Drucks. 16/9500, S. 8, 35. 75 Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 74 f. 71
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Weniger zufrieden und befriedet werden die Initianten von Petitionen76 gegen das Bauprojekt „Stuttgart 21“ sein.77 Dazu war bereits 2008 eine vornehmlich unter denkmalschützerischen Aspekten begründete Öffentliche Petition eingereicht, zugelassen und von 3.132 Mitzeichnungen unterstützt worden78. Obschon sich die politischen Umstände seit der Einreichung völlig verändert haben, wurde nach den Massenprotesten und dem Schlichtungsverfahren im Jahr 2010 keine weitere Öffentliche „S 21-Petition“ mehr zugelassen79. Für die Betroffenen dürfte dies kaum nachvollziehbar sein, zumal über die ursprüngliche Öffentliche Petition aus dem Jahr 2008 bis heute nicht entschieden ist80. Doch schließen solche zweifelhaften Erfahrungen erfolgreiche Petitionen gegen Großprojekte nicht aus. Ein schönes Beispiel sind die bereits vor der Bereitstellung der elektronischen Petitionssysteme seit 2003 beim Petitionsausschuss eingereichten Eingaben gegen das „Bombodrom“ in Brandenburg.81 Bei diesen Eingaben handelte es sich um rund 80 Petitionen mit insgesamt über 60.000 Unterschriften, die sich gegen den geplanten Luft-Boden-Schießplatz bei Wittstock in der Kyritz-Ruppiner Heide richteten.82 Nach umfangreichen Ermittlungen und einem 2007 durchgeführten Ortstermin hatte der Petitionsausschuss den Eindruck gewonnen, dass das Petitionsanliegen wegen der durch den Flugverkehr zu erwartenden Lärmbelastungen, der zu befürchtenden gravierenden Auswirkungen auf den Tourismus und der negativen Rückwirkungen auf Naturschutzgebiete der Region grundsätzlich berechtigt sei. Trotz dieser Vorbehalte, zusätzlicher Kritik des Bundesrechnungshofs an dem Vorhaben und mehrerer Gerichtsentscheidungen, nach denen die Nutzung des Geländes als Schießplatz für ___________ 76 In den Petitionen wurde gefordert, „das Bauprojekt 'Stuttgart 21' zu stoppen, eine Volksabstimmung darüber durchzuführen und keine Mittel aus dem Bundeshaushalt für dieses Projekt zur Verfügung zu stellen“ (Petitionsbericht für 2010, BT-Drucks. 17/6250, S. 41). 77 Dazu Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), S. 71. 78 Petition 1013 „Eisenbahnliegenschaftswesen – Hauptbahnhof Stuttgart vom 6.11.2008“: (Stand: 3.10.2013). 79 Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), S. 71. 80 Die Petition befindet sich rund fünf Jahre nach ihrer Einreichung noch immer im Stadium „in der Prüfung“: (Stand: 3.10.2013). 81 Vgl. dazu und zum Folgenden Petitionsbericht für 2003, BT-Drucks. 17/3150, S. 30; Petitionsbericht für 2006, BT-Drucks. 16/6270, S. 40; Petitionsbericht für 2007, BTDrucks. 16/9500, S. 37; Petitionsbericht für 2008, BT-Drucks. 16/13200, S. 44; Petitionsbericht für 2009, BT-Drucks. 17/2100, S. 37; Petitionsbericht für 2010, BT-Drucks. 17/6250, S. 89. 82 Zu einer noch 2010 eingereichten Massenpetition mit über 41.000 Zuschriften siehe Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/6250, S. 61.
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Kampfflugzeuge auf absehbare Zeit nicht möglich gewesen wäre, hielt das Bundesverteidigungsministerium noch im Januar 2009 an seiner Auffassung fest, dass für die Nutzung des Truppenübungsplatzes Wittstock als Luft-BodenSchießplatz nach wie vor ein zwingender Bedarf bestünde. Vor diesem Hintergrund überwies der Bundestag auf einstimmige Empfehlung des Petitionsausschusses im Juli 2009 die Petitionen der Bundesregierung zur Erwägung. Diese Überweisung war der letztlich ausschlaggebende Anstoß für das Bundesverteidigungsministerium, auf die geplante Nutzung des Schießplatzes zu verzichten und damit zugleich einen mit gerichtlichen und außergerichtlichen Mitteln ausgetragenen, mehr als fünfzehn Jahre währenden Streit zu beenden.83 Bei alledem ist nicht nur am Rande bemerkenswert, dass der Petitionsausschuss und die Petitionsadressaten bei der Behandlung von Eingaben häufig nicht nach dem „Alles-oder-Nichts“-Prinzip verfahren, also das mit der jeweiligen Petition verfolgte Petitum entweder zurückweisen oder ihm stattgeben. Vielmehr bemühen sich die Akteure auch um „weichere“ Problemlösungen, die dem Anliegen des Petenten zwar nicht in der begehrten, aber in anderer Form Rechnung zu tragen suchen. Ein Beispiel ist die vom Petitionsausschuss als „positiv“ bewertete Erledigung der erwähnten Eingabe zur „Generation Praktikum“, die nicht in gesetzliche Rechtsetzung, sondern in die Aushandlung eines praxisgerechten Leitfadens für die Gestaltung von Verträgen mündete.84 Auch können, wie beim „Bombodrom“85, Entscheidungen des Petitionsausschusses bereits anderweitig vorliegende Voten gleichsam verstärken und so den letzten Impuls für ein Umdenken geben. Die Beispiele aus den wissenschaftlich bislang kaum beachteten (inhaltlichen) Verbescheidungen und Ergebnissen von Eingaben zeigen, dass das Petitionsbearbeitungsverfahren mediative Elemente aufnehmen und insoweit das herkömmliche Bitt- und Beschwerderecht zu einem Baustein modernen Konfliktmanagements86 fortentwickeln kann. Dazu passt auch die Bemerkung im letzten Petitionsbericht, wonach oftmals „bereits Stellungnahmeersuchen des Petitionsausschusses bei den staatlichen Stellen eine gründlichere Abwägung des Sachverhalts“ bewirkten87. Der unmittelbar daran anschließende Hinweis, dass „auch wieder ausführlichere Gespräche der Berichterstatter unter Beteiligung von Vertretern der Bundesregierung notwendig [waren], um Lösungswege aufzuzeigen“, unterstützt diese Einschätzung. ___________ 83 Vgl. Petitionsbericht für 2009, BT-Drucks. 17/2100, S. 37; Petitionsbericht für 2010, BT-Drucks. 17/6250, S. 89; Bauer (Fn. 1), 117 Rn. 30 mit Fn. 206. 84 Dazu oben bei Fn. 74. 85 Oben bei Fn. 81. 86 Vgl. dazu etwa den Bericht von Steffi Menge, 6. Staatswissenschaftliches Forum – Vom Bitt- und Beschwerderecht zum Konfliktmanagement im Staat-Bürger-Verhältnis, NVwZ 2007, S. 1275 f. 87 Petitionsbericht für 2012, BT-Drucks. 17/13660, S. 7.
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f) Zusammenfassende und ergänzende Bemerkungen Die neue Eingabeform „Öffentliche Petition“ ist gewiss ein „Leuchtturmprojekt“88 mit bemerkenswerten Erfolgen. Sie ist aber auch in mancherlei Hinsicht rechtlich prekär89. Die verfassungsrechtlichen Probleme beginnen schon bei der elektronischen Petitionseinreichung,90 die der Petitionsausschuss selbst lange Zeit „aus Rechtsgründen“ als nicht (schrift-)formwahrend eingestuft,91 später mit wachsender Unterstützung der Literatur92 aber recht souverän akzeptiert hat. Doch verbleiben auch jenseits der spezifischen Schriftformproblematik zunehmend bewusst werdende Anschlussprobleme, die hier nur kurz anzusprechen sind: Die massiven Akzentverschiebungen in der Ordnungsidee des Petitionsrechts, die Ungleich- und Sonderbehandlungen im Verfahren durch mehrfache Privilegierung der Öffentlichen Petition,93 die zweifelhaften Kriterien für die Zulassung einer Eingabe als Öffentliche Petition und deren Handhabung in der Praxis sowie die Verfahrensgestaltung und die Entscheidungsbefugnisse des Ausschussdienstes94 streiten in der juristischen Gesamtbewertung für das Erfordernis einer Regelung durch den parlamentarischen Gesetzgeber. Das ist an dieser Stelle nicht erneut zu diskutieren.95 Sieht man von dem Erfordernis einer gesetzlichen Regelung ab, dann ist in der verfassungswissenschaftlichen Würdigung festzuhalten, dass mit der Öffentlichen Petition eine ausgesprochen innovative Modernisierung des Petitionswesens zur Verbesserung bürgerschaftlicher Partizipation gelungen ist. Die Öffentliche Petition nutzt moderne Informations- und Kommunikationstechnologien ___________ 88
Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), S. 10. Verfassungsrechtliche Vorbehalte auch bei Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (92 f.); Klein (Fn. 28), Art. 45c (2011) Rn. 69 ff.; Pagenkopf (Fn. 7), Art. 17 Rn. 9. 90 Wichtige Grundsatzkritik und Vorbehalte gegen den grundgesetzlichen Schutz elektronischer Petitionsoptionen bei Martin Kellner, Die E-Petition zum Bundestag: Ein Danaergeschenk, NJ 2007, S. 56 ff., mit Hinweisen auf kaum bedachte Konsequenzen einer verfassungswidrigen Praxis in anderen Petitionssegmenten. 91 Siehe dazu und zur Diskussion Heribert Schmitz, Einlegung einer Petition durch EMail?, NVwZ 2003, S. 1437 (1437), unter Hinweis auf die auf der (damaligen) Internetseite angegebene Begründung. 92 Aus jüngerer Zeit etwa Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (86 ff.); dies. (Fn. 10), S. 33 ff.; Kloepfer (Fn. 17), § 76 Rn.26; Klein (Fn. 1), Art. 17 (2011) Rn. 63; Thomas Gerner, Das Petitionsrecht nach Art. 17 des Grundgesetzes, NZS 2012, S. 847 (847 ff.); vgl. zur Diskussion ferner Bauer (Fn. 16), Art. 17 Rn. 35 ff. m.w.N. 93 Fn. 57. 94 Zum zunehmenden Unbehagen mit den Nichtzulassungsentscheidungen des Ausschussdienstes, das auf eine zentrales Hauptproblem des E-Petitionssystems verweist, siehe eingehender Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), S. 70 ff., und bereits oben Fn. 58. 95 Näheres bei Bauer (Fn. 9), S. 1222 ff. m.w.N. 89
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für die Einreichung, Veröffentlichung, Mitzeichnung und Diskussion von Eingaben an den Bundestag. Das erleichtert die Einbringung von Petitionen, schafft mehr Transparenz und fördert Diskurse im Petitionsverfahren.96 Der erwähnte97 Politikaward bringt dies punktgenau auf den Begriff. Der Preis honoriert das EPortal u. a. deshalb, weil es funktionell „eine einmalige Möglichkeit an Bürgerbeteiligung und Transparenz [bietet]. Dank E-Petitionen gibt es eine schnellere und transparentere Verbindung zwischen Bevölkerung und Parlament“98. Das neue elektronische Petitionssystem ist politisch ein „großer Wurf“ und schon jetzt eine Erfolgsgeschichte. Es wertet die Bedeutung von Petitionen als Elemente, Bausteine und auch Pfeiler politischer Partizipation auf und setzt damit zugleich Standards, die Vorbildwirkung für die Verfassungen der deutschen Länder und andere europäische und außereuropäische Verfassungen entfalten könnten.99 2. Die Europäische Bürgerinitiative Ähnlich wie im deutschen Verfassungsrecht ist das Petitionsrecht auch im Unionsverfassungsrecht fest verankert. Traditionsreiche eingaberechtliche Institute sind dort das Petitionsrecht zum Europäischen Parlament, das Recht zur Anrufung des Europäischen Bürgerbeauftragten und das Recht zur Kommunikation mit Gemeinschafts- bzw. Unionsinstitutionen. All diese Ausprägungen des Petitionsrechts haben eine längere Vorgeschichte mit zumeist100 einfachrechtlichen Vorläufern und über die Jahre hinweg durch die Aufnahme in das Primärrecht eine deutliche Aufwertung erfahren.101 Heute sind diese Eingaberechte vor allem in Art. 24 AEUV geregelt, dessen systematischer Standort zusammen mit Art. ___________ 96 Vgl. dazu auch den im Juni 2011 vorgelegten Tätigkeitsbericht 2010 des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, S. 33 ff. 97 Oben bei Fn. 37. 98 Petitionsbericht für 2008, BT-Drucks. 16/13200, S. 10. 99 Vgl. zum innerdeutschen Diskurs Guckelberger (Fn. 10), S. 44 ff., und Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), S. 108 ff., sowie zu möglichen Ausstrahlungswirkungen in Europa Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), S. 181 ff. 100 Abweichend von den beiden anderen im Text genannten Rechten hat das mit dem Vertrag von Maastricht (1992) in das Gemeinschaftsverfassungsrecht eingefügte Recht zur Anrufung des Bürgerbeauftragten im weiter zurückliegenden Gemeinschaftsrecht keine Vorläufer. Freilich hat es schon vor dem Maastrichter Vertrag wiederholt Vorstöße zur Einrichtung eines Ombudsman auf europäischer Ebene gegeben, die sich aber zunächst nicht durchsetzen konnten. Siehe dazu näher Guckelberger (Fn. 11), S. 78 ff.; Julia Haas, Der Ombudsmann als Institution des Europäischen Verwaltungsrechts, 2012, S. 239 ff.; jeweils m.w.N. 101 Vgl. zur Vorgeschichte und Aufnahme in das Primärrecht durch die Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) Guckelberger (Fn. 11), S. 9 ff., 22 ff.; dies., DÖV 2003, S. 829 (830); Bauer (Fn.1), § 117 Rn. 52 f., 55, 57.
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20 Abs. 2 Satz 2 lit. d AEUV den herausragenden Stellenwert des Petitionsrechts für die Unionsbürgerschaft unterstreicht. Die gesamte Entwicklung liefert mehr als bemerkenswerte Belege für den in jüngerer Zeit erfolgten Ausbau, für den mit großer Schubkraft vorangetriebenen Aufstieg und für die mittlerweile erreichte, doch sehr exponierte Stellung des Petitionsrechts im europäischen Gemeinwesen. Gleichwohl sind an dieser Stelle nicht erneut sämtliche Erscheinungsformen in den Blick zu nehmen. Stattdessen ist für die hier interessierenden neuen Petitionsformen das Recht auf Kommunikation mit Unionsinstitutionen nach Art. 20 Abs. 2 lit. d, 24 Abs. 4 AEUV besonders hervorzuheben. Dieses Recht, das in der Wissenschaft bislang eher ein Schattendasein fristet, sticht bei herkömmlicher Betrachtung vor allem wegen der Sprachenregelung ins Auge. Jenseits der Sprachenfrage nimmt das „Kommunikationsrecht“102 allerdings zugleich wichtige Teilaspekte eingaberechtlicher Normprogramme auf. Es garantiert nämlich das Recht, sich – unabhängig von anderen organisations- und verfahrensrechtlichen Regelungen – mit Bitten, Beschwerden und anderen Anliegen an die in der Vorschrift genannten Institutionen zu wenden. Das schließt die Befugnis ein, sich beispielsweise mit einem Rechtsetzungsanliegen an die Europäische Kommission103 zu wenden und diese zu bitten, dazu konkrete Vorschläge zu unterbreiten. Ein Anspruch auf ein konkretes Vorgehen der Kommission in dem von dem Petenten erwünschten und angestrebten Sinn verbindet sich damit zwar nicht, wohl aber ein Anspruch auf begründete Antwort, aus der hervorgeht, wie die Kommission die Angelegenheit weiter zu behandeln gedenkt.104 Das entspricht gängigem petitionsrechtlichem Gedankengut und ist deshalb alles andere als neu. „Neu“ ist die mit dem Vertrag von Lissabon erfolgte Fortentwicklung dieser herkömmlichen Petitionsart zu einer den bisherigen Bestand ergänzenden Europäischen Bürgerinitiative. Die Europäische Bürgerinitiative setzt an der konventionellen Eingabeform an und generiert daraus einen neuen Petitionstyp mit spezifischen Funktionen, Voraussetzungen und Rechtsfolgen, der – ähnlich wie schon die Öffentliche Petition105 – die Optionen moderner Informations- und Kommunikationstechnologien intensiv nutzt und in der gewählten konzeptionellen Ausgestaltung ohne eine solche Elektronisierung der Petitionsprozesse kaum denkbar wäre.
___________ 102 Armin Hatje, in: Jürgen Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 24 AEUV Rn. 4. 103 Art. 24 Abs. 4 AEUV, Art. 13 Abs. 1 EUV. 104 Näher dazu und zum Folgenden Bauer (Fn. 1), § 117 Rn. 55 f., 65 ff. m.w.N. 105 Oben II.1.
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a) Leitmotiv und Innovationsidee Die Europäische Bürgerinitiative wurde 2009 in das Unionsverfassungsrecht eingefügt und zählt für manche „als erstes direktdemokratisches Instrument zu den bedeutendsten Neuerungen des Vertrages von Lissabon“106. Die Innovation ist Reaktion auf das vielbeklagte Demokratiedefizit der Europäischen Union. Sie will aber nicht nur die „demokratische Funktionsweise der Union“ verbessern107, sondern mit integrationsverstärkendem Effekt auch die Herausbildung transnationaler Diskurse in einer europäischen Interessen- und Wertegemeinschaft unterstützen.108 Dazu eröffnet die Europäische Bürgerinitiative nunmehr Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern die Möglichkeit, die Kommission aufzufordern, geeignete Rechtsetzungsvorschläge zu einem Thema zu unterbreiten, zu dem es nach Einschätzung der Initianten eines Rechtsaktes bedarf. Die bisweilen als „neuartiges direktdemokratisches Instrument“109 bezeichnete Bürgerinitiative stößt in das Zentrum des unionalen Demokratieverständnisses vor und ist dementsprechend rechtssystematisch nicht allein in petitionsrechtlichem Kontext, sondern auch in den Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze der Union geregelt. Danach beruht die Arbeitsweise der Union zunächst zwar auf der repräsentativen Demokratie.110 Daneben suchen die Unionsorgane aber auch den Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit Betroffe___________ 106 Andreas Maurer/Stephan Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative, 2009, S. 5; ähnlich Bruno Kaufmann, Direkte Demokratie auf der transnationalen Ebene. Zur Entstehungsgeschichte der Europäischen Bürgerinitiative, in: Lars P. Feld u.a. (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie 2010, 2011, S. 201 ff.; vgl. allgemein zur Debatte über die Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene, allerdings mit nur eher beiläufiger Erörterung der Bürgerinitiative Oliver Mross, Bürgerbeteiligung am Rechtsetzungsprozess in der Europäischen Union, 2009; ferner die parallel zu dem lang andauernden Vertragsänderungsund Ratifikationsprozess entstandene Dissertation von Heiko Piesbergen, Die Europäische Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV, 2011. 107 Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative, Abl.EU Nr. 65 v. 11. 3. 2011, S. 1. 108 Maurer/Stephan (Fn. 106), S. 5.Vgl. allgemein zu den Motiven, Zielen und Erwartungen auch Annette Guckelberger, Die Europäische Bürgerinitiative, DÖV 2010, S. 745 (745 ff.); Walter Obwexer/Julia Villotti, Die Europäische Bürgerinitiative. Grundlagen, Bedingungen und Verfahren, JRP 18 (2010), S. 108 ff.; Viktoria Robertson, Elemente der direkten Demokratie im Vertrag von Lissabon, JRP 18 (2010), S. 133 ff.; Helmut Goerlich/Benedikt Assenbrunner, Das Europäische „Bürgerbegehren“ als Element eines supranationalen Demokratieverständnisses nach dem Vertrag von Lissabon, ZG 26 (2011), S. 268 ff.; Benedikt Assenbrunner, Die praktische Umsetzung der Europäischen Bürgerinitiative nach dem Vertrag von Lissabon, SächsVBl. 2011, S. 201 (203 ff.); Bauer (Fn. 24), S. 649 ff. 109 Maurer/Stephan (Fn. 106), S. 5. 110 Art. 10 Abs. 1 EUV.
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nen, mit repräsentativen Verbänden und mit der Zivilgesellschaft, und bei alledem sind die Organe aufgeschlossen für bürgerschaftliche Partizipation111. Zu dieser Partizipation gehört nicht zuletzt die Europäische Bürgerinitiative112, nach deren bottom up-Ansatz das agenda setting nicht von oben erfolgt.113 Denn die Benennung der konkreten Themen und der inhaltlichen Schwerpunkte liegt in der Hand der Initianten. In einen Volks- bzw. Bürgerentscheid mündet die Europäische Bürgerinitiative am Ende nicht. Doch stößt die Initiative direktdemokratisch Interaktions-, Kommunikations-, Assoziations-, Deliberations- und Partizipationsprozesse an. Damit ist sie auf der europäischen Ebene ein wichtiger Baustein partizipativer Demokratie oder – nach einer Formulierung des Bundesverfassungsgerichts – ein Element „assoziativer und direkter Demokratie“114. b) Rechtsgrundlagen, Voraussetzungen und Rechtsfolgen Die Unionsverfassung regelt in Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 24 Abs. 1 AEUV nur Eckpunkte und Grundzüge der Europäische Bürgerinitiative. Die näheren Bestimmungen über Verfahren und Bedingungen sind nach Art. 24 Abs. 1 AEUV vom Europäischen Parlament und vom Rat im Verfahren der ordentlichen Gesetzgebung durch Verordnungen festzulegen. Diese Festlegungen erfolgten 2011 in der Verordnung über die Bürgerinitiative115. Die sekundärrechtliche Ausgestaltung enthält umfangreiche Vorschriften über Voraussetzungen, Organisation und Verfahren der Bürgerinitiative.116 Sie „gilt ab 1. April 2012“117. Ergänzende Regelungen für Deutschland finden sich in dem am 1. April 2012 in Kraft getretenen Gesetz zur Europäischen Bürgerinitiative (EBIG)118. ___________ 111
Art. 10 Abs. 3 und 4, 11 EUV. Art. 11 Abs. 4 EUV. 113 Guckelberger, DÖV 2010, S. 745 (746 f.). 114 BVerfGE 123, 267 (369, 377 f. [Zitat: 377]). 115 Fn. 107. 116 Dazu Assenbrunner, SächsVBl. 2011, S. 201 (201 ff.); Michael Tiedemann, Die sekundärrechtliche Ausgestaltung der europäischen Bürgerinitiative durch die Verordnung (EU) Nr. 211/2011, NVwZ 2012, S. 80 ff.; Oliver Mader, Bürgerinitiative, Petitionsrecht, Beschwerde zum Bürgerbeauftragten – Unionsrechtliche Formen direktdemokratischer Partizipation und ihre gerichtliche Durchsetzbarkeit, EuR 2013, S. 348 (353 f., 356 ff.); Bauer (Fn. 1), § 117 Rn. 69. 117 Art. 23 der Verordnung über die Bürgerinitiative (Fn. 107). Die Verordnung wurde seit ihrem Inkrafttreten mehrfach geändert und berichtigt; dabei handelt es sich neben mehr technischen Modifikationen vor allem um Änderungen, die durch den Beitritt Kroatiens veranlasst waren. 118 Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative vom 7. März 2012, BGBl I S. 446. 112
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Nach diesen Normen durchläuft die Bürgerinitiative von ihrer Vorbereitung über die Einleitung und Durchführung bis hin zur Reaktion der Kommission ein in mehrere Phasen gegliedertes Verfahren, das in dem Gesamtregelungswerk sehr detailliert ausgeformt ist. Dazu gehören neben den Anforderungen an die Initianten und Unterzeichner sowie organisationsrechtlichen Vorgaben auch zahlreiche Rechte und Pflichten aller Beteiligten, die phasenspezifische Inhalte haben und insgesamt in das mehrstufige gestreckte Petitionsrechtsverhältnis eingestellt sind. Das umfangreiche Rechtsregime ist hier nicht im Einzelnen vorzustellen. Stattdessen sind nur einige Eckpunkte kurz anzusprechen. Danach setzt die Europäische Bürgerinitiative eine Mindestzahl von wenigstens einer Million Unterzeichnern voraus. Die Unterzeichner müssen wahlberechtigte Unionsbürger (Art. 9 Satz 2 EUV) sein, derzeit aus mindestens sieben Mitgliedstaaten stammen und sich nach einem bestimmten Quorum auf die Mitgliedstaaten verteilen.119 Besonders hervorzuheben ist außerdem der Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien namentlich bei der Option, Unterstützerbekundungen nicht nur in Papierform, sondern auch elektronisch sammeln zu können120. Nicht unerwähnt bleiben kann schließlich die thematisch-inhaltliche Beschränkung der Europäischen Bürgerinitiative auf die Kommission und deren Zuständigkeit sowie auf das Petitum der Unterbreitung von Vorschlägen. Die Rechtsfolgen einer den Voraussetzungen genügenden Bürgerinitiative sind vielschichtig und in den einzelnen Phasen des Petitionsrechtsverhältnisses differenziert ausgeprägt. Aus der Sicht der Unionsbürger handelt es sich im Kern um aus dem Petitionswesen ganz allgemein bekannte Ansprüche auf Unterlassung (etwa von Behinderungen der Einleitung von Petitionen) und Leistung (etwa auf Entgegennahme, sachliche Prüfung und Bescheidung), denen entsprechende Pflichten der Kommission korrespondieren und die in dem Regelwerk speziell für die Bürgerinitiative näher konkretisiert sind. Ein Beispiel für solche Konkretisierungen ist die Verpflichtung der Kommission, Initiativen, die den materiellen, formellen und organisatorischen Voraussetzungen genügen, innerhalb von zwei Monaten in einem dafür vorgesehenen allgemein einsehbaren Online-Register zu veröffentlichen und den Organisatoren darüber eine Bestätigung zu übermitteln;121 auch die Pflicht, den Organisatoren die Möglichkeit zur Präsentation ihrer Bürgerinitiative in einer öffentlichen Anhörung einzuräumen,122 gehört in diesen Zusammenhang. ___________ 119 Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 24 Abs. 1 AEUV, Art. 2 Nr. 1, Art. 3 und 7 in Verbindung mit Anhang I der Verordnung über die Bürgerinitiative (Fn. 107). 120 Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 der Verordnung über die Bürgerinitiative (Fn. 107). 121 Art. 4 der Verordnung über die Bürgerinitiative (Fn. 107); dazu Assenbrunner, SächsVBl. 2011, S. 201 (202). 122 Art. 11 der Verordnung über die Bürgerinitiative (Fn. 107).
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Von besonderem Interesse ist naturgemäß die Frage nach der am Ende eines allen rechtlichen Anforderungen genügenden Initiativverfahrens stehenden Reaktionspflicht der Kommission. Für deren Beantwortung ist der Wortlaut von Art. 11 Abs. 4 EUV wenig weiterführend, weil er lediglich die Aufforderung der Kommission zur Unterbreitung eines geeigneten Rechtsetzungsvorschlags als Ziel der Bürgerinitiative benennt und für die näheren Einzelheiten auf Verordnungsrecht verweist. In Art. 10 Abs. 1 lit. c, Abs. 2 führt die einschlägige Verordnung dazu aus, dass die Kommission „innerhalb von drei Monaten […] ihre rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen zu der Bürgerinitiative sowie ihr weiteres Vorgehen bzw. den Verzicht auf ein weiteres Vorgehen und die Gründe hierfür“ darlegt. Über die aus diesem Normenbefund zu ziehenden Konsequenzen besteht bislang keine Einigkeit. Das Meinungsspektrum reicht von der ganz allgemein formulierten Ablehnung einer Verpflichtung der Kommission zur Vorlage eines Rechtsetzungsvorschlags123 über eine für den Regelfall angenommenen Pflicht der Kommission, im Rahmen ihrer Initiativbefugnisse geeignete Vorschläge zu unterbreiten,124 bis hin zu einer Verpflichtung der Kommission zum Tätigwerden, „d. h. zur Vorlage eines Rechtsetzungsvorschlags“125, bei deren Erfüllung der Kommission allerdings in zeitlicher und/oder inhaltlicher Hinsicht wiederum ein mehr oder weniger breites Ermessen zustehen soll126. Wie so oft liegt bei einer an Wortlaut, Systematik und Telos orientierten Auslegung die überzeugende Antwort gleichsam „in der Mitte“. Richtiger Ansicht nach handelt es sich weder um eine völlig „unverbindliche“127 Aufforderung noch um eine strikte ___________ 123 Hans-Peter Folz, in: Christoph Vedder/Wolff Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Handkommentar, 2012, Art. 11 EUV Rn. 3; zurückhaltend auch Ulrike Hornung, Die Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative – Mit Vollgas und angezogener Handbremse zu mehr Demokratie in Europa?, RuP 2011, S. 94 (99 f.). Knapper Überblick zum Meinungsspektrum frühzeitig bei Stephan Vogel, in: Julia Lieb/Andreas Maurer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, Kurzkommentar, 3. Aufl. 2009, S. 37 840 f.) m.w.N. 124 Matthias Ruffert, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 11 EUV Rn. 19. 125 Peter Michael Huber, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Kommentar. 2. Aufl. 2012, Art. 11 EUV Rn. 42; für eine grundsätzliche Verpflichtung der Kommission, ein Legislativverfahren einzuleiten, Mader, EuR 2013, S. 348 (358). 126 Vgl. Martin Nettesheim, in: ders. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 11 EUV (2010) Rn. 27 („breites Ermessen sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht“; Huber (Fn. 125), Art. 11 EUV Rn. 43 (erheblicher Gestaltungsspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Bindung); ferner Jens Hofmann, Repräsentative Demokratie und Bürgerbeteiligung in Deutschland und der EU, in: Wolfgang Durner u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Jürgen Papier, 2013, S. 83 (93), der die EU-Bürgerinitiative in die Nähe der in einigen „Bundesländern existierenden Volksinitiative“ rückt. 127 Vgl. dazu die freilich nur beiläufige und missverständliche Bemerkung in BVerfGE 123, 267 (377).
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Verpflichtung der Kommission zur Unterbreitung eines Rechtsetzungsvorschlags, und zwar nicht einmal für den Regelfall.128 Zwar ist die Kommission zu einer intensiven politischen und rechtlichen Beschäftigung mit der Bürgerinitiative verpflichtet. Doch kann am Ende dieser Befassung die Entscheidung sowohl für ein weiteres Vorgehen (etwa durch Erarbeitung und Vorlage eines Rechtsetzungsvorschlags) als auch für den Verzicht auf ein weiteres Vorgehen stehen. In die Bandbreite möglicher Entscheidungen eingeschlossen sind auch Optionen, die das Anliegen der Initiative in einem Rechtsetzungsvorschlag nur teilweise aufgreifen oder etwa unter Einsatz mediativer Elemente jenseits der Rechtsetzung liegende Wege zur Verwirklichung der mit der Initiative verfolgten Anliegen suchen. In jedem Fall treffen die Kommission am Ende aber gesteigerte Darlegungslasten und Begründungspflichten für ihre Schlussfolgerungen und ihre Entscheidung, die wiederum Grundlage für möglichst transparente politische und rechtliche Anschlussdebatten sind oder zumindest sein können. Diese Darlegungs- und Begründungspflichten, die schon allein wegen des aufwendigen Verfahrens und der vorausgesetzten Unterstützung von mindestens einer Million Unionsbürgern gesteigerten Anforderungen genügen müssen, sind zusammen mit den davon ausgehenden Impulsen für die weitere politisch-rechtliche Diskussion der eigentliche Kern des Abschlusses einer zulässigen Europäischen Bürgerinitiative. c) Praktische Bedeutung und Erfolgsaussichten Die Europäische Bürgerinitiative ist, wie erwähnt, ein unionsverfassungsrechtliches Novum, das erst mit dem Inkrafttreten der Begleitvorschriften zum 1. April 2012129 praktikabel geworden ist. Die seither verstrichene Zeit ist zu kurz für eine aussagekräftige Zwischenbilanz. Erste Bewertungen verhalten sich abwartend bis eher skeptisch130. Obschon die geforderte Mindestzahl von einer Million Unterstützern lediglich etwa 0,2 Prozent der gesamten Unionsbevölkerung entspricht und im unmittelbaren Vergleich mit Quoren für direktdemokratische Partizipation namentlich auf Länderebene sehr moderat ist, gelten manche Anforderungen wie die Anzahl der Mitgliedstaaten, aus denen die Unterstützer kommen müssen, und das Mindestquorum von Unterstützungsbekundungen je ___________ 128 Vgl. dazu und zum Folgenden auch Guckelberger, DÖV 2010, S. 745 (753); Bauer (Fn. 1), § 117 Rn. 70. 129 Fn. 117 f. 130 Z. B. Huber (Fn. 125), Art. 11 EUV Rn. 57 ff.; zurückhaltend auch Folz (Fn. 123); vgl. zur skeptischen Beurteilung der Entwicklungsperspektiven ferner Nettesheim (Fn. 126), Art. 11 EUV Rn. 30 m.w.N.; insgesamt positive Bewertung bei Mader, EuR 2013, S. 348 (354); kritisch Beate Kohler-Koch, Perspektiven zivilgesellschaftlicher Partizipation in der EU, Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 2012, S. 60 (63 ff.).
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Mitgliedstaat nämlich manchen als so hoch, dass die Bürgerinitiative allenfalls in seltenen Ausnahmefällen eine „funktionierende“ Handhabe biete131. Das insgesamt beachtliche Anforderungsprofil lässt vermuten, dass vornehmlich logistisch und finanziell verbandsunterstützte Initiativen erfolgversprechend sein könnten. Inzwischen dokumentiert allerdings das Amtliche Register zur Europäischen Bürgerinitiative132 mehr oder weniger rege Aktivitäten. Danach waren eineinhalb Jahre nach Inkrafttreten des Regelungswerks zwar noch keine Initiativen abgeschlossen, manche Initiativen vorzeitig wieder zurückgezogen und auch bereits manche Registrierungsanträge abgelehnt. Immerhin verzeichnet das Register aber siebzehn laufende Initiativen mit teilweise hohem transnationalem Bekanntheitsgrad. Ein potentieller Erfolgskandidat ist die Initiative „Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht! Wasser ist ein öffentliches Gut und keine Handelsware!“. Die Initiative hat Mitte September 2013 ihre Unterschriftensammlung abgeschlossen und nach eigenen Angaben fast 1,9 Millionen Unterstützererklärungen gesammelt133. Mit der hier gebotenen Vereinfachung wendet sich die Initiative „right2water“ gegen tatsächliche oder vermeintliche Bestrebungen der Europäischen Union, die Wasserversorgung zwangsweise zu privatisieren. Schon jetzt verbucht es die Initiative als ihren Erfolg,134 nicht nur die politische Debatte über den Umgang mit Wasser beeinflusst, sondern auch maßgeblich dazu beigetragen zu haben, dass im vergangenen Sommer die Wasserversorgung bei der Modernisierung des EU-Vergaberechts aus der geplanten Richtlinie zur Konzessionsvergabe herausgenommen wurde135. Die nunmehr anstehenden Schlussfolgerungen und Entscheidungen der Kommission bleiben abzuwarten. ___________ 131
Huber (Fn. 125), Art. 11 EUV Rn. 57. Abrufbar unter http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/welcome (Stand: 24.10.2013). 133 Vgl. Right2Water, Danke für eure Unterschrift!, abrufbar unter (Stand: 24.10.2013); danach handelt es sich um insgesamt 1.857.605 Unterschriften, von denen 1.547.859 online gezeichnet wurden. 134 Vgl. nur Spiegel online v. 21.6.2013, Protest gegen Wasser-Privatisierung: EU kapituliert vor Bürgerinitiative, abrufbar unter (Stand: 24.10.2013); Agraheute v. 28.6.2013, EU: Wasser aus Konzessionsrichtlinie gestrichen, abrufbar unter (Stand: 24.10.2013); compact Demokratie in Action, 5-Minuten-Info: Unser Wasser ist keine Ware!, abrufbar unter (Stand: 24.10.2013); Silke Ruth Laskowski, Nachhaltige Wasserversorgung – besser ohne EU-Konzessionsvergaberichtlinie, ZUR 2012, S. 385 ff. 135 Vgl. Erwägungsgrund 14a und Art. 9a des Richtlinienvorschlags vom 12.7.2013, S. 21, 60, abrufbar unter http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/P-R/richtlinie-konzessions-engl,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf: (24.10.2013). 132
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3. Die Anrufung von Ombudspersonen Unter dem Stichwort „Neue Petitionsformen“ scheint die Anrufung von Ombudspersonen auf den ersten Blick nicht richtig eingestellt. Denn der Ombudsman hat eine lange Tradition, ist im Unionsverfassungsrecht in Gestalt des Europäischen Bürgerbeauftragten136 schon seit rund zwanzig Jahren fest etabliert und in der dänischen Modellvariante längst zu einem skandinavischer Exportschlager aufgestiegen.137 Obschon Bürgerbeauftragte auch hierzulande sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landesverfassungsebene nicht gänzlich fremd sind,138 ist die globale Ombudsmania am deutschen Verfassungsrecht fast spurlos vorübergegangen. Indes hat es immer wieder Vorstöße zur stärkeren Verankerung der Ombudsmanidee im Bundesrecht gegeben139, und auf Länderebene zeichnet sich derzeit erneut ein solcher Vorstoß ab140. Dies rechtfertigt es, die Anrufung von Ombudspersonen abrundend wenigstens kurz als eine in Deutschland potentiell „neue Petitionsform“ anzusprechen und einige Schlaglichter auf diese Institution zu werfen.141 Die Ombudsman-Institution ist heute weltweit verbreitet142 und gilt im rechtsvergleichenden Zugriff als „Erfolgsgeschichte“143. Mit der zunehmenden Verbreitung haben sich variantenreiche Modelle ausgebildet, die politisch gesetzten Vorgaben folgen und auf die jeweiligen Gegebenheiten „vor Ort“ zugeschnitten ___________ 136
Dazu etwa Guckelberger (Fn. 11), S. 11 ff., 77 ff.; Haas (Fn. 100), S. 237 ff. Vgl. allgemein Linda C. Reif, The Ombudsman, Good Governance and the International Human Rights System, 2004; Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Europäische Ombudman-Institutionen, 2008; Haas (Fn. 100), S. 237 ff.; Bauer (Fn. 1), § 117 Rn. 11 ff., 22, 25, 71 ff. 138 Siehe zum Bundesverfassungsrecht die Einrichtung des Wehrbeauftragten in Art. 45b GG und zum Bürgerbeauftragten auf Landesverfassungsebene Art. 36 Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern; vgl. ferner zu Bürgerbeauftragten auf einfach-rechtlicher Grundlage im Bund §§ 22 ff. BDSG und in einzelnen Ländern Guckelberger (Fn. 10), S. 19 ff. m.w.N.; speziell zu Rheinland-Pfalz Udo Kempf/Herbert Uppendahl (Hrsg.), Ein deutscher Ombudsman, 1986, und zu Thüringen unlängst Joachim Linck, Ein Plädoyer für starke Bürgerbeauftragte. Thüringer Erfahrungen nutzen, ZParl. 2011, S. 891 ff. 139 Vgl. Norbert Achterberg/Martin Schulte, in: Hermann v. Mangoldt/Christian Starck/Friedrich Klein (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 6. Aufl. 2010, Art. 45c Rn. 5 f.; Würtenberger (Fn. 28), Art. 45 c GG (1995) Rn. 7, 38 ff.; Haas (Fn. 100), S. 156 ff.; BTDrucks. 13/3578. 140 Dazu Guckelberger, DÖV 2013, S. 613 (613), mit Hinweis auf Baden-Württemberg. 141 Näheres zu sehr viel weitläufigeren Debatte pro und contra Ombudsmann bei Guckelberger, DÖV 2013, S. 613 ff. 142 Statt vieler Kuscko-Stadlmayer (Fn. 137), S. 1. 143 Guckelberger, DÖV 2013, S. 613 (614). 137
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sind.144 Bei aller Varianz ist über die Modellvielfalt hinweg eine zentrale Konstante die Verbesserung der demokratischen Strukturen in Sonderheit durch bürgerschaftliche Partizipation.145 Unter diesem Blickwinkel soll der Ombudsman in den verschiedenen Kontexten u. a. ‒ Demokratisierungsprozesse etwa in Transformationsländern nach Maximen von Good Governance146 unterstützend begleiten, ‒ zur Transparenz staatlicher Organisationen und Verfahren beitragen, ‒ legislative und administrative Defizite identifizieren und unter Ausnutzung des Publizitätsgedankens öffentlich auf deren Behebung hinwirken, ‒ die aktive Wahrnehmung von Rechten der Bürger im Gemeinwesen anregen, ‒ durch eine Ausweitung der Verwaltungskontrolle eine Intensivierung der Gesetzesbindung anstreben und damit die sachlich-inhaltliche Legitimation des Verwaltungshandelns erhöhen, ‒ durch Annäherung von Bürgern und Verwaltung die Akzeptanz von und das Vertrauen in öffentliche Institutionen fördern, ‒ im Sinne von Governance-Vorstellungen nicht nur Anlaufstelle für Bürger sein, sondern gleichsam als Transformationsriemen deren Anliegen in den politischen Prozess einspeisen und dabei Reformanstöße geben, ‒ usw., usw. oder ganz allgemein und kurz gefasst: die Demokratie stärken und die demokratische Funktionsweise des Gemeinwesens verbessern. Wegen des erwähnten Variantenreichtums entzieht sich das Recht auf Anrufung von Ombudsleuten einer einheitlichen Bestimmung der für die Rechtsausübung geltenden Voraussetzungen, auch wenn es sich schon aus funktionellen Gründen regelmäßig um eher niedrigschwellige Zugangshürden handeln wird. Ähnlich verhält es sich mit den Rechtsfolgen. Üblicherweise verbindet sich mit dem Recht auf Anrufung einer Ombudsperson – in guter eingaberechtlicher Tradition und ähnlich wie bei den beiden anderen neuen Petitionsformen – ein Anspruch auf Befassung, nicht aber ein Anspruch auf Abhilfe. Ein Abhilfeanspruch ___________ 144
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Vgl. nur Kuscko-Stadlmayer (Fn. 137), S. 62 ff., 73 ff.; Haas (Fn. 100), S. 331 ff.,
145 Vgl. etwa Rüdiger Stempel, Ombudsman für Europa, DÖV 1996, S. 241 (241, 245 f.); Veith Mehde, Rechtliche und rechtspolitische Potentiale von Petitionsrecht und Ombudsmanneinrichtungen, ZG 16 (2001), S. 145 (156 ff., 160); Kathrin Groh, Ombudsmann, in: Werner Heun u.a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe 2006, Sp. 1684 (1684); Haas (Fn. 100), S. 25, 331 ff., 388 ff., 704 ff., 707 f.; Guckelberger, DÖV 2013, S. 613 (615). 146 Dazu insb. Reif (Fn. 137).
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scheidet regelmäßig schon deshalb aus, weil der Ombudsman normalerweise über keine Kassationsbefugnisse verfügt, sondern lediglich unverbindliche Empfehlungen ausspricht147. Dabei gehen die „weichen“ Entscheidungsoptionen der Ombudsleute weit über „Alles-oder-Nichts-Empfehlungen“ hinaus. So kann die Ombudsperson bislang nicht berücksichtigte Modelle bzw. Ansätze für Konfliktlösungen generieren, auf unbürokratische Problembereinigungen etwa in Telefongesprächen oder bei kurzfristig anberaumten runden Tischen mit allen Beteiligten drängen,148 neutrale Streitschlichtung betreiben, informell-kooperative Mechanismen des Rechts- und Interessenschutzes149 bereitstellen, mediative Elemente zur Konfliktbearbeitung einsetzen, die Rolle eines Konfliktmanagers, Moderators, Dolmetschers und Lotsen einnehmen150 etc. Dass solche „weichen“ Einflussnahmen und „soft-law-artigen“ Steuerungen in der Praxis nicht „verpuffen“, sondern ganz im Gegenteil beträchtliche Wirkungen haben können, zeigt ein Seitenblick auf den Europäischen Bürgerbeauftragten. Neben vielen anderen positiv abgeschlossenen Aktivitäten des Bürgerbeauftragten, die in den Jahresberichten nachzulesen sind,151 ist der Europäische Kodex für gute Verwaltungspraxis152 besonders hervorzuheben.153 Der Kodex geht auf Vorarbeiten des Bürgerbeauftragten zurück und wurde im Jahr 2001 vom Europäischen Parlament angenommen. Er konkretisiert das in Art. 41 ChGREU geregelte Recht auf eine gute Verwaltung, wurde europaweit für Anpassungen nationaler, regionaler und lokaler Verwaltungen genutzt und hat über Europa hinaus für Aufsehen gesorgt – nach der berechtigten Selbsteinschätzung des Bürgerbeauftragten ist der Kodex eine „europäische Erfolgsgeschichte“154. Aktuell hat er die Aufforderung des Europäischen Parlaments an die Kommission inspiriert, „endlich einen Vorschlag für eine EU-Verwaltungsverfahrensordnung vorzulegen“.155 ___________ 147
Groh (Fn. 145), Sp. 1684 f. Guckelberger, DÖV 2013, S. 613 (618). 149 Mehde, ZG 16 (2001), S. 145 (159). 150 Vgl. Guckelberger, DÖV 2013, S. 613 (618). 151 Zuletzt: Der Europäische Bürgerbeauftragte, Jahresbericht 2012; abrufbar unter (Stand: 26.10.2013). 152 Näheres dazu und zum Folgenden bei Bauer (Fn. 1), 117 Rn. 72 m.w.N. 153 Weitere Beispiele für den „Mehrwert“ des Bürgerbeauftragten und dessen nichtförmlich-streitschlichtende Funktion bei Jörg Gundel, Die Stellung des Europäischen Bürgerbeauftragten im Rechtsschutzsystem der EU, in: Dirk Heckmann/Ralf P. Schenke/Gernot Sydow (Hrsg.), Festschrift für Thomas Würtenberger, 2013, S. 497 (insb. 502 ff.). 154 Der Europäische Bürgerbeauftragte, Jahresbericht 2005, 2006, S. 6. 155 Guckelberger, DÖV 2013, S. 613 (615). 148
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III. Zur notwendigen Einbindung des Petitionsrechts in Partizipationsdebatten und in eine zeitgerechte Partizipationskultur Drei neue Petitionsformen – drei Erfolgsgeschichten!156 Die petitionsrechtlichen Erfolgsmodelle bürgerschaftlicher Partizipation signalisieren zugleich grundlegende Wandlungen im Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Gleichwohl sind sie in Deutschland in den bisherigen Partizipationsdebatten viel zu wenig präsent. Namentlich bei der Einrichtung von Bürgerbeauftragten ist Deutschland inzwischen sogar weltweit in eine Außenseiterposition geraten. Dieser Befund leitet zwanglos zu der Anregung über, Petitionsrecht und Petitionspraxis in der Verfassungsrechtswissenschaft künftig größere Aufmerksamkeit zu schenken, dabei den interdisziplinären Dialog insbesondere mit den Politikwissenschaften zu suchen und die dort entwickelten Governance-Modelle mit in die Betrachtung einzubeziehen. In die gebotene Aufarbeitung des wissenschaftlichen Desiderats eingebunden sein sollten auch weitere Petitionsformen und -praktiken, die auf den verschiedenen Ebenen des Rechts anzutreffen und in denen noch manche bislang unzureichend erschlossene Potentiale angelegt sind. Das betrifft nicht allein internationale und europäische Entwicklungskontexte. Ergänzend sei nur beispielhaft verwiesen auf das Petitionswesen in den Ländern157, das mit dem Bürgerbeauftragten in Mecklenburg-Vorpommern158, der Volkspetition in Hamburg159, dem Recht zu selbstinitiativem Tätigwerden des Petitionsausschusses in Berlin160 und der in Bayern gepflegten Praxis des Petitionsausschusses, Petenten in der öffentlichen Ausschusssitzung auf Wunsch ein Rederecht einzuräumen161, Besonderheiten aufweist, die über die Ländergrenzen hinaus einer allgemeinen verfassungswissenschaftlichen Aufbereitung zugänglich und bedürftig sind. Eine solche Aufbereitung könnte sowohl die Partizipationsdebatten befruchten als auch weiterführende Hinweise für die normative Fortentwicklung des Eingaberechts und Impulse für den Ausbau von Partizipation durch Petition geben. Doch wird es allein mit der wissenschaftlichen Bereitstellung von Gestaltungsoptionen und der Präsentation des Entwicklungspotentials nicht getan sein. ___________ 156 So eine gängige Einschätzung für die Öffentliche Petition und die OmbudsmanInstitution, die sich freilich bei der Europäischen Bürgerinitiative erst noch bestätigen muss; vgl. oben bei Fn. 58, 97, 134, 143. 157 Vgl. dazu etwa Annette Guckelberger/Fredereic Geber/Christine Zott, Das Petitionsrecht in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland, LKRZ 2012, S. 125 ff. 158 Art. 36 Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern. 159 Art. 29 Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg. 160 Art. 46 Verfassung von Berlin. 161 Dazu und zur Praxis in anderen Ländern Guckelberger (Fn. 10), S. 78 ff. m.w.N.
236
Hartmut Bauer
Angezeigt ist vielmehr auch ein Umdenken, das die in den Köpfen zumindest latent noch immer anzutreffenden162 historisch motivierten Reminiszenzen und Vorbehalte gegen die Leistungsfähigkeit des Petitionsrechts endgültig verabschiedet. Stattdessen ist von den Akteuren eine gedankliche Öffnung für moderne Konzeptionen und deren Einsatzbreite gefordert. Dies ebnete den Weg für eine unvoreingenommene Bestimmung des Stellenwerts von Petitionen in einer veränderten Verfassungs- und Verwaltungskultur ebenso wie dessen Abstimmung mit anderen Instituten der Bürgerbeteiligung163 in modernen Kommunikations- und Beteiligungsstrukturen164, in denen die Menschen mit ihren Anliegen ernst genommen werden und „auf Augenhöhe“ einbezogen sind. Dabei zeigten sich sehr schnell weitere Aspekte des Eigen- und Mehrwerts des Petitionsrechts. Dazu gehören nicht zuletzt Optionen für eine „weiche“ Problembehandlung und jenseits von formalisierten „Alles-oder-Nichts“-Verfahren und strikten „Allesoder-Nichts“-Entscheidungen ansetzende innovative Konfliktbearbeitungen im Sinne eines sachgerechten Konfliktmanagements namentlich im ebenenübergreifenden europäischen Petitionsverbund. Am Ende erweist sich das Petitionsrecht daher in dem hier interessierenden Zusammenhang als unverzichtbarer Baustein und tragender Pfeiler einer zeitgemäßen demokratischen Partizipationskultur.165
___________ 162 Vgl. dazu aus jüngerer Zeit nur die Diskussion bei Riehm/Böhle/Lindner (Fn. 10), insb. S. 35 f. m. Fn. 5, und oben bei Fn. 2 ff. 163 Vgl. Mehde, ZG 16 (2001), S. 145 (156 ff.). 164 Auf diesen Aspekt ist schon in den Debatten über die Bürgerbeteiligung bei Großvorhaben frühzeitig hingewiesen worden – so namentlich von Reinhard Wulfhorst, Konsequenzen aus „Stuttgart 21“: Vorschläge zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung, DÖV 2011, S. 581 (586 ff.), der eine Kommunikations- und Beteiligungsstrategie einfordert, die sich jenseits gesetzlicher Steuerung bewegt und auch normativ nicht verordnet werden kann. 165 Anderweitige Funktionen sind dadurch selbstverständlich nicht ausgeschlossen; vgl. zur Multifunktionalität des Petitionsrechts bereits oben bei Fn. 15 f. m.w.N.
Entscheidung der Bürger über Großprojekte durch Bürger-/ Volksentscheid – Regelfall oder ultima ratio? Von Jan Ziekow
Seit den unter dem Stichwort „Stuttgart 21“ bekanntgewordenen Ereignissen um den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs wird in Deutschland eine intensive Diskussion um die Frage geführt, ob und wenn ja in welcher Form Bürger verstärkt in die Entscheidung über die Genehmigung von Großvorhaben eingebunden werden sollen. Dabei geht es durchaus nicht nur um die großen öffentlichen Infrastrukturen, insbesondere im Verkehrsbereich. Von der Diskussion betroffen sind in gleicher Weise private Projekte, vor allem im Energiesektor.1 Nun ist es nicht so, dass – entgegen manchen im politischen Raum geführten Diskussionen – die Bürger bislang in Verfahren über die Genehmigung von Großprojekten in Deutschland keine Rolle gespielt hätten. Vielmehr ist die Beteiligung im Genehmigungsverfahren im internationalen Vergleich stark ausgebaut. Vor der Erteilung der Genehmigung für ein größeres, z. B. nach Immissionsschutzrecht zuzulassendes Projekt sind bereits nach den gesetzlichen Vorschriften Beteiligungen u.a. in der Raumordnungsplanung, der Flächennutzungsplanung, der Bebauungsplanung und im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren vorgeschrieben.2 Gleichwohl ist die Beteiligung der Öffentlichkeit in diesem Jahr durch die Einfügung des neuen § 25 Abs. 3 VwVfG noch weiter ausgebaut worden.3 Diese Vorschrift gebietet es der zuständigen Behörde, noch vor Stellung des Genehmigungsantrags beim zukünftigen Antragsteller auf die Durchführung einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung hinzuwirken, die vom
___________ 1 Vgl. nur Kay Waechter und Thomas Mann, Großvorhaben als Herausforderung für den demokratischen Rechtsstaat, VVDStRL 72 (2013), S. 499 ff. und 544 ff.; Matthias von Kaler/Friedrich Kneuper, Erneuerbare Energien und Bürgerbeteiligung, NVwZ 2012, 791 ff.; Ines Zenke/Christian Dessau, Bürgerbeteiligungen als Schlüssel einer kommunalen Energiewende, KommJur 2013, 288 ff. 2 Vgl. etwa §§ 10, 18 ROG, § 3 BauGB, § 47 Abs. 5 BImschG. 3 Eingefügt mit dem Gesetz zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren (PlVereinhG) vom 31.5.2013, BGBl I, 1388.
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Vorhabenträger durchzuführen ist. Voraussetzung ist, dass das Vorhaben voraussichtlich nicht nur unwesentliche Auswirkungen auf die Belange einer größeren Zahl von Dritten haben kann. Während diese Fragen aus rechtlicher Sicht konsolidiert sein dürften und es jetzt mehr darum geht, Formen der Bürgerbeteiligung zusätzlich zum Erörterungstermin in der Praxis zu etablieren, gibt es noch einen zweiten Strang der Diskussion. Die am Weitesten gehende Forderung in der Diskussion um eine Stärkung der Beteiligung der Bürger besteht darin, das Projekt selbst oder Teilaspekte desselben zur verbindlichen Entscheidung der Bürger zu stellen. In diesem Bereich gibt es zwar verschiedene politische Überlegungen, aber – sieht man vom Bereich der Bebauungsplanung ab – noch wenige wirkliche Initiativen für Neuregelungen.
I. Beispielsfälle Als Anstoß für die Diskussion kann die Volksabstimmung „über“ den erwähnten Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs gelten. Der historische Stuttgarter Hauptbahnhof ist ein sog. Kopfbahnhof, in den die Züge einfahren und umgekehrt wieder herausfahren. Wegen der besseren Anbindung des Stuttgarter Flughafens und anderer Städte durch ICE-Verbindungen sieht die Planung vor, dass der Hauptbahnhof zu einem Durchgangsbahnhof umgebaut und die Führung der Trassen weitgehend unterirdisch durch Stuttgart verlaufen soll.4 Selbstverständlich wurde das eisenbahnrechtliche Planfeststellungsverfahren mit der vorgeschriebenen Öffentlichkeitsbeteiligung durchgeführt.5 Es gab dann einige Klagen6 gegen den Planfeststellungsbeschluss, der dann aber bestandskräftig wurde. Mit Baubeginn erhoben sich dann sehr vehemente Bürgerproteste. Um die Situation nach sehr umstrittenen Polizeieinsätzen zu beruhigen, wurde der frühere Bundesminister Geissler als sog. Schlichter eingesetzt. Dessen sog. Schlichterspruch führte dazu, dass die Massenproteste auf der Straße nicht verschwanden, aber doch stark zurückgingen. ___________ 4 Zur Projektentwicklung vgl. Uwe Stuckenbrock, Das Projekt „Stuttgart 21“ im zeitlichen Überblick, in: Brettschneider/Schuster (Hrsg.), Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, 2013, S. 15 ff. Zu den Projektdetails vgl. http://www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de/ueberblick/ 5 Für die Zeit vor den Großprotesten vgl. Planfeststellungsbeschluss Abschnitt 1.1 vom 28.1.2005, S. 138; Abschnitt 1.2 vom 19.8.2005; Abschnitt 1.5 vom 13.10.2006, S. 163; Abschnitt 1.6a vom 16.5.2007, S. 114; Abschnitt 1.4 vom 30.4.2008, S. 74. 6 Vgl. VGH Mannheim, Urt. vom 6.4.2006 – 5 S 596/05, NJOZ 2006, 2888 ff.; VGH Mannheim, Urt. vom 8.2.2007 – 5 S 2224/05.
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Die Geschehnisse führten gleichwohl zum klaren Unterliegen der bis dahin in Baden-Württemberg regierenden CDU/FDP-Koalition in den Landtagswahlen im März 2011.7 Die neue Koalition aus Grünen und SPD führte dann auf etwas verschlungenen Wegen eine Volksabstimmung darüber herbei, ob das Land Baden-Württemberg sich aus der Co-Finanzierung des Bahn-Projekts zurückziehen sollte oder nicht. Die Volksabstimmung ergab eine Mehrheit dafür, dass das Land auch weiterhin an der Finanzierung beteiligt bleiben soll.8 Als zweites Beispiel möchte ich die Mediation Geothermie Rheinland-Pfalz nennen. Bei der sog. Tiefen Geothermie geht es um eine Technologie, in der durch mehrere tausend Meter tiefe Bohrungen heißes Wasser an die Erdoberfläche gefördert wird, das dann Turbinen zur Stromerzeugung antreibt. Der Nachteil dieser Technologie besteht darin, dass sie bei bestimmten geologischen Voraussetzungen, wie sie etwa im Rheingraben vorliegen, Erdbeben auslösen können. Mehrere solcher Erdstöße haben im Jahr 2010 zu massiven Bürgerprotesten in der Vorderpfalz gegen vorhandene und geplante Geothermieprojekte geführt. Die Landesregierung initiierte dann ein Mediationsverfahren unter meiner Leitung, das nach Klärung vieler technischer Fragen zum Abschluss in Form der Unterzeichnung einer Vereinbarung durch die beteiligten Bürgerinitiativen, Unternehmen und die Landesregierung kam.9 Als Auftrag an die Politik enthält diese Vereinbarung die Klärung, in welcher Weise ein Bürgerentscheid über Vorhaben der Tiefen Geothermie herbeigeführt werden kann. Von diesen beiden Beispielen ausgehend werde ich im Folgenden zunächst die geltende Rechtslage hinsichtlich der Möglichkeiten, Volks- oder Bürgerentscheide über Vorhaben herbeizuführen, untersuchen. Anschließend werde ich mich den Spielräumen für eventuelle gesetzliche Änderungen zuwenden.
___________ 7 Die Stimmengewinne der Grünen lassen sich auf Stuttgart 21 zurückführen, vgl. das Umfrageergebnis in: Frank Brettschneider/Thomas Schwarz, „Stuttgart 21“, baden-württembergische Landtagswahl und Volksabstimmung 2011, in: Brettschneider/Schuster (Hrsg.), Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, 2013, 261, 270. 8 Im Ergebnis waren 58,9% der Abstimmenden für das Projekt, dagegen 41,1%, bei einer Beteiligung von 48,3%, vgl. http://www.statistik-bw.de/Wahlen/Volksabstimmung_2011/Land.asp 9 Das Ergebnis der Mediation ist abrufbar unter http://mediation-tiefe-geothermie-vorderpfalz.de/files/documents/Abschlussdokument.pdf
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II. Entscheidungsmöglichkeiten de lege lata Abgesehen von den Sonderregelungen der Art. 29 Abs. 2 S. 1 und Abs. 4 GG, Art. 118, 118a GG und Art. 146 GG fehlen auf Bundesebene Verfahren der direktdemokratischen Entscheidung. Nach überwiegender Meinung10 darf über Sachfragen nicht vom Volk abgestimmt werden. 1. Landesebene Dem Landesverfassungsgeber ist es nicht verwehrt, Elemente unmittelbarer Demokratie in die Landesverfassung aufzunehmen, soweit das Parlament in seiner Bedeutung als zentrales Gesetzgebungsorgan nicht entfunktionalisiert wird.11 Die verschiedenen Landesregelungen können im vorliegenden Zusammenhang nur stark zusammengefasst wiedergegeben werden12. a) Volksinitiative In verschiedenen Bundesländern findet sich das Institut der Volksinitiative (Art. 76 Verf. BB, Art. 47 NdsVerf, Art. 59 Verf. MV, Art. 67a Verf. NRW, Art. 108a Verf. RP, Art. 80 Verf. LSA, Art. 41 Verf. SH; bzw. Bürgerantrag nach Art. 87 Verf. HB, Art. 68 ThürVerf; Volksantrag nach Art. 71 SächsVerf; Einwohnerinitiative nach Art. 61 VvB), mit dem der Beschlussfassung des Parlaments unterliegende Gegenstände der Volksvertretung zur Behandlung vorgelegt
___________ 10
Vgl. aus der überbordenden Literatur nur Andreas L. Paulus, Direkte Demokratie wagen. Möglichkeiten und Grenzen direkter Demokratie im Grundgesetz, in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektiven. Festschrift für Brun-Otto Bryde zum 70. Geburtstag, 2013, S. 273, 278; Peter Neumann, Sachunmittelbare Demokratie, 2009, S. 341; Jürgen Kühling, Volksgesetzgebung und Grundgesetz – „Mehr direkte Demokratie wagen“?, JuS 2009, 777, 783; Ernst Burgbacher, Mehr direkte Demokratie, RuP 2006, 67; Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 2011, Art. 20 II Rn. 111 ff.; Tobias Herbst, Volksabstimmung ohne Grundgesetz?, ZRP 2005, 29, 31; Hans-Peter Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das Grundgesetz?, 1999, S. 37, mit zahlreichen Nachweisen aus der älteren Literatur in Fn. 2; Josef Isensee, Demokratie ohne Volksabstimmung: das Grundgesetz, BRJ Sonderausgabe 1/2009, S 10; Peter Krause, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 35 Rn. 19 ff. 11 Markus Möstl, Elemente direkter Demokratie als Entwicklungsperspektive, VVDStRL 72 (2013), S. 355, 367; Peter M. Huber, Parlamentarische und plebiszitäre Gesetzgebung im Widerstreit, ZG 2009, 311, 312 ff. 12 Ausführlich Johannes Rux, Direkte Demokratie in Deutschland, 2008, S. 259 ff.
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werden können. Projektvorbereitende Planungen oder -zulassende Entscheidungen zählen nicht hierzu. Im Übrigen führt die Volksinitiative nicht zu einer Entscheidung der Bürger selbst.13 b) Volksbegehren und Volksentscheid Für die Herbeiführung einer Entscheidung der Bürger durch einen Volksentscheid lassen sich regelmäßig drei Phasen unterscheiden: 1.
Nach Sammlung und Einreichung der erforderlichen Unterschriften der Stimmberechtigten für einen Antrag auf Volksbegehren erfolgt eine formale Prüfung und in einigen Bundesländern auch eine Befassung des Landtags.14 Beim Volksbegehren findet eine erneute Sammlung von Unterschriften statt, wobei das zu erreichende Quorum erheblich höher liegt.15 Beim Volksentscheid wird über den eingereichten Vorschlag und ggf. über einen Gegenentwurf des Landesparlaments von den Stimmberechtigten entschieden. Ein Volksentscheid entfällt, wenn das Parlament den begehrten Entwurf inhaltlich im Wesentlichen unverändert annimmt (so bspw. Art. 60 Abs. 1 S. 1 LV BW; Art. 62 Abs. 3 S. 2 bzw. Abs. 4 S. 4 VvB).16
2. 3.
Teilnahmeberechtigt zur Unterzeichnung eines Antrages auf Zulassung eines Volksbegehrens sind die zum Landtag Wahlberechtigten.17 Entsprechendes gilt für die Unterschriften in die Eintragungslisten für das Volksbegehren18 und die Teilnahme an den Volksentscheiden19. Für die Durchführung gelten Quoren für den Antrag auf Volksbegehren, die Unterschriften für das Volksbegehren und die Zustimmung beim Volksentscheid, die von Land zu Land differieren und hier nicht dargestellt werden können.20
___________ 13
Im Einzelnen Rux (Fußn. 12), S. 406 ff. Rux (Fußn. 12), S. 414 ff. 15 Rux (Fußn. 12), S. 423 ff. 16 Rux (Fußn. 12), S. 429 ff. 17 So bspw. § 25 Abs. 4 VAbstG BW. 18 So bspw. § 31 VAbstG BW. 19 So bspw. § 2 Abs. 1 VAbstG BW (innerhalb des Rahmens der Art. 26 Abs. 1, 27 Abs. 7 LV BW). 20 Zusammenfassender Überblick bei Mario Martini, Wenn das Volk (mit)entscheidet …, 2011, S. 26 ff. 14
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Volksentscheide können in den Ländern darauf gerichtet werden, Gesetze zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben, soweit das Land die Gesetzgebungskompetenz hat.21 Beispielsweise in Berlin können Volksabstimmungen über die Gesetzgebung hinaus darauf gerichtet werden, im Rahmen der Entscheidungszuständigkeit des Abgeordnetenhauses zu Gegenständen der politischen Willensbildung, die das Bundesland betreffen, sonstige Beschlüsse zu fassen.22 Die Beschlussfassung über die Planung und Zulassung von Projekten obliegt regelmäßig nicht dem Parlament, sondern den zuständigen Verwaltungsbehörden. Versuchen, mit Hilfe von Volksentscheiden die Frage der Realisierung von konkreten Projekten verbindlich zu klären, ist die Rechtsprechung mehrfach entgegengetreten. Hierfür waren im Wesentlichen folgende Argumentationsstränge maßgeblich: ‒
Soll die Entscheidung über die Zulassung oder Weiterführung von Projekten unmittelbar durch Landesgesetz getroffen werden oder sollen dem jeweiligen Land zumindest Handlungsspielräume zur Verhinderung eines Projekts eröffnet werden, so darf das vorgeschlagene Landesgesetz u.a. nicht gegen Bundesrecht verstoßen. Dies aber ist der Fall, wenn das Eröffnungskontrollverfahren bundesrechtlich geregelt ist.23
‒
Die vorgeschlagenen Regelungen müssen die für die Einschränkung von Grundrechten durch das zum Entscheid gestellte Gesetz geltenden allgemeinen Anforderungen beachten.24
‒
Ein Volksentscheid kann sich allein auf Gesetze, nicht aber Entscheidungen der Exekutive beziehen, weshalb ein Volksentscheid über die Frage der Genehmigung eines Projekts, das bereits beantragt worden ist oder dessen Beantragung bevorsteht, unzulässig ist.25 Dieses Verdikt gilt allerdings nicht
___________ 21 So explizit bspw. Art. 62 Abs. 1 S. 1 VvB. Auch ohne landesverfassungsrechtliche Regelung ebenso: HessStGH, NJW 1982, 1141, 1142. 22 Art. 62 Abs. 1 S. 2 VvB. 23 VerfGH NRW NVwZ 1988, 244; BayVerfGH NVwZ 1988, 242, 243; Wolfgang Ewer, Kein Volksentscheid über die Zulassung von Infrastrukturprojekten, NJW 2011, 1328, 1330; Paul Kirchhof, Gutachtliche Stellungnahme zum Antrag der Fraktion der SPD im Landtag von Baden-Württemberg für eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, 2010, S. 32 ff.; vgl. auch BayVerfGH NVwZ 1985, 732 für die Festlegung eines Nationalparks. 24 BayVerfGH NVwZ 1985, 732; Martin Heidebach, Wir sind das Volk? Direkte Demokratie und Großprojekte, 2012, S. 3, abrufbar unter http://www.schleyer-stiftung.de/pdf/pdf_2012/leipzig_2012/referate/Heidebach_Referat.pdf. 25 BayVerfGH NVwZ 1988, 242, 243; Jutta Stender-Vorwachs, Neue Formen der Bürgerbeteiligung?, NVwZ 2012, 1061, 1065; Hans Günter Henneke, Wutbürger in Verantwortung: Partizipation und direkte Demokratie in Kommunen und Ländern, DVBl 2012, 1072, 1073.
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für ein Gesetz, das Projekte einer bestimmten Art in einem bestimmten Gebiet generell verbieten soll.26 In Anbetracht dieser Rechtslage ist es nur auf zurückgezogener Linie möglich, projektbezogene Volksentscheide auf Landesebene herbeizuführen. Für fast sämtliche Projekte, die potentiell zu einer kritischen Diskussion in der Öffentlichkeit führen können, bestehen bundesrechtliche Regelungen des Eröffnungskontrollverfahrens, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Projekte der öffentlichen Infrastruktur zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben oder um rein private Projekte handelt. In Anbetracht der verfassungsrechtlich festgelegten föderalen Kompetenzverteilung ließe sich dieser Befund auch de lege ferenda kaum modifizieren. Auch in den verbliebenen wenigen Bereichen, in denen das Eröffnungskontrollverfahren ausschließlich landesrechtlich geregelt ist, dürfte der Zugriff auf ein Einzelprojekt in Form eines Gesetzgebungsakts nur in beschränktem Umfang möglich sein. Dem Gesetzgeber wird ein Beurteilungsspielraum dafür zugestanden, eine Entscheidung, für die nach der Funktionenordnung nicht das Parlament, sondern die Verwaltung zuständig ist, im Einzelfall durch Gesetz zu regeln, wenn hierfür entsprechend bedeutsame Gründe vorliegen.27 Allerdings wird man das Vorliegen derartiger Gründe nicht ohne Weiteres allein deshalb annehmen können, weil sich ein Projekt in der öffentlichen Diskussion als derart konfliktbehaftet erwiesen hat, dass eine Lösung über einen Volksentscheid gesucht wird28. Auch in den Fällen, in denen Projektträger das Land selbst ist und das Eröffnungskontrollverfahren von einer Landesbehörde durchgeführt wird, dürften der Statthaftigkeit eines Volksentscheids jedenfalls im Regelfall Bedenken entgegenstehen. Handelt es sich um einen privaten Projektträger, so wird er in der Regel über einen grundrechtlichen Anspruch auf Verwirklichung des Projekts verfügen – sofern die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung des Projekts erfüllt sind29. Der Landesgesetzgeber hat mit dem die Eröffnungskontrolle normierenden Gesetz einen Rahmen geschaffen, von dem er nicht ohne zureichenden ___________ 26
BayVerfGH NVwZ 1988, 242, 243. Horst Dreier, in: ders., GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 Abs. 1 Rn. 16; Georg Hermes/Joachim Wieland, Rechtliche Möglichkeiten des Landes Baden-Württemberg, die aus dem Finanzierungsvertrag „Stuttgart 21“ folgenden Verpflichtungen durch Kündigung oder gesetzliche Aufhebung auf der Grundlage eines Volksentscheides zu beseitigen, 2010, S. 37; Kirchhof (Fußn. 23), S. 23 ff. 28 Vgl. Ewer (Fußn. 23), S. 1330. Im Ergebnis auch Klaus Ferdinand Gärditz, Angemessene Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturplanungen als Herausforderung an das Verwaltungsrecht im demokratischen Rechtsstaat, GewArch 2011, 273, 278. 29 Diesen Gesichtspunkt betont etwa Monika Böhm, Bürgerbeteiligung nach Stuttgart 21: Änderungsbedarf und -perspektiven, NuR 2011. 27
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Grund im Einzelfall abweichen kann. Das geregelte System der Eröffnungskontrolle schafft Gleichheit in dem Sinne, dass jeder verlangen kann, die Projektzulassung unter den gleichen Bedingungen zu erhalten wie jeder andere. Die Art. 3 GG entsprechenden Gleichheitssätze der Landesverfassungen verwehren es der Landesgesetzgebung, selbst wenn diese in der Form eines Volksentscheids erfolgt30, hiervon im Einzelfall ohne einen auf die Spezifika des Regelungsbereichs rekurrierenden Grund eine Ausnahme zu schaffen. Der Umstand, dass sich gegen zwei vergleichbare Projekte an einem Standort Proteste erheben und an einem anderen nicht, rechtfertigt keine Ungleichbehandlung. Auch hieran würde sich durch Novellierungsüberlegungen nichts ändern lassen. In Anbetracht dieser äußerst engen Spielräume zur Herbeiführung eines mit Blick auf ein Projekt durchgeführten Volksentscheids ist in der politischen Praxis nach anderen Wegen gesucht worden. Da Projekte unabhängig davon, ob sie von einem öffentlichen oder einem privaten Projektträger verwirklicht werden, nicht selten Unterstützungsleistungen des jeweiligen Landes erhalten, wird vor allem eine Abstimmung über den staatlichen Finanzierungsanteil des Landes diskutiert, wie sie in Baden-Württemberg zum Projekt „Stuttgart 21“ erfolgt ist. Diesbezüglich ist zu beachten, dass Volksentscheide nach allen Landesverfassungen einem Finanzvorbehalt unterliegen. Unzulässig sind Abstimmungen über „finanzwirksame Gesetze, insbesondere Gesetze über Abgaben, Besoldung, Staatsleistungen und den Staatshaushalt“ gem. Art. 99 Abs. 1 S. 3 SVerf sowie über „Finanzfragen“ gem. Art. 68 Abs. 1 S. 4 Verf. NW und Art. 109 Abs. 3 S. 3 Verf. RP. Ausgenommen sind auch Abstimmungen „über den Staatshaushalt“ (Art. 73 BV), zum „Landeshaushalt“ (Art. 76 Abs. 2 Verf. BB, Art. 48 Abs. 1 S. 3 Verf. ND, Art. 82 Abs. 2 Verf. TH), „Haushalt“ (Art. 59 Abs. 3 Verf. MV, Art. 41 Abs. 2 Verf. SH), zu „Haushaltsplänen“ (Art. 50 Abs. 1 S. 2 Verf. HH), zum „Haushaltsplan“ (Art. 124 Abs. 1 S. 3 Verf. HE), über das „Staatshaushaltsgesetz“ (Art. 60 Abs. 6 LV BW) und zum „Landeshaushaltsgesetz“ (Art. 62 Abs. 2 VvB) sowie über „Haushaltsgesetze“ (Art. 60 Abs. 2 S. 1 Verf. MV, Art. 73 Abs. 1 Verf. SN, Art. 81 Abs. 1 S. 3 Verf. LSA). Eine differenzierte Lösung enthält Art. 70 Abs. 2 Verf. HB. Eine jeder einzelnen landesverfassungsrechtlichen Bestimmung gerecht werdende Bewertung kann hier nicht geleistet werden. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Auslegung dieser Normen durch die Landesverfassungsgerichte an den jeweiligen historischen, grammatikalischen und systematischen Kontexten orientiert:31 ___________ 30 Zur Grundrechtsbindung der Entscheidung über Gesetze durch Volksentscheid Bernd Hartmann, Volksgesetzgebung und Grundrechte, 2005, S. 98 ff. 31 Holger Obermann, Entwicklung direkter Demokratie im Ländervergleich, LKV 2012, 241, 243 f.
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Der SächsVerfGH vertritt die Auffassung, der Haushaltsvorbehalt der sächsischen Verfassung sei eng dahingehend zu verstehen, dass er nur das Haushaltsgesetz im formellen Sinne erfasse.32 Dieser Ansatz lässt einen Volksentscheid über die staatliche (Teil-)Finanzierung von Projekten zu.
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Nach der zur schleswig-holsteinischen Verfassung entwickelten Auffassung des BVerfG ist nicht allein das formelle Haushaltsgesetz und der mit ihm festgestellte Haushaltsplan, sondern weitergehend „jede finanzwirksame Gesetzgebung“, „die geeignet ist, den Gesamtbestand des Haushalts auch mit Blick auf den Anteil bestehender Ausgabenverpflichtungen wesentlich zu beeinflussen“, einer direktdemokratischen Beeinflussung entzogen. Hierfür reiche es aus, dass das direktdemokratische Instrument den in die Beratungen des Haushaltsgesetzgebers gegebenen Haushaltsplanentwurf für das jeweils nächste Jahr oder die zeitlich weiter ausgreifende Haushaltsplanung, durch die die rechtlich verpflichtend bestimmten Haushaltseckwerte zukünftiger Haushalte festgelegt werden, beeinträchtige.33 Diesem Ausschluss finanzwirksamer Sachgesetze, die das Budgetrecht des Parlaments wesentlich beeinträchtigen können, folgen die meisten Landesverfassungsgerichte34.
Allerdings ist hieraus nicht zu folgern, dass bei Volksinitiativen, -begehren und -entscheiden, die nicht auf eine Änderung des Textes des Haushaltsplans abzielen, immer eine Gewichtung zur Feststellung des Vorliegens einer wesentlichen Beeinträchtigung durchzuführen wäre. In der Situation, dass ein vom Parlament bereits verabschiedeter Haushaltsansatz zur Finanzierung eines bestimmten Projekts durch das direktdemokratische Verfahren faktisch gesperrt würde, ist ein Volksentscheid etc. unzulässig, ohne dass es auf das Gewicht des fraglichen Ansatzes im Verhältnis zum Gesamthaushalt ankäme.35 ___________ 32 SächsVerfGH LKV 2003, 327, 328 ff. Ebenso etwa Hermes/Wieland (Fußn. 27), S. 45 ff., m.w.N.; Ottmar Jung, Direkte Demokratie, LKV 2003, 308; Martin Müller, Bürgerbeteiligung in Finanzfragen, 2009, S. 135. 33 BVerfGE 102, 176, 188. 34 BVerfGE 102, 176, 185, für die Regelung in Schleswig-Holstein; in diesem Sinne auch: BayVerfGH NVwZ-RR 2008, 719, 720; BremStGH NVwZ 1998, 388, 389; HbgVerfGH NVwZ-RR 2006, 370, 373; BBgVerfG LKV 2002, 77; ThürVerfGH LKV 2002, 83, 91 ff.; NWVerfGH NVwZ 1982, 188, 189 zum Begriff der „Finanzfragen“; KlausPeter Dolde/Winfried Porsch, Gutachterliche Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der Initiative der SPD für eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, 2010, S. 38 ff. und Bernhard Stüer/Dirk Buchsteiner, Stuttgart 21: Eine Lehre für die Planfeststellung?, UPR 2011, 335, 338 für Baden-Württemberg; Stefan Muhle/Christoph Lontzek, Die Zulässigkeit finanzwirksamer Volksbegehren in Niedersachsen, NordÖR 2007, 227, 230 f. für Niedersachsen. Kritisch dazu bspw. Torsten Rosenke, Die Finanzbeschränkungen bei der Volksgesetzgebung in Deutschland, 2005, S. 209 ff. 35 BayVerfGH NVwZ-RR 2008, 719, 721.
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‒
Anders differenziert der BerlVerfGH, nach dessen Auffassung sachpolitische Anliegen immer dann nicht Gegenstand eines direktdemokratischen Verfahrens sein können, wenn sie im laufenden Haushaltsplan zwingend eine Änderung von Ansätzen nach sich ziehen, wohingegen die Notwendigkeit, dass das Parlament das Ergebnis des direktdemokratischen Verfahrens für künftige Haushaltsjahre beachtet, die Zulässigkeit des Instruments auch dann nicht beeinträchtigt, wenn der Haushaltsplan für das betreffende Jahr bereits festgestellt ist.36
In der Konsequenz sind Volksentscheide über die staatliche Finanzierung von Projekten nur auf zurückgezogener Linie zulässig, nämlich dann, wenn entweder die Linie des SächsVerfGH oder die des BerlVerfGH – und diese auch nur für Projektfinanzierungen in künftigen Haushaltsjahren – zugrunde gelegt wird. Die überwiegende Zahl der Landesverfassungsgerichte dürfte hingegen eine Unzulässigkeit des Entscheides annehmen, wenn damit eine Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers betr. die Zurverfügungstellung der Mittel konterkariert würde. 2. Kommunen Bürgerbegehren – als Antrag auf Durchführung eines Bürgerentscheides definiert – sind auf gemeindlicher Ebene in allen Flächenstaaten vorgesehen. Bürgerentscheid ist die sachunmittelbare Entscheidung durch Teilnahmeberechtigte anstatt der Gemeindevertretung. Dabei wird zwischen „initiierenden“ Bürgerbegehren und zumeist fristgebundenen „kassierenden“, „kassatorischen“ bzw. „korrigierenden“ Bürgerbegehren gegen einen Beschluss der Gemeindevertretung unterschieden.37 Das Stimmrecht ist in den Gemeinden ein Bürgerrecht.38 Für die Unterstützung von Bürgerbegehren und die Zustimmung durch Bürgerentscheid gelten in den Ländern unterschiedlich, auf die Einwohnerzahl der Gemeinde rekurrierende Quoren, die hier nicht dargestellt werden können39. Sachentscheidungen auf der Ebene der Gemeinde sind nur hinsichtlich solcher Gegenstände zulässig, für die die Gemeinde zuständig ist40. Häufig wird darüber hinaus die Zuständigkeit des Gemeinderates/der Gemeindevertretung für diese Angelegenheit gefordert.41 Der Anwendungsbereich ist in den einzelnen Ländern ___________ 36
BerlVerfGH NVwZ-RR 2010, 169. Peter Neumann, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, in: Mann/Günter, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 3. Aufl. 2007, § 18 Rn. 27. 38 Vgl. bspw. § 14 GemO BW. 39 Vgl. die Übersicht bei http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-4E9E C1C1-588736A8/bst/res_5_g02_buergerbegehren.pdf. 40 So explizit bspw. § 17a Abs. 1 GemO RP. 41 Z. B. § 21 Abs. 3 S. 1 GemO BW; Art. 18a Abs. 1 GemO BY. 37
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sehr verschieden. In den meisten Bundesländern werden mit Hilfe von Negativkatalogen neben Haushaltssatzungen insbesondere folgende Gegenstände ausgenommen: ‒
Angelegenheiten, über die im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens oder eines förmlichen Verwaltungsverfahrens zu entscheiden ist42,
‒
Entscheidungen nach § 36 des Baugesetzbuches43 sowie
‒
Bauleitpläne44 und örtliche Bauvorschriften45.
Über den Wortlaut der Ausschlusstatbestände zu Bauleitplänen hinaus umfassen diese Regelungen nach einer Ansicht die gesamte Bauleitplanung und damit die wesentlichen Verfahrensabschnitte, die in dem Aufstellungsverfahren nach dem Baugesetzbuch zu durchlaufen sind, jedoch könnten Grundsatzentscheidungen zur Gemeindeentwicklung im Vorfeld eines bauplanungsrechtlichen Verfahren, z. B. der Ausschluss einer bestimmten Nutzung von Grundstücken, zum Gegenstand eines Bürgerentscheids gemacht werden.46 Das OVG Münster47 lässt bei entsprechender Formulierung des Ausschlusstatbestands solche Bürgerbegehren zu, welche die bloß faktische Verwirklichung einer Bauleitplanung beeinträchtigen, wie bspw. der für die Projektrealisierung erforderliche Verkauf von gemeindlichen Grundstücken. Auch ohne expliziten Ausschluss von Bauleitplänen, wie in Bayern, Hamburg, Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, werden auf Ja/Nein-Ent-
___________ 42 In diesem Sinne: § 15 Abs. 3 Nr. 10 BbgKVerf; § 20 Abs. 2 Nr. 4 KV MV; § 32 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 NKomVG; § 26 Abs. 5 S. 1 Nr. 4 GemO NW; § 17a Abs. 2 Nr. 7 GemO RP; § 21a Abs. 4 Nr. 5 KSVG. 43 So §§ 15 Abs. 3 Nr. 10 BbgKomVerf; § 20 Abs. 2 Nr. 4 KV MV. 44 § 21 Abs. 1 Nr. 6 GemO BW; § 15 Abs. 3 Nr. 10 BbgKVerf; § 20 Abs. 2 Nr. 4 KV MV; § 32 Abs. 2 S. 2 Nr. 6 NKomVG; § 26 Abs. 5 S. 1 Nr. 5 GemO NW; § 17a Abs. 2 Nr. 6 GemO RP; § 16g Abs. 2 Nr. 6 GemO SH; § 21a Abs. 4 Nr. 6 KSVG. 45 § 21 Abs. 1 Nr. 6 GemO BW. 46 VGH Mannheim DVBl. 2011, 1035, 1037; VG Karlsruhe, Beschl. vom 23.8.2013 – 9 K 1772/13; Peter Durinke, Bürgerentscheide in der Bauleitplanung, 2011, S. 217, der aber betont, dass die Vorgaben nicht verpflichtend sein dürfen; ders./Caroline Fiedler, Zulässigkeit und Grenzen von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden in der Bauleitplanung, ZfBR 2012, 531, 533. Weitergehend auch Bürgerentscheide im Vorfeld des förmlichen Planungsverfahrens (z. B. Planungsstopp für ein Neubaugebiet) als unzulässig bewertend Christian West, Zur Zulässigkeit von Bürgerentscheiden im Bereich der Bauleitplanung, VBlBW 2010, 389, 392. 47 OVG Münster NVwZ-RR 2007, 803; DVBl. 2008, 120 f.; Beschl. vom 11.3.2009 – 15 B 329/09 – Juris Rn. 7 f.; VG Kassel, Urt. vom 28.9.2012 – 3 K 659/12.KS – Juris Rn. 31; ebenso Durinke (Fußn. 46), S. 228.
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scheidungen ausgerichtete Bürgerentscheide mit dem bundesrechtlichen Abwägungsgebot des BauGB als nur eingeschränkt vereinbar angesehen.48 So ist es in allen Bundesländern unzulässig, einen Bürgerentscheid über den Beschluss eines Bebauungsplans durchzuführen.49 Als zulässig werden kommunale Bürgerentscheide bewertet, die lediglich das „Ob“ der gemeindlichen Bauleitplanung betreffen,50 z. B. eine auf die Einstellung von Bauleitplanverfahren zielende Fragestellung51, nicht jedoch die Aufhebung eines bereits beschlossenen und bekanntgemachten Satzungsbeschlusses52. Bürgerentscheide hinsichtlich des „Wie“ der Bauleitplanung werden von einer Ansicht53 immer als unzulässig angesehen. Nach anderer Ansicht führen die unterschiedlichen Strukturen von bauleitplanerischer Abwägung als einer Kette gestufter Präferenzentscheidungen unter Abschichtung von Alternativen einerseits und der geschlossenen Fragestellung eines Bürgerbegehrens andererseits nicht zwingend zu einem Widerspruch, soweit „Rahmenfestlegungen für einen Bebauungsplan durch Bürgerentscheid, die einen verbleibenden Planungsspielraum von substanziellem Gewicht belassen, genügend Alternativen zur Abwägung der konkreten Belange offen halten“.54 Nach der Rechtslage in Baden-Württemberg „ist jeder ‚weichenstellende‘ Grundsatzbeschluss, der eine Planung einleitet oder eine Planungsstufe abschließt, ‚bürgerbegehrensfähig‘“.55 Gerade weil der Gemeinderat stufenweise Entscheidungen zu treffen habe und sich dadurch auf jeder Stufe neue für die Bürgerinnen und
___________ 48 Dazu bspw. VGH München BayVBl. 2009, 245 ff.; VG Minden, Urt. vom 15.11.2012 – 2 K 2607/11; VG Kassel, Urt. vom 28.9.2012 – 3 K 659/12.KS - Juris Rn. 31; Durinke (Fußn. 46), S. 101 ff.; Christian Heinz/Christian Wilhelm, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in bauplanungsrechtlichen Fragen in Hessen, LKRZ 2011, 246; Steffen Kautz, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid beim Erlass von Bebauungsplänen, BayVBl. 2005, 193; Marc Löbbecke, Die Zulässigkeit von Bürgerentscheiden „über Bauleitpläne“, VBlBW 2009, 253. 49 Durinke (Fußn. 46), S. 152. 50 In diesem Sinne bspw. VG Würzburg BayVBl. 2003, 87, 88. 51 VGH München NVwZ 1998, 423; Durinke (Fußn. 46), S. 196. 52 VGH Kassel, Beschl. vom 30.6.2009 – 8 B 2047 – zitiert nach Heinz/Wilhelm (Fußn. 48), S. 248. 53 In diesem Sinne bspw. VG Würzburg BayVBl. 2003, 87, 88. 54 VGH München NVwZ-RR 2006, 208, 209; Jürgen Kühling/Florian Wintermeier, Die Bauleitplanung als Gegenstand plebiszitärer Bürgerbeteiligung, DVBl 2012, 317, 320 f. Thomas Wessels, Rechtliche Beurteilung der Ausnahmetatbestände und deren Umgehungsgefahr bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, 2013 ,S. 403 Fußn. 2062. 55 VGH Mannheim VBlBW 2011, 388, 389; KommJur 2013, 257, 259.
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Bürger relevante Gesichtspunkte ergeben könnten, müssten alle Weichenstellungen einem Bürgerentscheid zugänglich sein.56 Insgesamt machen bauleitplanungsrelevante Themen (Verkehr, Wirtschaft, Entsorgung, Wohngebiete und Planungssatzungen) 43,3 % der Bürgerbegehren aus.57 Ob auch eine Baugenehmigung Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein kann, ist nicht speziell geregelt. In Sachsen-Anhalt wird ein Bürgerbegehren zu der Frage, ob einem Antragsteller die zur Durchführung eines Bauvorhabens erforderliche Baugenehmigung zu erteilen ist, als unzulässig bewertet, weil das Bauordnungsrecht zum übertragenen Wirkungskreis gehört und in diesem Bereich gem. § 26 Abs. 3 Nr. 1 GemO LSA kein Bürgerentscheid stattfindet.58 Dementsprechend sind auch in einigen anderen Bundesländern Bürgerentscheide insoweit unzulässig wie sie Weisungsaufgaben der unteren Bauaufsichtsbehörde betreffen, weil über diese gem. § 21 Abs. 2 Nr. 1 GemO BW, § 15 Abs. 3 Nr. 1 BbgKVerf, § 8b Abs. 2 Nr. 1 HGO oder § 24 Abs. 2 Nr. 1 SächsGemO keine Bürgerentscheide stattfinden dürfen. Zu einer damals vergleichbaren Regelung hatte das VG Greifswald entschieden, dass dann ein Bürgerentscheid über die Erteilung einer Baugenehmigung nicht stattfinden darf, aber u. U. ein Bürgerentscheid zur „Förderung“ eines Projektes in Betracht kommt.59 Außerdem ist zu beachten, dass Bürgerentscheide kein rechtswidriges Ziel verfolgen dürfen, was in einigen Bundesländern explizit60 geregelt und auch in den übrigen Bundesländern wegen des Gesetzesvorrangs gem. Art. 20 Abs. 3 GG anerkannt ist61. Ein Bürgerentscheid über die Erteilung einer Baugenehmigung ist demnach auch insofern ausgeschlossen, als dieser auf eine Rechtsfolge gerichtet ist, die einen Genehmigungsanspruch des Bauantragstellers rechtswidrig vereiteln würde. Dementsprechend ist ein Bürgerbegehren unzulässig, mit dem die Gemeinde zu einer rechtswidrigen Verweigerung des Einvernehmens nach § 36 BauGB gezwungen werden soll.62 Grundsätzlich kann aber ein Bürgerent-
___________ 56
VGH Mannheim VBlBW 2011, 388, 390. Frank Rehmet/Volker Mittendorf, Erster Bürgerbegehrensbericht Deutschland 1956-2007, 2008, S. 20 (http://www.mehr-demokratie.de). 58 VG Halle LKV 1999, 417, 418 f. 59 Vgl. VG Greifswald Beschl. vom 31.5.1996 – 4 B 984/96 – Juris Rn. 19. 60 So explizit bspw. § 8b Abs. 2 Nr. 7 GemO HE; § 17a Abs. 2 Nr. 9 GemO RP. 61 In diesem Sine bspw. VGH München, Urt. vom 21.3.2012 – 4 B 11.221 – BeckRS 2012, 50788 Rn. 24; VGH München NVwZ-RR 2006, 208; VGH Mannheim KommJur 2013, 419, 420; VG Kassel, Urt. vom 28.9.2012 – 3 K 659/12.KS – Juris Rn. 35; Wessels (Fn. 54), S. 389. 62 VGH München BayVBl. 1998, 402, 403. 57
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scheid über die Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens für die baurechtliche Zulassung eines Vorhabens zulässig sein.63 Außerdem wurde ein Bürgerentscheid zugelassen, welcher die Aufhebung eines unverbindlichen Beschlusses des Bauausschusses des Stadtrates begehrte, der den Bau einer Moschee mit Minarett befürwortete, aber gerade keine Einvernehmenserteilung darstellte.64 Ähnlich wie für Volksentscheide auf Landesebene sind auch auf kommunaler Ebene Abstimmungen über die Haushaltssatzung unzulässig65. Soweit sich die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung mit dieser Frage befasst hat, wird ein Bürgerentscheid über die Frage, ob sich die Gemeinde an dem Projekt eines privaten Unternehmens beteiligen soll, als keine Abstimmung über die Haushaltssatzung und damit als zulässig angesehen.66
III. Überlegungen de lege ferenda 1. Abstimmung über das Projekt selbst a) Bundesebene Da der weit überwiegende Teil von Projekten, die zu konfliktbehafteten Diskussionen in der Öffentlichkeit führen, bundesrechtlich geregelten Eröffnungskontrollverfahren unterliegt und damit Volksentscheiden auf Landesebene entzogen ist, sind für derartige Projekte nur zwei Optionen zur Eröffnung einer Abstimmung ersichtlich, die beide eine Änderung des Grundgesetzes voraussetzen: In Betracht käme zum einen eine Ergänzung der Vorschriften über die föderale Kompetenzverteilung, die es den Ländern ermöglicht, die Anwendbarkeit bundesrechtlicher Regelungen für den Einzelfall durch Volksentscheid zu dispensieren. Zum anderen könnte eine Volksabstimmung über die Genehmigung aufgrund Bundesrechts zuzulassender Projekte – ggf. nur für solche öffentlicher Projektträger – in das Grundgesetz eingefügt werden. Während die erstgenannte ___________ 63
VG München, Urt. vom 9.10.2002 – M 7 K02.2044 – Juris Rn. 29. VG Augsburg, Urt. vom 21.3.2002 – Au 8 K 01.1408 – Juris Rn. 26. 65 In diesem Sinne: § 21 Abs. 2 Nr. 4 GemO BW; Art. 18a Abs. 3 GemO BY; § 15 Abs. 3 Nr. 4 BbgKVerf; § 15b Abs. 2 i. V. m. § 18 Abs. 2 Nr. 8 VerfBrhv; § 32 Abs. 1 S. 2 BezVG HH; § 8b Abs. 2 Nr. 4 GemO HE; § 20 Abs. 2 Nr. 3 KV MV; § 32 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 NKomVG; § 26 Abs. 5 Nr. 3 GemO NW; § 17a Abs. 2 Nr. 4 GemO RP; § 21a Abs. 4 Nr. 3 KSVG; § 24 Abs. 2 Nr. 3 SächsGemO; § 26 Abs. 3 Nr. 4 GemO LSA; § 16g Abs. 2 Nr. 3 GemO SH; § 17 Abs. 2 Nr. 3 ThürKO. 66 VGH Mannheim VBlBW 2011, 388, 389; VG Stuttgart, Urt. vom 17.7.2013 – 7 K 4182/11 – Juris Rn. 90 f. Ebenso etwa Kai Engelbrecht, Bürgerwille und Haushaltsgrundsätze, BayVBl. 2011, 617, 621 ff. 64
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Option so tiefgreifend in das Kompetenzgefüge zwischen Bund und Ländern eingreifen würde, dass sie von vornherein ausscheidet, zeigt für die zweite Option das Zusammenspiel von Art. 20 GG und Art. 79 Abs. 3 GG die prinzipielle Zulässigkeit der Einfügung von Volksabstimmungen auf Bundesebene in das Grundgesetz67. Die Eröffnung eines Volksentscheids auf Bundesebene würde im Ausgangspunkt dazu führen, dass zumindest alle zum Deutschen Bundestag Wahlberechtigten abstimmungsberechtigt sein würden. Wie Art. 29 Abs. 3 S. 1 GG zeigt, ist dies jedoch nicht zwingend; vielmehr ist eine Beschränkung des Kreises der Abstimmungsberechtigten auf die von einer Entscheidung Betroffenen nicht von vornherein ausgeschlossen. Allerdings ist unverkennbar, dass sich die Art. 29 Abs. 3 S. 1 GG zugrunde liegende Situation deutlich von der bei der Planung und Zulassung von Projekten unterscheidet: Während von Länderneuformierungen von vornherein nur die Einwohner der jeweiligen Länder betroffen sind, verhält sich dies bei Projekten anders.68 Der Kreis der ein Interesse an der Verwirklichung bzw. Nichtverwirklichung eines Projekts habenden Personen lässt sich nur selten trennscharf ermitteln. Keinesfalls reicht es aus, bspw. nur die im Bereich der Emissionen eines Projekts Ansässigen abstimmen zu lassen. Zum einen würde damit ausgeblendet, dass eine Ablehnung eines Projekts an einem Standort nicht selten Verlagerungseffekte und damit eine Kette von Einzelabstimmungen herbeiführen würde, ohne dass das Volk eine wirkliche Auswahl unter den in Betracht kommenden Optionen treffen konnte. Zum anderen korrespondieren den mit einem Projekt in einer Region verbundenen, dort als negativ empfundenen Folgen oftmals Vorteile in einer anderen Region. Typische Beispiele sind der Bau oder Ausbau einer Bundesstraße, der die infrastrukturelle Anbindung einer Region und deren wirtschaftliche Entwicklungschancen verbessern soll, oder der Ausbau eines (Regional-)Flughafens, der für die Standortwahl von Unternehmen und damit die Ansiedlung oder den Erhalt von Arbeitsplätzen relevant ist.69 Eine Ermittlung des Kreises der Abstimmungsberechtigten im Einzelfall anhand der aufgezeigten und weiterer Parameter dürfte mit der durch das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG gebotenen Klarheit, mit der dieser Kreis vor ___________ 67 Brun-Otto Bryde, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 79 Rn. 41; Michael Sachs, in: ders., GG, 6. Aufl. 2011, Art. 79 Rn. 68; vgl. auch die Literaturnachweise in Fn. 10. 68 Daher ist auch umstritten, ob die Regelung zur Länderneugliederung überhaupt ein Fall der Abstimmung nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ist, vgl. nur Ingolf Pernice, in: Dreier, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 29 Rn. 17; Neumann (Fn. 10), S. 247f. entgegen BVerfG, Beschl. vom 1.8.1978 – 2 BvR 123/76 – Juris Rn. 16. 69 Die lokal Betroffenen entscheiden nach ihrem Sonderinteresse, obwohl durch das Vorhaben gleichzeitig das Wohl der Allgemeinheit betroffen ist, vgl. Mann (Fn. 1), 563; Claudio Franzius, Stuttgart 21: Eine Epochenwende?, GewArch 2012, 225, 235 Fußn. 154.
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der Abstimmung festliegen muss, kaum vereinbar sein. Gerade die besondere Bedeutung, die einer unmittelbaren Entscheidung des Souveräns selbst zukommt, verlangt, dass diese Entscheidung eindeutig ist und keinen Raum für eine sich aus einer im Einzelfall schwierigen Festlegung des Kreises der Abstimmungsberechtigten ergebende Infragestellung bietet. Aus diesem Grund verbliebe als Option auf Bundesebene allein die Abstimmung des gesamten Volkes über das Projekt. Trotz der genannten Probleme, alle an dem Projekt positiv oder ablehnend Interessierten in der notwendigen Abgrenzungsschärfe zu erfassen, handelt es sich in aller Regel bei den mit einem Projekt verbundenen Fragen um solche, die lediglich regionale Bedeutung haben, so dass die Aktivierung auf Bundesebene gering sein dürfte.70 Realistischerweise wird man davon ausgehen müssen, dass ein erfolgreicher Volksentscheid nur dann zustande kommen kann, wenn das Einleitungs- und/oder das Abstimmungsquorum sehr viel niedriger angesetzt werden als es derzeit auf Landesebene der Fall ist. So findet sich in der Literatur der Vorschlag eines Quorums für die erste Stufe (Antrag auf Volksbegehren) von einem Prozent der Stimmberechtigten und auf der zweiten Stufe (Volksbegehren) von (maximal) fünf Prozent der Stimmberechtigten71. In der Konsequenz würde dies dazu führen, dass sich die Befürchtungen einer Indienstnahme von gemeinwohlbezogenen Entscheidungskompetenzen durch gut organisierte und meinungsstarke Eliten – welcher Konvenienz auch immer – bei gleichzeitigem Entstehen eines Repräsentationsdefizits weitgehend realisieren würden. Im Ergebnis sollten daher Überlegungen zur Ermöglichung eines Volksentscheids unmittelbar über ein Projekt auf Bundesebene nicht weiterverfolgt werden. b) Landesebene Selbst dann, wenn man das Bedenken, dass die Entscheidung über die Zulassung konkreter Projekte nur im Ausnahmefall von der Gesetzgebung übernommen werden kann, außer Betracht lässt, sind die Spielräume der Länder zur Ermöglichung eines Volksentscheids unmittelbar über die Zulassung oder Nichtzulassung von Projekten gering und beschränken sich auf Projekte, die in einem landesrechtlich geregelten Eröffnungskontrollverfahren zu beurteilen sind und ___________ 70 Bei der Volksabstimmung über den Ausstieg des Landes aus dem Projekt Stuttgart 21 zeigte sich bereits innerhalb der Stuttgarter Stimmbezirke eine unterschiedliche Beteiligung nach dem Grad der Betroffenheit, vgl. Brettschneider/Schwarz (Fn. 7), 293. 71 So Rux (Fußn. 12), S. 913, 916; ähnlich niedrig die Forderung von Mahrenholz: etwa 2% für die erste bzw. zweite Stufe, vgl. Ernst Gottfried Mahrenholz, Über Quoren in direktdemokratischen Initiativen, in: Mörschel/Efler (Hrsg.): Direkte Demokratie auf Bundesebene, 2013, S. 105, 107.
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nicht von einem privaten Projektträger verfolgt werden. Die landesrechtliche Einführung eines Volksentscheids über ein einem bundesrechtlich geregelten Eröffnungskontrollverfahren unterliegendes Projekt kann auch nicht auf die Kompetenz des Landes zum Erlass verwaltungsverfahrensrechtlicher Regelungen nach Art. 84 GG gestützt werden.72 „Verwaltungsverfahren“ i. S. von Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG ist der Prozess des Zustandekommens einer behördlichen Entscheidung, die Regelung des „Wie“ des Verwaltungshandelns73, nicht aber die Determinierung, mit welchem Inhalt eine Entscheidung getroffen werden soll. Letzteres jedoch wäre bei einem Volksentscheid der Fall, der die behördliche Entscheidung über das „Ob“ und die Art der Verwirklichung des Projekts ersetzen würde. Ob es zur Verdeutlichung einer politischen Absicht zur Verbesserung der Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger als sinnvoll angesehen wird, diesen Befund für die geringe Zahl in Betracht kommender Projekte gesetzgeberisch zu verankern, ist eine Entscheidung, die der jeweilige Landesgesetzgeber zu treffen hat. Aus der Perspektive einer Vermeidung von Regelungen mit einem sehr begrenzten Anwendungsbereich und der Weckung von Erwartungen bei den Bürgerinnen und Bürgern, die aufgrund dieser Begrenzung kaum eingelöst werden können, dürften allerdings gute Gründe dafür sprechen, von entsprechenden Novellierungen Abstand zu nehmen. Als zielführender wird es anzusehen sein, die Projekte, die zumindest auch durch das jeweilige Land finanziert werden, in die Überlegungen zu einem einen wesentlich größeren Kreis von Projekten erfassenden Referendum über staatliche Finanzierungsanteile (unten III.2.) einzubeziehen. c) Kommunale Ebene Für den Einsatz direktdemokratischer Instrumente zur Abstimmung über ein Projekt auf kommunaler Ebene muss es zunächst dabei bleiben, dass ein entsprechender Bürgerentscheid nur über Gegenstände erfolgen kann, die in der Zuständigkeit der Gemeinde liegen. Die Zulassung eines Bürgerentscheids über die Erteilung einer Baugenehmigung würde mithin die Änderung der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung voraussetzen. Selbst wenn eine solche in Betracht gezogen werden sollte – was mit Blick auf die Zuständigkeitsverteilung im Bereich des Bauordnungsrechts wenig sinnvoll erscheint –, würde sich die Eröffnung einer solchen Abstimmungsmöglichkeit dem nicht ausräumbaren Einwand ausgesetzt sehen, dass die Ausnutzung der Baufreiheit durch den Bauherrn entgegen der ___________ 72
So aber der Bericht der rheinland-pfälzischen Interministeriellen Arbeitsgruppe „Bürgerbeteiligung bei raumbedeutsamen und politisch relevanten Großvorhaben“ vom 21.6.2011 sub 3.3. 73 Armin Dittmann, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 84 Rn. 9.
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Bewertung durch die Vorschriften des Baurechts vereitelt werden würde. Diesbezügliche Überlegungen sollten daher nicht weiterverfolgt werden. Anders verhält es sich mit der Erweiterung der Möglichkeiten zur Durchführung von Bürgerentscheiden im Bereich der Bauleitplanung. Es würde die intensive Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die Planung ihres unmittelbaren Lebensumfeldes durch die Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Aufstellung eines Bauleitplans konsequent fortsetzen, würde man ihnen die Möglichkeit auch zur Entscheidung über die wesentlichen Fragen, die für zukünftige Gestaltung des Gemeindegebiets von Bedeutung sind, erleichtern. Soweit es sich dabei um eine Abstimmung über die Grundsatzfragen einer Bauleitplanung handelt, könnte im Wesentlichen an den Stand der Rechtsprechung auch unter den bestehenden Negativkatalogen angeknüpft werden. Insoweit käme einer Streichung der Bauleitplanung aus dem Katalog der einem Bürgerentscheid entzogenen Gegenstände partiell die Funktion einer Klarstellung zu, allerdings einer solchen, die die von der bisherigen Fassung der Negativkataloge ausgehende abschreckende Wirkung beseitigt. Zur Vermeidung von fruchtlosen Bürgerbegehren sollte dabei erläutert werden, dass ein Bürgerentscheid nach dem Beschluss der Satzung durch den Gemeinderat nicht mehr zulässig ist und ein Bebauungsplan nicht durch Bürgerentscheid beschlossen werden kann. Denn die Abwägung aller in einem mehrstufigen Verfahren ermittelten Belange kann durch einen auf eine Ja/Nein-Entscheidung reduzierten Bürgerentscheid weder konterkariert werden noch erfolgen.74 Der Satzungsbeschluss selbst ist mithin positiv wie negativ einem Bürgerentscheid entzogen. Gleiches gilt für detailscharfe Festlegungen, die den dem Satzungsgeber zur Verfügung stehenden Spielraum so weit beschränken, dass eine wirkliche Abwägung nicht mehr erfolgen kann. Beispiel ist die exakte Festlegung von Wohnflächen in einem genau bestimmten Plangebiet.75 Dagegen ist es mit dem Abwägungsgebot durchaus vereinbar, dem Plangeber bestimmte, diesen bindende Vorgaben zu machen, sofern eine planerische Abwägung noch stattfinden kann. Beispiel ist der Ausschluss bestimmter Nutzungen in einem Gebiet, sofern es sich dabei nicht um eine bloße (unzulässige) Verhinderungsplanung handelt. Ein inhaltlicher Zugriff auf die Abwägung erfolgt ebenso wenig, wenn ein Bürgerentscheid über die Frage herbeigeführt wird, ob ein Bauleitplan aufgestellt werden soll oder nicht oder ob ein begonnenes Aufstellungsverfahren fortgeführt werden soll oder nicht. Unzulässig ist ein auf Unterlassen oder Abbruch der Planung gerichtetes direktdemokratisches Instrument in diesen Fällen, wenn gem. § 1 Abs. 3 BauGB eine Pflicht zur Überplanung besteht. ___________ 74 Für die fachplanerische Abwägung Ewer (Fußn. 23), S. 1329. A. M. der Bericht der rheinland-pfälzischen Interministeriellen Arbeitsgruppe (Fußn. 72), sub 3.3. 75 Vgl. hierzu VGH München BayVBl. 2009, 245.
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Die praktische Relevanz einer solchen Änderung hängt nicht zum Wenigsten von den geforderten Quoren ab. Dabei kann die bayerische Regelung des Art. 18a Abs. 12 BayGO, der ein nach der Einwohnerzahl der Kommunen gestaffeltes Zustimmungsquorum vorsieht, als gelungenes Vorbild für einen gegenstandsangemessene Partizipationschancen und die gebotene Repräsentativität zu einem Ausgleich bringenden Ansatz auch für andere Bundesländer herangezogen werden. 2. Finanzierungsentscheidungen Die gegen die Einführung einer Volksabstimmung auf Bundesebene unmittelbar gegen ein Projekt formulierten Bedenken (oben III.1.a) lassen sich auch auf eine Abstimmung über den Einsatz von Haushaltsmitteln des Bundes zur Finanzierung eines Projekts übertragen. Auch in der Schweiz, in der das Verwaltungsreferendum in der Form eines Finanzreferendums auf kantonaler Ebene breit verankert ist, findet sich diese Möglichkeit auf der Ebene des Bundes nicht. In Deutschland erschiene ein solcher Ansatz zwar möglicherweise symbolisch bedeutsam, ohne jedoch zu einer Verbesserung der Mitwirkungschancen der Bürgerinnen und Bürger Wesentliches beizutragen. Anders verhält es sich auf Landesebene, für die die Interpretation der Haushaltsvorbehalte durch die Landesverfassungsgerichte zu einem weitestgehenden Ausschluss der Möglichkeit eines Volksentscheids über die Zurverfügungstellung von Haushaltsmitteln für die Projektfinanzierung führt (oben II.1.b). Hier zeigen die Erfahrungen aus der Schweiz, dass eine Volksabstimmung über vom Parlament für die Finanzierung von Projekten ausgewiesene Mittel ohne Weiteres möglich ist. Hiergegen ließe sich auch nicht in Stellung bringen, dass den direktdemokratischen Instrumenten in der Schweiz zu einem nicht unbeträchtlichen Teil eine spezifische Funktion im Modell der Konkordanzdemokratie zukommt76 und ihre Übertragung auf das anders strukturierte deutsche Demokratiemodell nicht sinnvoll sein könnte. Wie dargestellt (oben II.2) steht die Möglichkeit eines Bürgerentscheids über die Finanzierung von Projekten durchaus bereits de lege lata auch in Deutschland offen, nämlich auf kommunaler Ebene. In Anbetracht dessen, dass sich die Einwohnerzahl von Großstädten kaum von der kleinerer Bundesländer unterscheidet, sie vielmehr in Einzelfällen sogar übersteigt, ist nicht ersichtlich, weshalb eine Verankerung dieser Möglichkeit auf Landesebene aussichtslos sein sollte.
___________ 76 Vgl. hierzu Möstl (Fn. 11), S. 364 f.; Giovanni Biaggini, Ausgestaltung und Entwicklungsperspektiven des demokratischen Prinzips in der Schweiz, in: Bauer/Huber/Sommermann, Demokratie in Europa, 2005, 107, 121 ff.
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Jan Ziekow
Der Einwand, die Zulassung eines Volksentscheids über finanzwirksame Entscheidungen würde das Budgetrecht als „Königsrecht“ des Parlaments untergraben, verkennt, dass sich das Budgetrecht des Parlaments als Volksvertretung historisch im Spannungsfeld zur Krone entwickelt hat, nicht aber dazu dient, Einflussnahmemöglichkeiten des vertretenen Volks zu beschneiden. Eine entsprechende Änderung der Landesverfassungen würde nicht in den durch Art. 28 Abs. 1 GG den Ländern unverrückbar vorgegebenen Gehalt des Demokratieprinzips eingreifen.77 Schon vor der Folie der Rechtsprechung der meisten Landesverfassungsgerichte wären derartige Verfassungsänderungen notwendig. Es könnte daher daran gedacht werden, in den Landesverfassungen den Zusatz einzufügen, dass Volksbegehren und -entscheid zwar über das Haushaltsgesetz insgesamt unzulässig sind, nicht aber über einzelne Ansätze, durch die staatliche Haushaltsmittel zur ganz oder teilweisen Finanzierung eines raumbedeutsamen Vorhabens bestimmt werden.78 Für die kommunale Ebene sollte entsprechend in den Gemeindeordnungen klargestellt werden, dass Bürgerbegehren und -entscheid über die Frage, ob die Gemeinde finanzielle Mittel zur Verwirklichung von Vorhaben der oben genannten Art zur Verfügung stellt, sich nicht auf eine Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger über die Haushaltssatzung richten. Die Übernahme der Eingrenzung, dass es sich um die ganz oder teilweise Finanzierung eines raumbedeutsamen Vorhabens, das sich auf eine größere Zahl von Betroffenen auswirken kann, handeln muss, auch für die kommunale Ebene ist erforderlich, um beispielsweise Ansiedlungserleichterungen für kleine Bauvorhaben, beispielsweise für kinderreiche Familien, nicht einer direktdemokratischen Entscheidung zu unterwerfen.
IV. Schlussbetrachtung Bei realistischer Betrachtung wird man die Möglichkeiten, Bürger- oder Volksentscheide betreffend die Realisierung von genehmigungsbedürftigen Vorhaben herbeizuführen, als nicht allzu hoch ansehen müssen. Volksentscheide auf Bundesebene über konkrete Projekte oder deren Finanzierung halte ich für nicht sinnvoll. Auf Landesebene könnte ein Volksentscheid nur auf Vorhaben bezogen ___________ 77 Die Zulässigkeit entsprechender Verfassungsänderungen bejahend Margarete Schuler-Harms, Elemente direkter Demokratie als Entwicklungsperspektive, VVDStRL 72 (2013), 417, 454; Thomas Groß, Stuttgart 21: Folgerungen für Demokratie und Verwaltungsverfahren, DÖV 2011, 510, 514; Neumann (Fn. 10), S. 219 ff. Die bspw. von Jürgen Krafczyk, Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung, 2005, S. 223 ff., formulierten Bedenken gegen eine schlichte Streichung des Finanzvorbehalts sind auf die hier vorgeschlagene Lösung nicht übertragbar. 78 Ablehnend Henneke (Fn. 25), 181 f.
Entscheidung über Großprojekte durch Bürger-/Volksentscheid
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werden, deren Genehmigung allein landesrechtlich geregelt ist und dessen Vorhabenträger das Land selbst ist. Sofern die entsprechenden Bestimmungen über Volksentscheide geändert würden, könnte ein Volksentscheid über einzelne Haushaltsansätze, durch die staatliche Haushaltsmittel zur ganz oder teilweisen Finanzierung eines raumbedeutsamen Vorhabens zur Verfügung gestellt werden, eingeführt werden. Letzteres gilt entsprechend für eine Änderung der Gemeindeordnungen, durch die die Zurverfügungstellung von Mitteln der Gemeinde zur Realisierung eines Vorhabens einem Bürgerentscheid zugänglich gemacht wird. Die Streichung der Bauleitplanung aus dem Negativkatalog der Gemeindeordnungen würde zwar die Bauleitplanung als solche nicht dem Bürgerentscheid eröffnen, jedoch einige Spielräume erweitern. Daraus lässt sich folgende Konsequenz formulieren: Wem es mit einer Stärkung der Bürgerbeteiligung im Kontext der Genehmigung von raumbedeutsamen Vorhaben ernst ist, der sollte das Augenmerk nicht zu stark auf die Mitentscheidungsmöglichkeiten durch Volks- und Bürgerentscheide richten. Wichtiger erscheint mir die wirkliche Verbesserung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger vor und im Planungs- bzw. Genehmigungsverfahren.
Verzeichnis der Autoren Hartmut Bauer: Professor; Universität Potsdam, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Europäisches und Deutsches Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Sozialrecht und Öffentliches Wirtschaftsrecht Chen-Jung Chan: Professor für Öffentliches Recht an der National Chengchi Universität in Taipei, Taiwan Winfried Kluth: Professor; Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Juristische und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht Matthias Knauff: Professor; Friedrich-Schiller-Universität Jena, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Öffentliches Wirtschaftsrecht Chien-Liang Lee: Research Professor, Institutum Iurisprudentiae, Academia Sinica, Taipei, Taiwan Shwu-Fann Liou: Associate Research Professor, Institutum Iurisprudentiae, Academia Sinica, Taipei, Taiwan Markus Ogorek: Professor; EBS Law School, Wiesbaden, Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, öffentliches und privates Wirtschaftsrecht Thorsten Siegel: Freie Universität Berlin, Fachbereich Rechtswissenschaft, Professur für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht Nai-Yi Sun: Professorin, National Chengchi University, College of Law, Taiwan Tzung-Jen Tsai: Professorin, College of Law, National Taiwan University, Taipei
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Verzeichnis der Autoren
Jan Ziekow: Professor; Direktor des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung; Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, Lehrstuhl für öffentliches Recht, insbesondere allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht