Subalternität, Rassismus, Recht: Eine Analyse der deutschen Rechtsprechung [1 ed.] 9783428588107, 9783428188109

Die Arbeit führt in einer breit angelegten empirischen Analyse vor, dass die deutsche Rechtsprechung mit einem verkürzte

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German Pages 276 Year 2023

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Subalternität, Rassismus, Recht: Eine Analyse der deutschen Rechtsprechung [1 ed.]
 9783428588107, 9783428188109

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Schriften zur Rechtstheorie Band 308

Subalternität, Rassismus, Recht Eine Analyse der deutschen Rechtsprechung

Von

Carolin Stix

Duncker & Humblot · Berlin

CAROLIN STIX

Subalternität, Rassismus, Recht

Schriften zur Rechtstheorie Band 308

Subalternität, Rassismus, Recht Eine Analyse der deutschen Rechtsprechung

Von

Carolin Stix

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Dissertation im Jahr 2022 angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt mit Unterstützung des Deutschen Akademikerinnenbundes Die Arbeit wurde mit dem Cornelia Goethe Preis 2022 und dem WISAG Preis 2023 ausgezeichnet.

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Fotosatz Voigt, Berlin Druck: CPI books GmbH, Leck

ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-18810-9 (Print) ISBN 978-3-428-58810-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Danksagung Diese Arbeit wurde im Juni 2022 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertationsschrift angenommen. Dazu wäre es ohne die vielfältige Unterstützung anderer Menschen nicht gekommen. Einigen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Meine Doktormutter Prof. Dr. Dr. h.c. Ute Sacksofsky schenkte mir bereits in meiner Zeit als studentische Hilfskraft, später als wissenschaftliche Mitarbeiterin, das richtige Umfeld, um Freude am wissenschaftlichen Denken zu entwickeln. In den Jahren meiner Promotion nahm sie mir in den entscheidenden Momenten ab, an mein Projekt zu glauben und schärfte meine Überlegungen durch ihre Kritik. An ihrem Lehrstuhl hatte ich das Glück, Kolleginnen und Kollegen zu finden, mit denen ich vertrauensvoll neue Gedanken erproben und Alltägliches teilen konnte. Unser humorvoller und fachlich inspirierender Austausch wird mir fehlen. Insbesondere Dr. Berit Völzmann war mir dabei stets ein Vorbild. Herausgegriffen sei ebenfalls Monika Hommel, der ich für die sorgfältige Korrektur meiner Arbeit und ihre weit über diese Tätigkeit hinausgehende Unterstützung sehr dankbar bin. Prof. Dr. Anna Katharina Mangold ebnete meinen Weg an den Lehrstuhl und blieb mir als Ansprechpartnerin für Fragen zum Wissenschaftsbetrieb erhalten. Auch Prof. Dr. Dr. Günter Frankenberg hatte bereits im Studium Zutrauen in meine Fähigkeiten. Er hat mich so in der Idee zu dieser Arbeit bestärkt. Ich danke ihm für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Emotional und intellektuell betreut haben die Arbeit zudem Prof. Dr. Cengiz Barskanmaz, Prof. Dr. Mehrdad Payandeh und Dr. Nahed Samour. Ihr Kolloquium „Recht und Rassismus“ gab mir in der Schlussphase meiner Promotion die Chance, die Thesen meiner Arbeit zu überprüfen. Die Veranstaltung trägt dazu bei, die deutschsprachige Rassismusforschung zu vernetzen. Ich danke der Studienstiftung des deutschen Volkes für ihre finanzielle und ideelle Förderung sowie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der mir im Frühjahr 2020 einen Forschungsaufenthalt an der University of Cape Town in Südafrika ermöglichte. Nicht zuletzt gilt mein kollegialer Dank allen Mitstreiterinnen des Frankfurter Juristinnen*-Kolloquiums für ihre Beschäftigung mit meinen Texten. Unsere regelmäßigen Diskussionen über Fach- und Lebensfragen waren mir Ansporn und Halt zu gleichen Teilen. Der größte Dank gilt gewiss einigen anderen wunderbaren Menschen, jedoch nicht an dieser Stelle.

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

A. Untersuchungsgegenstände: Subalternität, Rassismus, Recht . . . . . . . . . . . . .

18

B. Theoretische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

C. Methodische Herangehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

D. Persönliche Situiertheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

E. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Kapitel 1 Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

31

A. Sprechen, Hören und Gehörtwerden: zum Konzept der Subalternität . . . . . I. Bildungs- und militärsprachliche Verwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Subalternität als politische Analysekategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedingungen eines subalternen Diskursstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mangelnde Organisation und fehlendes Bewusstsein (Gramsci) . . . . . b) Koloniale Subordination (Subaltern Studies Group) . . . . . . . . . . . . . . . c) Ungleiche Artikulationschancen (Spivak) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wessen Stimme wird (weshalb nicht) gehört? . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Intersektionale Subalternität: die kolonialisierte Frau . . . . . . . . . . cc) Kritische Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wege aus der diskursiven Verstummung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fremd- oder Selbstrepräsentation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Subversives Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Übertragbarkeit der Subalternitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Begriffsgebrauch dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 32 33 33 33 37 39 40 44 48 50 50 54 56 58

B. Rassismus- und Rassediskurse in Europa: Konstruktion rassifizierter Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rassismus als (koloniale) Vernichtungsideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rassismus als sozialpsychologisches Bewusstseinsphänomen . . . . . . . . . . . . III. Rassismus als strukturelles Macht- bzw. Dominanzverhältnis . . . . . . . . . . . . IV. Eine Arbeitsdefinition von Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 61 65 68 70

C. Subalternität aus rassismuskritischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

8

Inhaltsverzeichnis I. Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Nicht so wichtig!“: kolonialrassistische Wissensbestände . . . . . . . . . . . . . 2. „Zum Glück vorbei!“: nationalsozialistische Kontinuitäten . . . . . . . . . . . . 3. „Wir sind (k)ein Einwanderungsland!“: verdrängte Realitäten . . . . . . . . . . 4. Diskursive Öffnungen der letzten Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Prozess der Rassifizierung als Subalternisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen zum Begriff der Rassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rassifizierungsprozess subaltern gedeutet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Markierung: Kennzeichnung nichtweißer Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Positionierung: Privilegierung weißer Artikulations- und Hörweisen . . c) Naturalisierung/Neutralisierung: Trugbild der gleichberechtigten Diskursteilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Folge: Diskursausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72 72 76 79 81 84 85 87 87 89 91 93 94

D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Kapitel 2 Judikative Artikulationsbedingungen: „Hört das Recht die Subalterne?“

97

A. Rechtstheoretische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 I. Sprache und Recht: Recht sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 II. Regulative Idee der objektiven Justiz: Ideal und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 B. Rechtssoziologische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zugangshürden zum Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Dominanzverhältnisse im Gerichtssaal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kognitive Verzerrungen: der (Judicial) Racial Bias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104 104 108 109

C. Rechtsdogmatische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Prämissen des Gleichheitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Leitbild der Symmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit vor Gleichheit: in dubio pro libertate? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. „Rasse“ in der Verfassungsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unterkomplexes Rasseverständnis des deutschen Schrifttums . . . . . . . . . . . . . 1. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dogmatische Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schwachstellen des einfachgesetzlichen Diskriminierungsschutzes . . . . . . . . 1. Intersektionale Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Statistische Datengrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114 114 115 117 119 125 125 127 130 132 133

D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Inhaltsverzeichnis

9

Kapitel 3 Empirische Rechtsprechungsanalyse

137

A. Auswahl der Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundlage: Dokumentenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vertiefung: diskursanalytisch gerahmte Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konkretes Vorgehen: Erhebung, Auswahl und Interpretation des Materials . . 1. Bestimmung des Analysematerials: Korpusbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestimmung des Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analyse der Entstehungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Formale Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theoriegeleitete Fragestellung und Analysetechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Hinweise zur rechtswissenschaftlichen Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Adaptionen für den Rechtsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Herausforderungen und Limitationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137 138 139 142 142 142 145 146 147 148 149 150

B. Erster Analyseteil: Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rassismus erkennen und bewerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rassistische Motive in der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerichtliche Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rassismus im Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rassistische Beleidigungen als Kündigungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerichtliche Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rassismus im Zugang zu Waren und Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . a) Diskotheken-Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerichtliche Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Berücksichtigung von Rassismus als diskursives Machtverhältnis . . . . . . . . . 1. Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht im Spannungsverhältnis . . . . 2. Tatbestand der Volksverhetzung, § 130 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beurteilung mehrdeutiger Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auszug aus der Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Strafbarkeit von Wahlplakaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) N-Wort-Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Conclusio: Rassismus „überhören“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152 152 153 153 156 163 163 164 165 173 175 176 179 184 185 185 186 188 190 190 200 204 204

10

Inhaltsverzeichnis

C. Zweiter Analyseteil: Rassifizierungsprozess als Subalternisierung . . . . . . . . . I. Christlich und objektiv vs. die „tendenziöse Richterin mit Kopftuch“ . . . . . . 1. Entscheidung des BVerfG – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen . . 2. Gerichtliche Argumentation im Lichte des Rassifizierungsprozesses . . . . a) Markierung und Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neutralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verzweiflung vs. „fremdländische Familientradition“: Femizide in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsbestimmung: Partnertötung und „Ehrenmord“ . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafrechtliche Einordnung: Mord aus niedrigen Beweggründen? . . . . . . . 3. Gerichtliche Argumentation im Lichte des Rassifizierungsprozesses . . . . a) Markierung und Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neutralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Conclusio: Rassifizierte Stimmen „verzerren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205 206 207 210 210 213 215 216 216 219 222 226 227 232 233 234 235

D. Gesamtanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Sach- und Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

Abkürzungsverzeichnis a. A. ABl. Abs. AG AGG APuZ ArbGG Art. Aufl. AVR BAG BayObLG Bd. BDSG BeckOK Beschl. BGB BGBl. BGH BPolG BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerfGK BVerwG bzw. CERD DDR ders. dies. DIMR djbZ DÖV DRiG DSGVO DVBl.

andere(r) Ansicht Amtsblatt Absatz Amtsgericht Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Aus Politik und Zeitgeschichte Arbeitsgerichtsgesetz Artikel Auflage Archiv des Völkerrechts Bundesarbeitsgericht Bayerisches Oberstes Landesgericht Band Bundesdatenschutzgesetz Beck’scher Online-Kommentar Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundespolizeigesetz Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht beziehungsweise Committee on the Elimination of Racial Discrimination Deutsche Demokratische Republik derselbe Autor dieselbe Autorin/dieselben Autor*innen Deutsches Institut für Menschenrechte Zeitschrift des Deutschen Juristinnenbundes Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Richtergesetz Datenschutz-Grundverordnung Deutsches Verwaltungsblatt

12 e. V. ebd. EEO EGMR EMRK EuGH f. FamFG FAZ ff. FGO FRA gem. GG GVBl. GVG Herv. d. Hg. hg. v. Hs. i. A. (v.) i. E. i. S. d. i.V. m. JA Jg. JöR JuS JZ KaisVO Kammerbeschl. KJ Komm. KriPoZ KritV LADG LAG LG m.w. N. MüKo MZG n. F.

Abkürzungsverzeichnis eingetragener Verein ebenda Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention Europäischer Gerichtshof und folgend Gesetz über das Verfahren in Familiensachen Frankfurter Allgemeine Zeitung und die folgenden Finanzgerichtsordnung Agentur der Europäischen Union für Grundrechte gemäß Grundgesetz Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Hervorhebung der Herausgeber*in herausgegeben von Halbsatz im Auftrag (von) im Erscheinen im Sinne des in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jahrgang (einer Zeitschrift) Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Schulung Juristenzeitung Verordnung des Deutschen Kaisers Kammerbeschluss Kritische Justiz Kommentar Kriminalpolitische Zeitschrift Kritische Vierteljahresschrift Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz Landesarbeitsgericht Landgericht mit weiteren Nachweisen Münchener Kommentar Mikrozensusgesetz neue Folge

Abkürzungsverzeichnis Nichtannahmebeschl. NJW No. Nr. NS NStZ NSU NVwZ NZA OVG RGBl. RIAS RL Rn. RphZ RuStAG RW S. SchGG SGG sog. st. Rspr. StGB StPO StrRG StV taz TWAIL u. a. UN UNESCO unveröff. Urt. usw. v. VersammlG VG VGH vgl. Vol.

13

Nichtannahmebeschluss Neue Juristische Wochenschrift Numero Nummer Nationalsozialismus Neue Zeitschrift für Strafrecht Nationalsozialistischer Untergrund Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Oberverwaltungsgericht Reichsgesetzblatt Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Richtlinie Randnummer Rechtsphilosophie Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung (Rechtswissenschaft) Seite Schutzgebietsgesetz Sozialgerichtsgesetz sogenannt ständige Rechtsprechung Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Gesetz zur Reform des Strafrechts Strafverteidiger die tageszeitung Third World Approaches to International Law und andere United Nations/Vereinte Nationen United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization unveröffentlicht Urteil und so weiter vom Versammlungsgesetz Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Volume (Jahrgang einer englischsprachigen Zeitschrift)

14 VVDStRL VwGO WHO z. B. ZG ZPO ZRP

Abkürzungsverzeichnis Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung World Health Organization zum Beispiel Zeitschrift für Gesetzgebung Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung Seit einigen Jahren setzt sich die deutsche Öffentlichkeit intensiv mit den Ursachen, dem Ausmaß und den Folgen von Rassismus auseinander. Alltagssprachliche Begrifflichkeiten1 stehen ebenso auf einem kritischen Prüfstand wie rassistische Strukturen und Diversitätsdefizite innerhalb von Politik,2 Wirtschaft,3 Kultur4 sowie vielen anderen Sphären des gesellschaftlichen Miteinanders. Menschen, die nachteilig von Rassismus betroffen sind, teilen ihre persönlichen Erfahrungen und gewähren damit Einblick in eine Diskriminierungsrealität, die vielen anderen unbekannt ist.5 Deutschland spricht über Rassismus. Trotz der vielfältigen diskursiven Öffnungsschritte und eines steigenden politischen Bewusstseins für die Problemlage ist dieses Gespräch ein schwieriges. Rassismus emotionalisiert. Der Vorwurf, selbst rassistisch oder Teil einer rassistischen Gesellschaft zu sein, ruft bei vielen Menschen Wut oder Scham, jedenfalls eine verteidigende Haltung hervor. Den Wechsel von Rede und Gegenrede be1 Zum Zusammenwirken von Sprache und Diskriminierung: Susan Arndt, Wenn Rassismus aus Worten spricht, in: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (Hg.), Wenn Rassismus aus Worten spricht, 2013, S. 14–31. 2 „Menschen mit Migrationshintergrund“ sind gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil sowohl im Bundestag als auch in Landes- und Kommunalparlamenten deutlich unterrepräsentiert. M. w. N. Mediendienst Integration, Zahlen und Fakten: Integration. Politische Teilhabe, Stand: Nov. 2021, abrufbar unter: https://mediendienst-integra tion.de/integration/politik.html (letzter Abruf dieses und aller folgenden Links: 1.11. 2022). 3 Für eine Bestandsaufnahme zu Rassismus in Wirtschaftsunternehmen und rassistischen Erfahrungen in der Privatwirtschaft: Gesicht zeigen! e. V. (Hg.), Rassismus im Kontext von Arbeit und Wirtschaft, 2020, S. 12 ff., 18 ff. 4 Zur Diskussion stehen etwa rassistische Besetzungs- und Aufführungspraxen in deutschen Theater- und Opernhäusern: Lara-Sophie Milagro, Die Bequemlichkeit der Definitionshoheit, Nachtkritik v. 28.3.2012; Julia Lemmle, Weißsein, Theater & die Normalität rassistischer Darstellung, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Heimatkunde, 2012. Rassistische Stereotype werden ebenfalls in der (Kinder-)Literatur und Musik hinterfragt. 5 In den sozialen Medien geschieht dies unter dem Hashtag #MeTwo. Dieser ist angelehnt an die feministische #MeToo-Bewegung und soll veranschaulichen, dass Menschen mehr als nur eine Identität haben. Biografische Erfahrungsberichte enthalten ebenfalls die Bestseller zum Thema Rassismus, etwa: Tupoka Ogette, exit RACISM, 2017; Noah Sow, Deutschland Schwarz Weiß, 2018; Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah (Hg.), Eure Heimat ist unser Albtraum, 2019; Alice Hasters, Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten, 2019; Reni Eddo-Lodge, Warum ich nicht länger mit Weißen über meine Hautfarbe spreche, 2020; Hadija Haruna-Oelker, Die Schönheit der Differenz, 2022.

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Einleitung

einträchtigen persönliche oder institutionelle Abwehrmechanismen, welche die strukturelle Problemlage verdecken können.6 Zudem erschweren terminologische Unsicherheiten im Sprechen über Rassismus und ein Mangel an rassismuskritischer Kompetenz die Auseinandersetzung.7 Rechtliche Akteure tun sich dabei besonders schwer, die rassistische Historie des (deutschen) Rechts anzunehmen und dessen Rolle im Fortbestehen rassifizierter Ungleichheitsstrukturen zu analysieren. Für Deutschland existieren ausführliche rechtswissenschaftliche Untersuchungen zur Verwobenheit von Recht und Rassismus erst seit kurzer Zeit und bislang nur in geringer Zahl.8 Umfangreiche rechtsempirische Analysen zu Rassismus in der deutschen Justiz fehlen beinahe vollständig.9 Für diesen Befund scheint es einen guten Grund zu geben: Seit dem Ende der rassischen Segregation im Jahre 194510 wird im deutschen Recht nicht mehr formal entlang der Kategorie „Rasse“ 11 unterschieden. Das Kriterium findet ledig6 Zu unterschiedlichen Formen des Abwehrverhaltens als Reaktion auf Rassismuskritik siehe: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Hg.), Rassistische Realitäten, 2022, S. 80 ff. Ausführlich zu Vermeidungsdiskursen um Rassismus außerdem Kapitel 1, C. I., ab S. 72. 7 Für den Rechtsdiskurs siehe Kapitel 2, C., ab S. 114. 8 Grundlegend Cengiz Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019; Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021. 9 Für kürzere Abhandlungen siehe Angelina Weinbender u. a. (Hg.), Rassismus und Justiz, 2014; Doris Liebscher u. a., Rassismus vor Gericht, in: KJ 2014, S. 135–151; Sophie Schlüter/Katharina Schoenes, Zur Ent-Thematisierung von Rassismus in der Justiz, in: movements, Jg. 2 1/2016, S. 199–210. Entscheidungen zu den Themen Demokratiefeindlichkeit, Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus werden zudem im Report „Recht gegen Rechts“ besprochen: Nele Austermann u. a. (Hg.), Recht gegen Rechts, 2020; dies. u. a. (Hg.), Recht gegen Rechts, 2022. 10 Das „Kontrollratsgesetz Nr. 1 betreffend die Aufhebung von NS-Recht“ v. 20.9. 1945 setzte die bis dato geltenden Nürnberger Rassengesetze außer Kraft. Zu diesen zählt das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (RGBl. I S. 1146) und das Reichsbürgergesetz (RGBl. I S. 1146). Heute wird häufig auch das Reichsflaggengesetz (RGBl. I S. 1145) mit dem Sammelbegriff erfasst. 11 Bei der Formulierung „Rasse“ handelt es sich um einen antirassistischen Rechtsbegriff, dem kein biologistisches Verständnis unterschiedlicher Menschenrassen zugrunde liegt. Trotz dieses Umstands besteht die Gefahr, dass der Begriff in eben jene Richtung performativ wirkt. Die Performativität des Rechtsbegriffs „Rasse“ ist Grundlage einer intensiv geführten parlamentarischen, rechtspolitischen und wissenschaftlichen Debatte, die über eine Änderung des verfassungsrechtlichen Normtextes streitet. Für eine Ersetzung u. a.: Hendrik Cremer, . . . und welcher Rasse gehören Sie an?, i. A. d. Deutschen Instituts für Menschenrechte, 2009; ders., Das Verbot rassistischer Diskriminierung, i. A. d. Deutschen Instituts für Menschenrechte, 2020, S. 15 ff.; Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2020, S. 449 ff.; Mehrdad Payandeh, Stellungnahme zu zwei Gesetzesentwürfen zur Änderung des Grundgesetzes v. 16.6. 2021, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/848100/cb73a277ffc09 4ba9a154a0b8639e438/stellungnahme-payandeh-data.pdf. Mit Verweis auf den „racial turn“ des Begriffs und seinen internationalen Gebrauch dagegen u. a.: Cengiz Barskanmaz, Rasse – Unwort des Antidiskriminierungsrechts, in: KJ 2011, S. 382–389; ders., Zum Rassebegriff im Grundgesetz: Zwei Perspektiven, in: APuZ 42–44/2020, S. 19–22. Zur historischen Einordnung des Rechtsbegriffs sei verwiesen auf den mehrteiligen Bei-

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lich in antirassistischer Intention Anwendung, etwa in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Die Verfassungsnorm verbietet, jemanden „wegen seiner Rasse“ zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Doch gerade aufgrund dieses „racial turns“ 12 des Rassebegriffs und der einfachgesetzlichen Pönalisierung von Rassismus sind rechtliche Akteure13 aufgefordert, Rassismus, seine Geschichte und Gegenwart zu verstehen. Wenn rechtsanwendende Personen antirassistische Rechtsnormen prüfen, müssen sie auch jenseits einer gewaltvollen Eskalation erkennen, ob ein Sachverhalt eine rassistische Dimension aufweist und wie schwer die erlittene Persönlichkeitsrechtsverletzung wiegt. Abwehrmechanismen und begriffliche Unsicherheiten behindern diese Aufgabe und können einem wirksamen rechtlichen Schutz vor rassischer14 Diskriminierung entgegenstehen. Dies gilt in einem noch stärkeren Ausmaß für eigene rassistische Denkmuster oder persönliche Vorbehalte. In einer aktuellen Studie schätzen sich 97,2 % der befragten US-amerikanischen Richter*innen überdurchschnittlich gut darin ein, unbeeinflusst von einer etwaig bestehenden, eigenen rassistischen Voreingenommenheit zu entscheiden.15 Dies entspricht nicht nur einer klassischen Abwehrhaltung, Rassismus bei anderen, aber nicht bei sich selbst zu vermuten, sondern auch dem Selbstbild der juristischen Profession als distanziert, neutral und objektiv.16 Das juristische Studium und der Vorbereitungsdienst jedoch scheinen eine solche Kompetenz nicht zwingend zu vermitteln. Gleichheitsrechte nehmen hier typischerweise eine Randstellung ein. trag von Mathias Hong, „Rasse“ im Parlamentarischen Rat und die Dynamik der Gleichheitsidee seit 1776 (Teil I–V), VerfBlog 2020. 12 Der sog. „racial turn“ beschreibt die Denkbewegung, den Begriff der „Rasse“ nicht als biologisches Kriterium, sondern als soziale Position zu verstehen und in dieser Folge als kritisches Analyseinstrument zu etablieren, statt zu ersetzen („weg von Rasse hin zu Rasse“). Einführend Shankar Raman, The Racial Turn: „Race“, Postkolonialität, Literaturwissenschaft, in: Pechlivanos u. a. (Hg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, 1995, S. 241–255. 13 Zum „Rechtsstab“ als Regulierungsakteur: Susanne Baer, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2021, S. 168 ff. 14 Ich wähle den Ausdruck „rassisch“ im Anschluss an Cengiz Barskanmaz, der in seinem Grundlagenwerk dafür plädiert, den Sprachgebrauch „rassistische Diskriminierung“ zu verwerfen. Da sich „rassistisch“ sprachlich von Rassismus ableitet, ist das Wort im Zusammenhang zu negativ konnotierten Begriffen, wie Diskriminierung, tautologisch. Nur mit neutralen Begriffen, wie Handlung, Struktur, Meinung usw., ergibt die Verwendung sprachlich Sinn. „Rassische Diskriminierung“ drückt präzise aus, dass es sich um eine Benachteiligung aufgrund der „Rasse“ handelt: Cengiz Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 25 f.; ders., Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien, in: Mangold/Payandeh (Hg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, 2022, S. 303–348 (304 ff.). 15 Andrew J. Wistrich/Jeffrey J. Rachlinski, Implicit Bias in Judicial Decision Making, Chapter 5: American Bar Association, in: Cornell Legal Studies Research Paper No. 17–16, 2017, S. 87–130 (106). 16 Ausführlich zur juristischen Selbstbildkonstruktion: Ulrike Schultz u. a. (Hg.), De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft, 2018, S. 204 ff., 225 ff. Zur regulativen Idee einer objektiven Justiz: Kapitel 2, A. II., ab S. 101.

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Überdies setzt die juristische Ausbildung in Deutschland erst seit dem Jahr 2021 voraus, dass die Vermittlung der Pflichtfächer in Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht erfolgen muss.17 Theoretische Grundlagen zu Rassismus und Antisemitismus sind davon nicht explizit umfasst. Auch aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob die deutsche Rechtsprechung tatsächlich vor den genannten Schwierigkeiten im „Sprechen über Rassismus“ gefeit ist. Wie hoch ist die gerichtliche Sensibilität für die exkludierende Wirkung von Rassismus? Welches Verständnis von Rasse und Rassismus liegt der judikativen Prüfung zugrunde? Meine Suche nach Antworten bewegt sich auf den Spuren eines – zumindest in der deutschen Rechtswissenschaft – ungewohnten gedanklichen Zugriffs: den Forschungsarbeiten zum Konzept der „Subalternität“. Die Analysekategorie greift das Bild des Sprechens auf, indem sie das Verhältnis von Rede und Gegenrede im Zusammenhang bestehender Machtverhältnisse zu ermitteln versucht. Subalternität ergründet den Ursprung ungleicher diskursiver Artikulationsbedingungen und betont dabei die hörende Rezeption eines Sprechakts. Diesem Ansatz folgend untersuche ich, wie sich struktureller Rassismus diskursiv auswirkt sowie ob und, wenn ja, weshalb sich diskursive Marginalisierungen auch in der deutschen Rechtsprechung wiederfinden. Im nachfolgenden Abschnitt führe ich hierzu in die Subalternitäts- sowie Rassismusforschung im Recht ein (A.). Nachdem deren Verbindung umrissen ist, skizziere ich den theoretischen Referenzrahmen der Untersuchung (B.) und erläutere die methodische Herangehensweise des empirischen Teils der Arbeit (C.). Sodann möchte ich offenlegen, mit welchem Vorverständnis ich mich den aufgeworfenen Forschungsfragen widme, weshalb dessen Klärung überhaupt von Interesse ist und inwiefern meine Positionalität die Untersuchung limitieren könnte (D.). Die Einleitung schließt mit einem Ausblick auf den weiteren Gang der Untersuchung (E.).

A. Untersuchungsgegenstände: Subalternität, Rassismus, Recht Dieses Vorhaben behandelt drei verschiedene Untersuchungsgegenstände: Subalternität, Rassismus und Recht. Die genannten Phänomene verbindet ihre sprachliche Prägung. Subalternität, Rassismus und Recht vollziehen sich durch kommunikative – mündliche, textliche oder sonstige – Interaktionen. Überdies ist den Begriffen gemein, dass sie Sphären gesellschaftlicher Macht, deren Ausübung und Wirkung beschreiben. Im Folgenden rekurriere ich nicht auf den klassischen Machtbegriff nach Max Weber,18 sondern stütze mich auf die Überlegun17 Siehe § 5a Abs. 2 S. 3 DRiG. Geändert durch das Gesetz zur Modernisierung des notariellen Berufsrechts und zur Änderung weiterer Vorschriften v. 25.6.2021 (BGBl. 2021 I Nr. 38, S. 2155). 18 Nach Weber bedeutet Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese

A. Untersuchungsgegenstände: Subalternität, Rassismus, Recht

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gen des französischen Philosophen Michel Foucault. Dieser beschreibt Macht als die „Vielfältigkeit der Kräfteverhältnisse, die ein Gebiet bevölkern und organisieren“.19 Näher führt er aus, es handle sich um ein beziehungsförmiges,20 sogleich dynamisches und überindividuelles21 Netzwerk, welches nicht direkt repressiv (durch Zwang oder Gewalt) auf andere einwirke, sondern vor allem über normalisierte Formen von Wissen und Kontrolle Einfluss entfalte.22 Im rechtsstaatlichen Gefüge der Bundesrepublik ist das Recht ein zentraler Modus der demokratischen Machtausübung und -sicherung. Es legitimiert Ansprüche, den Zugriff auf verschiedene materielle Güter und konstruiert bestimmte Aspekte des zwischenmenschlichen Verhältnisses. Mit Foucault kann nachvollzogen werden, dass auch das Recht nicht auf seine repressive Funktion als Instrument eines Staates zu beschränken ist, sondern produktiv wirkt. Es beeinflusst und ist beeinflusst von außerrechtlichen Normvorstellungen und daher nur im Zusammenspiel mit anderen Formen (nichtstaatlicher) Macht zu verstehen. Eine solche Variante von Macht beschreibt Rassismus als ein historisch gewachsenes, asymmetrisches Machtverhältnis. Rassismus teilt Menschen anhand tatsächlicher oder scheinbarer körperlicher und kultureller Unterschiede in Gruppen ein. Auf Basis dieser Einteilung verkürzen sich die Teilhabechancen einiger Personen, während die Privilegien anderer Menschen abgesichert werden. Obgleich das Recht verbietet, jemanden „wegen seiner Rasse“ zu benachteiligen oder zu bevorzugen, stellen rassische Diskriminierungen für viele Menschen in zahlreichen Lebensbereichen eine alltägliche Erfahrung dar.23 Subalternität adressiert als Teil dieser sozialen Wirklichkeit eine Form der diskursiven Macht(-losigkeit). Auch hierbei stütze ich Chance beruht“. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Halbband, 5. Aufl. 2002, S. 28. 19 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, 1983, S. 113 f. 20 Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders., Analytik der Macht, 2005, S. 240– 263 (252). 21 „Die Machtbeziehungen sind gleichzeitig intentional und nicht-subjektiv“: Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, 1983, S. 94. Auch nach Hannah Arendt, kann niemals ein Einzelner, sondern nur eine Gruppe Macht haben: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält.“ Hannah Arendt, Macht und Gewalt, 1970, S. 45. 22 „Allgegenwart der Macht: nicht weil sie das Privileg hat, unter ihrer unerschütterlichen Einheit alles zu versammeln, sondern weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt“: Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, 1983, S. 94. „Macht kann nur über ,freie Subjekte‘ ausgeübt werden [. . .]. Wo die Bedingungen des Handelns vollständig determiniert sind, kann es keine Machtbeziehung geben“: Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders., Analytik der Macht, 2005, S. 240–263 (257). 23 Dies bestätigten aktuelle Studien: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, Rassistische Realitäten, 2022, insbesondere S. 30 ff. Siehe auch Steffen Beigang u. a., Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2017, aufgedröselt nach verschiedenen Lebensbereichen ab S. 120.

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mich auf einen Diskursbegriff, der sich an die Forschungsarbeiten Foucaults anlehnt. Der „Diskurs“ steht demgemäß für ein System sprachlicher Aussagen, das zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort festlegt, ob und wie über etwas gesprochen wird.24 Kommunikative, diskursive Prozesse bestimmen, was als wahr verstanden wird, indem sie Sprech-, Denk- und Handlungsmuster sowohl für das individuelle als auch kollektive Handeln bereithalten. Dabei ist der Diskurs untrennbar mit dem Regime der Macht verbunden: Elemente des Wissens sind gleichsam solche des Machtsystems. Andersherum basieren die Mechanismen der Macht auf dem diskursiven Wissensregime.25 Die Diskursteilnehmenden streben nicht frei nach einer „objektiven Wahrheit“, vielmehr ist ihre Wahrnehmung von diskursiven Vorbildern (mit-)bestimmt.26 Diskurse sind auf diese Weise entscheidend an jeder Wirklichkeitskonstruktion beteiligt. Für eine subalterne Diskursposition ist der Zugriff auf den Diskurs und damit die Möglichkeit, Erfahrungen öffentlich zu artikulieren, auf persönliche Interessen aufmerksam zu machen und diese politisch durchzusetzen,27 stark eingeschränkt. Mit dem Subalternitätskonzept verschiebt sich die Analyse der Ursachen dieses Umstands auf die „stille“ Seite28 der sprachlichen Interaktion: das „Hören“. Durch jenen Perspektivwechsel gerät die Rezeption eines Sprechaktes in das Zentrum des Forschungsinteresses. Eine subalterne Artikulation kann sich zwar äußern, sie wird aber nicht oder nur eingeschränkt gehört. Das Gehörtwerden ist erschwert durch eine dominante, diskursive Wirklichkeitserzählung, welche subalterne Stimmen ausblendet, vereinnahmt oder verzerrt. Auch das Verständnis von Normalität bildet sich heraus, ohne die subalterne Stimme zu beachten, und beschreibt die soziale Wirklichkeit insofern bruchstückhaft. Die Aussicht auf demokratische Teil24 Siehe Michel Foucault, Archäologie des Wissens, 19. Aufl. 2020; ders., Die Ordnung des Diskurses, 15. Aufl. 2019. 25 Foucault benennt diese als äußere „Ausschließungssysteme“ und „interne Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben“: Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 15. Aufl. 2019, S. 16 ff. Näher etwa: „daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehungen gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert“: ders., Überwachungen und Strafen, 1994, S. 34. 26 Insofern grenzt sich das Diskursverständnis etwa ab von Jürgen Habermas, der davon ausgeht, die Diskursteilnehmenden würden ihren „Blick auf eine gemeinsame objektive Welt am Anspruch auf die Wahrheit, d.h. die unbedingte Gültigkeit von Aussagen orientieren“: Jürgen Habermas, Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, 2001, S. 24. 27 „Der Diskurs ist genauso in dem, was man nicht sagt, oder was sich in Gesten, Haltungen, Seinsweisen, Verhaltensschemata und Gestaltungen von Räumen ausprägt. Der Diskurs ist die Gesamtheit erzwungener und erzwingender Bedeutungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse durchziehen.“ Michel Foucault, Der Diskurs darf nicht gehalten werden für . . ., in: Defert (Hg.), Schriften in vier Bänden, Bd. III: 1976–1979, 2003, S. 164–165 (164). 28 So beschrieben von Anna Menzel, Hören können vor dem Antworten müssen, i. E.

A. Untersuchungsgegenstände: Subalternität, Rassismus, Recht

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habe und Mitbestimmung ist für eine subalterne Artikulation aus diesem Grund deutlich limitiert. Dabei scheint vor allem der Politikbetrieb mehr denn je um ein zugewandtes Hören bemüht zu sein. Das Zuhören hat Konjunktur, wie die folgenden Beispiele aus der politischen Kommunikation illustrieren: Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lädt an seine Kaffeetafel, um „dem Gegenüber zuzuhören“.29 Die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) betitelt die innerparteiliche Diskussion ihres Grundsatzprogramms im Jahr 2018 als „Zuhör-Tour“ 30 und auch verschiedene Institutionen der Europäischen Union zeigen sich „hörwillig“.31 Nicht zuletzt die neue Ampelregierung verbindet mit ihrer Arbeitsweise, dass die unterschiedlichen Stimmen Deutschlands „gleichberechtigt Gehör finden“ sollen.32 Das Hören mutet gleichermaßen als therapeutischer Akt und politische Technik an. Es verspricht Sichtbarkeit und Einfluss. Denkt man an das Hören im Recht, so gilt die erste Assoziation wohl dem Begriff des rechtlichen Gehörs, normativ verankert in Art. 103 Abs. 1 GG. Auch bei der Rechtsprechung handelt es sich also, idealtypisch, um eine „hörende Rezeption“.33 Das Bundesverfassungsgericht führt zu diesem Justizgrundrecht aus: „Wer bei Gericht formell ankommt, soll auch substantiell ankommen, also wirklich gehört werden. Wenn ein Gericht im Verfahren einen Gehörsverstoß begeht, vereitelt es die Möglichkeit, eine Rechtsverletzung vor Gericht effektiv geltend zu machen.“ 34

Die verfassungsgerichtliche Forderung wird zum sprachbildlichen Ausgangspunkt der Untersuchung. Überprüft werden soll, was es heißt, Menschen, die von Rassismus betroffen sind, vor Gericht „wirklich zu hören“, und welche Fallstricke bei diesem Versuch lauern. Die folgenden Kapitel buchstabieren die Verwoben29 Das letzte Gespräch fand statt am 22.9.2020 zum Thema „Beschränkungen in der Corona-Krise: notwendig oder unangemessen?“. Für nähere Informationen: https:// www.bundespraesident.de/DE/Bundespraesident/Kaffeetafel/Kaffeetafel-node.html. 30 Die „Zuhör-Tour“ richtete sich an alle CDU-Mitglieder und wurde durchgeführt von Annegret Kramp-Karrenbauer als Generalsekretärin der Partei: https://archiv.cdu. de/zuhoer-tour. 31 Das Europaparlament listet Möglichkeiten auf, „sich Gehör zu verschaffen“, und nennt beispielhaft die Beteiligung an der Wahl zum Europäischen Parlament, Bürgerinitiativen oder eine Beschwerde beim Europäischen Bürgerbeauftragten, https://www. europarl.europa.eu/at-your-service/de/be-heard. Die Europäische Zentralbank startete den sogenannten „ECB Listens“-Prozess. 32 Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), 2021, S. 7, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/bregde/service/gesetzesvorhaben/koalitionsvertrag-2021-1990800. 33 Im Wege der „Gehörsrüge“ kann gegen Verstöße gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör vorgegangen werden: § 321a ZPO; §§ 33a, 356a StPO; § 152a VwGO; § 178a SGG; § 78a ArbGG; § 44 FamFG; § 133a FGO. In der Praxis spielt der Rechtsbehelf jedoch eine nur untergeordnete Rolle. 34 Herv. d. Autorin, BVerfGE 107, 395 (409) – Rechtsschutz gegen den Richter I (2003).

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heit von Subalternität und Rassismus im Recht aus, um deren wechselseitige Befragung zu ermöglichen: Bestehen Räume des Nichtgehörtwerdens, des vergeblichen Sprechens im Recht? In welchem Verhältnis steht eine subalterne Artikulation zur Konstruktion rassifizierter Ungleichheit? Aus welchen Gründen lassen sich subalterne Artikulationen in der deutschen Rechtsprechung vermuten? Als Hypothese nehme ich zu Beginn meiner Untersuchung an, dass in die Rechtsprechung diskursive Deutungshoheiten einfließen, die sich aus einer dominanten, weißen Perspektive formieren. Dies möchte ich überprüfen und klären, ob eine solche Rechtsprechungspraxis den formal hohen Rechtsschutz gegen rassische Benachteiligungen beschränkt. Ich analysiere, ob exkludierende Formen der Wahrnehmung im Recht Ausschlüsse produzieren und wie sich diese auswirken. Die Arbeit fokussiert hierzu auf den rechtlichen Vorgang der Übersetzung eines außerrechtlichen Zusammenhangs in die Sprache des Rechts und prüft, inwiefern rechtsanwendende Personen im Zuge dieser Übersetzung bestimmte Wissensbestände übersehen. Werden Menschen, die von Rassismus betroffen sind, vor Gericht gehört? Welche Umstände stehen ihrem Gehörtwerden entgegen? Da eine solche Betrachtung keine konkreten Subjekte, sondern überindividuelle, strukturell-diskursive Verhältnisse adressiert, kommt es dabei auf die körperliche Fähigkeit, zu sprechen oder zu hören, gerade nicht an. Im Zusammenhang dieser Arbeit wird das Hören und Gehörtwerden weniger als phänomenologische Beschreibung, sondern als Metapher für Sichtbarkeit und Partizipation verstanden. Wenn ich mich also auf das Sprechen als kommunikativen Ausdruck oder das Hören als Form der Wahrnehmung beziehe, werden damit nicht menschliche Begabungen beschrieben. Die Begriffe dienen vielmehr als Sprachbild sowie analytische Kategorie, um ein artikulierendes oder rezipierendes Diskursverhalten zu fokussieren. Nicht gehört werden, verstummt sein und insofern „subaltern sein“ heißt daher: diskursiv marginalisiert und insofern „machtlos“ sein.

B. Theoretische Verortung Die vorliegende Untersuchung bedient sich verschiedener theoretischer Referenzen. Ihr interdisziplinärer Ansatz ergibt sich bereits aus dem rechtswissenschaftlichen Transfer der Subalternitätsforschung,35 deren Ursprünge im Forschungsfeld der Postkolonialen Studien liegt. Postkoloniale Forschungsansätze untersuchen bestehende Kontinuitäten des Kolonialismus nach dessen offizieller Beendigung.36 Für eine Beschäftigung mit Rassismus ist eine (post-)koloniale 35 Verwiesen sei auf die Arbeiten der „Subaltern Studies Group“ sowie Gayatri C. Spivak. Siehe vor allem Ranajit Guha (Hg.), Subaltern Studies I, 1982; Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, 2008. Ausführlich und m.w. N.: Kapitel 1, S. 31 ff. 36 International wegweisend sind u. a. die Forschungsarbeiten von Edward Said, Gayatri C. Spivak und Homi Bhabha. Zur Einführung: Ina Kerner, Postkoloniale Theo-

B. Theoretische Verortung

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Perspektive unabdingbar, da die Konstruktion der rassifizierten Differenz ihren Ursprung maßgeblich in der kolonialen Rassenlogik findet.37 Innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft wird die postkoloniale Theorie zurückhaltend rezipiert,38 ihre Institutionalisierung und Verankerung im Mainstream stehen noch aus. Um ein strukturelles Verständnis von Rassismus zu fundieren, wird neben der Postkolonialen Theorie vor allem auf die umfangreichen Arbeiten der Critical Race Theory (CRT)39 zurückgegriffen. Die vornehmlich anglophone Rassismusforschung leistete Pionierarbeit zum Verhältnis von Rassismus und Recht. Innerhalb des deutschen Gleichheitsrechts stammen wichtige Referenzen hingegen vor allem aus rechtsfeministischen Analysen.40 In der deutschsprachigen Forschungslandschaft ist die feministische Rechtswissenschaft weitaus stärker verankert, als dies für rassismuskritische Ansätze gilt. Obwohl das Forschungsfeld „Rassismus und Recht“ in der jüngeren Vergangenheit spürbar an Auftrieb gewonnen hat, ist es noch im Werden begriffen. Die gleichheitsrechtlichen Grundlagen und aktuelle Impulse gewinne ich daher aus der rechtsfeministischen Diskussion sowie deren intersektionalen Weiterentwicklung. Ich möchte dazu beitragen, die rassismuskritische Rechtswissenschaft zu stärken, indem ich eine neue, intersektionale Perspektive beisteuere, die rechtliche Kategorie Rasse und die Machtrelation Rassismus in der Rechtspraxis zu betrachten. Eine Grundannahme, die von den verschiedenen theoretischen Referenzpunkten geteilt wird, stammt aus der Kritischen Rechtsforschung: Rechtliche Entscheidungen können nicht vollumfänglich abstrakt aus dem Gesetz hergeleitet werden, sondern sind sozial wie auch politisch beeinflusst. Die theoretischen An-

rien, 4. Aufl. 2021; María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 3. Aufl. 2020. 37 Dazu ausführlich Kapitel 1, B. I., S. 61 ff. 38 Erhellende Ausnahmen: Cengiz Barskanmaz, Rassismus, Postkolonialismus und Recht, in: KJ 2008, S. 296–302; Forum Recht, Import/Export, Schwerpunktheft 3/2011; Philipp Dann/Felix Hanschmann, Postkoloniale Theorien, Recht und Rechtswissenschaft, in: KJ 2012, S. 127–130; Maximilian Pichl, Die Verrechtlichung der Welt, in: KJ 2012, S. 131–143; Anna Krüger, Die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht, 2018; Karina Theurer/Wolfgang Kaleck (Hg.), Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, 2020; Sigrid Boysen, Die postkoloniale Konstellation, 2021. 39 Grundlegend Peggy Davis, Law As Microaggression, in: Yale Law Journal, Vol. 98 8/1989, S. 1559–1577; Kimberlé Crenshaw u. a., Critical Race Theory, 1995; Ian F. Haney-López, White by Law, 1996; ders., Institutional Racism, in: Yale Law Journal, Vol. 109 8/2000, S. 1717–1884; Richard Delgado/Jean Stefancic, Critical Race Theory, 2017. M. w. N. Susanne Beck/Jan-Christoph Marschelke, Critical Legal Studies, in: Hilgendorf/Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2021, S. 318–324. 40 Für den deutschsprachigen Diskurs grundlegend: Ute Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996. Ähnlich das Hierarchisierungsverbot von Susanne Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995. M. w. N. Susanne Baer/Sarah Elsuni, Feministische Rechtstheorien, in: Hilgendorf/Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2021, S. 296–303. International: Catharine MacKinnon, Sexual Harassment of Working Women, 1979; dies., Toward a Feminist Theory of the State, 1991.

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Einleitung

sätze finden ihren gemeinsamen Nenner daher in der Überzeugung, dass sich aufgrund der Kontextgebundenheit jedes Sprechaktes generalisierende Aussagen zu Wertungen im Recht ausschließen.41 Vielmehr muss die intellektuelle Produktion von Wissen immer wieder aufs Neue zwischen der Person, die spricht, und jenen, über die gesprochen wird, unterscheiden. Um solche Wechselwirkungen gesellschaftlicher Machtverhältnisse sowie bestehender sozialer Ungleichheiten mit der Anwendung, Auslegung und Wirkung von Recht zu verstehen, bedient sich die Untersuchung gleichsam rechtssoziologischer Vorarbeiten.42 Auf den Schultern dieser Forschungsbeiträge mache ich die Kulturgebundenheit des Rechts und den Einfluss von sozial wie politisch (vor-)geprägten Richter*innen43 zum Ausgangspunkt meiner Untersuchung.

C. Methodische Herangehensweise Die theoretische Literaturarbeit schafft die Grundlage des empirischen Teils dieser Arbeit: einer Rechtsprechungsanalyse von Entscheidungstexten deutscher Gerichte im Zeitraum von 2000 bis 2021. Die Analyse umfasst Entscheidungen, denen ein potenziell rassistischer Lebenssachverhalt zugrunde liegt. Es geht also entweder um rassische Diskriminierungen, rassistische Hassrede oder Zusammenhänge, deren Entscheidung von rassistischen Argumentationsfiguren der verhandelnden Gerichte geprägt sein könnte. Zur methodischen Umsetzung greift die Arbeit auf eine diskursanalytisch gerahmte, qualitative Inhaltsanalyse zurück.44 Es handelt sich dabei um einen methodischen Konnex von kritischer Diskursanalyse45 und qualitativer Inhaltsanalyse.46 Beide Verfahren sind in den So-

41 Als vordenkende Strömung kann hierzu auf die Dekonstruktion im Anschluss an Jacques Derrida und den Rechtsrealismus (legal realism) verwiesen werden. De-konstruktivistisches Denken prägte, neben dem Feminismus und Marxismus, Spivaks Forschung stark. Sie erläutert die Dekonstruktion nach Derrida knapp, aber erhellend: Gayatri C. Spivak, Kritik der postkolonialen Vernunft, 2014, S. 409 ff. 42 Zur Entwicklung sowie Methoden der Rechtssoziologie in Deutschland m.w. N.: Susanne Baer, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2021. Für eine Übersicht: Eva Kocher, Rechtssoziologie, in: RW 2017, S. 153–179. 43 Begriffsbildend zum „Vorverständnis“ im Recht: Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972. 44 Zur Verbindung beider Ansätze ausführlich Juliette Wedl u. a., Diskursforschung oder Inhaltsanalyse?, in: Angermuller u. a. (Hg.), Diskursforschung, Bd. 2, 2014, S. 537–563. 45 Als Gründungsvater der Diskursanalyse gilt Michel Foucault. Er erarbeitete aber keine „Methode“, sondern fundierte mit seinen theoretischen Überlegungen vielmehr eine postmoderne Denkbewegung, die später methodisch verarbeitet wurde. In Deutschland wurde die Ausarbeitung maßgeblich von Jürgen Link, Siegfried Jäger und Reiner Keller vorangetrieben. Grundlegend u. a. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, 19. Aufl. 2020; ders., Die Ordnung des Diskurses, 15. Aufl. 2019. Überblicksartig: Reiner Keller u. a., Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1, 3. Aufl. 2011, S. 7–33.

D. Persönliche Situiertheit

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zialwissenschaften fundiert und umfassen verschiedene Ansätze zur intersubjektiv nachvollziehbaren Erforschung von Kommunikationsprozessen, hier schriftlich fixierter Dokumente. Die Verbindung beider Methoden gleicht wechselseitige Schwachstellen der jeweiligen Vorgehensweisen aus: fehlende, klare Regeln zur Umsetzung der diskursanalytischen Auswertungen einerseits und eine vergleichsweise geringe theoretische Fundierung des inhaltsanalytischen Verfahrens andererseits.47 Der konkrete Ablauf der Untersuchung stützt sich auf das strukturierte, inhaltsanalytische Verlaufsmodell nach Philipp Mayring.48 Dieses weitgehend standardisierte Verfahren wird in einigen Punkten angepasst, um den spezifischen Bedingungen der Untersuchung gerecht werden zu können. Als Analysekriterien fungieren die rassismuskritisch übersetzten Erscheinungsformen von Subalternität: Die Gerichtsentscheidungen werden daraufhin überprüft, ob sie die rassistische Dimension eines Sachverhalts „überhören“, das heißt jene ausblenden oder nur unzulänglich prüfen. Ebenfalls wird ein „verzerrendes Hörverhalten“ ausgewertet und analysiert, ob die Rechtsprechung rassifizierte Wissensbestände in das Recht überträgt und subalterne Stimmen auf diesem Wege verfremdet. Im Wege der diskursanalytischen Anreicherung gelingt es die Ergebnisse in einen breiteren Horizont einzubinden. Die Elemente werden nicht als isolierte Bedeutungsträger betrachtet, sondern als Teil eines größeren Diskurses. Die Diskursanalyse erörtert, welche Annahmen zu bestimmten Deutungshoheiten geführt haben, und versucht zu zeigen, dass diese „Wahrheiten“ auch anders hätten ausfallen können. Entsprechend den theoretischen Referenzen des vorherigen Kapitels geht auch ein diskursanalytisches Herangehen davon aus, dass geteilte Wahrheiten nicht zwingend „richtige“ Annahmen beschreiben, sondern vor allem kommunikativ eingeübt und daher anschlussfähig sind. Da die Analyse von Rassismus als Subalternität im Recht marginalisierte Deutungsweisen untersucht, unterstützen die gewählten Methoden das theoretische Erkenntnisinteresse bestmöglich.

D. Persönliche Situiertheit Die Beschäftigung mit (Un-)Gleichheit ist voraussetzungsreich und herausfordernd. An die juristische Profession stellt sie gleichermaßen das Erfordernis rechtsdogmatischer Kompetenz sowie persönlicher Fertigkeiten im Umgang mit 46 Grundlegend: Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 12. Aufl. 2015. Andere prominente Ansätze der qualitativen Inhaltsanalyse gehen zurück auf Udo Kuckartz und Margrit Schreier: Udo Kuckartz, Qualitative Inhaltsanalyse, 4. Aufl. 2018; Margrit Schreier, Qualitative content analysis in practice, 2012. Zur Kritik Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 2019, S. 1–15. 47 Näher dazu in Kapitel 3, A. S. 137 ff. 48 Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 12. Aufl. 2015; ders., Einführung in die qualitative Sozialforschung, 6. Aufl. 2016; ders., Qualitative Inhaltsanalyse, in: Forum Qualitative Sozialforschung 2019, S. 1–15.

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Einleitung

den je spezifischen Realitäten von Benachteiligung und Diskriminierung.49 Zwar entspricht es dem juristischen Selbstverständnis, einem objektiven und unpolitischen Handwerk nachzugehen, tatsächlich aber können Jurist*innen der eigenen Betroffenheit auch unter größter Anstrengung nicht gänzlich entkommen.50 Rassismus geht, wie jedes andere Diskriminierungsverhältnis, grundsätzlich alle Menschen etwas an, jedoch variiert die eigene Betroffenheit stark. Die rechtliche Prüfung rassifizierter Ungleichheit ist daher nicht unerheblich davon beeinflusst, welche eigenen Ungleichheitserfahrungen eine Person im Laufe ihres Lebens sammelt bzw. nicht sammeln muss. Ich gehöre, als weiß positionierte Frau ohne eigene oder familiäre Migrationsgeschichte, zu einer Gruppe von Personen, die zunächst weder rassistischen Strukturen noch rassischer Diskriminierung nachteilig ausgesetzt ist. In einer rassifizierten Gesellschaftsordnung finde ich mich auf der strukturell privilegierten Seite wieder. Aus diesem Grund ist meine persönliche Fähigkeit, rassische Diskriminierungserfahrungen zu erfassen, eingeschränkt. Aus der dominanten Position resultiert ein persönlicher Nachteil, der sich in Form eines epistemischen Verlusts ausdrückt.51 Paradoxerweise ist meine Stimme im Sprechen über Rassismus gleichzeitig aufgewertet. Typischerweise wird Nichtbetroffenen zugesprochen, aufgrund einer vermeintlichen „Distanz“ zur untersuchten Diskriminierungskategorie nüchterner beurteilen zu können.52 Ich bin nicht dem Vorwurf ausgesetzt, meine eigene Verletztheit zu verhandeln. Eine sinnvolle Bearbeitung der vorliegenden Fragestellung erfordert, diese Limitation sowie die spezifische Rahmung der Untersuchung zu reflektieren. Ein solch kritisches Nachdenken setzen ebenfalls der spezifische theoretische sowie methodische Zugriff der vorliegenden Arbeit voraus: Ich gehe in Anlehnung an die feministische Standpunkttheorie53 davon aus, dass es keinen in jeder Hinsicht neutralen Ort gibt, von dem heraus Zusammenhänge wissenschaftlich eingeordnet und 49

Susanne Baer, Gleichheitsrechte, in: Soziales Recht 2014, S. 133–139 (137). Die Prämisse der „Situiertheit“ des eigenen Wissens (im Recht) ist eine Prämisse dieser Arbeit. Ausführlich: Kapitel 2, A. II., ab S. 101. Grundlegend: Donna Haraway, Situated Knowledges, in: Feminist Studies Vol. 14 3/1988, S. 575–599; Nancy Levit, Critical of Race Theory, Race Reason, Merit and Civility, in: The Georgetown Law Journal, Vol. 87 3/1999, S. 795–822; Sandra Harding (Hg.), The Feminist Standpoint Theory Reader, 2004. 51 Spivak wird zitiert mit der Aufforderung zum „unlearning one’s privilege as one’s loss“. Siehe Donna Landry/Gerald MacLean, Introduction, in: dies. (Hg.), The Spivak Reader, 1996, S. 1–13 (4). Die eigenen Privilegien begründen einen Perspektivverlust, zu dessen „Verlernen“ Spivak auffordert, um zu verstehen. 52 Nach Nancy Levit geht mit der Vorstellung einer scheinbar objektiven Position eine mehrfache Hierarchisierung einher: Nancy Levit, Critical of Race Theory, Race Reason, Merit and Civility, in: The Georgetown Law Journal, Vol. 87 3/1999, S. 795– 822. Ausführlich auch Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 40. 53 Entwickelt Ende des 20. Jahrhunderts. Grundlegend u. a. Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought, 1990; Sandra Harding, Das Geschlecht des Wissens, 1994; Nancy Hartsock, The Feminist Standpoint Revisited and Other Essays, 1998. 50

D. Persönliche Situiertheit

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analysiert werden können.54 Die Kritik an diskursiven Über- und Unterordnungsverhältnissen würde insofern unvollständig bleiben, ohne meine eigene Rolle und potenzielle Komplizenschaft in der adressierten Machtstruktur offenzulegen. Für den interpretativen Vorgang einer Rechtsprechungsanalyse gilt dies umso mehr. Innerhalb des empirischen Verfahrens können die eigenen Kriterien zwar benannt und damit nachvollziehbar gemacht werden, dennoch ist die Analyse stark von wertenden Prozessen der Auswahl und Zusammenstellung geprägt.55 Als weiße Person wurde mir vermittelt, Rassismus als einen Nachteil der anderen zu verstehen. Mal mehr mal weniger eindringlich habe ich erfahren, dass es sich dabei um eine bedauernswerte Ungerechtigkeit handelt – gleichzeitig wurde betont, dass ohnehin nur hoffnungslos Gestrige rassistische Vorurteile hätten. In der „gesellschaftlichen Mitte“, so der Tenor, hat Rassismus jedenfalls keinen Platz. Ich musste mich nicht mit der schuld- und schambesetzten Einsicht konfrontieren, dass rassistische Strukturen mir allein aufgrund meiner phänotypischen Erscheinung eine strukturell vorteilhafte Ausgangsposition verschaffen. Die kritische Weißseinsforschung,56 welche das „Weißsein“ in den 1990er Jahren in die Rassismusforschung einführt,57 offenbart, dass es sich bei dieser Schilderung nicht um eine bloße individuelle Erfahrung handelt. International wegweisend war hierfür die Untersuchung von Ruth Frankenberg zur strukturellen Unsichtbarkeit der eigenen weißen Positionalität in der Sozialisation US-amerikanischer Frauen.58 Die befragten Frauen beschrieben sich etwa anhand ihres Geschlechts oder Alters, ihres Berufes oder ihrer Religion, nahmen jedoch keinen Bezug auf ihr Weißsein. Frankenberg verweist darauf, dass dieser Aspekt nur deshalb unsichtbar bleiben könnte, weil die Personen ihn im Laufe ihres Lebens nicht nachteilig erleben. Weiß zu sein, ist dabei kein Synonym für eine bestimmte Pigmentierung der Haut, sondern beschreibt eine Strukturkategorie, die einen bestimmten Platz im gesellschaftlichen Gefüge markiert. Diese Position

54 So auch eine Grundannahme der rassismuskritischen Forschung: Kimberlé Crenshaw u. a., Critical Race Theory, 1995, S. xiii. 55 Ich möchte dieser Einsicht zudem dadurch Rechnung tragen, dass ich die für wissenschaftliche Texte unübliche Ausdrucksweise in der ersten Person Singular nutze, wenn die Darstellung auf meine persönliche Einschätzung verweist. 56 Zur Einführung in die deutschsprachige Debatte: Eske Wollrad, Weißsein im Widerspruch, 2005; Martina Tißberger u. a. (Hg.), Weiß – Weißsein – Whiteness, 2006; Maureen Eggers u. a. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte, 4. Aufl. 2017. 57 Ika Hügel-Marshall, Schwarze KlientInnen in Therapie bei weißen TherapeutInnen, in: Castro Varela u. a. (Hg.), Suchbewegungen, 1998, S. 109–116; Ursula Wachendorfer, Weiß-Sein in Deutschland, in: Arndt (Hg.), AfrikaBilder, 2006, S. 57–66; Katharina Walgenbach, Weiße Dominanz, in: Bartmann u. a. (Hg.), Kollektives Handeln, 2002, S. 123–136. 58 Ruth Frankenberg, White Women Race Matters, 1993; dies., Weiße Frauen, Feminismus und die Herausforderung des Antirassismus, in: Fuchs/Habinger (Hg.), Rassismus & Feminismus, 1996, S. 51–67.

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Einleitung

umfasst ein Gesamtkonzept an Konnotationen, Wahrnehmungsmustern, Erfahrungen und vor allem Dominanz.59 Die Psychologin Ursula Wachendorfer identifiziert später, weshalb es für viele weiß gelesene Menschen schwierig ist, über ihr Weißsein zu sprechen:60 Weiße würden häufig nicht wahrnehmen, dass ihre Positionalität durch historische Machtasymmetrien gekennzeichnet ist und sie folglich Teil der rassifizierten Ordnung sind. Die Reaktion auf Rassismus sei aus diesem Grund von zwei Mechanismen geprägt: der Isolierung und/oder Vereinnahmung des rassistischen Ereignisses. Im ersten Fall erscheinen sowohl die eigenen als auch fremde Lebensumstände als Folge individueller Umstände – als persönliches Lebensglück oder Pech, als Ergebnis harter Arbeit oder mangelnder Anstrengung. Privilegien, die mit dem Weißsein verbunden sind,61 werden nicht als solche erkannt oder abgestritten. Findet eine Auseinandersetzung doch statt, schließt sich typischerweise eine Distanzierung von rassistischen Denkmustern an: Rassismus wird in der Vergangenheit, bei anderen, weniger gebildeten/progressiven Weißen oder in entfernten geographischen Regionen verortet.62 Ein solches Sprechen über Rassismus verschleiert die strukturelle Dimension von Rassismus sowie der systemischen Verankerung von Privilegien. Im Wege der Vereinnahmung werden rassische Diskriminierungserfahrungen schließlich mit anderen Formen von Diskriminierung oder einer persönlich erlebten Ungerechtigkeit gleichgesetzt.63 Die rassifizierte Dimension des Ereignisses verschwindet. Es zeigt sich, dass bereits die Definitionsmacht des Erlebten nicht gleich verteilt ist. Erschwert wird eine selbstkritische Reflexion schließlich durch eine spezifisch deutsche Tabuisierung von Rassismus als Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus.64 Eine weitverbreitete Reaktion entspricht daher der „colourblindness“,65 einer Betonung des „Menschseins“ statt rassistischer Kategorien. Im Gegensatz dazu begreift sich dieses Vorhaben als bewusstes Hinsehen auf den Bestand rassifizierter gesellschaftlicher Strukturen, um einen sensiblen Umgang und schließlich deren Überwindung innerhalb des Rechts voranzutreiben. Ich möchte mich daher vor allem mit der Rolle der Rezipient*innen und in diesem

59 Katharina Walgenbach, Weiße Dominanz, in: Bartmann u. a. (Hg.), Kollektives Handeln, 2002, S. 123–136 (124). 60 Ursula Wachendorfer, Weiß-Sein in Deutschland, in: Arndt (Hg.), AfrikaBilder, 2006, S. 57–66 (62 ff.). 61 Dazu der Grundlagentext von Peggy McIntosh, White Privilege and Male Privilege, 1988, S. 4–7. 62 Besonders klar bearbeitet dies Bilgin Ayata in ihrer ausführlichen Kritik am behördlichen sowie gesellschaftlichen Umgang mit dem NSU-Komplex. Bilgin Ayata, Silencing the Present, in: Ziam (Hg.), Postkoloniale Politikwissenschaft, 2016, S. 211– 232. 63 Ursula Wachendorfer, Weiß-Sein in Deutschland, in: Arndt (Hg.), AfrikaBilder, 2006, S. 57–66 (64). 64 Ausführlich Kapitel 1, C. I. 2., S. 76 ff. 65 Vgl. Toni Morrison, Playing in the Dark, 1992.

E. Gang der Untersuchung

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Sinne der Rolle rechtsanwendender Personen im Sprechen über Rassismus beschäftigen, um ihren Beitrag an der Stabilisation rassistischer Wissenssysteme aufzudecken.

E. Gang der Untersuchung Im Anschluss an die Einleitung gliedert sich die nachfolgende Arbeit in drei Hauptteile und eine Zusammenfassung. Kapitel 1 legt die notwendigen theoretischen Grundlagen zu den Untersuchungsgegenständen Subalternität und Rassismus. Zunächst wird der Subalternitätsbegriff etymologisch fundiert, sodann als Konzept innerhalb der politischen Theorie erörtert und für die Zwecke dieser Untersuchung operationalisiert.66 In der Grundlegung werte ich hierzu vornehmlich die Arbeiten Antonio Gramscis, der Subaltern Studies Group sowie Gayatri Chakravorty Spivaks aus. Meine Lesart von Subalternität differenziert anschließend zwei verschiedene Erscheinungsformen von Subalternität: Ich begreife sowohl das „Weg- und Überhören“ als für einen subalternen Diskursstatus ursächlich wie auch ein „verzerrendes Hörverhalten“, welches nicht um Verständnis bemüht ist, sondern das Gesagte einseitig verfremdet. Im Wege einer genealogischen Vertiefung rassistischer Diskurse und Praxen zeigt Kapitel 1 anschließend auf, wie sich Rassismus als Machtverhältnis konstruiert.67 Historische Brüche und Kontinuitäten im rassistischen Denken sollen dessen Wandlungsfähigkeit illustrieren und die Untersuchung transformierter Rassismen ermöglichen. Auf die Erkenntnisse aufbauend folgt die Verbindung von Subalternität und Rassismus.68 Rassifizierte Ungleichheit und ihr Fortbestand werden als Folge eines Subalternisierungsprozesses präsentiert. Hierbei differenziert der Abschnitt zwischen den zuvor fundierten Erscheinungsformen von Subalternität. Das Kapitel verknüpft gegenwärtige Vermeidungsstrategien im Sprechen über Rassismus sowie den diskursiven Prozess der Rassifizierung mit dem Konzept der Subalternität. Der zweite Hauptteil überträgt die theoretischen Ausführungen auf den dritten Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit: das Recht.69 Das Kapitel reflektiert ungleiche Artikulationsbedingungen im Rechtswesen aus rechtstheoretischer, rechtssoziologischer sowie dogmatischer Perspektive. Es beantwortet die Frage, welche spezifischen Umstände das Gehörtwerden im Recht erschweren können und eine subalterne Diskursposition verfestigen. Die Ausführungen greifen auf diesem Wege bereits möglichen Einfallstoren von Subalternität in der Rechtsprechung vorweg. Mit Spivak fragt Kapitel 2: Hört das Recht die Subalterne? Inwie-

66 67 68 69

Kapitel 1, A., S. 31–60. Kapitel 1, B., S. 60–71. Kapitel 1, C., S. 71–95. Siehe Kapitel 2, ab S. 97.

30

Einleitung

fern steht das Recht einer gelingenden Interaktion von Sprechenden und Hörenden entgegen? Die Ausführungen konzentrieren sich – mit Blick auf Kapitel 3 – dabei auf die Anwendung von Recht durch deutsche Gerichte und verhandeln das Recht nicht in einem globalen Sinne. Im dritten und letzten Kapitel erfährt die theoretische Grundlegung ihre empirische Vertiefung.70 Die Rechtsprechungsanalyse erfolgt als diskursanalytisch gerahmte, qualitative Inhaltsanalyse. Im ersten Abschnitt erläutere ich die Prämissen des methodischen Vorgehens und konkretisiere diese für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Die anschließende Analyse orientiert sich wiederum an den in Kapitel 1 fundierten Kategorien von Subalternität und deren rassismuskritischer Exemplifizierung. Ausgewertet werden Judikate aller Gerichtsbarkeiten. Die Analyse soll verdeutlichen, wie sich diskursive Marginalisierungsprozesse in der Rechtsprechung vollziehen und welche Konsequenzen sich hieraus für Menschen ergeben, die von Rassismus betroffen sind. Die gewonnenen Erkenntnisse und Ergebnisse der empirischen Forschung werden schließlich in einem letzten Abschnitt zusammengefasst. Ich möchte in dieser Zusammenfassung ebenfalls Schlussfolgerungen ziehen und auf weiterführende Fragen hinweisen, die sich aus den Thesen dieser Arbeit ergeben.

70

Siehe Kapitel 3, ab S. 137.

Kapitel 1

Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene Rassismus mit Hilfe der Subalternitätsforschung zu denken, ist nicht neu, aber ungewöhnlich – dies gilt allen voran für die deutschsprachige Forschungslandschaft. Dieses Kapitel erläutert daher zunächst, welche Überlegungen sich mit dem Subalternitätsbegriff verbinden (A.). Das Kapitel trägt die einflussreichsten Ansätze zum Verständnis „der Subalternen“ zusammen. Im Anschluss nähert es sich dem Phänomen Rassismus in ähnlich basaler Weise (B.). Indem ich die europäischen Rasse- und Rassismusdiskurse genealogisch nachzeichne, soll die Konstruktionsleistung hinter den rassistischen Wissenstraditionen und Praxen hervortreten. Der Abschnitt schließt mit einer Arbeitsdefinition von Rassismus, die für den Gang der weiteren Untersuchung rüstet. Obwohl Subalternität und Rassismus bis hierin noch weitgehend unvermittelt nebeneinanderstehen, erfahren die Phänomene eine erste Annäherung, indem ihre Darstellung aus einer gleichermaßen diskursiven Perspektive erfolgt. Explizit theoretisch verknüpft werden Subalternität und Rassismus in einem weiteren Schritt (C.). Ich exemplifiziere das Sprechen über Rassismus sowie die Konstruktion rassifizierter Wissensbestände als wirkmächtige Form zweier Spielarten der Subalternisierung. Kapitel 1 endet mit einer Zusammenfassung (D.).

A. Sprechen, Hören und Gehörtwerden: zum Konzept der Subalternität Subalternität verweist auf die Fähigkeit zu politischer Teilhabe und Partizipation. Mit dem Begriff verbindet sich der Versuch, Antworten auf die Frage zu finden, wessen Stimme gehört wird und wessen Stimme diese Anerkennung nicht erfährt. Kapitel A. möchte ordnend in die weit verzweigte Semantik sowie das wechselhafte, im Fokus divergierende Verständnis von Subalternität eingreifen und das Konzept für die Zwecke dieser Arbeit operationalisieren. Der Abschnitt reflektiert den Transfer der Subalternitätsforschung als postkolonialen Theorieansatz auf einen deutschen Diskursraum. Ich stelle mich möglichen Einwänden, rassifizierte Ungleichheit mit Hilfe des Subalternitätskonzeptes zu analysieren und bedenke die Einschränkungen eines solchen Vorgehens.

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

I. Bildungs- und militärsprachliche Verwendung Der Ausdruck Subalternität hat seinen etymologischen Ursprung im spätlateinischen Wort subalternus, das sich aus dem Präfix sub (unter, unterhalb, unten) und dem Wortstamm alter/alternus (der/die/das Andere/abwechselnd, gegenseitig) zusammensetzt. Wörtlich lässt sich Subalternität daher als „untergeordneter“ Status und etwa „von minderem Rang“ übersetzen.1 Subalternität adressiert eine personale Unterwürfigkeit respektive Untertänigkeit und weist auf eine „nur beschränkte Entscheidungsbefugnis“ des in Rede stehenden Subjekts hin. Das entsprechende Adjektiv – subaltern – wird, wenn überhaupt, kategorisierend und typischerweise abwertend genutzt. Der Duden versteht eine subalterne Person als „auf einem niedrigen geistigen Niveau stehend“ oder „in beflissener Weise [. . .] devot“.2 Weit verbreitet ist der Wortgebrauch nicht. Als Synonyme dienen ebenfalls die Zuschreibungen abhängig, nachrangig oder untergeben. Eindeutig formuliert die Vokabel ein Ober- und Unterordnungsverhältnis zweier oder mehrerer Personen. Diesem Wortsinn entspricht der (historisch-)militärische Begriffsgebrauch, welcher eine untergeordnete Stellung innerhalb der Beamtenlaufbahn bezeichnet. Die Benennung als „subaltern“ wanderte im 17. Jahrhundert allmählich aus dem Französischen in die deutsche militärische Sprache über.3 Subalternoffiziere sind Gehilfen, die ihre Dienste lediglich entsprechend der erteilten Anweisung verrichten – also keinerlei Befehls- oder Strafgewalt innehaben. Es handelt sich nicht um einen offiziellen Rang oder Titel, gekennzeichnet ist lediglich ein niedriger Dienstgrad im Vergleich zu höhergestellten Offizieren oder der Generalität.4 Sowohl die alltags- als auch die militärsprachliche Verwendung des Subalternitätsbegriffs inkorporieren eine individuelle sowie strukturelle Dimension. Subalternität beschreibt einerseits den Status einer Person oder Personengruppe innerhalb eines Systems im Vergleich zu einer anderen Person oder Personen1 Vgl. „subaltern“, in: Pfeifer (Hg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Bd. 2 M–Z, 2. Aufl. 1993, digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, abrufbar unter: https://www.dwds.de/ wb/etymwb/subaltern. 2 „Subaltern“ auf Duden online, https://www.duden.de/rechtschreibung/subaltern. 3 „Subalternoffizier“, in: Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte, Bd. 2: Mi–Z, 2. Aufl. 1987, S. 962. 4 In der Militärsprache der Deutschen Bundeswehr ist die Bezeichnung nicht mehr üblich. Der Begriff fehlt etwa in der Soldatenlaufbahnverordnung v. 28.5.2021 (BGBl. 2021 I Nr. 27, S. 1228) oder auch im Soldatengesetz, neugefasst durch Beschl. v. 30.5. 2005 (BGBl. 2005 I Nr. 31, S. 1482), zuletzt geändert durch Art. 5 SVReformG v. 20.8.2021 (BGBl. 2021 I Nr. 60, S. 3932). Das schweizerische Militärgesetz definiert als Subalternoffizier den „Grad des Leutnants oder Oberleutnants“ gemäß Art. 102 d. Nr. 1 MG.

A. Sprechen, Hören und Gehörtwerden: zum Konzept der Subalternität

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gruppe derselben Ordnung. Andererseits stellt Subalternität auf das konkrete Individuum ab, wenn als Grund dieser untergeordneten Position die persönlichen, kognitiven Fähigkeiten herangezogen werden. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird sich zeigen, dass ein solcher Gebrauch des Subalternitätskonzepts dessen analytisches Potenzial deutlich verkürzt.

II. Subalternität als politische Analysekategorie Über den bildungs- und militärsprachlichen Gebrauch hinaus verbindet sich mit dem Begriff der Subalternität eine Analysekategorie, die soziale Machtverhältnisse innerhalb eines diskursiven Gefüges beschreibt. Diese Lesart bestimmt den theoretischen Zugriff der vorliegenden Arbeit. Ein solches Subalternitätskonzept findet seinen Ursprung in einer kulturellen Variante des Marxismus. Gegenwärtig wird Subalternität vor allem mit den Forschungsansätzen der postkolonialen Studien assoziiert. Nachfolgend destilliere ich jene Aspekte heraus, die Aufschluss über die Bedingungen eines subalternen Diskursstatus geben. Ebenfalls werden die intervenierenden Vorschläge besprochen, den subalternen Status zu überwinden. 1. Bedingungen eines subalternen Diskursstatus a) Mangelnde Organisation und fehlendes Bewusstsein (Gramsci) Der italienische Marxist Antonio Gramsci5 führt „die Subalternen“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in das Vokabular der politischen Theorie ein.6 Noch bevor Gramsci eine soziale Gruppe zu beschreiben versucht, nutzt er das Adjektiv „subaltern“ im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs, um einen individuell untergeordneten Zustand zu kennzeichnen.7 Mit einem analytisch-theoretischen Verständnis von Subalternität beschäftigt er sich erstmals (zumindest implizit) in seinem Aufsatz „Einige Gesichtspunkte der Frage des Südens“.8 Zwar 5 Antonio Gramsci wurde im Jahr 1891 auf Sardinien geboren und starb 1937 in Rom. Er war als Schriftsteller, Journalist, Politiker und Philosoph tätig, gehört zu den Mitbegründern der Kommunistischen Partei Italiens (Partito Comunista Italiano) und wird zu den bedeutendsten marxistischen Denkern des 20. Jahrhunderts gezählt. Für eine detaillierte Beschäftigung mit den Lebensdaten Gramscis sei verwiesen auf die pointierte Biografie von Giuseppe Fiori, Das Leben des Antonio Gramsci, 2013. Außerdem: Harald Neubert, Antonio Gramsci, 2001. 6 Überblicksartig zum Interesse Gramscis an den Subalternen: Marcus E. Green, Gramsci cannot speak, in: ders. (Hg.), Rethinking Gramsci, 2011, S. 68–89 (69 f.). 7 Zum Charakter eines „Staatsmannes“ führt er beispielsweise aus, dass jener „körperlich zu furchtsam und zu wenig entschieden war: [. . .] indes sehr schlau, aber das ist eine subalterne Eigenschaft“. Antonio Gramsci, in: Bochmann (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 1: Heft 1, 1991, § 116: S. 162 f. 8 Das Erscheinen des Aufsatzes war für das Jahr 1927 vorgesehen. Da das Manuskript zeitweise verloren ging, sowie aufgrund seiner Inhaftierung, wurde der Aufsatz

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

kann Gramsci den Text aufgrund seiner Inhaftierung als politischer Gefangener durch die faschistische Diktatur Italiens nicht fertigstellen. Jedoch verfasst er während seiner langjährigen Haft weitere Abhandlungen, Notizen und Denkansätze, die nach seinem Tod unter dem Namen „Gefängnishefte“ veröffentlicht wurden.9 Die theoretischen Fragmente entsprechen weder einem geschlossenen Theoriegebilde noch beschäftigen sie sich dezidiert mit dem Konzept der Subalternität. Ungeachtet dessen lassen sich den Gefängnisheften zahlreiche wichtige Referenzen entnehmen, die das Verständnis von Subalternität prägen.10 Subalterne sind nach Gramsci arm, heterogen und unorganisiert.11 Sie verfügen über keinerlei Gestaltungsmacht, sind politisch ausgeschlossen und leben unterdrückt.12 Der Status der Subalternität ist insofern eng mit einer schwachen sozioökonomischen Position verknüpft. Gramsci führt die bestehenden Ungleichheitsverhältnisse allerdings nicht zuvörderst auf die kapitalistischen Produktionsbedingungen zurück – seine Analyse unterscheidet sich insofern von einer klassisch-marxistischen Lesart.13 Ursächlich für den untergeordneten Status der Suberstmals 1930 in der Zeitschrift „Lo Stato Operaio“ (Jahrgang IV, Nr. 1, Januar 1930) veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung wurde gemeinsam mit vier anderen Schriften publiziert in: Antonio Gramsci, Die süditalienische Frage, 1995, S. 5–31. 9 Die deutsche Übersetzung der Gefängnishefte erschien zwischen 1991 und 2002 durch den Argument Verlag in insgesamt 10 Bänden. Diese Gesamtausgabe wird zur Analyse herangezogen. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 1–10, 1991–2002. 10 Heft 25 trägt den Titel „An den Rändern der Geschichte (Geschichte der subalternen gesellschaftlichen Gruppen)“, gleichwohl sich auch an anderen Stellen der Reihe seinem Verständnis von Subalternität nachspüren lässt. Antonio Gramsci, Fünfundzwanzigstes Heft, in: Jehle u. a. (Hg.), Gefängnishefte. Bd. 9: Hefte 22 bis 29, 1999, S. 2185–2200. 11 Die Charakterisierung erinnert an die von Marx vorgenommene Unterscheidung zwischen dem Proletariat und dem sog. „Lumpenproletariat“ in seiner Schrift über den „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ (Erstveröffentlichung: 1852) und der damit zusammenhängenden Differenzierung einer „Klasse an sich“ und einer „Klasse für sich“. Während Erstere zumindest potenziell mit einem eigenen Kollektivbewusstsein auftrete, fehle Letzterer dieses vollkommen. Bereits terminologisch wird deutlich, dass Marx abfällig auf das Lumpenproletariat blickt. Er beschreibt jenes als passiv, reaktionär und für die Arbeiterbewegung gefährlich. Gleichwohl auch Gramsci die Zerstreutheit der Gruppe der Subalternen als problematisch ausweist, passen seine Überlegungen kaum zu der abwertenden Einschätzung Marx’. 12 Gramsci gebraucht „subaltern“ als Gegenbegriff zu „herrschend“ und als Synonym für „beherrscht“ oder „untergeordnet“. Vgl. Antonio Gramsci, Fünfundzwanzigstes Heft, in: Jehle u. a. (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 9: Hefte 22 bis 29, 1999, § 1: S. 2187, § 2: S. 2191. Ebenfalls: Antonio Gramsci, Achtes Heft, in: Bochmann/Haug (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 5: Hefte 8 bis 9, 1993, § 205: S. 1057; Antonio Gramsci, Elftes Heft, in: Haug (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 6: Hefte 10 und 11, 1994, § 12: S. 1386. 13 Manche Rezensionen führen an, Gramsci sei durch die Gefängniszensur dazu gezwungen gewesen, den marxistisch geprägten Begriff des „Proletariats“ durch die Bezeichnung „die Subalternen“ zu ersetzen, etwa: Vinayak Chaturvedi, Eine kritische Theorie der Subalternität, in: WerkstattGeschichte 2006, S. 7–25 (8). Jedoch weicht Gramsci in seiner Analyse nicht nur begrifflich ab. Er beschäftigt sich statt mit der städtischen Arbeiterklasse etwa überwiegend mit der bäuerlichen Bevölkerung. Zum ande-

A. Sprechen, Hören und Gehörtwerden: zum Konzept der Subalternität

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alternen ist vielmehr deren absente Möglichkeit, sich politisch zu organisieren und ein kollektives Bewusstsein auszubilden.14 Es mangelt an Räumen der gemeinsamen Erfahrung und des Austausches, weshalb die eigene Unterdrückung lediglich als individuelles Erleben wahrgenommen werden kann. Da eine subalterne Gegenöffentlichkeit fehle, verbleibe die strukturelle Marginalisierung im privaten Raum. Zudem lassen sich notwendige kollektive Transformationsstrategien nicht entwickeln, was wiederum den Status der Ungleichheit festigt. Es ist somit in erster Linie die Vereinzelung der Subalternen, welche einem gemeinsamen politischen Ausdruck im Wege steht und ihre Partizipation verhindert. Subalternen fehlt es, so könnte man mit Gramsci rekonstruieren, an einer gemeinsamen Sprache.15 Diesen Zustand könne erst eine (geschlossene) Repräsentation überwinden. Für Gramsci liegt ein entscheidender Schritt der subalternen Selbstermächtigung in der Organisation und Stellvertretung subalterner Gruppeninteressen durch „organische Intellektuelle“, 16 welche die fragmentierten Erfahrungen der Subalternen vereinfachen und kollektiv erfahrbar machen. Solche Tendenzen, sich zu vereinigen und zu partizipieren, seien immer wieder zu beobachten, würden jedoch durch die „Initiative der herrschenden Gruppen fortwährend gebrochen“.17 Dieser Einwand markiert einen spezifischen Aspekt des Staats- und Hegemonieverständnisses Gramscis. Eine Gruppe, so Gramsci, etabliere ihre Herrschaftsposition nicht nur durch die Aneignung materieller Güter oder formaler Rechtspositionen, sondern ebenso durch ein „Regieren im Feld des Symbolischen“.18 Nach Gramsci stabilisiert also nicht nur der staatliche Machtapparat, sondern

ren fokussiert Gramscis Hegemonietheorie auf weit mehr als ökonomische Mechanismen der Machtsicherung. Eine synonyme Verwendung der Begriffe Proletariat und Subalternität überzeugt daher nicht. 14 Dazu ausführlich Nikolai Huke, Ohnmacht in der Demokratie, 2021, S. 86 ff. 15 Vgl. Mario Candeias, Subjekte in der Krise, in: Luxemburg, Heft 2/2011, S. 6–13 (13). 16 Intellektuelle bestimmt Gramsci nicht materiell, sondern eher funktional, wenn er ausführt: „Alle Menschen sind Intellektuelle [. . .]; aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen.“ Antonio Gramsci, Zwölftes Heft, in: Bochmann u. a. (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 7: Hefte 12 bis 15, 1996, § 1: S. 1500. Zur Rolle der subalternen Intellektuellen Thomas Barfuss/Peter Jehle, Antonio Gramsci zur Einführung, 3. Aufl. 2021, S. 80 ff. Zu den subalternen Intellektuellen ebenfalls: „Ein Teil auch der subalternen Masse ist immer führend und verantwortlich, und die Philosophie des Teils geht der Philosophie des Ganzen immer voraus, nicht nur als theoretische Antizipation, sondern als aktuelle Notwendigkeit.“ Antonio Gramsci, Elftes Heft, in: Haug (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 6: Hefte 10 und 11, 1994, § 12: S. 1387. 17 Antonio Gramsci, Fünfundzwanzigstes Heft, in: Jehle u. a. (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 9: Hefte 22 bis 29, 1999, § 2: S. 2191. 18 M. w. N. Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik, in: Steyerl/Rodríguez (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch?, 2. Aufl. 2012, S. 17–37 (31).

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

gleichermaßen die „Zivilgesellschaft“ bestehende Machtverhältnisse.19 Der Zivilgesellschaft rechnet Gramsci die gesellschaftliche Interessenvermittlung zu, also die gemeinsame Willens- und Konsensbildung. Erst beide Aspekte gemeinsam beschreiben den Staat. Indem die Zivilgesellschaft eine „politisch[e] und kulturell[e] Hegemonie [. . .] über die ganze Gesellschaft“ ausübe, fungiere sie „als ethischer Inhalt des Staates“.20 Damit weist er eine starre Grenzlinie zwischen privat und öffentlich zurück.21 Gramsci unterscheidet, um dies zu verdeutlichen, zwischen einem „führenden“ und einem „herrschenden“ Element von Hegemonie. Eine Personengruppe ist „führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen“.22 In diesem Sinne ist sie bereits führend, bevor sie herrschend, also an der politischen Macht ist, weil sie bestimmen kann, was in einem Staat als allgemeingültig verstanden wird.23 Auf diesem Wege „tarne“ die Bourgeoise ihre Interessen mittels einer hegemonialen Ideologie und Kultur als Allgemeininteresse und halte so die eigene Vorherrschaft aufrecht. Den Subalternen sei es so lange nicht möglich, ihre kollektive Ausdruckslosigkeit zu überwinden, wie sie nicht in einem solchen Sinne Teil „des Staates“ sind oder eine Aussicht besteht, dies werden zu können.24 Eine subalterne Position wird zum Gegenteil dessen, was normal und gewohnt ist; zu einer Lebensrealität, die sich erst erklären und vermitteln muss. Die subalterne Artikulation verfügt jedoch nicht über eine Öffentlichkeit, in der sie sich erklären und wahrgenommen werden könnte. Die Subalternen sind im Feld des Diskursiven stigmatisiert und damit vom Hegemonieprojekt ausgeschlossen. Subalternität formt sich nach 19 Marcus E. Green, Gramsci cannot speak, in: ders. (Hg.), Rethinking Gramsci, 2011, S. 68–89 (73). 20 Antonio Gramsci, Sechstes Heft, in: Bochmann/Haug (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 4: Hefte 6 bis 7, 1992, § 24: S. 729. Siehe auch Antonio Gramsci, Zehntes Heft, in: Haug (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 6: Hefte 10–11, 1994, § 15: S. 1267. Zu Gramscis Verständnis des „integralen Staates“ ausführlich: Alex Demirovic´ , Politische Gesellschaft – zivile Gesellschaft, in: Buckel/Fischer-Lescano (Hg.), Hegemonie gepanzert mit Zwang, 2007, S. 19–43. 21 Ausführlich Alex Demirovic ´ , Politische Gesellschaft – zivile Gesellschaft, in: Buckel/Fischer-Lescano (Hg.), Hegemonie gepanzert mit Zwang, 2007, S. 19–43 (27). Gramscis Position entspricht einer zentralen Einsicht der feministischen Theorie, die zeigte, dass den Männern die öffentliche, den Frauen die häuslich-private Sphäre zugewiesen wurde, um Letzteren den Status aktiver Staatsbürger*innen zu versagen. Für einen kurzen Überblick m.w. N. Anja Schmidt, Grundannahmen des Rechts in der feministischen Kritik, in: Lena Foljanty/Ulrike Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012, S. 74–85 (80 f.). 22 Antonio Gramsci, in: Bochmann (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 1: Heft 1, 1991, § 44: S. 120. 23 M. w. N. Thomas Barfuss/Peter Jehle, Antonio Gramsci zur Einführung, 3. Aufl. 2021, S. 25 ff. 24 Antonio Gramsci, Fünfundzwanzigstes Heft, in: Jehle u. a. (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 9: Hefte 22 bis 29, 1999, § 5: S. 2195.

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Gramsci also vor allem aufgrund fehlender Strukturen, individuelle Erfahrungen zu bündeln und politisch zu organisieren. Dies zu ändern, wird dadurch erschwert, dass dominante kulturelle Erzählungen die Vorstellungen von Normalität prägen. Gewendet auf das Feld der Rassismuskritik kann hier eine wichtige Erkenntnis vorweggenommen werden: Die gesamtgesellschaftliche Konsensbildung ist wirkmächtig, indem sie Normalität erzeugt. Dabei ist sie in großen Teilen von der repressiven Funktion des Staates unabhängig. Normalitätsvorstellungen gründen sich gerade nicht auf Sanktionen durch juristische Normen, sondern sind kulturell bestimmt und üben erheblichen Einfluss auf Denk- und Handlungsweisen aus. Subalternisierungsprozesse setzen als Form der Marginalisierung demnach keine bewusste oder gar individuelle Entscheidung voraus, sondern operieren im Bereich allgemein geteilter Annahmen und im Wege eines herrschenden Vorverständnisses. Weiße Dominanz bedarf diesem Gedanken folgend keiner direkten Absprache oder spezifischer Zielformulierungen, sondern kann sich hinter geteilten Zugriffen auf die Wirklichkeit zurückziehen.25 Dies macht eine Dekonstruktion der auf diese Weise eingeübten diskursiven Normalität besonders schwierig. b) Koloniale Subordination (Subaltern Studies Group) In den 1970er Jahren greift das Forschungskollektiv der (South Asian) Subaltern Studies Group26 den Subalternitätsbegriff auf. Die Gruppierung knüpft an eine Strömung der indischen Geschichtswissenschaft an, die in den 1960er Jahren kontroverse Fragen zum Wesen der britischen Kolonialherrschaft und zu deren Folgen stellt. Ihre Auseinandersetzung mit Subalternität ist vor diesem Hintergrund eng verbunden mit dem Bestreben, die fortwährenden (post-)kolonialen Machtverhältnisse zu verstehen und aufzudecken. Die kritische Geschichtswissenschaft interveniert in die bis dato klassische Forschung, die nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1924 zunächst nur die offiziellen Dokumente Großbritanniens zur Betrachtung der Kolonialzeit heranzog. Die Dokumentation der ehemaligen Besatzungsmacht ließ den Imperialismus in einem altruistischen Licht erscheinen und verfestigte das Narrativ, Indien vor allem entwickelt und modernisiert zu haben. Eine große Gruppe indischer Geschichtsforschender widerspricht dieser Deutungsweise alsbald und beleuchtet die nachteiligen Folgen der fremdbestimmten Besatzung für die wirtschaftliche und kulturelle Entwick25 Vgl. Katharina Walgenbach, Weiße Dominanz, in: Bartmann u. a. (Hg.), Kollektives Handeln, 2002, S. 123–136 (132–133). 26 Die Subaltern Studies Group (auch: Subaltern Studies Collective) bezeichnet südasiatische Wissenschaftler*innen, die sich mit den postkolonialen und postimperialistischen Gesellschaften Südasiens beschäftigen. Während die Forschungsagenda zu Beginn ausschließlich auf die Geschichtsschreibung Indiens fokussierte, nahm das Kollektiv alsbald Felder in den Blick, die jenseits der indisch-nationalen Verhältnisse liegen. Siehe Vinayak Chaturvedi, Mapping subaltern studies and the postcolonial, 2000, S. vii ff.

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lung des Landes. Das Spannungsverhältnis von Kolonialismus und Nationalismus ist infolgedessen das zentrale Forschungs- und Diskussionsthema der indischen Historiographie. Die Subaltern Studies Group sieht sowohl die nationale als auch die britischkoloniale Geschichtsschreibung als elitär und in ihrer Wahrnehmung verzerrt an. Fälschlicherweise gehe man beidseitig davon aus, dass sowohl die Entwicklung des indischen Nationalismus als auch die Beendigung der kolonialen Fremdherrschaft eine Elitenleistung darstellt.27 Auch die neuere, kritische historiographische Forschung könne nicht erklären, welchen Beitrag „das Volk aus eigener Kraft, das heißt, unabhängig von der Elite, zur Entstehung und Entwicklung dieses Nationalismus geleistet hat“.28 Im Rückgriff auf die Arbeiten Gramscis kritisiert das Kollektiv, die vermeintlich eigene Geschichte werde lediglich als „Geschichte der führenden Klassen“ 29 dargestellt. Auch der Gebrauch des Subalternitätsbegriffs basiert auf einer Gramsci-Interpretation: Der intellektuelle Mitbegründer und spätere Hauptvertreter der Subaltern Studies Group Ranajit Guha beschreibt als subaltern diejenige Bevölkerungsgruppe, die das einseitige Narrativ der (De-)Kolonialisierung vom Status eines politischen Subjekts und somit von gesellschaftlicher Repräsentation ausschließt.30 Subalterne sind auch unter den wechselnden kolonialen wie postkolonialen Machtverhältnissen immer wieder aufs Neue ausgeschlossen, weil ihre Lebensrealität in dominanten Diskursen nicht vorkommt. Die Gruppierung verschreibt sich einem nichtelitären Ansatz der Geschichtsschreibung. Sie verfolgt das Ziel, eine historische Analyse voranzutreiben, die subalterne Gruppen als Subjekte der Geschichte und Gestalter ihres eigenen Schicksals begreift.31 Das Forschungskollektiv verpflichtet sich der intellektuellen Entkolonialisierung Indiens32 und betreibt zu diesem Zwecke eine umfangreiche Archivkunde kolonialer Quellen. 27 Ranajit Guha, On Some Aspects of the Historiography of Colonial India, in: ders. (Hg.), Subaltern Studies I, 1982, 1–8 (1). 28 Eigene Übersetzung von Ranajit Guha, On Some Aspects of the Historiography of Colonial India, in: ders. (Hg.), Subaltern Studies I, 1982, 1–8 (3). 29 Antonio Gramsci, Fünfzehntes Heft, in: Bochmann/Haug/Jehle (Hg.), Gefängnishefte, Bd. 7: Hefte 12 bis 15, 1996, § 5: S. 1720. 30 Ranajit Guha, Preface, in: ders. (Hg.), Subaltern Studies I, 1982, vii; ders., On Some Aspects of the Historiography of Colonial India, in: ders. (Hg.), Subaltern Studies I, 1982, S. 1–8. Erläuternd Hito Steyerl/Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Einleitung, in: dies. (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch?, 2. Aufl. 2012, S. 7–16 (10). 31 Die Subaltern Studies Group knüpft an die Tradition der Geschichtserzählung „von unten“ an („history from below“), geht jedoch nicht darin auf, indem sie vor allem auf kolonial-rassistische Zusammenhänge fokussiert. Als erste Geschichtserzählung von unten gilt die Arbeit von Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, 1963. 32 Dieser Ansatz der Geschichtsschreibung wurde später auch für andere historische Beispiele fruchtbar gemacht, vor allem in Südamerika. Es gründete sich entsprechend die „Latin American Subaltern Studies Group“, zu deren Begründer*innen John Beverley und Ileana Rodríguez zählen.

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Die Subaltern Studies leisten mit ihrer Untersuchung zur Distanz und Verwobenheit organisierter und unorganisierter Politik einen entscheidenden Beitrag zur Erweiterung des Politikbegriffs.33 Die Forschungsbeiträge verstärken jedoch gleichsam den schon durch Gramsci geprägten Eindruck, es handele sich bei „den Subalternen“ um bestimmte Menschen, also um individuell benennbare Subjekte. Dieser Annahme wird im weiteren Verlauf der Beschäftigung mit Subalternität widersprochen. Ebenfalls ist ihr Verständnis von Unschärfen bestimmt. Die Zuschreibung subaltern wird zu einer entgrenzten Kennzeichnung dessen, was sozial ausgeschlossen ist; der Begriff scheint (lediglich) die Differenz zu übergeordneten Teilen der Gesellschaft zu markieren.34 Ein eigenständiger Begriffsgehalt ist nicht mehr klar erkennbar. c) Ungleiche Artikulationschancen (Spivak) Dies ändert sich durch die theoretische Intervention der Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak.35 Spivak ist Teil des Forschungskollektivs der Subaltern Studies Group und unterstützt deren politisches Vorhaben einer „Geschichts-um-schreibung“. In Anlehnung an die Vorarbeiten des Kollektivs erklärt auch Spivak einen subalternen Gesellschaftsstatus mit fortwirkenden (post-)kolonialen Ausschlüssen. Jedoch weist sie bestimmte Vorannahmen des Kollektivs vehement zurück und unterzieht die Initiative einer fundamentalen Kritik.36 Anhand ihrer Einwände möchte ich die analytische Neufassung des Konzepts der Subalternität erläutern. Spivaks Forschungsbeiträge laden ein, die diskursive Aus-

33 Ähnlich beurteilt dies Nikita Dhawan, Postkoloniale Staaten, Zivilgesellschaft und Subalternität, in: APuZ 44–45/2012, S. 30–37 (31). 34 Ranajit Guha, On Some Aspects of the Historiography of Colonial India, in: ders. (Hg.), Subaltern Studies I, 1982, 1–8 (8). 35 Spivak wurde im Jahr 1942 – fünf Jahre vor der Unabhängigkeitserklärung Indiens von Großbritannien – in Kolkata geboren. Sie wuchs in einer gebildeten Mittelschichtsfamilie auf und besuchte zunächst eine Mädchenschule, später das angesehene Presidency College. „I come from the bottom layer of the upper middle class or the top layer of the lower middle class, depending on which side of the family you are choosing“, beschreibt Spivak ihre Herkunft. Gayatri C. Spivak, Bonding in Difference, in: Landry/ MacLean (Hg.), The Spivak Reader, 1996, S. 15–28 (17). Universitätsabschlüsse erwarb sie in Indien und den USA. Heute ist Spivak eine der bekanntesten intellektuellen Vertreter*innen der Postkolonialen Studien. Zur Einführung María do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 3. Aufl. 2020, S. 161 ff. Für eine ausführlichere Biografie sei verwiesen auf Miriam Nandi, Gayatri Chakravorty Spivak, in: Moebius/ Quadflieg (Hg.), Kultur, 2011, S. 120–131. 36 Damit ist Spivak nicht allein. Dipesh Chakrabarty illustriert ihre Kritik etwa am Santal-Aufstand aus dem Jahr 1855. Die Subaltern Studies Group stellt diesen Aufstand als subalternen Widerstand gegen die Kolonialregierung dar. Jedoch bleiben die wahren Motive der Aufständischen laut Chakrabarty verdeckt. Das Volk der Santal war der Meinung, nicht sie selbst hätten rebelliert, sondern die Revolte sei auf Geheiß ihres Gottes Thakur ausgeführt worden. Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz, 2010, S. 73 ff.

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gangssituation subalterner Stimmen näher zu betrachten. Ihre Analyse lässt Rückschlüsse sowohl auf das Sprechen über Rassismus als auch den Prozess der Rassifizierung zu.37 Vorweggeschickt sei, dass Spivaks intellektuelles Schaffen nicht durch eine große Monografie, sondern zahlreiche, teilweise kurze Aufsätze, Interviews und Vorträge geprägt ist. Die theoretischen Überlegungen haben kein klar benennbares Zentrum, sondern durchdringen verschiedene Felder der Literatur-, Sozialund Kulturwissenschaften. Ähnlich wie bei Gramsci würde daher auch in der Rezeption Spivaks ein Verweis auf das Spivak’sche Verständnis von Subalternität in die Irre führen. Hinzu kommt, dass Spivak die Ursachen und Konsequenzen von Subalternität immer wieder fortdenkt, auf verschiedene Aspekte fokussiert und sich in einzelnen Punkten selbst korrigiert. Ich beabsichtige daher nicht, eine kohärente Begriffsentwicklung nachzuzeichnen. Vielmehr sollen Spivaks Beiträge zum Subalternitätsbegriff systematisiert werden, um aus der Beschäftigung neue Impulse für die rechtswissenschaftliche Analyse zu gewinnen. aa) Wessen Stimme wird (weshalb nicht) gehört? Entsprechend der Definition Guhas beschreibt Spivak den „Raum der Subalternen“ als eine gesellschaftliche Sphäre in einem kolonialisierten Land, die von sozialen Mobilitätslinien gänzlich abgeschnitten ist.38 Sie grenzt die Gruppe der Subalternen für den spezifischen Kontext des (post-)kolonialen Indiens in mehrfacher Hinsicht von der Elite des Landes ab: sowohl von der britischen Kolonialmacht als auch der nationalen sowie lokalen indigenen Oberschicht.39 Spivak betont dabei zu Beginn, dass der Subalternitätsbegriff nur auf eine extreme Form der Marginalisierung verweisen kann. Die „reinen Subalternen“ könnten demnach nie Subjekt der Betrachtung sein. Wenn Subalterne sichtbar werden, dann gerade deshalb, weil ihre Unterdrückung bereits abgenommen habe.40 In einer restriktiven Lesart unterminiert die öffentliche Wahrnehmung einer Stimme jeden Moment von Subalternität. Nachfolgende Äußerungen lassen in diesem Punkt eine veränderte Haltung erkennen, der ich mich anschließe. Spivaks frühe Befassung mit Subalternität nimmt, wie sie selbstkritisch einräumt, eine noch zu individuumszentrierte Perspektive ein.41 Erst später gelingt es ihr, die ange-

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Diesen Schritt vollziehe ich im Anschluss, siehe Kapitel 1, C., ab S. 71. Gayatri C. Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 119–148 (121). 39 Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 17–118 (50). 40 Gayatri C. Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 119–148 (121). 41 Selbstkritisch Gayatri C. Spivak, Scattered speculations on the subaltern and the popular, in: Postcolonial Studies, Vol. 8 4/2005, S. 475–486 (478). 38

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stellten Überlegungen strukturell zu deuten. Bald stellt Spivak heraus, dass Subalternität sinnvollerweise nicht einer spezifischen Gruppe zuzuordnen ist, sondern vielmehr eine soziale Dimension markiert, die auf eine Stellung sowie Funktion im politischen System hinweist. Es handelt sich, so fasst Spivak ihr Verständnis von Subalternität zusammen, um eine „Position ohne Identität“.42 In dieser Position kreuzen sich sowohl koloniale als auch sozioökonomische und vergeschlechtlichte Machtverhältnisse. Jedoch handelt es sich nicht um ein bloßes Synonym für die benannten Marginalisierungsverhältnisse bzw. deren intersektionale Verschränkung. Subalternität adressiert vor allem eine ungleiche Verteilung von Artikulationschancen und damit von diskursiver Macht. Die daraus resultierenden Hindernisse der subalternen Diskurspartizipation illustriert Spivak anhand der semantischen Bilder des „Sprechens“ und „Hörens“. Dabei leitet Spivak über zu der – hier als funktional beschriebenen – strukturellen Wendung des Subalternitätsbegriffs.43 Sie kommt gleichsam zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Prozess der Repräsentation sowie der epistemischen Produktion des (kolonialen) Subjekts. Ich möchte zunächst die analytische Verschiebung erläutern und gehe im Anschluss auf die repräsentationskritischen Überlegungen ein. Die wichtigste Referenz für die benannte konzeptionelle Fortentwicklung des Subalternitätskonzepts bildet der Text „Can the Subaltern Speak?“,44 auf dem die folgende Auswertung maßgeblich basiert. In diesem, wohl bekanntesten Essay ihres Œuvres fokussiert Spivak die Gründe, die eine authentische, subalterne Artikulation erschweren. Die Autorin verneint die aufgeworfene Titelfrage („Können die Subalternen sprechen?“) klar: „Es gibt keinen Raum, von dem aus das [. . .] subalterne Subjekt sprechen 42 Spivak stellt einen Vergleich zu den Begriffen Class, Gender und Race an, die gleichsam keine bestimmten Kollektive bezeichnen. Ebd., S. 476. Ausführlich María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Subalterne gibt es nicht, in: malmoe 40, 2008. 43 Postkoloniale Repräsentationskritik wurde nicht nur von Spivak, sondern auch von vielen anderen Autor*innen geprägt. Verwiesen sei auf die prominenten Beiträge von Edward Said und Homi K. Bhabha – eine erhellende Zusammenfassung sowie Einordnung der postkolonialen Beschäftigung mit Repräsentation findet sich bei Floris Biskamp, Orientalismus und demokratische Öffentlichkeit, 2016, S. 101 ff. 44 Das Essay ist in mehreren Fassungen erschienen. Die überarbeitete Version klammert zentrale Aussagen der Erstfassung ein, stellt jedoch keine Revision dar. Die erste Fassung des Texts geht auf einen Vortrag zurück, der von Spivak 1983 gehalten und 1985 abgedruckt wurde: Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak, in: Wedge 1985, S. 120–130. Das englischsprachige Original findet sich in: Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Nelson/Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, 1988, S. 217–313. Die überwiegend als „zweite Fassung“ bezeichnete Version erschien in Gayatri C. Spivak, A Critique of Postcolonial Reason, 1999, S. 248–311. Ausführlich zur Editionsgeschichte und den vorgenommenen Änderungen: Alexander Joskowicz/Stefan Nowotny, Editorische Nachbemerkung der Übersetzer, in: Spivak (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 149–159. Vorliegend wird mit der deutschsprachigen Übersetzung des Essays gearbeitet: Gayatri C. Spivak (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008. Ausführlich und m.w. N. Hito Steyerl/Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch?, 2. Aufl. 2012.

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kann.“ 45 Spivak ist dabei keineswegs der Meinung, Subalterne seien nicht in der Lage zu reden bzw. sich, ihre Lebensrealität und Interessen zu artikulieren. Es fehle ihnen gerade nicht an den notwendigen rhetorischen oder kognitiven Fähigkeiten, um nach den diskursiven Regeln zu spielen. Subalterne kommen, so eine Kernthese des Essays, deshalb nicht zur Sprache, weil ihre heterogene Subjektposition, vereinfacht ausgedrückt: ihre Stimme, nicht wahrnehmbar ist. Anders als für Gramsci ist dieser Umstand jedoch keine unmittelbare Folge der Zerstreutheit subalterner Gruppen oder anderer subalterner Eigenschaften. Spivak sucht die Ursachen von Subalternität gerade nicht auf Seiten der „Sprechenden“, sondern auf der kommunikativen Gegenseite. Der Diskurs selbst erlaube es den Subalternen nicht zu „sprechen“, weil deren Äußerungen vom Rest der Diskursgemeinschaft nicht verstanden werden (können). Um die Gründe dieses Befundes zu erläutern, bringt Spivak das Hören ins Spiel, welches sie als konstitutiven, gleichsam nicht im eigenen Herrschaftsbereich liegenden, Teil der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit deutet: „Die Subalterne kann nicht sprechen’, das meint also, dass sogar dann, wenn die Subalterne eine Anstrengung bis zum Tode unternimmt, um zu sprechen, dass sie sogar dann nicht fähig ist, sich Gehör zu verschaffen – [. . .] Sprechen und Hören machen den Sprechakt erst vollständig.“ 46

Subalternität markiert dieses Moment der Unterwerfung: die Unfähigkeit, gehört zu werden oder sich Gehör zu verschaffen. Das Hören wird zum metaphorischen Instrument des gegenseitigen Verständnisses. Das Gehörtwerden steht für einen Raum der Resonanz, der es erlaubt, selbst zur Wirklichkeit zu kommen.47 Eine solche Partizipation setzt eine zuhörende Praxis voraus, die eine Äußerung weder „überhört“ noch verfremdet. Subalterne Stimmen begegnen typischerweise gegenteiligen Bedingungen. Ihre „gehörlose“ Rezeption hat unterschiedliche Erscheinungsformen: Subalterne Stimmen werden aus dem herrschenden Narrativ ausgeklammert oder weniger intensiv verhandelt. Dies führt dazu, dass ihre jeweilige Lebenswirklichkeit in der kollektiven Wirklichkeitsbeschreibung und anschließenden Interessenvermittlung keine oder eine eingeschränkte Rolle spielt. Andererseits ist es möglich, dass sich subalterne Stimmen deshalb kein Gehör

45 Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 17–118 (103, 106). In den zitierten Textstellen bezieht sich Spivak bereits ausdrücklich auf die weibliche Subalterne. Die Aussagen lassen sich ihrem Gedankengang folgend jedoch auf die gesamte vermeintliche Gruppe der Subalternen ausweiten. In der Folgezeit hat Spivak ihre Absage an die Sprechfähigkeit der Subalternen selbst abgeschwächt: Zit. nach Alexander Joskowicz/Stefan Nowotny, Editorische Nachbemerkung der Übersetzung, in: Spivak (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 149– 159 (153 ff.). 46 Gayatri C. Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 119–148 (127). 47 Zur alteritätsethischen Relevanz des Hörens im Recht: Anna Menzel, Hören können vor dem Antworten müssen, i. E.

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verschaffen können, weil Äußerungen zwar diskursiv aufgegriffen, aber vom Gegenüber vereinnahmt und entfremdet werden.48 In diesem Fall scheinen subalterne Stimmen diskursiv zu resonieren, tatsächlich dringt der Gehalt ihrer Aussage nicht durch und erfährt eine veränderte Rezeption. Dieses verzerrende Hörverhalten bleibt vielfach unbenannt. Mehr noch: Die Konstruktion sowie Reproduktion der Subalternen vollzieht sich trotz des Anscheins einer gleichberechtigten diskursiven Partizipation.49 Aus dieser Ohnmacht folgt, dass Subalterne in einem diskursiven Sinne verstummen. Solchermaßen eingeschränkte Wahrnehmungsweisen können sowohl bewusst als auch unbewusst ablaufen. Die gehörlose Praxis zeigt sich in einer individuellen Kommunikationssituation genauso wie auf einer strukturellen, epistemischen Ebene. Im Ausgangspunkt ist das unzulängliche Hörverhalten davon motiviert, eine Person oder Position nicht wahrnehmen zu wollen. Dieser Umstand kann wiederum unterschiedliche Ursachen haben: Möglicherweise wirken die Stimme des anderen und der Anspruch, den die Person formuliert, bedrohlich oder stellen die Lebensrealität des eigenen Selbst in Frage.50 Um keine Dissonanz zuzulassen, wird die Stimme ignoriert oder verfremdet. Für das Bemühen, Subalternität zu bestimmen, lassen sich damit zwei verschiedene Ebenen differenzieren: Ein subalterner Diskursstatus entsteht, indem bestimmte Zusammenhänge der menschlichen Existenz entweder gar nicht thematisiert (überhört) werden oder indem diese in verzerrender Weise aufgegriffen und wiedergegeben werden. Spivak dekonstruiert die Vorstellung, es läge allein im Wirk- und Entscheidungsbereich der Sprechenden, ihren Diskursbeitrag frei zu platzieren oder dies zu unterlassen. Ihre Ausführungen verdeutlichen, dass stattdessen diskursive Machtverhältnisse den Raum von Rede und Nicht-Rede, des Sag- und Unsagbaren definieren.51 Spivak positioniert sich damit klar gegen Sprech- und Kommunikationstheorien, die eine idealisierte Sprechsituation in Form reziproker Anerkennungsprozesse oder eine transparente Diskurspraxis aller Beteiligten annehmen.52 48 Vgl. Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Repräsentation, Subalternität und postkoloniale Kritik, in: Steyerl/Rodríguez (Hg.), Spricht die Subalterne Deutsch?, 2. Aufl. 2012, S. 17–37 (30). 49 Ebd. 50 Ausführlich wiederum: Anna Menzel, Hören können vor dem Antworten müssen, i. E. 51 Claudia Brunner, Vom Sprechen und Schweigen, in: Niederle (Hg.), Sprache und Macht, 2017, S. 30–71(43). 52 Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 17–118 (84). Als Gegenmodell könnte Habermas’ Begriff der öffentlichen Deliberation angeführt werden. Nach Habermas können sich die Kommunikationsteilnehmer auch „über die Grenzen divergierender Lebenswelten hinweg verständigen, weil sie sich mit dem Blick auf eine gemeinsame objektive Welt am Anspruch auf die Wahrheit, d.h. die unbedingte Gültigkeit von Aussagen orientieren.“ Jürgen Habermas, Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, 2001, S. 24. Dabei wird den Teilnehmenden wechselseitig Rationalität unterstellt: ebd., S. 28, 30. Haber-

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Vielmehr geht sie vom Gegenteil aus und steht damit in der Tradition des eingangs eingeführten Diskursbegriffs nach Foucault.53 bb) Intersektionale Subalternität: die kolonialisierte Frau Die beschriebenen ungleichen Artikulationsbedingungen ergeben sich nicht zufällig, sondern sind mit den bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen eng verbunden. Eine besondere Leistung Spivaks besteht in ihrer umfassenden Beschäftigung mit der besonderen Sprechsituation der subalternen Frau. Wenig überraschend lehnt sie den Anspruch feministischer Bewegungen, für alle Frauen zu sprechen, entschieden ab.54 Ihr intellektuelles Schaffen ist bestimmt von dem Versuch, die Frau des globalen Südens als eigenständiges Subjekt wahrzunehmen, statt ihr wohlmeinend eine Stimme verleihen zu wollen. Da es weder Gramsci noch der Subaltern Studies Group gelang, geschlechtsbezogene Faktoren zu berücksichtigen, handelt es sich um eine wichtige Erweiterung der bisherigen Analyse.55 Spivak analysiert gleichsam die Dimensionen class und race und weist damit einer intersektionalen56 Lesart von Subalternität den Weg.57 Ihre feministische Kritik am Konzept der Subalternität speist sich sowohl aus „praktischen“ als auch theoretischen Einwänden: Die Subaltern Studies Group habe übersehen, dass selbst die wenigen Frauennamen, die das koloniale Archiv überhaupt verzeichnet, durch die Ignoranz und das fehlende Bemühen der britimas verbindet damit zwar keine „konsensorientierte und brav diskutierende Öffentlichkeit“ (ders., Moralischer Universalismus in Zeiten politischer Regression, in: Leviathan, Jg. 48 1/2020, S. 7–28 (15)), aber gleichwohl ein freies Spiel des Diskurses. 53 Vgl. Einleitung, A., S. 5 f. 54 Siehe ebenfalls die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin bell hooks. Grundlegend bell hooks, Ain’t I a Woman, 1981. 55 Spivak bezeichnet die Arbeit des Kollektivs als „gender-blind“, Gramscis Gedankenwelt als „mono-gendered“. Gayatri C. Spivak, Scattered speculations on the subaltern and the popular, in: Postcolonial Studies, Vol. 8 4/2005, S. 475–486 (478 f.). 56 Intersektionalität bezeichnet die Gleichzeitigkeit verschiedener struktureller Ungleichheitskategorien in einer Person. Intersektionale Theorie zielt darauf auf, dieses Zusammenwirken nicht additiv, sondern entsprechend den bestehenden Verschränkungen und Wechselwirkungen mehrdimensional zu begreifen. Das Konzept wurde von Schwarzen Frauen in den USA geprägt und vom Combahee River Collective in den Diskurs eingeführt. Popularisiert hat den Begriff Kimberlé Crenshaw. Siehe Combahee River Collective, A Black Feminist Statement, in: Moraga/Anzaldúa (Hg.), This bridge called my Back, 4. Aufl. 2015, 2010–2018; Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex, in: The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139– 167. 57 Feministische Theorieansätze zählen zu ihren Schlüsselreferenzen. Zu „Spivaks Feminismus“: Miriam Nandi, Gayatri Chakravorty Spivak, in: Moebius/Quadflieg (Hg.), Kultur, 2011, S. 120–131 (124 f.). Während Spivak Unbehagen äußert, als postkoloniale Kritikerin bezeichnet zu werden, hat sie nie geleugnet, Feministin zu sein. Hierzu und zur Kritik am französischen und angloamerikanischen Feminismus: Sangeeta Ray, Gayatri Chakravorty Spivak, 2009, S. 107 ff.

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schen Kolonialverwaltung bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurden.58 Der Ansatz des Kollektivs, vor allem archivarische Quellen zur „Geschichts-um-schreibung“ zu nutzen, verstelle damit von vornherein eine weibliche Perspektive auf den subalternen Widerstand. Die Unmöglichkeit des weiblichen, subalternen Sprechens illustriert Spivak ferner am Beispiel des indisch-hinduistischen Rituals der Witwenverbrennung. Sie exemplifiziert eindrucksvoll, dass die weibliche Subalterne in der Diskussion um diese gewaltvolle Praxis in doppelter Hinsicht marginalisiert ist. Die Witwenverbrennung, auch als Sati-Ritual59 bekannt, wird als religiös-kulturelle Tradition von einer Minorität der indisch-hinduistischen Gemeinschaften praktiziert. Das patriarchale Ritual sieht vor, dass sich eine HinduWitwe nach dem Tod ihres Ehemannes mit jenem gemeinsam auf einem Scheiterhaufen verbrennen lässt. Laut Spivak wird dieser Brauch kasten- oder klassenunspezifisch praktiziert.60 Die britische Kolonialverwaltung bewertete die Witwenverbrennung während ihrer Herrschaftszeit als brutalen, archaischen Ritus und verbot entsprechende Praktiken im Jahre 1829.61 Das indisch-hinduistische Narrativ der nationalen Elite hingegen beschreibt die Witwenverbrennung als einen nostalgischen Akt der weiblichen Selbstopferung und Beweis ihrer Loyalität.62 Die unterschiedlichen Bewertungen eröffnen neben dem inhaltlichen Spannungsverhältnis ebenfalls ein ideologisches Schlachtfeld. Die britische Besatzungsmacht, von ihrer moralischen Überlegenheit eingenommen, beabsichtigt durch das Verbot der Witwenverbrennung zu einer „guten Gesellschaft“ beizutragen. Die Nationalisten hingegen verteidigen nicht nur eine religiöse Tradition, sie leisten gleichsam Widerstand gegen die als invasiv empfundene Kolonialverwaltung. Die Lebensrealität der betroffenen Frauen spielt in der Diskussion eine nur untergeordnete Rolle. Während die Kolonialverwaltung die indische Frau vor allem als passives Objekt der Unterdrückung begreift, spricht die nationale Elite ihr einen eigenen Willen jenseits der Tradition gänzlich ab. Gleichwohl Spivak die Selbsttötung als misogyne Praxis grundsätzlich ablehnt,63 arbeitet sie heraus, dass jeder Versuch der betroffenen Frauen, in dieser Thematik für sich selbst zu sprechen, scheitern muss. Die weiblichen Stimmen werden von den entsprechenden Seiten nach deren Überzeugungen interpretiert und für die je eigenen Interessen instrumentalisiert. Der Diskurs übergehe die Position der Witwe, indem 58 Hito Steyerl, Die Gegenwart der Subalternen, in: Spivak (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 7–16 (10). 59 Ausführlich zur historischen Einordnung der Praxis und seiner Verbreitung Andrea Major (Hg.), Sati, 2007. 60 Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 17–118 (80). 61 M. w. N. zur Debatte Lata Mani, Contentious Traditions, in: Cultural Critique, 7/ 1987, S. 119–157. 62 Imke Leicht, Wer findet Gehör?, 2006, S. 140. 63 Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 17–118 (89).

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der Akt der Verbrennung entweder als eine barbarische Manifestation der rückständigen Gesellschaftsstruktur Indiens oder aber als freier Wille der sich (auf-) opfernden Frau dargestellt wird. Keine der beiden Positionen sei tatsächlich daran interessiert, etwas über die betroffenen Frauen zu erfahren. Die Subjektkonstruktion der Subalternen ist auf diese Weise bestimmt durch die widerstreitenden Interessen eines aufklärerischen Imperialismus einerseits und des traditionellen Patriarchats andererseits; jedes Aufbegehren gegen die eine wird als Zustimmung zur anderen Position gewertet.64 Die Stimme, über die gesprochen wird, fehlt vollkommen. Die Struktur dieses kolonialen Szenarios setzt sich in aktuellen Debatten fort, wie die nachfolgende Analyse zeigen wird. Die Argumentation der Kolonialverwaltung erinnert dabei an das Konzept des Otherings, welches eng mit den Arbeiten Edward W. Saids verknüpft ist. Dieser enttarnte den eurozentrischen Blick der westlichen Forschungslandschaft der Orientalistik auf den Nahen Osten.65 Spivak beschreibt das Othering als ein „aus der Distanz orchestrierte[s], weitläufige[s] und heterogene[s] Projekt, das koloniale Subjekt als Anderes zu konstituieren.“ Im Zuge dieser selbstbezogenen Konstruktion werden die „Spuren dieses Anderen in seiner prekären Subjektivität bzw. Unterworfenheit“ 66 ausgelöscht. Beschrieben ist also eine Strategie, das Eigene positiv hervorzuheben, indem das vermeintlich andere negativ markiert und als fremdartig klassifiziert wird. Spivak liegt wenig daran, über die „Richtigkeit“ der geäußerten Zuschreibungen zu diskutieren oder unzutreffende Darstellungen durch zutreffendere zu ersetzen. Vielmehr verweist sie auf die Notwendigkeit, zu reflektieren, wessen Identität durch die „veranderte“ Darstellung gefestigt wird und wessen Handlungsmöglichkeiten sich infolgedessen erweitern oder beschränken.67 Im benannten Beispiel des Sati-Rituals sieht Spivak Dynamiken des Otherings vor allem in der britischen Abwertung des Phänomens als barbarisch und rückständig, welche als Gegenfolie die britische Nation als fortschrittlich und modern aufwertet. Die Fürsprache, in diesem Fall im Namen der Witwe, funktioniert nur mit Hilfe einer solchen Fremdbeschreibung; der Markierung der indischen Frau als hilflos und schutzbedürftig. Dies birgt eine Gefahr der Bevormundung und spart die Komplexität des realen Ereignisses und der individuellen 64 Aram Ziai, Die Stimme der Unterdrückten, in: Peripherie, Nr. 100 2005, S. 514– 522 (517). 65 Edward W. Said, Orientalism, 1978. In der deutschsprachigen Diskussion ist auf die Übersetzung von Julia Reuter als „VerAnderung“ hinzuweisen. Julia Reuter, Geschlecht und Körper, 2011, S. 19 ff. Eine weitere gebräuchliche Übersetzung ist „FremdMachung“. Mit der Frage, wie die Wahrnehmung des Selbst mit der Konstruktion und Abgrenzung des Anderen zusammenhängt, beschäftigte sich bereits Georg Wilhelm Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1980 (1807). 66 Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 17–118 (42). 67 Entsprechend: Floris Biskamp, Orientalismus und demokratische Öffentlichkeit, 2016, S. 178.

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Verhältnisse aus. Als ikonisch gilt hier Spivaks Beschreibung, „weiße Männer“ würden „braune Frauen vor braunen Männern retten“.68 Die Frage von Fortschrittlichkeit und Entwicklung zwischen „dem Westen“ und „der Dritten Welt“ entscheidet sich an der Linie der Geschlechtergerechtigkeit. Während feministische Interventionen in westlichen Gesellschaften zur gleichen Zeit vehementen Widerstand erfahren, werden die „fremden Frauen“ zum verheißungsvollen Objekt der Rettung. Die beschriebene diskursive Vereinnahmung kann sich dabei im Wege des Self-Otherings potenzieren, indem die Fremdbeschreibung als passiv, rückständig und hilfsbedürftig von den beteiligten Frauen übernommen wird.69 María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan beschreiben diesen Vorgang als „Selbstsubalternisierung“.70 Die Selbstsubalternisierung perpetuiert den Status des Nichtsprechens, indem die betroffene Person von der Legitimität der sie unterdrückenden Prinzipien überzeugt ist. In der über Spivak hinausgehenden Debatte um epistemische Machtverhältnisse werden solche Zusammenhänge mit den Schlagwörtern „testimonial quieting“ und „testimonial smothering“ beschrieben.71 Wörtlich übersetzt verbirgt sich hinter diesen Begriffen ein „Verstummen“ und „Ersticken“ des sprachlichen Zeugnisses.72 Das „testimonial quieting“ beschreibt das Phänomen, von einem Gegenüber nicht gehört, nicht verstanden und infolgedessen nicht als wissendes Subjekt (an-)erkannt zu werden. Die ausbleibende Anerkennungsleistung resultiert nicht aus fehlendem Wissen oder konkreten Kommunikationsbarrieren. In den Worten Claudia Brunners handelt es sich bei dem eingeschränkten Hörverhalten um „eine aktive Praxis des Nichtwissens bzw. Nicht-Wissen-Wollens, basierend auf Stereotypen über die Sprechenden“.73 Diese sind tief verankert in der (post-)kolonialen Prägung von Wissen und Macht.74 Darauf bezugnehmend ist mit dem Begriff des „testimonial smothering“ eine Art Selbstzensur beschrieben, die aus der Annahme folgt, das nicht hörende Gegenüber werde ohnehin kein angemessenes Verständnis für die eigene Aussage oder Antwort haben. Aus diesem Grund artikuliert die sprechende Person eine bestimmte Position gar nicht erst. Als Beispiel möchte ich eine Arbeit 68 Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 17–118 (81). 69 Katja Winkler, Kritik der Repräsentation, in: ethikundgesellschaft 2/2017, S. 1–24 (11). 70 María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, 3. Aufl. 2020, S. 325. 71 Begriffsbildend: Kristie Dotson, Tracking Epistemic Violence, Tracking Practices of Silencing, in: Hypatia Vol. 26 2/2011, S. 236–257 (242 ff.). 72 Nach eigner Übersetzung Claudia Brunner, Epistemische Gewalt, 2020, S. 278 ff. 73 Claudia Brunner, Vom Sprechen und Schweigen, in: Niederle (Hg.), Sprache und Macht, 2017, S. 30–71 (48). 74 Ebd. mit Verweis auf Kristie Dotson, Tracking Epistemic Violence, Tracking Practices of Silencing, in: Hypatia Vol. 26 2/2011, S. 236–257 (242 ff.).

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von Kimberlé Crenshaw aus den frühen 1990er Jahren heranziehen, die sich mit sexualisierter Gewalt in nichtweißen Communitys auseinandersetzt. Crenshaw beobachtet, dass schwarze Frauen deshalb nicht über persönliche Gewalterfahrungen sprechen, um rassistische Stereotype gegen schwarze Männer nicht zu stärken und damit möglicherweise ihrer eigenen Bezugsgruppe zu schaden.75 Der Preis des fehlenden Zeugnisses besteht in dem Umstand, dass die gewaltvolle Lebensrealität der Frauen nicht wahrgenommen und als Problemlage erkannt werden kann. Entsprechend fehlen Hilfsangebote. cc) Kritische Einwände Spivaks intellektuelles Schaffen ist vielfältiger und anhaltender Kritik ausgesetzt. Auf einer recht basalen Ebene werden ihre Ausführungen als unverständlich und nicht konsistent aufgebaut bewertet.76 Tatsächlich wirkt insbesondere der Text von „Can the Subaltern Speak?“ stellenweise konfus. Nicht immer sind die Referenzen und theoretischen Sprünge des Essays nachvollziehbar. Spivak räumt ein, dass es sich um einen „zu komplizierte[n] Aufsatz“ handelt,77 der in einer ausgesprochen rohen Fassung publiziert wurde.78 Sie setzt diesen „unkontrollierten Aufbau des Textes“ in Bezug zu ihrem eigenen Denkprozess, welcher die Verworrenheit der Diskurslinien und Auswirkungen des Sprechens zu erfassen versucht. Ob dieser Einwand überzeugen kann, sei dahingestellt. Jedenfalls begründet die Anlage des Textes ein gewisses Zugangshindernis. Spannender ist aus meiner Sicht ein anderer Tenor der Kritik: Spivak habe verkannt, dass die Subalternen eben doch auf vielfältige Art und Weise das Wort ergreifen.79 75 Kimberlé Crenshaw, Mapping the Margins, in: Stanford Law Review, Vol. 43 6/ 1991, S. 1241–1299 (1252). 76 Dies meint beispielsweise Terry Eagleton, der seine Kritik an Spivak so formuliert: „[. . .] the ellipses, the heavy-handed jargon, the cavalier assumption that you know what she means and if you don’t she doesn’t much care, are so much the overcodings of an academic coterie as a smack in the face for conventional scholarship.“ Terry Eagleton, Figures of Dissent, 2003, S. 160. 77 Gayatri C. Spivak, Subaltern Talk, in: Landry/MacLean (Hg.), The Spivak Reader, 1996, S. 287–308 (287 f.). 78 Die grundsätzliche Kritik an ihrer Sprache nimmt sie hingegen nicht an. Auf entsprechende Einwände reagiert sie wie folgt: „Therefore, when I’m pushed these days with the old criticism – ,Oh! Spivak is too hard to unterstand‘ – I laugh, and I say, okay, I will give you, just for your sake, a monosyllabic sentence, and you’ll see that you can’t rest with it. My monosyllabic sentence is: We know plain prose cheats. [. . .] So then what do you do? Shut up? Don’t you want to hear some more? And then it becomes much harder.“ Sara Danius/Stefan Jonsson, An Interview with Gayatri Chakravorty Spivak, in: Boundry 2, Vol. 20 2/1993, S. 24–50 (33). Ich stimme Spivak in diesem Punkt nicht zu und verstehe eine „simple Sprache“ nicht als „betrügerisch“, sondern, im Gegenteil, als Form eines demokratischen Ausdrucks. 79 Mit Blick auf das Sati-Ritual bezieht sich Spivak darauf, manche Frauen hätten sich auf dem Scheiterhaufen tatsächlich geäußert. Gayatri C. Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 119–148 (126).

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Ihre strikte Lesart von Subalternität, so der Vorwurf, unterstütze die koloniale Ideologie, untergeordnete Gruppen würden sich bedingungslos mit den Herrschenden identifizieren und über keine eigenständige Interpretation ihrer Erfahrung verfügen. Mit ihrer Deutung versage sie es dem bestehenden Widerstand „zu sprechen“ – wie Spivak die Einwände selbst zusammenfasst.80 Spivak befeuere zudem die essentialisierende Vorstellung einer minder ausgebildeten Fähigkeit von Subalternen, sich in eigenen Worten auszudrücken. Diese Einwände sind – im Gegensatz zu ersterem – produktiv, da sie Anlass zu weiterer Konkretisierung geben: Aus meiner Sicht ist Spivaks klare Ablehnung der Möglichkeit eines subalternen Sprechens dann problematisch, wenn ihre Position gelesen wird als absolutes Statement über die Beziehungen zwischen Machthabenden und Machtlosen. In diesem Fall transportiert sich die Vorstellung, das Subjekt sei aus einer subalternen Position nicht in der Lage, bestehende Diskurse anzugreifen oder aufzubrechen.81 Diverse historische Erfolge subalterner Widerstandsbewegungen belegen das Gegenteil. Spivak wehrt sich zu Recht dagegen, dem von ihr verwendeten Wort „sprechen“ eine rhetorische Bedeutung zuzuschreiben, die sie diesem nicht gegeben hat.82 Dass die Subalterne nicht sprechen kann, darf gerade nicht dahingehend umgeschrieben werden, die Subalterne könne nicht „reden“ oder subalterner Widerstand sei in Gänze unmöglich. Vielmehr geht es darum, immer wieder aufzuzeigen, wie Sprechakte durch die Zuhörerschaft unzutreffend, missverständlich oder eigennützig interpretiert und dadurch von der sprechenden Person entfremdet werden. Wann also das erforderliche Zusammenspiel aus Sprechen und Hören misslingt. Eine entsprechende Interpretation muss nicht willentlich geschehen, sondern kann auf Reflexen beruhen, die aus bestimmten Lerngewohnheiten des Verstandes resultieren. Das menschliche Handeln ist weniger stark geprägt von einem Denken, das sich an Details und Fakten orientiert, sondern in besonderem Maße von der je persönlichen Psychobiografie83 – dem Einfluss der Lebensgeschichte auf die eigene Persönlichkeit und Verhaltensweise.84 Diese ist Grundlage der Lerngewohnheiten, die schließlich auch das Diskurs- und Hörverhalten prägen. Es gilt vor allem nachzuforschen, welche strukturellen Bedingungen den eigenen Blick auf die Wirklichkeit geprägt haben, da sich die Psychobiografie gerade nicht abstrakt, sondern eingebettet in gesellschaftliche Beziehungen und globale Machtverhältnisse formt.

80 Gayatri C. Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 119–148 (119). 81 M. w. N. Grada Kilomba, Plantation Memories, 4. Aufl. 2016, S. 26. 82 Gayatri C. Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 119–148 (124 ff.). 83 Näher zum Begriff der Psychobiografie: Dieter-Dirk Hartmann, Psychobiografie, in: Lippert/Wakenhut (Hg.), Handwörterbuch politische Psychologie, 1983, S. 283–288. 84 Gayatri C. Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 119–148 (122).

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Kritisch bewertet werden kann zudem, dass Spivak zwar erkennt, dass der Subalternitätsbegriff an Definitionskraft verliert, wenn er zum Schlagwort für jede beliebige Gruppe wird, „die etwas will, was sie nicht hat“ 85 und in einer bestimmten Art und Weise untergeordnet ist. Es misslingt ihr aber, „die Subalterne“ in ihrem Wesen exakt zu bestimmen oder ein Mindestmaß an Marginalisierung zu bestimmen, welches eine Beschreibung als subaltern rechtfertigen würde. Dass der Begriff immer wieder in seiner personalisierten Form – Subalterne statt Subalternität – rezipiert wird, nährt die Vorstellung, eine solche Wesensbestimmung müsste möglich sein, deren Abwesenheit sei ein grober Fehler der Theorie. Doch Spivak geht es nach der hier vertretenen Deutung gerade nicht darum, von „den Subalternen“ zu sprechen und eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe unter den Terminus zu subsumieren (oder davon auszuschließen). Mit dem Begriff der Subalternität soll demnach keine weitere Marginalisierungskategorie geschaffen werden. Vielmehr entlarvt Spivak ebenjene Vorstellung, eine Benennung der Subalternen könne auf „authentische Subjekte“ 86 verweisen. Das Konzept ermöglicht dennoch, (post-)koloniale Machtbeziehungen in ihrem komplexen, epistemischen Geflecht von gesellschaftlicher Dominanz zu reflektieren.87 2. Wege aus der diskursiven Verstummung Es klangen bereits verschiedene Initiativen an, subalterne Stimmen der diskursiven Verstummung zu entziehen. Sowohl Gramsci als auch die Subaltern Studies Group entwerfen Strategien, um Subalternität zu transformieren. Spivak kritisiert deren Ansätze und versucht eine eigene Politik des Widerstands zu formulieren. a) Fremd- oder Selbstrepräsentation? Ist jemand in der Lage, adäquat für Subalterne zu sprechen? Oder kann Subalternität nur durch den beständigen Einsatz überwunden werden, hinreichende Bedingungen einer gelingenden Selbstrepräsentation zu schaffen? Aufgeworfen ist die Frage nach der Tauglichkeit von Fremd- und Selbstrepräsentation als Form des Widerstands gegen Subalternität. Spivaks Kritik richtet sich zunächst gegen den unreflektierten Versuch, als Autorität für Subalterne sprechen zu wollen. Hierin sieht Spivak eine uneingestandene Geste der Selbstüberhöhung und daraus folgend eine Form epistemischer Gewalt.88 Aus den mannigfaltigen Widersprü85 Gayatri C. Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 119–148 (123). 86 Nach Ina Kerner, Postkoloniale Theorien, 4. Aufl. 2021, S. 103. 87 Gayatri C. Spivak, Ein Gespräch über Subalternität, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 119–148 (122). 88 Der Begriff der epistemischen Gewalt beschreibt jedes gewaltförmige Verhältnis, das aus der Generierung, Organisation und Wirkung von Wissen resultiert. Ausführlich statt vieler Claudia Brunner, Epistemische Gewalt, 2021.

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chen, Konflikten und folglich der Uneinheitlichkeit des Subjekts sowie jeder Gruppe von Subjekten resultiere das Unvermögen, diese authentisch zu repräsentieren. Es reiche daher gerade nicht aus, den Subalternen eine Diskursposition einzuräumen oder ihre Stimmen durch Archivarbeit zu rekonstruieren. Jede Form des Sprechens „für Andere“ – wie es auch die Subaltern Studies Group durch ihr Bemühen einer alternativen Fassung der Geschichte betrieben hat – begründet Spivaks Intervention folgend ein hierarchisches Verhältnis und eine Verstrickung in die Konstruktion derselben Subjekte. Ein Repräsentationsverhältnis ermögliche damit zwar einerseits die Sichtbarmachung unterprivilegierter Positionen, stelle anderseits jedoch selbst ein Instrument der Vereinnahmung und Ausbeutung subalterner Stimmen dar.89 Mit Blick auf die Subaltern Studies Group kritisiert Spivak insbesondere das gewählte Mittel der Archivforschung und die damit verbundene Annahme, Ausgeschlossenen durch die alternativen Archivbeiträge sinnbildlich ein „Mikrofon“ 90 vor den Mund halten zu können. In dieser Vorstellung offenbare sich ein massiver Trugschluss, weil das Archiv selbst ein Hort der Exklusion sei, in welchem die Spuren der Subalternen nur entstellt und verzerrt vorzufinden sind. Ein Gewinn der Arbeit der Subaltern Studies Group besteht laut Spivak trotz allem in der Dekonstruktion der kolonialen Historiographie und der nationalistisch orientierten indischen Geschichtsschreibung. Indem das Kollektiv die Vorstellung aufgebrochen hat, die Kolonialherrschaft wäre lediglich durch die hochgebildete Elite zu Fall gebracht worden, und die Bauernrevolten sowie den zivilen Ungehorsam der untersten Schichten sichtbar gemacht hat, leistet es einen entscheidenden Beitrag zu einer vollständigeren Rezeption der Geschehnisse. Nur wurde die Fremdrepräsentation aus Sicht Spivaks nicht mit der nötigen kritischen Begleitung und einem Bewusstsein für die eigenen Wahrnehmungsgrenzen und problematischen Ausschlüsse des Vorhabens betrieben. Doch auch die als Alternative naheliegende Selbstrepräsentation der Subalternen birgt Schwierigkeiten. Spivak illustriert ihre dahingehende Kritik an den philosophischen Überlegungen von Foucault und Gilles Deleuze.91 Beide lehnen eine Fremdrepräsentation der Subalternen strikt ab. „Die Massen“ bräuchten die Intellektuellen nicht, „um zu wissen; sie wissen vollkommen klar und viel besser als sie, und sie sagen es auch sehr gut“.92 Subalterne seien daher nicht auf Intellektuelle angewiesen, die über ihre gesellschaftlich untergeordnete Position auf-

89 Hito Steyerl/Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Einleitung, in: dies. (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch?, 2. Aufl. 2012, S. 7–16 (15). 90 Hito Steyerl, Die Gegenwart der Subalternen, in: Spivak (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 7–16 (10). 91 Abgedruckt in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Schriften in vier Bänden, Bd. II: 1970–1975, Die Intellektuellen und die Macht, 2002, S. 382–393. 92 Ebd., S. 384. Die Haltung lässt sich anknüpfen an die Idee Gramscis, „organische Intellektuelle“ könnten und sollten die Selbstrepräsentation der Subalternen übernehmen.

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klären oder als ihre Für-Sprechenden, respektive Übersetzer*innen, fungieren. Diese wüssten vielmehr selbst darüber Bescheid, was in ihrer Lebenswirklichkeit geschieht; man müsse sie schlicht sprechen lassen und ihnen zuhören. Foucault und Deleuze sehen das Ziel ihrer politischen Arbeit darin, „Bedingungen bereitzuhalten, unter denen [die Unterdrückten] selbst sprechen können“.93 Spivak kritisiert, dass sowohl Foucault als auch Deleuze entgegen ihrer theoretischen Einsicht, Subjekte würden durch machtverstrickte Diskurse konstruiert, im politischen Kontext an der Vorstellung eines selbstidentischen, souveränen Subjekts festhalten. Beide Theoretiker würden daher „systematisch“ 94 ignorieren, inwiefern sich die herrschende Ideologie und somit auch ihre eigene, persönliche Verwicklung im Gefüge von Herrschaft und Privilegien auswirkt. Dergestalt verliere ihr wohlmeinendes Zuhören die Eignung als „Werkzeug der Ermächtigung“ zu fungieren und werde zu einer „Technik der Macht“.95 Beide Ebenen der dargestellten Kritik kommen in einer sprachlichen Fehlleistung im Umgang mit dem Signifikanten „Repräsentation“ zusammen.96 Spivak unterscheidet zwei unterschiedliche Funktionen von Repräsentation: die Ebene der Vertretung als Sprechen für und die Ebene der Darstellung als Sprechen über.97 Erstere entspricht der politischen Vertretung und Verkörperung der jeweiligen Stimme durch eine andere Person. Letztere bezieht sich auf die Elemente der Inszenierung und Zuschreibung, wie sie in der Kunst oder Philosophie vorherrschen. Diese Facette betont, was durch den Vorgang der Repräsentation neu erschaffen wird. Beide Bedeutungen sind zwar aufeinander bezogen, zwischen ihnen besteht jedoch ein Bruch. Während die erste Ebene („sprechen für“) das Versprechen der Sichtbarmachung des vertretenen Interesses birgt und einzulösen vermag, kommt Letzterer („sprechen über“) ein zentraler Beitrag in der Herstellung von Realität zu; eine Realität, die mit der authentischen Artikulation des vertretenen Subjekts nur bedingt übereinstimmen muss. Spivak beschreibt eine Auseinandersetzung mit Repräsentation, welche diese beiden Bedeutungsgehalte nicht klar voneinander unterscheidet, als Ursache für die eigene Beteiligung an der Konstruktion einer subalternen Diskursposition.98 Sie mahnt, dass ein Akt der Repräsentation stets eine Kombination aus Vertretung und Darstellung beinhalte. Im Zuge der Repräsentation stellen die Vertretenden tatsächlich sowohl

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Ebd., S. 383. Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 17–118 (21). 95 Entsprechend Claudia Brunner, Vom Sprechen und Schweigen, in: Niederle (Hg.), Sprache und Macht, 2017, S. 30–71. 96 Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 17–118 (28). 97 Ebd., S. 29. 98 Ebd., S. 28. 94

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sich selbst als auch die Vertretenen im Sinne eines Porträts dar. Eine Vertretung ohne Darstellung sei unmöglich. Jede Fürsprache und Übersetzung erfordere daher eine „Verantwortung gegenüber der Spur des Anderen in uns selbst“.99 In diesem Zusammenhang vertritt Spivak immer wieder die These, dass westliche Darstellungen ein Bild der anderen konstruieren, um das eigene Selbst als hiervon differentes Subjekt herauszubilden. Notwendig erscheint ein verändertes politisches Bewusstsein für Repräsentationsfragen sowie Räume der gegenhegemonialen Wissensproduktion.100 Spivak betont jedoch, dass jedwede Äußerung mit Bezug zu subalternen Bevölkerungsgruppen dem praktischen Problem von Kategorisierungen ausgesetzt bleibt. Zuschreibungen, wie auch die Bezeichnung „subaltern“, führen keine bereits existierende Gruppe ins politische Spiel ein, sondern erzeugen diese erst, indem mit der Bezugnahme deren Existenz unterstellt wird.101 Die Benennung begründet Ein- und Ausschlüsse, da sie einerseits von der Homogenität der jeweiligen Kategorie ausgeht und andererseits die unterschiedlichen Kategorien in ihrer hierarchisierenden Anordnung stärkt.102 Der feministischen Theorie ist eine ähnliche Schwierigkeit unter dem Schlagwort „Dilemma der Differenz“ 103 bekannt. Auch geschlechtliche Kategorisierungen bergen die Gefahr zu essentialisieren, also eine bestimmte Wesenheit – etwa der Gruppe „Frau“ – festzuschreiben. Dies nivelliert bestehende Differenzen zwischen unterschiedlichen Personen der gleichen Gruppe. Es manifestiert sich außerdem eine weitere Ebene der Repräsentationskritik: Ungeachtet der problematischen Konsequenzen von Repräsentation wird vorausgesetzt, dass eine Person Teil einer Gruppe sein muss, um überhaupt adressierbar und damit „repräsentierbar“ zu sein. Es entsteht ein Zwang der Zugehörigkeit und Identifikation, um von der politischen Repräsentation überhaupt erfasst zu sein. Wie gezeigt, existiert auch hinter der verzerrenden Repräsentation kein einheitliches Subjekt, kein widerspruchsfreies Narrativ, welches nur ins Scheinwerferlicht treten müsste. Versuche, dieses Licht und ein Verstärker subalterner Stimmen zu sein, laufen selbst Gefahr, koloniale epistemologische An-

99 Gayatri C. Spivak, Die Politik der Übersetzung, in: Haverkamp (Hg.), Die Sprache der anderen, 1997, S. 65–97 (66). 100 Vgl. Aram Ziai, Die Stimme der Unterdrückten, in: Peripherie, Nr. 100 2005, S. 514–522 (516). 101 Hinsichtlich der subalternen Bevölkerungsgruppe: Ina Kerner, Postkoloniale Theorien, 4. Aufl. 2021, S. 107 f. 102 Martha Minow beschreibt es treffend: „The dilemma of difference may be recreated both by ignoring and by focusing on it. [. . .] The problems of inequality can be exacerbated both by treating members of minority groups the same as members of the majority and by treating the two groups differently.“ Martha Minow, Making all the difference, 1990, S. 20. 103 Für die feministische Debatte etwa Seyla Benhabib u. a. (Hg.), Der Streit um Differenz, 1993. Für die Frage der Kategorie Geschlecht im Recht statt vieler Elisabeth Holzleithner, in: Rudolf (Hg.), Geschlecht im Recht, S. 37–62.

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nahmen zu reproduzieren und sich an der Verstummung der Subalternen zu beteiligen.104 Nichtsdestotrotz muss eine Kritik an den bestehenden Ausschlüssen und strukturellen Hierarchien möglich sein, um deren Exklusionspotenzial zu überwinden. Kategorien machen sichtbar und benennbar. Es kann daher aus strategischen und politischen Gründen notwendig sein, auf sie Bezug zu nehmen. Der vorsichtige Einsatz kategorisierender Kollektivzuschreibungen ist auch aus Spivaks Sicht unvermeidbar. Ein solcher „strategischer Essentialismus“ betreibt eine bewusste Anpassung ausgebeuteter oder diskriminierter Gruppen an die homogenisierenden Zuschreibungen, um überhaupt historisch und moralisch für Anerkennung kämpfen zu können.105 Jeder strategische Essentialismus muss sich dabei zwingend seines dialektischen Charakters bewusst sein. b) Subversives Hören Der Widerspruch zwischen Spivaks antiessentialistischer Analyse und der Forderung eines strategischen Essentialismus drängt sich förmlich auf – scheint Letzterer doch im Wesentlichen dem Vorgehen der Subaltern Studies Group zu entsprechen. Trotz dieser Inkonsistenz bleibt eine relevante Modifikation: Spivaks theoretischer Einsatz für ein „subversives Hören“ in der Rezeption subalterner Stimmen. Ein solches Hörverhalten setzt die Reflexion der eigenen Positionalität voraus. Der eigene Standpunkt, von dem beobachtet, beschrieben, geforscht und analysiert wird, muss – ihrer Forderung entsprechend – in jede Analyse einbezogen werden. Spivak erfasst ein subversives Hören in der akademischen Wissensproduktion mit den Schlagworten: „study, know, learn, hear, listen, do“ 106 und appelliert damit an die Verantwortung einer gründlichen, theoretischen Befassung auf der Ebene des „Lernens und Wissens“. Sie fordert erst im Anschluss ein „Hören und Zuhören“, um durch dieses zu „lernen“ und schließlich zu „machen“. Obgleich die menschliche Perspektive unauflösbar begrenzt bleibt, verschreibt sich ein subversives Hören dem beständigen Versuch, den anderen in seiner Erfahrungswelt zu verstehen. Spivak plädiert für einen selbstreflexiven Umgang mit dem Problem der Fremdrepräsentation. Als Ansatzpunkt, ein Verstehen zu ermöglichen, schlägt Spivak den potenziellen Rezipient*innen vor, ein „wahrhaft“ dialogisches Verhältnis mit den Sprechenden zu suchen. Spivaks Text enthält damit eine klare Aufforderung, die Bedingungen und Ausschlüsse des eigenen Denkens und Handelns immer wieder aufs Neue zu reflektieren. Das Ziel dieser Vorgehensweise muss sein, den „Ort“ der forschen104

Gayatri C. Spivak, In other Worlds, 2006, S. 161 ff. M. w. N. Gesa Mackenthun, Essentialismus, strategischer, in: Göttsche u. a. (Hg.), Handbuch Postkolonialismus, 2017, S. 142–144 (142). 106 Die Reihe geht zurück auf den Vortragstitel „Study, Know, Learn, Hear, Listen, Do? Humanities for Social Studies“. Eine Rede, die Spivak am 12.10.2018 im Centre for Social Studies der Universität Coimbra in Portugal hielt. Abrufbar unter: https:// www.youtube.com/watch?v=ZJv_WXsla_E&t=1083s. 105

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den Person zu hinterfragen.107 Hieraus resultiert die Forderung nach einem Diskurs, der das Persönliche und Subjektive einschließt. Alle Teilnehmenden sprechen von einem spezifischen Platz, in einer bestimmten Zeit und vor dem Hintergrund einer bestimmten Geschichte und Realität.108 Im Ergebnis folgt daraus nicht, dass es keine besseren oder schlechteren Argumente für den ein oder anderen Standpunkt gäbe, sondern schlicht, dass die Neutralität einer Aussage hinterfragt werden kann. Spivak konkretisiert ihren Vorschlag mit der Forderung „one’s privilege as one’s loss“ zu „verlernen“.109 Sie plädiert dafür, die eigene soziale Position und die eigenen Privilegien nicht nur als Verlust für diejenigen anzusehen, die diese Privilegien nicht haben, sondern auch für die Privilegierten selbst. Welcher Gestalt diese Privilegien auch sein mögen, sie verhindern, dass sich die Person eine spezifische Form von (subalternem) Wissen aneignen kann. Dabei geht es nicht nur um eine singuläre Information, die einer Einzelperson nicht zuteilwurde, sondern um einen Komplex von Erfahrungen und Kenntnissen, deren Verständnis durch die eigene soziale Position erschwert bis verunmöglicht wird.110 Im Rahmen der geforderten Reflexion gilt es zu erkennen, was und wer aufgrund der eigenen Privilegien nicht wahrgenommen, nicht gehört werden kann, welche Perspektiven versperrt bleiben und auf wessen Kosten dies geschieht.111 Das Ziel besteht nicht in einem repräsentativen Sprechen für andere, sondern vielmehr in einer Praxis des „subversiven Hörens“, welche die Auswirkungen machtverstrickter Diskurse wahrnimmt und das erzwungene Schweigen der anderen Seite durch die eigene Zurücknahme zu durchbrechen versucht.112 Dazu gehört die Akzeptanz unterschiedlicher Zugriffe auf die Realität. Das „subversive Hören“ setzt den ernsthaften Versuch voraus, sich zumindest einen Teil des nicht bestehenden Wissens anzueignen.113 Eine solche Praxis macht außerdem gegenseitiges Vertrauen notwendig und ist als ausdauernder Versuch des Lernens zu begreifen, welcher nicht unmittelbar an die akademische oder administrative Verwertung des Gelernten denkt.114

107 Gayatri C. Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: dies. (Hg.), Can the Subaltern Speak?, 2008, S. 17–118 (19). 108 Für die den akademischen Betrieb Grada Kilomba, Plantation Memories, 4. Aufl. 2016, S. 31 ff. 109 Zitiert nach Donna Landry/Gerald MacLean, Introduction, in: dies. (Hg.), The Spivak Reader, 1996, S. 1–13 (4). 110 Ebd. 111 María do Mar Castro Varela, Verlernen und die Strategie des unsichtbaren Ausbesserns, in: Bildpunkt, Herbst 2007, S. 4–7. 112 Nikita Dhawan, Impossible Speech, 2007, S. 280. 113 Donna Landry/Gerald MacLean, Introduction, in: dies. (Hg.), The Spivak Reader, 1996, S. 1–13 (5). 114 Dazu: Ina Kerner, Postkoloniale Theorien, 4. Aufl. 2021, S. 106. Ihre Überlegungen basieren auf einer Äußerung Spivaks in Jenny Sharpe/Gayatri C. Spivak, A Conversation with Gayatri Chakravorty Spivak, in: Signs, Vol. 28 2/2003, S. 609–624 (620).

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

III. Übertragbarkeit der Subalternitätsforschung Im Verlauf dieser Arbeit sollen die gewonnenen Erkenntnisse für eine Analyse deutscher Rechtsprechungsakte herangezogen werden. Da viele der Überlegungen zunächst für den postkolonialen Raum (Indiens) entwickelt wurden, kommt die Frage auf, inwiefern das Konzept der Subalternität übertragbar ist. Deutschland war keiner kolonialen Fremdherrschaft ausgesetzt, vielmehr zählte das Deutsche Kaiserreich selbst zu den europäischen Kolonialmächten.115 Von subalternisierendem Diskursverhalten einerseits und subalternisierten Positionen andererseits zu sprechen, könnte daher irritieren. Überzeugt die avisierte theoretische Verknüpfung der Prozesse von Rassifizierung und Subalternisierung? Wie rechtfertigt sich die Aneignung der Subalternitätsforschung für die Zusammenhänge innereuropäischer Rassismuserfahrungen? Aus meiner Sicht gelingt die Übertragung aus zweierlei Gründen: Zunächst wirken koloniale Gewaltverhältnisse, wie mittlerweile vielfach belegt,116 auch innerhalb der ehemaligen Kolonialstaaten fort. Rassistische Exklusionspotenziale lassen sich in ihrer Komplexität daher nicht oder zumindest schwerlich ohne eine (post-)koloniale Perspektive denken. Die Normalität rassistischer Vorannahmen folgt einer historischen und insbesondere diskursiven Verfasstheit, in der sich nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa befindet. Die antirassistische Theoriebildung der Bundesrepublik fußt auf dieser Annahme und erkennt in einer anhaltenden kolonialen Denklogik die Basis rassistischer Institutionen und Praktiken.117 Im Foucault’schen Sinne produziert der Kolonialdiskurs „universales Wissen“, das für sich beansprucht, wahr zu sein. Da, wie ich im weiteren Verlauf der Arbeit näher ausführen werde,118 sowohl die diskursiven als auch politischen Auswirkungen des deutschen Kolonialismus lange uneingestanden blieben, wurde dieses Wissen über weite Strecken normalisiert. Für die Heranziehung der Analysekategorie ist es daher nicht zwingend erforderlich, dass Deutschland als

115 Deutschland wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts selbstverständlich als „Kolonialmacht“ begriffen. Davon zeugen bereits die Titel der einschlägigen wissenschaftlichen Abhandlungen. Siehe etwa Kaiser-Wilhelm-Dank, Verein der Soldatenfreunde (Hg.), Deutschland als Kolonialmacht, 1914; Erich Schultz-Ewerth (Hg.), Deutschlands Weg zur Kolonialmacht, 1934; Konrad Olbricht, Deutschland als Kolonialmacht in Vergangenheit und Zukunft, 1938. Erst im Verlaufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt der Versuch, ein Fragezeichen hinter die Beteiligung Deutschlands an der – sodann öffentlich unter Kritik stehenden – Kolonialpraxis setzen zu wollen. Etwa: Rainer Falk, Die heimliche Kolonialmacht, 1985. 116 Zur aktuellen Auseinandersetzung mit Deutschland als postkoloniale Gesellschaft statt vieler: Marianne Bechhaus-Gerst/Joachim Zeller (Hg.), Deutschland postkolonial?, 2. Aufl. 2021. Grundlegend: Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz, 2010. 117 Statt vieler sei verwiesen auf die Beiträge in Claus Melter/Paul Mecheril (Hg.), Rassismuskritik, Bd. 1, 2. Aufl. 2011; sowie Karim Fereidooni/Meral El (Hg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen, 2017. 118 Siehe Kapitel 1, C. I. 1., S. 72 ff.

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Kolonialmacht bezeichnet werden kann oder die in den besprochenen Sachverhalten auftretenden Personen jenseits aller gesellschaftlichen Einbindung oder Mobilitätschancen stehen. Die vorangegangene Beschäftigung verdeutlicht, dass statt des Subjekts die Subjektkonstruktion im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Momente der Subalternisierung zu benennen, führt also gerade nicht dazu, einzelne Personen zu „Subalternen“ zu erklären. Subalternität beschreibt kein Sein eines Menschen, sondern einen Umstand, einen Platz im sozialen Raum. Eine Subalternisierung marginalisiert eine konkrete Position oder einen spezifischen Aspekt des Lebens einer Person, mündet aber nicht zwangsläufig darin, dass jene von einem öffentlichen Diskurs vollkommen ausgeschlossen oder eine Teilnahme an eben jenem gänzlich unmöglich ist. Daraus folgt, dass es auf koloniale Verhältnisse, welche die Herausbildung von dem rechtfertigen, was Spivak zunächst als subalterne Exklusion bezeichnet hat, für die Beschäftigung mit Subalternität nicht ankommt. Die Frage nach exkludierenden Denk- und Handlungslogiken stellt sich auch jenseits des vollkommenen Ausschlusses der subalternen Stimme. Entsprechend geht es nicht nur darum, „den Subalternen“ eine Stimme zu geben, sondern vielmehr darum, subalterne Räume oder Strukturen zu identifizieren und aufzulösen.119 Spivaks Aufruf richtet sich damit weder ausschließlich an die Kolonisierten und ihre Nachkommen noch die Kolonialmacht selbst, sondern an alle, die es gewohnt sind, zu sprechen und dabei gehört und verstanden zu werden, also die Begünstigten eines „anhaltenden Zustandes der Kolonialität“.120 Diesen Annahmen folgend, gibt es bereits Schriften, die den Begriff Subalternität auf Europa übertragen. Hingewiesen sei zunächst auf einen von Hito Steyerl und Encarnacioìn Gutieìrrez Rodríguez herausgegebenen, vielbeachteten Sammelband. Dieser importiert Spivaks Frage nach dem Sprechen der Subalternen in die deutsche Migrations- und Frauenforschung.121 Nikita Dhawan beschäftigt sich mit der diskursiven Gewalt des Sprechens und Schweigens unterschied-

119 María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Subalterne gibt es nicht, in: malmoe 40, 2008. 120 Nach Claudia Brunner, Gewalt weiter denken in der Kolonialität des Wissens, in: Ziai (Hg.), Postkoloniale Politikwissenschaft, 2016, S. 91–108 (100). 121 Hito Steyerl/Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch?, 2. Aufl. 2012. Sie stellen sich die gleiche Frage, S. 7. Ein weiteres Beispiel der Rezeption aus der Migrationsforschung liefert Stefanie Kaygusuz-Schurmann, Intellektuelle subalterner gesellschaftlicher Gruppen und ihre Perspektive auf Mündigkeit, 2018. Die Kontexte von Subalternität wurden außerdem in den Literaturwissenschaften beispielsweise zur Bewertung des diskursiven Status der Literatur polnisch-britischer Migrant*innen produktiv gemacht: Dirk Uffelmann, Die Mobilisierung subalternen Sprechens, in: Franz/Kunow (Hg.), Kulturelle Mobilitätsforschung, 2011, S. 377–392. Auch hier lautete die dahinterstehende Frage: Wenn Subalterne sprechen – werden ihre Stimmen gehört?

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

licher Denksysteme.122 Auch die Rechtswissenschaft hat Ansätze der Subalternitätsforschung bereits vereinzelt berücksichtigt.123 Die Rezeption in der Rassismusforschung ist hingegen überschaubar: Auf Stuart Hall kann nur indirekt verwiesen werden, da er sich lediglich dem „Rassismus der Subalternen“ zuwandte und der über lange Zeit geteilten Vorstellung widerspricht, Rassismus sei ausschließlich ein Problem der herrschenden Klasse.124 Deutlicher verknüpfend zieht Grada Kilomba die Ausführungen Spivaks zur Analyse des subjektiven Erlebens von Alltagsrassismus heran.125 Rassismus aus dem Blickwinkel der Subalternitätsforschung zu analysieren ist damit bereits der Weg geebnet, obgleich unzureichend theoretisiert. Diesem Umstand sollen die nachfolgenden Ausführungen Abhilfe schaffen.

IV. Begriffsgebrauch dieser Arbeit Mit Spivak verschiebt sich der ursprüngliche Versuch einer Charakterisierung „der Subalternen“ 126 hin zu einer Analyse der Bedingungen der subalternen Subjektivierung. Es vollzieht sich eine strukturelle Wendung. In diesem Sinne lässt sich der Prozess der Subalternisierung in seinem Ergebnis als diskursive Missachtung oder Marginalisierung verstehen. Sprechen setzt immer eine Interaktion der am Gespräch Beteiligten voraus. Im Falle der Subalternisierung bleibt eine solche Bezugnahme aus. Die absente Interaktion kann sich auf unterschiedlichen Ebenen vollziehen: als Dethematisierung, also Vermeidung oder Verdrängung eines Sprechaktes, oder als Verfremdung/Verzerrung einer subalternen Stimme. Die theoretische Verwendung des Subalternitätsbegriffs grenzt sich damit deutlich von dessen bildungssprachlicher Bedeutung ab. Auch die Beschäftigung Gramscis mit der Frage, ob ein vollkommenes Ausgeschlossensein oder jedwede Form gesellschaftlicher Benachteiligung eine Voraussetzung der subalternen Stellung bildet, verliert an Relevanz. Gleiches gilt für die historische Aufarbeitung der Frage, wer zu welchem Zeitpunkt weshalb als subaltern zu bezeichnen ist. Bedeutung gewinnt mit Spivak vielmehr, welche Sprechweisen und Kommunikati-

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Nikita Dhawan, Impossible Speech, 2007, S. 273 ff. Etwa Sonja Buckel/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Hegemonie gepanzert mit Zwang, 2007; Rémi Bachand, Les subalternes et le droit international, 2018. Für eine deutschsprachige Besprechung Felix Würkert, Rémi Bachand: Les subalternes et le droit international, in: AVR 2019, S. 503–506. 124 Stuart Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Das Argument, 178/1989, S. 913–921 (916). Er führt hierzu aus: „Die untergeordneten Klassen neigen weder mehr noch weniger als irgendjemand sonst auf der Welt zum Rassismus.“ 125 Grada Kilomba, Plantation memories, 4. Aufl. 2016, siehe insbesondere das Kapitel „Speaking the Unspeakable. Defining Racism“, S. 40–51. 126 Näher zur Frage, Schwierigkeit und dem Sinn der Charakterisierung der Subalternen: Sarah Bracke, Is the subaltern resilient?, in: Cultural Studies, Vol. 30 5/2016, S. 839–855. 123

A. Sprechen, Hören und Gehörtwerden: zum Konzept der Subalternität

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onsformen eine subalterne Stellung perpetuieren, weil sie der Artikulation eigener Interessen im Wege stehen. Hierbei geht es nicht um fehlende Mittel der Verständigung oder mangelhaft ausgebildete rhetorische Fähigkeiten, sondern um die Frage, welche mehrheitsgesellschaftlichen Strukturen im jeweils konkreten Zusammenhang die Subalternen zum Nichtsprechen verurteilen. Ein derart funktionales Verständnis von Subalternität als Subalternisierung zwingt zu einer Auseinandersetzung mit den exkludierenden Effekten des (eigenen) Sprechens und Hörens – der eigenen Taubheit, dem verstummten Anderen. Es wird angenommen, dass sich der Vorgang der Subalternisierung in seiner politischen Dimension vornehmlich durch ein (unreflektiertes) Diskursverhalten entlang bestehender Machtverhältnisse vollzieht, welches den Dialog abschneidet oder zumindest stark einschränkt. Indem Spivak den Ursprung dieser diskursiven Marginalisierung als ein „Kommunikationsproblem“ der Empfängerseite fasst, gelingt es ihr, dichotomisierende Zuschreibungen und Kodierungen zu hinterfragen, die sich sowohl auf das Sprechen auswirken, aber auch das Hörverhalten prägen. Eine Analyse kann unter diesem Blickwinkel reflektieren, inwiefern die Kommunikationsform des einen den Sprechakt des anderen verunmöglicht sowie wessen Position gestärkt oder geschwächt wird. Damit ist das Sprechen über Andere nicht per se legitim oder illegitim. Eine Bewertung bemisst sich am Willen zum Verständnis der anderen, der sachlichen Schlüssigkeit der Darstellung sowie der Berücksichtigung einer potenziell eigenen Komplizenschaft.127 Die jeweilige Aussage muss sich darauf überprüfen, ob sie etwa verdeckte ideologische und identitäre Bedürfnisse befriedigen soll. Diesen Kriterien folgend wird deutlich, weshalb das Sprechen der Kolonialregierung über das Sati-Ritual als illegitim, Spivaks eigenes aber als legitim gelten soll. Spivak kritisiert die britische Position als selbstinteressiert und von egoistischen Bedürfnissen getrieben; genauer, von dem Bestreben, die eigene Kolonialherrschaft als zivilisierende Mission zum Schutz viktimisierter Frauen zu legitimieren.128 Ein solches Sprechen dient lediglich der Befriedigung eigener Anliegen und führt in seiner Konsequenz zur Ausgrenzung devianter Stimmen. Insofern handelt es sich nicht um einen Sprechakt, welcher daran interessiert ist, in einen Austausch zu treten oder die Position des Gegenübers wahrzunehmen, sondern um eine bloße Spiegelung der eigenen Subjektivität. Infolge der benannten hegemonialen Repräsentationstechniken werden subalterne Positionen dabei nicht als gleichwertiges, nur differentes Bewusstsein wahrgenommen, sondern als inferiore Perspektive untergeordnet. Die Übertragung der Erkenntnisse zur Subalternisierung auf rassifizierende Diskurspraxen hilft jene Ursachen zu verstehen, die rassistisches Wissen stabilisieren. Hinsichtlich der in der Einleitung erwähnten Herausforderung weißer

127 Ausführlich zur Legitimität des Sprechens in Spivaks kritischer Praxis: Floris Biskamp, Orientalismus und demokratische Öffentlichkeit, 2016, S. 195 ff. 128 Ebd.

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

Rassismuskritik ist der gewählte Ansatz besonders interessant: Subalternität als Marker einer bewussten oder unbewussten Verweigerung des Hörens und Verstehens zu deuten, lenkt den Blick hin zur dominierenden Mehrheit. Es ist ihr (Diskurs-)Verhalten, das kritisch gemessen wird, und es sind ihre Vorurteile und Privilegien, die hinterfragt werden. Auf diese Weise wird nicht nur das Problembewusstsein für scheinbar neutrale Repräsentanzen gestärkt, sondern vermeintliche Objektivitäten werden ganz grundsätzlich aufgebrochen. Spivak bietet an, in einen Dialog zu treten, der Vorannahmen durch ein bewusstes Hinsehen, Zuwenden und den Willen zum gegenseitigen Verständnis entkräftet. Ein solches genaueres, gerechteres – subversives – Hörverhalten könnte als Mechanismus der Anerkennung fungieren, indem es das Verstehen und Verstandenwerden fördert. Dass dieses Angebot im Zuge rassifizierender Diskurse (im Recht) bewusst und unbewusst verweigert wird, soll in den nachfolgenden Abschnitten herausgearbeitet werden.

B. Rassismus- und Rassediskurse in Europa: Konstruktion rassifizierter Differenz Bevor die Phänomene Subalternität und Rassismus als miteinander verwoben, einander hervorbringend und stabilisierend betrachtet werden können, möchte ich klären, welches Verständnis von Rassismus dieser Arbeit zugrunde liegt. Die historische Entwicklung des rassistischen Denkens ist zentral, um die Verbindungslinien zum Subalternitätskonzept nachzuvollziehen. Ein „modernes“ Rassismusverständnis, wie ich es hier vertrete, wird immer wieder dafür kritisiert, zu weit und infolgedessen unklar zu sein. Auch diesem Einwand möchte ich begegnen. Uwe Kischel formuliert etwa, rassismuskritische Konzepte hätten „oft mit dem alltagssprachlichen Begriff Rassismus und vor allem mit der verfassungsrechtlichen Terminologie der Benachteiligung oder Bevorzugung wegen der Rasse, ja mit dem Begriff der Rasse selbst so gut wie nichts mehr zu tun“.129

Rassismus verschwimme daher zu einem „konturlosen politischen Kampfbegriff“.130 Diese Kritik legt ihren Finger nur scheinbar in eine terminologische Wunde, zeigt sie doch vielmehr, wie sehr die Reflexion von Rassismus in der Rechtswissenschaft (und darüber hinaus) einer komplexeren Beschäftigung harrt. Der Einwand illustriert Unsicherheiten, die das Sprechen über Rassismus häufig prägen. Der nachfolgende Abschnitt vermittelt insofern Grundlagen, die für eine rechtliche Analyse unabdingbar sind: Was ist „Rassismus“? In welchem Zusam-

129 Hinter dieser terminologischen Verwässerung stehe eine „ideologische Indienstnahme“ des Rassismusbegriffs, um dessen emotionale Besetzung für andere Zwecke abzuschöpfen. Uwe Kischel, Rasse, Rassismus und Grundgesetz, in: AöR 145 (2020), S. 227–263 (229). 130 Ebd.

B. Rassismus- und Rassediskurse in Europa

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menhang steht der Rasse- zum Rassismusbegriff und nach welchen Maßstäben sollte etwas als rassistisch bewertet werden? Diese Fragen wurden im Laufe der Geschichte sehr unterschiedlich beantwortet. Ihre Erörterung bleibt ohne Kenntnis um die historischen Kontinuitäten und Brüche im rassistischen Denken unvollständig. Erst die Entstehungsgeschichte des Rassebegriffs als Ordnungs- und Teilungskategorie macht die strukturelle Wirkweise von Rassismus verständlich. In die unterschiedlichen Konzeptionen von Rassismus ist daher eine knappe Genealogie der europäischen und nordamerikanischen131 Rassediskurse eingeflochten.132 Obgleich das Rasseverständnis mit dem korrespondiert, was unter Rassismus verstanden wird, handelt es sich bei der Kategorie stets um ein rassistisches Produkt, nicht den Ausgangspunkt von Rassismus.133 In Übereinstimmung mit dem überwiegenden Teil des Schrifttums nehme ich an, dass es sich bei Rassismus nicht um ein universales, zeitloses Phänomen handelt, sondern dass die soziale Erscheinung eng mit den spezifischen Bedingungen des Zeitalters der Moderne verwoben ist.134 Das Kapitel endet mit einer zusammenfassenden Arbeitsdefinition von Rassismus.

I. Rassismus als (koloniale) Vernichtungsideologie In seiner brutalsten Form teilt Rassismus Menschen anhand (vermeintlicher) biologischer und kultureller Eigenschaften in unterschiedliche „Rassen“ ein und ordnet die entstehenden Gruppen hierarchisch zueinander. Die entsprechend konstruierte „Rasseordnung“ wird zur Grundlage, Menschen zu vertreiben, zu überwältigen, auszubeuten oder zu ermorden. Ein solcher Vernichtungsrassismus schließt das Zusammenleben der rassisch entworfenen Gruppen aus. Aus diesem

131 Rassekategorien wurden auch außerhalb europäischer und amerikanischer Gesellschaften geprägt, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß, dazu etwa Bettina Beer, Körperkonzepte, interethnische Beziehungen und Rassismustheorien, 2002. 132 Ausführlich zum „Wissen über Rasse“ aus rechtswissenschaftlicher Perspektive Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 52 ff. Zur genealogischen Vertiefung ebenfalls Cengiz Barskanmaz, Rassismus und Recht, 2019, S. 27 ff. 133 Wulf D. Hund, Rassismus, in: Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 3, 2010, S. 2190–2192 (2191): „Als soziale Erscheinung ist Rassismus älter, als Begriff jünger als die Rassen.“ 134 Strittig ist, wann von Rassismus als relevantem Klassifikationsraster für Menschen gesprochen werden kann. Trotz bestehender, ethnischer Ausgrenzungspraktiken lehnt das Schrifttum dies für die Antike und das Mittelalter überwiegend ab, da die damaligen Differenzkonzeptionen kein geschlossenes rassifiziertes System ergaben: m.w. N. Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, 2021, S. 18 ff.; Robert Miles, Rassismus, 4. Aufl. 2014; George M. Fredrickson, Rassismus, 2004, S. 70 ff. Wulf D. Hund, Rassismus, 2015, S. 34 ff. sieht in der antiken Dichotomie zwischen kultiviert/barbarisch eine rassistische Funktion. Ebenfalls: Benjamin Isaac, The Invention of Racism in Classical Antiquity, 2004; Christian Delacampagne, Die Geschichte des Rassismus, 2005, S. 21, 57.

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

Grund kann er auch als „exklusiver Rassismus“ 135 bezeichnet werden. Das zugrundeliegende Rasseverständnis ist typischerweise ein biologistisches: Aus vermeintlichen oder tatsächlichen biologischen Eigenschaften wird auf nichtbiologische Zusammenhänge geschlossen, um das Wesen einer Person und deren Wert zu (er-)klären. Gleichwohl sind für die Rassekonstruktion von Anfang an auch religiöse und kulturelle Differenzen bedeutsam, wie die Geschichte des Begriffs illustriert. Die „rassistische Zeitrechnung“ 136 beginnt am Ende des 15. Jahrhunderts. Zwar formte sich der Rassebegriff sprachlich bereits nach dem 12. Jahrhundert,137 er beschreibt aber zunächst nur adelige Blutlinien sowie Gestüte innerhalb der Pferdezucht. Als menschliche Differenzkategorie wurde er noch nicht genutzt. Im Jahr 1492 fallen zwei historische Entwicklungen im heutigen Spanien zusammen, die für das naturalistische Verständnis von Rasse entscheidend sind: die Ausdehnung des christlichen Herrschaftsgebiets im heutigen Spanien sowie der Beginn des europäischen Imperialismus. Die Iberische Halbinsel wurde seit dem 8. Jahrhundert von den muslimischen Mauren beherrscht. Im Zuge der gewaltvollen, mittelalterlichen Epoche der Reconquista138 eroberten christliche Königreiche das Herrschaftsgebiet zurück. Der Kampf endete im Jahr 1492 mit der Belagerung Granadas, welche die letzten muslimischen Herrscher kapitulieren ließ. Im gleichen Jahr erging das „Alhambra-Edikt“ – ein Erlass, der die verbliebene jüdische Bevölkerung aufforderte, sich christlich taufen zu lassen oder das Land zu verlassen. Dem Erlass folgten Zwangsbekehrungen in großer Zahl. Dieses politische Handeln der christlichen

135 Im Gegensatz zu einem „inklusiven Rassismus“, der nicht eine „Vernichtung“ fordert, sondern von einem Einschluss aktiv rassifizierter Menschen in ein hierarchisches System ausgeht, ohne ihnen gleiche Rechte oder Chancen zu gewähren. Dazu mit Bezug auf Pierre-André Taguieff: George M. Fredrickson, Rassismus, 2004, S. 17. Am Beispiel der „Endlösung“: Immanuel Wallerstein, The Decline of American Power, 2003, S. 78. Robert Miles schlägt nach einer ähnlichen Logik vor, zwischen nach „innen“ und „außen“ gerichteten Rassismen zu differenzieren. Robert Miles, Racism after „Race Relations“, 1993, S. 89. 136 Aladin El-Mafaalani, Wozu Rassismus?, 2. Aufl. 2021, S. 26. 137 Der etymologische Ursprung des Wortes „Rasse“ ist nicht eindeutig geklärt. Überwiegend wird der Begriff zurückgeführt auf das arabische Wort „ras“ für Kopf/Ursprung oder die lateinischen Wörter „ratio“ für Natur/Wesen, „radix“ für Wurzel und „generatio“ für Zeugung. Ausführlich Werner Conze, Rasse, in: Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5 Pro-Soz, 1984, S. 135–178 (137 ff.). Conze begreift den Rassebegriff als biologisch, dies erfährt im Folgenden Widerspruch. 138 Es handelt sich nicht um einen zeitgenössischen Ausdruck, sondern eine nachträgliche Bezeichnung der Geschichtsschreibung, um die Epoche historisch zu konstruieren. Als Beginn der Reconquista gilt die Schlacht von Covadonga im Jahr 722. Bestimmt war die Zeit nicht ausschließlich durch religiöse Feindschaft, sondern auch kulturelle Vielfalt. Näher zur Chronologie und zu Ambivalenzen Nikolaus Jaspert, Die Reconquista, 2019.

B. Rassismus- und Rassediskurse in Europa

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Könige fußte auf der Entwicklung des (früh-)christlichen Universalismus. Zum Zeitpunkt der Reconquista versteht sich das Christentum nicht mehr als eine unter grundsätzlich vielen religiösen Gemeinschaften, sondern als die einzig wahre, universale Religion aller Menschen.139 Während die fehlende Zugehörigkeit zur selbsternannten, dominanten Eigengruppe anfangs noch durch die Taufe „gelöst“ werden kann, ändert sich dies durch das neue christliche Selbstverständnis. Zunehmend werden Nichtgläubige oder „Falschgläubige“ aus der gemeinsamen Menschengruppe ausgeschlossen. Da auf der Iberischen Halbinsel vor allem jüdische und muslimische Traditionen unabhängig vom erzwungenen Glaubensbekenntnis fortleben, begründet sich bei den christlichen Herrschern ein tiefes Misstrauen. Aus der Religionszugehörigkeit kann nicht mehr sicher auf die geforderte christliche Lebensform geschlossen werden.140 Um diese sicherzustellen, tritt an die Stelle der formalen Religionszugehörigkeit die Abstammung als zentrale Kategorie der Zugehörigkeit. Aus der Frage nach der „Reinheit des Glaubens“ entwickelt sich die Frage nach der „Reinheit des Blutes“.141 Diese Verschiebung kennzeichnet den Ursprung des späteren naturalistischen Rassekonzepts und markiert, so George M. Fredrickson, den „Übergang zwischen der religiösen Intoleranz des Mittelalters und dem naturalistischen Rassismus der Neuzeit“.142 Das zweite Ereignis des Jahres 1492 ist im historischen Gedächtnis besser verankert: Christoph Kolumbus überquert im Auftrag der kastilischen Krone den Atlantik und erreicht eine Insel im Karibischen Meer, das Gebiet des heutigen Haitis sowie der Dominikanischen Republik. Er legt mit seiner „Entdeckungsfahrt“ den Grundstein des europäischen Imperialismus und der Kolonialisierung großer Teile der Weltbevölkerung. Nachdem der Rassebegriff anfangs eher eine unspezifische Leerformel darstellte, die beliebig mit körperlichen, kulturellen, geographischen oder historischen Aspekten ausgeschmückt wurde, erlangt die Diskussion über menschliche Unterschiede zügig eine neue Qualität. Als im 16./ 17. Jahrhundert das Rassekonzept vom Tier- und Pflanzenreich auf den Menschen übertragen war,143 bildet sich im Jahrhundert der Aufklärung die „Rasse“ – neben Geschlecht und Klasse144 – als dominierendes Ordnungsprinzip heraus. Von 139

Ausführlich Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, 2021, S. 27, 29 ff. Ebd., S. 35 ff. 141 Die Eigenschaft „converso“ (konvertiert) wurde vererbt. Um als vollwertiger Christ zu gelten, musste die „christliche Herkunft“ bis in die dritte Generation der Vorfahren nachgewiesen werden. Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 55. 142 George M. Fredrickson, Rassismus, 2004, S. 45. 143 Als Konstrukteur gilt Carl von Linné mit seinem „Systema Naturae“ und gleichnamigen Werk aus dem Jahr 1735. 144 Von Beginn an waren die Kategorien intersektional verbunden. Dies illustriert beispielsweise die Voraussetzung von Privateigentum, um als zivilisiert zu gelten, was wiederum an das männliche Geschlecht geknüpft war. Siehe Cornelia Klinger u. a. (Hg.), Achsen der Ungleichheit, 2007. 140

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

einem aufklärerischen Zeitgeist angetrieben, sollten menschliche Differenzen „rational“ ergründet und nicht mehr als religiös vorgegeben hingenommen werden. Gleichzeitig erforderten die Widersprüche zwischen den universellen Idealen der Menschenrechte und einer politischen Praxis von Ausbeutung und Versklavung neue Rechtfertigungsnarrative.145 Diese fand man in der Rassentheorie: Das zunehmend ausdifferenzierte Rassekonzept etabliert eine starr hierarchische, globale Gesellschaftsordnung, an deren Spitze sich die „weißen Europäer“ platzierten.146 Mit der Rassentheorie verbunden waren Fortschrittstheorien, die eine „Entwicklung“ vom primitiven Naturzustand der kolonialisierten Länder bis zum „kulturellen Höhenflug“ der europäischen Zivilisation vorsahen. Diese sollten das politische Handeln erklären und legitimieren. Die Expansions- und Ausrottungspraktiken begründeten sich jedoch nicht von Beginn an durch rassistische Überlegenheitskonzepte. Es gehört vielmehr zu den zentralen Merkmalen des neuzeitlichen Rassismus, dass sich Praxis und Ideologie gegenseitig hervorbringen.147 Die europäische Expansion ist demgemäß keine unmittelbare Folge eines vorab existenten europäischen Rassismus. Trotz allem gehört die koloniale Expansion zu den wichtigsten, langfristigen Bedingungen, die einen modernen Rassismus möglich machten. Erst im 19. Jahrhundert erfuhren die gewalttätigen Praktiken gegen außereuropäische Völker eine dezidiert rassistische Begründung, in der Phase des Hochimperialismus wurde der Rassismus selbst zum Motiv kolonialer Unterdrückung.148 Die biowissenschaftliche Forschung begleitete und popularisierte das Rassekonzept dabei fortwährend. Im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts verdichteten sich die Forschungsansätze zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, die in England bereits im Jahre 1883 von Francis Galton unter dem Namen „Eugenik“ (von „eugenes“, griechisch für „wohlgeboren“) konzipiert wurde.149 Die Eugenik strebte nach einer „kontrollierten Rasseerzeugung“, um eine Reproduktion gewünschter Merkmale zu fördern und ungewollte Eigenschaften zu verhindern.150 Das Vorgehen illustriert die biopolitische Kernlogik des modernen Rassismus: die Bekämpfung und Beseitigung des Anderen als zeitgleiche Stär-

145 Birgit Rommelspacher beschreibt Rassismus daher als „Legitimationslegende“: Birgit Rommelspacher, Was ist eigentlich Rassismus?, in: Melter/Mecheril (Hg.), Rassismuskritik, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, S. 25–38 (26). Ausführlich auch: Susan Arndt, Impressionen, in: dies. (Hg.), AfrikaBilder, 2006, S. 9–45 (26). 146 Zygmunt Baumann, Dialektik der Ordnung, 2002, S. 81. 147 Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, 2021, S. 42. 148 Ebd., S. 60. 149 Zum biowissenschaftlichen Rassismus und der Eugenik Christian Koller, Rassismus, 2009, S. 41 ff. 150 In diesem Zusammenhang spricht Koller auch von „positiver“ und „negativer“ Eugenik: ebd., S. 45.

B. Rassismus- und Rassediskurse in Europa

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kung des Eigenen. Es entsteht ein globaler Rassenkampf, der mit dem Nationalsozialismus einen weiteren grausamen Hochpunkt erreicht.151 Ein Verständnis von Rassismus als Logik der Vernichtung entspricht folglich einer jahrhundertelangen europäischen Praxis. Als theoretische Konzeption rassialisierter Differenz ist das Konzept deshalb untauglich, da es die essentialistische Logik der tatsächlichen Existenz unterschiedlicher, biologischer Menschenrassen bestätigt. Für diese gibt es keine wissenschaftliche Grundlage.152 Die Konzeption ist ebenfalls unfähig, transformierte Erscheinungsformen von Rassismus zu integrieren, da sie verknüpft ist mit extremen Formen der Gewalt, die bestimmten Menschengruppen das Menschsein absprechen. Verengt sich die Erfassung von Rassismus auf solche Extremformen, können Erfahrungen jenseits der Eskalation einer Vernichtung nicht sinnvoll benannt werden. Im Vergleich erscheint jede Erfahrung von Ungleichheit als Bagatelle. Rassistische Praktiken haben sich angepasst und sind nicht mehr zwingend auf eine biologistische Begründung angewiesen. Eine Definition von Rassismus muss in der Lage sein zu erfassen, dass sowohl die koloniale und faschistische Vernichtungsideologie als auch das biologistische Rassekonzept nur Varianten des rassistischen Systems sind. Gleichsam bilden sie dessen Grundlagen und sind als prägende Referenzen zu berücksichtigen.

II. Rassismus als sozialpsychologisches Bewusstseinsphänomen Weder die biowissenschaftliche „Rassenforschung“ noch eine rassistische Weltsicht als Grundlage der Staatsordnung endeten mit der Kapitulation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg.153 Dies verdeutlicht etwa die Rhetorik des Kalten Krieges, die biologistisch-rassistischen Systeme der südafrikanischen Apartheid oder die US-amerikanische Segregationspolitik. Gleichwohl fand mit dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland der globale Rassenkrieg ein Ende. Auch die Vorstellung dessen, was unter Rassismus und Rasse zu verstehen ist, veränderte sich: Unterschiede zwischen Menschen wurden zwar noch immer an

151 Im deutschsprachigen Raum ist die Herausbildung des rassistischen Ordnungssystems eng verbunden mit den völkischen Konstruktionen der Nation, die vor allem Sinti und Roma und die slawische Bevölkerung aus der Volksgemeinschaft ausschlossen. Näher: Wolfgang Wippermann, Das Blutrecht der Blutsnation, in: Baumann u. a. (Hg.), 1999, S. 10–48 (25). 152 Neueste Forschungen definieren Rassen nach der Häufigkeit, mit der bestimmte Genkombinationen vorkommen. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass die Unterschiede innerhalb einer als genetisch gleich definierten Gruppe genauso groß sind wie zwischen zwei als verschieden definierten Gruppen. M. w. N. Christian Schüller, Rasse Mensch, 1999. 153 Zu Kontinuitäten und Brüchen Tino Plümecke, Rasse in der Ära der Genetik, 2013, S. 93 ff. Zum biowissenschaftlichen Rassediskurs nach 1945 Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 95 ff.

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

vermeintlich körperliche Eigenschaften geknüpft, gegen Ende des 20. Jahrhunderts aber vermehrt auch in der Sprache, den sozialen Gewohnheiten, der Familie, den Verhaltensweisen oder dem Wertesystem von Personen – mithin ihrem sozialen Wesen – gesucht. Religiöse Zuschreibungen blieben ebenfalls dominant. Hall spricht in diesem Zusammenhang von einem „kulturellen Rassismus“, einem Rassismus ohne Rassen.154 Étienne Balibar benennt das Phänomen als „Neo-Rassismus“.155 Dieser leite die Ära eines „Postrassismus“ 156 ein, in der „genealogische Mythen“ wie Rasse, Volk, Nation oder Kultur weniger wichtig werden. Nach Balibar werden diese zunehmend durch „Bewertungen intellektueller Fähigkeiten“ sowie die „Disposition“ zu einem „normalen“ Leben und zu einer „optimalen“ Reproduktion abgelöst.157 Theodor W. Adorno deutete die diskursive Verschiebung bereits im Jahr 1955 als „subtilen Mechanismus der Anpassung der Rassentheorie an die veränderte politische Lage“ an.158 Dabei trete „das vornehme Wort Kultur [. . .] anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“.159 Deutlich wird, dass ein verändertes Rasseverständnis die Definition von Rassismus beeinflussen muss, um mit der Beschreibung des Phänomens sich verändernde Ungleichheitsdimensionen erfassen zu können. Auch die Rolle der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Rassismus wandelt sich. Die Forschung beginnt allmählich eine kritische Haltung einzunehmen, statt das Rassekonzept natur- und geisteswissenschaftlich auszubauen. Die Vorurteilsforschung160 arbeitet die psychologischen Gründe heraus, die Menschen zu der fehlerhaften Annahme bringen, Menschen gehörten unterschiedlich begabten „Rassen“ an. Rassismus wird als sozialpsychologisches Bewusstseinsphänomen161 gefasst und in seiner Funktion, die er für die moderne Gesellschaft

154 Oder „kulturalistischer Rassismus“: Stuart Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Das Argument 178/1989, S. 913–921 (913, 917). 155 Vgl. Étienne Balibar, Is there a „Neo-Racism“, in: ders./Wallerstein (Hg.), Race, Nation, Class, 1991, S. 21–34. 156 Unter postrassischen/postrassistischen Diskursen wird Unterschiedliches verhandelt. Zur Klärung Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 133 f. 157 Étienne Balibar, Is there a „Neo-Racism“, in: ders./Wallerstein (Hg.), Race, Nation, Class, 1991, S. 21–34 (31). 158 Vgl. mit Nachdruck: Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr, in: Tiedemann (Hg.), Soziologische Schriften II, 1975, S. 121–324 (276). 159 Ebd. 160 Für eine umfassende systematische und chronologische Aufarbeitung der Vorurteilsforschung von deren Anfängen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts: Andreas Zick, Vorurteile und Rassismus, 1997. Kürzer, ebenfalls erhellend: Karin Scherschel, Rassismus als flexible symbolische Ressource, 2006, S. 15 ff. 161 Zu Rassismus aus sozialpsychologischer Perspektive: Andreas Zick, Vorurteile und Rassismus, 1997; Klaus Weber, Blinde Flecken, 2003, S. 161 ff.

B. Rassismus- und Rassediskurse in Europa

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und ihre Subjekte erfüllt, untersucht.162 Rassistische Vorurteile gehen nach diesem Ansatz vornehmlich auf die Tendenz benachteiligter Individuen zurück, andere für ihre als solche erlebte Ungerechtigkeitslage verantwortlich zu machen. Die Forschung differenziert in diesem Sinne näher zwischen Prozess- und Charakteranalysen.163 Prozessanalysen untersuchen individuelle Merkmale in psychischen Verarbeitungsprozessen, die für die Genese eines Vorurteils164 relevant sind. Charakteranalysen nehmen an, dass vor allem bestimmte „Persönlichkeitstypen“ von Vorurteilen beeinflusst sind. Diskursprägend waren die Studien zum autoritären Charakter der Forschungsgruppe um Adorno.165 Es etablierten sich außerdem modellhafte Erklärungsansätze wie die Sündenbocktheorie,166 die Frustrations-Aggressions-These167 oder die Deprivationsthese.168 Stets werden im Rassismus gesellschaftliche Problemstellungen, Herausforderungen, eigene unterdrückte Sehnsüchte oder Triebe verarbeitet, indem diese auf andere projiziert und an diesen abgestraft werden.169 Die als ursächlich angenommenen inneren und äußeren Konflikte sind entsprechend vielfältig.170 Stets soll eine rassistische Ideologie Selbstwert erzeugen, indem sie die eigene Person ab- und Andere ausgrenzt. Im Wege der Abgrenzung wird das Bedürfnis nach Identität und Gemeinschaftlichkeit befriedigt. Dies entlastet sich das Individuum, weil mit der ausgeschlossenen Gruppe auch alle negativen menschlichen Eigenschaften externalisiert werden können. Als Rassismuskritik kritisiert die Vorurteilsforschung Subjekte für deren Irrationalität und fordert ein rationale(re)s Verhältnis zu ihrer Umwelt ein. An dieser theoretischen Konzeption von Rassismus erweist sich vorteilhaft, dass sie ohne einen biologistischen Rassebegriff auskommt und in der Lage ist, transformierte Formen von Rassismus zu erfassen. Jedoch ist die 162 Floris Biskamp, Rassismus, Kultur und Rationalität, in: Peripherie 2017, S. 271– 296 (272). 163 Friedrich Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, 1992, S. 131. 164 Grundlegend zur Genese und Natur von Vorurteilen: Gordon W. Allport, The Nature of Prejudice, 1954. 165 Theodor W. Adorno u. a., The Authoritarian Personality, 1950. 166 Lewis A. Coser, Social Conflict and the Theory of Social Change, in: The British Journal of Sociology, Vol. 8 3/1957, S. 197–207. 167 Diese geht davon aus, dass das Auftreten von Aggression immer die Existenz einer Frustration voraussetzt. Umgekehrt führt die Existenz einer Frustration immer zu irgendeiner Form von Aggression. Siehe John Dollard u. a., Frustration and Aggression, 1939. 168 Dieser folgend können Situationen der Konkurrenz, Benachteiligung und knappe Ressourcen zu Rassismus führen. Das Konzept basiert auf: Samuel Stouffer, The American Soldier, 1949. Erläuternd: Andreas Zick, Vorurteile und Rassismus, 1997. 169 Zur Übersicht: Karin Scherschel, Rassismus als flexible symbolische Ressource, 2006, S. 17 ff. 170 Während sich manche Ansätze auf Widersprüche und überfordernde Anforderungen der kapitalistischen Marktlogik beziehen, knüpfen andere an koloniale und postkoloniale Herrschaftsverhältnisse an. Grundlegend Franz Fanon, Peau noire, masques blancs (deutsch: Schwarze Haut, weiße Masken), 1952; ders., Les damnés de la terre (deutsch: Die Verdammten dieser Erde), 1961.

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

Vorurteilsforschung, und das ist ihre entscheidende Schwäche, nicht fähig, gesellschaftliche Machtrelationen zu berücksichtigen.171 Der Ansatz ist stark individualistisch geprägt und verkürzt seine Analyse auf subjektive Bewusstseinsprozesse. Wie es dazu kommt, dass nur bestimmte Menschen als „Fremde“ wahrgenommen werden, ist mit der Vorurteilsforschung kaum zu erklären. Die vermittelte Logik des Fremden und Nichtfremden wird in den psychologischen Erklärungsmodellen vielmehr als Grundlage übernommen und verfestigt. Im Bestreben, diese konzeptionelle Schwachstelle zu überwinden, bezieht sich die moderne Vorurteilsforschung vor allem seit den 1980er Jahren verstärkt auf „soziale Vorurteile“, die in Gruppenprozessen (sog. Ingroup/Outgroup-Prozessen) gebildet werden.172 Gefragt wird nun nicht mehr nach einzelnen, subjektiven Faktoren, sondern nach kollektiven Prozessen der Differenzierung, die vorurteilsbehaftete Annahmen begründen. Nichtsdestotrotz verbleibt als Ausgangspunkt dieser neueren Ansätze häufig das Individuum. Zudem lösen auch die modernen Strömungen ein zentrales Problem der Vorurteilsforschung nicht auf: Indem angenommen wird, Vorurteile seien unangemessene, wirklichkeitsfremde Abbildungen eines Objekts,173 werden diese erst dann zum Problem, wenn ihr Resultat dieses Objekt nicht adäquat abbildet, die Vorurteile also übertrieben oder falsch sind. Diese Behauptung setzt notwendigerweise eine Kenntnis des richtigen Urteils voraus. Rassismuskritik verbleibt damit Ideologiekritik. Auch Ideologien haben stets einen affirmativen Bezug zur Wirklichkeit. Rassismus jedoch ist weder an „Tatsachen“ noch an bestimmte, eindeutig „wahre“ Erfahrungen gebunden. Es handelt sich vielmehr um die Folge einer wirkmächtigen sozialen Konstruktion. Rassismus ist daher kein Problem unmoralischer, soziokulturell „schwacher“ oder psychologisch problembehafteter Menschen, sondern eine überindividuelle Deutungs- und Unterscheidungspraxis.

III. Rassismus als strukturelles Macht- bzw. Dominanzverhältnis Erst wenn die bestehende rassifizierte Differenz nicht mehr ausgehend von Individuen, sondern als kollektives, soziales Herrschaftsverhältnis gedacht wird, 171 „Rassismus ist nicht einfach ein Vorurteil, ein Gefühl, eine böse Absicht. Besser lässt sich Rassismus als ein ungleichgewichtiger Konflikt zwischen gesellschaftlichen Gruppen bezeichnen.“ Anja Weiß, Antirassistisches Engagement und strukturelle Dominanz, in: Castro Varela/Schulze/Vogelmann/Weiß (Hg.), Suchbewegungen, 1998, S. 275–285 (278). Die Kritik pointiert zusammenfassend: Floris Biskamp, Rassismus, Kultur und Rationalität, in: Peripherie 2017, S. 271–296 (280). 172 Grundlegend wiederum: Gordon W. Allport, The Nature of Prejudice, 1954. Die Ingroup/Outgroup-Forschung prägten Henri Tajel und seine Forschungsgruppe bereits in den 1970ern. Grundlegend etwa Henri Tajel, Experiments in intergroup Discrimination, in: Scientific American, 223/1970, S. 96–102; ders., The social Psychology of Minorities, Minority Rights Group London, Report Nr. 83, 1978. 173 Karin Scherschel, Rassismus als flexible symbolische Ressource, 2006, S. 29 f.

B. Rassismus- und Rassediskurse in Europa

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das als Struktur fortbesteht, kann Rassismuskritik zu Machtkritik werden.174 Auf diesem Wege lassen sich Verteilungsfragen und Machtrelationen adressieren, die aus dem einstig starren rassistischen Ordnungssystem folgen. Eine solche strukturelle Perspektive nehmen diskursanalytische und ideologiekritische Ansätze innerhalb der Rassismusforschung etwa seit den 1980er Jahren ein.175 Robert Miles prägte die Auseinandersetzung, indem er Rassismus als ideologisches System verstand.176 Hall deutete die rassialisierte Differenz als fortwährende „soziale Praxis“ und etablierte damit das diskursanalytische Verständnis von Rassismus.177 Die Kategorie178 „Rasse“ wurde infolgedessen konstruktivistisch gefasst und verstanden als Platzhalter für diskursiv vermittelte Eigenschaften. Die Konzeption korrespondiert mit einem spezifischen Diskursverständnis, das sich etwa zur gleichen Zeit entwickelt. Der Terminus Diskurs steht nicht mehr nur synonym für Debatte oder Aushandlung, sondern bezeichnet ein Formationssystem von Aussagen, das auf kollektive, handlungsleitende Wissensbestände verweist.179 Wenn „Rasse“ diskursanalytisch untersucht wird, ist demnach nicht nach der Wahrheit der „rassischen“ Annahme gefragt, sondern vielmehr danach, wie sich diese als geteilter Sinnzusammenhang konstruiert und welche Konsequenzen diese Konstruktion nach sich zieht. Mit der Subalternitätsforschung wurde bereits deutlich, dass der Diskurs von einem Ein- und Ausschlussmechanismus geprägt ist. Diskurse üben gleichsam selbst Macht aus, da sie Applikationsvorgaben für individuelles und kollektiv-gesellschaftliches Handeln herausbilden und diese in ein geteiltes Bewusstsein hineintransportieren. Sie sind Träger von Bedeutungszuschreibungen und stabilisieren spezifische Sinnordnungen. Rassistische Vorbehalte sind nach diesem Verständnis keine einzelnen Aussagen, keine isolierten falschen Urteile, sondern Teil eines gesellschaftlich geteilten Be174

Rassismus wird wahlweise als Ideologie, Diskurs, Dispositiv, Apparat oder Ressource konzipiert. Mit näheren Erläuterungen und Nachweisen Cengiz Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 20 ff. 175 Überblicksartig zu den Ansätzen und ihren Unterschieden Karin Scherschel, Rassismus als flexible symbolische Ressource, 2006, S. 15 ff., 31 ff. 176 Robert Miles, Rassismus, 4. Aufl. 2014, S. 93 ff. 177 Stuart Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Das Argument 178/1989, S. 913–921. Siehe auch Siegfried Jäger/Margarete Jäger, Das Dispositiv des institutionellen Rassismus, in: Demirovic´ /Bojadzˇijev (Hg.), Konjunkturen des Rassismus, 2002, S. 212–224. 178 Im Anschluss an die überzeugende Intervention von Anna Katharina Mangold wähle ich statt „Merkmal“ das Wort „Kategorie“, um sprachlich zu verdeutlichen, dass es nicht um eine Charakterisierung von Personen geht, sondern auf die Konstruktionsleistung aufmerksam gemacht wird. Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 305. 179 Wie gesellschaftliches Wissen auf den Diskurs einwirkt, beschreibt van Dijk mit dem Begriff der sozialen Kognition, die als Schnittstelle zu verstehen ist. Wissen ist demnach nur eines der Systeme, das Wahrheiten im Diskurs vermittelt (ebenfalls: Ideologien, Normen, Werte . . .). Teun A. van Dijk , The Discourse-Knowledge Interface, in: Weiss/Wodak (Hg.), Critical Discourse Analysis, 2003, S. 85–109.

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

deutungssystems.180 Ein rassistischer Diskurs hat den Effekt, die hierarchischen Verhältnisse zwischen den rassialisierten Gruppen weiter aufrechtzuerhalten. 181 Rassismus konstituiert demnach ein Dominanzverhältnis, das bestimmte Gruppen bei der Verteilung von Ressourcen benachteiligt und andere privilegiert. Die Differenz zwischen den Gruppen ist dabei nicht dem Diskurs vorgelagert, sondern wird in diesem und durch diesen erst erzeugt. Für die Analyse von Rassismus resultiert aus dieser theoretischen Erfassung eine wichtige Verschiebung: Die Frage, ob die rassifizierte Annahme über eine Person richtig oder falsch ist, verliert an Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr, ob sich das Gesagte in eine bestehende „Differenzkonstruktion mit marginalisierenden Effekten“ 182 einschreibt. Als eine solch rassistische Wirkung beschreibt Birgit Rommelspacher die Homogenisierung, Essentialisierung, Polarisierung, Naturalisierung oder Hierarchisierung rassialisierter Menschen.183 Sie deutet damit bereits auf die verschiedenen Schritte des Rassifizierungsprozesses, also der diskursiven Konstruktion der Kategorie „Rasse“ hin.184

IV. Eine Arbeitsdefinition von Rassismus Die Soziologin Philomena Essed verdichtet das bis hierhin Gesagte mit ihrer Definition von Rassismus. Nach Essed ist Rassismus „eine Ideologie, eine Struktur, ein Prozess, mittels derer bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige ,Rassen‘ oder ethnische Gruppen angesehen werden. In der Folge dienen diese Unterschiede als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden.“ 185

Weder Rassismus noch Rasse sind natürliche Kategorien oder anthropologische Konstanten. Es handelt sich vielmehr um historisch gewachsene Projekte, die über mehrere Jahrhunderte vom Klerus, der Krone, den europäischen Kolonialmächten, verschiedenen Wissenschaften und der Politik geformt wurden und sich voraussichtlich auch in der Zukunft stetig transformieren werden. Rassialisierte Zusammenhänge sind tief verankert in kollektiven Wissensbeständen sowie

180 Dazu Siegfried Jäger, Rassismus und Rechtsextremismus in der Sprache, in: Arndt (Hg.), AfrikaBilder, 2006, S. 80–94 (81 ff.). 181 Margaret Wetherell/Jonathan Potter, Mapping the language of racism, 1992. 182 Floris Biskamp, Rassismus, Kultur und Rationalität, in: Peripherie 2017, S. 271– 296 (28). 183 Birgit Rommelspacher, Was ist eigentlich Rassismus?, in: Melter/Mecheril (Hg.), Rassismuskritik, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, S. 25–38 (29). 184 Hierzu ausführlich in Kapitel 1, C. II., ab S. 84. 185 Philomena Essed, Multikulturalismus und kultureller Rassismus, in: iMiR (Hg.), Rassismus und Migration in Europa 1992, S. 373–387 (375).

C. Subalternität aus rassismuskritischer Perspektive

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sozialen und ökonomischen Strukturen. Während das Rassekonzept früher als rechtlich verbrieftes Ordnungssystem diente, wirkt es heute indirekt als gesellschaftliches Strukturierungsprinzip. Dies erschwert, trotz der enorm großen Wirkmächtigkeit rassifizierter Differenzen, seine konkrete Erscheinung zu benennen. Da sich Rassismus als Phänomen räumlich und zeitlich stark unterscheidet, müsste sinnvollerweise von unterschiedlichen Rassismen186 statt von dem Rassismus gesprochen werden. Jedenfalls ist unerlässlich, rassistische Phänomene kontext- und bereichsspezifisch zu betrachten und plural zu denken.187 Auch eine intersektionale188 Lesart ist erforderlich. Nur sekundär für das Phänomen Rassismus ist die Intention, mit der eine Person handelt. Wegen der überragenden strukturellen Bedeutung von Rassismus für die Ordnung dieser Welt reicht es, um antirassistisch zu sein, nicht aus, rassische Diskriminierung zu unterlassen. Notwendig ist eine sensible Auseinandersetzung mit den dargestellten Kontinuitäten des rassistischen Denkens. Eine solche war nicht immer möglich und ist fortwährenden Widerständen ausgesetzt. Hier knüpft das Konzept der Subalternität an, mit dessen Hilfe ich begründen möchte, weshalb rassifizierten Diskursinhalten und damit Personen eine subalterne Position zukommen kann.

C. Subalternität aus rassismuskritischer Perspektive Dieser Abschnitt überträgt die Suche nach subalternen, diskursiven Marginalisierungsverhältnissen auf das Phänomen Rassismus. Gleichzeitig werden die analytischen Kategorien fundiert, welche in der empirischen Rechtsprechungsanalyse zur Anwendung kommen.189 Ich orientiere mich dabei an den beiden Erscheinungsformen von Subalternität, die im ersten Teil des Kapitels näher ausgeführt wurden: einem überhörenden sowie verzerrenden Diskursverhalten. Beide Formen des Subalternisierungsprozesses haben zur Folge, dass ein Diskursbeitrag nicht oder nur eingeschränkt wahrgenommen werden kann. Um die Analyse der deutschen Rechtsprechung vorzubereiten, frage ich, inwiefern das Diskursfeld Rassismus in Deutschland von einer exkludierenden, kommunikativen Rezeption geprägt ist. In diesem Sinne untersucht Teil C. unterschiedliche Strategien der Vermeidung im Sprechen über Rassismus als erstgenannte Form der Subalternisierung. Ich möchte ermitteln, inwiefern Rassismus als strukturelles Ordnungsprinzip gesellschaftlich anerkannt oder negiert, verstanden oder verharmlost, kommuniziert oder verdrängt wird. Eine Dethematisierung von Rassismus würde 186 Stuart Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Das Argument 178/1989, S. 913–921. 187 Zur Pluralisierung des Rassismusbegriffs Cengiz Barskanmaz, Rassismus und Recht, 2019, S. 67–118. 188 Intersektionalität beschreibt das Zusammenwirken mehrerer Diskriminierungskategorien. Dazu in Kapitel 2, C. IV. 1., ab S. 132. 189 Kapitel 3, ab S. 137.

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

dazu führen, dass rassifizierte Stimmen in einem Teil ihrer Wirklichkeit nicht anerkannt und insofern überhört werden. Anschließend erörtere ich den Rassifizierungsprozess, welchen ich als entfremdendes Hörverhalten in der Rezeption eines Sprechakts verstehe. Die subalterne Wendung der diskursiven Konstruktion von Rasse verdeutlicht, durch welche Teilschritte sich ein rassistischer Diskursausschluss vollzieht.

I. Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung In der Einleitung habe ich darauf verwiesen, dass in Deutschland ein Gespräch über Rassismus begonnen hat. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war eine breite Auseinandersetzung mit rassistischen Ungleichheitsstrukturen nicht nur schwierig, sondern beinahe unmöglich. Unterschiedlich gelagerte Abwehrmechanismen verhinderten eine vertiefte Debatte. Diese wirken bis in die gegenwärtige Debatte hinein. Sie werden virulent in den unterschiedlichen Vermeidungsdiskursen um Rassismus, die für die letzten Dekaden jeweils anderen Prämissen folgen. Die teilweise hartnäckige Dethematisierung von Rassismus kennzeichnet den Kampf um gesellschaftliche Deutungshoheiten und zeigt bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse im diskursiven Feld an. Subalternität markiert in diesem Zusammenhang jene Narrationen, die lange nicht erzählt wurden und auch heute seltener berücksichtigt werden. In der Frage nach den Besonderheiten der Vermeidungsdiskurse und ihren Folgen orientiere ich mich an den genealogisch zentralen Aspekten der diskursiven Konstruktion von Rasse und Rassismus: der Aufarbeitung des Kolonialismus und des Nationalsozialismus sowie der Auseinandersetzung mit Rassismus seit der Wiedervereinigung. Die nachfolgende Ausführung ist bemüht, auf bestehende Unterschiede für West- und Ostdeutschland einzugehen. Innerdeutsche Differenzen erfahren gleichsam keine detaillierte Beachtung, da diese auch in der judiziellen Analyse nicht im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen. Mit der Erörterung verbunden ist die Frage, ob der deutsche Diskurs eine Sonderrolle im Sprechen über Rassismus einnimmt. 1. „Nicht so wichtig!“: kolonialrassistische Wissensbestände Der erste subalterne Vermeidungsdiskurs betrifft die Rolle Deutschlands als Kolonialmacht.190 In der öffentlichen Wahrnehmung etablierte sich der Befund, dass es einen spezifisch deutschen Kolonialrassismus deshalb nicht gebe, weil die deutsche Kolonialherrschaft im Vergleich zu anderen europäischen National190 Die unterschiedlichen Ebenen der postkolonialen Verfasstheit Deutschlands werden im Folgenden nur angerissen. Sie sind nicht im Detail, sondern als Teil einer Geschichte der diskursiven Abwehr relevant.

C. Subalternität aus rassismuskritischer Perspektive

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staaten von vernachlässigbarem Ausmaß gewesen sei. Sowohl eine politische als auch eine wissenschaftliche Debatte über Kontinuitäten des kolonialrassistischen Rechts- und Gesellschaftssystems erscheinen in der Folge entbehrlich. Dieser Vorstellung konnte nur allmählich und erst in den letzten Jahren wirksam widersprochen werden. Für die Ausformung des Rassekonzepts sind die kolonialen Ideen, wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, noch immer zentral. Die verdrängten Wissensbestände wirken daher besonders stark.191 Tatsächlich wurde das Deutsche Kaiserreich vergleichsweise spät kolonialpolitisch aktiv. Nachdem Otto von Bismarck noch im Jahre 1881 versicherte, Deutschland werde keine eigene Kolonialpolitik betreiben,192 besetzte das Deutsche Reich im Laufe desselben Jahrzehnts die ersten afrikanischen Gebiete. Bald wurde es zum drittgrößten Kolonialreich nach Großbritannien und Frankreich.193 Die Brutalität der kolonialen Praktiken stand dabei den anderen Imperialmächten in nichts nach. Im Gegenteil: Der Völkermord des Deutschen Reiches an den Herero und Nama von 1904 bis 1908 im heutigen Namibia sowie der sog. MajiMaji-Aufstand im heutigen Tansania zählen zu den gewalttätigsten, europäischen Kolonialkriegen. Das langwährende Desinteresse der deutschen Öffentlichkeit am Kolonialismus entspricht ebenfalls nicht seiner zeithistorischen Diskursstellung. Im Deutschen Reich wurde sowohl bevor als auch nachdem die koloniale Besatzung durch den Versailler Vertrag im Jahr 1919 formal beendet war, intensiv über die Kolonialpolitik diskutiert.194 Von Beginn an dominierten dabei diskursverzerrende, revisionistische Argumente die Debatte. So wurde etwa propagandistisch auf die angeblich gute Behandlung der kolonialen Bevölkerung verwiesen und die Kolonialpolitik medienwirksam romantisiert. Völkerschauen und andere exotisierende Unterhaltungsformate popularisierten die kolonialrassistische Rassenlogik und ermöglichten den Zuschauenden ein Gefühl der persönlichen Überlegenheit in kosmopolitischem Gewand.195 Der globale Süden wurde als unzivilisiert, barbarisch und rückständig entworfen. Diese und weitere abwertende, entmenschlichende Zuschreibungen stiegen zu geteilten Wissensbeständen auf. Infolgedessen verfes191 Ausführlich zum Postkolonialismus im deutschen Kontext Cengiz Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 70 ff. 192 In einer Debatte mit dem Reichstagsabgeordneten Graf Frankenberg, zitiert nach Winfried Baumgart, Bismarcks Kolonialpolitik, in: Kunisch (Hg.), Bismarck und seine Zeit, 1992, S. 141–154 (142). 193 Ausführlich: Deutsche Kolonialgeschichte, APuZ 40–42/2019 mit Beiträgen von Caroline Authaler, Ulrike Schaper, Rebekka Habermas, Jürgen Zimmerer, Sebastian Conrad, Albert Gouaffo/Richard Tsogang Fossi sowie Marianne Bechhaus-Gerst. 194 Susan Arndt, Impressionen, in: dies. (Hg.), AfrikaBilder, 2006, S. 9–45; Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche, 2001; Kien Nghi Ha, Macht(t)raum(a) Berlin, in: Eggers u. a. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte, 4. Aufl. 2017, S. 105–117. 195 Näher zur Popularisierung des Weißseins am Beispiel der „Kolonialwaren“ und „Völkerschauen“: Wulf D. Hund, Wie die Deutschen weiß wurden, 2017, S. 97 ff.

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

tigte sich die kolonialrassistische Ideologie epistemisch und blieb auch politisch als Fundament der Außen- und Wirtschaftspolitik wirkmächtig.196 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien das Interesse an der kolonialen Historie von der Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland überlagert zu sein. Die deutsche Rechtswissenschaft zögert bis heute, die verwobene Geschichte des Rechts mit dem Kolonialrassismus aufzudröseln.197 Dabei trug das Recht genauso wie seine wissenschaftliche Reflexion wesentlich dazu bei, das koloniale System zu fundieren. Die Historie rassistischen Rechts beginnt zwar nicht mit dem Kolonialismus, das koloniale Rechtssystem etablierte jedoch rassialisierte Strukturen, die zum Teil bis in die Gegenwart fortwirken.198 Das Recht basiert in seiner heutigen Gestalt sowohl philosophisch als auch theoretisch auf europäischen Konzepten. Abweichende Vorstellungen von Recht und dem gesellschaftlichen Zusammenleben löschte der Kolonialismus gewaltsam aus. Hierzu trug auch das zur damaligen Zeit entwickelte Völkerrecht bei, welches die vielgestaltige Ausbeutung der Kolonien legimitierte und rassistische sowie patriarchale Grundannahmen rechtsförmig festschrieb.199 Das „Gesetz über die Rechtsverhältnisse in den deutschen Kolonien“ 200 vom 17. April 1886 – später Schutzgebietsgesetz (SchGG) – stattete den Deutschen Kaiser mit einer umfassenden „Schutzgewalt“ in den deutschen Kolonien aus, welche als Verordnungsrecht an die dortigen Gouverneure delegiert werden konnte (§ 15 SchGG). Der einheimischen Bevölkerung kam eine Sonderstellung zu: Als „Eingeborene“ i. S. d. § 4 SchGG waren 196 Zu kolonialkritischen Stimmen Caroline Authaler, Das völkerrechtliche Ende des deutschen Kolonialreichs, in: Deutsche Kolonialgeschichte, APuZ 40–42/2019, S. 4–10 (7). 197 Freilich bestehen produktive Ausnahmen. M. w. N. etwa Sebastian Conrad, Regimes der Segregation, in: Rechtsgeschichte 4 (2004), S. 187–204; Cengiz Barskanmaz, Rassismus, Postkolonialismus und Recht, in: KJ 2008, S. 296–302; Forum Recht, Import/Export, Schwerpunktheft 3/2011; Felix Hanschmann, Die Suspendierung des Konstitutionalismus im Herzen der Finsternis, in: KJ 2012, S. 144–162; Philipp Dann/Felix Hanschmann, Postkoloniale Theorien, Recht und Rechtswissenschaft, in: KJ 2012, S. 127–130; Maximilian Pichl, Die Verrechtlichung der Welt, in: KJ 2012, S. 131–143; Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021. 198 Ausführlich und m.w. N. Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 150–203; Felix Hanschmann, Die Suspendierung des Konstitutionalismus im Herzen der Finsternis, in: KJ 2012, S. 144–162 (159). 199 Siehe dazu ausführlich die Beiträge im Sammelband von Karina Theurer/Wolfgang Kaleck (Hg.), Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, 2020. Auf internationaler Ebene vereint die Forschungsströmung „TWAIL“ (Third World Approaches to International Law) kritische Forschungsbeiträge, die sich vor allem mit den kolonialen Grundlagen des Völkerrechts auseinandersetzen. Es bestehen Verflechtungen mit der CRT (Critical Race Theory). Überblicksartig: Makau Mutua, What is TWAIL?, in: American Society of International Law, Vol. 94 2000, S. 31–40. 200 RGBl. S. 75. Die endgültige Außerkraftsetzung erfolgte erst mit dem Gesetz über die Auflösung, Abwicklung und Löschung von Kolonialgesellschaften v. 20.8.1975 (BGBl. 1975 I Nr. 100, S. 2253).

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die Menschen zwar der deutschen Souveränität unterworfen, jedoch keine Reichsangehörigen im formalen oder materiellen Sinne. Die Bürgerrechte des Kaiserreichs galten für sie nicht, weshalb die damalige Rechtsordnung als „dual“ beschrieben wird. Die rassistisch definierten Identitätskategorien des Rechts, neben dem Begriff der „Eingeborenen“ etwa auch „Farbige“ oder „Mischlinge“,201 werden im juridischen Diskurs zum Teil bis heute gebraucht.202 Auch alltagssprachlich finden sie noch immer Verwendung und verweisen auf den diskursiven Einfluss kolonialrassistischer Wissensbestände. Rechtpolitisch war vor allem die Debatte um das Verbot der sog. „Rassenmischehen“ im deutschen Kaiserreich wirkmächtig.203 Das Gesetz sollte den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit für Kinder aus „gemischten“ Ehen verhindern.204 Dieses Anliegen bestimmte später auch die Einführung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes (RuStAG) von 1914. Letztlich blieb für die Weitergabe der deutschen Staatsangehörigkeit diejenige Staatsangehörigkeit des Vaters, also des Mannes, maßgeblich. Ein solches System macht patriarchale Familientraditionen rechtsförmig. Im Nationalsozialismus wurde die rassistische Rasseneinteilung zum Einbürgerungshindernis.205 Das Abstammungsprinzip des ius sanguinis (Recht des Blutes) verknüpft das Deutschsein mit Weißsein.206 Es galt in Deutschland bis ins Jahr 2000 als alleiniges Modell zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Seither findet auch das ius soli-Prinzip (Recht des Bodens bzw. Geburtsprinzip) im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht Anwendung.207 Noch immer wirkt ein dahinterliegender nationaler Selbstentwurf, der Weißsein mit Deutschsein verknüpft und die Vorstellung Deutschlands als „weiße Nation“ prägt, in die Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden hinein. Indem diese und weitere kolonialrassistische Zusammenhänge erst mit großer Verzögerung öffentlich und nur allmählich in der Rechtswissenschaft Beachtung finden, fehlt es an wichtigen Grundlagen, die Konstrukte Rasse und Rassismus kritisch zu hinterfragen. Innerhalb der Recht-

201

Etwa § 2 S. 1 KaisVO v. 9.1.1900, RGBl. S. 1005. Ausführlich in Kapitel 2, C. III., ab S. 125. 203 Der Sammelband Frank Becker (Hg.), Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung, 2004, behandelt ausführlich, wie am Beispiel der Rassenmischehen biologisch fundierte Rassekonzepte im deutschen Diskurs gefestigt wurden. 204 Diese sollten, nach Vorstellung der Kolonialmacht, „die Reihen der Europäer gegen das Eindringen farbigen Blutes“ schützen. Hans Tecklenburg, „Schreiben an die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes“, zitiert nach Cornelia Essner, „Borderline“ im Menschenblut und Struktur rassistischer Rechtsspaltung, in: Brumlik u. a. (Hg.), Gesetzliches Unrecht, 2005, S. 27–64 (31). 205 Ausführlich Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 172–176. 206 M. w. N. Cengiz Barskanmaz, Rassismus, Postkolonialismus und Recht, in: KJ 2008, S. 296–302 (299). 207 Vgl. Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts v. 15.7.1999 (BGBl. 1999 I Nr. 38, S. 1618). 202

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sprechungsanalyse wird untersucht, inwiefern dieser Umstand zu Einbußen der Kompetenz führt, rassifizierte Sachverhalte zu prüfen. 2. „Zum Glück vorbei!“: nationalsozialistische Kontinuitäten Während des Nationalsozialismus wurde ein duales Rechtssystem, das auf einer rassialisierten Spaltung der Rechtsgeltung basiert, zur Grundlage der gesamten deutschen Rechtsordnung.208 Die Vereinigung sämtlicher Machtpositionen des Staates in der Führerfigur Adolf Hitlers ergänzte das rechtliche Verbrechensregime. Die Verfolgung und Vernichtung jüdischen Lebens sowie anderer sog. „Feinde des Reiches“ fand weit überwiegend gesetzesförmig statt.209 Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 trat die faschistische Rechtsordnung außer Kraft.210 Anders als dem Kolonialismus wird dem Nationalsozialismus eine „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung“ 211 nicht nur für das Grundgesetz, sondern für die deutsche Geschichte und Gesellschaft insgesamt zugeschrieben. Die Kapitulation ist vom Mythos der „Stunde Null“ 212 umgeben, welcher sich bis heute auf den Rassismusdiskurs auswirkt. Hinter diesem Narrativ steht die Vorstellung, das Ende des historischen Nationalsozialismus habe einen radikalen Bruch und voraussetzungsfreien Neuanfang der deutschen Gesellschaft ermöglicht. Selbstredend fand tatsächlich ein radikaler Wechsel im politischen und rechtlichen System sowie im gesellschaftlichen Miteinander statt. Die Verabschiedung des Grundgesetzes löste die Rassekategorie als jeden Bereich der Gesellschaft determinierende Kategorie ab. Unmittelbare Diskriminierungen auf208 Zur Einführung Diemut Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems, 1987; Bernd Rüthers, Entartetes Recht, 1989; Gerhard Werle, Das Gesetz ist Wille und Plan des Führers, in: NJW 1995, S. 1267–1269. Zu Unterschieden zwischen den kolonialrassistischen und antisemitischen Rassenkonzepten kurz Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 464 f. 209 Die Rechtsgrundlage bildeten die „Nürnberger Rassengesetze“: Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, Reichsbürgergesetz v. 15.9.1935, RGBl. I 1935, S. 1146. Zur Kontinuität zwischen nationalsozialistischen und kolonialen Rassenpraktiken: Volker Langbehn/Mohammed Salama (Hg.), German Colonialism, 2011. 210 Die Rechtslage Deutschlands nach 1945 war umstritten. Es wurden Untergangsund Fortbestandstheorien in unterschiedlichen Ausprägungen vertreten. Einen Überblick gibt die sechsteilige Aufsatzreihe von Bernhard Diestelkamp, Rechts- und verfassungspolitische Probleme zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: JuS 1980, S. 401–405, S. 481–485, S. 790–796; JuS 1981, S. 96–102, S. 409–413, S. 488–494. 211 BVerfGE 124, 300 (328) – Wunsiedel (2009). 212 Zur „Stunde Null“ als historischer Metapher: Martin Sabrow, Die „Stunde Null“ als Zeiterfahrung, in: APuZ 4–5/70 2020, S. 31–46. Auch Sabrow formuliert als eine zentrale Wirkung des Stunde-Null-Mythos die „Vergangenheitslöschung“, S. 35. Außerdem: Manfred J. Foerster, Bildungsbürger, Nationaler Mythos und Untertan, 2009, S. 301 ff.

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grund der „Rasse“ waren nunmehr verboten. Doch die rassistische Ideologie besteht jenseits der rechtsförmigen Diskriminierung sowohl institutionell als auch normativ fort. Die weitgehend vollständige Übernahme der politischen und juristischen Eliten überführte große Teile des alten Wertesystems in die neue Staatsform.213 Das Eingeständnis der Existenz von Rassismus hätte dem positiven Selbstbild der jungen deutschen Demokratie widersprochen und musste negiert oder zumindest relativiert werden, um jenes aufrechterhalten zu können.214 Für den Rassismusdiskurs begründeten die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges ein „postwar taboo“ 215 gegenüber dem Wort Rasse. Die Übermacht des Rassekonzepts in der nationalsozialistischen Ideologie verunmöglichte es, den Begriff als kritisches Konzept zu verwenden. Aus diesem Grund verlagerte sich die Debatte auf den Begriff der Ethnizität,216 welcher bis heute gebraucht wird.217 Der beschriebene antifaschistische Gründungsmythos wirkte in der DDR noch stärker. Der sozialistische Staat erklärte Rassismus zu einer „systembedingte[n] Begleiterscheinung der imperialistischen Herrschaft“ 218 und daher im Sozialismus in seinen „sozialen Wurzeln [. . .] ausgemerzt“.219 Rassismus galt als Phänomen des kapitalistischen Westens. Tatsächlich blieben im Alltag der DDR rassistische Einstellungen weiterhin präsent. Auch hier hätte eine öffentliche Auseinandersetzung die Inszenierung der solidarischen Gemeinschaft gestört und blieb daher

213 Überblicksartig m.w. N. Joachim Perels, Die Übernahme der Beamtenschaft des Hitler-Regimes, in: KJ 2004, S. 186–193. Mit Fokus auf die „halbherzige Entnazifizierung“ aufgrund „machtpolitischer Rücksichtnahmen“ der NS-Justiz: Günter Frankenberg, Die NS-Justiz vor den Gerichten der Bundesrepublik, in: KJ 1987, S. 88–95 (88 ff.). 214 Birgit Rommelspacher , Was ist eigentlich Rassismus?, in: Melter/Mecheril (Hg.), Rassismuskritik, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, S. 25–38 (34). 215 Rita Chin/Heide Fehrenbach, What’s Race Got to Do With it? Postwar German History in Context, in: dies./Eley/Grossmann (Hg.), After the Nazi Racial State, 2009, S. 1–29 (2). Von einem „Tabu“ um den Begriff des Rassismus spricht auch Heinz Müller, Antirassistische Pädagogik, in: Bernhard/Rothermel (Hg.), Handbuch Kritische Pädagogik, 1997, S. 357–370 (361). 216 Bereits im Jahr 1952 entschied die UNESCO den Begriff „Rasse“ durch die „weniger gefühlsbeladene und (in der Umgangssprache) genauere Bezeichnung ethnische Gruppe zu ersetzen“. UNESCO, The Race Concept. Results of an Inquiry, SS.53/ II.9/A, 1952, S. 7. 217 An die Tabuisierung des Rassebegriffs schließt sich eine noch immer andauernde Diskussion um die Verwendung des Rassebegriffs als rechtliche Kategorie an. Die Frage ist innerhalb der kritischen Rechtswissenschaft stark umstritten und wurde zuletzt hinsichtlich der Frage nach einer Streichung und Ersetzung des Rassebegriffs aus dem Grundgesetz geführt. Für Nachweise zur Debatte siehe Einleitung, Fn. 11. 218 Zitiert nach Alfred Babing (Hg.), Gegen Rassismus, Apartheid und Kolonialismus, 1983, S. 45. 219 Zitiert nach Peter Przybylski, Zwischen Galgen und Amnestie, 1979, S. 152. Ausführlich zum Recht gegen Rassismus in der DDR: Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 310 ff. Ebenfalls Anna-Christin Ransiek, Rassismus in Deutschland, 2018, S. 114 ff.

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weitgehend dethematisiert.220 Rassismus war damit sowohl nach ost- als auch nach westdeutschem Verständnis lediglich eine Episode der deutschen Geschichte, die mit 1945 endete. Die Weiterführung rassistischer Denktraditionen lässt sich besonders deutlich anhand der stigmatisierenden Behandlung sog. „Besatzungskinder“ zeigen, die aus Verhältnissen afroamerikanischer Besatzungssoldaten und weißer, deutscher Frauen hervorgingen.221 Die Mütter der Schwarzen Kinder wurden als „N****flittchen“, „Amihure“ oder „gefallenes Mädchen“ diffamiert; sie zogen als vermeintliches Zeichen der deutschen Kriegsniederlage Hass und Spott auf sich.222 Die „andersartigen“ „Mischlingskinder“ wurden auch zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beschäftigung223 und polarisierten durch ihre bloße Existenz. In einer Bundestagsdebatte bezeichnete die CDU-Abgeordnete Luise Rehling, die „N****mischlinge“ etwa als „menschliches und rassisches Problem besonderer Art“.224 Den Kindern seien „schon allein die klimatischen Bedingungen in unserem Land nicht gemäß“. Rehling erwog daher, „ob es nicht besser für sie [die Kinder] sei, wenn man sie in das Heimatland ihrer Väter verbrächte“.225 Die rassistische Dimension ihrer Aussage erkennt Rehling nicht, begreift sie die Debatte doch vielmehr als „Gelegenheit, einen Teil der Schuld abzutragen, die der Nationalsozialismus durch seinen Rassendünkel auf das deutsche Volk geladen hat“.226 Als Problemlösung bemühte man sich, die Kinder in sog. „Heimen für Mischlingskinder“ oder Adoptionsfamilien im Ausland unterzubringen. Die Vorstellung einer gelingenden Integration lag zunächst fern. Eine solche, begleitet von einer abgekühlten Debatte, begann erst in den 1960er Jahren, als die Alliierten zu politischen Freunden geworden waren. Die Kontinuität der kolonialen und nationalsozialistischen Rasselogik wurde freilich nicht erkannt. Die studentische 1968er-Bewegung brach das Schweigen der Nachkriegszeit auf und rückte sowohl politische als auch personale Kontinuitäten im Staatsapparat sowie im Denken der Bevölkerung in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine 220 Zum Rassismus in der DDR: Henry Waibel, Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED, 2014. 221 May Ayim, Die afro-deutsche Minderheit, in: Arndt (Hg.), AfrikaBilder, 2006, S. 46–56 (50 f.). 222 Yara-Colette Lemke Muniz de Faria, Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, 2002, S. 21 ff. 223 Zu den afrodeutschen Kindern als Studienobjekte der weitergeführten rassenanthropologischen Forschung: Yara-Colette Lemke Muniz de Faria, Zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, 2002, S. 48 ff. 224 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 1. Legislaturperiode, Bd. 10, 198. Sitzung am 12.3.1952, Punkt 10 der Tagesordnung, S. 8506 ff. (8507). 225 Ebd. 226 Ebd. Mit diesem Verweis endete die Rede der Abgeordneten, welcher laut Bericht „lebhafter Beifall“ folgte.

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Auseinandersetzung mit Rassismus als strukturellem Alltagsphänomen erfuhr jedoch nicht die gleiche Breitenwirkung.227 Trotz der um die Herstellung von Gleichheit bemühten Proteste wurde Rassismus weiterhin als Ausnahmeerscheinung in politischen Randgruppen begriffen, die mit der „gesellschaftlichen Mitte“ nichts zu tun hat. Da der Rassismusbegriff aus diesem Grund delegitimiert erschien, etablierten sich Analysen neuerer Formen rechtsextremer politischer Gruppierungen. Rassismus wurde dabei mit der Ideologie des historischen Nationalsozialismus und Rechtsextremismus gleichgesetzt.228 Individuelles Verhalten oder die politische Praxis als Rassismus zu identifizieren, wirkte nach 1945 hingegen „unangebracht und unpassend“.229 Nicht der rassistische Vorfall war der Skandal, sondern die Verwendung des verpönten Begriffs. Diesem Abwehrmechanismus der Skandalisierung kommt dabei noch eine zweite Dimension zu: Gerieten rassistische Vorfälle doch in die öffentliche Debatte – unter anderer Benennung –, wurde sich so stark echauffiert, dass damit die Botschaft einherging, es handele sich nicht um eine Alltagserscheinung, sondern einen krassen Ausnahmefall.230 Das rassistische Verhalten wurde am Einzelfall sanktioniert und blieb als strukturelle Erscheinung unbenannt. 3. „Wir sind (k)ein Einwanderungsland!“: verdrängte Realitäten Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beförderte der deutsche Diskurs keine eigenständige antirassistische Theoriebildung. Infolge der starken Orientierung Westdeutschlands an den USA nach der Blockbildung des Kalten Krieges glich sich die Debatte immer stärker der angloamerikanischen Beschäftigung mit Rassismus an. Diese war aufgrund der historischen Erfahrungen der USA vor allem schwarz/weiß orientiert, sodass anderen Dimensionen der rassialisierten Differenz noch weniger Beachtung zukam. Durch den Blick auf die USA konnte Rassismus gleichzeitig als Problem außerhalb Deutschlands verortet und für hiesige Zusammenhänge als nicht übertragbar klassifiziert werden. Es eta227 Zu bestehenden Allianzen der afroamerikanischen Black Panther Party und der deutschen 1968er-Bewegung: Pablo Schmelzer, „Black and white, unite and fight“, 2021. 228 Dies gilt nach Heinz Müller für die bundesdeutsche Diskussion bis in die 1980er Jahre: Heinz Müller, Antirassistische Pädagogik, in: Bernhard/Rothermel (Hg.), Handbuch Kritische Pädagogik, 1997, S. 357–370 (357). Astrid Messerschmidt, Distanzierungsmuster, in: Broden/Mecherli (Hg.), Rassismus bildet, 2010, S. 41–58 (45 ff.). Außerdem dies., Rassismusanalyse in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft, in: Melter/Mecheril (Hg.), Rassismuskritik, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, S. 59–74. 229 Die Skandalisierung ist neben der Kulturalisierung, der Gleichsetzung mit dem Rechtsextremismus und dem Nationalsozialismus eine von vier Distanzierungsmustern, die Astrid Messerschmidt herausarbeitet. Astrid Messerschmidt, Distanzierungsmuster, in: Broden/Mecherli (Hg.), Rassismus bildet, 2010, S. 41–58 (42 ff.). 230 In Anlehnung an Astrid Messerschmidt: Aladin El-Mafaalani, Wozu Rassismus?, 2021, S. 122.

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blierte sich zwar zunehmend eine moralische Abwertung rassistischer Einstellungen. Im Vergleich zur amerikanischen „Rassentrennung“ und den damit verbundenen Protesten sowie anhaltenden Konflikten war das, was sich in Deutschland ereignete, jedoch nicht rassistisch. Diese Logik entspricht einer Vermeidungsstrategie der Externalisierung, welche noch heute als Reaktion auf Rassismuskritik beobachtet werden kann.231 Den innerdeutschen Diskurs bestimmte die Diskussion um die „Gastarbeitsmigration“ sowie die Migrationsbewegungen ost- und südosteuropäischer Geflüchteter und Asylsuchender in den 1990er Jahren. Die Bundesrepublik Deutschland schloss ab dem Jahr 1955 verschiedene „Anwerbeabkommen“, um Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen.232 Bereits die fehlgehende Bezeichnung als „Gastarbeit“ verdeutlicht die Intention, die von deutscher Seite mit der Migration verbunden war. Die Menschen sollten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, den Wiederaufbau vorantreiben und alsbald in ihre Heimatländer zurückreisen. Da eine große Zahl der Menschen im Laufe der Jahre Deutschland als ihre neue Heimat betrachtete und einen dauerhaften Aufenthalt beabsichtigte, veränderte sich in den 1970er Jahren deren öffentliche Wahrnehmung. Eine ablehnende Haltung begann sich zu konstituieren. Statt um eine dauerhafte soziale Eingliederung der Gastarbeiter*innen bemüht zu sein, wurden die angeworbenen Menschen gesetzlich zur Rückkehr ermutigt.233 Im Zuge der immer feindlicher werdenden Haltung etablierten sich die Begriffe „Ausländer-“ und „Fremdenfeindlichkeit“ sowie „Xenophobie“, um die rassistischen Abwertungs- und Ausgrenzungspraktiken zu beschreiben.234 Die Begriffe stehen paradigmatisch für die Logik einer rassialisierten Differenz, indem sie die Nichtzugehörigkeit der Betroffenen zum nationalen Kollektiv sprachlich bestätigen.235 Zur Beschreibung von Rassismus sind sie untauglich, da weder die Diskriminierung inländischer, rassifizierter Personen noch Unterschiede des Betroffenseins erfasst werden können, die zwischen verschiedenen Ausländern im statusrechtlichen Sinne bestehen (beispielsweise zwischen Geflüchteten und weißen Tourist*innen).236 Die Termini setzen dichotome Einheiten von „Deutschen“ und „Ande231 Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Hg.), Rassistische Realitäten, 2022, insbesondere S. 80 ff. 232 Zu den Anwerbepartnern gehörten Italien (1955), Spanien (1960), Griechenland (1960), die Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und das ehemalige Jugoslawien (1965). 233 Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern v. 28.11.1983 (BGBl. 1983 I Nr. 48, S. 1377); Gesetz über eine Wiedereingliederungshilfe im Wohnungsbau für rückkehrende Ausländer v. 18.2.1986 (BGBl. 1986 I, S. 280). 234 Zur politischen Dimension der Begriffsverwendung Annita Kalpaka/Nora Räthzel, Wirkweisen von Rassismus und Ethnozentrismus, in: dies. (Hg.), Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, 2. Aufl. 1990, S. 12–17. 235 Ausführlich Cengiz Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 121. 236 Mona Singer, Fremd. Bestimmung, 1997, S. 52.

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ren“ voraus und blenden aus, dass diese vermeintlichen Gruppen in Wahrheit sozial konstruiert sind. Darüber hinaus verstellen sie – infolge des Wortteils „Feindlichkeit“ – den Blick darauf, dass es sich bei Rassismen gerade nicht um individuelle feindselige Vorurteile handelt. Zu den Arbeitsmigrant*innen kamen in den 1980er und 1990er Jahren geflüchtete Menschen und Asylbewerbende, die medial als Bedrohung stilisiert wurden. Rassistische Anschläge von rechtsextremen Gruppen brachten zahlreiche Todesopfer mit sich und alltagsrassistische Anfeindungen polarisierten die öffentliche Debatte. Terminologisch blieb Rassismus öffentlich vermieden. Als wissenschaftliche Analysekategorie begann sich der Begriff hingegen langsam zu etablieren. Diese Entwicklung trieb eine zunehmend internationalisierte Forschung voran, welche die Begriffe „race“ und „racism“ selbstverständlicher gebraucht. Eine solche Tendenz lässt sich für Deutschland erst seit einigen Jahren und mit bestimmten Einschränkungen beobachten, wie der nächste Abschnitt zeigt. 4. Diskursive Öffnungen der letzten Jahre In die gesellschaftliche Verhandlung rassistischer Diskriminierungserfahrungen hinein wirkten über viele Jahrzehnte individuelle und kollektive Schuldgefühle, Abwehrmechanismen und vielfältige Verständigungsbarrieren. Dieser Befund hat sich zumindest teilweise verändert. Sowohl in politischen, institutionellen als auch sonstigen gesellschaftlichen Sphären ist insgesamt eine erhöhte Sensibilität im Umgang mit rassifizierten Ungleichheitsstrukturen zu beobachten. Vor allem junge Menschen zeigen eine besonders hohe Bereitschaft, sich gegen Rassismus in der Gesellschaft zu engagieren.237 Im Bearbeitungszeitraum dieser Untersuchung veränderte sich die Auseinandersetzung mit Rassismus (auch im Recht) spürbar. Die diskursive Wendung wurde im Jahr 2010 eingeleitet von der sog. „Sarrazin-Debatte“. Der SPD-Politiker Thilo Sarrazin verbreitete in zahlreichen Interviews und seinem bekannten Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ vor allem islamrassistische Thesen, die zu einem polarisierten integrationspolitischen Streit führten.238 Im Jahr 2011 kamen die Morde der Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) ans Licht und mit ihr die enormen rechtsstaatlichen Verfehlungen innerhalb der Ermitt-

237 Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Hg.), Rassistische Realitäten, 2022, S. 93 ff. 238 Das Buch vertritt die These, ein Geburtenrückgang innerhalb der „deutschen Gesellschaft“, eine wachsende migrantische Unterschicht und die Zuwanderung aus muslimischen Ländern hätten negative Auswirkungen auf Deutschland. Eine umfangreiche empirische Gegendarstellung wies die Einseitigkeit der empirischen Befunde Sarrazins nach: Naika Foroutan (Hg.), Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand, 2010.

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lungsarbeit.239 Die behördlichen Ermittlungen fokussierten die Opfer selbst als Tatpersonen und vermuteten sog. „Milieutaten“. Dass die Attentate medial mit dem Schlagwort „Döner-Morde“ bezeichnet wurden, verstärkte diese Annahme. In Richtung eines rassistischen und/oder rechtsextremen Tatmotivs wurde trotz zahlreicher Hinweise nicht ermittelt. Auch der Aufstieg der Organisation PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) sowie der Alternative für Deutschland (AfD) nach der Humanitätskrise im Jahr 2015 hätten nahegelegt, die rassistischen Narrative innerhalb deren politischer Programmatik zu thematisieren. Es kam jedoch zu keiner nachhaltigen Debatte. Eine diskursive Öffnung begann erst mit dem Jahr 2018. Dem Rücktritt Mesut Özils aus der Fußballnationalmannschaft240 folgte eine wochenlange Debatte um Rassismus im Fußball. Die rassismuskritische Intervention #MeTwo gründete sich in Anlehnung an die feministische MeToo-Bewegung und machte Rassismuserfahrungen von Betroffenen im Alltag sichtbar. Die Ereignisse begründeten einen Mobilisierungsschub und ließen migrantische (Mehrfach-)Zugehörigkeiten wahrnehmbar werden. Wie dringlich eine Auseinandersetzung mit Rassismus ist, verdeutlichten in dramatischer Weise wenig später der rechtsextreme Mord an dem Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sowie die rassistischen Anschläge von Halle im Jahr 2019 und Hanau etwa vier Monate später.241 Die Gewalttaten zeigten durch ihre Brutalität die Grenzen der bestehenden Begriffe auf. Mit dem Tod George Floyds und der Black-Lives-Matter-Bewegung im Jahr 2020 gelang es der Rassismusdebatte breitenwirksam zu werden.242 Durch den Einsatz schwarzer Menschen und People of Color243 erhöhte sich der 239 Mit der NSU-Mordserie sind insgesamt neun rassistisch motivierte Morde in den Jahren 2000–2006 verbunden. Acht der Opfer waren türkeistämmig, eines griechisch. Ausführlich zu den rechtsstaatlichen Verfehlungen Maximilian Pichl, Der NSU-Mord in Kassel, in: KJ 2015, S. 275–287. Zum NSU-Komplex insgesamt ders., Von Aufklärung keine Spur: 20 Jahre NSU-Komplex, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2018, S. 111–120. 240 Dem Rücktritt ging eine Debatte um Özils Demokratieverständnis voraus, die sich aus mehreren Fotos mit dem türkischen Staatschef Erdogan ableitete. Özil veröffentlichte mit seinem Rücktritt insgesamt drei Statements auf Twitter, in denen er Rassismus im Sport und mangelnden Rückhalt durch den Deutschen Fußballbund (DFB) beklagte. 241 Der Anschlag von Hanau wurde verhandelt unter dem Schlagwort „ShishaMorde“. In dieser Benennung, wie auch dem Sprechen über die NSU-Morde als „Döner-Morde“, zeigt sich ein essentialistisches Framing. 242 Neben dem Mitschnitt der Tötung und der digitalen Verbreitung des Videos können als Gründe ebenso die Strahlkraft der USA und die polarisierende Wirkung des damals amtierenden Präsidenten Trump genannt werden, der sich gewohnt bizarr zu den Protesten äußerte. 243 Der Begriff „People of Color“ hat sich auch im deutschsprachigen Diskurs zur Bezeichnung durchgesetzt von „rassifizierten Menschen, die in unterschiedlichen Anteilen über afrikanische, asiatische, lateinamerikanische, arabische, jüdische, indigene oder pazifische Herkünfte oder Hintergründe verfügen.“ Der Begriff umfasst „diejenigen, die durch die weiße Dominanzkultur marginalisiert sowie durch die Gewalt

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gesellschaftliche Druck, rassistische Benachteiligungsstrukturen und rassifizierte Wissensbestände aufzubrechen. Auch die akademische Theoriebildung nimmt seither zu. Trotz der grundsätzlichen Steigerung der rassismuskritischen Professionalität244, sinkt das gesamtgesellschaftliche Diskursniveau ab. Während lange vornehmlich Inhalts- und Erfahrungsexpert*innen über das Thema Rassismus stritten, reden nun breitere Teile der Gesellschaft mit. Erkenntnisse, die in Fachdiskursen bereits etabliert sind, müssen neu verhandelt werden.245 Rassismus beginnt sich als Analysekategorie für gegenwärtige gesellschaftliche Verhältnisse zu etablieren und findet terminologisch zunehmend Akzeptanz. Die beschriebenen Mechanismen der Abwehr und Verharmlosung sind nicht mehr so dominant, dass sie eine Auseinandersetzung unterdrücken könnten. Gleichsam sind sie nicht überwunden. Dies gilt insbesondere für den Rechtsdiskurs. Da die juristische Disziplin ein strukturell konservatives Fach ist, erreichen Debatten diese typischerweise mit einer gewissen Verzögerung. Die weitere Untersuchung wird ebenfalls zeigen, dass die bloße Akzeptanz des Rassismusbegriffs, ohne Verankerung des Wissens um die Historie rassifizierter Differenz, die Debatte nicht substanziell voranbringt. Der Begriff läuft Gefahr zu einem „Buzzword“ zu werden, das einer terminologischen Simplifizierung anheimfällt und einen theoretischen Reflexionsstopp begründet. Gleichzeitig besteht die altbekannte Gefahr, Rassismus durch die hohe Medienpräsenz in den letzten Jahren für überwunden zu halten. Die diskursive Entwicklung ist nicht als Fortschrittsgeschichte auf dem Weg zu einer postrassistischen Gesellschaft zu deuten. Ein solcher Eindruck könnte entstehen, da bisher vor allem die Öffnungsschritte der letzten Jahre nachgezeichnet wurden. Zu einem vollständigen Bild der Modifikationen im Sprechen über Rassismus gehört es gleichsam, auf den zunehmenden antimuslimischen Rassismus nach den Terroranschlägen des 11. September 2002 hinzuweisen. Donald Trump wurde nicht trotz, sondern wegen seiner rassistischen Wahlkampfparolen und als Vertreter der Ideologie einer weißen Vorherrschaft (white supremacy) zum 45. Präsidenten der USA gewählt.246 In zahlreichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Rechte und Rechtsextreme auf dem politischen Vormarsch. Mit kolonialer Tradierungen und Präsenzen kollektiv abgewertet werden.“ Kien Nghi Ha, „People of Color“ als Diversity-Ansatz in der antirassistischen Selbstbenennungs- und Identitätspolitik, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Heimatkunde, 2009. Häufig wird die Abkürzung „PoC“ ergänzt um die Buchstaben „B“ und „I“ („BIPoC“), die für „Black“ und „Indigenous“, also Schwarze und Indigene, stehen. 244 Paul Mecheril, Einführung in die Migrationspädagogik, 2004, S. 176 ff. 245 Aladin El-Mafaalani, Wozu Rassismus?, 2021, S. 136 f. 246 Nicht zufällig trat Donald Trump politisch durch die Debatte um die Geburtsurkunde von Barack Obama in Erscheinung. Die breitenwirksam anknüpfbaren „Zweifel“ an dessen wahren Geburtstort verdeutlichen die rassistische Irritation, die ein schwarzer US-amerikanischer Präsident auslöst. Ausführlich Ta-Nehisi Coates, The First White President, in: The Atlantic, Oktober 2017. Zum „postracial paradox“ am Beispiel der

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

der AfD ist auch in Deutschland eine Partei in den Bundestag eingezogen, die vom Deutschen Institut für Menschenrechte als „rassistisch und rechtsextrem“ beurteilt wird.247 Im Netz ist eine zunehmende Aggressivität vor allem gegenüber rassifizierten Frauen und ein Anstieg digitaler Gewalt zu beobachten.248 Nicht zuletzt entzündeten sich auch innerhalb der Auseinandersetzung mit den Coronamaßnahmen und im Zuge der Impfkritik rassistische, überwiegend antisemitische Narrative.249 Die Auseinandersetzung mit rassifizierten Differenzen ist eine fortwährende Aufgabe, die immer wieder auf unterschiedlichen Analyseebenen stattzufinden hat. Dazu muss ein Rassismusbegriff etabliert werden, welcher die spezifischen historischen Zusammenhänge und gegenwärtigen Umstände begreift. Erst wenn die Geschichte multiperspektiv und kontrovers verhandelt wird, werden die Beteiligten zu Sprechenden und Handelnden. Die Tendenz, Erkenntnisse etwa aus der US-amerikanischen Debatte entweder vollständig zurückzuweisen oder so zu tun, als seien rassistische Strukturen, beispielsweise hinsichtlich der Geschichte und des Arbeitsalltags der Polizei, exakt die gleichen, ist nicht zielführend. Solche Vereinfachungen überlagern die tatsächliche Problemstellung. Um die deutschen Zusammenhänge zu begreifen, ist eine eigenständige Auseinandersetzung mit den konkreten rassistischen Phänomenen erforderlich, die an internationale Analysen anschließt.

II. Prozess der Rassifizierung als Subalternisierung Als soziales Herrschaftsverhältnis vermittelt sich Rassismus über gesamtgesellschaftliche sprachliche Aushandlungsprozesse. In diesem kommunikativen Prozess wird die Vorstellung vermeintlich unterschiedlicher menschlicher Rassen und deren vorgeblicher Eigenschaften produziert. Jedoch bleibt der Prozess der Rassifizierung für Menschen, die nicht nachteilig von Rassismus betroffen sind, häufig unsichtbar.250 Welche diskursiven Schritte erzeugen und stabilisieren die Wahl Obamas zum Präsidenten ebenfalls: David T. Goldstein, Are we all postracial yet?, 2015, S. 1 ff. 247 Hendrik Cremer, Nicht auf dem Boden des Grundgesetzes, hg. v. DIMR, 2021. Zur AfD, Pegida und den Neuen Rechten siehe den Sammelband v. Helmut Kellerhohn/ Wolfgang Kastrup (Hg.), Kulturkampf von rechts, 2016. 248 Regina Frey, Geschlecht und Gewalt im digitalen Raum, 2020, S. 11. 249 Dies bestätigt eine Studie des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e. V. (Bundesverband RIAS) i.A. des American Jewish Committee Berlin Ramer Institute Deutschland: Antisemitische Verschwörungsmythen in Zeiten der Coronapandemie, 2012, abrufbar unter: https://ajcgermany.org/de/kommentar/pres semitteilung-das-american-jewish-committee-berlin-veroeffentlicht-die-untersuchung. Ebenfalls zur Impfkritik: Mathias Berek, Impfgegner und Antisemitismus, zeit online v. 3.2.2021. 250 Wenn ich im Folgenden von „rassifizierten Stimmen“ schreibe, dann sind damit vor allem jene gemeint, die rassistischen Nachteilen im Diskurs ausgesetzt sind. Dabei

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benannten Ausschlüsse? Aus welchem Grund lässt sich die Rassifizierung als Subalternisierungsprozess respektive als Spielart einer diskursiven Marginalisierung verstehen? Die Beantwortung dieser Fragen orientiert sich an den Vorarbeiten der Autorin Maureen Maisha Eggers. Nach Eggers wird die „rassifizierte Machtdifferenz“ in drei zentralen Schritten erzeugt: der Markierung, Positionierung und Neutralisierung des rassifizierten Objekts.251 Diese Mechanismen erzeugen schließlich – als vierte Dimension – eine rassistische Ausschlussrealität. Die Rassifizierung begründet im Sinne der Subalternität ein systematisch verzerrtes Kommunikationsverhältnis, das zu nicht zufälligen Verkürzungen führt. Auch Eggers nimmt in ihrer Beschäftigung eine Verschiebung weg von der Ausdeutung der Differenz hin zu einer machtkritischen Analyse der Differenzkonstruktionen vor. Es handelt sich um eine ähnlich funktionale Wendung, wie sie bereits bei Spivak konstatiert werden konnte: jene weg von Subalternität als Zustandsbeschreibung, hin zur Analyse der Konstruktion von Subalternität, dem Prozess der Subalternisierung. Die Rassifizierungsschritte lassen sich aufgrund dieser analytischen Nähe und des geteilten diskursiven Zugriffs durch die im vorigen Abschnitt zusammengetragenen Erkenntnisse der Subalternitätsforschung besonders gewinnbringend näher ausbuchstabieren. 1. Grundlagen zum Begriff der Rassifizierung Der Fachterminus „Rassifizierung“ macht benennbar, wie Personen anhand von essentialisierenden Zuschreibungen kategorisiert, charakterisiert und bewertet werden.252 Zum gleichen Zweck Verwendung finden ebenfalls die Begriffe „Rassialisierung“ oder „Rassisierung“.253 Innerhalb der deutschen Forschungslandschaft hat sich bisher keiner der Ausdrücke final etabliert. Teilweise wird aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit zum Englischen („racialisation“) die Formulierung „Rassialisierung“ bevorzugt. Da das Deutsche auch Wortendungen mit „ation“ zulässt, liegt zu diesem Zwecke der Terminus „Rassialisation“ noch näher. Tatsächlich können die Begriffe synonym verwendet werden. Jede der Varianten betont den rassistischen Konstruktions- und Zuschreibungscharakter. Dasoll nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass jede Stimme innerhalb der rassistischen Ordnung positionalisiert und insofern rassifiziert ist. 251 Carlos Hoyt unterteilt den Rassifizierungsprozess in fünf Schritte: Auswahl der Merkmale, Einteilung von Menschen, Zuordnung, Essentialisierung und Rechtfertigung der Ungleichbehandlung. Carlos A. Hoyt, The Arc of a Bad Idea, 2016, S. 39. 252 Als einer der Ersten setzte sich Frantz Fanon mit der „Rassifizierung der Gedanken“ durch einen sog. Weißen Blick auseinander: Frantz Fanon, The wretched of the earth, 1969. In deutscher Übersetzung: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, 16. Aufl. 2016. 253 Es handelt sich um eine Übersetzung der englischen Ausdrücke racialisation, racial formation, race creation oder fabrication of race. Grundlegend: David T. Goldberg, Racist culture, 1993; Michael Omi/Howard Winant, Racial formation in the United States, 2. Aufl. 1994; Matthew Jacobson, Whiteness of a different color, 1998.

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mit verdeutlichen die Termini, dass „Rasse“ nicht biologisch fundiert, sondern sozial hergestellt ist. Dies kennzeichnet die Endung „isieren“, die darauf hinweist, dass eine Person oder Sache „zu etwas gemacht wird“ oder „mit etwas versehen wird“.254 Gleiches erfolgt durch die Endung „fizieren“, die vom lateinischen Wort „facere“ stammt, was übersetzt ebenfalls „machen“ heißt. Ich halte den Begriff der Rassifizierung für leichter verständlich und daher anschlussfähiger, weshalb ich diesen im Folgenden verwende. Ein rassifizierender Diskurs erschafft, kommuniziert und stabilisiert das rassifizierte Objekt. Diese spezifische Form der Essentialisierung verknüpft rassistisch besetzte Merkmale mit ausgewählten Personen (in Vertretung einer Personengruppe) und diese wiederum mit bestimmten vorgeblichen Eigenschaften. Da es sich weder bei der Gruppe, auf die Bezug genommen wird, noch bei ihren herausgestellten Merkmalen um intersubjektiv nachvollziehbare Wirklichkeitsbeschreibungen handelt, bedarf es für den „gelingenden“ Rassifizierungsprozess einer beständigen diskursiven Aufrechterhaltung der rassistischen Zuschreibungskonstruktionen. Die Kategorie der „Rasse“ muss „gemacht“ werden, sie lebt von ihrer ständigen Aktualisierung im Diskurs.255 Dabei entscheidend ist, dass sich der Prägungsprozess in einer Dichotomie zur weißen Norm vollzieht: Die Rassifizierung umfasst nicht allein die Konstruktion unterschiedlicher menschlicher „Rassen“ aufgrund vermeintlich biologischer Merkmale, sondern auch die Produktion anderer, stets im Vergleich zum weißen Kollektiv differenter religiöser, kultureller oder sonstiger Gemeinschaften. Hierunter kann sowohl die Typisierung der islamischen Gesellschaft im Vergleich zur deutschen/weißen/europäischen Bevölkerung christlicher Prägung gezählt werden als auch die Rassifizierung von Menschen jüdischen Glaubens oder des jüdischen Lebens.256 Statt von „Rasse“ wird daher im Folgenden von dem sozialen Prozess der rassistischen Formation, der Rassifizierung, gesprochen, um deutlich zu machen, wie diffus die Rassenkonstruktion ist und dass erst die diskursive Interaktion die beschriebenen Identitäten hervorbringt. Die benannten analytischen Teilschritte können den tatsächlichen Rassifizierungsprozess dabei nur unzulänglich erfassen. Sie treten realiter weder in der vorgegebenen Trennschärfe noch in der beschriebenen Deutlichkeit oder notwendigerweise in der benannten Abfolge auf. Sie werden getrennt voneinander untersucht, obgleich sie nur theoretisch linear gedacht werden können. In Wirklichkeit sind die Schritte miteinander verschränkt und

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„isieren“ auf Duden online: https://www.duden.de/rechtschreibung/_isieren. Dies wird unter dem Stichwort „Doing Race“ verhandelt und steht in engem Zusammenhang zu feministischen Analysen der Herstellung von Geschlecht, welche diese Konstruktionsleistung als „Doing Gender“ bezeichnen. Grundlegend: Candace West/Sarah Fenstermaker, Doing Difference, in: Gender and Society, 1/1995, S. 8–37. 256 Entsprechend plädiert Cengiz Barskanmaz für eine Pluralisierung des Rassismusbegriffs, um auch antimuslimischen und antijüdischen Rassismus als solchen erfassen zu können. Cengiz Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 67–118. 255

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bedingen einander. Hieraus können sich Unschärfen in der Abgrenzung ergeben. Nichtsdestotrotz dienen die Schritte als Anhaltspunkte, um einen Kommunikationsprozess auf seinen rassistischen Gehalt hin zu untersuchen. Sie sind eine gewinnbringende Hilfskonstruktion, weil sie die komplexen Mechanismen der Rassifizierung herunterbrechen und so deren Funktion verdeutlichen. Den Prozess derart auszudifferenzieren, erweist sich zur Verbindung von Rassifizierung und Subalternisierung deshalb als besonders gut geeignet, weil es möglich wird, individuelle und kollektive Kommunikationsprozesse detailliert auf marginalisierende Mechanismen hin zu untersuchen. Zwar nimmt bereits das oben konturierte Verständnis von Rassismus als soziales Herrschaftsverhältnis eine dezidiert diskursive Perspektive ein, jedoch gelingt es den Ansätzen weniger präzise, die diskursiven Teilschritte der Marginalisierung zu untersuchen. Durch die Brille der Subalternitätsforschung wird eine machtkritische Perspektiveinnahme des Sprechens und Gehörtwerdens möglich, die neue Problembeschreibungen und Interventionsoptionen zur Verfügung stellt. Darüber hinaus beinhaltet das Zusammendenken eine Art praktische Übersetzung: Rassismus als Phänomen dient als „Anschauungsbeispiel“, um die theoretischen Ausführungen zur Subalternität anhand eines konkreten Marginalisierungsfaktors zu überprüfen. 2. Rassifizierungsprozess subaltern gedeutet a) Markierung: Kennzeichnung nichtweißer Stimmen Der erste Schritt des Rassifizierungsprozesses, die Markierung, kennzeichnet sichtbare oder scheinbar erkennbare Merkmale, die dazu geeignet sind, etwas oder jemanden von etwas oder jemand anderem zu unterscheiden.257 Eben jene Abgrenzung stellt das Ziel der Markierung dar. Die rassifizierten Personen (-gruppen) werden mit Eigenschaften belegt, die das Individuum – seine Art sowie sein Verhalten – beschreiben und im Ergebnis charakterisieren sollen. Dabei setzt die Markierung zweierlei voraus: Eine Auswahl bestimmter als relevant erachteter Merkmale sowie Wissen über die Eigenheit dieser Merkmale und ihrer Träger*innen. Die Markierung selbst – als Mittel der Prägung – erfolgt vor allem durch sprachliche und kulturelle Mechanismen, die innerhalb gesellschaftlicher Diskursinteraktionen ausagiert werden.258 Dies geschieht, indem die Kennzeichnung erdacht, besprochen, als Referenz herangezogen und dadurch reproduziert sowie als Allgemeinwissen stabilisiert wird. Dabei werden nicht alle denkbaren Zeichen zu markierten Bedeutungsträgern. Im Gegenteil: Aus einer beliebigen Menge körperlicher, sozialer und sonstiger

257 Paul Mecherli/Claus Melter, Rassismus als machtvolle Unterscheidungspraxis, in: Roth/Anastasopoulos (Hg.), in: EEO 2011, S. 1–33. 258 Maureen M. Eggers, Rassifizierung und kindliches Machtempfinden, 2008, S. 78.

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Unterscheidungsmöglichkeiten erwählt der Rassifizierungsprozess nur ganz bestimmte Aspekte. Die Bestimmung dieser Merkmale folgt keinesfalls zufälligen Begebenheiten oder bloßer Willkür. Sie ist oder war im Zeitpunkt ihrer Bestimmung zumeist politisch oder ökonomisch begründet.259 Erinnert sei beispielsweise an die wirkmächtigste Markierung der schwarzen Bevölkerung als „primitiv“ und „unzivilisiert“, welche eine „Animalisierung“ jener Menschen begründen und deren koloniale Ausbeutung innerhalb der Produktionskette rechtfertigen sollte. Gleichzeitig ist jede Kennzeichnung eng verwoben mit anderen strukturellen Marginalisierungsverhältnissen, sodass die Differenzkonstruktionen stets vor einem intersektionalen Horizont zu verstehen sind. Die Praxis der rassistischen Markierung kann ebenso gut an biologistische wie kulturelle oder soziale „Erkenntniszeichen“ anknüpfen. Mark Terkessidis arbeitet verschiedene Kennzeichen innerhalb des Kategorisierungsprozesses heraus, die ohne biologischen Bezug auskommen. Er nennt soziologische Anknüpfungen (beispielsweise an Sprachen, Gewohnheiten, Ernährungsweisen, Kleidung, Musik) oder auch andere symbolische und geistige Kennzeichen (etwa politische Praktiken oder kulturelle Verhaltensweisen).260 Dies ermöglicht es dem rassistischen Denken, im Wege des Rassifizierungsprozesses auf bereits bekannte Mechanismen zurückzugreifen, sich aber gleichzeitig zu transformieren und an veränderte Diskursregeln anzupassen. Die Markierungspraxis ist in ihrer expliziten Erscheinung daher sehr flexibel. Offen rassistische Diskurse können – wenn nötig – durch eine kodierte Sprache der Kultur und Lebensweise ersetzt werden. Dies zeigt sich in der heute besonders wirkmächtigen Markierung, die Angehörige der islamischen Religionsgemeinschaft trifft. Jene werden als kulturell „rückständig“ erdacht und in Konsequenz dessen für inkompatibel mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft erklärt. Nachdem die Markierung in ihrem „methodischen Vorgehen“ beschrieben wurde, soll eine erste Beschäftigung mit ihren Konsequenzen erfolgen: Die Kennzeichnung entwickelt sich zu einer Art Wahrnehmungsfolie der Gegenwart, indem sie bestimmte Zeichen betont, andere als irrelevant auslässt. Anhand dieser kann die Wirklichkeit weiter interpretiert und verstanden werden. Sie erzeugt Lerngewohnheiten, die eine spezifische Perspektive vermitteln und bestimmte gesellschaftliche Wissenselemente entweder ein- oder ausblenden. Diese Form der Wissensproduktion basiert auf einem wesentlichen Aspekt der Wirkweise von Subalternisierung: Sie kann nur deshalb funktionieren, weil die Stimmen der Betroffenen aus dem Diskurs ausgegrenzt sind und eine Selbstartikulation sowie eine mögliche Gegendarstellung kein Gehör finden. Rassifizierte Stimmen werden subalternisiert, da ihre Wahrnehmung nur unter der einschrän259 Susan Arndt, Rassismus, in: Fereidooni/El (Hg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen, 2017, S. 29–45 (32 f.). 260 Mark Terkessidis, Psychologie des Rassismus, 1998, S. 74.

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kenden Bedingung der zuvor erfolgten Markierung möglich ist. Auf diese Art und Weise kann die subalterne Stimme nicht voraussetzungsfrei sprechen, sondern wird im Diskurs lediglich unter den entsprechenden Vorannahmen gehört. Sprechakte werden entgegen der Intention der Sprechenden interpretiert und auf diese Weise von der sprechenden Person entfremdet. Die Stimmen werden folglich vom herrschenden Diskurs beansprucht, verzerrt und sollen für etwas stehen, das ihnen von außen oktroyiert wurde. Weiße hingegen können sich als Sprechende, respektive „Wissende“, positionieren261 und das „rassistische Wissen“ 262 weiter ausbauen und verankern. Sie agieren hierzu als mit Autorität ausgestatte Sprecher*innen und verbreiten die Inhalte als Allgemeinwissen. Hierdurch erzeugen sie institutionell abgesicherte Deutungs- und Wissenskomplexe, die – wie beschrieben – die Wahrnehmung der „Wirklichkeit“ entscheidend prägen. Die rassistische Markierung wirkt sich daher nicht auf der Ebene eines individuellen Vorurteils aus, sondern wird zu einem wesentlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Wertesystems. Das Resultat stellt ein „Sprechen-Über“ statt eines „Sprechen-Mit“ dar. Ein Gehörtwerden als Verstandenwerden im Sinne Spivaks ist durch die einseitige Markierung nicht möglich. Gleichzeitig wird das Weißsein aufgrund der einseitigen Markierung zu einem unbewussten System der Identität,263 das bestimmte Erfahrungswelten ausschließt, weil es die eigenen zur Norm stilisiert. Erinnert sei hier an die Ausführungen Gramscis zur Wirkweise politischer und kultureller Hegemonie.264 Die Praxis der Markierung bildet in diesem Sinne die Grundlage der kollektiven Ausdruckslosigkeit subalterner Stimmen. b) Positionierung: Privilegierung weißer Artikulations- und Hörweisen Für die Erzeugung der rassistischen Machtdifferenz entscheidend ist der zweite Schritt des Rassifizierungsprozesses: die Positionierung der zuvor markierten Merkmale. Jene erzeugt eine Rangordnung zwischen den Eigenschaften der verschiedenen Personen(-gruppen).265 Technisch ist die Positionierung mittels des rassistischen Diskurses als recht simpel zu beschreiben: Es erfolgt eine Bündelung der explizit oder implizit hergestellten Gruppen – weiß und nicht261 Maureen M. Eggers, Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive, in: dies. u. a. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte, 4. Aufl. 2017, S. 56–72 (62). 262 Als rassistisches Wissen beschreibt Mark Terkessidis gesellschaftlich geteilte Wissensbestände auf der Basis des Prozesses der Objektbildung und der Vermittlung von Inhalten über das rassifizierte Objekt. Mark Terkessidis, Psychologie des Rassismus, 1998. Grundlegend zum Begriff des rassistischen Wissens ebenfalls: David T. Goldberg, Racist culture, 1993, S. 148 ff. 263 Begriffsbildend wiederum: Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr, Das Privileg der Unsichtbarkeit, 2008, S. 93 ff. 264 Vgl. Kapitel 1, A. II. 1. a), S. 35 ff. 265 Maureen M. Eggers, Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive, in: dies. u. a. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte, 4. Aufl. 2017, S. 56–72 (57).

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weiß – in zwei einfach zu erfassende, entgegengesetzte Entitäten. Die ausgeschlossene Gruppe wird als Kollektiv hervorgebracht und verkörpert das Gegenteil der Tugenden, die die eigene Identitätsgemeinschaft auszeichnet – dies können negative, unerwünschte oder verdrängte Eigenschaften sein. Damit geht notwendigerweise die Privilegierung jener Merkmale einher, die von der gesellschaftlichen Machtposition heraus den Anspruch auf Universalität formulieren. Deviante Wissens-, Sprach- und Wesensformen erfahren vergleichsweise eine diskursive Geringschätzung. Neben dem System der Identität entsteht ein System der Privilegierung und Dominanz,266 das sich vor allem durch den Anspruch der kulturellen Hegemonie (Gramsci) speist. Diese Rangordnung übertragt sich von der Abwertung der bloßen Merkmale auf die Bewertung der Merkmalstragenden als Personen. Jene fungieren wiederum als Vertreter*innen ihrer Gruppe, weshalb im Ergebnis das gesamte Kollektiv marginalisiert wird. Rassismus umfasst insofern gerade nicht nur individuelle Vorurteile, sondern die Legitimation einer gesellschaftlichen Ordnung, die auf der Diskriminierung der so konstruierten Gruppen basiert.267 Im Wege der hierarchischen Anordnung der Merkmale wird deutlich, dass sich schon der erste Rassifizierungsschritt nicht einseitig vollzieht. Die relevante Kategorie, innerhalb derer eine Markierung erfolgt, fasst vielmehr regelmäßig mindestens zwei mögliche Ausprägungen des gleichen Oberbegriffs (beispielsweise weiß/nichtweiß; aber auch: Mann/Frau; ohne Behinderung/mit Behinderung etc.). Typischerweise erfährt nur eine der möglichen Varianten eine nähere Beschreibung und ist in diesem Sinne „aktiv“ markiert. Den Bezugspunkt der Markierung bildet dabei die hegemoniale Subjektposition, deren Ausprägung von den konkreten historisch gewachsenen Gesellschaftsstrukturen abhängt. Das heißt, die aktive Markierung benennt die Devianz zu einer herrschenden Position, welche als Konsequenz des mitverhandelten Herrschaftsanspruchs für sich genommen nicht gekennzeichnet werden muss.268 Aus der Markierung der einen Gruppe ergibt sich – praktisch von selbst – eine Beschreibung der scheinbar nicht gekennzeichneten Gemeinschaft. Die Ausgestaltung der aktiven Markierung verweist infolgedessen auf kulturelle Vorstellungen von Normalität und der gesellschaftlichen Vorrangstellung bestimmter Sichtweisen vor anderen.269 Im hiesigen 266 Begriffsbildend: Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr, Das Privileg der Unsichtbarkeit, 2008, S. 81 ff. 267 Rassismus ist nicht zwingend auf diese Konstruktion der „Anderen“ beschränkt. Vielmehr kann sich eine rassistische Markierung auch innerhalb der ethnisch vermeintlich „eigenen“ Gruppierung gegen diejenigen richten, die als „minderwertig“ gelten sollen. Als historisches Beispiel dient der eugenische Rassismus gegen Menschen mit Behinderungen. Näher und mit dem Fokus der Zwangssterilisation: Jürgen Simon, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation, 2001. 268 Dazu Anna K. Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, S. 319 ff.; Cara Röhner, Ungleichheit und Verfassung, 2019, S. 161. 269 Cara Röhner, Ungleichheit und Verfassung, 2019, S. 161.

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Kontext resultiert daraus, dass lediglich die Ausprägung „nichtweiß“ einer Markierung unterliegt. Die Identitätskategorie „weiß“ wird hingegen als „normal“ imaginiert und damit zu einer diskursiven Entität. Das Weißsein kann als herrschende Position in einer sozialen Ordnung fungieren, ohne sich selbst als solche überhaupt benennen zu müssen. Es bildet einen sog. „unmarkierten Markierer“,270 eine „unsichtbar herrschende Normalität“.271 Diese soziale Position bringt die Ausstattung mit symbolischer Herrschaft mit sich: Diejenigen, die sie besetzen, verfügen über die Macht, der sozialen Welt ihre „Visionen“, das heißt ihre Sicht auf die Welt, als legitime Version dieser aufzuerlegen.272 Problematisch ist diese Erkenntnis, weil Diskurse als Träger des jeweils gültigen Machtwissens jenes als objektiv, rational und zum Teil alternativlos vermitteln.273 Weiße Stimmen erfahren so eine Privilegierung. Die Durchsetzung weißer Artikulationsformen und Weltsichten wird deutlich wahrscheinlicher. Weiße Sprechende können sich als Beobachtende von außen beschreiben.274 Die rassistische Logik hinter dieser Positionierung ist nur unter höchster Anstrengung zu dekonstruieren und muss in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder neu besprochen werden. c) Naturalisierung/Neutralisierung: Trugbild der gleichberechtigten Diskursteilnahme Die Rassifizierung zielt darauf ab, gesellschaftliche Hierarchien zu erzeugen. Dieses Ziel wurde durch die beiden Teilschritte der Markierung und Positionierung von spezifischen Eigenschaften erreicht. Entscheidend für die „Akzeptanz“ der Hierarchie ist, dass die miteinander in Beziehung stehenden Unterschiede als selbstverständlich imaginiert sind. Infolgedessen sollen die Merkmale als neutraler, natürlich vorgegebener Bezugspunkt erscheinen. Möglich wird dieses Anliegen durch den dritten Rassifizierungsschritt der Naturalisierung bzw. Neutralisierung. Im Zuge der Naturalisierung werden die erfundenen Differenzmerkmale als Ausdruck einer im eigentümlichen Wesen der Menschen liegenden Anlage ge270 Die Formulierung geht zurück auf Ruth Frankenberg, Introduction: Local Whitenesses, Localizing Whiteness, in: dies. (Hg.), Displacing Whiteness, 2. Aufl. 1999, S. 1–33 (4). 271 Entsprechend Ursula Wachendorfer, Weiß-Sein in Deutschland, in: Arndt (Hg.), AfrikaBilder, 2006, S. 57–66 (60 ff.). 272 Ingrid Jungwirth, Zur Auseinandersetzung mit Konstruktionen von „Weiß-Sein“, in: Hertzfeldt u. a. (Hg.), GeschlechterVerhältnisse, 2004, S. 77–91 (84). 273 Leonie Bellina/Antje Langer, Diskursanalyse und feministische Kritik(en), in: Langer u. a. (Hg.), Diskursanalyse und Kritik, 2019, S. 259–285 (273). 274 Entsprechend beschreibt Donna Haraway in ihrer feministischen StandpunktTheorie die Annahme, es könne eine Position außerhalb des Objektes angenommen werden, als „god-trick“. Siehe: Donna Haraway, Situated Knowledges, in: Feminist Studies Vol. 14 3/1988, S. 575–599.

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deutet.275 Die in Rede stehenden Eigenschaften treten als angeblich unabhängig von jedem zeitlichen und räumlichen Kontext, als einfach gegeben, schlicht wahrhaft, auf. Die Markierung scheint „in der Natur der Sache“ zu liegen. Durch diesen „Code der Ursprünglichkeit“ 276 gilt eine Eigenschaftsbeschreibung zugleich als basale Wesensbeschreibung der in Rede stehenden Person. Die Naturalisierung löst eine vormals „gottgewollte“ ständische Ordnung durch ein „aufgeklärtes“ Verständnis von Hierarchien ab.277 Sie geht einher mit der Erzählung, etwas sei deshalb besser, weil es sich auf eine ursprüngliche Ordnung beruft. Das natürliche soziale Prinzip in Frage zu stellen, gefährde den Schutz und die Stabilität des gesellschaftlichen Miteinanders.278 Bestehende soziale, kulturelle oder religiöse Unterschiede verschiedener Gesellschaftsgruppen und die hieraus abgeleiteten Eigenschaften können dergestalt in „natürliche“ Differenzen zwischen den Menschen verwandelt werden. Wenn Gruppenmerkmale natürlich anmuten, strahlt dies auch auf die erzeugten Differenzen zwischen den Gruppen ab. Die Dichotomie der Menschen unterschiedlicher Markierung wird als unveränderlich (und im Falle einer biologischen Markierung gleichsam vererblich) gedeutet: Markierte Objekte sind anders, waren schon immer anders und werden auch immer anders sein. Das entstehende Herrschaftsverhältnis ist entpolitisiert und enthistorisiert, da es sich auf die Position zurückziehen kann, lediglich eine scheinbare Realität abzubilden.279 Eigenarten oder Unterschiede zu anderen Gruppen müssen erst gar nicht zur Diskussion gestellt werden, da sie Bedingungen widerspiegeln, die der Welt vorgegeben und daher jeder Beeinflussung entzogen sind. Der Mechanismus der Neutralisierung scheint diametral zu funktionieren, folgt aber letztlich der gleichen Logik. Die Neutralisierung verknüpft die positionierte Eigenschaft nicht mit einer bestimmten körperlichen Anlage, sondern verschleiert, dass Markierung und Positionierung überhaupt stattgefunden haben. Hierzu vermeidet bereits die vorgelagerte Markierung einen biologistischen Bezug auf die Merkmalstragenden und verweist stattdessen auf scheinbar weniger essentialistische Kategorien – etwa Kultur, Kleidung oder Verhaltensweisen. 275 Anna Katharina Mangold benennt diesen Aspekt der Konstruktion als „Natürlichkeitsargument“: Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 313 f. 276 Entsprechend der Debatte um die Konstruktion von kollektiver Identität: Shmuel N. Eisenstadt/Bernhard Giesen, The construction of collectiv identity, in: European Journal of Sociology, Vol. 36 1/1995, S. 72–102 (77 f.). 277 Birgit Rommelspacher, Was ist eigentlich Rassismus?, in: Melter/Mecheril (Hg.), Rassismuskritik, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, S. 25–38 (28). Ausführlich zur Ausformung des Rassekonzepts Kapitel 1, B., S. 60 ff. 278 Es handelt sich hierbei um ein Argumentationsschema, das gleichsam häufig gegen feministische sowie queere Positionen eingewendet wird. Die Emanzipation der Frau und Lebensformen jenseits der klassischen Geschlechter- und Familienrollen werden als „widernatürlich“ bezeichnet und würden insbesondere Kinder destabilisieren. 279 Christoph Butterwegge, Der Funktionswandel des Rassismus und die Erfolge des Rechtsextremismus, in: ders. (Hg.), Rassismus in Europa., 2. Aufl. 1993, S. 181–199 (191).

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Die Naturalisierung sowie Neutralisierung erzeugen ein Trugbild des Diskurses. Dadurch, dass das erzeugte Wissen nicht als Diskursposition, Meinung oder Feststellung präsentiert wird, sondern als naturgegebene Tatsache, wird die dahinterliegende Konstruktionsleistung unsichtbar. Eine Gegendarstellung ist erschwert. Die als natürlich angesehene Markierung ist dem Diskurs in gewisser Weise entzogen, da die Bereitschaft, sich von einer anderen – als der angeblich natürlichen, ergo einzig wahren und möglichen – Eigenschaft überzeugen zu lassen, sinkt. Trotz allem wird die Vorstellung eines gleichberechtigten Diskurses aufrechterhalten, welcher von einer möglichen Partizipation aller ausgeht. Weiße Sprecher*innen immunisieren sich gegen den Vorwurf, es finde eine einseitige Darstellung oder ein bewusster Ausschluss von Stimmen aus dem Diskurs statt. Dieses Trugbild der liberalen Diskursteilnahme entspricht der ideologischen, selbstbezogenen Zuwendung im Sinne der Subalternisierung und mündet in einer beschränkten Handlungsfähigkeit der subalternen Diskursposition. Sie wird durch den faktischen Ausschluss zu einer sozialen Position, die auf die Stellung sowie Funktion im politischen System hinweist, und beschreibt das Moment der Unterwerfung unter herrschende diskursive Prämissen. Infolge der Neutralisierung entsteht also ein dialogisch anmutender Prozess der Teilhabe, in den die Teilnehmenden scheinbar einbezogen werden und Entscheidungsbefugnis erhalten, jedoch aufgrund expliziter formeller oder informeller Machtasymmetrien die Ergebnisse der Entscheidungen nicht mitbeeinflussen können. Blickt man zurück auf die Ausführungen Spivaks zur Bedeutung von Repräsentationsvorgängen an der Herstellung von Subalternität, lässt sich genau dieser Schritt anhand der Naturalisierung und Neutralisierung exemplifizieren. Die fehlende Reflexion der eigenen, möglicherweise privilegierten Sprechsituation und – noch viel gravierender – die Unkenntlichmachung verschiedener diskursiver Ausgangssituationen verhindern ein wahrhaft dialogisches Verhältnis der Sprechenden. d) Folge: Diskursausschluss Die Positionierung ist mit einer bewussten und unbewussten Machtstrategie verknüpft und dient dazu, bestimmte Gruppen vom Zugang zu kulturellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen.280 Die hergestellten Ausschlüsse281 280 Stuart Hall, Rassismus als ideologischer Diskurs, in: Das Argument 178/1989, S. 913–921. 281 Eggers führt die Schritte der diskursiven Ausbildung von rassifizierten Machtdifferenzen am Beispiel des Begriffs „getürkt“ aus. Diese Bezeichnung basiere darauf, dass Subjekte mit türkischem Hintergrund implizit als „unehrlich“ konstruiert werden (Markierungspraxis). Die Markierung enthält ein wertendes Element und drückt insofern ein Über-/Unterordnungsverhältnis aus. Dieses ermöglicht es dem dichotomen weißen Subjekt, welches unbenannt bleibt, sich als ehrlich und somit höherwertig zu entwerfen (Positionierungspraxis). Die „Eigenschaft“, die mit dem Begriff assoziiert wird, geht unhinterfragt in das Allgemeinwissen über und setzt sich als Normalität fest (Na-

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können vielfältiger Natur sein: Ökonomische Nachteile führen beispielsweise zu hohen Arbeitslosenquoten und einem entsprechend erhöhten Armutsrisiko,282 welches sich wiederum als Benachteiligung im Bildungssektor auswirkt.283 Es realisieren sich darüber hinaus politische, soziale und kulturelle Ausschlüsse, die zu einer verkürzten gesellschaftlichen Teilhabe führen. Insbesondere resultiert aus der Rassifizierung, dass dem Subjekt nur eine eingeschränkte Äußerungsmöglichkeit in der Aushandlung politischer Sachverhalte eingeräumt ist: Deutlich wird dies etwa daran, dass Themen, welche „die Anderen“ betreffen, häufig nur dann Beachtung finden, wenn sie der Problematisierung eben jener dienen.284 Eine Verschränkung von strukturellem, institutionellem und individuellem Rassismus hält die unterschiedlichen Exklusionsdimensionen aufrecht. Sofern das Weißsein als Position ignoriert oder für das eigene Leben als nicht relevant eingestuft wird, werden zugleich die sozialen Positionen, Privilegien und Hegemonien verleugnet, die daran gebunden sind. Die Tendenz, nicht über „Rasse“ zu sprechen als liberale Geste zu erachten, ist insofern kontraproduktiv.285 Sich nicht im System des Rassismus verorten zu müssen, ist ein Privileg, das vor allem weiß positionierten Menschen zukommt.286 3. Zwischenergebnis Gleichwohl das Vorhandensein unterschiedlicher menschlicher „Rassen“ keine biologische Realität darstellt, hat das Rassekonzept soziale, ökonomische, politische und psychologische Fakten geschaffen, die die Welt nachhaltig und bis in turalisierungspraxis). Im Ergebnis werden türkische Subjekte aus dem Kollektiv der „ehrlichen“ Händler*innen (Menschen) ausgeschlossen (Ausgrenzungspraxis). Die Ausgrenzungspraxis deckt sich mit dem Ergebnis der Subalternisierung: Die betroffene Stimme ist aus dem Feld des Hörbaren verdrängt bzw. wurde so weit entfremdet, dass von einer tatsächlichen Artikulation nicht mehr gesprochen werden kann. Während das genannte Beispiel scheinbar einen nur rein sprachlichen Ausschluss begründet, kann in anderen Kontexten aufgezeigt werden, welch tiefgreifende Folgen der diskursive Rassifizierungsprozess mit sich bringt. Ausführlich Maureen M. Eggers, Rassifizierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive, in: dies. u. a. (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte, 4. Aufl. 2017, S. 56–72 (64 f.). 282 Empirische Daten aus den USA belegen, dass die Armutsgefährdungsquote für schwarze Menschen mehr als doppelt so hoch ist wie für weiße Menschen. State Health Facts, Poverty Rate by Race/Ethnicity, 2019, abrufbar unter: https://www.kff.org/other/ state-indicator/poverty-rate-by-raceethnicity/?currentTimeframe=0&sortModel=%7B% 22colId%22:%22Location%22,%22sort%22:%22asc%22%7D. Entsprechende Zahlen existieren für Deutschland nicht. Zu den statistischen Gründen siehe Kapitel 3, C. IV. 2., S. 133 ff. 283 Ausführlich Kathrin Ramsauer, Bildungserfolge von Migrantenkindern, 2011. 284 Birgit Rommelspacher, Was ist eigentlich Rassismus?, in: Melter/Mecheril (Hg.), Rassismuskritik, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, S. 25–38 (31). 285 Susan Arndt, Rassismus, in: Fereidooni/El (Hg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen, 2017, S. 29–45 (42). 286 Bezeichnet wird dieses Privileg mit dem Schlagwort „Rassismusprivileg“.

D. Zusammenfassung

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die Gegenwart prägen. Solche Fakten wirken sich auch auf das Sprechen über Rassismus aus. In Erinnerung gerufen sei, dass ein subalterner diskursiver Status entsteht, wenn bestimmte Stimmen (Zusammenhänge) entweder gar nicht oder nur in verzerrter Weise aufgegriffen und wiedergegeben werden. Sowohl in der Beschäftigung als auch in der Konstruktion von rassifizierter Differenz realisieren sich die benannten Potenziale der Subalternisierung. Die im ersten Abschnitt dargestellten Vermeidungsstrategien des Rassismusdiskurses entsprechen einem „Überhören“ der subalternen Stimme, während der Prozess der Rassifizierung ein entfremdendes Hörverhalten in der Rezeption eines Sprechakts beschreibt. Die Ausführungen verankern das postkoloniale Konzept der Subalternität für eine deutsche Beschäftigung mit Rassismus und fundieren darüber hinaus die analytischen Kategorien, welche später zur empirischen Rechtsprechungsanalyse herangezogen werden.

D. Zusammenfassung Die Verbindung von Subalternität und Rassismus ermöglicht, besser zu verstehen, weshalb diejenigen, die von (rassistischer) Diskriminierung betroffen sind, gleichzeitig schwächer repräsentiert und öffentlich weniger sichtbar sind. Marginalisierte haben eine geringe Chance, politische Forderungen öffentlich zu artikulieren, was ihren Ausschluss weiter verstärkt. Subalternität übersetzt rassifizierte Differenz insofern als „Sichtbarkeitsregime“.287 Die Analysekategorie wird zu einem theoretischen Zugriff, welcher die Art und Weise der (diskursiven) Repräsentation freilegt, indem Momente des Ausschlusses sowie der Verschiebung zu Tage treten. Der analytische Gewinn der Verbindung lässt sich noch deutlicher zuspitzen: Das Konzept der rassifizierten Subalternität veranschaulicht die Rolle der Sprechenden und Hörenden, welche diese in der diskursiven Konstruktion bestehender Ungleichheitsstrukturen einnehmen. Subalternität markiert die rassifizierte „Lücke“ zwischen der Sender- und der Empfangsseite eines Sprechakts.288 Ich schlage daher vor, die Subalternitätsforschung als Folie einer Metabetrachtung diskursiver Auswirkungen von Rassismus zu nutzen. Auch die Analyse von Rassismus im Recht erfährt dergestalt eine zusätzliche Reflexionsebene. Nicht nur wird untersucht, inwiefern rassifizierte Denklogiken fortbestehen, die Beobachtungen können ebenfalls in eine Analyse der gesellschaftlichen Artikulationsbedingungen eingeflochten werden. Subalternität und Rassismus sind soziale Herrschaftsphänomene, die sich auch und in besonderer Weise diskursiv formieren. Indem vermieden wird, über Rassismus zu sprechen, bleiben Ungleichheits287

Nikolai Huke, Ohnmacht in der Demokratie, 2021, S. 62. Jodi A. Byrd/Michael Rothberg, Between Subalternity and Indigeneity, in: interventions, Vol. 13 1/2011, S. 1–12 (6). 288

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Kap. 1: Subalternität und Rassismus als miteinander verwobene Phänomene

erfahrungen unbenannt. Auf diesem Wege werden rassifizierte Strukturen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit aufrechterhalten. Gleichsam erschwert ein zunehmend versteckter Rassifizierungsprozess die Erkenntnis, dass eine Diskursposition überhaupt von Rassismus betroffen ist.

Kapitel 2

Judikative Artikulationsbedingungen: „Hört das Recht die Subalterne?“ Subalternität formt sich nicht immer in gleicher Weise. System- und disziplininhärente Strukturen prägen jedes Diskursfeld sehr spezifisch. Aus diesem Grund variieren diskursive Marginalisierungsverhältnisse sowohl in ihrer Erscheinung, Intensität als auch in ihrer Wirkweise stark. (Ungleiche) Artikulationsbedingungen können daher nur für konkrete Zusammenhänge detailliert untersucht werden.1 Auch das Sprechen über Rassismus begegnet einer heterogenen Ausgangssituation: Das Ausmaß der in Kapitel 1 benannten diskursiven Vermeidungsstrategien sowie der Rassifizierungsprozess ist beeinflusst von den Bedingungen des jeweiligen Aushandlungsfeldes. Vorliegend werden das Recht und insbesondere die deutsche Rechtsprechung als Raum der Rede und Gegenrede betrachtet. Kapitel 2 fragt in Anlehnung an Spivak daher: Hört das Recht die Subalterne?2 Von Interesse ist, inwiefern die juristische Rahmung der sprachlichen Aushandlung das Gehörtwerden rassifizierter Erfahrungen beeinflusst und eine subalterne Position verfestigt. Der analytische Fokus des Abschnitts liegt – vor dem Hintergrund der sich anschließenden Rechtsprechungsanalyse – auf der gerichtlichen Anwendung von Recht und nicht auf dem Recht in einem umfassenden Sinne. Mögliche Gründe reflektiere ich rechtstheoretisch (A.), rechtssoziologisch (B.) sowie rechtsdogmatisch (C.). Eine Gesamtschau der rechtlichen Diskursbedingungen (D.) schießt Kapitel 2 ab.

A. Rechtstheoretische Reflexion Innerhalb der rechtstheoretischen Reflexion möchte ich zunächst dem Verhältnis von Recht und Sprache nachspüren. Wer spricht im Recht? Auf welche Art und Weise vollzieht sich diese sprachliche Interaktion? Das Ziel der Untersuchung besteht darin, „subalterne Einfallstore“, also exkludierende Effekte des 1 Sofern das Metakonzept der Subalternität – entsprechend dem Vorschlag in Kapitel 1 – schwerpunktmäßig für ein anderes Marginalisierungsverhältnis genutzt wird, müssen dessen diskursive Voraussetzungen analysiert werden. Stets ist eine intersektionale Lesart angezeigt. 2 Diese Frage und damit die Kapitelüberschrift ist angelehnt an den Titel des Beitrags von Gayatri C. Spivak, Wer hört die Subalterne?, in: Luxemburg, Heft 20, 3/2014, S. 6–15.

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

Sprechens im Recht zu identifizieren. Zu diesem Zweck übertrage ich die repräsentationskritischen Überlegungen Spivaks3 auf die sprachlichen Aushandlungsprozesse im Recht. Dieser Transfer leitet über zu einer Beschäftigung mit dem Ideal der judikativen Objektivität und Neutralität. Gleichwohl diese regulative Idee als eine nach Rechtssicherheit und Gerechtigkeit strebende Haltung sinnvoll ist, begründet sie als (rechts-)epistemologische Annahme potenzielle Ausschlüsse, die ich darauf untersuche, ob sie das hörende Verstehen im Recht einschränken.

I. Sprache und Recht: Recht sprechen Recht ist eine Praxis des „Handelns mit und in Sprache“.4 Es spricht nicht selbst, Recht wird gesprochen. Recht ist nicht einfach da, sondern bedarf eines kommunikativen Akts, welcher dem Recht zu seiner Geltungskraft verhilft.5 Unabhängig davon, ob rechtliche Wertungen per Gesetz, Richterspruch oder eine verwaltungsrechtliche Anordnung durch eine Behörde artikuliert werden – das Recht ist auf das geschriebene oder gesprochene Wort grundlegend angewiesen, um sich zu konstituieren. Dabei kommt der sprachlichen Rechtsanwendung nicht nur die Aufgabe zu, den Bedeutungsgehalt einer rechtlichen Norm, sondern zunächst das dazugehörige, reale Ereignis zu erfassen und sprachlich zu verarbeiten. Ein Lebenssachverhalt, welcher sich keineswegs immer klar und eindeutig präsentiert, muss zusammengetragen – und in diesem Sinne „verrechtlicht“ – werden. Das Recht kann eine solche sprachliche Verdichtung nicht von sich heraus vollziehen. Es ist hierzu auf die juristischen Akteure als „Sprecher*innen“ verwiesen. Es entsteht ein dreiecksförmiges Vermittlungsverhältnis zwischen dem Lebenssachverhalt und seinen Beteiligten, den rechtlichen Akteuren sowie – im weitesten Sinne – den rechtlichen und rechtsdogmatischen Vorgaben der Sprachhandlung. Das rechtliche Sprechen baut eine Brücke zwischen der sozialen und der rechtlich relevanten Realität. Die Sinnvermittlung hängt dabei zu einem gewissen Grad auch vom jeweils konkreten Kontext der Sprachhandlung ab, da sich die Bedeutung von Wörtern niemals vollständig determinieren lässt.6 Mithin begründet jede sprachliche Verständigung, so formuliert es die Sprach3

Siehe ausführlich Kapitel 1, A. 2., S. 50 ff. Etwa Ekkehard Felder, Pragmatik des Rechts: Rechtshandeln mit und in Sprache, in: ders./Vogel (Hg.), Handbuch Sprache im Recht, 2017, S. 45–66 (45). 5 Diese Schnittstelle von Sprach- und Rechtswissenschaft behandeln rechtslinguistische Forschungsansätze. Prägend war die „Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik“ um Rainer Wimmer, Friedrich Müller und Dietrich Busse. Siehe: Dietrich Busse, Recht als Text, 1992; ders., Juristische Semantik, 2. Aufl. 2010; Friedrich Müller/Rainer Wimmer (Hg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, 2001. Zum Einstieg: Rüthers u. a., Rechtstheorie, 11. Aufl. 2020, § 5. 6 Die grammatikalische Bedeutung von Wörtern untersucht das linguistische/sprachphilosophische Feld der „formalen Semantik“. Demgegenüber untersucht die „Pragmatik“ den Zusammenhang von Kontext und Bedeutung, also das „situative Sprechen“. Zur Einführung m.w. N. Claus Eberhardt/Hans Jürgen Heringer, Pragmatik, 2011. 4

A. Rechtstheoretische Reflexion

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theorie, einen permanenten Akt der „Übersetzung aus der Sprachwelt des Sprechers in die Sprachwelt des oder der Adressaten“.7 Die sprachliche Bedingtheit des rechtlichen Ausdrucks eröffnet ein solches Verhältnis der stellvertretenden Übersetzung. Spivaks repräsentationstheoretischen Überlegungen folgend, handelt es sich zugleich um ein hierarchisches Verhältnis. Da im Recht die Erfahrung anderer sprachlich verhandelt wird, beinhaltet das rechtliche Sprechen beide Aspekte eines Repräsentationsvorgangs: Es entspricht einem Sprechen für, da es eine konkrete Erfahrung und die mit ihr verbundenen Interessen erst verhandelbar macht. Die sprachliche Übersetzung des Lebenssachverhalts ist eine zwingende Voraussetzung, um im Recht gehört zu werden. Gleichzeitig beinhaltet das Sprechen im Recht Aspekte des Sprechens über. Rechtliche Übersetzungsleistungen können das reale Ereignis nur in einer bestimmten Art und Weise darstellen. Sie beteiligen sich insofern an der Konstruktion des Sachverhalts, der erst im Anschluss rechtlich verhandelt wird. Dabei wird nicht nur der Sachverhalt, sondern auch das darin verwobene Subjekt entworfen. Im Sinne des Subalternitätskonzepts soll dieses Vermittlungsverhältnis danach befragt werden, welchen Limitationen es unterliegt. Eine beschränkende Wirkung kann dem rechtlichen Sprechen deshalb zukommen, weil die benannte Übersetzung notwendigerweise von Momenten der „Auswahl, Sichtung und Deutung“ 8 durch die (recht-)sprechende Person bestimmt ist. Die rechtliche Darstellung muss dem sozialen Geschehen nicht oder nicht vollständig entsprechen. In dessen sprachliche Erfassung mischt sich vielmehr eine Inszenierung des zu beschreibenden Ereignisses. Wie eine Erfahrung ausgelegt und übersetzt wird, ist von den unterschiedlich sozialisierten und psychisch disponierten Rechtsakteuren abhängig.9 Dabei können die eigenen Vorerfahrungen mitbestimmen, welche Aspekte eines Sachverhalts ins Recht übertragen werden und welche nicht. In der Aushandlung der das Recht ergänzenden Wirklichkeit gilt als neutral und objektiv häufig nur das, was aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft „normal“ erscheint. Die juristische Dogmatik und prozessuale Vorgaben halten gleichsam dazu an, nur jene Aspekte zu berücksichtigen, die für die juristische Argumentation relevant sind.10 Das Recht stülpt dem Geschehen damit eine spezifische Wahrnehmungsfolie über. Dabei ist Sprache immer ungenau, sodass auch eine rechtliche Übersetzung nie völlig „präzise“ er7

Georg Steiner, Nach Babel, 1981, S. 7 ff. Robert Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, 1996, S. 2. 9 Die Bildung und Verwendung rechtlicher Begriffe ist ein kognitiver Vorgang, dessen psychologische Dimension großen Raum einnimmt, bisher aber wenig Beachtung fand. Einführend: Josef F. Lindner/Victor Struzina, Psychologie der Rechtssprache, in: RPhZ 2021, S. 304–317. 10 Susanne Baer beschreibt diesen Umstand so: „Z. B. bezieht sich eine Beweisaufnahme nur auf alles, was ,für die Entscheidung von Bedeutung ist‘ – und entzieht dem Recht implizit, was den Menschen bewegt oder eine Sache so komplex macht.“ Susanne Baer, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2021, S. 256. 8

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

folgen kann. Häufig ist die Bedeutung bestimmter Wörter bereits in der Alltagssprache mehrdeutig. In der Rechtssprache11 kann sich dieser Effekt verstärken. Da der Normtext abstrakte, unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln nur zum Teil selbst definiert, müssen die Rechtsanwendung und das rechtswissenschaftliche Schrifttum die verbleibende Lücke schließen. Diese Form der Rechtstechnik verbindet Recht und soziale Wirklichkeit, indem sie eine detaillierte Betrachtung des Einzelfalls ermöglicht und offen für neuartige Phänomene ist. Die rechtlichen Akteure sind dabei bis zu einem gewissen Grad frei, neue Begriffe und Theorien zu bilden und diese fortzuentwickeln.12 Dabei kann zumindest theoretisch jedes beliebige Wort zu einem Rechtsbegriff werden. Dies verstärkt die Subjektivität des Rechts.13 Auch die juristische Methodik und Nüchternheit der Rechtssprache, welche diesen subjektiven Einfluss beschränken sollen, wirken sich exklusiv auf die Wahrnehmung subalterner Stimmen im Recht aus. Die idealtypische Vorstellung der Rechtssprache verlangt von einem Gesetzestext zunächst, dass dieser eindeutig und klar sowie unpersönlich formuliert ist.14 Die Rechtssprache suggeriert einen entschlossen handelnden Staat und einen störungsfrei laufenden Machtapparat.15 Zumindest das Erfordernis der Klarheit und Verständlichkeit scheint nicht immer erfüllt: In der Realität arbeitet die Normsprache häufig mit stark verschachtelten Normsätzen, nicht selten übermäßigen Substantivierungen und Passivformulierungen. Dadurch sind der Zugang zum Recht und dessen Verständlichkeit deutlich erschwert. Die Beteiligung am normativen Sprechen ist hohen Hürden ausgesetzt. Um eine persönliche Erfahrung in der Sprache des Rechts auszudrücken, ist typischerweise ein mehrjähriges, ressourcenintensives Studium oder der Einkauf einer Übersetzungsleistung durch ausgebildetes juristi11 Die Rechtssprache gibt es nicht. Vielmehr existieren mehrere Sprachen des Rechtslebens. Um nur einige zu nennen: Gesetzessprache, Urkundensprache, Verwaltungssprache, Gerichtssprache. Ausführlich: Eberhard von Künßberg, Die Entwicklung der deutschen Rechtssprache, 2017, S. 47 ff. Wenn im Folgenden von „der Rechtssprache“ die Rede ist, soll es um verbindende Wesensmerkmale gehen. Thomas Vesting zählt neben der Sprache auch die Schrift, später den Buchdruck und die Computertechnologie zu den „Medien des Rechts“: Thomas Vesting, Medien des Rechts: Sprache, 2011; ders., Medien des Rechts: Schrift, 2011; ders., Medien des Rechts: Buchdruck, 2013; ders., Medien des Rechts: Computertechnologie, 2016. 12 Josef F. Lindner, Rechtswissenschaft als Metaphysik, 2017, S. 91 ff. 13 M. w. N. wiederum Susanne Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Verhältnis zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann/HoffmannRiem (Hg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 223–251 (249); Bernd Rüthers u. a., Rechtstheorie, 11. Aufl. 2020, § 5 Rn. 201 ff. Rolf Wank exemplifiziert, welche Auswirkungen in der Sache die sprachliche Fassung von Nominaldefinitionen hat: Rolf Wank, Juristische Methodenlehre, 2020, § 8 Rn. 33 ff. 14 Ausführlich zur historischen Entwicklung, der Funktion und dem Ziel dieser Anforderung Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, 2004, S. 354 ff. 15 Volker Boehme-Neßler, BilderRecht, 2010, S. 119.

A. Rechtstheoretische Reflexion

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sches Personal notwendig. Diese exklusiven Mechanismen machen die juristische Sprechposition sehr voraussetzungsreich. Die juristische Dogmatik bestimmt darüber hinaus wesentlich, wie, was und wen das Recht hört. Als „Filter“ der Wahrnehmung verankern die juristischen Anwendungsregeln die rechtsstaatliche Verbindlichkeit des Rechts. Sie drücken dessen hohen Formalisierungsgrad aus. Gleichzeitig kann die Methodik zum „Machtfaktor“ 16 werden. Durch eine Ausrichtung an bestimmten, etablierten Rechtsfiguren neigt die juristische Herangehensweise dazu, eine bestehende Lösung zu reproduzieren und damit zu fixieren. Weil die rechtliche Argumentation auf den Status quo des geltenden Rechts ausgerichtet ist, tradiert sie bestehende und daher eingeübte, diskursive Deutungsweisen. Dies wird etwa in der Unterscheidung zwischen einem Autoritäts- und einem Sachargument deutlich.17 Ersteres entspricht dem Verweis auf den Willen des Gesetzgebers oder die „herrschende“ Meinung. Für die Anerkennung der rechtlichen Beurteilung spricht in diesem Fall, dass sie von der zuständigen Autorität gesetzt wurde. Zwar ist ein Streit über die vorherrschende Auffassung üblich, die Veränderung von rechtlichen Bewertungen dem rechtlichen Sprechen inhärent, dennoch kann der Rechtsdiskurs andere Auffassungen, Auslegungen oder Argumente nur unter den erschwerten Bedingungen dieser dogmatischen Fixiertheit wahrnehmen. Recht tritt mit einem Anspruch des „Wahrsprechens“ auf. Positionen gebären sich gerade nicht als Ergebnis eines individuellen Aushandlungsprozesses, sondern sind in ihrer regulativen Idee als „richtige Entscheidung“ angelegt.18 Die Grundlage der Argumentation, das eigene Vorverständnis und damit die Bedingtheit des Sprechaktes, wird nur selten offengelegt. Weder Gesetze, dogmatische Figuren noch die Ausdifferenzierung bestimmter Methoden sind jedoch feste Entitäten. Die rechtliche Übersetzung sollte daher auch als sozialer Prozess verstanden werden.

II. Regulative Idee der objektiven Justiz: Ideal und Kritik Das Recht ist vielfältig subjektiv aufgeladen. Diese Einsicht klang bereits an und ist seit mehreren Wissenschaftsdekaden Gegenstand der kritischen Rechts16 Grundlegend und m.w. N. Dieter Grimm, Methode als Machtfaktor, in: ders., Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 347–372. Grimm beschreibt die Methodenwahl als „Vorentscheidung über Interpretationsinhalte“ (347). 17 Grundlegend: Norbert Horn, Rechtstheorie 1975, S. 145. Häufig werden beide Formen der Argumentationstechnik miteinander verbunden. Entsprechend: Ulfrid Neumann, Juristische Logik, in: Hassemer u. a. (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. 2016, S. 272–290. Grundlegend zur juristischen Argumentation: Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 7. Aufl. 2012 (1983); Aleksander Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, 1983; Ulfrid Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986. 18 Zur Notwendigkeit dieser Fiktion Susanne Beck, Die Suggestion einzig richtiger Entscheidungen im Recht, in: Schuhr (Hg.), Rechtssicherheit durch Rechtswissenschaft, 2014, S. 11–32.

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

forschung. Nichtsdestotrotz steht sie noch immer in einem Spannungsverhältnis zum juristischen Selbstverständnis19 und vor allem zur Erwartungshaltung, die dem richterlichen Berufsstand entgegengebracht wird. Den beteiligten Akteuren wird notwendigerweise abverlangt, dass ihre Entscheidung unparteiisch, neutral und rational erfolgt. Das Personal soll vor politischen und sonstigen äußeren Einflüssen (vgl. Art. 97 Abs. 1 GG) und damit individueller Willkür gefeit sein. Die regulative Idee ist eng verbunden mit dem Ziel, ein hohes Maß an Rechtssicherheit zu gewähren. Idealtypisch verkürzt soll sich der Wille des Gesetzgebers ausschließlich aus dem Gesetzestext ergeben; Spielräume innerhalb der richtigen Rechtsanwendung sollen ausgeschlossen sein.20 Zwar muss das Ergebnis der Rechtsfindung nicht unmittelbar aus dem Gesetzestext selbst ableitbar sein, gleichwohl sollen diesem alle zugrundeliegenden Wertungen entnommen werden können. In ihrer Zuspitzung reduziert diese Annahme die rechtsanwendende Person auf das ikonische Bild des Richters als „Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spricht“ 21 und damit zu einem starren Subsumtionsautomaten.22 Einer solchen Vorstellung wurde bereits im vorhergehenden Abschnitt widersprochen; sie wird wohl kaum mehr in dieser Eindeutigkeit vertreten. Die Gefahr, dass Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe aufgrund ihrer Deutungsoffenheit zum Platzhalter für mehrheitsgesellschaftliche Einstellungen und Moralvorstellungen werden können, ist erkannt. Die Rechtswissenschaft blickt auf eine intensive Diskussion, wie Generalklauseln in Rechtstexten vermieden werden können.23 Keiner der genannten Vorschläge verhindert jedoch, dass als Rechtsquelle stets auch die rechtsanwendende Person fungiert, die – wie bereits gezeigt – zumindest den Lebenssachverhalt erfassen und einer eigenen recht-

19 Zu den Gepflogenheiten und Konventionen des Fachs sowie zur juristischen Identität: Ulrike Schultz u. a. (Hg.), De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft, 2018, S. 204. Eng verbunden mit der Vorstellung von Objektivität und Neutralität ist auch die Idee der Autonomie des Rechts. Vgl. Eva Kocher, „Rechtssoziologie“, in: RW 2017, S. 153–180. 20 Richterliches Ermessen ist demnach weitgehend ausgeschlossen und Umgehungen des Rechts sollen verhindert werden. M.w. N. Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, S. 359. 21 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1965 (1748), S. 221. Zur Einordnung und Kritik statt vieler Ralph Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes, in: Müller (Hg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 47–91. 22 Die Vorstellung der Begrenzung von Entscheidungsfreiheit durch Gesetze oder andere Normen orientiert sich an dem von Max Weber formulierten Konzept der formalen Rationalität des Rechts. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Zweiter Halbband, 5. Aufl. 2002 (1922), S. 468 ff. 23 Vorgeschlagen wird etwa, die Wertmaßstäbe einer Entscheidung bereits in der Norm anzugeben oder die Vorschrift durch Beispiele zu ergänzen. Darüber hinaus könnten Verfahrensvorschriften die Entscheidungsfreiheit der Rechtsanwendung zügeln, indem eine Zusammenarbeit mit anderen Behörden oder eine vorherige Anhörung vorgeschrieben wird. Näher Thomas Fleiner-Gerster, Wie soll man Gesetze schreiben?, 1985, S. 53 ff.

A. Rechtstheoretische Reflexion

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lichen Bewertung zuführen muss.24 Entgegen dem Postulat, ein Normtext gebe die objektive Bedeutung der verwendeten Rechtsbegriffe vor, wird deutlich: Im Akt der Rechtsfindung transportiert sich ein verinnerlichtes, menschliches „Vorverständnis“.25 Vorverständnisse knüpfen an den hermeneutischen Prozess des Erfassens und Verstehens eines Sachverhalts an. Relevant für die gerichtliche Auslegung sind daher sowohl der juristische Sozialisationsprozess, Präjudizen und die jeweiligen Grundgedanken der Rechtsordnung.26 Ebenfalls wirkt sich das individuelle Rechts- und Gerechtigkeitsgefühl in der Rechtsanwendung aus.27 Dies ist nicht per se problematisch, würden sich auf diesem intransparenten Weg nicht zusätzlich gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse im und durch das Recht verfestigen. Diese Ebene der Verwobenheit von Subjekt, Subjektposition und Recht wird durch eine zu enge Vorstellung der Objektivität einer richterlichen Entscheidung verschleiert. Ein solcher Schleier verhindert, dass diskursive Machtverhältnisse im gerichtlichen Entscheiden wirksam dekonstruiert werden können.28 Im Sinne des Subalternisierungsprozesses definieren dominante Positionen, was gewöhnlich, relevant und gleichzeitig, was objektiv und neutral ist. Nancy Levit führt eindrucksvoll aus, inwiefern mit der Vorstellung einer scheinbar objektiven Position eine mehrfache Hierarchisierung einhergeht:29 Zunächst vollzieht sich eine Wertung zwischen dem in objektiver Weise wissenden Subjekt und dem Objekt, auf welches sich das Wissen bezieht. Das Subjekt erhebt sich über das Wissensobjekt und spaltet sich dabei von diesem ab. Die Abspaltung 24 Gerichte müssen konkretisieren, weil sie es sind, denen der Einzelfall vorgelegt wird. Zur verfassungsrechtlichen Legitimität des Richterrechts: BVerfGE 65, 182 (190) – Sozialplan (1983); siehe auch die abweichende Meinung des Richters Andreas Voßkuhle, der Richterin Lerke Osterloh und des Richters Udo Di Fabio zu BVerfGE 122, 248 (282 ff.) – Rügeverkümmerung (2009). 25 Begriffsbildend: Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 137 ff. 26 Thomas Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991, S. 168. 27 Davon zu unterscheiden ist ein kollektives Rechtsbewusstsein: Thomas Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 1991, S. 168 f. 28 Innerhalb der Rechtswissenschaft opponierten der „Legal Realism“ sowie die verschiedenen Strömungen der „Critical Legal Studies“-Bewegung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegen eine solch formale gesetzesanwendende Logik. In der Rechtssoziologie wird zwischen dem „law in action“ und einem „law in the books“ unterschieden. Die Schlagwörter gehen zurück auf den gleichnamigen Aufsatz von Roscoe Pound, Law in Books and Law in Action, in: American Law Review 44 (1910), S. 12– 36. M.w. N. zur rechtsoziologischen Auseinandersetzung zum Wesen des Rechts Susanne Baer, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2021, S. 19 ff. Auch die „Law and (as/in) Literature“-Bewegung sowie die Narrativitätsforschung (narrative turn) beschäftigten sich mit dem Einwirken sozialer Verhältnisse auf das Recht. Zum Einstieg: Edward Schramm, Law and Literature. in: JA 2007, S. 581–585; Andreas v. Arnauld, Was war, was ist – und was sein soll, in: Klein/Martínez (Hg.), Wirklichkeitserzählungen, 2009, S. 14–50. 29 Nancy Levit, Critical of Race Theory, Race Reason, Merit and Civility, in: The Georgetown Law Journal, Vol. 87 3/1999, S. 795–822. Ausführlich Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 40.

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

drückt sich in der Annahme aus, es könne zwischen dem Wissen und der wissenden Person unterschieden werden; dass diese sich also in einen „rational wissenden“ und einen „subjektiv erfahrenden“ Teil trennt. Dabei ist Erfahrungswissen dem intellektuell „erlernten“ Wissen unterlegen. Donna Haraway beschreibt dieses Vorgehen als sog. „God-Trick“. Ein scheinbar körperloser Blick verspricht, alle Perspektiven einnehmen zu können, ohne zu kennzeichnen, woher das Wissen stammt oder wie es gewonnen wurde. Folglich bleibt unberücksichtigt, dass es sich bei der vermeintlich objektiven Erkenntnis um „situiertes Wissen“30 handelt. Haraway zeigt damit auf, dass ein Umgang jenseits vermeintlicher Objektivität und absoluter Subjektivität möglich ist. Ihr Konzept des „situierten Wissens“ setzt Objektivität gerade nicht mit Neutralität gleich, sondern plädiert dafür, die Referenzen des eigenen Standpunktes offenzulegen. Im Recht bedeutet das, Vorverständnisse zu reflektieren und gegebenenfalls offen auszuflaggen. Für die Richterschaft, die nicht als Person, sondern „im Namen des Volkes“ spricht, bedeutet dies zumindest, dass die eigene Sprechposition in der Entscheidungsfindung – gerade in Wertungsfragen – mehr Aufmerksamkeit verdient. Mit Spivak wird klar, dass es auch im Sinne des hermeneutischen Prozesses unmöglich ist, die anderen vollständig zu verstehen. Und dennoch besteht die Notwendigkeit, sich fortwährend auf einen Dialog einzulassen – nichts anderes muss für das Recht und dessen Anwendung gelten.

B. Rechtssoziologische Reflexion Neben dem Wesen der Rechtssprache und dem Ideal der judiziellen Objektivität prägt vor allem die konkrete Sprechsituation vor Gericht das Gehörtwerden der subalternen Stimme. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich daher mit der Frage, welche Wirklichkeit den Versuch umgibt, rassistische Ungleichheit gerichtlich zu verhandeln. Teilweise werden erste Lösungsansätze entwickelt. Ich blicke auf den Zugang zum Gericht, den Verhandlungsraum sowie die kognitiven Prozesse innerhalb der Urteilsfindung. Jeden der drei Bereiche überprüfe ich daraufhin, ob rassifizierte Stimmen gegenüber anderen benachteiligt sein könnten.

I. Zugangshürden zum Gericht Verfahren wegen einer rassischen Benachteiligung machen nur einen kleinen Teil der gerichtlichen Verfahren nach dem AGG aus.31 Dies verwundert aufgrund der besonders hohen alltäglichen Relevanz entsprechender Diskriminierungser-

30 Donna Haraway, Situated Knowledges, in: Feminist Studies Vol. 14 3/1988, S. 575–599. 31 Sabine Berghahn u. a., Evaluation des AGG, i. A. der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2016, S. 40

B. Rechtssoziologische Reflexion

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fahrungen.32 Die Ergebnisse stehen ebenfalls in einem Widerspruch zur großen Zahl an Beratungsanfragen, die bei antidiskriminierungsrechtlichen Beratungsstellen wegen rassischer Ungleichheitserfahrungen eingehen.33 Es liegt daher nahe, dass außerrechtliche Umstände die gerichtliche Rechtsdurchsetzung erschweren. Die soziologische Rechtsforschung bestätigt, dass der Zugang zum Gericht für Verfahren hinsichtlich der Diskriminierungskategorie „Rasse“ verschiedentlich beschränkt ist. Da eine Stimme vor Gericht jedenfalls nur dann gehört werden kann, wenn die betroffenen Sprecher*innen überhaupt den Rechtsweg beschreiten, wirken sich solche spezifischen Zugangshürden erheblich auf den Subalternisierungsprozess im Recht aus. Den Klageweg einzuschlagen, setzt ein grundsätzliches Vertrauen in die Justiz als staatliche Institution voraus, die eigene Erfahrung ernst zu nehmen und effektiv zu verhandeln. Dieses Vertrauen kann Menschen, die von Rassismus betroffen sind, fehlen. Regelmäßig erschüttern die Wahrnehmung der staatlichen Sphäre Rassismuserfahrungen in institutionellen Settings – sog. „institutioneller Rassismus“. Eine aktuelle Umfrage ergibt, dass fast zwei Drittel der schwarzen Menschen in Deutschland im Laufe ihres Lebens gelegentlich bis sehr häufig Rassismuserfahrungen im Lebensbereich der Justiz sammeln. Im Kontakt zur Polizei geben dies sogar 82,1 % der Befragten an, im Verhältnis zu Ämtern und Behörden im Allgemeinen sind es 66,5 %.34 Ein gerichtliches Verfahren ist darüber hinaus mit hohen emotionalen Risiken verbunden. Solche resultieren aus dem Umstand, die demütigende Diskriminierungserfahrung vor Gericht aufs Neue erleben zu müssen. Ein solches Risiko wird häufig nur dann eingegangen, wenn die Erfolgsaussichten des Verfahrens hoch sind. Für antidiskriminierungsrechtliche Klagen ist dies nicht immer der Fall. Da eine Diskriminierungssituation typischerweise mehrdeutig ist, können die wahren Gründe und Motive der benachteiligenden Handlungen zweifelhaft bleiben und gerichtlich nur schwer nachweisbar sein. Dies führt zu einer erhöhten Skepsis über die Erfolgsaussichten eines Verfahrens und mindert die Motivation, den Weg einer Individualklage zu beschreiten.35 Auch fehlende Kenntnisse über die eigenen Rechte oder Möglichkei-

32 Dies belegen verschiedene Studien zur Diskriminierungsrealität in Deutschland. Statt vieler vgl. die letzten beiden Gleichstellungsberichte (Dritter und Vierter): Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), Diskriminierung in Deutschland, 2017. Der aktuelle Bericht (Zeitraum 2017–2020) findet sich in: BT-Drs. 19/32690 v. 7.10.2021. 33 Im Jahr 2020 betrafen 33 % der Beratungsanfragen die „ethnische Herkunft“ bzw. Rassismus. Nur hinsichtlich der Kategorie „Behinderung“ gab es mehr Anfragen. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), Jahresbericht 2020, 2021, S. 44. 34 Muna AnNisa Aikins u. a., Afrozensus 2020, 2021, S. 92, abrufbar unter: https:// afrozensus.de/reports/2020/#start. 35 Ausführlich Daniel Bartel, Möglichkeiten der Intervention in der Antidiskriminierungsarbeit und ihre Schwierigkeiten, in: Opferperspektive e. V. (Hg.), Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt, 2013, S. 173–184.

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

ten, auf bestehende Unterstützungsnetzwerke zurückzugreifen, können den Weg zum Gericht erschweren.36 Ein wichtiges Mittel, die benannten Schwierigkeiten innerhalb der prozessualen Rechtsdurchsetzung zu überwinden, liegt in der strategischen Prozessführung.37 Eine strategische Klage verfolgt politische, soziale oder wirtschaftliche Interessen, die über den Einzelfall der Individualklage hinausgehen.38 Das Recht dient als „Hebel“, um eine wirksame Beschäftigung mit der zugrundeliegenden Problemstellung anzustoßen und die Betroffenen in ihrer Diskriminierungsrealität sichtbar zu machen.39 Typischerweise wird die strategische Prozessführung von NGOs oder anderen Verbänden angestoßen, geleitet oder zumindest öffentlich begleitet. Solche Organisationen erklären die Inhalte und die Ziele des Verfahrens öffentlich und leisten einen Beitrag zur antidiskriminierungsrechtlichen Bildung. Auf diesem Wege können Rechtsentwicklungen vorangebracht und vorbildhafte Entscheidungen erwirkt werden, die durch ihre Signalwirkung rechtliche Veränderungen anregen. Darüber hinaus wird die klagende Einzelperson entlastet, weil beispielsweise das finanzielle Prozesskostenrisiko von den beteiligten Bürger- und Menschenrechtsorganisationen übernommen wird. Aktuelle Anwendungsfälle der strategischen Prozessführung finden sich neben dem Antidiskriminierungs- und Gleichheitsrecht40 vor allem im Klima- und Umweltrecht41 sowie im Feld des Datenschutzes, der Informations- und Pressefreiheit.42 Im deutschen Antidiskriminierungsrecht sind die rechtlichen Möglichkeiten, vom Mittel der strategischen Prozessführung Gebrauch zu machen, jedoch sehr 36 Eine breit angelegte Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) zu Diskriminierungserfahrungen unterschiedlicher Minderheiten untermauert die Forderung, Betroffene von Diskriminierung über ihre bestehenden Rechte aufzuklären und den Zugang zur Justiz zu verbessern. FRA, EU-MIDIS, 2011, S. 6, abrufbar unter: https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/663-FRA-2011_EU_MIDIS_DE.pdf. 37 In der noch am Anfang stehenden deutschen wissenschaftlichen Beschäftigung wird als Alternative der Begriff der „juristischen Intervention“ vorgeschlagen, um die Engführung auf den Gerichtsprozess aufzulösen und auch darüberhinausgehende Dimensionen zu erfassen. Ausführlich dazu Arite Keller/Karina Theurer, Menschenrechte mit rechtlichen Mitteln durchsetzen, in: Graser/Helmrich (Hg.), Strategic Litigation, 2019, S. 53–63. International werden die Konzepte unter den Stichworten „public interest litigation“ und „strategic (human rights) litigation“ verhandelt. 38 Lisa Hahn, Strategische Prozessführung, in: ZRSoz 2019, S. 5–32. Ausführlich Arite Keller/Karina Theurer, Menschenrechte mit rechtlichen Mitteln durchsetzen, in: Graser/Helmrich (Hg.), Strategic Litigation, 2019, S. 53–64. 39 M.w. N. Lisa Hahn, Strategische Prozessführung, in: ZRSoz 2019, S. 5–32. 40 Ausführlich Kapitel 3, B. I. 3., S. 175 ff. Zur Auseinandersetzung auch im Folgenden: Sara Kinsky, Mit Recht gegen Rassismus, 2017, S. 22 f. 41 Zum Einstieg in den Themenbereich der sog. „Klimaklagen“: Wolfgang Kahl/ Marc-Philippe Weller (Hg.), Climate Change Litigation, 2021. 42 Zu nennen sind hier insbesondere die verschiedenen Verfahren, welche strategisch von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) betreut wurden. Nähere Informationen abrufbar unter: https://freiheitsrechte.org/themen/freiheit-im-digitalen.

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eingeschränkt. Das AGG sieht als Weg der Klageerhebung und Prozessführung weder eine Prozessstandschaft noch ein Verbandsklagerecht vor. § 23 AGG normiert lediglich die Möglichkeit einer prozessualen „Unterstützung durch Antidiskriminierungsverbände“.43 NGOs sind daher darauf verwiesen, Kläger*innen zu finden, die gewillt und in der Lage dazu sind, sich den Anstrengungen eines möglicherweise langwierigen Rechtsstreits persönlich auszusetzen.44 Nach § 23 Abs. 2 AGG können Verbände im Rahmen ihres Satzungszweckes als Beistände von Benachteiligten in der Verhandlung auftreten. Die Befugnisse im Rahmen eines solchen Beistandes reichen nicht darüber hinaus, einen Vortrag für die Kläger*innen zu halten oder vereinzelt Anträge zu stellen.45 Es bestehen zudem hohe Hürden, überhaupt als „Antidiskriminierungsverband“ im Sinne des Gesetzes anerkannt zu werden.46 In der antidiskriminierungsrechtlichen Praxis verbindet sich mit der strategischen Prozessführung die gezielte Schaffung von Präzedenzfällen, um typische Problemlagen aufzugreifen. Hierzu wurden in der Vergangenheit sog. „Testing-Verfahren“ angewendet. Es handelt sich dabei um den strategischen Einsatz sog. Vergleichspersonen. Mit Hilfe einer Testperson wird überprüft, ob ein bestimmtes Verhalten auch gegenüber Menschen gezeigt wird, die „getestete“ Diskriminierungsmerkmale nicht aufweisen.47 Zum Nachweis eines rassistischen Diskriminierungsrisikos wird also eine weiß gelesene und eine nichtweiß gelesene Person der gleichen Situation (etwa einem Bewerbungsverfahren, einer Einlasskontrolle usw.) ausgesetzt und das Verhalten des Gegenübers beobachtet. Der Vergleich erfolgt in einer Vielzahl von Fällen und kann auf diese Weise den Beweis einer strukturellen Diskriminierungslage erleichtern. Jedoch begründet der Rückgriff auf ein Testing-Verfahren eigene prozessuale Risiken, wie die nachfolgende Rechtsprechungsanalyse der sog. Diskotheken-Fälle zeigen wird.48 Im neuen Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz49 wurde erstmals eine sog. Ombudsstelle (§ 14 LADG) eingerichtet, die Betroffene kostenfrei durch Informationen und Beratung bei der Durchsetzung ihrer antidiskriminierungsrechtlichen Ansprüche unterstützt.50 43 Mitwirkungsbefugnisse sind europarechtlich vorgegeben: Art. 7 II RL 2000/43/ EG; Art. 9 II RL 2000/78/EG; Art. 17 II RL 2006/54/EG; Art. 8 III RL 2004/113/EG. 44 Sara Kinsky, Mit Recht gegen Rassismus, 2017, S. 31. 45 Monika Schlachter, in: Erfurter Komm. zum Arbeitsrecht, AGG, 21. Aufl. 2021, § 23 Rn. 3. Christoph Legerlotz, in: Heidel u. a. (Hg.), BGB AT, AGG, 4. Aufl. 2021, § 23 Rn. 5 ff. 46 Christoph Legerlotz, in: Heidel u. a. (Hg.), BGB AT, AGG, 4. Aufl. 2021, § 23 Rn. 4. 47 Ausführlich zum Testing-Verfahren, den rechtlichen Voraussetzungen und der Entwicklung methodischer Standards: Alexander Klose/Kerstin Kühn, Die Anwendbarkeit von Testing-Verfahren im Rahmen der Beweislast, § 22 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2010. 48 Siehe Kapitel 3, B. 3., ab S. 175. 49 GVBl. Berlin Nr. 29 v. 20.6.2020, S. 532–534. 50 Nähere Informationen: https://www.berlin.de/sen/lads/recht/ladg/ombudsstelle/.

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II. Dominanzverhältnisse im Gerichtssaal In der rechtstheoretischen Reflexion hat sich dieses Kapitel bereits mit dem Wesen des rechtlichen Sprechens auseinandergesetzt. An jene Überlegungen soll angeknüpft werden, wenn nun die konkrete Sprechsituation vor Gericht analysiert wird. Der Gerichtssaal verkörpert einen symbolischen Ort des Rechtskampfes. Er bildet einen Raum des Streites um Interessen, um Ausgleich und nicht zuletzt um Gerechtigkeit. Gleichzeitig werden „vor Gericht“ die rechtlichen Machtverhältnisse sehr deutlich spürbar. Es handelt sich um einen in besonderer Weise regulierten Raum. Neben detaillierten Verhaltensregeln ist zumeist auch festgelegt, wer, wann, warum, zu wem und worüber (oder worüber nicht) spricht.51 Zwar ist die Kommunikation nicht in all ihren Details institutionell vorbestimmt, gleichwohl ist das kommunikative Setting formal klar abgesteckt.52 Die verhandlungsführende Person verfügt über das Fragemonopol, dem die anderen Parteien unterworfen sind. Die Befragten können sich diesem Monopol nur aus besonderen Gründen entziehen, etwa aufgrund eines Aussageverweigerungsrechts im Strafprozess. In einer der wenigen wissenschaftlichen Abhandlungen zur Kommunikation vor Gericht beschreibt Ludger Hoffmann das gerichtliche Sprechen als „zweckgebundene Aussage“.53 Die unterschiedlichen Verfahrensbeteiligten begegnen sich in einem eindeutig asymmetrischen Verhältnis. Aus den Erfahrungsberichten von Prozessbeobachtungsgruppen ist bekannt, dass das Gericht aus diesem Grund eine stark einschüchternde Wirkung auf Menschen hat, die sich dort nicht regelmäßig und daher ohne Routine und mit fehlender Selbstverständlichkeit bewegen.54 Ein solches Unbehagen wird dadurch verstärkt, dass sich die Vielzahl der Regeln des Raums nicht intuitiv erschließt und teilweise auch gesetzlich nicht klar normiert ist. Einlasskontrollen, die Sitzordnung im Gerichtssaal und der Ablauf des Verfahrens sind zunächst unbekannt. Die Sitzordnung etwa folgt nicht rechtlichen Regeln, sondern traditionellen Gepflogenheiten. Darüber hinaus treffen im Gerichtsraum unterschiedliche sprachliche Systeme aufeinander: Die fachsprachliche Kommunikation begegnet der sog. „Gemeinsprache“ des Alltags. Die veränderte Semantik gemeinsprachlicher Ausdrücke, denen als Fachterminus eine spezifisch juristische Bedeutung zukommt, kann Verständigungsprobleme zwischen den juristischen Professionellen und anderen 51 Das Gerichtsverfahren richtet sich nach den jeweiligen Verfahrensgesetzen der ZPO, VwGO oder StPO. Wiederum soll auf die bestehenden Unterschiede zwischen den einzelnen Zweigen der Gerichtsbarkeit an dieser Stelle nicht vertieft eingegangen werden. Die Sitzordnung der Verfahrensbeteiligten beispielsweise ist regelmäßig nicht gesetzlich festgelegt, sondern folgt tradierten ungeschriebenen Regeln. 52 Für die mündliche Verhandlung im Zivilverfahren §§ 128 ff. ZPO. Die Prozessleistung kommt gem. § 136 ZPO dem Vorsitzenden zu, den Gang der mündlichen Verhandlung regelt § 137 ZPO. 53 Ludger Hoffmann, Kommunikation vor Gericht, 1983, S. 107. 54 Sophie Schlüter/Katharina Schoenes, Zur Ent-Thematisierung von Rassismus in der Justiz, in: movements, Jg. 2 1/2016, S. 199–210 (204).

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Beteiligten erzeugen. Weiterhin haben soziokulturelle Codes in besonderem Maße Einfluss auf das diskursive Setting vor Gericht. Solche Codes geben vor, welche Verhaltensweisen angebracht, welche unangebracht sind. Dabei wird code-konformes Verhalten positiv, abweichendes negativ sanktioniert. Eine positive Sanktion kann sich in sozialer Anerkennung und Glaubwürdigkeit ausdrücken, eine negative in Skepsis gegenüber den Aussagen der sprechenden Person äußern. Als Machtverhältnis im gerichtlichen Raum ist schließlich ebenfalls wirkmächtig, dass im deutschen Gerichtsapparat überwiegend weiß gelesene Menschen tätig sind.55 Das Diversitätsdefizit birgt die Gefahr, dass von Rassismus betroffene Personen sich nicht verstanden fühlen oder sich eine „Wir-gegenDie“-Mentalität herausbildet.56 Weiße Menschen sind einem epistemischen Nachteil ausgesetzt, die verhandelte Diskriminierungsrealität zu erfassen.57 Anders als andere Berufe sieht eine Anstellung im Rechtswesen keine Selbsterfahrung vor, die diesen Nachteil reflektieren könnte. Ein Austausch über das Erlebte im Sinne einer Vergewisserung der eigenen Handlung ist nicht üblich. Im Sinne der Subalternitätsforschung ist die Rechtsprechung dringend darauf verwiesen, den eigenen Ort des Sprechens, Verstehens und der Wahrnehmung zu hinterfragen, um solche Ausschlussmöglichkeiten zu minimieren. Die rechtssoziogische Erforschung dieser und anderer Zusammenhänge von Rassismus in der Justiz steht erst an ihrem Beginn, umfangreiche empirische Untersuchungen gibt es noch nicht. Es besteht Forschungsbedarf.

III. Kognitive Verzerrungen: der (Judicial) Racial Bias Menschliches Denken unterliegt Irrtümern. Diese Erkenntnis ist so alt wie banal und klang ebenfalls bereits im vorherigen Abschnitt an. Die sozialpsychologische Forschung zu sog. kognitiven Verzerrungen geht über diese Feststellung weit hinaus und zeigt das Potenzial einer einseitigen Subalternisierung an. Wissenschaftlich bahnbrechend waren die Arbeiten von Amos Tversky und Daniel Kahneman, die in den 1970er Jahren zeigen konnten, dass Menschen bei unsicheren Entscheidungen sog. „Heuristiken“, einfache „Daumenregeln“, verwenden. Heuristiken greifen auf mutmaßende Schlussfolgerungen zurück, um die menschliche Informationsverarbeitung zu erleichtern. Tversky und Kahneman wiesen ebenfalls nach, dass Menschen in diesem Vorgang systematisch bestimmten, nicht zufälligen Fehlern unterliegen.58 Die Sozialpsychologie erfasst solche Fehl55

Michael Grünberger u. a., Diversität in der Rechtswissenschaft, 2021. Dies schildert am Beispiel von Racial Profiling das Autor*innenkollektiv der Berliner Kampagne Ban!, in: Loick (Hg.), Kritik der Polizei, 2018, S. 181–196 (185). 57 Hierzu vor allem Kapitel 1, A. II. 2. c), S. 54 ff. 58 Amos Tversky/Daniel Kahneman, Judgment under uncertainty: Heuristics and biases, in: Science 1974, S. 1224–1331. Die Arbeiten Daniel Kahnemans zählen zu den prominentesten im Themenbereich Urteilsheuristiken und kognitive Verzerrungen. Sie 56

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leistungen unter dem Sammelbegriff des „Bias“. Unterschieden wird zwischen dessen expliziter und impliziter Erscheinung. Explizite Formen betreffen Informationsverarbeitungsprozesse, die der bewussten Wahrnehmung zumindest grundsätzlich zugänglich sind. Implizite Formen des Bias (implicit bias) hingegen wirken sich auf der Ebene der automatischen, unbewussten Informationsverarbeitung aus und führen zu einer Voreingenommenheit, die mit den Meinungen und Werten einer Person nicht übereinstimmen muss, diesen sogar direkt widersprechen kann. Seit den 1990er Jahren werden derart unreflektierte Vorannahmen im Wege des Implicit-Association-Tests (IAT)59 gemessen. Ein solcher Test schließt aus der gedanklichen Verknüpfung bestimmter Begriffe oder Bilder auf persönliche Einstellungen. Dem Verfahren liegt die Annahme eines assoziativen Netzwerks60 zugrunde, das Knotenpunkte aktiviert, wenn es auf verwandte Informationen trifft. Personen reagieren somit schneller, wenn das Beurteilungsobjekt und die Bewertung Teil desselben Netzwerks sind. Die Reaktionszeit und die Fehleranfälligkeit der Teilnehmenden geben Aufschluss über solche Verknüpfungen. Die ermittelten kognitiven Verzerrungen folgen zwar nicht in jedem Fall und nicht zwingend einer diskriminierenden Denk- oder Verhaltensweise,61 weit überwiegend ist dies jedoch der Fall. Die Ergebnisse der mittlerweile millionenfach durchgeführten IA-Tests und weiterer Maße für den impliziten Bias reproduzieren gesellschaftliche Diskriminierungsrealitäten deutlich. Ein Bias ist daher nicht als individualisiertes, psychologisches Phänomen zu betrachten, das zu rein zufälligen Fehlern führt. Verzerrte Denkprozesse stehen vielmehr in direktem Zusammenhang zu historisch tradierten Marginalisierungsverhältnissen. Dies trifft auch auf den Racial Bias zu, die rassistische Voreingenommenheit. Ein Rückgriff auf rassistisches Wissen im Zuge einer Entscheidung ist unabhängig von der Intention der Beteiligten möglich. Verschiedene internationale Studien legen nahe, sind auch populärwissenschaftlich in Erscheinung getreten, siehe: Daniel Kahneman, Thinking, Fast and Slow, 2012. 59 Begründet von Anthony G. Greenwald u. a., Measuring individual differences in implicit cognition: the implicit association test, in: Journal of Personality and Social Psychology, 1998, S. 1464–1480. Erster empirischer Gebrauch des IAT im Rechtskontext: Theodore Eisenberg/Sheri Lynn Johnson, Implicit Racial Attitudes of Death Penalty Lawyers, in: DePaul Law Review, Vol. 53 4/2004, S. 1539–1556. Die Möglichkeit der Testung eigener impliziter Assoziationen bezüglich häufiger Diskriminierungsmuster (beispielsweise Gender, Religion, Race) besteht unter: https://implicit.harvard.edu/ implicit/takeatest.html. Zum Begriff der „impliziten Vorurteile“ siehe René Baston, Implizite Vorurteile, 2020. 60 Das Netzwerkmodell geht zurück auf Allan M. Collins/Elizabeth F. Loftus, A spreading-activation theory of semantic processing, in: Psychological Review, Vol. 82 6/1975, S. 407–428. 61 Häufig auftretende Formen sind beispielsweise der Confirmation-Bias, der dazu führt, die eigene Überzeugung durch eine Information bestätigt zu sehen, statt detailliert zu prüfen, oder der Hindsight-Bias, welcher als „Rückschaufehler“ die Vergangenheit fehlerhaft bewertet. Zum Rückschaufehler im Recht: Aileen Oeberst, Der Rückschaufehler im juristischen Kontext, in: RW 2019, S. 180–203.

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dass Jurist*innen die gleichen impliziten Vorurteile zeigen wie der Rest der Bevölkerung.62 Obwohl Richter*innen gem. § 38 Abs. 1 DRiG verpflichtet sind, „ohne Ansehen der Person“ zu urteilen, wirken sich rassistische Vorannahmen daher auf die gerichtliche Entscheidung aus.63 Dies betrifft zunächst die gerichtliche Kommunikation. Aus einem rassistischen Bias können geringere Sprechzeiten für rassifizierte Prozessbeteiligte, eine weniger freundliche Mimik des Justizpersonals, stärkere Sprechverzögerungen oder häufigere Sprechfehler resultieren, die wiederum eine unangenehme Gesprächsatmosphäre begründen und sich so etwa auf eine gerichtliche Befragung negativ auswirken.64 Empirische Untersuchungen zur Auswirkung kognitiver Verzerrungen für die deutsche Justiz fehlen beinahe vollständig.65 In einer Befragung im Rahmen des Forschungsprojektes „Realität der Diskriminierung in Deutschland“ gaben mehrere Klagevertreter*innen an, dass die richterliche Beweiswürdigung nach ihrem Eindruck von rassistischen Stereotypen geprägt ist: „Je südlicher die Herkunft und je dunkler die Hautfarbe, desto unglaubwürdiger der Zeuge“,66 so beschreibt eine Interviewperson ein von ihr beobachtetes Muster der gerichtlichen Vernehmung. Die USamerikanische Rechtswissenschaft hat mögliche Effekte – vor allem für den Strafprozess – bereits detaillierter betrachtet.67 So sind etwa im strafprozessualen 62 Jeffrey J. Rachlinski u. a., Does Unconscious Racial Bias Affect Trial Judges?, in: Notre Dame Law Review, Vol. 84 3/2009, S. 1195–1246. Für Strafverteidiger im Vergleich zum Rest der Bevölkerung: Theodore Eisenberg/Sheri Lynn Johnson, Implicit Racial Attitudes of Death Penalty Lawyers, in: DePaul Law Review, Vol. 53 4/2004, S. 1539–1542. 63 Für einen Überblick etwa William Y. Chin, Racial cumulative disadvantage, in: Wake Forest Journal of Law & Policy, Vol. 6 2/2016, S. 441–458. Ausführlich zur impliziten Voreingenommenheit im Straf- sowie Zivilverfahren und eine Darstellung zu möglichen Interventionsstrategien beinhaltend: Jerry Kang u. a., Implicit Bias in the Courtroom, in: 59 UCLA Law Review 2012, S. 1124–1186 (Strafverfahren: S. 1135 ff.; Zivilverfahren: S. 1152 ff.; zu Interventionen: S. 1169 ff.). 64 M.w. N. Kathleen Jäger , Unbewusste Vorurteile im Gerichtssaal, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, 2018, S. 48–54 (52). 65 Als Anwendungsbereiche der Kognitionsforschung überwiegen hier das Arbeits-, Antidiskriminierungs- und Strafrecht. Etwa: Anja Watzenberg, Der homo oeconomicus und seine Vorurteile, 2014; Mark Zimmer/Sara Stajcic, Unbewusste Denkmuster, in: NZA 2017, S. 1040–1046; Michael Schweipert, Implizite Vorurteile im Entscheidungsprozess und vorvertraglicher Diskriminierungsschutz, 2018. Umfangreicher ist die rechtswissenschaftliche Literatur zum übergeordneten Themenbereich der begrenzten menschlichen Rationalität und Entscheidungsfindung, die Bias-Forschung wird hierbei nur am Rande diskutiert und nur bedingt empirisch weiterentwickelt. 66 Zitiert nach Hubert Rottleuthner/Matthias Mahlmann, Diskriminierung in Deutschland, 2011, S. 337. 67 Die genannten Zusammenhänge sind unter der Einschränkung zu lesen, dass eine einfache Übertragung der Ergebnisse aufgrund der großen Unterschiede der nationalen Strafsysteme methodische Zweifel aufwirft. Ob sich die Effekte für Deutschland replizieren ließen, muss gesondert untersucht werden. Jedenfalls aber deuten sie in eine gewisse Richtung.

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

Ermittlungsverfahren schwarze Menschen einem höheren Verdacht ausgesetzt und typischerweise stärker von ermittlungsbehördlichen Maßnahmen betroffen.68 Im nationalen Kontext zeigten sich Auswirkungen einer voreingenommenen Ermittlung jüngst im Rahmen der einseitigen Beweiserhebung im Verfahren zum sog. Nationalsozialistischen Untergrund (NSU).69 Weiter zeigen Studien, dass auch das Erinnerungsvermögen von Richter*innen rassistischen Gedächtnisvorurteilen ausgesetzt ist70 und die Arbeit von Anwält*innen durch rassistische Vorannahmen beeinflusst wird.71 Im Rahmen von Strafprozessen wirkt sich ein rassistischer Bias negativ auf die Unschuldsvermutung der Angeklagten72, die Höhe der Bestrafung73 sowie die Einschätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit74 aus. Die bisherigen Erkenntnisse legen nahe, dass Verzerrungen gravierende Effekte auf die judikative Rechtserzeugung haben können. Durch die einseitige Fehleranfälligkeit entstehen rassifizierte Diskursnachteile. Dieser Effekt ist dabei kein vorsätzlich herbeigeführter Zustand, gleichzeitig ein anschauliches Beispiel für den Einfluss exkludierender Effekte in der Kommunikation. Ein Racial Bias führt zu einer Verfremdung und gleichzeitig einer (unbewussten) Abwertung des Verfremdeten. Die Wirkweise des Bias entspricht insofern den Mechanismen der Subalternisierung und bildet eine Säule der Stabilisation rassistischen Wissens im Recht. Ungünstige Entscheidungsumstände verstärken den Einfluss kognitiver Verzerrungen auf das menschliche Handeln. Als solche gelten zeitlicher Entscheidungsstress, ein hohes Arbeitsaufkommen und fehlende Rechenschaftspflichten.75 Unbewusste Vorurteile wirken gerade dann auf Entscheidungen ein,

68 Ausführlich Charles R. Epp u. a., How Police Stops define Race and Citizenship, 2014. M.w. N. Robert Smith u. a., Implicit White Favoritism in the Criminal Justice System, in: Alabama Law Review, Vol. 66 4/2015, S. 871–923 (906 ff.). 69 Mit Fokus auf den Mord in Kassel Maximilian Pichl, Der NSU-Mord in Kassel, in: KJ 2015, S. 275–287. Zum NSU-Komplex insgesamt ders., Von Aufklärung keine Spur, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2018, S. 111–120. 70 Justin D. Levinson, Forgotten Racial Equality, in: Duke Law Journal, Vol. 57 2007, S. 345–424. 71 Für das Strafverfahren Andrea D. Lyon, Race Bias and the Importance of Consciousness for Criminal Defense Attorneys, in: Seattle University Law Review, Vol. 35 2012, S. 755–768. 72 Im Rahmen der Todesstrafe: Justin D. Levinson u. a., Devaluing Death, in: New York University Law Review, Vol. 89 2014, S. 513–581 (557). Bei der Beurteilung von jugendlichen Straftätern: Justin D. Levinson/Danielle Young, Different Shades of Bias, in: West Virginia Law Review, Vol. 112 2/2010, S. 307–350. Außerdem Justin D. Levinson, Guilty by Implicit Bias, in: Ohio State Journal of Criminal Law, Vol. 8 2010, S. 187–208. 73 Sandra Graham/Brian S. Lowery , Priming Unconscious Racial Stereotypes About Adolescent Offenders, Law and Human Behavior, Vol. 28 5/2004, S. 483–504. 74 Ebd. 75 Kathleen Jäger , Unbewusste Vorurteile im Gerichtssaal, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, 2018,S. 48–54

B. Rechtssoziologische Reflexion

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wenn eine Person allein und ohne Rücksprache mit anderen Personen entscheidet. Der Versuch, diesen Gefahrenpotenzialen zu begegnen, begründet zumindest im letztgenannten Fall ein Spannungsverhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit. Richter*innen sind in ihrem persönlichen Handeln nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Ihre sachliche Unabhängigkeit schützt die Rechtsprechung vor einer sachfremden Einflussnahme und bildet in Verbindung mit dem Richtermonopol (Art. 92 GG) den „institutionellen Kern des Rechtsstaatsprinzips“.76 Die richterliche Unabhängigkeit ist rückgebunden, indem sich Richter*innen gem. § 39 Deutsches Richtergesetz (DRiG) innerhalb und außerhalb des Amtes, auch bei einer politischen Betätigung, so verhalten müssen, dass das Vertrauen in die Unabhängigkeit nicht gefährdet wird. Der „freien Beweiswürdigung“ wird durch den juristischen Methodenkanon nur eine schwache Kontur verliehen.77 Obwohl es nicht praktikabel wäre, jede Beurteilung einer Person – beispielsweise als (un-)glaubwürdig – belegungspflichtig auszugestalten, sollte der Risikofaktor hinsichtlich eines möglichen Einflusses unbewusster Vorurteile bedacht werden. Studien belegen, dass Menschen grundsätzlich fähig sind, die genannten Effekte auszugleichen und Richter*innen bei ausreichender Motivation den Einfluss ihrer Voreingenommenheit – zumindest kurzfristig78 – kompensieren können.79 Debiasing-Methoden finden nur allmählich Einzug in die Weiterbildungsprogramme der deutschen Justiz.80 Jedoch besteht weder im Bund noch in den Ländern ein Recht auf Fortbildung und auch Fortbildungspflichten für Richter*innen sind nur

(53). Entsprechend Pamela M. Casey u. a., Helping Courts Address Implicit Bias. Resources für Education, 2012. 76 Gerd Morgenthaler, in: Epping/Hillgruber (Hg.), BeckOK GG, 50. Ed. 2022, Art. 97 GG. 77 Mark Schweizer ermittelt in seiner Untersuchung, wie der Vorgang der Beweiswürdigung verbessert werden könnte. Ein striktes Festhalten am Regelbeweismaß der „persönlichen Gewissheit“ hält er für nicht rechtfertigbar. Mark Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, 2015. 78 Eine groß angelegte Studie kam zu dem Ergebnis, dass Anti-Bias-Maßnahmen den rassistischen Bias zwar messbar reduzieren, keine der getesteten Maßnahmen jedoch nach einigen Stunden oder Tagen noch wirksam war. Calvin K. Lai u. a., Reducing Implicit Racial Preferences, in: Journal of Experimental Psychology, Vol. 145 8/2016, S. 1001–1016. 79 Jeffrey J. Rachlinski u. a., Does Unconscious Racial Bias Affect Trial Judges?, in: Notre Dame Law Review, Vol. 84 3/2009, S. 1195–1246 (1208). 80 Im Bundesland Hessen wurde im Jahr 2020 erstmalig die Veranstaltung „Rassismus – eine Herausforderung für die Justiz“ abgehalten, die ebenfalls die eigene Wahrnehmung und deren „unbewusste Prägung“ thematisiert: Hessisches Ministerium für Justiz, Fortbildungen im Bereich Sozial- und Führungskompetenz, Gesundheit, Haushalt und E-Justice, Fachwissen, Programm 2020, S. 241. Die Deutsche Richterakademie bietet für das Jahr 2021 eine niedrige zweistellige Zahl an Tagungen zu den Themen Entscheidungsfindung und Wahrnehmungsfehlern bei der Urteilsbildung an. Eine Veranstaltung zum Racial Bias findet sich nicht. Siehe Deutsche Richterakademie, Jahresprogramm 2021, abrufbar unter http://www.deutsche-richterakademie.de/icc/drade/ nav/4fc/broker.jsp?uMen=eec31bbe-aa5d-3712-140c-a146350fd4c2.

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

vereinzelt geregelt – anders als dies beispielsweise für die Fachanwaltschaft der Fall ist.81

C. Rechtsdogmatische Reflexion Der rechtliche Schutz vor rassistischer Ungleichheit ist im deutschen Rechtssystem mehrdimensional ausgestaltet, um auf die unterschiedlich gelagerten Diskriminierungspotenziale zu reagieren.82 Ich möchte die Frage aufwerfen, von welchen Prämissen das deutsche Gleichheitsrecht ausgeht und wie die Rechtsprechung und das rechtswissenschaftliche Schrifttum das Rechtskriterium der „Rasse“ fortbilden. Dabei analysiere ich, ob die Rechtsanwendung über die notwendigen Kenntnisse verfügt, rassistische Praktiken und Diskursbeiträge zu erkennen. Mit der gleichen Fragestellung blicke ich auf die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Antidiskriminierungsrechts. Dabei sollen gleichsam Hürden besprochen werden, die es erschweren, rassifizierte Stimmen vor Gericht zu hören.

I. Prämissen des Gleichheitsrechts Das deutsche Gleichheitsrecht ist traditionell formal geprägt. Eine formale Betrachtung von Gleichheit entspricht einem Urteilen ohne Ansehen der Person: Das Recht soll allen Menschen die gleichen Rechte oder Pflichten zuweisen. Verknüpft es eine Rechtsfolge mit einem pönalisierten Merkmal, begründet dies eine unmittelbare Diskriminierung.83 Das formale Verständnis zieht sich zurück auf die Betrachtung des Gegenwärtigen und strebt eine kontextlos gleiche Behandlung aller an. Die Bedeutung der besonderen Gleichheitssätze des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG reduziert sich gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz auf eine klarstellende Funktion der besonderen Gefährdungslage bestimmter Personen (-gruppen).84 Ein materiales Verständnis von Gleichheit erkennt demgegenüber, dass Menschen in ganz verschiedenen Lebensverhältnissen existieren und eine streng formale, identische Behandlung in vielen Fällen ungerecht und in anderen

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BT-Drs. 19/14099 v. 16.12.2019, S. 2. Für einen kurzen, informativen Überblick zum Rechtsschutz vor rassistischer Diskriminierung: Mehrdad Payandeh, Rechtlicher Schutz vor rassistischer Diskriminierung, in: JuS 2015, S. 695–700. Ausführlicher Cengiz Barskanmaz, Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien, in: Mangold/Payandeh (Hg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, 2022, S. 303–348 (324–347). 83 Für die Kategorie Geschlecht: BVerfGE 37, 217 (244) – Staatsangehörigkeit von Abkömmlingen (1974). 84 An dieser Deutung der besonderen Gleichheitssätze hielt das Bundesverfassungsrecht bis 1992 fest. BVerfGE 85, 191 – Nachtarbeitsverbot (1992). Bereits zuvor begrenzte das Gericht das formale Anknüpfungsverbot. Etwa für das Geschlecht erkannte es eine Differenzierung an, wenn sich diese auf objektiv biologische oder funktionale (arbeitsteilige) Unterschiede des jeweiligen Lebensverhältnisses beziehe. BVerfGE 3, 225 (242) – Gleichberechtigung (1953). 82

C. Rechtsdogmatische Reflexion

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Fällen unfähig ist, bestehende Diskriminierungsverhältnisse wirksam zu bekämpfen.85 Eine materiale Perspektive bezieht die tatsächliche gesellschaftliche Ungleichheitslage in die rechtliche Bewertung ein und statuiert neben dem Recht auf gleiche Behandlung das Recht, als Gleiche*r anerkannt zu werden. Aus dem Verbot der formalen Differenzierung wird ein Verbot der Dominanz und Hierarchie.86 Innerhalb gleichheitsrechtlicher Diskussionen findet die materiale Perspektive mittlerweile breiten Zuspruch. Jedoch prägt das über Jahrzehnte eingeübte, formale Verständnis von Gleichheit noch immer auf verschiedene Weise Grundannahmen des Nachdenkens über Rassismus und Recht. 1. Leitbild der Symmetrie Einem formalen Gleichheitsverständnis entspricht es, nach größtmöglicher Symmetrie im Recht zu streben. Ein solch symmetrisches Denken durchkreuzt als Argumentationsmuster immer wieder juristische sowie rechtspolitische Debatten. Das Recht „liebe“ die Symmetrie, schreibt Ute Sacksofsky87 und verankert diese Neigung pragmatisch: Eine spiegelgleiche Normierung lege nahe, die widerstreitenden Interessen zu einem angemessenen Ausgleich gebracht zu haben und könne für sich reklamieren gerecht zu agieren.88 Auf einer solch verführerischen Logik der symmetrischen Vergleichsmatrix fußt ebenfalls das gleichheitsrechtlich prägende Willkürverbot des Bundesverfassungsgerichts: „Gleiches ist gleich“ und „Ungleiches entsprechend seiner Eigenart verschieden zu behandeln“.89 Eine symmetrische Beurteilung von Unrechtserfahrungen ist jedoch nicht nur untauglich, um Gleichheitsrecht anzuwenden – weil der Maßstab des Vergleichs fehlt –, sie schwächt dieses sogar. Susanne Baer führt die symmetrische Perspektive auf die Fehlvorstellung zurück, Menschen seien grundsätzlich gleichberechtigt und würden nur ausnahmsweise diskriminiert: Die Symmetrie

85 Grundlegend zum materialen Verständnis von Gleichheit etwa Catharine MacKinnon, Sexual Harassment of Working Women, 1979; dies., Toward a Feminist Theory of the State, 1991. Für den deutschsprachigen Diskurs prägend Ute Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996. Ähnlich das Hierarchisierungsverbot von Susanne Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995. 86 Zum Unterschied des Rechts auf „gleiche Behandlung“ und eine „Behandlung als Gleiche“ mit Verweis auf Ronald Dworkin: Ute Sacksofsky, Gleichheit, in: Herdegen u. a. (Hg.), VerfassungsR-HdB § 19, S. 1229–1286 (1234 f. Rn. 14 f.). Auch das Bundesverfassungsgericht erstreckt den Regelungsgehalt der Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG mittlerweile auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, jedoch erkannte es die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung bisher nur für die Kategorie Geschlecht ausdrücklich an. Jüngst ausführlich im BVerfGE 147, 1 – Dritte Option (2017). 87 Ute Sacksofsky, Symmetrie, Gleichheit und Gender Studies, in: Merkur, 2015, S. 39–47 (39). 88 Ebd. 89 St. Rspr. seit BVerfGE 3, 58 (135) – Beamtenverhältnisse (1953); BVerfGE 42, 64 (72) – Zwangsversteigerung I (1976); BVerfGE 71, 255 (271) – Ruhestand (1985).

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

bildet die Regel, Asymmetrie die Ausnahme.90 Eine solche Sichtweise resultiert aus der Erfahrung, grundsätzlich gleich und nicht ungleich behandelt zu werden. Die im Einzelfall erlebte Ungleichheit wird zu einem beinahe zufälligen Erlebnis. Eine solche Wahrnehmung geht an der Realität von Ungleichheitserfahrungen vorbei. Eine Diskriminierung ist gerade nicht willkürlich – ihre Wahrscheinlichkeit folgt vielmehr historisch gewachsenen Strukturen, die tief in die Gesellschaft eingeschrieben sind. Die Fehlvorstellung der Symmetrie wirkt sich auf die rechtspolitische Praxis aus:91 Im Jahre 2018 setzte sich die Partei AfD für eine Änderung des Tatbestands der Volksverhetzung, § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB, ein, um ausdrücklich auch „Angehörige des deutschen Volkes“ vor Volksverhetzung durch „Ausländer“ zu schützen.92 Der entsprechende Gesetzesentwurf wurde zwar nicht verabschiedet, aber im darauffolgenden Jahr wurde erstmalig in der bundesweiten polizeilichen Kriminalstatistik eine sog. „Deutschenfeindlichkeit“ erfasst.93 Im Zuge der weltweit beachteten Black-Lives-Matter-Bewegung setzten sich Tausende – hauptsächlich weiße – Menschen dafür ein, dass statt von #blacklivesmatter sinnvollerweise von #alllivesmatter zu sprechen sei: Humanismus statt Rassismus! Alle Menschen sind gleich, alle Menschen zählen – so lautete die Symmetrie-Parole.94 Dabei ist eine differenzierte statistische Betrachtung von Beleidigungsoder Gewalttaten zur Prävention genauso sinnvoll wie humanistische Werte die Grundlage der demokratischen Idee bilden. Trotzdem sind die genannten Beispiele höchst problematisch. Die Dichotomie zwischen „deutschenfeindlichen“ und „ausländerfeindlichen Straftaten“ überdeckt, dass nicht die Staatsangehörigkeit, sondern ein Rassifizierungsprozess als Tatmotiv ursächlich ist. Zudem legt 90 Mit Blick auf die Ausgestaltung positiver Maßnahmen im Antidiskriminierungsrecht Susanne Baer, Chancen und Risiken Positiver Maßnahmen, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Positive Maßnahmen, 2010, S. 23–39. 91 Die Beispiele verweisen auf die jüngere Vergangenheit und haben rassismustheoretischen Bezug. Die „Illusion der Symmetrie“ zeigt sich auch in der Diskussion um Maßnahmen zur Förderung der Gleichheit der Geschlechter. 92 Jens Maier/Fraktion der AfD, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Einführung einer teilweisen Legaldefinition für „Teile der Bevölkerung“ in § 130 StGB, BT-Drs. 19/1842 v. 24.4.2014. 93 Bundeskriminalamt, Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2019. Bundesweite Fallzahlen, 2020, S. 6. Kritisch Marc Röhlig, „Deutschfeindlichkeit“ ist nun eine Kategorie in der Polizeistatistik – und das ist gefährlich, Spiegel v. 3.6.2020. 94 Als weiteres Beispiel könnte die Debatte um die geforderte Studie zu rassistischen Einstellungen und Verhaltensweisen in der deutschen Polizei herangezogen werden. Statt Rassismus im Diensthandeln der Beamt*innen zu untersuchen, entschied sich das Innenministerium dafür, Gewalt gegen Polizist*innen zu betrachten. Diese gibt es sehr wohl und stellt mit Sicherheit ein Problem im Alltagshandeln der Polizei dar. Gleichwohl lässt sich auch hier eine Täter-Opfer-Umkehr beobachten, die der strukturellen Dimension des verhandelten Problems nicht gerecht wird. Pressemitteilung des BMI vom 20.10.2020, abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilun gen/DE/2020/10/keine-studie-rechtsextremismus-polizei.html.

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die Betrachtung nahe, es handele sich um qualitativ vergleichbare Phänomene.95 Die symmetrische Beziehung zwischen weißen und nichtweißen Menschen übersieht, dass es sich bei den erfassten Fällen zwar um Erfahrungen individueller Ungerechtigkeit handelt, allerdings keineswegs um Konsequenzen eines strukturellen Phänomens. Von Rassismus gegenüber Weißen kann nur dann gesprochen werden, wenn weiß positionierte Menschen etwa aufgrund religiöser oder nationalstaatlicher Gründe diskriminiert werden. Dies gilt im spezifisch deutschen Kontext insbesondere für die Vernichtung jüdischen Lebens96 oder hinsichtlich der Rassifizierung slawischer Menschen, vor allem polnischer und russischer Herkunft.97 Rassismus gegen eine als „weiß“ gelesene Hautfarbe gibt es hingegen nicht, da eine entsprechende historische, strukturelle Matrix der Unterdrückung fehlt. Den Rassismusbegriff auf die Ungleichbehandlung weißer Menschen auszuweiten, negiert die benannten gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Dies unterläuft das Ziel, tatsächlich ausgrenzende Strukturen sichtbar zu machen und zu überwinden. Yasemin Shooman weist für die Diskursebene außerdem darauf hin, dass „deutschenfeindliche“ Positionen einen viel geringeren Wirkbereich haben: „Ausländer“ – gemeint sind aktiv rassifizierte Menschen – verfügen gerade nicht über die Diskursmacht, die Angehörige der Mehrheitsgesellschaft für sich reklamieren können. Freilich müssen strafrechtlich relevante Äußerungen und Handlungen zwar mit den Mitteln des Rechts geahndet werden, die Betroffenen sind jedoch nicht grundlegend in ihrer gesellschaftlichen und diskursiven Stellung gefährdet.98 Das symmetrische Denken betrifft damit die Ausgangssituation des Sprechens über Gleichheit und Ungleichheit. Wenn Antidiskriminierungsmaßnahmen dem benannten Fehlschluss der „Illusion der Symmetrie“ nachgehen, riskieren sie, einen Großteil des Schutzes auf die ohnehin schon Privilegierten zu lenken und den Schutz von marginalisierten Personen bedrohlich zu schwächen. Statt dem Subalternisierungsprozess entgegenzuwirken, baut das Streben nach Symmetrie dessen Mechanismen aus. 2. Freiheit vor Gleichheit: in dubio pro libertate? Im Zweifel für die Freiheit – eine solche Haltung bestimmt nicht nur häufig die politische Debatte, sondern ist auch rechtsdogmatisch wirksam. Obwohl die 95 Tatsächlich übersteigen „ausländerfeindliche“ Straftaten den Umfang der „deutschenfeindlichen“ Straftaten um das 28-fache. Bundeskriminalamt, Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2019. Bundesweite Fallzahlen, 2020, S. 6. 96 Ob Antisemitismus als „antijüdischer Rassismus“ bezeichnet werden sollte, ist umstritten. M.w. N. Cengiz Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 98 ff., der sich dafür ausspricht. 97 Ausführlich etwa Kein Nghi Ha, Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmarktmigration, in: Rodríguez/Steyerl (Hg.), Spricht die Subalterne Deutsch?, 2. Aufl. 2012, S. 56–107 (83 f.). 98 Yasemin Shooman, Deutschenfeindlichkeit, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.), Dossier: Rechtsextremismus, 2018.

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

Gleichheit als Schutzgut grund- und menschenrechtlich selbstverständlich der Freiheit ebenbürtig ist, fällt das gleichheitsrechtliche Denken als „eigentümlich verschattet“ 99 auf. Als jüngstes Beispiel dieser Verschattung dient die Diskussion um freiheitsbeschränkende Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie.100 Die Prüfung von Gleichheitsrechten gilt als unübersichtlich, schwierig und diffus. Dieser Wahrnehmung scheint eine klare Dogmatisierung der Freiheitsrechte gegenüberzustehen. Die tatsächlich bestehenden Unterschiede im Grad der Dogmatisierung erklären sich vor dem (lange) nur geringen Interesse an Gleichheitsrechten. Sowohl die deutsche Grundrechtstheorie als auch die allgemeinen Grundrechtslehren entstammen fast ausschließlich einer freiheitsrechtlichen Denktradition.101 Das traditionelle Verständnis weist Grundrechte dementsprechend zuvörderst als Abwehrrechte gegen den Staat zur Wahrung der individuellen Freiheit aus.102 In den ersten Dekaden nach der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1949 verstummte die gleichheitsrechtliche Diskussion beinahe gänzlich.103 Das Bundesverfassungsgericht entfachte mit seiner „Neuen Formel“ 104 erst in den 1980er Jahren das Interesse am allgemeinen Gleichheitssatz neu; wiederum einige Jahre später folgte eine lebendige Diskussion um die besonderen Gleichheitssätze.105 Die deutsche Staatsrechtslehre empfindet noch immer eine fast unüberwindbare Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit. Reflektiert werden Maßnahmen zur Förderung der Gleichheit häufig allein oder weit überwiegend als Freiheitsbeschränkung.106 Dies konnte eindrücklich in den Diskussionen um die Einführung des AGG beobachtet werden. Das Gesetz wurde dämonisiert als „Tod der

99 Nach Susanne Baer im Vortrag „Un/Gleichheiten – Praxen der Grund- und Menschenrechte im Wandel“ v. 19.1.2021 in der Reihe „Landscapes of Equality“ des Law & Society Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin, abrufbar unter: https://www. rewi.hu-berlin.de/de/lf/oe/lsi/veranstaltungen/ringvorlesung/landscapes-of-equality-vor tragsmitschnitte. 100 Katja Gelinsky, Gleichheit gegen Freiheit, FAZ v. 29.3.2021. Nicht Freiheit, aber Autonomie in den Blick nehmend: Ute Sacksofsky, Autonomie und Fürsorge, in: KJ 2021, S. 47–61. 101 M.w. N. Ute Sacksofsky, Geschlechterforschung im Öffentlichen Recht, in: JöR n. F. 67 (2019), S. 377–402 (384 f.). 102 BVerfGE 50, 290 (337) – Mitbestimmung (1979). 103 Zur Begründung liegt die zunächst verdrängte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit nahe. Siehe Kapitel 1, C. I. 2., ab S. 76. 104 BVerfGE 55, 72 (88) – Präklusion I (1980). 105 Diese Phasen entsprechen den Phasen der Gleichheitsdiskussionen in der Staatsrechtslehrervereinigung, welche den deutschen verfassungsrechtlichen Diskurs maßgeblich prägt. Nachgezeichnet von: Ute Sacksofsky, Gleichheitsdiskussionen der Staatsrechtslehrervereinigung, in: Cancik u. a. (Hg.), Streitsache Staat, 2022, S. 479–495. 106 Wiederum: Ute Sacksofsky, Geschlechterforschung im Öffentlichen Recht, in: JöR n. F. 67 (2019), S. 377–402 (385).

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Privatautonomie“ 107 oder „trojanisches Pferd [. . .], das die Privatautonomie [. . .] von innen heraus zerstört“.108 Die emotional aufgeladenen Formulierungen zeigen, dass Grundannahmen überworfen oder zumindest in Gefahr schienen. Hintenan stand der Gedanke, dass es sich bei Gleichheitsrecht nur aus der Perspektive der dominanten gesellschaftlichen Gruppe um eine Freiheitsbeschränkung handelt, die Freiheitssphäre der potenziell von Diskriminierung betroffenen Personen sogar größer wird. Rechtstheoretisch zeigt Anna Katharina Mangold auf, dass sich Freiheit nur unter der Ermöglichungsbedingung von Gleichheit entfalten kann, die Rechtsgüter zur Gewährung daher aufeinander verwiesen sind.109 Diese theoretischen Grundprämissen offenbaren, gegen welche Hürden sich das Sprechen über Rassismus im Recht sowie eine gerichtliche Prüfung rassifizierter Ungleichheit stellen müssen.

II. „Rasse“ in der Verfassungsrechtsprechung Es ist wenigstens unwahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht heute noch konstatieren würde, die Diskriminierungsverbote in Art. 3 Abs. 3 GG führten ein „merkwürdiges Schattendasein“.110 Da sich viele grundsätzliche dogmatische Fragen des deutschen Gleichheitsrechts anhand einer vergeschlechtlichten Benachteiligung stellten, existiert zumindest zur Kategorie „Geschlecht“ eine reichhaltige Judikatur. Auch zu den anderen Diskriminierungsdimensionen, etwa Sprache,111 Religion112 oder Behinderung113, hat das Gericht vielfach entschieden. Für die Rechtskategorie „Rasse“ zeichnet sich ein völlig anderes Bild. Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1949 war ein formal klarer Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gelungen, das Kapitel „deutscher Rassismus“ schien überwunden. Das Exklusionspotenzial rassistischen Gedankenguts sowie institutioneller Praxen, welche auch ohne rechtliche Anknüpfung wirkmächtig blieben, konnte ausgeblendet und die fehlende Auseinandersetzung mit Rassismus als Fortschritt statt Problem verortet werden.

107 Franz J. Säcker, Fundamente der Privatrechtsgesellschaft nach dem Antidiskriminierungsgesetz, in: ZG 2005, S. 154–164 (160, 163); ders., „Vernunft statt Freiheit!“, in: ZRP, 2002, S. 286–290 (289). 108 Franz J. Säcker, Vertragsfreiheit und Schutz vor Diskriminierung, in: ZEuP 2006, S. 1–5 (3). Mit weiteren Beispielen und Nachweisen: Ute Sacksofsky, Geschlechterforschung im Öffentlichen Recht, in: JöR n. F. 67 (2019), S. 377–402 (385). 109 Anna K. Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021. 110 BVerfGE 63, 266 (303) – Zulassung zur Rechtsanwaltschaft (1983). 111 Eine juris-Abfrage mit den Stichworten „Art. 3 Abs. 3 GG“ und „Sprache“ ergibt für das Bundesverfassungsgericht 42 Treffer (Stand: Juni 2022). 112 Eine juris-Abfrage mit den Stichworten „Art. 3 Abs. 3 GG“ und „Religion“ ergibt für das Bundesverfassungsgericht 180 Treffer (Stand: Juni 2022). 113 Eine juris-Abfrage mit den Stichworten „Art. 3 Abs. 3 GG“ und „Behinderung“ ergibt für das Bundesverfassungsgericht 54 Treffer (Stand: Juni 2022).

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Einen Verstoß gegen den besonderen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG wegen der „Rasse“ hat das Gericht bislang in nur zwei Fällen angenommen, in einem weiteren prüfte es das Diskriminierungsverbot: Die erste Entscheidung liegt über 50 Jahre zurück und beurteilt die Ausbürgerung politisch Verfolgter, hier jüdischer Menschen, durch das nationalsozialistische Regime.114 Das Gericht stellt den Gleichheitsverstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG aufgrund der Anknüpfung an ein „rassisches Kriterium“ lediglich fest – wohl aufgrund der Offensichtlichkeit des rassistischen Unrechts: Das nationalsozialistische Recht „war als diskriminierender Ausschluß aus der deutschen Volksgemeinschaft gemeint“.115 Eine Ausdifferenzierung des Rechtsbegriffs unterbleibt. Die verfassungsrechtliche Prüfung nimmt nicht einmal konkret Bezug auf die Kategorie „Rasse“, sondern führt diese nur innerhalb der Zitation des Wortlauts der Verfassungsnorm auf – wiederum, weil ihm die unmittelbare Diskriminierung aller Wahrscheinlichkeit nach als evident erschien. Dies mag im Ergebnis nicht zu bestreiten sein. Gleichzeitig macht insbesondere die religiös-kulturelle Konstruktion jüdischer Menschen als vermeintliche biologische Rasse die Willkürlichkeit des Rassekonzepts offensichtlich und hätte zu einer Differenzierung des Rechtsbegriffs eingeladen. Der zweite festgestellte Verstoß stammt aus der jüngeren Vergangenheit. Im sog. Ugah-Ugah-Beschluss entschied das Verfassungsgericht, dass es das „in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ausdrücklich normierte Recht auf Anerkennung als Gleiche unabhängig von der ,Rasse‘“ verletzt, wenn ein schwarzer Mensch mit Affenlauten adressiert wird.116 Die Entscheidung ist insbesondere hinsichtlich der Frage nach den Grenzen der Meinungsfreiheit interessant und innovativ,117 das Diskriminierungsverbot wird jedoch wiederum nicht ausdifferenziert. Das Gericht stellt lediglich fest, Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG wende sich gegen rassistische Diskriminierung. Einen Verweis auf einen „grundsätzlich möglich[en]“ Verstoß gegen den besonderen Gleichheitssatz enthält ferner die Entscheidung zur Zulässigkeit einer polizeilichen „Rasterfahndung“ zu Präventivzwecken.118 Eine rassistische Diskriminierung wurde vom Gericht nicht näher geprüft, da die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde bereits wegen einer Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bejaht wurden.119 Näher zum grundrechtlichen Diskriminierungsverbot hat sich das Verfassungsgericht bislang einzig – dies gleichsam in aller Kürze – im „Russlanddeutschen114 115 116

BVerfGE 23, 98 – Ausbürgerung I (1968). BVerfGE 23, 98 (105) – Ausbürgerung I (1968). BVerfGK, Nichtannahmebeschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 18 – Ugah,

Ugah. 117 118 119

Dazu ausführlich später in Kapitel 3, B. II., ab S. 185. BVerfGE 115, 320 (352) – Rasterfahndung II (2006). BVerfGE 115, 320 (370) – Rasterfahndung II (2006).

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Beschluss“ eingelassen.120 Gegenstand dieser Entscheidung war eine strafrechtliche Prognoseentscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt. Die Strafe eines Verurteilten sei deshalb nicht zur Bewährung auszusetzen, weil die verurteilte Person zur Gruppe der „Russlanddeutschen“ gehöre, welcher Kriminalitätsstatistiken eine erhöhte Rückfallgefahr in kriminelles Verhalten bescheinigen. Das Verfassungsgericht prüft, ob diese Entscheidung diskriminierend war. Der Beschluss lässt unbenannt, in welcher Ausprägung der besondere Gleichheitssatz betroffen sein könnte; ob es eine Diskriminierung aufgrund der Abstammung, der zugeschriebenen Rasse, der Heimat oder Herkunft für einschlägig hält, bleibt daher unklar. Im Ergebnis handele es sich bei einer Prognose auf Basis der Gruppenzugehörigkeit jedenfalls nicht um eine Diskriminierung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Die strafrechtliche Bewertung der Gruppenzugehörigkeit des Verurteilten als „prognostisch ungünstige[r] Faktor“ beruhe auf „tatsächlichen Erfahrungen“ und sei daher gerechtfertigt. Obwohl eine Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung gem. § 56 Abs. 1 Satz 2 StGB121 eindeutig eine Individualprognose voraussetzt, ließ das Gericht den pauschalen Verweis auf die ethnische Zugehörigkeit genügen. Der Beschluss missachtet damit nicht nur die strafrechtliche Vorgabe des Strafgesetzbuches, er lässt zudem Vorurteile gegen spezifische, hier osteuropäische, Bevölkerungsgruppen unkommentiert.122 Der Fall hätte Gelegenheit geboten, die bereits zu dieser Zeit verfügbaren Erkenntnisse der internationalen Rassismusforschung zu berücksichtigen oder sich zum dogmatischen Verhältnis der Diskriminierung aufgrund der „Rasse“ und der ethnischen Herkunft zu äußern. Wie lassen sich die unbestimmten Rechtsbegriffe des Art. 3 Abs. 3 GG konkretisieren, nach welchen Kriterien sind sie abzugrenzen?123 Das Gericht hätte darüber hinaus Stellung beziehen können zu den materiellen Anforderungen an die Rechtfertigung eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot wegen der „Rasse“. Eine Chance zur Klarstellung ähnlicher Abgrenzungsfragen versäumte das Gericht bereits zehn Jahre zuvor, als es über die Rechtmäßigkeit der Nichtzulassung einer Frau als Nebenklägerin nach § 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO zu entscheiden hatte.124 Die Frau strebte an, im Strafverfahren

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BVerfGK 1, 101 – Prognoseentscheidung (2003). Der Wortlaut der zitierten Norm besagt: „Dabei [bei der Entscheidung über die Aussetzung der Strafe zur Bewährung] sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind.“ Näher Jörg Kinzig, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 56 Rn. 15 ff.; Karl-Heinz Groß/Gabriele Kett-Straub, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2020, § 56 Rn. 13 ff. 122 Gezeichnet wird das Bild eines „kriminellen Osteuropäers“. 123 Dazu ausführlich Doris Feldmann u. a., „Rasse“ und „ethnische Herkunft“ als Merkmale des AGG, in: RW 2018, S. 23–46 (25 ff., 35 ff.). Außerdem Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 471 f. 124 BVerfG, Kammerbeschl. v. 2.2.1993, 2 BVR 1491/91. 121

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

gegen die Tatperson ihres getöteten Lebensgefährten aufzutreten. Die Ehe des Paares wurde, entsprechend den Angaben der Beschwerdeführerin, nicht formell nach deutschem Recht, aber – in gleicher Intention – nach den „gruppenspezifischen Rechtsvorstellungen“ 125 der Volksgruppe der Sinti geschlossen. In der Ablehnung ihrer Nebenklage sieht sie daher eine Benachteiligung i. S. d. Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. Das Gericht hätte an dieser Stelle prüfen können, ob die Nichtanerkennung eine (mittelbare) Diskriminierung begründet. Ihre Benachteiligung stellt dabei weder eine rassistische Verfolgung dar – wie in der Entscheidung zur Ausbürgerung – noch knüpft sie an „tatsächliche oder vermeintlich biologische Merkmale“ an. Bei der Gruppe der Sinti handelt es sich ebenfalls nicht um eine Religionszugehörigkeit. Die ungleiche Behandlung hat eine kulturelle oder ethnisch Dimension, die zur Beschäftigung mit der Bedeutung und Reichweite des Abstammungs- und Rassebegriffs eingeladen hätte. Der Beschluss hält zum Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 GG jedoch lediglich fest, dass es sich bei der angegriffenen Maßnahme nicht um „eine unzulässige Ausschließung der Beschwerdeführerin als Nebenklägerin aus Gründen ihrer Abstammung oder Rasse“ handelt, sondern die Regelung der Strafprozessordnung „allgemein Nichtehegatten von der Anschlußbefugnis der Nebenklage“ ausschließt.126 Bisher trug das Bundesverfassungsgericht – wie gezeigt – wenig dazu bei, das grundgesetzliche Verbot rassistischer Diskriminierung zu konkretisieren. Es verpasste mehrere Chancen, rassismuskritische Kompetenz in die ordentliche Gerichtsbarkeit zu überführen und die rechtswissenschaftliche Beschäftigung mit Rassismus voranzutreiben. Diese kritische Feststellung unterliegt zweierlei Einschränkungen. Einerseits liegt die überschaubare Beschäftigung mit rassistischer Benachteiligung – zumindest quantitativ – nur sehr bedingt im Einflussbereich des Gerichts. Das Bundesverfassungsgericht und Gerichte allgemein können nur entscheiden, was ihnen vorgelegt wird. In der Historie des Bundesverfassungsgerichts waren anhängige Verfahren wegen einer Benachteiligung aufgrund der Rasse selten. Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes verschwand das Merkmal als Anknüpfungskriterium aus der Rechtsordnung. Eine rassistische Benachteiligung im klassischen Verständnis, als unmittelbare Diskriminierung, hatte sich seit Beginn der Bundesrepublik erledigt. Vertreter*innen eines formalen Gleichheitsverständnisses sahen – und tun dies weiterhin – kaum mehr Grund für ein Tätigwerden. Diese Ausgangslage war etwa mit Blick auf die Kategorie Geschlecht ganz anders: Noch weit bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts knüpfte die deutsche Rechtsordnung explizit benachteiligende Rechtsfolgen an das Geschlecht. Das Bundesverfassungsgericht stärkte den Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter – trotz aus feministischer Perspektive höchst pro-

125 126

BVerfG, Kammerbeschl. v. 2.2.1993, 2 BVR 1491/91, Rn. 4. BVerfG, Kammerbeschl. v. 2.2.1993, 2 BVR 1491/91, Rn. 11.

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blematischer Entscheidungen.127 Die verfassungsgerichtliche „Prägekraft“ hinsichtlich gesellschaftspolitischer Entwicklungen, nicht nur das Geschlechterverhältnis betreffend, war und ist enorm.128 Zudem bekennt sich das Bundesverfassungsgericht auch in Entscheidungen, die nicht explizit die Kategorie „Rasse“ verhandeln, zum Antirassismus. Im „Wunsiedel-Beschluss“ bezeichnet das Gericht die Ideologie des Nationalsozialismus etwa als „gegenbildlich identitätsprägend“ 129 für die Bundesrepublik Deutschland. Weiterhin befand es im NPD-Verbotsverfahren, das „Konzept einer ethnisch definierten Volksgemeinschaft“, welches einhergehe mit der „weitgehende[n] Rechtlosstellung und entwürdigende[n] Ungleichbehandlung“ aller, „die dieser Gemeinschaft abstammungsmäßig nicht angehören“ als rassistisch.130 Entscheidungen jedoch, die sich ausführlich mit dem Rassebegriff als Rechtsbegriff oder dem Verständnis von Rassismus als strukturellem Phänomen auseinandersetzen, fehlen.131 Für den rechtlichen Kampf 127 Etwa BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I (1975); BVerfGE 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II (1993). Ute Sacksofsky zählt die Entscheidungen zu den „unrühmlichsten Kapiteln der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung“. Siehe Ute Sacksofsky , Das Frauenbild des Bundesverfassungsgerichts, in: Rudolf (Hg.), Geschlecht im Recht, 2009, S. 191–215 (209). 128 Ausführlich Johannes Masing, Das Bundesverfassungsgericht, in: Herdegen u. a. (Hg.), VerfassungsR-HdB § 15, S. 981–1047 (983 ff. Rn. 2 ff.). Zentrale Impulse zur Weiterentwicklung der Gleichheitsdogmatik erhielt das deutsche Verfassungsrecht aus dem US-amerikanischen Diskurs. Hier war es gerade die rassistische Benachteiligung, die zur Ausarbeitung neuer Rechtsfiguren Anlass gab. Anders als in Deutschland knüpfte die amerikanische Rechtsordnung noch bis in die 1970er Jahre unmittelbar nachteilige Rechtsfolgen an eine vermeintliche Rassenzugehörigkeit. Der U.S. Supreme Court wirkte als Verfassungsgericht entscheidend an der Überwindung des formal rassistisch diskriminierenden Rechts mit. Rechtliche Instrumente zur Bekämpfung von Benachteiligung wurden in den USA – anders als in Deutschland – zuerst zugunsten Schwarzer Menschen entwickelt und sodann auf die Kategorie Geschlecht übertragen. Nicht Geschlecht, sondern Rasse wurde zur sog. „lead category“ des Gleichheitsrechts. Die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung, disparate impact, wie auch besondere Fördermaßnahmen, affirmative action, wurden viel früher diskutiert und gerichtlich angewendet. Beide Instrumente sind Ausdruck eines materialen Gleichheitsverständnisses, das auf die Rechtswirklichkeit fokussiert und tatsächlich bestehende Ungleichheiten zu überwinden versucht. Zur verfassungsrechtlichen Ausgangslage und Rechtsprechung des U.S. Supreme Courts zur Rassendiskriminierung und dem Verhältnis zu Geschlechterdiskriminierung: Ute Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 207 ff.; siehe ebenfalls: Thorsten Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hg.), Bonner Komm. GG, 202. Akt. 2020, Art. 3 Rn. 517–533 (528–533). 129 BVerfGE 124, 300 (328) – Wunsiedel (2009). 130 BVerfGE 144, 20 (263) – NPD-Verbotsverfahren (2017). Zusammenfassend: Doris Liebscher, Rassismus und Strafrecht, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, 2018, S. 18–32 (28). 131 Auch die EuGH-Rechtsprechung bietet bislang nur wenig hilfreiche Ansätze für eine Anreicherung der rechtswissenschaftlichen Expertise. Lediglich zwei Fälle rassistischer Diskriminierung wurden bislang vor dem EuGH verhandelt: In der „Feryn-Entscheidung“ (EuGH, Urt. v. 10.7.2008, Rs. C-54/07) geht es um einen Arbeitgeber, der einen marokkanischen Handwerker aus Angst vor einer negativen Bewertung seiner Kund*innen nicht einstellt. Die zweite Entscheidung, „CHEZ Razpredelenie Bulgaria

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

gegen Rassismus ist zentral, dass Rechtsbegriffe operationalisierbar sind; das Bekenntnis ist wichtig, hilft für die konkrete gerichtliche Prüfung allerdings nur bedingt weiter. Während das Bundesverfassungsgericht das Schattendasein der besonderen Gleichheitssätze in der Verfassungsrechtsprechung immerhin als „merkwürdig“ bezeichnet, wurde es in der Rechtswissenschaft jüngst „erfreulich“ genannt, dass das Diskriminierungsverbot wegen der Rasse in der Rechtsprechung keine nennenswerte Rolle spielt. Die fehlende Judikatur sei ein Indiz dafür, dass „einer der Grundwerte des Grundgesetzes im rechtlichen Alltag offensichtlich so weit verwirklicht [ist], dass er weitgehend unterhalb der Wahrnehmungsschwelle blieb und kaum zu Problemen führte“.132

Dieser Einschätzung ist entschieden zu widersprechen. Rassische Diskriminierungen verkürzen die Chancen der individuellen, gesellschaftlichen Teilhabe ganz wesentlich.133 Die Verschattung der Kategorie bestätigt gerade nicht, dass diese Diskriminierungsstruktur im Zusammenleben unproblematisch ist, sondern legt vielmehr nahe, dass der Zugang zu Gerichten, dass der Rechtsschutz selbst, Hürden unterliegt. Strukturellen Rassismus zu erfassen, fällt der Gerichtsbarkeit schwer. Der deutschen Rechtspraxis fehlt es nicht allein an einer ausdifferenzierteren Dogmatisierung des Rassebegriffs, sondern bereits an Grundkenntnissen, um rassismuskritische Fragestellungen – jenseits der unmittelbaren Diskriminierung – überhaupt adäquat erkennen und diskutieren zu können. Gewendet für den Prozess der Subalternisierung bedeutet dies, dass die kommunikative Interaktion dadurch erschwert wird, dass eine Partei schon gar keinen Gesprächsbedarf sieht. Doris Liebscher berichtet aus ihrer Erfahrung als (mittlerweile ehemalige) Vorständin des Antidiskriminierungsbüros Sachsen, dass sowohl Verfahrensbeteiligte als auch Richter*innen den Rechtsbegriff Rasse vermeiden und stattdessen eher auf die Kategorien ethnische Herkunft oder Religion abstellen.134 Diese seien leichter zu fassen, weil Rassismus im Recht nicht hinreichend als Dominanzstruktur verankert ist. Aus diesem Grund werde viel über die Herkunft der betrofAD“ (EuGH, Urt. v. 16.7.2015, Rs. C-83/14), beschäftigt sich mit der Anbringung von Stromzählern in einer Höhe von 6–7 m in Vierteln mit Roma-Bevölkerung als Schutz vor Entwendung oder Beschädigung. Der EuGH nimmt jeweils eine Diskriminierung an, definiert aber weder Rasse noch ethnische Herkunft und grenzt die Begriffe nicht voneinander ab. Ein anderes Bild ergibt nur die Rechtsprechung des EGMR. Näher zur Rechtsprechung des EGMR: Thorsten Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hg.), Bonner Komm. GG, 202. Akt. 2020, Art. 3 Rn. 517–533 (526–527). 132 Uwe Kischel, Rasse, Rassismus und Grundgesetz, in: AöR 145 (2020), S. 227– 263 (228 f.). Positiv bewertetet dies ebenfalls: Robert Uerpmann-Wittzack, Strikte Privilegien und Diskriminierungsverbote, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. 5, 2013, § 128 Rn. 54. 133 Steffen Beigang u. a., Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2017, aufgedröselt nach verschiedenen Lebensbereichen ab S. 120. 134 Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 17.

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fenen Personen, aber wenig über ihre Diskriminierungserfahrung und die dahinterliegende Konstruktionsleistung gesprochen. Dies erschwert die erlebte Ungleichheit zu adressieren und reproduziert bestehende Zuschreibungen, statt diese aufzubrechen.135

III. Unterkomplexes Rasseverständnis des deutschen Schrifttums Auch ein Blick in das rechtswissenschaftliche Schrifttum erhellt das defizitäre Rassismusverständnis kaum. Es dauerte einige Zeit, bis die Diskriminierungsdimension „Rasse“ in den frühen Grundgesetzkommentierungen überhaupt Erwähnung fand.136 Obwohl sich heute alle gängigen Kommentare zum rassistischen Diskriminierungsverbot äußern, zeugen einige Beiträge von einer fehlenden Auseinandersetzung mit der (internationalen) Rassismusforschung. 1. Bestandsaufnahme Die Ausführungen zur Kategorie „Rasse“ sind – trotz deren hoher Komplexität – regelmäßig sehr knapp.137 Viele Autor*innen beschreiben den Begriff als „unklar“ und „diffus“.138 Noch immer werden kolonialrassistische Begrifflichkeiten wie „Mischlinge“ oder „Farbige“ 139 unreflektiert übernommen. Implizit bestätigen solche Formulierungen eine koloniale und später nationalsozialistische „Ordnungslogik“, die Menschen entsprechend einer phänotypischen Markierung in verschiedene Gruppen einteilt. Die Terminologie hatte neben sozialen Konsequenzen auch rechtliche Folgen. Für „Mischlinge“ – Kinder weißer und schwar-

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Ebd. Eine einmalig umfangreiche historische Auswertung der Kommentierungen zum verfassungsrechtlichen Verbot der Diskriminierung wegen der „Rasse“ findet sich bei Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 372–411. 137 Wenige Sätze schreiben Angelika Nußberger, in: Sachs (Hg.), GG Komm., 9. Aufl. 2021, Art. 3 Abs. 3 Rn. 295–296 sowie Uwe Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hg.), BeckOK GG, 50. Ed. 2022, Art. 3 Rn. 223. Kischel geht nur in einer Randnummer auf die Kategorie Rasse ein, die folgenden (Rn. 223a–g) thematisieren „Rechtfertigungen im Sonderfall des sog. racial profiling“ (Rn. 223a). Nur unwesentlich mehr bei: Werner Heun, in: Dreier (Hg.), GG Komm. Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Abs. 3 Rn. 129; Heike Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu u. a. (Hg.), GG Komm., 15. Aufl. 2022, Art. 3 Abs. 3 Rn. 82–83. Auch die Kommentierungen zum Rassebegriff in § 1 AGG erstrecken sich meist nur über wenige Randnummern, fallen im Durchschnitt aber umfang- und ebenfalls kenntnisreicher aus. Siehe etwa Sebastian Roloff, in: Rolfs u. a. (Hg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: 1.3.2022, § 1 AGG Rn. 1 ff.; Monika Schlachter, in: Erfurter Komm. zum Arbeitsrecht, 22. Aufl. 2022, § 1 AGG Rn. 4–5; Gregor Thüsing, in: Münchener Komm. zum BGB, 9. Aufl. 2021, § 1 AGG Rn. 16–21. 138 M.w. N. Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 375. 139 Beispielsweise bei Christine Langenfeld, in: Maunz/Herzog/Scholz, GG Komm., 95. EL 2021, Art. 3 Rn. 45; Hans D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG Komm., 16. Aufl. 2020, Art. 3 Rn. 140. 136

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zer Menschen – wurden diese damit begründet, dass sie die schlechten Eigenschaften beider Elternteile in sich vereinigen und daher „minderwertig“ seien. Auch der Begriff „farbig“ entstammt der kolonialrassistischen Rassentheorie und stellt gerade keine Selbstbezeichnung dar, wie dies für „schwarz“ gilt. Er verfestigt eine Fremdbezeichnung, die zum Zwecke von Ausbeutung und Unterdrückung entstanden ist. Sich dieser Terminologie zu bedienen, ohne eine kritische Einordnung vorzunehmen, reproduziert das historisch konstruierte Hierarchieverhältnis. Trotz zahlreicher unterschiedlicher Erscheinungsformen von Rassismus nimmt die Kommentarliteratur darüber hinaus nur selten eine personale oder bereichsspezifische Abgrenzung vor und stellt keinen Bezug zu aktuellen Ereignissen her. Sehr überwiegend erfolgt die Illustration von Rassismus ausschließlich anhand der Zeit des Nationalsozialismus.140 Standardmäßig wurde „Rasse“ bis zur Jahrtausendwende noch biologisch als „Zugehörigkeit zu einer Menschengruppe“ mit „bestimmten vererbbaren Eigenschaften“ bzw. „besonderen Merkmalen“ 141 definiert, ohne hierfür außerrechtliche Quellen anzugeben. Heute distanziert sich die Kommentarliteratur von einem biologischen Rasseverständnis und nutzt typischerweise die Formulierung „vermeintlich vererbbare Merkmale“.142 Durch den Versuch, auch kulturalisierte Formen von Rassismus zu erfassen, öffneten sich einige Beiträge hin zu einem weiteren Rasseverständnis, das auch „ethnische Minderheiten“ vom Diskriminierungsverbot erfasst.143 „Rasse“ wird seither zunehmend als Ethnizität umschrieben, ohne die Unterschiede der Begriffe klarzustellen oder jene voneinander abzugrenzen. Kischel verweist darauf, dass auch „heute abgelehnte Rassenbegriffe“ von der verfassungsrechtlichen Kategorie der „Rasse“ erfasst werden müssten, ohne seine Aussage rassismuskritisch einzufangen.144 Obgleich ein biologisches Verständnis und damit die tatsächliche Existenz verschiedener Menschenrassen nicht vertreten wird, bleibt unklar, was mit der Forderung gemeint ist. Darüber hinaus wird das Verbot der rassistischen Diskriminierung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verkürzt interpretiert als „Schutz vor haltlosen Vorurteilen“.145 Nur vereinzelt gehen die Darstellungen auf Rassismus 140 Z. B.: Werner Heun, in: Dreier (Hg.), GG Komm. Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Abs. 3 Rn. 129; Sigrid Boysen, in: v. Münch/Kunig (Hg.), GG Komm. Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Abs. 3 Rn. 179; Angelika Nußberger, in: Sachs (Hg.), GG Komm., 9. Aufl. 2021, Art. 3 Rn. 295 f. 141 M.w. N. Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 393. 142 Erstmalig verwendet von Werner Heun, in: Dreier (Hg.), GG Komm. Bd. 1, 1. Aufl. 1996, Art. 3 Rn. 288. 143 M.w. N. Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 413. 144 Uwe Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hg.), BeckOK GG, 50. Ed. 2022, Art. 3 Rn. 223. 145 Uwe Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hg.), BeckOK GG, 50. Ed. 2022, Art. 3 Rn. 223.

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als strukturelles Phänomen in angemessener Weise ein, indem sie eine sozialkonstruktivistische Lesart fundieren.146 Soweit sich die Landschaft der Autor*innen rekonstruieren ließ, ist die Kommentarliteratur fast ausschließlich von weiß positionierten Menschen aus einer entsprechend weißen Perspektive verfasst. Dieses Diversitätsdefizit147 muss zwar nicht zwangsläufig zu problematischen Verkürzungen führen, blendet aber gewiss erfahrungsbasierte Perspektiven aus und macht eine besondere Sensibilität notwendig. Zudem ist es schwerer, dem Rechtsdiskurs bestimmte Wissenskomplexe zugänglich zu machen.148 Im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung verzeichnete die Rechtswissenschaft einige luzide Beiträge aus dem Bereich der Rassismusforschung.149 Auch im Nachgang erfuhr die rechtswissenschaftliche Beschäftigung mit Rassismus spürbar Auftrieb, der bis zum gegenwärtigen Augenblick anhält. Gleichwohl finden viele rassismuskritische Beiträge noch nicht Einzug in die Leitmedien des Diskurses, sondern werden in Zeitschriften und Blogs veröffentlicht. Dem breiten juristischen Mainstream sind sie auf diese Weise zwar zugänglich, das Format der Publikationsmedien ermöglicht allerdings nur eine knappe Auseinandersetzung. Die soziale Konstruktionsleistung von „Rasse“ sowie ein analytisches Verständnis des Begriffs verbleiben daher nicht hinreichend theoretisiert.150 2. Dogmatische Differenzierung Die von der Kommentarliteratur nur unzulänglich beantworteten Abgrenzungsfragen möchte ich nun unter Zuhilfenahme der interdisziplinären Forschungsansätze einordnen. Eine dogmatische Differenzierung soll zeigen, welche Kenntnisse notwendig sind, um Rassismuserfahrungen in einem umfassenden Sinne 146 Mit der strukturellen Dimension befassen sich ausführlich Susanne Baer/Nora Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Komm. Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 439 ff., Rn. 469 ff. Vergleichsweise umfangreich ebenfalls: Thorsten Kingreen, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hg.), Bonner Komm. GG, 202. Akt. 2020, Art. 3 Rn. 517–533. 147 Ausführlich Michael Grünberger u. a., Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 22 ff. 148 Zu fachspezifischen Ansätzen, die über die grundsätzliche Verkürzung gesellschaftlicher Teilhabechancen durch Rassismus hinaus die mangelnde personelle Repräsentanz schwarzer Menschen und People of Color in der Rechtswissenschaft erklären könnten: Carolin Stix, Rassismuskritik in der Rechtswissenschaft, in: Bretthauer u. a. (Hg.), Wandlungen im Öffentlichen Recht, 2020, S. 217–238 (234 ff.). 149 Über die Beiträge zur Debatte um die Streichung des Begriffs Rasse aus dem Grundgesetz hinaus etwa Amadou Korbinian Sow, Was „weiße“ Rechtswissenschaft jetzt tun kann, VerfBlog, 2020/6/11; Christoph Bublitz, Der Rassismus im eigenen Denken, VerfBlog, 2020/6/15; Cengiz Barskanmaz/Nahed Samour, Das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse, VerfBlog, 2020/6/16; Cengiz Barskanmaz, Critical Race Theory in Deutschland, VerfBlog, 2020/7/24. 150 Differenzierter als die verfassungsrechtliche Literatur geht die Literatur zum AGG vor, indem sie Rasse als Konstrukt problematisiert.

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rechtlich wahrnehmen zu können. Vor dem Hintergrund des in dieser Arbeit vertretenen weiten Rassismusverständnisses erscheint vor allem das Verhältnis von „Rasse“, Abstammung und ethnischer Herkunft ausführungsbedürftig. Zudem widme ich mich dem Verhältnis von rassistischer und religiöser Diskriminierung, also der Verschränkung von „Rasse“ und Religion.151 Die Kategorie der ethnischen Herkunft findet in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG keine Erwähnung,152 jedoch wird sie in § 1 AGG und Art. 19 AEUV verwendet. Darüber hinaus hält die Ethnizität seit der Abkehr von einem biologischen Rasseverständnis auch in die Auslegung des Rassebegriffs Einzug.153 Es wurde vorgeschlagen, das Konzept der Rasse durch „Ethnie“, „Ethnizität“, „ethnische Herkunft“ oder „ethnische Gruppe“ zu ersetzen.154 Tatsächlich sind die Kategorien Rasse und Ethnizität zumindest genealogisch eng miteinander verbunden.155 Jedoch würde der umgekehrte Fall, eine Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft als rassische Diskriminierung zu erfassen, näher liegen, da auch die genannten Begriffe rassifizierende Naturalisierungen enthalten. Gleichsam ist der Ausweichversuch nicht zufällig. Liebscher beschreibt in ihrer grundlegenden Arbeit zu Rassismus und Recht die Hinwendung „von Rasse zu Ethnizität“ als eine von mehreren bedeutsamen diskursiven Verschiebungen im Rasse- und Rassismusdiskurs.156 Als Gründe identifiziert sie den Versuch, auf die naturwissenschaftliche Kritik an einer biologischen Rasseeinteilung zu reagieren sowie das 151 Rasse zeigt überdies Überschneidungen mit den Antidiskriminierungskategorien „nationale Herkunft“ und „Sprache“. Im letztgenannten Fall dienen messbar schlechtere Sprachkompetenzen regelmäßig als Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung, sodass die Erfassung einer Diskriminierung zusätzlich erschwert ist. Näher Cengiz Barskanmaz, Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien, in: Mangold/Payandeh (Hg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, 2022, S. 303–348 (321). 152 Lediglich die Landesverfassung Thüringen führt das Merkmal „ethnische Zugehörigkeit“ auf. Die Formulierung „Herkunft“ in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG umfasst ein Diskriminierungsverbot „wegen der hergebrachten Schicht oder Klassenzugehörigkeit“ und adressiert damit die soziale/sozioökonomische Ungleichheitsdimension. Näher Susanne Baer/Nora Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Komm. Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 502 ff. Auch die verfassungsrechtliche Kategorie der „Abstammung“ geht nicht in der ethnischen Herkunft auf. Die Abstammung eines Menschen beschreibt hingegen „vornehmlich die natürliche biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren“ und formuliert ein Verbot der Vetternwirtschaft. M.w. N. Susanne Baer/ Nora Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Komm. Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 467 ff. 153 Etwa Susanne Baer/Nora Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Komm. Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 470; Sigrid Boysen, in: v. Münch/Kunig (Hg.), GG Komm. Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 3 Abs. 3 Rn. 115; Angelika Nußberger, in: Sachs (Hg.), GG Komm., 9. Aufl. 2021, Art. 3 Abs. 3 Rn. 293. 154 M.w. N. Cengiz Barskanmaz, Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien, in: Mangold/Payandeh (Hg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, 2022, S. 303–348 (311). 155 Ausführlich ebd., S. 306 ff. 156 Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2020, S. 468–474.

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Unbehagen gegenüber dem Rassebegriff zu umgehen. Es handle sich insofern um eine „semantische Modernisierung“, die rassische Bezüge unsichtbar machen soll.157 Entsprechend der Bedeutung des griechischen Wortes ethnos als „Volk“ oder „Volkszugehörigkeit“ erfasst die juristische Kommentarliteratur unter der Kategorie „ethnische Herkunft“ die Zurechnung eines Menschen zu einer Gemeinschaft, welche durch besondere historische und kulturelle Merkmale verbunden ist.158 Solche Merkmale können eine gemeinsame Abstammung, Sprache, Tradition, ein nationaler Ursprung oder ein bestimmtes Volkstum sein. Die ethnische Herkunft ist insofern nicht gleichzusetzen mit der Staatsangehörigkeit. Als Beispiel einer ethnischen Gruppe dient die slawische Bevölkerung oder Sinti und Roma. Ostdeutsche sind nach der einschlägigen Rechtsprechung hingegen keine Mitglieder einer eigenen ethnischen Gruppe.159 Im Gegensatz zum Begriff der „Rasse“ impliziert die Ethnizität, dass die relevanten Merkmale wandelbar und dynamisch sind. Mit Blick auf das Ziel eines lückenlosen Schutzes vor Rassismus ist es notwendig und daher grundsätzlich begrüßenswert, das Diskriminierungsverbot auch auf kulturalisierte Wissensbestände auszuweiten. Eine Aufspaltung von Ethnizität einerseits und „Rasse“ andererseits verdeckt jedoch, dass die rassistische Kategorisierung von Menschen bereits von Beginn an sowohl biologisch als auch kulturell begründet war.160 In der diskursiven Verschiebung von „Rasse“ zu Ethnizität besteht zudem die Tendenz, zu verkennen, dass auch die Kategorie der ethnischen Herkunft eine große Gefahr der Essentialisierung begründet.161 Schon Weber erkannte die Ethnie als ein künstliches Gebilde, welches mit der politischen Willkür der Nationalstaatsbildung zusammenfällt und dem daher eine gewisse Beliebigkeit innewohnt.162 Vergleichsweise wies Dagmar Schiek im deutschsprachigen Diskurs darauf hin, dass es sich bei den Kategorien „ethnischer Ursprung und ethnische Zugehörigkeit“ um „ideologische Kons157

Ebd., S. 468. Beispielsweise Ulrike Wendeling-Schröder/Axel Stein, AGG Komm., 1. Aufl. 2008, § 1; Stephan Weth/Marion Schmidt, in: Herberger u. a. (Hg.), jurisPK-BGB Bd. 2, 9. Aufl. 2020, § 1 AGG Rn. 9; Christine Langenfeld, in: Maunz/Herzog/Scholz, GG Komm., 95. EL 2021, Art. 3 Rn. 45; Gregor Thüsing, in: Münchener Komm. zum BGB, 9. Aufl. 2021, § 1 AGG Rn. 17 ff.; Sebastian Roloff, in: Rolfs/Giesen/Meßling/ Udsching (Hg.), BeckOK Arbeitsrecht, Stand: 1.3.2022, § 1 AGG Rn. 3. 159 Entsprechend ArbG Würzburg, Urt. v. 23.1.2009, 3 Ca 664/08 – AE 2009, 275; ArbG Stuttgart, Urt. v. 15.4.2010, 17 Ca 9807/09. 160 Siehe Kapitel 1, B., S. 60 ff. 161 Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2020, S. 472 ff. Ähnlich Susanne Baer/Nora Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Komm. Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 471; Cengiz Barskanmaz, Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien, in: Mangold/Payandeh (Hg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, 2022, S. 303–348 (311 f.). 162 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Halbband, 5. Aufl. 2002, S. 235 ff. 158

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trukte“ handelt.163 Tatsächlich umfassen Normen, die eine Benachteiligung wegen der „Rasse“ verbieten, ein Verbot rassistischer Diskriminierung.164 Dabei kommt es nicht auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten „ethnischen Gruppe“ an, sondern allein auf den rassistischen Zuschreibungsprozess. Auch antimuslimische Rassismen sind daher „nicht nur als religiöse, sondern auch als rassistische Diskriminierung zu verstehen“,165 Gleiches gilt für Antisemitismus.166 Die Tendenz, „Rasse“, Ethnizität und Religion strikt getrennt voneinander zu behandeln, kann leicht übersehen, dass allen, auch ethnischen und religiösen, Zuordnungskategorien rassistische Wissensbestände zugrunde liegen.167 Das Rasseverständnis oder ein postkategoriales Verbot der rassistischen Diskriminierung muss daher mit einem weiten Verständnis jeweils spezifisch untersuchen, welcher dieser Wissensbestände sich wie nachteilig auswirkt. Notwendig ist eine Differenzierung und Pluralisierung der Erscheinungsformen von Rassismus, um die höchst unterschiedlichen Facetten des Phänomens adäquat erfassen und thematisieren zu können.168 Eine solche Auseinandersetzung muss dazu führen, „Rasse“ als Sammelbegriff sozialer Konstruktionen zu enttabuisieren und intersektional zu denken. Letztere Aspekte sind die Voraussetzung einer effektiven Ausgestaltung des Rechtsschutzes gegen Rassismus. Erst wenn der Rechtsdiskurs über die benannten Kenntnisse und Kompetenzen verfügt, liegt überhaupt nahe, dass diejenigen Stimmen der Menschen, die von Rassismus betroffen sind, in der Rechtsanwendung nicht überhört oder entfremdet werden.

IV. Schwachstellen des einfachgesetzlichen Diskriminierungsschutzes Von den terminologischen Unsicherheiten abgesehen, scheint das Recht grundsätzlich ein wirkungsvolles Instrument im Kampf gegen Rassismus zu sein. Es egalisiert menschliche Beziehungen und macht rassistische Nachteile justiziabel. Das deutsche Antidiskriminierungsrecht ist auf Bundesebene maßgeblich durch

163 Dagmar Schiek, Diskriminierung wegen „Rasse“ oder „ethnischer Herkunft“ – Probleme der Umsetzung der Richtlinie 2000/4B/EG im Arbeitsrecht, in: Arbeit und Recht 2003, S. 44–51 (45). 164 So beispielsweise auch Mehrdad Payandeh, Rechtlicher Schutz vor rassistischer Diskriminierung, in: JuS 2015, S. 695–700 (696); Doris Liebscher u. a., Wege aus der Essentialismusfalle, in: KJ 2012, S. 204–218 (214); Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2020, S. 423. 165 Susanne Baer/Nora Markard, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Komm. Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 474. 166 Vgl. Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2020, S. 419. 167 Auch hierzu Cengiz Barskanmaz, Rasse und ethnische Herkunft als Diskriminierungskategorien, in: Mangold/Payandeh (Hg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, 2022, S. 303–348 (317 ff.). 168 Insbesondere Cengiz Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 51 ff., 67 ff.

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das AGG ausgestaltet, zu dessen Verabschiedung Deutschland durch insgesamt vier EU-Richtlinien europarechtlich verpflichtet war.169 Die Einführung des Gesetzes wurde von Teilen der Rechtswissenschaft und Politik vehement abgelehnt. Auch Jahre später zeigt sich anhand des jüngeren Berliner Landesantidiskriminierungsgesetzes, dass sich das Konfliktpotenzial um Gleichstellungsrecht nicht aufgelöst hat. Trotz des nunmehr formal hohen Rechtsschutzniveaus ist Deutschland anhaltender Kritik hinsichtlich der Bekämpfung von Rassismus ausgesetzt: Mehrere internationale Fachgremien stellen erhebliche Lücken im deutschen Rechtsschutz vor rassistischer Diskriminierung fest.170 Wie lässt sich diese Gleichzeitigkeit erklären? In der Kritik steht vor allem die fehlende Implementierung von Rechtsinstrumenten, die ein wirksames Vorgehen gegen Rassismus ermöglichen. Obwohl es sich bei dem AGG aus der Sicht des deutschen Diskriminierungsschutzes um eine bahnbrechende Rechtsentwicklung handelt, verbleiben Möglichkeiten des Schutzes vor rassischer Diskriminierung ungenutzt.171 Einige dieser Schwachstellen beschränken auch die Fähigkeit, rassistischen Unrechtserfahrungen vor Gericht Gehör zu verschaffen.

169 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. EG Nr. L 180 S. 22), Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. EG Nr. L 303 S. 16), Richtlinie 2002/73/E des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. EG Nr. L 269 S. 15) und die Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. Nr. L 373 vom 21.12.2004 S. 37–43). 170 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), Bericht über Deutschland. Fünfte Prüfungsrunde, 2014; UN-Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats Githu Muigai, Report of the Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance. Mission to Germany, 2010, Ziffer 77(a); UN-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung (CERD), Concluding observations on the combined nineteenth to twenty-second periodic reports of Germany, 15.5.2015, UN-Dok. CERD/C/DEU/CO/19–22, Ziffer 19 und 9; Nils Muizˇnieks, Bericht von Nils Muizˇnieks. Menschenrechtskommissar des Europarats, 2015, abrufbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/Archiv/Downloads/Bericht_des_ Menschenrechtskommissars_ueber_seinen_Besuch_in_Deutschland_im_Jahre_2015.pdf? __blob=publica tionFile&v=5. 171 Die Ampelkoalition des Bundes hielt im Koalitionsvertrag vom November 2021 fest, sie wollte das AGG „evaluieren, Schutzlücken schließen, den Rechtsschutz verbessern und den Anwendungsbereich ausweiten“. Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), Mehr Fortschritt wagen, 2021, S. 121.

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

1. Intersektionale Anwendung Eine solche Schwachstelle liegt etwa in rechtlichen Hürden einer intersektionalen Anwendung des Antidiskriminierungsrechts. Der Begriff der Intersektionalität beschreibt die Gleichzeitigkeit verschiedener Diskriminierungskategorien in einer Person.172 Die kritische Rechtswissenschaft diskutiert das Konzept seit dem Ende des 20. Jahrhunderts immer intensiver und entwickelt es stetig weiter.173 In § 4 AGG lässt sich erkennen, dass dem Gesetz die Idee der intersektionalen Mehrfachdiskriminierung durchaus bekannt ist. Das Erfordernis einer Rechtfertigung, die sich auf alle Gründe der Diskriminierung einzeln erstrecken muss, legt jedoch nahe, die Diskriminierungsgründe wären getrennt voneinander zu betrachten. Kern einer intersektionalen Betrachtung ist es aber gerade, dass die Mehrfachdiskriminierung nicht additiv, sondern integrativ zu verstehen ist.174 Eine intersektionale Diskriminierung ist damit nicht eine bloße Anhäufung verschiedener einzelner Unrechtserfahrungen, sondern in ihrem Gehalt und ihrer Qualität eigenständig. Der Rechtsprechungspraxis bereitet eine solche Prüfung Schwierigkeiten.175 Ein gravierendes Problem liegt – neben unzureichenden Kenntnissen zum Konzept der Intersektionalität – in den unterschiedlichen Schutzniveaus der gesetzlichen Merkmalskataloge. Das Verfassungsrecht erstreckt den Gleichstellungsauf172 Das Konzept der Intersektionalität wurde von schwarzen Frauen in den USA geprägt und von dem Combahee River Collective in den Diskurs eingebracht. Den Begriff selbst hat Kimberlé Crenshaw anhand der Metapher einer Straßenkreuzung popularisiert. Siehe Combahee River Collective, A Black Feminist Statement, in: Moraga/Anzaldúa (Hg.), This Bridge Called My Back, 4. Aufl. 2015, S. 210–218; Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex, in: The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139–167. Intersektionalität benennt damit gleichzeitig eine Überschneidung von Machtstrukturen und ebenfalls eine komplexe Subjektposition, die multiple Identitätsbeschreibungen anerkennt. 173 Für die deutsche Auseinandersetzung wichtig: Cornelia Klinger u. a. (Hg.), Achsen der Ungleichheit, 2007; Katharina Walgenbach u. a. (Hg.), Gender als interdependente Kategorie, 2. Aufl. 2012; Nora Markard, Die andere Frage stellen, in: KJ 2009, S. 353–364; Simone Philipp u. a. (Hg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014. 174 Ausführlich Elisabeth Holzleithner, Intersektionale (mehrdimensionale) Diskriminierung, in: Mangold/Payandeh (Hg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, 2022, S. 543–594 (566 ff.). 175 Etwa EuGH, Urt. v. 24.11.2016, Rs. C-443/15 – Parris. Dem Gerichtshof wurde eine sog. „Späteheklausel“ vorgelegt. Es handelt sich dabei um eine Regelung, die betriebliche Versorgungsansprüche von Lebenspartner*innen ausschließt, wenn die Ehe nach einem bestimmten Zeitpunkt (hier dem 60. Lebensjahr) geschlossen wurde. Der Kläger britischer und irischer Staatsangehörigkeit ging im Alter von 63 Jahren eine Lebenspartnerschaft ein, was ihm nach britischem Recht frühestens möglich gewesen wäre, als er 61 Jahre alt war. Der Gerichtshof entschied völlig unbenommen von den Überlegungen zum intersektionalen Zusammenwirken von Diskriminierungsmerkmalen (hier Alter und sexuelle Orientierung) und erklärte den Ausschluss der Hinterbliebenenrechte für zulässig.

C. Rechtsdogmatische Reflexion

133

trag in Art. 3 Abs. 2 GG etwa nur auf die Kategorie Geschlecht und normiert ein Benachteiligungsverbot für die Kategorie Behinderung. Für das AGG ergeben sich wiederum andere Hierarchisierungen. Ulrike Lembke und Doris Liebscher illustrieren diese am Beispiel einer kopftuchtragenden Frau, welcher der Abschluss eines Mietvertrages (durch eine*n Vermieter*in mit weniger als 50 Wohnungen) verweigert wird.176 Da rechtstechnisch kein sog. Massengeschäft vorliegt, schützt das AGG weder vor einer geschlechter- noch vor einer religionsbezogenen Diskriminierung (§ 19 AGG). Eine Klage auf diese Kategorien zu stützen scheidet aus. Der kopftuchtragenden Frau verbleibt also lediglich der Rechtsweg aufgrund einer rassistischen Diskriminierung. Hinsichtlich dieser könnte im vorliegenden Beispielsfall der spezielle Rechtfertigungsgrund des § 19 Abs. 3 AGG greifen. Die höchst problematische Norm ermöglicht eine unterschiedliche Behandlung der Mieter*innenauswahl im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung „sozial stabiler Bewohnerstrukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen“. Der Rechtfertigungsgrund könnte dazu herangezogen werden, Interessent*innen etwa aufgrund ihrer Religion oder Herkunft abzulehnen, und stellt damit auch ein Einfallstor für eine rassistische Segregation dar.177 Nur eine intersektionale Prüfung ermöglicht, die erlebte Ungleichheitserfahrung in ihrem individuellen Kern zu erfassen und einer angemessenen rechtlichen Lösung zuzuführen. Das konkrete Ausmaß der Verletzung ergibt sich gerade erst aus dem Zusammenspiel der abgewerteten Identitätsmerkmale. 2. Statistische Datengrundlage Um eine Erfahrung diskriminierungsrechtlich einzuordnen und zu beweisen, ist es regelmäßig notwendig zu wissen, welche Personengruppen, in welchen gesellschaftlichen Bereichen, partizipieren oder eben nicht partizipieren (können).178 Hinweise auf solche Teilhabechancen geben Daten zur Repräsentanz von Menschen. Eine Personengruppe ist dann unterrepräsentiert, wenn sie – beurteilt nach ihrer Gesamtheit – in einer bestimmten Kohorte nur schwach vertreten ist. Um einen statistischen Bezug herstellen zu können, muss die Größe der Personenkohorte insgesamt bekannt sein. Anders als für die Kategorie Geschlecht existiert für Personen, die in Deutschland potenziell von rassistischer Benachteiligung betroffen sind, weder die erforderliche Vorstellung über die Gesamtgröße der Kohorte noch eine verlässliche Aussage zur Stärke der Personengruppe in 176 Ulrike Lembke/Doris Liebscher, Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht?, in: Philipp u. a. (Hg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, S. 261– 289 (272 f.). 177 Ebd. 178 Ausführlich zum Einsatz von Empirie zur Feststellung und Nachweis von Diskriminierung und möglichen Fehlerquellen siehe Emanuel V. Towfigh, Der Umgang mit Empirie beim Nachweis von Diskriminierung, in: Mangold/Payandeh (Hg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, 2022, S. 759–802.

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

einzelnen Bereichen. Begründet liegt dieser Umstand vor allem in den Vorbehalten gegen eine systematische Erhebung personenbezogener Daten, aus denen sich Rückschlüsse auf die „rassische oder ethnische Herkunft“ einzelner Personen ergeben. Diese Haltung findet ihren Ausgangspunkt im Datenmissbrauch zur Zeit des Nationalsozialismus. Datenschutzrechtlich ist eine Erhebung und Verarbeitung in bestimmten Grenzen zulässig. Art. 9 Abs. 2 lit. j i.V. m. Art. 89 DSGVO ermöglicht, zu wissenschaftlichen oder historischen Forschungszwecken oder für statistische Zwecke die betreffenden Angaben zu ermitteln. § 27 BDSG gestaltet diese Ausnahme bundesrechtlich aus. Das Unionsrecht belässt den einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit, abweichende Vorgaben zu den Regelungen der DSGVO zu normieren. Die Praxis der Datenerhebung im Bereich des „Ethnic Monitoring“ variiert daher im europäischen Vergleich stark. Großbritannien beispielsweise erhebt seit den 1970er Jahren umfassende Angaben zur ethnischen Gruppenzugehörigkeit der Bevölkerung. Die wichtigste derzeit bestehende Datenquelle zur Bevölkerungsstruktur Deutschlands ist der sog. Mikrozensus, dessen Erstellung vom Statistischen Bundesamt koordiniert wird. Der Mikrozensus stellt die Grundlage zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen und politischer Maßnahmen dar. Die Bürger*innen der zur Befragung ausgewählten, repräsentativen Haushalte sind gem. § 13 MZG zur Erteilung von Auskünften verpflichtet. Als besonders sensibel erachtete Kategorien, wie die Religionszugehörigkeit und die Ethnie, werden zum Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) nicht erhoben. Seit 2005 ermittelt das Statistische Bundesamt gem. § 6 Abs. 1 Nr. 4 MZG allerdings Daten zur Personengruppe „Menschen mit Migrationshintergrund“. Demnach wiesen im Jahr 2021 27,2 % der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund auf.179 Zu dieser Gruppe zählt das Bundesamt alle Personen, die die deutsche Staatsbürgerschaft nicht durch Geburt besitzen oder mindestens einen Elternteil haben, auf den dies zutrifft.180 Der Fokus liegt auf der familiären Migrationserfahrung, nicht der erlebten persönlichen Herabwürdigung durch rassische Diskriminierung.181 Keinesfalls kann die ermittelte Zahl daher in den Bevölkerungsanteil übersetzt werden, der von Rassismus in Deutschland potenziell betroffen ist. Es werden 179 Pressemitteilung Nr. 162 v. 12.4.2022, abrufbar unter: https://www.destatis.de/ DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/04/PD22_162_125.html. Dies entspricht einem Zuwachs von 2,0 % im Vergleich zum Vorjahr. 180 Datenreport 2021, Bevölkerung und Demografie, Statistisches Bundesamt (Destatis) u. a. (Hg.), 2021, S. 30, abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/Service/Sta tistik-Campus/Datenreport/Downloads/datenreport-2021.pdf;jsessionid=75C71AE7167 10419B418B547D33BFF96.live742?__blob=publicationFile. 181 Ein Gegenmodell findet sich in der Neufassung des Berliner Gesetzes zur Förderung der Partizipation in der Migrationsgesellschaft des Landes Berlin (Partizipationsgesetz – PartMiGG, früher PartIntG). In § 3 Abs. 1 werden als Menschen mit Migrationsgeschichte auch solche definiert, denen ein Migrationshintergrund allgemein zugeschrieben wird.

D. Zusammenfassung

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beispielsweise Afrodeutsche, deren Eltern deutsche Staatsangehörige sind, nicht berücksichtigt. Andererseits unterfallen dem Prozentsatz auch weiße Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland durchaus von rassistischen Strukturen „profitieren“ können. Die Daten zur Personengruppe reichen als Grundlage für gesetzliche Antidiskriminierungsmaßnahmen zur Minderung bestehender Unterrepräsentanzen nicht aus. Die Ermittlung der Größe und Zusammensetzung der von Rassismus betroffenen Personengruppe ist notwendig, um strukturellen Rassismus sichtbar zu machen und rechtlich bekämpfen zu können.182 Das Problem ist jüngst stärker medial und politisch diskutiert worden. Erstmalig wurde im Jahr 2020 der sog. „Afro-Zensus“ 183 erhoben, der im Wege einer Onlinebefragung Erfahrungen von Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland zusammenträgt. Dringend sollte sich auch die Rechtswissenschaft für empirische Forschung öffnen und in diesem Bereich ihre methodische Kompetenz stärken.

D. Zusammenfassung Die Subalternisierung beschreibt einen absenten Sprechakt, dessen Abwesenheit jedoch gerade nicht auf eine fehlende Artikulation, sondern ein entfremdendes Hörverhalten zurückzuführen ist. Als Grundlage eines solchen Diskursverhaltens können Lerngewohnheiten des Verstandes und der Einfluss der jeweils eigenen Psychobiografie gelesen werden.184 Da sich rechtliche Wertungen gerade nicht von sich heraus aus dem Recht ergeben, müssen sie je nach Ausgangslage des Sachverhalts neu getroffen werden. Auf diese Weise entstehen Spielräume, andere zu „überhören“ – ihre Äußerungen nicht wahrzunehmen. Werden die benannten Prägungen negiert oder unterschätzt, gewinnen jene Spielräume an Bedeutung. Wie die Rechtspraxis der Forderung nach einer Reflexion der eigenen Positionalität im Detail nachkommen kann, ist noch weitgehend unbeantwortet. Notwendig erscheint eine Berufsethik, die die „feldspezifische Illusion“ der Objektivität nicht zum Heiligen Gral erklärt, sondern kritisch einordnet. Darüber hinaus bedarf es einer juristischen Ausbildung, die gesellschaftlich geprägte Dominanzbeziehungen als eine von vielen wichtigen Perspektiven vermittelt und dazu anleitet diese mitzudenken. Möglichkeiten der Selbsterfahrung könnten Raum geben, uneingestandene Vorverständnisse offenzulegen. Der sprachliche Übersetzungsvorgang, welcher dem Sprechen über Rassismus im Recht notwendigerweise vorausgeht, ist dadurch erschwert, dass häufig schon 182 Linda Supik diskutiert die Relevanz statistischer Erhebungen und Diskriminierungsrisiken: Linda Supik, Rassismus messen, aber wie? Statistische Sichtbarkeit und Diskriminierungsrisiko, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), 10 Jahre Diskriminierungsschutz in Deutschland, 2017, S. 43–48. 183 Muna AnNisa Aikins u. a., Afrozensus 2020, 2021, abrufbar unter: https://afrozen sus.de/reports/2020/#start. 184 Ausführlich in Kapitel 1, A. II. 1. c), ab S. 39.

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Kap. 2: Judikative Artikulationsbedingungen

die Vokabeln des Diskurses unklar oder zumindest unvertraut sind. Auch Menschen, die offenkundig an einer konstruktiven Problematisierung rassistischer Strukturen interessiert sind, operieren mit einer hohen terminologischen Unsicherheit. Tatsächlich ist die Auseinandersetzung mit rassistischen Ungleichheitserfahrungen anspruchsvoll, da es sich aufgrund der Facettenvielfalt rassistischer Benachteiligungen und der sich verändernden Erscheinungsformen um ein begrifflich nicht leicht zu fassendes Phänomen handelt. Dessen ungeachtet muss Recht, das antirassistische Wirkung entfalten und den Schutz vor rassistischer Diskriminierung wirksam sicherstellen möchte, über ein fundiertes Rassismusverständnis verfügen. Rechtliche Akteure sind angehalten, ihrem subjektiven Einfluss auf die Rechtsanwendung mit einer größeren Offenheit zu begegnen und ihre Verwobenheit in die Rechtserzeugung zu reflektieren. Normative Schutzlücken, für deren Schließung bereits Ideen und Vorschläge existieren, finden sich vor allem im Antidiskriminierungsrecht. Teilweise fehlt es am politischen Willen, Reformen durchzusetzen, teilweise sind die Auswirkungen der Schutzlücken noch nicht ganz klar absehbar – an diesem Punkt besteht Forschungsbedarf. Liebscher resümiert: „Wenn das Recht seine Geschichte als rassistisches Recht annimmt, wenn es die strukturelle Verfasstheit von Rassismus zur Grundlage seiner Entscheidung macht [. . .], dann wird es ein besseres Recht sein.“ 185

Es wird gleichsam ein hörfähigeres Recht sein, weil es seine eigene Vergangenheit kennt und damit das Potenzial reduziert, subalterne Stimmen zu vereinnahmen.

185

Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 483 f.

Kapitel 3

Empirische Rechtsprechungsanalyse Subalterne Stimmen werden aufgrund diskursiver Machtverhältnisse nicht oder nur eingeschränkt wahrgenommen; sie verbleiben ungehört.1 Dieser Umstand ist auf ein strukturell exkludierendes Hörverhalten innerhalb der Rezeption eines Sprechakts zurückzuführen und begründet eine marginalisierte Diskurspositionen. Es entsteht ein Gefälle innerhalb der diskursiven Artikulationsbedingungen, das Ausschlüsse produziert, die auch das Sprechen im Recht prägen. Die nun folgende Rechtsprechungsanalyse geht der Frage nach, inwiefern sich exkludierende Formen einer hörenden Rezeption in der deutschen Rechtsprechungspraxis wiederfinden. Wie wird Rassismus vor Gericht verhandelt? Treffen Menschen, die versuchen, eine rassistische Ungleichheitserfahrungen justiziabel zu machen, auf ein „hörendes Verstehen“ 2 im Spivak’schen Sinne? Inwiefern prägen die beschriebenen Vermeidungsstrategien und diskursiven Verfremdungsmomente das Sprechen über Rassismus? Kapitel 3 erörtert zunächst den methodischen Zugriff der Untersuchung (A.). Die Struktur der sich dieser Grundlegung anschließenden Rechtsprechungsanalyse orientiert sich an den weiter oben fundierten Erscheinungsformen von Subalternität: Der erste Teil widmet sich dem „Überhören“ subalterner Stimmen infolge einer ausbleibenden oder ungenügenden Prüfung von Rassismus (B.), ein zweiter Teil analysiert die Beteiligung der Rechtsprechung am Prozess der Rassifizierung (C.).3 Anschließend werden die Ergebnisse zu einer Gesamtanalyse zusammengeführt (D.).

A. Auswahl der Methoden Kritische Ansätze im Recht werden besonders häufig mit einem „Mangel an Respekt in puncto Methode“ 4 assoziiert. Dieser empirischen Analyse geht daher eine besonders ausführliche methodische Reflexion voraus. Die Darstellung legt ihre Erhebungs- und Interpretationsschritte offen, um das Vorgehen intersubjektiv nachvollziehbar und überprüfbar zu machen. Da dem rechtswissenschaftlichen 1

Ausführlich Kapitel 2, A., S. 31–60. Ausführlich Kapitel 2, A. II. 2. c), S. 54 ff. 3 Überhören: Kapitel 2, C. I., S. 72 ff.; verfremden: Kapitel 2, C. II., S. 84 ff. 4 Vgl. Günter Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik, in: Buckel u. a. (Hg.), Neue Rechtstheorien, 2. Aufl. 2020, S. 171–187 (178). 2

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

Arbeiten das vornehmlich sozialwissenschaftliche Methodenset zumeist (noch) unvertraut ist, werden auch die methodischen Prämissen der Herangehensweise näher ausgeführt und mit dem hiesigen Erkenntnisinteresse verbunden. Die nunmehr aufkommende Erwartung, es folge eine detaillierte Abhandlung zu den widerstreitenden methodischen Grundannahmen und Metakonzepten des Methodensets, wird jedoch enttäuscht. Dem umfassenden Theorie-Unterbau der Inhaltsund vor allem der Diskursanalyse sowie deren Abgrenzung – abstrakt – gerecht zu werden, ist nicht Ziel und keine Notwendigkeit dieser Arbeit. Vielmehr geht es um die Reflexion des methodischen Horizonts, vor dem diese Untersuchung stattfindet.

I. Grundlage: Dokumentenanalyse Die methodische Grundlage der vorliegenden Untersuchung bildet eine Dokumentenanalyse. Als Datenerhebungstechnik entwickelte sich die Dokumentenanalyse aus der geschichtswissenschaftlichen Quellenanalyse und gehört zu den sog. „interpretativen Verfahren“.5 Bereits vorhandenes, schriftlich fixiertes Material – hier Gerichtsentscheidungen – wird gesichtet, verglichen und ausgewertet. Dies führt zu einer intensiven, persönlichen Auseinandersetzung mit dem Dokument, welches in seiner Einmaligkeit betrachtet und interpretiert wird. Neben der Befragung und (teilnehmenden) Beobachtung zählt die Dokumentenanalyse zu den wichtigsten Erhebungsmethoden der rechtssoziologischen Forschung.6 Sie entspricht womöglich einer intuitiv juristischen Herangehensweise an die Aufgabe einer Entscheidungsbesprechung. Gleichwohl fällt auf, dass die Dokumentenanalyse keine Kriterien bereithält oder bestimmte Verfahrensschritte einfordert, denen sie sodann treu Folge leisten würde. Wenn Entscheidungsanalysen punktuell arbeiten, etwa nur ein Urteil oder einen Beschluss, Verfahrensgang oder eine Rechtsprechungsentwicklung in einem bestimmten Themenfeld auswerten, fällt diese mangelnde theoretische Anleitung nicht weiter ins Gewicht. Die vorliegende Rechtsprechungsanalyse strebt zwar nicht an, abschließend zu sein, dennoch verfolgt sie einen systematischen Anspruch. Umso wichtiger ist es, möglichst genau zu wissen, welche Fragen an die zu untersuchenden Dokumente gestellt werden sollen. Je präziser die Analysekriterien, desto zielgerichteter lässt sich das zumeist umfangreiche Material begrenzen und auswerten. Häufig, so auch hier, ist die Dokumentenanalyse daher auf spezifischere methodische Zu-

5 Zur Dokumentenanalyse als standardisiertem, empirischem Verfahren: Thomas Krumm u. a., Dokumentenanalyse, in: Westle (Hg.), Methoden der Politikwissenschaft, 2009, S. 325–334; Nicole Hoffmann, Dokumentenanalyse in der Bildungs- und Sozialforschung, 2018. Zur Dokumentenanalyse in der Rechtswissenschaft knapp Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 120 ff. sowie Susanne Baer, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2021, S. 286. 6 Einschätzung von Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 115.

A. Auswahl der Methoden

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gänge angewiesen. Ich greife dabei auf das Set einer diskursanalytisch gerahmten, qualitativen Inhaltsanalyse zurück.

II. Vertiefung: diskursanalytisch gerahmte Inhaltsanalyse Der Konnex einer diskursanalytischen Herangehensweise und einer qualitativen7 Inhaltsanalyse mag auf den ersten Blick irritieren, unterscheiden sich die beiden Methodensets in ihrer Grundprämisse doch stark: Eine Inhaltsanalyse verhandelt traditionell individuelle Deutungsmuster und damit subjektive Sinnzuschreibungen;8 der Subjektbezug steht im Mittelpunkt der Untersuchung. Der Diskursanalyse hingegen geht es vor allem um kollektiv geteilte Wissensbestände, das heißt überindividuelle Deutungsmuster.9 Für die methodische Verbindung der Forschungsmethoden streiten jedoch eine pragmatische sowie mehrere inhaltliche Erwägungen.10 Bei der Inhaltsanalyse handelt es sich um ein sozialwissenschaftlich etabliertes Analyseverfahren mit klaren Regeln.11 Der Diskursanalyse fehlt es weitgehend an solch methodisch fixierten Instrumentarien und Techniken.12 Diskursanalytische Ansätze stellen zwar eine eigenständige, aber 7 In den Sozialwissenschaften werden qualitative von quantitativen Methoden unterschieden. Die qualitative Forschung kennzeichnet eine interpretative Herangehensweise und zielt auf ein vertieftes Verständnis des Untersuchungsfeldes. Quantitative Forschung entwickelt Methoden zur Datenerhebung und numerischen Darstellung empirischer Sachverhalte. Die gewonnenen Daten werden genutzt, um eine zuvor aufgestellte Hypothese zu beurteilen. International anerkannt ist auch die Kombination qualitativer und quantitativer Methoden als sog. „Mixed-Methods-Design“. Dazu m.w. N. Nina Bauer u. a. (Hg.), Mixed Methods, 2017. Zur Überwindung eines gegensätzlichen Verständnisses in einer Inhaltsanalyse Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 12. Aufl. 2015, S. 20 ff. 8 Grundlegend und m.w. N. Uwe Flick, Qualitative Sozialforschung, 8. Aufl. 2017. 9 Ausführlich zur Adaption qualitativer Methoden und deren Besonderheiten in Bezug auf die Diskursanalyse: Reiner Keller, Diskursforschung, 3. Aufl. 2007, S. 78 f. 10 Zur Verbindung beider Ansätze ausführlich und erhellend Juliette Wedl u. a., Diskursforschung oder Inhaltsanalyse?, in: Angermuller u. a. (Hg.), Diskursforschung, Bd. 2, 2014, S. 537–563. 11 Für die deutsche Forschungslandschaft und darüber hinaus grundlegend: Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 12. Aufl. 2015. Andere prominente Ansätze der qualitativen Inhaltsanalyse gehen zurück auf Udo Kuckartz und Margrit Schreier. Siehe Udo Kuckartz, Qualitative Inhaltsanalyse, 4. Aufl. 2018; Margrit Schreier, Qualitative content analysis in practice, 2012. Zur Kritik Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 3/2019, S. 1–15. 12 Die Regeln des Erschließungsverfahrens variieren stark, je nachdem, ob der Diskurs etwa als Debatte, Raum der Aushandlung gesellschaftlicher Normvorstellungen oder weitreichend regulierte, vermachtete Praxis verstanden wird. Eine Darstellung der verschiedenen Ansätze der Diskursanalyse findet sich bei Peter Ulrich, Diskursanalyse, Diskursforschung, Diskurstheorie, in: Freikamp/Leanza (Hg.), Kritik mit Methode?, 2008, S. 19–31 (20). Zur Mannigfaltigkeit der diskursanalytischen Perspektive siehe auch: Reiner Keller u. a., Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1, 3. Aufl. 2011, S. 7–33.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

keine klar umrissene, einheitliche Methode dar. Während die Inhaltsanalyse also methodisch stärker systematisiert ist, blickt die Diskursanalyse auf eine deutlich umfangreichere theoretische Fundierung ihrer Forschungsperspektive.13 Eine wechselseitige Bezugnahme beider Ansätze kann diese Schwächen auflösen. Die Verbindung ist im Ergebnis jedoch nur deshalb gewinnbringend und sinnvoll, weil die Methoden sich auch inhaltlich ähneln: Inhalts- und Diskursanalyse verhandeln grundsätzlich den gleichen Untersuchungsgegenstand und verweisen auf ein im Grundsatz paralleles Erkenntnisinteresse. Eine qualitative Inhaltsanalyse zieht Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte einer Kommunikation in schriftlich fixierten Quellen. Dabei orientiert sich die Analyse anhand vorher festgelegter Ordnungskriterien. Sie geht systematisch, regelhaft und theoriegeleitet vor.14 Das Material wird unter einer theoretisch angewiesenen Fragestellung vor dem dargestellten Theoriehintergrund interpretiert. Bereits dieser erste Schritt markiert einen gewichtigen Unterschied zur eingangs vorgestellten Dokumentenanalyse. Die Inhaltsanalyse untersucht das Material jedoch nicht ausschließlich textinhärent (wie etwa eine Textanalyse), sondern stets als Teil eines übergeordneten Kommunikationsprozesses. So können Rückschlüsse auf die Absichten der Sender- und deren Wirkungen auf die Empfangsseite gezogen werden.15 Diese Ausrichtung der Inhaltsanalyse bildet eine wesentliche Schnittstelle zum diskursanalytischen Vorgehen. Auch für Forschungsansätze, die mit dem Diskursbegriff operieren, sind kommunikative Prozesse entscheidend an der Wirklichkeitskonstruktion beteiligt. Indem ein konkretes Verständnis von Wahrheit als Normalität im Diskurs vorherrscht, ist jede individuelle Wahrnehmung überindividuell mitbestimmt. Eine Diskursanalyse ist aus diesem Grund bestrebt, die Vorannahmen, auf denen solche Wahrheitsvorstellungen basieren, zu bestimmen. Das diskursanalytische Vorgehen maßt sich dabei nicht an, eine antagonistische, „tatsächliche“ Wahrheit herauszuarbeiten, die von den Diskursen lediglich verdeckt oder verfälscht wird.16 Die Analyse ist vielmehr bestrebt, geteilte Wissensbestände, Denkschemata oder Positivitäten in Frage zu stellen.17 Sie geht den Bedingungen nach, die zu den beschriebenen Annahmen geführt haben, und versucht zu zeigen, dass – naturalisierte oder neutralisierte – Wahrheiten auch anders hätten aus-

13 Nicht die Methode, sondern die Diskursanalyse als postmoderne Denkbewegung geht auf Michel Foucault zurück. Grundlegend Michel Foucault, Archäologie des Wissens, 19. Aufl. 2020; ders., Die Ordnung des Diskurses, 15. Aufl. 2019. 14 Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 12. Aufl. 2015, S. 12 f. 15 M.w. N. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 12. Aufl. 2015, S. 13. 16 Dies ist nicht möglich, da auch die Wissenschaft in Diskurse verstrickt ist und die jeweilige Position Resultat eines diskursiven Prozesses ist. Siegfried Jäger, in: Keller u. a. (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursforschung, Bd. 1, 3. Aufl. 2011, S. 91–124 (92, 95 ff.). 17 Margarete Jäger/Siegfried Jäger, Diskurs als „Fluss von Wissen durch die Zeit“, in: dies. (Hg.), Deutungskämpfe, 2007, S. 15–37 (15).

A. Auswahl der Methoden

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fallen können. Die geteilte Wahrheit bildet demnach nur eine von vielen Wahrheiten, ist jedoch diejenige, die kommunikativ eingeübt und daher anschlussfähig ist. Um dies zu dechiffrieren, eruiert die Diskursanalyse den historischen wie gegenwärtigen Zusammenhang von kommunikativen sozialen Praktiken und der Produktion von Wissen. Die Prämissen der Methoden entsprechen dem hier vertretenen Ansatz einer diskursiven Konstruktion von „Rasse“ und rassifizierter Ungleichheit.18 Auch für die Herstellung von Subalternität sind Normalvorstellungen entscheidend, die ein exkludierendes Hörverhalten und damit die marginalisierende Rezeption eines Sprechaktes prägen. Die Verbindung von Inhalts- und Diskursanalyse birgt ebenfalls methodische Schwierigkeiten, die benannt und eingefangen werden sollen. Entsprechend den obigen Ausführungen bilden den Ausgangspunkt einer diskursanalytischen Kritik „diskursive Schließungen“, die Normalität, Natürlichkeit, Selbstverständlichkeit und Totalität suggerieren.19 Diesen wird ihre „soziale Gewordenheit“ und damit eine Pluralität des Normalen entgegengesetzt.20 Die Inhaltsanalyse hingegen geht stärker von einem erfassbaren Abbild des Wirklichen aus, dessen Sinn sich im Text manifestiert.21 Diese in ihrer Zuspitzung widerstreitenden Wirklichkeitskonzepte, konstruktivistisch versus realistisch, sollen zum Zwecke dieser Untersuchung versöhnt werden, indem keine feste Beschreibung der Untersuchungsgegenstände angestrebt wird, sondern vielmehr eine explorative Erfassung der Art und Weise, wie über diese kommuniziert wird, beabsichtigt ist.22 18

Ausführlich: Kapitel 2, B. III., ab S. 68. Aufgeworfen ist die Frage, wie eine Aussage über den tatsächlichen kommunikativen Gehalt der sprachlichen Interaktion getroffen werden kann, ohne vorzugeben, man selbst würde aus einer übergeordneten, neutral beobachtenden Position heraus sprechen. Diese scheinbare Ungereimtheit brachte dem diskursanalytischen Vorgehen den Vorwurf des Relativismus ein. Die Diskursanalyse könne – ihren eigenen Prämissen folgend – nur davon ausgehen, dass etwas „Wirkliches“ gar nicht bestehe; jede gewonnene Erkenntnis könne zwar richtig, aber nie allgemeingültig wahr sein. Aus meiner Sicht wird dieser Vorwurf der diskursanalytischen Forschungsperspektive nicht gerecht. Wertmaßstäbe können und müssen zuvor ausgeflaggt werden. Näher Antje Langer/Martin Nonhoff/Martin Reisigl, Diskursanalyse und Kritik – Einleitung, in: dies. (Hg.), Diskursanalyse und Kritik, 2019, S. 1–11 (2 ff.). Diese Arbeit zieht als externen Wertmaßstab den grundgesetzlich verankerten, wechselseitigen Anerkennungsanspruch als Freie und Gleiche heran. Das verfassungsrechtliche Gebot einer gleichberechtigten Partizipation wird zur normativen Grundlage. 20 Antje Langer/Martin Nonhoff/Martin Reisigl, Diskursanalyse und Kritik – Einleitung, in: dies. (Hg.), Diskursanalyse und Kritik, 2019, S. 1–11 (7). 21 M.w. N. Juliette Wedl u. a., Diskursforschung oder Inhaltsanalyse?, in: Angermuller u. a. (Hg.), Diskursforschung, Bd. 2, 2014, S. 537–563 (543). Jedoch wurde schon früh darauf verwiesen, dass auch eine inhaltsanalytische Untersuchungsperspektive die Rolle der Forschenden reflektieren und ihr Eingewobensein in die Texterzeugung und -interpretation berücksichtigen muss. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 4. Aufl. 1993, S. 27–29. 22 Nach Ingunde Fühlau, Untersucht die Inhaltsanalyse eigentlich Inhalte?, in: Publizistik, 23 (1/2) 1978, S. 7–18. 19

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

III. Konkretes Vorgehen: Erhebung, Auswahl und Interpretation des Materials Der konkrete Ablauf der Untersuchung stützt sich wesentlich auf das inhaltsanalytische Verlaufsmodell nach Philipp Mayring.23 Die vorgeschlagenen Schritte werden nicht eins zu eins übernommen, sondern sind an das Erkenntnisinteresse und die Theoriebezüge dieser Arbeit angepasst. Die Untersuchung stellt außerdem anreichernde Bezüge zum diskursanalytischen Methodenset24 her, die den hohen Formalisierungsgrad des klassischen inhaltsanalytischen Vorgehens aufbrechen. Das Folgende ist also keineswegs als Blaupause der Methodik einer qualitativen Inhaltsanalyse oder Diskursanalyse zu verstehen, sondern schlägt vielmehr einen möglichen Weg vor, beide Perspektiven sinnvoll zu vereinen. 1. Bestimmung des Analysematerials: Korpusbildung Der Auswertung liegt eine Dokumentenanalyse und insofern eine Beschäftigung mit Texten zugrunde. Ihr Gegenstand ist bereits existierendes, vorgefertigtes Material, welches zunächst sorgfältig bestimmt und abgegrenzt werden muss, um die Grundlage eines nachvollziehbaren Vorgehens zu schaffen.25 a) Bestimmung des Materials Der „Korpus“ bildet die empirische Grundlage der Analyse und wählt aus einer größeren Materialmenge bestimmte Beiträge aus. Diese Auswahl sollte repräsentativen sowie forschungsökonomischen Überlegungen folgen. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich in regionaler Hinsicht auf die Auswertung von Entscheidungen deutscher Gerichte, temporal auf solche, die im Zeitraum von 2000 bis 2021 veröffentlicht wurden. Die genannten Einschränkungen folgen einer inhaltlichen Überlegung: Im Grundlagenteil wurde die Tendenz erörtert, Rassismus vor allem in der deutschen Vergangenheit zu verorten.26 Rassistische Ar-

23 Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 12. Aufl. 2015; ders., Einführung in die qualitative Sozialforschung, 6. Aufl. 2016; ders., Qualitative Inhaltsanalyse, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 3/2019, S. 1–15. 24 Die methodischen Überlegungen zur Diskursanalyse greifen auf den Standardisierungsvorschlag von Margarete und Siegfried Jäger zurück. Jäger und Jäger sprechen sich aufgrund der hohen Abstraktheit des Konzepts „Diskurs“ (ebenso des „Rechtsdiskurses“) dafür aus, diesen in kleinere, empirisch zugängliche Einheiten zu untergliedern. Gemein ist dem Vorschlag, den diskursiven Kontext detailliert zu erschließen und die relevanten Strukturmerkmale zu bestimmen. Zur Einführung: Margarete Jäger/Siegfried Jäger, Diskurs als „Fluss von Wissen durch die Zeit“, in: dies. (Hg.), Deutungskämpfe, 2007, S. 15–37 (15). 25 Zur Erläuterung der einzelnen Schritte der Inhaltsanalyse im Folgenden: Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 12. Aufl. 2015, S. 54 ff. 26 Insbesondere Kapitel 1, C. I. 2., S. 76 ff.

A. Auswahl der Methoden

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gumentationsmuster in Judikaten des 20. Jahrhunderts zu finden, würde diese Annahme nur bedingt stören. Daher möchte ich gerade auf die beiden zurückliegenden Jahrzehnte blicken, um zu ergründen, ob trotz der diskursiven Öffnungsschritte im Sprechen über Rassismus auch aktuelle Entscheidungen von rassifizierten Deutungsweisen geprägt sind. Ergebnisse im gewählten Untersuchungszeitraum lassen Rückschlüsse darüber zu, inwiefern ungleiche, subalterne Artikulationsbedingungen dem Recht strukturell innewohnen. Das Material ist darüber hinaus inhaltlich determiniert. Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf Entscheidungen, deren Sachverhalte eine rassistische oder rassifizierte Dimension aufweisen.27 Nicht zwingend muss es sich um die Erfahrung eines Diskriminierungsopfers handeln, möglich ist auch, dass Rassismus als handlungsleitendes Motiv oder Inhalt einer Meinungsäußerung gerichtlich geprüft wird. Gleichsam können rassifizierte Deutungen an die Religionszugehörigkeit, Herkunft oder andere Kategorien anknüpfen, wenn deren Wahrnehmung mit stigmatisierenden Zuschreibungen verbunden ist. Relevante Entscheidungen werden daher grundsätzlich in allen Gerichtsbarkeiten vermutet. Bei näherer Betrachtung zählen zum Korpus dieser Untersuchung vor allem zivilrechtliche Streitigkeiten nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz insbesondere bezogen auf die Diskriminierungskategorien Rasse, ethnische Herkunft oder Religion (etwa §§ 13, 14, 15, 16, 21 AGG). Zu berücksichtigen sind ebenfalls strafrechtliche Verfahren zu rassistisch motivierten Taten. Ein rassistisches Tatmotiv entspricht tatbestandlich etwa einem niedrigen Beweggrund i. S. d. § 211 Abs. 1, Abs. 2 Var. 4 StGB oder muss nach § 46 Abs. 1, 2 StGB in der Strafzumessung berücksichtigt werden. Gleichsam kann die rassistische Dimension einer Tat ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung der vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzung i. S. d. § 230 Abs. 1 Satz 1 StGB begründen. In Betracht kommt darüber hinaus die gerichtliche Beurteilung sog. Äußerungsdelikte, also die Beleidigung gem. § 185 StGB, Bedrohung gem. § 241 StGB oder Volksverhetzung gem. § 130 StGB.28 Der im Jahr 2021 geschaffene Tatbestand des § 192a StGB, die „verhetzende Beleidigung“, wird ebenfalls im Blick behalten, gleichwohl der Entscheidungsumfang im benannten Untersuchungszeitraum noch sehr

27 Eine Analyse hätte sich ebenfalls auf rechtspolitische Debatten im Bundestag, in Landtagen, großen Tageszeitungen oder rechtswissenschaftliche Medien wie Handbücher, Kommentare oder universitäre Ausbildungsfälle fokussieren können. Über die Fachliteratur hinaus oder statt derer hätten etwa die Publikationen von NGOs, Stiftungen oder Think Tanks berücksichtigt werden können. Hinsichtlich der Diskursebene gerichtlicher Entscheidungen könnten andere Fragmente untersucht werden als der Urteilstext selbst. Der Gerichtsprozess als solcher, also das Geschehen im Gerichtssaal, hätte in den Fokus der Untersuchung gestellt werden können oder Gerichtsakten hätten ausgewertet werden können. Dies würde einer sog. „Aktenanalyse“ entsprechen. 28 Zu den Anknüpfungsmerkmalen einer rassistischen Benachteiligung im Strafrecht näher: Doris Liebscher, Rassismus und Strafrecht, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, 2018, S. 18–32 (26 f.).

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

gering sein dürfte.29 Im Verwaltungsrecht könnte an die Verfahren zum Racial Profiling i. S. d. §§ 22 Abs. 1a, 23 BPolG und Entschädigungsansprüche nach dem Berliner Landesantidiskriminierungsrecht (LADG)30 gedacht werden. Ebenfalls relevant können beamtenrechtliche Fragestellungen oder Versammlungs-/ Vereinsverbote und sonstige verwaltungsrechtliche Untersagungen sein. Im Zuge dieser Untersuchung werden jedoch weder Verfahren aus dem allgemeinen noch dem besonderen Verwaltungsrecht schwerpunktmäßig ausgewertet. Im Öffentlichen Recht berücksichtigt habe ich Verfassungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht und den Landesverfassungsgerichten, die Fragen der Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1, 2 GG oder der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG tangieren.31 Besonders berücksichtigt werden „prominente“ Entscheidungen, deren Stellung im Diskurs etwa durch eine intensive rechtswissenschaftliche Beschäftigung oder das mediale Aufgreifen der Entscheidung als Diskursfragment geprägt ist. Zu diesem Zweck wird die rechtswissenschaftliche Literatur zu den genannten Verfahrensgegenständen gesichtet. Die juristische Datenbank juris32 wird genutzt, um die Grundmenge auszudifferenzieren. Nach den genannten Verfahrensgegenständen wurde zunächst gemeinsam mit den folgenden Filterbegriffen gesucht: „ausländerfeindlich“, „fremdenfeindlich“, „rechtsextrem“, „rechtsradikal“, „rassistisch“, „Rasse“, „Rassismus“, „Ausländer“ und „ausländische Herkunft“. Sobald ein Untersuchungsfeld als relevant für die Untersuchung erschlossen war, wurde nochmals mit erweitertem Blick nach der Rechtsprechung in diesem Feld gesucht. Bei der Korpusbildung besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit; beabsichtigt wird keine statistische Repräsentanz, also keine Aussage zum quantitativen Anteil subalternisierender gerichtlicher Bewertungen, sondern eine „Repräsentativität der Konzepte“.33 Die Analyse versucht exemplarisches Material auszuwählen, um daran diskursive Vermeidungsstrategien im gerichtlichen Spre29 Eingeführt durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes gegen sogenannte Feindeslisten, Strafbarkeit der Verbreitung und des Besitzes von Anleitungen zu sexuellem Missbrauch von Kindern und Verbesserung der Bekämpfung verhetzender Inhalte sowie Bekämpfung von Propagandamitteln und Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen v. 14.9. 2021 (BGBl. 2021 I Nr. 66, S. 4251). 30 Das LADG beschränkt sich nicht auf den Bereich der Erwerbstätigkeit und den Privatrechtsverkehr, sondern gilt gem. § 3 Abs. 1 LADG auch für die Berliner Verwaltung und andere Träger von Hoheitsrechten. 31 Die verfassungsgerichtliche Entscheidung zum Kopftuchverbot im juristischen Vorbereitungsdienst (Kapitel 3, C. I., ab S. 206) basiert auf einer verwaltungsrechtlichen Anordnung. 32 Juris. Das Rechtsportal, https://www.juris.de/jportal/nav/startseite/startseite.jsp. 33 Diese Annahme entspricht der Grundidee des Theoretical Samplings, einer Methode der qualitativen Sozialforschung. Siehe Petra Muckel, Die Entwicklung von Kategorien mit der Methode der Grounded Theory, in: Mey/Mruck (Hg.), Grounded Theory Reader, 2. Aufl. 2011, S. 333–352 (337).

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chen über Rassismus sowie die analytischen Teilschritte der Rassifizierung im Rechtsdiskurs zu exemplifizieren. Dazu orientiert sich die Materialauswahl an der Idee des Theoretical Samplings. Der Begriff des Theoretical Samplings lässt sich mit „theoretischer Sättigung“ übersetzen und beschreibt, wann eine Datenerhebung als abgeschlossen bezeichnet werden kann. Das Konzept geht davon aus, dass bereits die Auswahl des Materials „theoriegeleiteten“ Kriterien folgt34 und insofern eine intensive Beschäftigung mit dem Untersuchungsfeld erforderlich macht. Von einer Sättigung kann dann ausgegangen werden, wenn das Einbeziehen zusätzlichen Materials keine neuen Aspekte der untersuchten Kategorie befördert.35 An diesem Punkt wird die Analyse abgebrochen. Der Abbruch führt dazu, dass die Untersuchung nicht statistisch repräsentativ ist, weil möglicherweise nicht die gesamte zur Verfügung stehende Grundmenge (also jede Gerichtsentscheidung) beachtet wurde. Die Eigenschaften der theoretischen Konzepte und Kategorien jedoch sind umfassend und hinreichend detailliert untersucht, um deren Existenz beschreiben zu können. Es ist daher möglich und wahrscheinlich, Subalternisierungsprozesse am Beispiel rassifizierter Ungleichheit auch in anderen als den nachfolgend dargestellten Zusammenhängen nachzuweisen. An den Textkorpus wird unter einer spezifischen Fragestellung herangegangen, gleichzeitig bleibt die Untersuchung offen für Veränderungen oder Erweiterungen des Kategoriensystems.36 Ein solches Vorgehen ist für eine ergebnisoffene Untersuchung unerlässlich. Die Korpusbildung auf der Basis der Idee einer theoretischen Sättigung ist gleichzeitig in besonderem Maße abhängig von der forschenden Person, die großen Einfluss auf die Bestimmung des Korpus hat. Deren nicht zu eliminierende Situiertheit muss als Herausforderung des Vorgehens betont werden. Das persönliche Eingewobensein ist dabei keine Schwäche, sondern gerade eine zentrale Erkenntnis der Methodik. Zu verweisen ist an dieser Stelle auf die Ausführung zu meinem persönlichen Vorverständnis in der Einleitung.37 Die Ausführungen der vorangegangenen Kapitel bilden mein theoretisches Vorwissen ab und sind insofern ebenfalls Teil meines professionellen Vorverständnisses. b) Analyse der Entstehungssituation In einem weiteren Schritt soll möglichst genau geklärt werden, wer das auszuwertende Material produziert hat und unter welchen Bedingungen dies geschieht. 34

Ebd. Siehe ebenfalls Reiner Keller, Diskursforschung, 3. Aufl. 2007, S. 90. Zur Frage der Vollständigkeit von Diskursanalysen entsprechend Siegfried Jäger, Diskurs und Wissen, in: Keller u. a. (Hg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1, 3. Aufl. 2011, S. 91–124 (113). 36 Peter Ulrich, Diskursanalyse, Diskursforschung, Diskurstheorie, in: Freikamp/ Leanza (Hg.), Kritik mit Methode?, 2008, S. 19–31 (27). 37 Siehe Einleitung, D., S. 25 ff. 35

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

Hierzu kann zunächst vollumfänglich auf Kapitel 2 verwiesen werden.38 Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass Gerichtsentscheidungen – je nach Gerichtsbarkeit und Instanz – von Einzelrichter*innen oder einem Kollegialorgan, also mehreren Personen, verfasst werden.39 Das Justizpersonal tritt in beiden Fällen als einheitliches Gericht und in der zugeschriebenen Rolle als neutral und rational urteilende Instanz auf. Gleichwohl ist die Entscheidungsfindung von persönlichen Überzeugungen und Gruppendynamiken bestimmt. Welche Erfahrungen eine konkrete Person im Verlauf ihres Lebens zu einer bestimmten weltanschaulichen Position verarbeitet hat und inwiefern diese eine Entscheidung beeinflusst, lässt sich nicht einfach bestimmen. Innerhalb dieser Untersuchung liegen hierzu keine Aussagen vor. Gleiches gilt für den emotionalen oder kognitiven Hintergrund der Richter*innen und deren soziokulturelle Herkunft. Auch zu diesen Fragen existieren kaum empirische Daten.40 Die Entstehungssituation des Materials ist in diesem Aspekt daher nicht bekannt. Die juridische Wissensproduktion wird aus einer verallgemeinernden Perspektive untersucht und auf die Erkenntnisse des vorherigen Kapitels zurückgegriffen. Schließlich unterliegt die Produktion einer gerichtlichen Entscheidung in einem sehr hohen Maße jeweils spezifischen gesetzlichen Anforderungen. Der Aufbau und Inhalt des Entscheidungstextes ist je nach Gerichtsbarkeit konkret bestimmt.41 In sprachlicher Hinsicht bestehen klare Anforderungen an die Formulierung. § 184 GVG bestimmt dabei nicht nur, dass ein Gericht sich in der gesamten gerichtlichen Kommunikation der deutschen Sprache zu bedienen hat, sondern ebenfalls, dass Entscheidungen so gefasst sein müssen, dass sie grundsätzlich für jedermann verständlich sind.42 c) Formale Charakterisierung Gem. § 5 Abs. 1 Urheberrechtsgesetz (UrhG) genießen Gerichtsentscheidungen als „amtliche Werke“ keinen urheberrechtlichen Schutz. Sie sind „gemeinfrei“, das heißt, jeder darf sie kostenlos kopieren und veröffentlichen. Alle Entscheidungen, an denen die Öffentlichkeit ein Interesse hat oder haben kann, müs-

38 Hier werden die Artikulationsbedingungen im Recht rechtstheoretisch, rechtssoziologisch und dogmatisch reflektiert. Kapitel 2, ab S. 97. 39 Im Detail geregelt durch die Gerichtsverfassungsgesetze der Länder. 40 Vom Bundesamt für Justiz wurde bislang lediglich das Geschlecht erhoben. Die aktuelle Richterstatistik von 2018 weist 45,74 % der Richter*innen als weiblich aus. Siehe https://www.bundesjustizamt.de/DE/SharedDocs/Publikationen/Justizstatistik/ Richterstatistik_2018.pdf;jsessionid=E81633706783DAF2B2C882FE308C0514.1_cid50 1?__blob=publicationFile&v=3. Zu Richter*innen mit „Migrationshintergrund“: Andreas Maisch, Migranten in Robe, 2019. 41 Für Urteile gelten etwa § 313 ZPO; § 117 VwGO; §§ 260 ff. StPO. 42 Steffen Pabst, in: Münchener Komm. zur ZPO, 6. Aufl. 2022, § 184 GVG Rn. 1 ff.

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sen veröffentlicht werden.43 Ob ein entsprechendes Interesse vorliegt, entscheidet der jeweilige Spruchkörper. Die Gerichtsverwaltung hat entsprechende Anfragen in der Regel zu bejahen. Hinsichtlich der Publikationsdichte bestehen enorme Unterschiede, etwa zwischen Amtsgerichten, die eher selten Entscheidungen veröffentlichen, Landgerichten, die regelmäßig veröffentlichen, und dem Bundesverfassungsgericht, das eine Fülle seiner Entscheidungen zugänglich macht. Diese Limitation stellt die Untersuchung vor Schwierigkeiten. Es ist davon auszugehen, dass auf einen Teil des relevanten Materials nicht zugegriffen werden konnte. Sofern unveröffentlichte Entscheidungen besprochen werden, die mir auf Anfrage zur Verfügung gestellt wurden, ist dies entsprechend kenntlich gemacht. 2. Theoriegeleitete Fragestellung und Analysetechnik Nachdem der Korpus feststeht, muss geklärt werden, welche Fragen an das Material gestellt werden. Entsprechend der methodischen Terminologie nach Mayring entspricht die Analyse einer „deduktiven Kategorienanwendung“ entlang einer theoriegeleiteten Forschungsfrage.44 Anders als im Falle eines induktiven Vorgehens stehen die Kategorien der Analyse also bereits im Vorhinein fest. Im Kontext dieser Untersuchung entsprechen die Analysekategorien den beiden Erscheinungsformen einer Subalternisierung: dem Überhören sowie einem verzerrenden Hörverhalten. Diese werden bereits in ihrer rassismuskritisch gewendeten Erscheinungsform herangezogen. Das Überhören beinhaltet also die Vermeidungsdiskurse rund um Rassismus, dem verzerrenden Hörverhalten entspricht der Prozess der Rassifizierung. Die Textauswertung ist damit notwendigerweise selektiv und auf das benannte Kategoriensystem beschränkt.45 Das Material wird anhand der folgenden Fragen in das bekannte Ordnungsschema einsortiert:46 – Liegt dem Sachverhalt ein rassistisches/rassifizierendes Verhalten oder eine rassistische/rassifizierte Äußerung zugrunde? – Wird diese Dimension innerhalb der gerichtlichen Prüfung erkannt und reflektiert? Falls ja, was kennzeichnet das Rassismusverständnis der gerichtlichen Prüfung? – Ist die Rechtsprechung für die strukturelle Dimension des rassistischen Machtverhältnisses sensibilisiert? – Beteiligt sich die gerichtliche Argumentation an den diskursiven Rassifizierungsschritten der Markierung, Positionierung, Neutralisierung und des Ausschlusses? 43

BVerwG, Urt. v. 26.2.1997 – 6 C 3.96. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 12. Aufl. 2015, S. 97 ff. 45 Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 3/2019, S. 1–15. 46 Einer induktiven Kategorienentwicklung würde entsprechen, die Kategorien erst im Prozess, aus den Daten heraus, zu entwickeln. 44

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

Zunächst ermittelt eine Strukturanalyse einen Überblick über die Streuung der dominanten Themen im Gesamtdiskurs.47 Auch die Abwesenheit eines bestimmten Aspekts kann festgestellt und anschließend diskutiert werden. Weshalb werden bestimmte Konstellationen nicht oder kaum geprüft, andere auffällig stark? Dieser Verfahrensschritt stellt also heraus, was „typisch“ für das untersuchte Material ist, welcher Logik es folgt. Vermittels der Strukturanalyse wird die Gesamtmenge bestimmt, die dann im nächsten Schritt einer weiteren Verdichtung, der Feinanalyse, unterzogen wird. Alle Gerichtsurteile werden gruppiert und für die jeweilige Gruppe werden einzelne Entscheidungen exemplarisch näher analysiert. Hierzu wird zusätzliches Material herangezogen, um die Textabschnitte zu vergleichen oder zu deuten.48 Die Feinanalyse dringt in die Tiefenstruktur der gerichtlichen Aussagen ein. Sie analysiert die sprachlich-rhetorischen Mittel sowie inhaltlich-ideologischen Gehalte der Diskursbeiträge und verdeutlicht insofern nicht eindeutige Sinngehalte in systematischer Hinsicht.49 Herausgegriffen werden Inhalte, welche die Interpretation stützen und absichern oder ihr widersprechen und so zu einer Erweiterung oder Änderung der Interpretation führen. Es werden Hypothesen generiert und diese sogleich auf der Mikroebene überprüft.

IV. Hinweise zur rechtswissenschaftlichen Anwendung Aufgrund der engen Verwobenheit sprachlich-bedingter Phänomene mit dem Recht50 liegt in der Anwendung einer diskursiv gerahmten Inhaltsanalyse in der Rechtswissenschaft eine besonders gewinnbringende Perspektive. Derzeit nehmen sprachzentrierte Ansätze in der empirischen Rechtsforschung zu, eine diesem Vorgehen entsprechende Ausarbeitung bzw. eine vertiefte Reflexion des Methodensets verbleiben jedoch eine Randerscheinung.51 Die wissenschaftliche

47 Margarete Jäger, Diskursanalyse, in: Becker/Kortendiek, Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, 2010, S. 386–391 (389). 48 Diese Schritte sind angelehnt an die Technik der „Explikation“ und „Strukturierung“, ebenfalls nach Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, 12. Aufl. 2015, S. 67. 49 Margarete Jäger, Diskursanalyse, in: Becker/Kortendiek, Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, 2010, S. 386–391 (389). 50 Hierzu Kapitel 2, A. I., ab S. 98. 51 Als Gegenbeispiele seien vermerkt: Cengiz Barskanmaz, Das Kopftuch als das Andere, in: Berghahn/Rostock (Hg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind, 2009, S. 361–392. Barskanmaz untersucht „diskursanalytisch“, wie das Kopftuch „argumentativ konstruiert“ und „diskursiv hergestellt“ wird (jeweils S. 362). Sonja Buckel nimmt eine „hegemonietheoretische Diskursanalyse“ im Recht vor: Sonja Buckel, „Welcome to Europe“, 2013, S. 71 ff. Johanna Braun spricht von einer „funktionsorientierten Diskursanalyse“: Johanna Braun, Leitbilder im Recht, 2015. Sandra Westphal wendet das diskursanalytische Verfahren als „Machtanalyse“ im Recht an: Sandra Westphal, Deutungshoheit über Texte, 2019, S. 118, 123 ff. Außerdem Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen

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Klärung der Details einer methodischen Übertragung steht noch an ihrem Beginn, weshalb zu den Besonderheiten einer Adaption nur Schlaglichter geworfen werden können.52 1. Adaptionen für den Rechtsdiskurs Nach Doris Schweitzer macht die Besonderheit des Rechtsdiskurses einen Anpassungsbedarf des diskursanalytischen Vorgehens erforderlich.53 Schweitzer führt aus, dass rechtliche Beurteilungen in einem deutlich stärkeren Maße von einer „Relativität des Wissens“ 54 geprägt sind, als dies in anderen Diskurszusammenhängen der Fall ist. Das Recht verändert sich ständig und kann nicht als feste Funktionslogik eines „starren Systems“ verstanden werden.55 Der Rechtsdiskurs und seine juridischen Verfahren sind, so wurde entsprechend weiter oben argumentiert, vielmehr „Filter“, um Sachverhalte vor dem geltenden Recht zu verorten und als Problem begreifbar zu machen.56 Eine rechtliche Bewertung verlangt keine universelle Antwort, sondern eine Abwägung zwischen konkret betroffenen Rechtsgütern zu einem spezifischen Zeitpunkt. Ein argumentativer Streit, der Kampf um die überzeugendere Auslegung einer Rechtsnorm und sich verändernde Ansichten entsprechen laut Schweitzer vielmehr der Regel statt einer Ausnahme. Im demokratischen System ist Recht jedoch gerade nicht als Konsens zu begreifen. Es ist typisch, dass unterschiedliche Auffassungen zur gleichen Sachfrage bestehen. Daher muss es in einer rechtswissenschaftlichen Diskursanalyse noch stärker als in anderen Betrachtungen um die Mechanismen gehen, die eine Meinung oder den Status quo einer Argumentation stabilisieren. Interessant werden etwaige Gründe eines stagnierenden Streits oder der Nichtthematisierung bestimmter sozialer Realitäten, die beispielsweise deren hoher rechtspolitischer und alltäglicher Bedeutung entgegenstehen. Eine Diskursanalyse hat die Aufgabe, die spezifische historische wie kulturelle, strategische Funktion des Rechts zu berücksichtigen, diese spezifische Eigenlogik einzubezie-

Rassismus, 2021, S. 20 ff., die zwar „kein spezifisch diskursanalytisches Programm“ absolviert, sich aber an einer „diskursanalytischen Forschungsperspektive“ orientiert. Die beispielhaften Formulierungen illustrieren die handwerklichen Schwierigkeiten in der praktischen Arbeit mit der Diskursanalyse. 52 Lea Rabe, Teilhabegerechtigkeit in der Rechtsetzung, in: Huggins u. a. (Hg.), Zugang zum Recht, 2021, S. 111–128 (112 f.). 53 Ausführlich Doris Schweitzer, Diskursanalyse, Wahrheit und Recht, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2015, S. 201–221. Nach Schweitzer bestimmt sich der Rechtsdiskurs nicht als Wahrheits-, sondern als normativer Diskurs, den andere Diskursmechanismen bestimmen. 54 Ebd., S. 216. 55 Ebd., S. 217. 56 Siehe Kapitel 2, A. I., ab S. 98.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

hen und ihren Einsatz in „Macht-Wissen-Komplexen“ 57 aufzuzeigen.58 Dieser Aufgabe stellt sich die vorliegende Untersuchung. Die Kennzeichnung widerstreitender Positionen als „herrschende Meinung“ und „Mindermeinung“ macht den Streit um das bessere Argument kenntlich. Gleichzeitig offenbart sich die autoritäre Setzung einer vorzugswürdigen Sichtweise. In Kapitel 2 habe ich gezeigt, dass der Rechtsdiskurs mitnichten als „freies Spiel der Kräfte“ bezeichnet werden kann. Und doch ist der juristische Diskurs im Besonderen mit der Imagination von Logik, Vernunft und einer feststehenden rechtlichen Wahrheit assoziiert. Ein Rückgriff auf die tradierte Methodik der Diskursanalyse ist zulässig, da der Rechtsdiskurs zwar vielstimmig, fluid und einzelfallbezogen ist, sich aber als das Gegenteil dessen gebärdet. Im Rechtsdiskurs lässt sich, ähnlich wie in den angesprochenen Wahrheitsdiskursen, deutlich beobachten, dass bestimmte Ansichten – die herrschende Meinung – als einzig logisch und damit „wahr“ ausgewiesen werden. Um sich der entsprechenden Argumentation anzuschließen, ist ein geringerer Begründungsaufwand notwendig, weil die Sichtweise bereits auf ihre autoritäre Setzung verweisen kann. Dies wiederum führt zu Verkürzungen und der Ausblendung von Argumenten. Insofern können einzelne Diskursfragmente auf Inkonsistenzen und Schwankungen untersucht werden, um die Wechselwirkungen von Rede- und Gegenrede sowie die Wirkung bestimmter „Traditionslinien“ herauszuarbeiten. Das sozialwissenschaftlich etablierte Vorgehen und die spezifischen Überlegungen für ein adaptiertes rechtswissenschaftliches Vorgehen greifen insofern ineinander. 2. Herausforderungen und Limitationen Wie alle Methoden hat auch dieses Vorgehen spezifische Vorzüge und konkrete Nachteile. Hinzu kommen Limitationen der Untersuchungsperspektive, die aus dem konkreten Zuschnitt der hiesigen Analyse resultieren. Diese Vor- und Nachteile sowie die Beschränkungen sollen kurz benannt werden. Vorteilhaft erweist sich am vorliegenden Zuschnitt die Beständigkeit judikativer Entscheidungen als textbasierte Dokumente. Sie können exakter ausgewertet werden als flüchtige Äußerungen bei einem Interview oder die Vorgänge im Rahmen der Beobachtung eines Gesprächs59 – hier etwa einer mündlichen Verhandlung vor Gericht. Verbale Äußerungen sind im Vergleich zu textbasierten Äußerungen tendenziell unüberlegter und als noch kontextabhängiger zu klassifizieren. Aus die57 Doris Schweitzer, Diskursanalyse, Wahrheit und Recht, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2015, S. 201–221 (217). 58 Dieses Anliegen entspricht dem rechtskritischen Ansatz der Critical Legal Studies (CLS). Dazu im Überblick Günter Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik, in: Buckel u. a. (Hg.), Neue Rechtstheorien, 2. Aufl. 2020, S. 171–187. 59 Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 122. Röhl ordnet die Inhaltsanalyse von Gerichtsentscheidungen und juristischen Texten ebenfalls in ihrer Historie kurz ein und nennt beispielhaft einige Untersuchungen.

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sem Umstand resultiert gleichsam ein sehr spezifisches Problem, welches im vorigen Kapitel bereits anklang: Jedes Dokument – dies gilt für eine Gerichtsentscheidung in besonderer Weise – muss als Wirklichkeit eigener Art begriffen werden.60 Der Entscheidungstext darf nicht als exakte Wiedergabe des dahinterstehenden Entscheidungsprozesses missverstanden werden. Weiter oben wurden bereits rechtliche Übersetzungsvorgänge beschrieben,61 die sich gerichtlich besonders auswirken: Lebenssachverhalte werden im Prozess nachgebildet und sodann anhand dieser Imitation entschieden. Es kann nur verhandelt werden, was sich überhaupt als Rechtsfigur formulieren lässt. Der Entscheidungstext wiederum referiert nicht ansatzweise alle Äußerungen, die im Gerichtssaal oder den schriftlichen Sachvorträgen geäußert werden; er nimmt noch nicht einmal Bezug auf jedes Argument. Vielmehr handelt es sich bei einem Urteil oder Beschluss um den Endpunkt eines ohnehin sehr selektiven Prozesses der Darstellung und des Verstehens. Auch die Gerichtsakten oder eine etwaige mündliche Verhandlung enthalten das soziale Ereignis in aller Regel nur gefiltert durch die Brille der Prozessbeteiligten. Diese fixieren den Sachverhalt im Hinblick auf jene Aspekte, die die Prozessordnungen benennen, oder auf jene Punkte, die vermutlich zur Einflussnahme auf die Entscheidung des Gerichts geeignet sind.62 Momente der Subalternisierung könnten der Entscheidung zwar zugrunde liegen, aber in deren textlichem Zeugnis selbst gar nicht mehr zu identifizieren sein. Damit fallen Momente des Ausschlusses und der Verzerrung, die sich im Vorfeld von Gerichtsentscheidungen oder im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung ereignen, weg. Ebenfalls können rassistische Äußerungen, abwertende Blicke, Stimmungslagen und andere Ungleichheitserfahrungen im Gerichtssaal, die von beteiligten Personen vielfach geschildert und auch von Prozessbeobachtungsgruppen berichtet werden,63 nicht untersucht werden. Die Gerichtskommunikation würde ein sehr lohnendes Untersuchungsfeld darstellen. Prozessbeobachtungen und andere empirische Forschungsansätze, etwa Hintergrundgespräche oder Interviews, könnten die gewonnenen Erkenntnisse daher sinnvoll ergänzen. Eine weitere Schwierigkeit der Untersuchung ergibt sich daraus, dass Gerichtsentscheidungen zum Teil gar nicht oder nur knapp begründet sind. Die Argumente, auf denen die Entscheidung basiert, bleiben in einem solchen Fall verborgen. Ein etwaiges Vorverständnis der Richter*innen ist unbekannt. Um diese Einschränkung zumindest teilweise abzuschwächen, wird auch die rechtswissen60

Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 123. Siehe dazu ausführlich Kapitel 2, A. I., ab S. 98. 62 Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 123. 63 Zu Diskriminierungserfahrungen im Lebensbereich der Justiz: Muna AnNisa Aikins u. a., Afrozensus 2020, 2021, S. 92, abrufbar unter: https://afrozensus.de/reports/ 2020/#start. Prozessbeobachtung mit antirassistischer Perspektive betreibt etwa die Gruppe „Justizwatch“. Weitere Informationen abrufbar unter: https://justizwatch.no blogs.org. 61

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

schaftliche Einordnung der Judikate im Schrifttum berücksichtigt. Hieraus können möglicherweise Rückschlüsse auf bestehende diskursive Vorannahmen gezogen werden. Die Untersuchung beeinträchtigt außerdem, dass ein Großteil gerichtlicher Entscheidungen nicht veröffentlicht wird. Entscheidungen standen in diesem Fall nur dann für die Untersuchung zur Verfügung, wenn sie medial aufgegriffen wurden und ich sie bei Gericht erfolgreich anfragen konnte. Vielfach blieben solche Anfragen unbeantwortet. In Ausnahmefällen wurden mir Entscheidungen von Dritten zur Verfügung gestellt. Dies ist entsprechend ausgewiesen.

B. Erster Analyseteil: Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung Der erste Teil der Rechtsprechungsanalyse spürt dem „Überhören“ einer subalternen Stimme nach. Ich analysiere, inwiefern die benannten diskursiven Vermeidungsstrategien64 innerhalb der gerichtlichen Prüfung dazu führen, dass eine rassische Ungleichheitserfahrung als solche nicht oder nicht hinreichend in die gerichtliche Beurteilung einfließt. Rassismus auf diese Weise zu dethematisieren, wurde in Kapitel 1 vor allem darauf zurückgeführt, dass kolonialrassistische Wissensbestände im Sprechen über Rassismus unreflektiert fortwirken und Rassismus im deutschen Diskurs tendenziell mit der Ideologie des Nationalsozialismus gleichgesetzt wird. Dies bedingt, dass Benachteiligungen aus Gründen der Rasse auf extreme Formen von Gewalt und Ausgrenzung reduziert bleiben. Der Vorwurf, rassistisch zu sein, ist durch die Verbindung gleichsam stark schuldhaft aufgeladen und stellt hohe Anforderungen an die Schwere und Beweisbarkeit des Vorfalls. Abschnitt B. untersucht, welche Konsequenzen aus diesem Befund für die gerichtliche Kompetenz folgen, unterschiedliche Erscheinungsformen von Rassismus zu erkennen und zu bewerten.

I. Rassismus erkennen und bewerten Vermeidungsdiskurse im Sprechen über Rassismus wirken sich nachteilig auf die gerichtliche Kompetenz aus, Rassismus zu erkennen und zu bewerten. Dies zeige ich zunächst anhand der gerichtlichen Strafzumessung im Falle rassistischer oder zumindest potenziell rassistischer Tatmotive. Ich untersuche im Anschluss zivilgerichtliche Judikate zu rassistischen Beleidigungen als Grund einer verhaltensbedingten Kündigung. Zuletzt beschäftige ich mich mit der Beurteilung von Entschädigungsansprüchen nach dem AGG im Falle einer rassistischen Ungleichbehandlung im Zugang zu Waren und Dienstleistungen.

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Kapitel 1, C. I., S. 72 ff.

B. Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung

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1. Rassistische Motive in der Strafzumessung Bei rassistisch motivierten Verbrechen handelt es sich um sog. „Botschaftsverbrechen“. Nicht ein konkretes Handeln ist Anlass der Tat, sondern die bloße Existenz eines Menschen.65 Das Opfer repräsentiert in den Augen der Tatperson eine – vermeintliche – Gruppe; die Tat soll diese einschüchtern. Schädigende Signale sendet ein Botschaftsverbrechen daher über die Opfergruppe hinaus auch an andere marginalisierte Teile der Bevölkerung.66 Einer wirksamen Pönalisierung rassistischer Tatmotive im Strafrecht stehen Defizite in der gerichtlichen Kompetenz entgegen, Rassismus als soziales Phänomen rechtlich zu erfassen. Dies illustriert die – häufig gänzlich ausbleibende – Prüfung des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB. a) § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB Die gerichtliche Strafzumessung konkretisiert den abstrakten legislativen Strafrahmen einer rechtswidrigen Tat und strebt auf diesem Wege eine schuldangemessene Bestrafung an. Ein Gericht ist verpflichtet, alle Umstände, die geeignet sind, die Höhe der Strafe zu beeinflussen, in die Festsetzung des Strafmaßes einzubeziehen.67 Diese allgemeine Strafbemessungsvorschrift kodifiziert § 46 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 StGB.68 Für bestimmte Fälle hält § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB eine Abwägungsorientierung bereit: Die Norm nennt einen nicht abschließenden Katalog an tat- und personenbezogenen Strafzumessungstatsachen,69 die sowohl schuldmindernd als auch schuldschärfend wirken können. Die genannten

65 Ausführlich Hans Joachim Schneider, Hass- und Vorurteilskriminalität, in: ders. (Hg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 2, 2009, S. 297–338 (300 f.). 66 Ebd., S. 300. 67 Die gesetzlichen Regelungen der Strafzumessung sind höchst ungenau und daher auslegungsbedürftig. Verschiedene Strafzumessungstheorien versuchen diese Lücke zu schließen. Die wohl (noch) herrschende Meinung vertritt die sog. Spielraumtheorie (auch Schuldrahmentheorie genannt), wonach die Richter*innen ein Durchgangsstadium der Strafzumessung konkretisieren sollen, indem sie innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens einen auf den Fall bezogenen „Schuldrahmen“ finden. Ausführlich auch zu den anderen Theorien Franz Streng, in: Kindhäuser u. a. (Hg.), StGB Komm., 5. Aufl. 2017, § 46 Rn. 96 ff. Für die weitere Untersuchung ist der Theorienstreit nicht relevant. 68 Erstmals kodifiziert in § 13 StGB a. F. durch das 1. StrRG v. 25.6.1969 (BGBl. I 1969 Nr. 52, S. 645). § 46 trat mit dem 2. StrRG v. 4.7.1969 (BGBl. 1969 I Nr. 56, S. 717) am 1.10.1973 in Kraft. Dem Normerlass gingen Vorwürfe über eine willkürliche und ungerechte Strafzumessung voraus. Zum kriminalpolitischen Hintergrund: Franz Streng, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hg.), StGB Komm., 5. Aufl. 2017, § 46 Rn. 2 ff. 69 Konstitutiv für die Anwendung ist, dass die jeweilige Strafzumessungstatsache nicht bereits als Tatbestandsmerkmal berücksichtigt wurde (§ 46 Abs. 3 StGB). Dies ist etwa beim Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) oder dem Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe i. S. d. § 211 Abs. 2 StGB der Fall.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

Aspekte sollen nicht isoliert betrachtet, sondern einer umfassenden rechtlichen Würdigung zugeführt werden.70 Seit dem 1. August 2015 schreibt § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB ausdrücklich vor, dass nicht nur grundsätzlich „Beweggründe und Ziele“ der Tatperson in die Entscheidung über die Höhe des Strafmaßes einzubeziehen, sondern „besonders“ auch rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische71 oder sonstige menschenverachtende Tatgründe zu beachten sind.72 Zwar ermöglichte das materielle Strafrecht auch vor dieser Gesetzesänderung, rassistische Motive als strafschärfend zu bewerten, die Reform soll der strafrechtlichen Ahndung von Rassismus jedoch zu mehr Konsequenz verhelfen. Dem Einschub in § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB kommt rechtstechnisch vor allem eine klarstellende Funktion zu.73 Die Normierung erfolgt laut der Gesetzesbegründung gleichsam „zu Zwecken der positiven Generalprävention“ sowie um „für das Gemeinwesen grundlegende Wertungen zu dokumentieren“.74 Der Gesetzgeber reagiert damit auf die insgesamt steigende Anzahl an Gewalttaten im Bereich der sog. gruppenbezogenen Hasskriminalität.75 Die Gesetzesänderung basiert auf den Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses, dessen Aufgabe es war, die massiven rechtsstaatlichen Versäumnisse innerhalb der strafrechtlichen Ermittlung der NSUMordserie aufzuarbeiten. Der Untersuchungsausschuss benennt als maßgebliche Ursache dieses staatlichen Scheiterns die strukturelle Blindheit der beteiligten Behörden gegenüber einer potenziell rassistischen Tatmotivation.76 Die Gesetzes70 M.w. N. Bernd v. Heintschel-Heinegg, in: ders. (Hg.), BeckOK StGB, 50. Ed. 2021, § 46 Rn. 143. 71 Die Berücksichtigung antisemitischer Beweggründe geht auf das spätere Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität und damit die jüngste Änderung des § 46 StGB vom 30.3.2021 zurück. Die Gesetzesänderung trat am 1.7.2021 in Kraft (BGBl. 2021 I Nr. 13, S. 441). Zu weiteren Änderungen im Überblick: Armin Engländer, Die Änderungen des StGB durch das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, in: NStZ 2021, S. 385–390. 72 Vgl. Gesetz zur Umsetzung von Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages v. 12.6.2015 (BGBl. 2015 I Nr. 23, S. 925). 73 Kritisch Oliver H. Gerson, der gegen den „Trend, strafrechtliche Vorschriften für ,Signale‘, ,Symbole‘ und sonstige Betroffenheitslyrik zu entfremden“ argumentiert. Oliver H. Gerson, Fauler (Wort-)Zauber im Strafzumessungsrecht, in: KriPoZ 2020, S. 22– 37 (22). Dass Gerson in seiner Einschätzung nicht zuzustimmen ist, versucht die folgende Analyse zu zeigen. 74 BT-Drs. 396/14 v. 29.8.2014, S. 4. So auch bereits BT-Drs. 17/9345 v. 18.4.2012. 75 Vgl. Bundeskriminalamt, Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2020. Bundesweite Fallzahlen, 4.5.2021. Dem Bereich der sog. „Hasskriminalität“ werden politisch motivierte Straftaten zugeordnet, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Diskriminierungskategorie richtet. Ausführlich Anja Schmidt, Strafrechtlicher Schutz vor Diskriminierung und Hasskriminalität, in: Mangold/Payandeh (Hg.), Handbuch Antidiskriminierung, 2022, S. 882– 924. 76 Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes, BT-Drs. 17/14600 v. 22.8.2013, insbesondere S. 877 ff.

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begründung hebt daher besonders hervor, dass rassistische Beweggründe nun bereits im Ermittlungsverfahren, also frühzeitig und sorgfältig77, einzubeziehen sowie eingehend zu prüfen sind. Die Änderung des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB greift § 160 Abs. 3 StPO auf, wonach sich die Ermittlung der Staatsanwaltschaft auf alle Umstände erstrecken soll, die für eine Bestimmung der Rechtsfolgen relevant sind.78 Gleichzeitig sind die Gerichte angehalten, die Bedeutung rassistischer Motive für die Strafzumessung stärker zu gewichten.79 Die in ihrem Umfang überschaubaren Entscheidungen, welche vor der Gesetzesänderung rassistische Tatmotive in die Strafzumessung einstellen, beziehen sich auf unmissverständlich rechtsextreme und eindeutig menschenverachtende Taten.80 Das Oberlandesgericht Brandenburg bestätigt etwa die strafschärfende Würdigung der rassistischen Gesinnung eines Angeklagten, von der das Landgericht Potsdam als Vorinstanz ausgegangen war. Der Täter hatte eine weiße Frau, die gerade ihr schwarzes Kind auf einer Parkbank fütterte, gefragt, ob sie vom „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ gehört habe. Er erläuterte, dass er sich für dessen Fortgeltung einsetze, und bezeichnete das Kind als „Rassenschande“.81 Das Gericht hebt die „Nachhaltigkeit und Hartnäckigkeit“ 82 hervor, mit welcher der Angeklagte vorgegangen ist. Dieser habe sich auch durch eingreifende Passanten nicht von seinem verbalen Angriff abhalten lassen. Hinzu kommt, dass der Angeklagte noch im Gerichtssaal seine nationalsozialistische und rassistische Weltsicht bestätigte und sich diesbezüglich sogar auf den Schutz der Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG berief. Noch eindeutiger kann der Angeklagte sein rassistisches Tatmotiv nicht äußern. Die Wörter „Rassismus“ oder „rassistisch“ tauchen im Entscheidungstext des OLG trotz allem nicht auf. Das Gericht stützt sich zur Strafschärfung vielmehr auf das „nationalsozialistische Gedankengut“ des Täters. An anderer Stelle nutzt das Gericht einen aus rassismuskritischer Perspektive problematischen Sprachgebrauch, wenn es feststellt, dass der Angeklagte nicht nur die Ehre der Mutter und Menschenwürde des Kindes angegriffen habe, „sondern auch die Menschenwürde al77

BT-Drs. 396/14 v. 29.8.2014, S. 3. Zur Frage, wie eine rassistische Tatmotivation ermittelt werden kann und wie Gerichte damit umgehen sollen, wenn diese nicht offen geäußert wird: Hendrik Cremer/ Beatrice Cobbinah, Rassistische Straftaten: Muss die Strafverfolgung und Ahndung effektiver werden?, in: StV 2019, S. 648–654. Ebenfalls: Doris Liebscher, Rassismus und Strafrecht, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln, Berlin 2018, S. 18–32. 79 BT-Drs. 396/14 v. 29.8.2014, S. 3. Dies verlangt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, Urt. v. 6.7.2005, 43577/98, 43579/98. 80 Eine Juris-Suche für strafgerichtliche Rechtsprechung im Zeitraum 2000–2015 mit den Suchbegriffen „§ 46 StGB“, „rassistisch“/„ausländerfeindlich“/„antisemitisch“ ergibt insgesamt sieben Treffer. In sechs Fällen handelt es sich um antisemitische Tatmotive oder eine nationalsozialistische Gesinnung. 81 OLG Brandenburg, Urt. v. 28.2.2007, 1 Ss 97/06, Rn. 9. 82 OLG Brandenburg, Urt. v. 28.2.2007, 1 Ss 97/06, Rn. 20. 78

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ler Bevölkerungsteile mit ,gemischter Herkunft‘“.83 Gleichwohl dem Gericht darin zuzustimmen ist, die strukturelle Dimension der Tat zu betonen, reproduziert es durch die unbedachte Formulierung selbst rassistisches Gedankengut. Das Wort „gemischt“ suggeriert, es gäbe unterschiedliche biologische Rassen, die sich vermengen könnten. Der Begriff greift insofern die kolonialrassistische sowie nationalsozialistische Markierung von „Mischlingskindern“ auf, welche als minderwertig galten und rechtlich schlechter gestellt waren.84 Trotz des nunmehr eindeutigen Gesetzeswortlauts erfolgt die Prüfung des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB noch immer zurückhaltend und auffallend uneinheitlich.85 Auf strafschärfende rassistische Beweggründe wird – ungeachtet naheliegender Sachverhaltsinformationen – häufig gar nicht eingegangen. An anderer Stelle schließen die Gerichte eine rassistische Tatmotivation mit wenig überzeugenden Argumenten aus. Selbst eine ausgewiesene Zugehörigkeit der Tatperson zu einer rechten bzw. rechtsradikalen Organisation garantiert nicht, dass rassistische Tatmotive als solche erkannt, strafschärfend gewürdigt oder überhaupt geprüft werden. Dies wird anhand der nun folgenden Entscheidungstexte belegt. b) Gerichtliche Prüfung Das Landgericht Koblenz hatte im Jahr 2019 über die Strafbarkeit der in folgendem Sachverhalt beteiligten Personen zu entscheiden: Ein Mann sprühte gemeinsam mit anderen „gleichgesinnte[n] Personen“ insgesamt 62 Graffitiparolen an vier verschiedene Schulgebäude, die unter anderem titelten: „Hitzefrei statt Völkerbrei“, „Die Deutsche Jugend wehrt sich“ oder „Bad G. bleibt deutsch“.86 Es handelt sich bei den zitierten Sprüchen um sog. „Gefahrentopoi“ des rechten und rechtsextremen politischen Spektrums, denen die biologistisch-rassistische Wunschvorstellung eines homogenen „Volkskörpers“, also einer scheinbar biologisch-rassischen Einheit, zugrunde liegt. Später beteiligte sich eine der Tatpersonen am sog. „Marsch der Unsterblichen“, einer Versammlung der rechten Szene, die atmosphärisch an die Fackelzüge des Nationalsozialismus erinnern soll. Die Teilnehmenden waren uniformiert und skandierten lautstark „frei, sozial und national“. Mit sich trugen sie ein Banner mit der Aufschrift „Volkstod stoppen – Damit die Welt nicht vergisst, dass du Deutscher gewesen bist“. Ziel des Marsches war nach eigener Aussage, eine „einschüchternde Militanz“ zu verbreiten und vor der drohenden „Überfremdung der Zivilgesellschaft“ zu warnen. Das Landgericht wertet die erste Tat als gemeinschädliche Sachbeschädigung nach 83

Herv. d. Autorin, OLG Brandenburg, Urt. v. 28.2.2007, 1 Ss 97/06, Rn. 14. Näher dazu: Kapitel 1, B. I. und C. I. 1., S. 61 ff. und S. 72 ff. 85 Die nachfolgend besprochenen Entscheidungen sind nur teilweise veröffentlicht. Die Entscheidungstexte wurden zum Teil bei den betreffenden Gerichten angefragt, andere hat mir Beatrice Cobbinah zur Verfügung gestellt. Dafür vielen Dank. 86 LG Koblenz, Urt. v. 16.7.2019, 2090 Js 29752/10–12 KLs. 84

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§§ 304 Abs. 2, 25 Abs. 2 StGB und letztere als Verstoß gegen das Uniformverbot gem. §§ 3 Abs. 1, 28 VersammlG. Im Ergebnis sah es jedoch gem. § 60 Satz 1 StGB von einer Strafe ab, da es sich nach Ansicht des Gerichts um „Delikte im Bagatellbereich“ bzw. um „leicht[e] Kriminalität“ handele.87 Aufgrund der überlangen Verfahrensdauer mit einer entsprechend langen Untersuchungshaft hätten die Folgen der Taten den Angeklagten so hart getroffen, dass die Verhängung einer weiteren Strafe „offensichtlich verfehlt“ sei. Der Angeklagte habe sich während der Verfahrenszeit „nicht beruflich frei entfalten“ und sein privates Leben „nicht nach seinen eigenen Vorstellungen“ gestalten können. § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB wird im Rahmen der Gesamtwürdigung der Strafzumessung nicht erwähnt, die rassistische Dimension der Taten bleibt gänzlich unkommentiert. Auf Revision der Staatsanwaltschaft stellt der Bundesgerichtshof die Rechtsfehlerhaftigkeit dieser Entscheidung fest und hebt das Urteil auf.88 Die Revisionsinstanz erkennt, dass es „durchgreifenden rechtlichen Bedenken“ begegnet, wenn sich die Strafzumessung eines Urteils nicht zur jeweiligen Tatmotivation verhält, obwohl es derart naheliegt, dass aus „fremdenfeindlichen Beweggründen“ gehandelt wurde. In dem geschilderten Verfahrensgang – so könnte man argumentieren – manifestiert sich allein die rechtsstaatlich indizierte Kontrollwirkung des strafrechtlichen Instanzenzuges. Es zeichnet sich ein anderes Bild, wenn die Rechtsprechung zu § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB umfassender ausgewertet wird. So fällt auf, dass es sich bei derartigen gerichtlichen Fehleinschätzungen nicht um Einzelfälle handelt, sondern rassistische Tatmotive regelmäßig nicht als solche erkannt werden. In einem Fall, den das Landgericht Regensburg verhandelte, stürmte ein Mann mit einer Machete bewaffnet in eine Geflüchteten-Unterkunft, nachdem er zuvor rief, er werde nun rübergehen und „Asylanten/Ausländer ,abschlachten‘“.89 Als er das Gebäude betrat, schrie der Angeklagte: „Heil Hitler“, „Scheiß-Ausländer“, „Sieg Heil!“, „Schaut’s dass ihr euch aus unserem Land verpisst’s“ und „Arschlöcher!“.90 Im Gebäude eingedrungen, versuchte die Tatperson, einen migrantisch gelesenen Mann mit der beigeführten Machete zu verletzen. Dieser verschanzte sich in seinem Zimmer und sprang schließlich, um vor dem Angreifer zu fliehen, aus dem Fenster. Im weiteren Tatverlauf kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Personen, wobei der Angeklagte erneut versuchte, mit der Machete den Oberkörper des Opfers zu treffen. Trotz der eindeutig rassistisch motivierten Auswahl der Tatopfer sowie der nationalsozialistischen und rassistischen Äußerungen des Angeklagten schien ein rassistischer Beweggrund für das Gericht nur nahezuliegen, wenn sich die Tatperson – zusätz87 88 89 90

LG Koblenz, Urt. v. 16.7.2019, 2090 Js 29752/10–12 KLs. BGH, Urt. v. 20.8.2020, 3 StR 40/20. Unveröff. LG Regensburg, Urt. v. 24.11.2016, Ks 102 Js 3382/16, S. 13. Unveröff. LG Regensburg, Urt. v. 24.11.2016, Ks 102 Js 3382/16, S. 13.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

lich – in einer politisch rechten Organisation beteiligt und auf diese Weise ihre rassistische Gesinnung kundgetan hätte. Das Gericht prüfte im Rahmen der Beweiswürdigung die Zugehörigkeit des Täters zur „rechten Szene“. Sowohl der Angeklagte selbst als auch das nähere Umfeld sah eine solche nicht gegeben. Das Gericht schloss sich deren Bewertung an und fasste knapp zusammen, dass „der Angeklagte [. . .] sich durchaus negativ über die Flüchtlingsproblematik geäußert, insgesamt [. . .] aber keiner der Zeugen über eine rechtsradikale Gesinnung des Probanden im engeren Sinne berichtet“.91

Es untermauerte diese Einschätzung, wenn es anmerkte, „dass er [der Angeklagte] bei einem syrischen Immigranten zum Essen eingeladen worden sei, was er sehr interessant gefunden und genossen habe“.92

Mit dieser Feststellung endet die Prüfung möglicher rassistischer Tatmotive. Weder die beleidigenden Aussagen noch die Tatsache, dass es sich bei den gewählten Opfern um rassifizierte Personen handelt, findet Eingang in die Abwägung des Gerichts. Aus welchen Gründen das Landgericht Regensburg im zuvor benannten Fall rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Beweggründe (i. S. d. § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB) mit einer rechtsradikalen Gesinnung gleichsetzt, legt es nicht offen. Es prüft in der weiteren Erörterung der Strafzumessung vielmehr, ob die Tathandlung aufgrund der Lebenssituation des Täters „nachvollziehbar“ war. Auch aus dieser Warte spricht für das Gericht aus der Tat keine rassistische Motivation. Der Angeklagte habe „eher seine allgemeine Frustration über seine Lebenssituation und sein Unvermögen, diese zu ändern – ganz im Gegenteil zu den Flüchtlingen, die dies sehr wohl könnten – [. . .] geäußert und dafür rechtsradikale Inhalte und Parolen eher als Vehikel genutzt“.93

Das Gericht scheint für die Tat als persönliches Mittel, dieser Frustration Ausdruck zu verleihen, zumindest innerhalb eben jener „Logikkontrolle“, Verständnis aufzubringen. Individuelle Umstände, die erklären, weshalb eine Person rassistisch handelt, ändern jedoch nichts an der pönalisierten Tatmotivation als solcher. Die Frage des Obs und die des Weshalbs sind strikt voneinander zu trennen, um Rassismus als Tatmotivation nicht zu bagatellisieren. Widerstreitende Umstände sollten erst in einem nachgelagerten Schritt geprüft werden. Der Eindruck, das Gericht versuche, mit dem Täter mitzufühlen, manifestiert sich, wenn der Entscheidungstext ausführt, aus dem nachvollziehbaren Ärger des Angeklagten habe nur deshalb Wut werden können, weil sich der Angeklagte aufgrund seines stark alkoholisierten Zustandes in seine „Frustration hineingesteigert“ habe. Die Berauschung hätte zu einer Schwächung der sonst bestehenden kontrollierenden

91 92 93

Unveröff. LG Regensburg, Urt. v. 24.11.2016, Ks 102 Js 3382/16, S. 65. Unveröff. LG Regensburg, Urt. v. 24.11.2016, Ks 102 Js 3382/16, S. 17. Unveröff. LG Regensburg, Urt. v. 24.11.2016, Ks 102 Js 3382/16, S. 65.

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Instanzen „wie Gewissen und Moral“ geführt.94 Mit aller Mühe scheint das Gericht klarstellen zu wollen, dass der Täter „eigentlich“ kein Rassist ist. Zweifellos muss die Strafzumessung zwar die Täterpersönlichkeit berücksichtigen, das geltende Strafrecht ist – aus gutem Grund – aber gerade kein Täter-, sondern Tatstrafrecht. Zu prüfen ist daher, ob aus der Tat rassistische Beweggründe sprechen, und nicht, ob der Täter per se ein geschlossen rassistisches Weltbild aufweist. Die einseitige Argumentation des Gerichts sorgt dafür, dass die Dimension der Tat aus Opfersicht kein oder nur unzureichendes Gehör findet. Auch die rassistische Äußerung als solche wird überhört. Bei dieser Spielart der Subalternisierung, dem Überhören und – zugespitzt – dem Weghören, handelt es sich um eine Praxis, welche subalterne Stimmen durchaus wahrnimmt, die im Anschluss aber keine Resonanz erfahren. Dies geschieht entweder, indem relevante Aspekte verschwiegen und ausgeblendet werden, oder indem inhaltlich abgelenkt wird, also etwas „anderes“ gehört wird. Hier ist dies der Frust des Täters und seine Lebenskrise. Auch das Landgericht Magdeburg sieht im Falle eines weißen Mannes, der einen schwarzen Menschen im Bus, später eine migrantische Familie im Park angreift und dabei rassistisch beleidigt, keinen Anlass, rassistische Tatmotive i. S. d. § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB zu erwägen.95 Gemäß dem festgestellten Tathergang hetzte der Angeklagte in beiden Situationen seinen Hund auf die beteiligten Personen und rief dabei „Scheiß Ausländer“.96 Im Rahmen der Strafwürdigung führt das Gericht zu Gunsten des Angeklagten strafmindernd an, dass dieser alkoholbedingt enthemmt war und im Vorfeld der Verhandlung „medial vorverurteilt wurde“, weil keine sachliche Berichterstattung erfolgte.97 Zu seinem Nachteil weist das Gericht auf die laufende Bewährung und hohe Rückfallgeschwindigkeit der Tatperson hin. Für die Gesamtwürdigung sind diese Punkte durchaus von Interesse. Jedoch schweigt das Gericht zu einer etwaigen rassistischen Tatmotivation. Diese hätte unabhängig von den anderen Punkten aufgrund der kaum zufälligen Auswahl der Opfer in Kombination mit der beleidigenden Äußerung zumindest ausgewertet werden müssen. Die Entscheidung schweigt zu den Beweggründen des Täters. Vielmehr wird das Opfer der ersten Tathandlung im Entscheidungstext selbst mehrfach essentialisierend als „der Afrikaner“ betitelt.98 An anderer Stelle wird das Tatopfer als „aus Afrika [stammend]“ bezeichnet.99 94

Unveröff. LG Regensburg, Urt. v. 24.11.2016, Ks 102 Js 3382/16, S. 66. Unveröff. LG Magdeburg, Urt. v. 11.12.2018, 22 KLs 230 Js 15079/18 (11/18). 96 Siehe etwa unveröff. LG Magdeburg, Urt. v. 11.12.2018, 22 KLs 230 Js 15079/18 (11/18), S. 12, 16, 28. 97 Unveröff. LG Magdeburg, Urt. v. 11.12.2018, 22 KLs 230 Js 15079/18 (11/18), S. 41. 98 Unveröff. LG Magdeburg, Urt. v. 11.12.2018, 22 KLs 230 Js 15079/18 (11/18), S. 14, 15. 99 Unveröff. LG Magdeburg, Urt. v. 11.12.2018, 22 KLs 230 Js 15079/18 (11/18), S. 7. 95

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

In den genannten Formulierungen schwingt eine kolonialistische Vorstellungswelt mit, es handele sich bei dem afrikanischen Kontinent um eine homogene Einheit, dessen Angehörige als Kollektiv adressiert werden könnten. Um die tatsächliche Staatsangehörigkeit des Opfers, die das Gericht nicht erwähnt, scheint es jedenfalls nicht zu gehen. Diese wäre für die Prüfung einer Körperverletzung auch unerheblich. Was das Gericht zu sagen versucht, ist, dass ein schwarzer Mensch durch die Tat geschädigt wurde. Diese Feststellung ist von Bedeutung, um zumindest in der Sachverhaltsbeschreibung einen Bezug zwischen der geäußerten Beleidigung, der Tathandlung und den gewählten Opfern herzustellen. Der gerichtliche Sprachgebrauch lässt Unsicherheiten im rechtlichen Sprechen über Rassismus erkennen. Ähnliches gilt für einen gemeinschaftlich begangenen, versuchten Brandanschlag auf eine Unterkunft für Geflüchtete. Die erste Tatperson warf einen Brandsatz aus einer Entfernung von ca. 13,5 Metern auf ein erleuchtetes Fenster der Unterkunft. Der Brandsatz verfehlte sein Ziel und fiel auf den Rasen. Später warf die zweite Tatperson einen weiteren Brandsatz in Richtung des Fensters. Dieser traf das anvisierte Ziel, prallte allerdings ab und landete auf dem Gehweg. Er brannte aus, ohne dass Schaden am Haus entstand. Das Landgericht Neuruppin führt zum Tatgeschehen aus, dass die Angeklagten deren „gemeinsame gefestigte fremdenfeindliche Einstellung, die regelmäßig Gesprächsthema zwischen ihnen war“ 100 eint. Innerhalb der weiteren Erörterung des Falles, der Beweiswürdigung und Strafbarkeit der Angeklagten kommt das Gericht auf diesen Umstand nicht zurück. § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB wird weder erwähnt noch geprüft, obwohl durch die Auswahl des Anschlagsziels naheliegt, dass für die Tatpersonen die Herkunft der Opfer und der Wert ihres Lebens zusammenhängen.101 Lediglich innerhalb der Strafzumessung der zweiten Tatperson stellt das Landgericht knapp fest, dass die „ausländerfeindliche und menschenverachtende Motivation der Tat“ 102 gegen den Angeklagten spreche. Jedoch überwiegen nach Ansicht des Gerichts verschiedene Strafmilderungsgründe, weshalb keine Strafschärfung angezeigt sei. Wiederum wird deutlich, dass das Gericht den Begriff Rassismus meidet und auf den diskursiv vorherrschenden, diffuseren Begriff „Ausländerfeindlichkeit“ ausweicht. Auch das Amtsgericht Königs Wusterhausen prüft im Falle eines Reizgasangriffs in einer Geflüchteten-Unterkunft keine rassistische Gesinnung des Täters.103 Wiederum war dieser im Vorfeld durch rassistische Sprüche und Einträge

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Unveröff. LG Neuruppin, Urt. v. 5.7.2018, 11 Ks 1/18, S. 4. Unveröff. LG Neuruppin, Urt. v. 5.7.2018, 11 Ks 1/18, nachgehend BGH, Urt. v. 17.4.2019 – 5 StR 685/18, Rn. 11. 102 Unveröff. LG Neuruppin, Urt. v. 5.7.2018, 11 Ks 1/18, S. 26. 103 Unveröff. AG Königs Wusterhausen, Urt. v. 22.2.2017, 2 Ls 1360 Js 27447/15 (18/16). 101

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auf Facebook aufgefallen.104 Ein solch „rechtsgutbezogenes Vortatverhalten“ darf in der Abwägung der Strafzumessungstatsachen vom Gericht berücksichtigt werden, um das maßgebliche Gesamtbild der Tat festzustellen.105 Infolge des Angriffs erlitten mehrere Personen Reizungen der Atemwege, der Augen und kämpften zum Teil mit Übelkeit. Bei einem der Opfer löste das Reizgas neben körperlichen Verletzungen eine posttraumatische Belastungsstörung aus, da die angegriffene Person die eigene Familie in Syrien durch einen Giftgasangriff verloren hat. Die Tat folgt nach Ansicht des Gerichts einer „spontanen Eingebung“ des Täters, wobei dieser sich die „Dimension der Folgen seines Tuns [. . .] nicht ausgemalt“ hatte.106 In der Strafzumessung wertet das Gericht die Vielzahl der verletzten Personen, die Vorstrafen des Angeklagten sowie sein zweifaches Bewährungsversagen als strafschärfend – ein rassistischer Beweggrund wird nicht untersucht. In einem weiteren Fall schoss ein Angeklagter an mehreren Tagen mit einem Luftgewehr aus seiner Wohnung auf eine ca. 46 Meter entfernte GeflüchtetenUnterkunft und nahm dabei billigend in Kauf, dass sich im Außenbereich Menschen aufhalten, die er verletzen könnte.107 Der Angeklagte war zeitweise Mitglied der Nationaldemokratischen Partei Deutschland (NPD) und für einen kurzen Zeitraum ebenfalls deren stellvertretender Vorsitzender, später trat er aus der Partei aus. Im Rahmen der Strafzumessung nimmt das Amtsgericht Lingen auf die Tatumstände insofern Bezug, als es aufgrund der „Perfidität der Tatausführung und der absichtlich ausgewählten Tatopfer als Asylbewerber“ 108 keinen minderschweren Fall einer Körperverletzung in Betracht zieht. Die Auswahl der Opfer spreche jedoch nicht deshalb zu Lasten des Täters, weil diese aus rassistischen Motiven stellvertretend für eine vermeintliche Gruppe bestimmt wurden, sondern lediglich aufgrund der ohnehin bestehenden erheblichen Belastungssituation, der die Menschen ausgesetzt sind. § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB wird nicht angesprochen. Vielmehr führt das Gericht aus, der Angeklagte leide unter einer „kombinierten Persönlichkeitsstörung mit überwiegend antisozialen und narzisstischen Anteilen“. Zwar räumt es ein, dass „diese Persönlichkeitsstörung keine forensische Relevanz“ 109 hat und die Schuldfähigkeit des Angeklagten weder mindert noch aufhebt.110 Ausführlich wendet sich das Gericht trotz allem der 104 Näher Beatrice Cobbinah, Zu wenig, zu selten, in: Austermann u. a. (Hg.), Recht gegen rechts, 2020, S. 210–222 (216). 105 Stefan Maier, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2020, § 46 Rn. 325, 200, siehe auch Rn. 284. 106 Unveröff. AG Königs Wusterhausen, Urt. v. 22.2.2017, 2 Ls 1360 Js 27447/15 (18/16), S. 4. 107 Unveröff. AG Lingen, Urt. v. 11.1.2017, 8 LS (539 Js 29789/16) 19/16. 108 Unveröff. AG Lingen, Urt. v. 11.1.2017, 8 LS (539 Js 29789/16) 19/16, S. 8. 109 Unveröff. AG Lingen, Urt. v. 11.1.2017, 8 LS (539 Js 29789/16) 19/16, S. 4. 110 Unveröff. AG Lingen, Urt. v. 11.1.2017, 8 LS (539 Js 29789/16) 19/16, S. 7.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

psychischen Konstitution des Angeklagten zu, wenn es später darauf zurückkommt, dass der Angeklagte über „eine zunehmende Depressivität berichtet“, die mit einer „ausgeprägten Schlafstörung“, „sozialem Rückzug“ und „mit wiederkehrenden Suizid-Gedanken“ einhergeht. Der Angeklagte kämpfte zudem mit seiner „massiven Impulsivität“ und „mit Wutausbrüchen überwiegend verbaler Art.“111 Wiederum steht außer Frage, dass die psychische Verfasstheit des Angeklagten für den Urteilsspruch relevant sein kann. Nach dem Ausschluss einer Relevanz für die Schuldfähigkeit hängen die Ausführungen allerdings in der Luft. Dogmatisch ist unklar, weshalb die Psyche der Tatperson ein solches Gewicht in der Prüfung einnimmt, obgleich sie gemäß dem Schuldprinzip nicht zur Strafminderung führt. Rassismus und potenziell rassistisch motivierte Gewalttaten als Ausdruck einer psychologischen Erkrankung zu fassen, wird den dogmatischen Anforderungen des § 46 Abs. 2 StGB nicht gerecht. Zweifellos kann die persönliche Hemmschwelle durch eine bestimmte psychische Disposition sinken. In beiden Fällen sollte dies in die Prüfung der Schuldfähigkeit einbezogen werden. Doch Rassismus ist kein isoliertes Problem von Individuen, sondern immer ein gesellschaftliches Phänomen. Rassistische Ideologien können auf Projektionen beruhen, vermittels derer Menschen eigene Ängste oder Wünsche im Außen verorten. Dies wurde an anderer Stelle bereits ausgeführt.112 Ein Schusswaffenangriff auf eine Unterkunft für asylsuchende Menschen ist jedoch kein spontaner Gedanke, der wahllos einer erhöhten Aggressivität und mangelnden Impulskontrolle folgt. Die Art und Weise, auf die sich hier persönliche Wut und Frustration kanalisieren, ist eingewoben in strukturelle Abwertungskategorien. Während die Prüfung von Rassismus als rechtsextreme Gesinnung zwei Aspekte gleichsetzt, die zusammenfallen können, aber nicht müssen, handelt es sich bei dem Abheben auf die Psyche der Tatperson, ohne diese Zusammenhänge herauszuarbeiten, um ein pathologisierendes Verständnis von Rassismus, das dessen strukturelle Dimension verharmlost. Die häufig nur oberflächliche Prüfung des Art. 46 Abs. 2 Satz 2 StGB entspricht der sehr dünnen strafrechtlichen Kommentarliteratur. In der Regel verweist diese lediglich auf die genannte Gesetzesänderung113 und enthält knappe Ausführungen zur Bedeutung rassistischer Beweggründe.114 Mögliche Erschei111

Unveröff. AG Lingen, Urt. v. 11.1.2017, 8 LS (539 Js 29789/16) 19/16, S. 5. Ausführlich Kapitel 1, B. II., ab S. 65. 113 Bernd v. Heintschel-Heinegg, in: ders. (Hg.), BeckOK StGB, 50 Ed. 2021, § 46 Rn. 32; Heike Bußmann, in: Matt/Renzikowski (Hg.), StGB, 2. Aufl. 2020, § 36 Rn. 11 ff.; Kristian Kühl, in: Lackner/Kühl (Hg.), StGB, 29. Aufl. 2018, § 46 Rn. 33; Franz Streng, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hg.), StGB Komm., 5. Aufl. 2017, § 46 Rn. 52. 114 Stefan Maier, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2020, § 46 Rn. 209, 210; Jörg Kinzig, in: Schönke/Schröder (Hg.), StGB, 30. Aufl. 2019, § 46 Rn. 15a ff. Auch Bernd v. Heintschel-Heinegg, in: ders. (Hg.), BeckOK StGB, 50. Ed. 2021, § 46 Rn. 32, der zwar versucht, fremdenfeindlich, antisemitisch und menschenverachtend zu definieren, bei rassistischen Beweggründen aufgrund von Hautfarbe, Religion, Abstammung oder Herkunft aber nur darauf hinweist, diese zu berücksichtigen. 112

B. Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung

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nungsformen von Rassismus jenseits einer rechten oder rechtsradikalen Gesinnung werden selten berücksichtigt. Theoretische Grundlagen zum Rasse- und Rassismusbegriff fehlen vollständig. c) Zwischenergebnis Das Rassismusverständnis deutscher Strafrechtsorgane verknüpft Rassismus mit der politischen Ideologie des Rechtsextremismus und verortet Rassismen infolgedessen am „rechten Rand“ der Gesellschaft.115 Die besprochenen Entscheidungen lassen eine nur sehr geringe Sensibilisierung für die Wirkmächtigkeit von Rassismus als strukturelles, gesamtgesellschaftliches Phänomen erkennen. Die mangelnden Kenntnisse erhöhen die Chance, dass rassistischen Beweggründen – entgegen der gesetzgeberischen Intention und dem Normzweck des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB – keine strafschärfende Bedeutung zukommt. Dies wiederum verstärkt die Privilegierung von Menschen, die nicht nachteilig von Rassismus betroffen sind. Infolge einer unterkomplexen rechtlichen Erfassung von Rassismus wird rassifizierten Menschen eine subalterne Position zugesprochen. Inwiefern dies auch für das Arbeitsrecht gilt, untersucht der nächste Abschnitt. Mich interessiert dabei, ob sich rechtsgebietsspezifische Unterschiede bezogen auf die Prüfungskompetenz der Gerichte erkennen lassen. 2. Rassismus im Arbeitsverhältnis Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbietet jede Benachteiligung einer beschäftigten Person (§ 6 AGG) „aus Gründen der Rasse“ (§§ 1, 7 Abs. 1 AGG). Der rechtliche Schutz vor einer diskriminierenden Behandlung erstreckt sich dabei grundsätzlich auf alle Phasen der Erwerbstätigkeit (z. B. auch auf die Stellenausschreibung und das Bewerbungsverfahren) bis hin zur Beendigung der Beschäftigung.116 Nichtsdestotrotz ist gerade das Arbeitsleben einem besonders hohen, realen Diskriminierungsrisiko ausgesetzt.117 Dieses Risiko wirkt sich aus verschiedenen Gründen besonders stark auf das Leben derjenigen Menschen aus, die eine Diskriminierung zu befürchten haben: Die berufliche Tätigkeit stellt typischerweise einen wichtigen Aspekt der gesellschaftlichen Teilhabe dar. Ein sozialer Kontakt innerhalb des Kollegiums ist – zumindest im Falle einer abhängigen Beschäftigung – nicht nur unausweichlich, sondern vielfach eine wesent115 Zum gleichen Ergebnis kommt Beatrice Cobbinah, Zu wenig, zu selten, in: Austermann u. a. (Hg.), Recht gegen rechts, 2020, S. 210–222 (213 ff.). 116 Selbstständige Personen sind nur beim Zugang zur Arbeit und beim beruflichen Aufstieg geschützt. 117 Laut Gleichstellungsbericht (§ 27 Abs. 4 AGG) betrafen 41 % der Beratungsanfragen im Zeitraum von 2013 bis 2016 das Arbeitsleben: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), Diskriminierung in Deutschland, 2017, S. 45. Der neue Bericht (Zeitraum 2017–2020) weist als größten Bereich mit 31 % ebenfalls das Arbeitsleben aus: BT-Drs. 19/32690 v. 7.10.2021, S. 41.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

liche Säule der persönlichen sozialen Interaktion. Die Gefahr einer Diskriminierung am Arbeitsplatz begründet daher eine besonders belastende Zwangslage. Auch aus diesem Grund treffen Arbeitgeber*innen gem. §§ 11–13 AGG umfangreiche Organisations- und Schutzpflichten. Im Falle eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot besteht auf Seiten der Beschäftigten ein Anspruch auf Entschädigung und Schadensersatz (§ 15 AGG). Auch die Betriebsräte, Gewerkschaften und sonstige Vertretungsorgane der Beschäftigten sind nach § 17 Abs. 1 AGG aufgefordert, zur Verhinderung oder Beseitigung von Benachteiligungen beizutragen. Geht die Diskriminierung von einer beschäftigten Person aus, besteht grundsätzlich ebenfalls die Möglichkeit, der diskriminierenden Person zu kündigen, um die Benachteiligung zu unterbinden. Dieses rechtliche Szenario ist Gegenstand der weiteren Analyse. a) Rassistische Beleidigungen als Kündigungsgrund Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts118 stellen grobe Beleidigungen im Arbeitsverhältnis eine nebenvertragliche Pflichtverletzung i. S. d. § 241 Abs. 2 BGB dar. Eine solche ist grundsätzlich geeignet, eine verhaltensbedingte außerordentliche Kündigung (§ 626 Abs. 1 BGB) zu rechtfertigen. Nichts anderes gilt für rassistische Beleidigungen, bei denen es sich um einen Unterfall der schweren Beleidigung handelt.119 Sofern zwischen der Äußerung und der dienstlichen Tätigkeit keine Verbindung besteht, ist eine verhaltensbedingte Kündigung nur dann zulässig, wenn das Freizeitverhalten an der persönlichen Eignung des Beschäftigten zweifeln lässt.120 Die gerichtliche Prüfung erfolgt in beiden Fällen zweistufig: Zunächst wird die rassistische Äußerung daraufhin überprüft, ob sie „an sich“ als Kündigungsgrund geeignet ist. Anschließend werden die konkreten Umstände des Einzelfalls herangezogen, um zu beurteilen, ob die Beendigung des Arbeitsverhältnisses verhältnismäßig erscheint.121 Die Kündigung darf keine Sanktion für rassistisches Verhalten sein, sondern ist das Ergebnis einer Prognoseentscheidung, die beurteilt, ob die rassistische Beleidigung den Betriebsfrieden nachhaltig stört. Nach dem Ultima-Ratio-Prinzip muss der ver118 Etwa BAG, Urt. v. 21.1.1999, 2 AZR 665/98; BAG, Urt. v. 17.2.2000, 2 AZR 927/98; BAG, Urt. v. 10.10.2002, 2 AZR 418/01; BAG, Urt. v. 27.9.2012, 2 AZR 646/11. 119 Siehe etwa LAG Hamm, Urt. v. 3.5.2017, 15 Sa 1358/16; LAG Nürnberg, Urt. v. 7.11.2017, 7 Sa 400/16. Jüngst auch: ArbG Berlin, Beschl. v. 5.5.2021, 55 BV 2053/21. Zum Vorgehen gegen rassistisch agierende Personen im Betrieb: Christoph Fröb, Die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Arbeitsrecht, 2018, S. 194 ff. 120 Dies sah das BAG etwa gegeben, als ein Innendienstmitarbeiter der Finanzverwaltung als NPD-Aktivist eine von der NPD stammende E-Mail weitergeleitet hat: BAG, Urt. v. 6.9.2012, 2 AZR 372/11. Anders entschied das Gericht im Falle eines Angestellten des LKA Thüringen, der auf Facebook antimuslimischen Rassismus verbreitete und andere Diskussionsteilnehmer*innen beleidigte: BAG, Urt. v. 27.6.2019, 2 AZR 28/19. 121 St. Rspr.: BAG, Urt. v. 21.11.2013, 2 AZR 797/11, Rn. 15 ff.; BAG, Urt. v. 20.11. 2014, 2 AZR 651/13; BAG, Urt. v. 26.3.2015, 2 AZR 517/14, Rn. 20 ff.

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haltensbedingten Kündigung grundsätzlich – außer in schwerwiegenden Fällen – eine Abmahnung als milderes Mittel vorausgehen. Die Arbeitsgerichte sind folglich aufgefordert, eine rassistische Behandlungsweise als solche zu erkennen sowie die persönliche Herabwürdigung der betroffenen Person kompetent und sensibel zu bewerten. b) Gerichtliche Prüfung Das Arbeitsgericht Stuttgart wird diesen Anforderungen in einer Kündigungsschutzklage aus dem Jahr 2019122 nicht gerecht. Zu entscheiden hatte es über die Wirksamkeit der Kündigung eines langjährigen Mitarbeiters in einem Betrieb der Metall- und Elektroindustrie. Dem betroffenen Arbeitnehmer wird vorgeworfen, sich etwa123 wie folgt geäußert zu haben, als er in der Umkleidekabine Fremdarbeitskräften begegnet, die er migrantisch liest: „Die elenden Stinker, die stinken wie ein Tier, dieses Dreckspack würde ich vom Boot treten und wenn sie mir zu nahe kommen die Knarre ziehen. [. . .].“ 124

Als der Arbeitnehmer einige Minuten später mit mehreren Kollegen an der Stempeluhr zusammenkommt und auf eine andere Gruppe Menschen trifft, sagt er: „Hier muss ja ein Nest sein von diesen scheiß [N*****]. [. . .] Die sollte man im Meer versenken, die stinken ja schon von weitem.“ 125

Aus Sicht des Arbeitgebers hat der Angestellte mit seinem diskriminierenden Verhalten gegen verschiedene betriebsinterne Verhaltensrichtlinien und eine entsprechende Betriebsvereinbarung verstoßen.126 Nach vorheriger Anhörung kündigte der Arbeitgeber dem Mitarbeiter daher fristlos bzw. fristlos mit sozialer Auslauffrist. Das Arbeitsgericht Stuttgart beurteilt die Kündigung als rechtsun122

ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18. Die exakte Formulierung und weitere Einzelheiten des Vorfalls sind zwischen den Parteien strittig. Da die Aussage im Beisein einer größeren Personengruppe getroffen wurde, kann auf verschiedentliche Vernehmungsprotokolle zurückgegriffen werden, die den Wortlaut so wiedergeben. Der Arbeitnehmer bestreitet die Äußerungen mit „Nichtmehrwissen“. Die Berufungsinstanz entschied, dass dieser Vortrag nur dann beachtlich ist, wenn die tatsächlichen Umstände, auf die das Nichtmehrwissen gestützt werden, überprüfbar und glaubhaft dargelegt werden. An einer solch überprüfbaren Darlegung fehlt es hier, weshalb der Gedächtnisverlust unerheblich ist. LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 15.1.2020, 4 Sa 19/19, Rn. 27 ff. 124 ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn. 6, 18. 125 ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn. 7, 20. Den beleidigenden und entwürdigenden Gehalt des N-Wortes möchte ich hier und im Folgenden nicht reproduzieren. Daher wird der Begriff chiffriert. Dies gilt auch dann, wenn Gerichte die Bezeichnung im Entscheidungstext nutzen. 126 Betriebsintern existieren unterschiedliche Vereinbarungen, die diskriminierendes Verhalten untersagen, etwa: die Richtlinie für integres Verhalten, die Gesamtvereinbarung Arbeitsordnung sowie die Konzernbetriebsvereinbarung „Initiative Fairer Umgang“, die dem Arbeitnehmer laut Urteilstext bekannt waren. ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn. 2. 123

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wirksam. Zwar seien die getätigten Äußerungen nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt, vielmehr stellen sie als „Beleidigungen der Gruppe der Mitarbeiter mit dunkelhäutiger Hautfarbe“ grundsätzlich einen tauglichen Kündigungsgrund dar. Jedoch sei eine Abmahnung gegenüber der fristlosen Kündigung aufgrund von Verhältnismäßigkeitserwägungen vorzugswürdig.127 Abgewogen wird die Schwere der rassistischen Äußerung richtigerweise mit der jahrzehntelangen Betriebszugehörigkeit des Mitarbeiters, seiner Schwerbehinderung und seinen altersbedingt schlechten Arbeitsmarktchancen.128 Das Gericht wiederholt mehrfach, dass es sich bei den Aussagen des Mitarbeiters um rassistische Äußerungen handelt. Stets folgt darauf eine einschränkende Bezugnahme, die nach der hier vertretenen Auffassung von mangelhaften rassismuskritischen Kompetenzen zeugt. Selbstredend bewegt sich der Schweregrad einer rassistischen Äußerung in einem Kontinuum. Auch bei einer schwerwiegenden Äußerung können bestimmte Umstände auf der zweiten Stufe der Prüfung gegen die Zumutbarkeit und damit gegen die Rechtmäßigkeit einer Kündigung sprechen. Jedoch verwundert die Kreativität, mit der das Gericht die als rassistisch festgestellte Äußerung relativiert. Obwohl es sich bei den Beleidigungen um zeitlich versetzt getätigte Aussagen handelt, betont das Gericht beispielsweise den Einzelfallcharakter der Vorfälle. Aufgrund der zeitlichen Nähe seien die unterschiedlichen Äußerungen „letztlich als Einheit zu sehen“.129 Die Singularität der Vorfälle mildere die Schwere der Pflichtverletzung deutlich ab. Besonders irritierend ist das nächste Argument. Dieses findet sich nicht einmal im Sachvortrag des Klägers. Es handelt sich nicht um eine streitige Tatsache, der Umstand wird vielmehr vom Gericht frei assoziiert: Es sei durchaus möglich, dass die Fremdarbeitskräfte die Beleidigungen „aufgrund von Sprachschwierigkeiten“ gar nicht verstanden haben, weshalb die Herabwürdigung nicht so schwer wiegen würde.130 Tatsächlich wurden die Betroffenen hierzu nicht befragt, ihre Sprachkenntnisse wurden nicht überprüft. Diese Schritte ersetzt das Gericht durch die genannte Mutmaßung. Die im Sachvortrag beschriebene aggressive Gestik des Mitarbeiters, durch die sich der beleidigende Gehalt der Äußerung ebenfalls hätte transportieren können, wird dabei nicht zur Prüfung herangezogen. Vor dem Hintergrund der weiter oben angestellten repräsentationskritischen Überlegungen erzeugt die gerichtliche Argumentation im Sinne eines „Sprechens über“ eine rechtliche Realität des sozialen Vorgangs, für die keine konkreten Anhaltspunkte bestehen. Die Wirklichkeitsbeschreibung entspricht allein einer autoritativen Setzung des Gerichts.

127 ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn. 30. Diese Rechtsauffassung bestätigt die Berufungsinstanz LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 15.1.2020, 4 Sa 19/19. 128 ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn. 31. 129 ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn. 32. Hier widerspricht das Berufungsgericht, betont aber die Erstmaligkeit des Fehlverhaltens: LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 15.1.2020, 4 Sa 19/19, Rn. 48. 130 ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn. 32.

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Hinsichtlich der Schwere des diskriminierenden Verhaltens führt das Arbeitsgericht Stuttgart überdies aus, dass die rassistischen Äußerungen nicht als „konkret ernst gemeinte Bedrohung“ 131 zu bewerten seien. Zwar verstärke der Angestellte seine Äußerung, indem er simuliert, eine Schusswaffe zu ziehen, diese Geste sowie die Äußerungen selbst richteten sich aber nicht „gezielt [gegen] eine Person“. Daraus schließt das Gericht, dass der Arbeitnehmer keine bestimmte Person ansprechen oder beleidigen wollte. Dass aufgrund der anwesenden schwarzen Leiharbeitskräfte durchaus auf eine konkrete Gruppe von Menschen Bezug genommen wurde und die Adressaten damit zumindest bestimmbar sind, bleibt unerwähnt. Darüber hinaus sei „die vorgeworfene Aussage offensichtlich im Konjunktiv formuliert [. . .] (,würde, wenn‘)“ 132, was auf eine mangelnde Ernsthaftigkeit hindeute. Die Argumentationskette verdeutlicht die hohen Hürden, die das Gericht annimmt, um eine rassistische Äußerung als Kündigungsgrund anzuerkennen. Erst die reale Gefahr eines körperlichen Angriffs scheint eine Kündigung nahezulegen. Zugunsten des gekündigten Mitarbeiters führt das Gericht außerdem die konkrete Situation an, in welcher die Aussagen getroffen wurden: „Zu beachten war ferner, dass der Kläger [. . .] bereits mehrere Tage Nachtschicht hatte, wobei die Äußerungen am Ende der Nachtschicht gefallen sein sollen. Eine gewisse mögliche Belastungssituation ist mithin nicht von der Hand zu weisen.“ 133

Die Argumentation berücksichtigt in der Abwägung jeden Aspekt, der die Schwere der Pflichtverletzung mildern könnte. Gleichzeitig spart der Entscheidungstext jene Umstände aus, die gegen den Mitarbeiter streiten. Beispielsweise wird nicht angemerkt, dass der Angestellte von den Fremdarbeitskräften weder provoziert wurde noch aus anderen Gründen eine aufgeheizte Stimmung vorausging. Der Entscheidungstext bestätigt ebenfalls die im vorherigen Abschnitt aufgestellte These, rassistische Beleidigungen reflexartig mit den Gewaltverbrechen der Diktatur des Nationalsozialismus zu verbinden. Jedenfalls wird ein Bezug zumindest für eine schwere Pflichtverletzung als erforderlich angesehen, wenn das Gericht ausführt: „Bei den vorgeworfenen Äußerungen handelt es sich zwar unzweifelhaft um ausländerfeindliche bzw. rassistische Äußerungen, ein Vergleich zum Nationalsozialismus, was die Beleidigungen noch deutlich schwerwiegender machen würde, liegt indes nicht vor.“ 134

Dies bestätigt der Vergleich zu einer Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf, welcher ein durchaus ähnlicher Fall zugrunde liegt. Wiederum äußert 131 132 133 134

ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn. ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn. ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn. ArbG Stuttgart, Urt. v. 7.2.2019, 11 Ca 3994/18, Rn.

32. 32. 33. 32.

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sich ein älterer, schwerbehinderter Arbeitnehmer mit jahrzehntelanger Betriebszugehörigkeit – und entsprechend schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt – rassistisch.135 Wiederum ging der Situation keine Provokation, kein Streit oder sonstiger Konflikt voraus. Jedoch handelt es sich um eine Aussage mit eindeutig antisemitischem und rassistischem Gehalt. Auf die Frage eines Kollegen, was er sich zu Weihnachten gewünscht habe, antwortet dieser: „Ich habe mir eine Gaskammer gewünscht, diese aber nicht erhalten. Die Türken soll man ins Feuer werfen und ihnen den Kopf abschlagen.“ 136

Bereits zuvor fiel der Arbeitnehmer mit rassistischen Äußerungen auf. Er beschimpfte Menschen als „Ölaugen“, mit dem N-Wort und degradierte sie als seine „Untertanen“. Diese Vorfälle führten zu keinen dienstrechtlichen Konsequenzen, weil sie von den Betroffenen nicht gemeldet wurden. Nach Ansicht des Gerichts gipfelte das Verhalten des Arbeitnehmers: „in der nationalsozialistisch menschenverachtenden Äußerung [. . .]. Diese Bemerkung reduziert die türkischen Arbeitskollegen auf lebensunwerte Wesen und stellt einen unmittelbaren Bezug zu den nationalsozialistischen Gräueltaten dar.“ 137

Das Fehlverhalten wiege so schwer, dass eine vorherige Abmahnung und Weiterbeschäftigung des Mitarbeiters nach „objektivem Maßstab“ nicht zumutbar ist.138 Obgleich sich beinahe alle äußeren Umstände der Fälle des Arbeitsgerichts Stuttgart und des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf ähneln – bis auf die vorhergehenden Beleidigungen, die nicht angezeigt wurden –, beurteilen die Gerichte die Schwere der Pflichtverletzung sehr unterschiedlich. Der Umstand, der diesen Unterschied begründet, ist der nationalsozialistische Bezug der Äußerung, welcher einmal besteht und einmal nicht vorliegt. Die Gerichte scheinen rassische Diskriminierungen also vor allem dann zu erkennen, wenn ein expliziter Verweis auf den Nationalsozialismus besteht. Dies deutet auf eine höhere, obgleich ebenfalls nicht hinreichende Sensibilisierung für derartige Erscheinungsformen rassistischer Ungleichheit hin. Dieser Eindruck erhärtet sich durch einen weiteren Vergleich zweier Entscheidungen, die beide über die Abwertung polnischer Mitarbeiter urteilen. Dem ersten Fall liegt eine Kündigung aufgrund der Beleidigung zweier Kollegen als „Polacken“ zugrunde. Das Arbeitsgericht Nürnberg vertritt die Auffassung, der Kündigung müsse in diesem Fall eine Abmahnung vorausgehen.139 Obwohl derselbe Arbeitnehmer auch zuvor wegen der Beleidung eines afroamerikanischen Leiharbeitnehmers als „Baumwollzupfer“ aufgefallen war, würde es sich „eher 135 Das LAG Düsseldorf führt die exakt gleichen Gründe an wie das ArbG Stuttgart. Siehe LAG Düsseldorf, Urt. v. 10.12.2020, 5 Sa 231/20, Rn. 167. 136 LAG Düsseldorf, Urt. v. 10.12.2020, 5 Sa 231/20, Rn. 4, 15, 106. 137 LAG Düsseldorf, Urt. v. 10.12.2020, 5 Sa 231/20, Rn. 113. 138 LAG Düsseldorf, Urt. v. 10.12.2020, 5 Sa 231/20, Rn. 161, 165. 139 ArbG Nürnberg, Urt. v. 9.8.2016, 8 Ca 3303/15.

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um eine spontane Unmutsäußerung“ 140 wegen der Verspätung der beiden Männer am Arbeitsplatz als um eine vorsätzliche Beleidung oder Ausdruck einer rassistischen Überzeugung handeln. Das Berufungsgericht teilt diese Ansicht.141 Es zieht selbst die zweite Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin142 heran, das eine Kündigung aufgrund einer ähnlichen Diffamierung für zulässig erklärte. Auch in diesem Fall hatte ein Arbeitnehmer einen anderen mit dem in Rede stehenden Schimpfwort adressiert. An die Beleidigung schloss sich unter anderem der Ausspruch an: „wenn es Hitler noch geben würde, wärst du überhaupt nicht hier“. Das Berufungsgericht lehnt die Vergleichbarkeit der Situation ab, weil „der Inhalt der dort gemachten Äußerungen von einer unerträglich menschenverachtenden Qualität [war]“.143

Die Beleidung zeugt nach Ansicht des Gerichts „von einer verwurzelten Menschenverachtung“, die im ersten Fall aufgrund des fehlenden Bezugs zum Nationalsozialismus nicht erkennbar sei.144 Auch die Beleidigung als „kleiner Dreckstürke“ oder „scheiß Türke“, die ohne vorhergehende Provokation gegenüber einem türkischstämmigen Kollegen fiel, muss nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts Hamm „nicht zwingend eine fremdenfeindliche und/oder rassistische Grundhaltung haben“, weil „Beleidigungen dieser Art zwischen verschiedenen Nationalitäten oder Volksgruppen heute keine absolute Seltenheit sind“.145 Für das Gericht ist vertretbar, bei diesem Vorfall von einem „Augenblicksversagen“ zu sprechen. Die Zusammenstellung der Entscheidungsfragmente soll nicht nahelegen, dass in allen Fällen eine Kündigung die einzig richtige oder rechtmäßige Entscheidung gewesen wäre. Vielmehr illustrieren die unterschiedliche gerichtliche Bewertung sowie die Bagatellisierung der rassistischen Ungleichheitserfahrung, dass die jeweiligen Spruchkörper für das im Wege einer rassistischen Beleidigung verkörperte Unrecht nicht oder nur unzureichend sensibilisiert sind. Diesen Eindruck bestätigt das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, wenn es schwere rassistische Beleidigung – diesmal trotz nationalsozialistischen Bezugs – 140

ArbG Nürnberg, Urt. v. 9.8.2016, 8 Ca 3303/15, Rn. 15. Dieser Gedanke lässt sich anknüpfen an das von Y. Michal Bodemann als „Gedächtnistheater“ bezeichnete Konzept zur Beschreibung der Interaktion zwischen Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Minderheit. Y. Michal Bodemann, Gedächtnistheater, 2001. Max Czollek greift den Begriff in seiner populären Streitschrift auf und stellt die These auf, die jüdische Bevölkerung würden zum lebendigen Beweis erhoben, „dass die deutsche Gesellschaft ihre mörderische Vergangenheit erfolgreich verarbeitet hat“. Max Czollek, Desintegriert euch, 2018. 142 ArbG Berlin, Urt. v. 5.9.2006, 96 Ca 23147/05. 143 LAG Nürnberg, Urt. v. 7.11.2017, 7 Sa 400/16, Rn. 64. 144 LAG Nürnberg, Urt. v. 7.11.2017, 7 Sa 400/16, Rn. 65. 145 LAG Hamm (Westfalen), Urt. v. 3.5.2017, 15 Sa 1358/16, Rn. 60. Vorgehend ArbG Bochum, Urt. v. 29.9.2016, 2 Ca 816/16. 141

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als „impulsive[s] Verhalten“ beurteilt.146 Im zugrundeliegenden Sachverhalt hatte ein schwerbehinderter Arbeitnehmer eine Mitarbeiterin polnischer Herkunft unter anderem wie folgt adressiert: „,Wenn der Adolf (Hitler) noch leben würde, gäbe es dich nicht mehr‘; ,Wäre unser Freund (gemeint war Adolf Hitler) noch da, wärt ihr nicht da.‘; ,Dumme Polin.‘; (. . .) ,Wenn ich die auf dem Parkplatz erwische . . .‘; ,Denen gehören die Zähne eingeboxt.‘ (Der Kläger fletschte daraufhin die Zähne.)“

In den Entscheidungsgründen ging das Gericht auf die rassistische Dimension der Äußerungen nicht ein. Es stellt vielmehr einen Bezug zum herabgesetzten Verschuldensgrad des Arbeitnehmers her, der an einer Persönlichkeitsstörung wegen eines Schädel-Hirn-Traumas leidet. Dies führe zu einer „herabgesetzte[n] Kritikfähigkeit“.147 Die gerichtliche Argumentation weist Ähnlichkeit zur oben dargestellten Prüfung des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB im Falle psychisch beeinträchtigter Tatpersonen auf. Wiederum ist die Erkrankung des Mitarbeiters selbstredend ein relevantes Faktum innerhalb der gerichtlichen Bewertung. Für den konkreten Fall stellt das Landesarbeitsgericht fest, dass der Mitarbeiter zwar gemindert, aber dennoch schuldhaft handelte und die in Rede stehenden Äußerungen hätte kontrollieren können. Umso weniger sollte eine psychisch verminderte Hemmschwelle überdecken können, dass es sich bei den Äußerungen um rassistische Beleidigungen handelt. Die unklare Formulierung des Gerichts, die Beleidigungen seien „maßgeblich mit durch eine krankheitsbedingte Herabsetzung der Hemmmechanismen bedingt“ 148, lässt nicht genau erkennen, wie groß nach Ansicht des Gerichts der tatsächliche Zusammenhang zwischen der Persönlichkeitsstörung und der rassistischen Äußerung ist. Ein weiterer Fall der verkürzten gerichtlichen Bewertung von Rassismus im Arbeitsverhältnis betrifft Schmierereien in der Toilette eines Betriebes in Essen. In diesem Fall geht es nicht um eine inhaltliche Verkürzung, sondern um eine nur eingeschränkte Wahrnehmung des beleidigenden Gehalts einer rassistischen Äußerung. Unbekannte Personen hatten in mindestens zwei von fünf Kabinen ein Hakenkreuz und die Parolen: „Scheiß Ausländer. Ihr Hurensöhne. Ausländer raus. Ihr Kanaken. Ausländer sind Inländer geworden“ 149

an die Wände der Räumlichkeiten geschrieben. Zu beurteilen hatte das erstinstanzliche Arbeitsgericht Essen in diesem Fall nicht, ob der Sachverhalt eine 146 LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 18.6.2021, 1 Sa 75/21, Rn. 99. Vorgehend ArbG Ludwigshafen am Rhein – Auswärtige Kammer Landau, Urt. v. 14.1.2021, 5 Ca 204/ 19. 147 LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 18.6.2021, 1 Sa 75/21, Rn. 99. 148 Herv. d. Autorin, LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 18.6.2021, 1 Sa 75/21, Rn. 99. 149 Laut Tatbestandsbeschreibung des ArbG Essen, Urt. v. 24.1.2008, 3 Ca 1997/07, Rn. 5 ff. Nachfolgend: LAG Düsseldorf, Urt. v. 18.6.2008, 7 Sa 383/09; BAG, Urt. v. 24.9.2009, 8 AZR 705/08.

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Kündigung der Urheber der Schmierereien rechtfertigt, sondern ob der Entschädigungsanspruch zweier ausländischer Mitarbeiter gem. § 15 Abs. 2 AGG wegen einer Belästigung,150 die mit einem in § 1 AGG genannten Grund in Zusammenhang steht, gerechtfertigt ist. Die Belästigung müsste gem. § 3 Abs. 3 AGG ein Betriebsumfeld begründen, das von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnet ist. Dies wurde bereits erstinstanzlich abgelehnt: „Bei Toiletten-Beschriftungen [. . .] handelt es sich in aller Regel um ,Dummheiten‘ und ,Boshaftigkeiten‘, nicht aber um diskriminierendes, mit rechtlichen Sanktionen zu belegendes Verhalten.“ 151

Das Berufungsgericht stützt das gleiche Ergebnis darauf, dass den Belästigungen i. S. d. § 3 Abs. 3 AGG keine „prägende Bedeutung“ zukomme. Die Würdeverletzungen müssten „kumulativ vorliegen“.152 Obwohl die Schmierereien fortwirken, sei ein solches Gewicht nur dann anzunehmen, wenn weitere Umstände nahelegen, dass die Würde der Arbeitnehmer „systematisch verletzt“ wird.153 Weshalb eine Würdeverletzung nur dann relevant ist, wenn diese systematisch erfolgt, leitet das Gericht nicht her. Außerdem spreche gegen ein ausländerfeindliches Umfeld im Betrieb, dass Unruhen und nachhaltige Beschwerden von Seiten der ausländischen Mitarbeiter ausgeblieben sind.154 In diesem Zusammenhang relevant sind die geschilderten Reaktionen auf die durchaus vorgebrachten Beschwerden. Der Betriebsleiter hatte zunächst erwidert „So denken die Leute eben.“ Und anschließend, dass er „auch nicht [wisse], wer das mache“.155 Das Gericht hält dem Betrieb außerdem zugute, dass sich das im Jahr 2006 in Kraft getretene AGG noch „in der Anfangsphase“ befunden hat.156 Auch die Revisionsinstanz beurteilte den Sachverhalt als Vorfall „unterhalb der ,Lästigkeitsschwelle‘“, der sich darüber hinaus „in einem einzelnen Zwischenfall erschöpft“.157 Anders zu liegen scheinen die Dinge, wenn es um antisemitische Hassrede geht. Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg hatte in einem ähn150 Die Belästigung ist ein Unterfall der Benachteiligung. Anders als bei einer Benachteiligung kommt es bei einer Belästigung nicht auf eine ungleiche Behandlung an, vielmehr stellt die unerwünschte Verhaltensweise selbst die Belästigung dar. Hinzu kommen müssen gem. § 3 Abs. 3 AGG eine Würdeverletzung und ein „feindliches Umfeld“. Ausführlich Sebastian Roloff, in: Rolfs u. a. (Hg.), BeckOK Arbeitsrecht, 60. Ed. 2021, § 3 Rn. 29. 151 ArbG Essen, Urt. v. 24.1.2008, 3 Ca 1997/07, Rn. 43. 152 BAG, Urt. v. 24.9.2009, 8 AZR 705/08. 153 LAG Düsseldorf, Urt. v. 18.6.2008, 7 Sa 383/08. 154 ArbG Essen, Urt. v. 24.1.2008, 3 Ca 1997/07, Rn. 45. 155 ArbG Essen, Urt. v. 24.1.2008, 3 Ca 1997/07, Rn. 12 f. Erst als die Betroffenen ihre Beschwerden in einem vorprozessualen Schreiben anwaltlich vertreten wiederholten, wurden die Toiletten neu gestrichen und die Beschriftungen damit beseitigt. 156 ArbG Essen, Urt. v. 24.1.2008, 3 Ca 1997/07, Rn. 52. 157 BAG, Urt. v. 24.9.2009, 8 AZR 705/08, Rn. 30.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

lich gelagerten Fall im Jahr 2009 entschieden, dass die außerordentliche Kündigung eines Mitarbeiters, der die Toilettenwände unter anderem mit der antisemitischen und menschenverachtenden Äußerung „Die Juden haben wir nur vergast!“ beschmierte, rechtmäßig war.158 Die Aussage erfülle den Straftatbestand der Volksverhetzung und sei geeignet, den Betriebsfrieden massiv zu stören. Eine vorherige Abmahnung hielt das Landesarbeitsgericht bei derart „schwerwiegenden rassistischen Äußerungen“ für nicht erforderlich.159 Die Entscheidungen verdeutlichen, wie unterschiedlich die gerichtliche Sensibilisierung für Rassismus und das Kränkungspotenzial rassistischer Äußerungen ausfallen kann. Ein entsprechendes Bewusstsein ist insgesamt noch zu gering, wie auch eine letzte Entscheidung des Landesarbeitsgericht Hessen illustriert. Diese betrifft eine auf „Mobbing“ gestützte Klage auf Zahlung einer Entschädigung in Geld.160 Das Landesarbeitsgericht Hessen weist die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt zurück.161 Der aus Indien stammende Kläger trägt vor, er sei im Zeitraum von Juni 2009 bis April 2012 fast täglich Opfer rassistischer Äußerungen seiner Kolleg*innen gewesen. Im Zusammensein hätten sich jene abschätzig über die indische Bevölkerung geäußert und einen indischen Akzent imitiert. Der Kläger wiederholt die Beleidigungen wie folgt: „Die Inder sind dumm und faul“, „Wie kann man so dumm sein“, „die Idioten verstehen gar nichts und wissen nicht, was sie tun. Die Inder sind bescheuert.“ 162

Die spöttische Nachahmung gibt er mit diesem Beispiel wieder: „Nobody told me so, I never know that, please advise, never did that before.“ 163

Inwiefern die strittigen Äußerungen tatsächlich in dieser Form stattgefunden haben, kann nach Ansicht des Gerichts offenbleiben. Der Vorwurf des Mobbings halte jedenfalls nicht stand, da es an schuldhaft begangenen arbeitsrechtlichen Pflichtverstößen fehle. Zur Begründung verweist das Gericht unter anderem darauf, dass im Arbeitsbereich des Klägers mehrere Umstrukturierungsmaßnahmen stattgefunden haben, die auch eine Auslagerung bestimmter Aufgaben nach Indien beinhalteten. Die Zusammenarbeit mit dem indischen Dienstleistungsunternehmen verlief dabei nicht reibungslos. Verschiedene Störungen führten „bei allen zur Erhöhung von Arbeitsbelastung, Druck und Anspannung bei der Erledigung der täglich anfallenden Arbeiten“.164

158 159 160 161 162 163 164

LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 25.3.2009, 2 Sa 94/08. LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 25.3.2009, 2 Sa 94/08, Rn. 37. LAG Hessen, Urt. v. 18.6.2014, 12 Sa 855/13. ArbG Frankfurt, Urt. v. 24.5.2013, 9 Ca 8973/12. LAG Hessen, Urt. v. 18.6.2014, 12 Sa 855/13, Rn. 14. LAG Hessen, Urt. v. 18.6.2014, 12 Sa 855/13, Rn. 24. LAG Hessen, Urt. v. 18.6.2014, 12 Sa 855/13, Rn. 36.

B. Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung

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Diesen Umstand als Kontext der Bemerkungen berücksichtigend „wird deutlich, dass die herabwürdigenden Äußerungen über Inder nicht dem Kläger galten, sondern dazu dienten, sich angesichts der andauernden dysfunktionalen Zusammenarbeit mit den Kollegen in Indien über die zusätzliche Belastung und Anspannung Luft zu verschaffen und abzureagieren. [. . .] Selbst wenn er [der Kläger] als einzig anwesender Inder von den Kollegen als ,Blitzableiter‘ missbraucht worden sein sollte, war doch immer klar, dass er zu keiner Zeit der Adressat der pauschalen Abwertung war.“ 165

Wiederum erscheint Rassismus unterhalb der Schwelle einer körperlichen Eskalation als Bagatelle. Die Vorstellung, es könne zwischen einer „pauschalen“ und „konkreten“ Betroffenheit von Rassismus unterschieden werden, leitet fehl. Eine rassistische Beleidigung entspricht gerade nicht einer rein individuellen Kränkung. Sie aktiviert eine strukturelle Ordnung und wirkt sich insofern auf die gesamte adressierte Personengruppe aus. Die gerichtliche Folgerung, eine diskriminierte Person müsse die abschätzigen Äußerungen als zulässigen Weg der Emotionsregulierung hinnehmen, unterschätzt das Ausmaß dieser sozialen Ausgrenzung. Die Argumentation stellt sich schützend vor jene Personengruppe, die ohnehin in der machtvolleren Diskursposition ist. c) Zwischenergebnis Auch die arbeitsrechtliche Rechtsprechung operiert mit einem nur unzureichend differenzierten Verständnis von Rassismus. Zwar sind die Gerichte grundsätzlich in der Lage, die rassistische Dimension eines Vorfalls zu erkennen, in den besprochenen Entscheidungen schätzen sie die Auswirkungen einer rassistischen Behandlung am Arbeitsplatz allerdings als zu gering ein. Den Arbeitsgerichten unterlaufen daher verschiedene Abwägungsfehler; insgesamt agiert die Arbeitsgerichtsbarkeit zu zurückhaltend.166 Im Sinne eines wirksameren Schutzes vor Rassismus in dem besonders diskriminierungsgefährdeten Bereich der Arbeitswelt müssen die schädigenden Effekte, die von einer rassischen Beleidigung ausgehen, genauer ausgewertet und sorgfältiger abgewogen werden. Gleichzeitig bildet nicht der gesamte Diskursstrang die genannten Mechanismen der Subalternisierung ab. Für einen insgesamt deutlich größeren Teil der hier untersuchten Entscheidungen lässt sich – anders als dies für § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB gilt – festhalten, dass die Gerichte die in Rede stehenden Äußerungen sorgfältig prüfen und rassistische Aussagegehalte meist als solche erkennen. Der Unterschied zur strafgerichtlichen Prüfung erklärt sich womöglich daraus, dass in den arbeitsrechtlichen Entscheidungen die rassistische Diskriminierung Teil des Tatbestands und insofern anspruchsbegründend ist. In den dargestellten 165

LAG Hessen, Urt. v. 18.6.2014, 12 Sa 855/13, Rn. 36. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommen: Bernhard Franke/Rosa Krˇecˇek, Rassistische Diskriminierung im Arbeitsrecht, in: NZA 2022, S. 297–301. 166

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

strafrechtlichen Verfahren ist dies typischerweise nicht der Fall, da § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB lediglich strafschärfend wirkt.167 In jüngeren Entscheidungen, vor allem solchen, die nach dem bereits erwähnten Ugah-Ugah-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts168 ergangen sind,169 steigt die Empfindsamkeit für die exkludierende Wirkung von Rassismus zudem an. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung trägt insofern dazu bei, rechtliche Expertise in die ordentliche Gerichtsbarkeit zu überführen und diese für bestimmte Themenbereiche zu sensibilisieren.170 Stellvertretend für diese Entwicklung verweise ich auf einen rassismuskritisch auffällig versierten Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin. Das Gericht hatte über die außerordentliche Kündigung einer Angestellten zu entscheiden, die ihre asiatisch gelesene Vorgesetzte als „Ming-Vase“ beleidigte. Die Angestellte verband die Bezeichnung mit einer herabwürdigenden Geste, die eine asiatische Augenform nachahmen sollte. Das Gericht erklärte die Kündigung für rechtmäßig und verwies hierzu auf die gravierende Wirkung von Alltagsrassismus, welche das Gericht über mehrere Randnummern beschreibt.171 Das Verhalten der Mitarbeiterin sei „Ausdruck eines Alltagsrassismus, der im ,Kleinen‘, also im täglichen Alltag auftritt und gerade deswegen umso nachhaltiger wirkt. Diese Formen werden – wie auch vorliegender Fall zeigt – von den Betroffenen und auch ,Unbeteiligten‘ verinnerlicht. Rassistisches Denken und Handeln fällt den [Beteiligten] selbst nicht auf. Sie glauben oft fest daran, tatsächlich nicht rassistisch zu sein. Alltagsrassismus zeigt sich aber gerade in kleinen Gesten und Äußerungen. Rassistische und fremdenfeindliche Vorurteile werden sprachlich oder in Gesten reproduziert. Selbst vermeintlich positive Zuschreibungen an eine Gruppe von Menschen anderer ethnischer Herkunft wie besondere Bewegungsfähigkeiten oder besondere sportliche Fähigkeiten können Ausdruck von Rassismus sein. Der latent in der Gesellschaft existierende Alltagsrassismus ist indes letztlich Ausgangspunkt für offenen und gewollten Rassismus, der sich derzeit immer mehr in der Gesellschaft ausbreitet.“ 172

Die Argumentation überzeugt, weil sie einen Zusammenhang der rassistischen Äußerung zum komplexen System rassistischer Ungleichheit herstellt. Das Gericht bewertet die Beleidigung gerade nicht abstrakt, sondern fügt diese in den übergeordneten, strukturellen Bedeutungszusammenhang von Rassismus ein. Es 167 Diese Vermutung erhärtet sich, wenn später die Rechtsprechung zu § 130 StGB ausgewertet wird. Im Falle der Volksverhetzung ist die rassistische Äußerung gleichsam konstitutiv für die Tatbestandsmäßigkeit und daher selbstverständlicher Teil der Prüfung. 168 BVerfGK, Nichtannahmebeschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 18 – Ugah, Ugah. Vorinstanzen: LAG Köln, Urt. v. 6.6.2019, 4 Sa 18/19; ArbG Köln, Urt. v. 9.11. 2018, 18 Ca 7824/17. 169 Etwa LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 1.2.2021, 3 Sa 249/20, welches den Beschluss ausdrücklich zitiert. 170 Ausführlich Kapitel 2, C. II. 2., S. 119 ff. 171 ArbG Berlin, Beschl. v. 5.5.2021, 55 BV 2053/21. 172 ArbG Berlin, Beschl. v. 5.5.2021, 55 BV 2053/21, Rn. 40 f.

B. Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung

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gelingt eine einzelfallbezogene Prüfung, welche die internationale Rassismusforschung zur Kenntnis nimmt und über den durchschnittlichen Kenntnisstand der rechtswissenschaftlichen Kommentarliteratur zu rassistischer Benachteiligung deutlich hinausgeht.173 Das Gericht schafft ein Gegengewicht zur subalternen Diskursposition der von Rassismus betroffenen Vorgesetzten. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang der – im Vergleich zu den anderen ausgewerteten Fällen – auffällige Umstand, dass die rassistische Beleidigung vorliegend gegenüber der eigenen Vorgesetzten, also einer hierarchisch übergeordneten Person, geäußert wurde. In allen anderen Entscheidungen spielte sich der Angriff entweder auf kollegialer Ebene ab oder es wurden externe Mitarbeitende angegangen. Ob sich dieser Umstand auf die gerichtliche Entscheidung ausgewirkt hat, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen, da der Text des Beschlusses hierzu keine näheren Informationen enthält. Jedenfalls ist in Hinblick auf die subalterne Diskursposition der Vorgesetzten anzunehmen, dass diese innerhalb des Betriebs durchaus über ein gewisses Maß an diskursiver Macht verfügt. Möglich ist daher, dass sich rechtssoziologische Hürden im Zugang zum Gericht nur in einem geringeren Maße ausgewirkt haben. 3. Rassismus im Zugang zu Waren und Dienstleistungen Auch jenseits des Arbeitsverhältnisses kommt es im Zivilrechtsverkehr regelmäßig und in unterschiedlichen Lebensbereichen zu rassischen Diskriminierungserfahrungen. Empirische Studien belegen, dass Menschen besonders häufig auf dem Wohnungsmarkt, beim Zutritt zu Gaststätten und Diskotheken, im öffentlichen Nahverkehr oder beim Einkaufen diskriminierend behandelt werden.174 In den häufig anonymen, anlasslosen Diskriminierungsfällen verspüren Betroffene die exkludierende Wirkung alltagsrassistischer Normalitätszuschreibungen besonders deutlich. Die Ausgrenzung im öffentlichen Raum vermittelt eine ablehnende, ausgrenzende Botschaft und beeinträchtigt die persönlichen Teilhabechancen. Gleichzeitig können sich Betroffene in einer entsprechenden Situation besonders schutzlos fühlen. Während im Falle einer rassistischen Behandlung am Arbeitsplatz der Betriebsrat oder die Vorgesetzten grundsätzlich als Ansprechpersonen naheliegen, ist die Hemmschwelle, Hilfe von Beratungsstellen des Landes oder des Bundes anzunehmen sowie sich anwaltlich beraten zu lassen, wesentlich höher.175 Kommt es trotz dieser Hürde zu einem Rechtsschutzverfahren, sind die 173 Zum Rassismusverständnis im rechtswissenschaftlichen Schrifttum: Kapitel 2, C. III. 1., S. 125 ff. 174 Steffen Beigang u. a., Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung des Diskriminierungsschutzes, hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Februar 2021, S. 21 ff. Zur Erfahrung schwarzer Menschen Muna AnNisa Aikins u. a., Afrozensus 2020, 2021, S. 92, abrufbar unter: https://afrozensus.de/reports/2020/#start. 175 Abschreckend wirken, wie in Kapitel 2 B. beschrieben, geringe Kenntnisse über das Antidiskriminierungsrecht, hohe Beweislasthürden, lange Verfahrenszeiten sowie

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

Betroffenen der praktischen Schwierigkeit ausgesetzt, die rassistische Behandlung zu beweisen. Der verwehrte Zugang zu Waren und Dienstleistungen wird nur im Ausnahmefall explizit rassistisch begründet. Typischerweise wird der Grund der Behandlung hinter einer neutralen, nichtdiskriminierenden Begründung verschleiert. Das Gericht muss daher aus äußeren Anknüpfungstatsachen Rückschlüsse auf den Gedankengang ziehen, um ein rassistisches Handlungsmotiv als sog. „innere Tatsache“ nachzuweisen. Aus diesem Grund normiert § 22 AGG eine Beweislasterleichterung. Diskriminierte Personen müssen zunächst nur Indizien vorlegen, die eine Benachteiligung nahelegen. Im Anschluss ist die Gegenseite aufgefordert, einen Entlastungsbeweis vorzutragen. Trotz dieser Beweislastumkehr wirkt sich eine mangelnde Aufklärbarkeit zu Lasten des Diskriminierungsopfers aus. Die Sachverhaltsermittlung ist dadurch erschwert, dass hoheitliche Befugnisse, anders als etwa im Strafprozess, nur eingeschränkt zur Verfügung stehen.176 Im nachfolgenden Abschnitt konzentriere ich mich auf solche Verfahren, denen eine potenziell rassistische Zugangsverweigerung zu Nachtclubs oder Diskotheken zugrunde liegt. Nachdem ich die Rechtsgrundlagen der Beurteilung skizziert habe, möchte ich analysieren, wie die Gerichte mit dem Problem der Beweisbarkeit umgehen, sowie ihre rassismuskritische Prüfungskompetenz auswerten. a) Diskotheken-Fälle Von Rassismus betroffene Menschen berichten immer wieder, dass ihnen der Zugang zu Clubs und Diskotheken aus rassistischen Gründen verwehrt wird. Entsprechend häufig sind solche Erfahrungen Gegenstand der Beratungsanfragen bei Antidiskriminierungsstellen.177 Von einer Einlassverweigerung betroffen sind zumeist junge, nichtweiße Männer.178 In dem verwehrten Zutritt verbindet sich die

die begrenzten Kapazitäten der Beratungsstellen. Entsprechend der Vierte Gemeinsame Gleichstellungsbericht, abrufbar unter: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ was-wir-machen/bericht-an-den-bundestag/vierter-bericht/vierter-bericht-an-den-bundes tag-node.html. 176 Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung des Diskriminierungsschutzes bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, Februar 2021, S. 52 f. 177 Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat für Diskriminierungen dieser Art einen eigenen Flyer entworfen, mit dem sie auf Handlungs- und Rechtsschutzmöglichkeiten hinweist: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.), Du darfst rein – gegen Rassismus an der Clubtür, 2014, abrufbar unter: https://www.antidiskriminierungs stelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Flyer/diskotheken_20150522.pdf?__ blob=publicationFile&v=3. 178 Die Frankfurter Integrationsstudie bestätigt: Während nur 2,6 % Frauen aus der zweiten Generation einer Familie mit Migrationsgeschichte Diskriminierungen in Gaststätten und Diskotheken erfahren, trifft dies auf 22,7 % der Männer zu. Judith Haisch, Frankfurter Integrationsstudie 2008, 2008, S. 208.

B. Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung

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Konstruktion rassifizierter Andersheit mit vergeschlechtlichten Zuschreibungen wie beispielsweise einer erhöhten Aggressivität, einem gesteigerten Sexualtrieb oder der Neigung zu kriminellem Verhalten. Typischerweise treten antimuslimische Religionszuschreibungen hinzu.179 Es handelt sich bei der Zutrittsverweigerung daher typischerweise um eine intersektionale Diskriminierung im Sinne des § 4 AGG, die gegen das Benachteiligungsverbot der §§ 7 Abs. 1, 1 AGG verstößt. Die rechtswissenschaftliche Debatte um diese Form der Diskriminierung ist nicht neu.180 Doch erst seit der Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahr 2006 besteht eine wirksame Rechtsgrundlage, eine derartige Diskriminierungserfahrung justiziabel zu machen. Heute unterfällt die Einlassverweigerung als sog. „Massengeschäft“ dem Anwendungsbereich des § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG, da der Zutritt zu einer Diskothek im Regelfall ohne Ansehen der Person, zu vergleichbaren Bedingungen und in einer Vielzahl von Fällen zustande kommt.181 Betroffene begehren vor Gericht typischerweise einen Unterlassungsanspruch gem. § 21 Abs. 1 Satz 2 AGG oder streben eine Entschädigung des immateriellen Schadens i. S. d. § 21 Abs. 2 Satz 3 AGG an. Das Schmerzensgeld soll einerseits Genugtuung für die erlittene Persönlichkeitsverletzung verschaffen und hebt zu Präventions- und Abschreckungszwecken andererseits auf die Sanktion des Benachteiligenden ab.182 Hinsichtlich der Entschädigungshöhe soll es sich aus diesem Grund nicht nur um symbolische Beträge handeln, sondern um einen solchen, der eine abschreckende Wirkung auch tatsächlich entfalten kann.183 Innerhalb der Beurteilung von „Diskotheken-Fällen“ sind Gerichte häufig dem bereits angesprochenen Problem der Beweisbarkeit einer rassistischen Handlungsmotivation ausgesetzt. Dies gilt etwa für das Amtsgericht München, welches klären musste, aus welchen Gründen dem Kläger, einem schwarzen Mann, 179 Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (Hg.), Antidiskriminierungsreport Berlin 2016/2017, 2008, S. 15. 180 Für die frühe Debatte etwa: Rolf Kühner, Das Recht auf Zugang zu Gaststätten und das Verbot der Rassendiskriminierung, in: NJW 1986, S. 1397–1402; Michael Timme, Rechtliche Behandlung von Zutrittsverweigerungen gegenüber Ausländern im Gaststättengewerbe, ZAR (3) 1996, S. 130–136; Remmert A. Stock, Zugang zu Gaststätten und Rassendiskriminierung, in: ZAR (3) 1999, S. 118–127. 181 Einhellig Holger Wendtland, in: BeckOK BGB, Stand: 1.8.2021, § 19 AGG Rn. 3; Gregor Thüsing, in: MüKo BGB, 9. Aufl. 2021, § 19 AGG Rn. 15 ff.; Bernhard Franke/ Gisbert Schlichtmann, in: Däubler/Bertzbach (Hg.), AGG, 4. Aufl. 2018, § 19 Rn. 25 ff. 182 M.w. N. Sebastian Overkamp, in: Herberger u. a. (Hg.), jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 21 AGG Rn. 19; Holger Wendtland, in: BeckOK BGB, Stand 1.8.2021, § 21 AGG Rn. 28; Klaus Adomeit/Jochen Mohr, AGG, 2. Aufl. 2011, § 21 AGG Rn. 14; Silke Bittner, in: Rust/Falke (Hg.), AGG, 2007, § 21 AGG Rn. 22. Mit abweichender Gewichtung Jobst-Hubertus Bauer/Steffen Krieger/Jens Günther, AGG, § 21 AGG Rn. 13. 183 Holger Wendtland, in: BeckOK BGB, Stand: 1.8.2021, § 21 AGG Rn. 28, mit Verweis auf OLG Stuttgart, Urt. v. 12.12.2011, 10 U 106/11.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

der Zutritt zu einer Diskothek verwehrt wurde.184 Die Türsteher lehnten seinen Besuch ab und verwiesen (wahrheitswidrig) darauf, dass der Club heute „nur für Studenten“ geöffnet sei.185 Während sie andere „türkischstämmige“ Männer ebenfalls mit der gleichen Begründung ablehnten, wurde kurz darauf den beiden weißen Begleitern der Zutritt zur Diskothek gewährt – wohl ohne deren studentischen Status zu überprüfen. In der gerichtlichen Befragung gaben die Türsteher an, dass sie keineswegs aus rassistischen Motiven handelten, sondern lediglich „aufgrund ihres durch langjährige Berufserfahrung gespeisten Bauchgefühls bei dem Kläger keine ,Feierstimmung‘ ausmachen“ 186 konnten. Einen spezifischen Grund für diese Einschätzung gaben sie nicht an. Die Türsteher äußerten sich ebenfalls nicht dazu, weshalb sie (wohl) intuitiv davon ausgingen, es könne sich bei den schwarzen und türkischstämmigen Männern nicht um Studenten handeln, bei ihren weißen Freunden hingegen schon. Nach Ansicht des Gerichts kann dies „angesichts der Chronologie und der Genese des Verfahrens aber auch [. . .] nicht erwartet werden. Es ist weder vorgeschrieben noch übliche Vorgehensweise, daß negative Entscheidungen von Seiten der Türsteher dokumentiert werden“.187

Die negative Entscheidung über den Zutritt des Klägers zur Diskothek kann daher „auf einer Fülle von Erwägungen beruht haben, so das Aussehen des Klägers, sein Auftreten, seine Stimmung, schlichte Antipathie seitens des Türstehers, die nicht in der Hautfarbe des Klägers begründet war“.188

Im Ergebnis gibt das Gericht an, dass es nicht in der Lage ist, den wahren Grund der Zutrittsverweigerung festzustellen, und „schlicht nicht [weiß], warum der Kläger abgewiesen worden ist“.189 Die mangelnde Aufklärbarkeit wirkt sich zu Lasten des Klägers aus, dessen Schadensersatzklage abgewiesen wird. Aus meiner Sicht ermutigt eine solche Argumentation, rassistische Einlasspraktiken hinter Alibibegründungen zu verschleiern, und wird dem Schutzzweck des § 22 AGG nicht gerecht. Das Gericht selbst erkennt diese Gefahr, die Beweislastregelung zum „zahnlosen Tiger“ verkommen zu lassen, hält jedoch daran fest, dass die Indizien für den vorliegenden Fall nicht ausreichen, um eine rassistische Benachteiligung anzunehmen. Das Urteil verweist darauf, dass „es im Münchener Nachtleben das Phänomen der Diskriminierung von Personen, die nicht der Mehrheitsgesellschaft in Sachen Hautfarbe entsprechen, bedauerlicherweise gibt. Diesen Umstand kann das Gericht aber nicht zum Nachteil der Beklagten verwerten“.190 184 185 186 187 188 189 190

AG München, Urt. v. 23.7.2014, 171 C 27853/13. AG München, Urt. v. 23.7.2014, 171 C 27853/13, Rn. 7. AG München, Urt. v. 23.7.2014, 171 C 27853/13, Rn. 15. AG München, Urt. v. 23.7.2014, 171 C 27853/13, Rn. 32. AG München, Urt. v. 23.7.2014, 171 C 27853/13, Rn. 34. AG München, Urt. v. 23.7.2014, 171 C 27853/13, Rn. 37. AG München, Urt. v. 23.7.2014, 171 C 27853/13, Rn. 34.

B. Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung

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Die Beklagte sei schließlich nicht für das gesamte Münchener Nachtclubgewerbe verantwortlich. Obgleich dies im Ergebnis zutreffen mag, stellt die Häufigkeit und damit strukturelle Dimension der rassistischen Behandlungen ein weiteres Indiz dar, das in die Bewertung der Diskriminierungslage einfließen sollte. b) Gerichtliche Prüfung Trotz der genannten Beweisschwierigkeiten bejahen die untersuchten Entscheidungen in der insgesamt größeren Anzahl der Fälle eine Diskriminierung i. S. d. §§ 7 Abs. 1, 1 AGG. Die rassistische Dimension der Behandlung wird damit, anders als in den vorangegangenen Fällen aus dem Straf- und Arbeitsrecht, erkannt und als solche benannt. Nichtsdestotrotz offenbaren die gerichtlichen Argumentationsmuster deutliche Schwachstellen, rassistische Ungleichheitserfahrungen zu differenzieren und ihre Intensität zu bewerten. Die mangelnde gerichtliche Kompetenz wirkt sich zunächst auf die tatbestandliche Erfassung von Rassismus aus. Dieser wird weit überwiegend als Diskriminierung aufgrund der „ethnischen Herkunft“ geprüft. Nur selten wird eine Diskriminierung aus Gründen der (vermeintlichen191) „Rasse“ in Betracht gezogen. Fachkundig zwischen beiden Alternativen abgegrenzt wird in keinem der ausgewerteten Verfahren. Fälschlicherweise scheint die Kategorie der Ethnie als historisch weniger belastet zu gelten, als dies für den Rassebegriff der Fall ist. Diese Tendenz entspricht dem weiter oben nachgezeichneten Unbehagen, durch die Verwendung des Rechtsbegriffs Rasse die tatsächliche Existenz unterschiedlicher Menschenrassen nahezulegen.192 Sie steht stellvertretend für eine weit verbreitete Abgrenzungsschwierigkeit innerhalb des deutschen Rassismusdiskurses.193 Sowohl „Rassen“ als auch „Ethnien“ sind soziale Konstruktionen, die einen Anknüpfungspunkt für rassistische Zuschreibungen bilden können. Aus diesem Grund steht die Schutzrichtung der beiden Diskriminierungskategorien in einem engen Zusammenhang. Keinesfalls gehen die beiden Begriffe allerdings ineinander auf. Ihnen liegen unterschiedliche Annahmen zugrunde, die in der rechtlichen Subsumtion sowohl aus systematischen als auch rassismuskritischen Erwägungen nicht verkannt werden dürfen. Die Kategorie der „ethnischen Herkunft“ erfasst die Zurechnung eines 191 Für seinen arbeitsrechtlichen Anwendungsbereich normiert das AGG explizit, dass eine Benachteiligung auch dann vorliegt, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes nur annimmt, § 7 Abs. 1 Halbs. 2 AGG. Für das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot in § 19 AGG ist dies nicht ausdrücklich geregelt, soll aber entsprechend gelten, vgl. Ulrike Wendeling-Schröder/Axel Stein, AGG Komm., 1. Aufl. 2008, § 7 Rn. 13; Vorbem. zu §§ 19–21 Rn. 9. 192 Siehe Kapitel 1, C. I. 2., ab S. 76. 193 In der Gesetzesbegründung wird die Kategorie „ethnische Herkunft“ unter anderem definiert als: „Benachteiligung auf Grund der Rasse“ sowie „der Hautfarbe, der Abstammung, des nationalen Ursprungs oder des Volkstums“. Der Gesetzgeber erläutert folglich ein Merkmal des AGG mit einem anderen, ohne deren Unterschied kenntlich zu machen. BT-Drs. 16/1780 v. 8.6.2006, S. 31.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

Menschen zu einer Gemeinschaft, die sich wahlweise räumlich, zeitlich, kulturell oder mit Bezug auf gemeinsame Traditionen konstruiert.194 Ethnien stützen sich also auf vermeintlich gemeinsame Erfahrungen oder eine gemeinsame Sprache, Religion oder Herkunft. Die Beleidigung eines Menschen mit dem N-Wort knüpft beispielsweise durchaus an das Rassekonzept, nicht aber an die Konstruktion einer bestimmten ethnischen Herkunft an. Werden biologisch-rassistische Ideologien von der Rechtsprechung pauschal mit dem Begriff der Ethnie erfasst, können sich die vermeintlichen Gruppenzugehörigkeiten in der gesellschaftlichen Imagination weiter verfestigen.195 Auch aus dogmatischen Gründen ist eine genaue Differenzierung sinnvoll, da sich die Anforderungen vor allem auf der Rechtfertigungsebene unterscheiden und für die Kategorie „Rasse“ strenger ausfallen.196 Wenn Gerichte auf den Begriff der ethnischen Herkunft ausweichen, um den Rassebegriff zu vermeiden, kann dies im Einzelfall ein Absenken der Schutzwirkung zur Folge haben. Teilweise lassen Gerichte das genaue Tatbestandsmerkmal, unter das subsumiert wird, komplett offen oder ziehen einen Benachteiligungsgrund heran, der im AGG nicht aufgeführt ist, wie etwa „Ausländer“, „Hautfarbe“ 197 oder „erkennbare Herkunft“.198 Inwiefern sich diese Aspekte unter die Kategorien des § 1 AGG subsumieren lassen, wird nicht erläutert. Neben den terminologischen Unsicherheiten auf Tatbestandsseite zeugt vor allem die Prüfung der Rechtsfolgenseite von einer nur geringen Sensibilisierung für das Exklusionspotenzial alltäglicher rassistischer Diffamierungen.199 § 21 Abs. 2 Satz 2 AGG sieht als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Benachteiligungsverbot eine „angemessene Entschädigung in Geld“ vor. Zur Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs muss die Intensität der vorliegenden Verletzung bestimmt und von dem verhandelnden Gericht in einen Geldbetrag übersetzt werden. In mehreren Entscheidungstexten überzeugen die ausgewählten Argumente, welche das nur geringe Ausmaß der Persönlichkeitsverletzung belegen sollen, nicht. Sie erscheinen mitunter sachfremd oder lassen zumindest vermuten, dass die beurteilende Person keine Vorstellung von der erlebten Ungleichheitserfahrung hat. Das Amtsgericht Leipzig verweist zur Begründung etwa darauf, dass dem Kläger „zahllose Alternativen für die Abendgestaltung zur Verfügung“ standen.200 Es setzt die rassistische Zutrittsverweigerung insofern mit jeder anderen 194 M.w. N. Sebastian Roloff, in: Rolfs u. a. (Hg.), BeckOK Arbeitsrecht, 63. Ed. 2022, § 1 Rn. 3 f. 195 So argumentiert Caroline Lasserre, „Rasse“-Begriff der Grundrechtecharta, in: NZA 2022, S. 302–307 (305). 196 Ebd., S. 305 f. 197 Etwa AG Bremen, Urt. v. 20.1.2011, 25 C 278/10. 198 Unveröff. AG Hannover, Urt. v. 27.2.2014, 563 C 6350/13. 199 Die unveröffentlichten Entscheidungen wurden mir von Sophie Arndt zur Verfügung gestellt. Dafür vielen Dank. 200 Unveröff. AG Leipzig, Urt. v. 18.5.2012, 118 C 1036/12.

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verwehrten Chance gleich, einer privaten Aktivität nachzugehen. Zudem legt das Argument nahe, die Diskriminierungserfahrung könne dadurch „ausgeglichen“ werden, dass die begehrte Leistung anderweitig erlangt wird. Nach Ansicht des Amtsgerichts Bremen ist die rassistische Persönlichkeitsverletzung im Falle der Ablehnung an der Diskothekentür deshalb gering, weil diese „nur wenigen Personen bekannt geworden“ und zudem „nur ein kurzer Aufenthalt in der Diskothek beabsichtigt“ 201 war. Beide Amtsgerichte bemessen die Höhe des immateriellen Schadens fälschlicherweise entlang des entgangenen Amüsements, statt die Verletzung infolge der Diskriminierungserfahrung selbst abzuwägen. Das Amtsgericht Bremen verkennt zudem, dass das Benachteiligungsverbot eine Person in ihrem Persönlichkeitsrecht und nicht lediglich in ihrer sozialen Anerkennung oder Wahrnehmung im Außen schützt. Ob die Diskriminierung anderen offenkundig wurde, spielt daher nur eine untergeordnete Rolle. Nach Ansicht des Amtsgerichts Tübingen stellen die Bemerkung eines Türstehers, „es seien schon genug Schwarze drin“, sowie die anschließende Verweigerung des Zutritts zwar „zweifellos eine Demütigung“ 202 dar, jedoch überschreite diese „jedenfalls nicht das Maß gewissermaßen täglichen Unrechts oder persönlicher Kränkung, die jedem Menschen alltäglich in jeglicher Lebenssituation widerfahren können und ohne materielle Entschädigung hinzunehmen sind“.203

Die Tatsache, dass eben nicht jeder Mensch, sondern gezielt nichtweiße Menschen Opfer derartiger Benachteiligungen sind, bleibt unerwähnt. Rassismus wird vielmehr gleichgesetzt mit der allgemeinen Erfahrung, ungerecht behandelt zu werden. Der Sinn und Zweck besonderer Gleichheitssätze besteht jedoch gerade darin, typische, historisch begründete Ungleichheitsrisiken zu adressieren und justiziabel zu machen. Die gerichtliche Argumentation hält einer rassismuskritischen Perspektive nicht Stand, wenn sie die Einlassverweigerung zwar als rassistisch einstuft, im Anschluss aber doch losgelöst von strukturellen Zusammenhängen denkt und bewertet. Auf diesem Wege neigt die Rechtsprechung dazu, eine weiße Ausgrenzungserfahrung und insofern individuelle Kränkung204 unzulässig

201

AG Bremen, Urt. v. 20.1.2011, 25 C 278/10. AG Tübingen, Urt. v. 6.7.2011, 7 O 111/11; a. A. nachfolgend: OLG Stuttgart, Urt. v. 12.12.2011, 10 U 106/11. 203 AG Tübingen, Urt. v. 6.7.2011, 7 O 111/11. Das Gericht negiert die Straffunktion sowie die Präventivfunktion des Schmerzensgeldanspruchs. 204 Die Positionalität der Richter*innen in den dargestellten Entscheidungen ist mir nicht bekannt. Aufgrund der fehlenden Daten zur Repräsentanz rassifizierter Menschen in der Justiz kann ebenfalls keine Aussage zur Wahrscheinlichkeit getroffen werden, mit der aus einer weißen Perspektive entschieden wurde. Wegen des großen Diversitätsdefizits in der Rechtswissenschaft handelt es sich trotz allem um eine begründete Vermutung. Zum Defizit Michael Grünberger u. a., Diversität in der Rechtswissenschaft, 2021. 202

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

zu verallgemeinern. Der gesendeten Botschaft der Nichtzugehörigkeit kommt kein ausreichendes Gewicht zu, weil die individuelle Betroffenheit der benachteiligten Menschen hinter einer dominanten Wahrnehmung der Realität verschwindet. Die konkreten Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten der betroffenen Menschen finden insofern kein oder nur eingeschränkt Gehör.205 Neben einer derartigen Bagatellisierung rassistischer Diskriminierungserfahrungen kann sich auch der strategische Einsatz des Antidiskriminierungsrechts nachteilig für die Klagepersonen auswirken. Insbesondere das Testing-Verfahren,206 welches zu Beweiszwecken eingesetzt wird, um Anhaltspunkte für eine strukturelle Diskriminierung zu liefern, wird in den untersuchten Fällen regelmäßig zum Anlass, der erlebten Diskriminierung weniger Gewicht beizumessen. In diesem Zusammenhang stellt das Amtsgericht Hannover fest, dass der Kläger durch die Abweisung seitens eines Türstehers aufgrund seiner „erkennbaren Herkunft“ eine Diskriminierung erlitten habe.207 Dieser Vorfall sei zweifelsfrei zu verachten und müsse nach dem Willen des Gesetzgebers sanktioniert werden. Jedoch plädiert das Gericht dafür, die Höhe der Entschädigung deutlich zu reduzieren, weil der Einlassverweigerung ein Testing-Verfahren zugrunde lag. Eine Genugtuungsfunktion komme dem Schmerzensgeld in diesem Fall nicht zu, da die rassistische Behandlung der betroffenen Person „von Anfang an bewusst“ gewesen sei. Diese habe „damit gerechnet“, diskriminiert zu werden und „sich auch darauf einstellen“ können.208 Wiederum habe nur ein sehr kleiner Personenkreis von der Behandlung erfahren und der Kläger nicht vorgetragen, dass er sich „dadurch bloß gestellt [sic] und öffentlich herabgesetzt gefühlt hätte“.209 An die genannte Argumentation knüpft das Amtsgericht Leipzig an, wenn es vertritt, ein Testing sei weniger verletzend als eine „unerwartete“ Diskriminierung: „Daher ist die Verletzung des Persönlichkeitsrechts nicht so hoch, als wenn jemand völlig unverhofft an einer Diskothek abgewiesen wird.“ 210

Dieselbe Einschätzung vertritt das Amtsgericht Oldenburg, welches über die Klage eines schwarzen Mannes zu entscheiden hatte, der im Rahmen eines Testing-Verfahrens mit den Worten „Keine Ausländer! Anweisung vom Chef!“ abgewiesen wurde.211 Der Betroffene habe sich auf die Diskriminierung vorbe-

205 Das OLG Stuttgart revidierte als höhere Instanz die Aussage, es stünden andere Diskotheken zur Freizeitgestaltung zur Verfügung. Ebenfalls zu begrüßen ist, dass das OLG neben einem Unterlassungs- auch einen Entschädigungsanspruch in angemessener Höhe zuspricht. 206 Erläutert in Kapitel 2, B. I., S. 110 f. 207 Unveröff. AG Hannover, Urt. v. 27.2.2014, 563 C 6350/13. 208 Unveröff. AG Hannover, Urt. v. 27.2.2014, 563 C 6350/13, S. 5. 209 Unveröff. AG Hannover, Urt. v. 27.2.2014, 563 C 6350/13, S. 5. 210 Herv. d. Autorin, unveröff. AG Leipzig, Urt. v. 18.5.2012, 118 C 1036/12. 211 AG Oldenburg, Urt. v. 23.7.2008, E2 C 2126/07.

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reiten können, weil er diese „ja förmlich erwartet hatte“. Entscheidend für das Gericht ist außerdem, dass der Kläger keine psychischen Schäden durch die Abweisung erlitten hat. Hinsichtlich der Entschädigungssumme führe die „bewusste und billigend in Kauf genommene Herbeiführung der Benachteiligung zu einer Halbierung des ansonsten wirkenden Betrages“.212

In der Schlussbemerkung des Amtsgerichts Oldenburg scheint sich die Verantwortung umzudrehen: Nicht der Türsteher hat den Besucher diskriminiert, dieser hat die Diskriminierung „provoziert“ und damit letztlich selbst verschuldet. Der Argumentation liegt eine klassische Täter-Opfer-Umkehr zugrunde. Die von Rassismus betroffene Person ist in zweifacher Hinsicht einem Moment der Subalternisierung ausgesetzt: Zunächst wird ihre Schilderung als nicht überzeugend angesehen – weil Beweise einer strukturellen Diskriminierungslage fehlen. Wird ein Beweis vorgelegt, wird das Testing selbst zum Grund der Diskriminierung. Ein Überraschungseffekt ist, wenig überraschend, keine dogmatische Voraussetzung eines Entschädigungsanspruchs.213 Zudem spricht die empirische Diskriminierungsforschung gegen die Argumentation des Gerichts: Obwohl rassifizierte Menschen regelmäßig mit rassistischen Ungleichheitserfahrungen konfrontiert sind, ist eine „emotionale Immunisierung“ im Vorfeld nicht möglich.214 Die Unterscheidung einer „völlig unverhofften“ und einer „erwartbaren“ Diskriminierung verkennt die erlebte Ungleichheit. Vielmehr kann gerade auch die strukturelle Dimension der Ablehnung, die Menschen als Testperson in einem Testing-Verfahren sammeln, zusätzliches Verletzungspotenzial begründen. Die gerichtliche Prüfung ist nicht fähig, die Verletzungen auszuwerten, die den Sachverhalten zugrunde liegen. Die Kenntnisse zum Subalternisierungsprozess legen ein Verständnis dafür nahe, dass diese Festschreibung des anderen und seiner Erfahrung in Wahrheit kein Privileg, sondern ein Verlust einer bestimmten Perspektive ist. Neben den Diskotheken-Fällen habe ich auch die Rechtsprechung zu rassistischer Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt ausgewertet. Im Lebensbereich der Wohnungssuche ist das Potenzial rassistischer Diskriminierung erfahrungsgemäß ebenfalls besonders hoch.215 Der Befund der Entscheidungsanalyse weicht von den dargestellten Judikaten der Zugangskontrollen ab. Die weit überwiegend jüngeren Entscheidungen subsumieren rassische Diskriminierungen zwar teilweise ebenfalls ungenau allein unter das Merkmal „ethnische Herkunft“, ohne dies näher zu begründen. Momente der Subalternisierung ließen sich allerdings

212

AG Oldenburg, Urt. v. 23.7.2008, E2 C 2126/07. Zu den Voraussetzungen: Ute Sacksofsky, Was heißt: Ungleichbehandlung „wegen“?, in: Kempny/Reimer (Hg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 2017, S. 63–90. 214 M.w. N. Doris Liebscher u. a., Rassismus vor Gericht, in: KJ 2014, S. 135–151 (148 f.). 215 Dies liegt auch darin begründet, dass Privatpersonen aufeinandertreffen. 213

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nicht in gleicher Weise ausmachen. In der Regel sprechen die Gerichte den Geschädigten die festgestellten Schadensersatzansprüche ungemindert zu.216 Ob die festgesetzten Beträge im Vergleich hoch oder zu niedrig ausfallen, müsste eine vergleichende Betrachtung zeigen. Jedenfalls ließ die gerichtliche Argumentation in den von mir untersuchten Fällen nicht darauf schließen, dass die erlittene Diskriminierung im Zuge der gerichtlichen Bewertung geringgeschätzt wurde. 4. Zwischenergebnis In allen Untersuchungsfeldern des ersten Analyseteils – Strafrecht, Arbeitsrecht und Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz – ließ sich eine Dethematisierung von Rassismus feststellen. Häufig war die Subalternisierung der jeweiligen Person, Äußerung oder Erfahrung mit mangelnden rassismuskritischen Kompetenzen der Gerichte verknüpft. An vielen Stellen ließ die Argumentation eine Sensibilisierung für das Ausmaß rassifizierter Ungleichheit vermissen. Ein offensichtlicher NS-Bezug des Sachverhalts machte es zumindest wahrscheinlicher, dass Rassismus als handlungsleitendes Motiv besprochen wird. Jedoch ließ sich nicht feststellen, dass Rassismus stets mit Rechtsradikalismus oder -extremismus gleichgesetzt wird. Ebenfalls führt selbst ein solcher Bezug nicht in allen Fällen dazu, dass eine Aussage als rassistisch eingeschätzt oder als besonders gravierend beurteilt wurde. Die untersuchten Diskursfelder unterschieden sich in den rechtlichen Vorgaben der Ermittlung des jeweiligen Sachverhalts. In der Strafgerichtsbarkeit gilt der Ermittlungsgrundsatz (auch: Untersuchungsgrundsatz). Das verhandelnde Gericht ist daher verpflichtet, den „wahren“ Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Im Zivilprozess ermittelt der Spruchkörper nicht selbst; es gilt der Beibringungsgrundsatz. Die Parteien bestimmen so in stärkerem Umfang, welche Aspekte des Sachverhalts im gerichtlichen Verfahren eine Rolle spielen. Aus diesem Unterschied erkläre ich mir, weshalb sich innerhalb der strafrechtlichen Rechtsprechung die größten Schwierigkeiten zeigten, die rassistische Dimension eines Sachverhalts zu erkennen. Nachdem bis hierin vor allem die Rechtsprechung zum einfachen Rechtsschutz ausgewertet wurde, widmet sich die Untersuchung nun verfassungsrechtlichen Wertungsfragen und deren gerichtlicher Prüfung.

216 Etwa AG Charlottenburg, Urt. v. 14.1.2020, 203 C 31/19; AG Augsburg, Urt. v. 10.12.2019, 20 C 2566/19; AG Hamburg-Barmbek, Urt. v. 3.2.2017, 811b C 273/15; LG Mönchengladbach, Urt. v. 27.5.2016, 11 O 99/15; AG Tempelhof-Kreuzberg, Urt. v. 19.12.2014, 25 C 357/14; OLG Köln, Urt. v. 19.1.2010, I-24 451/09 (das Gericht verwendet den kolonialrassistischen Begriff „farbig“); LG Aachen, Urt. v. 17.3.2009, 8 O 449/07; AG Hamburg, Urt. v. 31.10.2007, 46 C 50/07.

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II. Berücksichtigung von Rassismus als diskursives Machtverhältnis Der nachkommende Abschnitt fokussiert Äußerungen, die in den Grenzbereich der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit einerseits und dem Persönlichkeits- sowie Diskriminierungsschutz andererseits fallen. Zu diesem Zwecke skizziere ich zunächst den verfassungsrechtlichen Anspruch, (über andere) sprechen zu dürfen. Gegenstand der Analyse ist sodann die Judikatur zur Volksverhetzung (§ 130 StGB) im Falle sog. „mehrdeutiger Aussagen“. Mich interessiert, inwiefern eine Abwägung zwischen den genannten Verfassungsgütern auf die strukturelle Ausgrenzungslage eingeht, die Rassismus für Betroffene generiert. Vermag es die rechtliche Bewertung, das Wesen einer subalternen Diskursposition zu berücksichtigen? Im Ergebnis möchte ich zeigen, dass die Rechtsprechung diskursive Machtverhältnisse nicht hinreichend berücksichtigt. Die Judikatur geht vielmehr implizit davon aus, verbale Angriffe würden alle Menschen mit gleicher Wahrscheinlichkeit, in ähnlicher Intensität und mit entsprechender Wirkung treffen. Diese Grundhaltung negiert die bestehende Ungleichheitslage und birgt Subalternisierungspotenzial. Sie blendet aus, dass realiter sehr unterschiedlich starke Diskurspositionen bestehen. Rassistische Hassrede ist daher nicht bloß eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts, sondern aktiviert die subalterne, das heißt strukturell differente, unterlegene Position der Betroffenen. 1. Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht im Spannungsverhältnis Der hohe Stellenwert der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG) entwächst zweierlei Überlegungen, die das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 1958 in der Lüth-Entscheidung konkretisiert hat. Weil diese grundständige Differenzierung für die weitere Analyse wichtig ist, sollen die bekannten Formulierungen des Entscheidungstextes kurz rekapituliert werden. Die Freiheit der Rede ist nach Ansicht des Gerichts der „unmittelbarste Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft“ und gleichzeitig „Grundlage jeder Freiheit überhaupt“.217 Damit beschrieben ist – erstens – die subjektive, zuvörderst abwehrrechtliche Seite der Meinungsfreiheit und – zweitens – deren gemeinschaftsbezogene Dimension. Jede Person darf die eigene Sichtweise frei von staatlichem Zwang artikulieren. Aus diesem Grund muss eine rechtliche Regulierung der Rede grundsätzlich zurückhaltend agieren. Überdies ist das demokratische Gemeinwesen auf einen kontroversen Austausch von Meinungen angewiesen; das heißt, ein Diskurs muss möglichst viele und möglichst unterschiedliche Stimmen versammeln. Die Redefreiheit überragt insofern den Einzelnen. Durch ein gewisses Maß an Regulation kann sichergestellt werden, dass die Bedingun217

BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth (1958).

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gen der diskursiven Beteiligung gerecht ausgestaltet sind. Das „Lebenselement“ eines freiheitlich-demokratischen Staates ist demnach nur ein Meinungskampf in „gleicher Freiheit“.218 In einem hitzigen Streit trifft die Meinungsfreiheit auf Grundrechtspositionen anderer, etwa auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Ein grenzenloser Schutz der Meinungsfreiheit würde auch die grundrechtlich verbürgte Diskriminierungsfreiheit i. S. d. Art. 3 Abs. 3 GG gefährden. Erforderlich ist daher eine sinnvolle und angemessene Grenzziehung der Meinungsfreiheit. Die Schrankentrias des Art. 5 Abs. 2 GG entspricht diesem Gedanken: Die Meinungsfreiheit muss zurücktreten, wenn sonst schutzwürdige Interessen von höherem Rang verletzt würden.219 Neben unwahren Tatsachenbehauptungen, die gar nicht erst den Schutzbereich der Meinungsfreiheit eröffnen, ist der Schmähkritik, den sog. Formalbeleidigungen und Äußerungen, die die Würde des Menschen verletzen, der grundrechtliche Schutz versagt.220 In allen anderen Fällen ist eine Abwägung angezeigt.221 Auch in Grenzfällen muss sicherheitshalber eine Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen vorgenommen werden. Dabei besteht kein genereller, sondern ein im Einzelfall widerlegbarer Vorrang der Meinungsfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsschutz.222 2. Tatbestand der Volksverhetzung, § 130 StGB Der Tatbestand der Volksverhetzung übersteigt den Schutz vor einer bloßen Individualrechtsgutsverletzung. § 130 StGB sichert die gemeinschaftsbezogene Dimension der Meinungsfreiheit für besonders vulnerable Personengruppen der Gesellschaft.223 Adressat*in einer Volksverhetzung sind daher nicht Einzelpersonen, sondern bestimmte Personenkollektive, die die Strafnorm benennt. Als eine Gruppe in diesem Sinne gilt jede „von der übrigen Bevölkerung auf Grund gemeinsamer äußerer oder innerer Merkmale politischer, nationaler, ethnischer, rassischer, religiöser, weltanschaulicher, sozialer, wirtschaftlicher, beruflicher oder sonstiger Art unterscheidbare Gruppe von Personen [. . .], die zahlenmäßig von einiger Erheblichkeit und somit individuell nicht mehr unterscheidbar“ ist.224 218

Herv. d. Autorin, BVerfGE 7, 198 (219) – Lüth (1958). BVerfGE 7, 198 (219) – Lüth (1958). 220 BVerfGE 90, 241 (251 ff.) – Auschwitzlüge (1994). Ausführlich statt vieler Angelika Nußberger, Kommunikationsfreiheiten, in: Herdegen u. a. (Hg.), VerfassungsR-HdB § 20, S. 1287–1333 (1308 ff. Rn. 48 ff.). 221 Grundsätzlich sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. St. Rspr. BVerfGE 7, 198 (212) – Lüth (1958). Nochmals klargestellt in BVerfG, Pressemitteilung Nr. 49/2020 v. 19.6.2020. 222 Zur Vermutungsregel BVerfGE 7, 198 (212) – Lüth (1958). Siehe auch BVerfG, Beschl. v. 19.5.2020, 1 BvR 2397/19, Rn. 16 f. 223 Jürgen Schäfer/Stephan Anstötz, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2021, § 130 Rn. 1. 224 BGH, Urt. v. 3.4.2008, 3 StR 394/07. 219

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Als Tathandlung stellt die Volksverhetzung in Abs. 1 Nr. 1 unter Strafe, wenn gegen eine solche Personengruppe, einzelne Angehörige der Gruppe oder Teile der Bevölkerung zum Hass aufgestachelt sowie zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen aufgefordert wird. § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfasst einen Angriff auf die Menschenwürde durch Beschimpfung, böswilliges Verächtlichmachen oder durch Verleumdung. Beide Tatalternativen müssen geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. Dies ist der Fall, wenn das Vertrauen der Bevölkerungsgruppe in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttert wird.225 Zur Beurteilung kommt es darauf an, ob deren Stellung innerhalb der Gesellschaft – und damit auch innerhalb des demokratischen Diskurses – infolge von Ausgrenzung oder Abwertung bedroht ist.226 Ein Angriff auf eine Einzelperson kann ausreichen, wenn diesem Symbolcharakter zukommt.227 Absatz 2 der Norm stellt kein Äußerungsdelikt, sondern ein Inhaltsverbreitungsdelikt dar: Erfasst ist jegliche Form der Herstellung und Verbreitung volksverhetzender Inhalte228 (i. S. d. § 11 Abs. 3 StGB), eine Eignung zur Friedensstörung ist nicht erforderlich.229 § 130 Abs. 3, 4 und Abs. 5 StGB enthalten besondere Regelungen für die Billigung, Leugnung oder Verharmlosung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und die Verletzung der Würde der Opfer des NS-Regimes. Die bloße Schädlichkeit, Gefährlichkeit oder Verfassungsfeindlichkeit einer Äußerung reicht weder für einen Eingriff in die Meinungsfreiheit noch für eine Strafbarkeit i. S. d. Volksverhetzung aus. Das zur Einschränkung erforderliche Maß einer Schädigung ist laut Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung erst dann erreicht, wenn „die Schwelle zur individualisierbaren, konkret erfaßbaren Gefahr einer Rechtsverletzung überschritten wird“.230 Dieses Gefährdungsmoment ist erreicht, wenn Meinungsäußerungen „mittelbar auf Realwirkungen angelegt sind und etwa in Form von Appellen zum Rechtsbruch, aggressiven Emotionalisierungen oder der Herabsetzung von Hemmschwellen rechtsgutgefährdende Folgen unmittelbar auslösen können“.231

225 St. Rspr. seit BGHSt 16, 49 (56). Siehe BGHSt 29, 26 (27); BGHSt 46, 212 (Rn. 52). 226 Detlef Sternberg-Lieben/Ulrike Schnittenhelm, in: Schönke/Schröder (Hg.), StGB Komm., 30. Aufl. 2019, § 130 Rn. 10; Peter Rackow, in: v. Heintschel-Heinegg (Hg.), BeckOK StGB, 50. Ed. 2021, § 130 Rn. 22. 227 BGHSt 21, 372. Siehe auch Heribert Ostendorf, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hg.), StGB Komm., 5. Aufl. 2017, § 130 Rn. 16. 228 Die Wortwahl „Inhalt“ geht auf die letzte Gesetzesänderung zurück. Zuvor formulierte § 130 Abs. 2 StGB „eine Schrift“ (Sechzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches v. 30.11.2020, BGBl. 2020 I Nr. 57, S. 2601). 229 Peter Rackow, in: v. Heintschel-Heinegg (Hg.), BeckOK StGB, 50. Ed. 2021, § 130 Rn. 9; Jürgen Schäfer/Stephan Anstötz, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2021, § 130 Rn. 12. 230 BVerfGE 124, 300 (332) – Wunsiedel (2009). 231 BVerfGE 124, 300 (332) – Wunsiedel (2009).

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In diesen Fällen zielt die Beschränkung der Meinungsfreiheit „im Sinne eines vorgelagerten Rechtsgüterschutzes“ 232 auf die Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens. Das Verfassungsgericht ringt darum, Kriterien festzulegen, welche den Grundsatz für die Rechtsanwendung operationalisierbar machen. Letztlich können „nur Regeln und Vermutungen“ 233 aufgestellt werden, die eine fallbezogene Abwägung nicht ersetzen. Gerade hinsichtlich des oben beschriebenen Spannungsfeldes zwischen Meinungsfreiheit und Ehr- sowie Diskriminierungsschutz stellt sich dabei regelmäßig ein spezifisches Abwägungsproblem: Sprechakte sind ambigue, sie können sehr unterschiedlich verstanden werden. Potenziell ehrverletzende Äußerungen spielen zuweilen gerade mit einer solch mehrdeutigen Inhaltsebene; der herabwürdigende Gehalt schwingt in einer Äußerung mit, ohne explizit artikuliert zu werden. Die Vagheit der mehrdeutigen Aussage stellt das Recht vor eine Herausforderung. 3. Beurteilung mehrdeutiger Aussagen Da eine strafrechtliche Sanktion stets nur das letzte Mittel der staatlichen Machtausübung sein darf, muss jede gerichtliche Bewertung einer Aussage nach „nicht strafbaren Deutungsalternativen“ fragen. Diese Anforderung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: „Ist eine Äußerung mehrdeutig, so haben die Gerichte, wollen sie die zu einer Verurteilung führende Deutung ihrer rechtlichen Würdigung zugrunde legen, andere Auslegungsvarianten mit schlüssigen Gründen auszuscheiden. [. . .] Gründe dieser Art können sich auch aus den Umständen ergeben, unter denen die Äußerung gefallen ist.“ 234

Die entsprechende Prüfung verfolgt das Ziel einer „objektiven Sinnermittlung“ der Äußerung. Es geht weder um die „subjektive Absicht“ des Sprechenden noch um das „subjektive Verständnis“ der Betroffenen, sondern darum, welche Wirkung die in Rede stehende Aussage auf ein „unvoreingenommene[s] und verständige[s] Publikum objektiv hat“.235 Dabei reicht es gerade nicht aus, dass eine nichtstrafbare Deutungsalternative nur besteht. Diese muss als Sinngehalt vorzugswürdig erscheinen. Anhand welcher Kriterien eine in diesem Sinne objektive Auslegung vorgenommen werden soll, bleibt offen. Auch das Vorverständnis und die Maßstäbe, welche der Entscheidung zugrunde liegen, sind nur eingeschränkt 232 Wolfram Höfling/Steffen Augsberg, Grundrechtsdogmatik im Schatten der Vergangenheit, in: JZ 2010, S. 1088–1098 (1096). 233 Herbert Bethge, in: Sachs (Hg.), GG Komm., 9. Aufl. 2021, Art. 5 Rn. 32. 234 BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 24.9.2009, 2 BvR 2179/09, Rn. 8. St. Rspr. seit: BVerfGE 82, 43 (52) – Mehrdeutige Äußerung (1990); BVerfGE 85, 1 (13 f.) – BayerAktionäre (1991); BVerfGE 93, 266 (295 f.) – Soldaten sind Mörder (1995); BVerfGE 94, 1 (9) – DGHS (1996); BVerfGE 114, 339 (348 f.) – Mehrdeutige Meinungsäußerungen (2005). 235 BVerfGE 93, 266 (295) – Soldaten sind Mörder (1995).

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überprüfbar. Die Chiffre des „objektiven Dritten“ überdeckt das normative Moment der Bewertung.236 Statt die intendierte Bedeutung aus dem semantischen und situativen Kontext zu erschließen, wird auf ein fiktives Leitverständnis abgestellt, welches mehrheitlich geteilte Festschreibungen zur Wahrheit erhebt. Auch das subjektive Dafürhalten der entscheidenden Person, deren Verständnis der Äußerung, erhält auf diesem Wege ein nicht konkret bestimmbares Gewicht.237 Es drängt sich zudem ein Widerspruch auf: Wie kann ein objektives Verständnis der Aussage überhaupt feststellbar sein, wenn das Feststellungsinteresse gerade daraus resultiert, dass diese mehrdeutig ist? Weiter oben wurde bereits argumentiert, dass die vermeintliche Objektivität des rechtlichen Maßstabs die Verwobenheit von Subjekt, Subjektposition und Recht verschleiert. Dieser Schleier erschwert das Nachdenken über diskursive Machtverhältnisse ganz grundsätzlich. An dieser Stelle sollen die spezifischen Konsequenzen der Rechtsprechungspraxis für subalterne Stimmen im Kontext der Meinungsfreiheitsdogmatik aufgezeigt werden. Hierzu werden Entscheidungen analysiert, in denen Gerichte die dogmatische Figur der nicht strafbaren Deutungsalternativen anwenden.238 Um die Kritik nachzuvollziehen, ist es nicht erforderlich, die komplexe Frage nach der Rolle des Staates in der Grenzziehung 236 Zum Ideal der Objektivität im Recht ausführlicher in Kapitel 2, A. II., ab S. 101. Zur Figur des objektiven Dritten in der Zivilrechtsdogmatik kritisch m.w. N. Eva Kocher, Objektivität und gesellschaftliche Positionalität, in: KJ 2021, S. 268–283. Zuvor bereits dies., Die Position der Dritten. Objektivität im bürgerlichen Recht, in: JöR n. F. 67 (2019), S. 403–426. 237 Näher Angelika Nußberger, Kommunikationsfreiheiten, in: Herdegen u. a. (Hg.), VerfassungsR-HdB § 20, S. 1287–1333 (1302 Rn. 32). 238 Andere Argumentationsmuster, wie etwa die vermeintliche „objektive Beweisbarkeit“ einer rassistischen Aussage, werden nicht näher besprochen. Hierzu zählt das prominente Urteil des VG Gießen zum NPD-Wahlplakat mit dem Schriftzug „Stoppt die Invasion: Migration tötet!“. VG Gießen, Urt. v. 9.8.2019, 4 K 2279/19.GI. Ein Gießener Verwaltungsrichter führt im Entscheidungstext aus, dass es sich bei der Aussage des Plakats um eine empirisch beweisbare Aussage handele. Die Entscheidung reproduziert sowohl rassistische Sprache als auch rechte und rechtsextreme Narrative. Das BVerfG bestätigte die Besorgnis der Befangenheit des Richters, BVerfG, Beschl. v. 1.7.2021, 2 BvR 890/20. Zur Einordnung Stefan Muckel, Gesetzlicher Richter bei Befangenheit im Asylverfahren, in: JA 2021, S. 781–783. Insgesamt bleiben Entscheidungen unberücksichtigt, in denen Richter*innen die gerichtliche Begründung für politische Äußerungen ausnutzen, die keine Voraussetzung für die rechtliche Argumentation sind. Jüngst etwa: BGH, Urt. v. 27.10.2020, RiZ(R) 4/20. Der BGH urteilt als Dienstgericht des Bundes über eine Entscheidungsbegründung eines sächsischen Richters, der über die Strafbarkeit einer Angeklagten zu urteilen hatte. Diese äußerte sich in den sozialen Medien über „Flüchtlingsunterkünfte“ wie folgt: „Ich bring den Brandbeschleuniger mit.“ Der Einzelrichter sah eine Volksverhetzung nicht gegeben. In den Entscheidungsgründen argumentiert er: „In diesem Zusammenhang ist nach Ansicht des Gerichts die Entscheidung der Bundeskanzlerin, eine bisher nicht bekannte Anzahl von Flüchtlingen unkontrolliert ins Land zu lassen, viel mehr geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören.“ LG Leipzig, Urt. v. 17.3.2020, 66 DG2/17. Der BGH entschied, dass der Richter seine richterliche Tätigkeit zweckentfremdet hat, weil sein rein politisches Statement keinen rechtlichen Zusammenhang zur Begründung der Entscheidung aufweist.

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der Meinungsfreiheit endgültig zu beantworten.239 Selbst innerhalb der bestehenden Dogmatik überzeugt die Auslegung nicht. 4. Auszug aus der Judikatur a) Strafbarkeit von Wahlplakaten Die schwierige Frage, wie bei einer mehrdeutigen Äußerung zwischen der gemeinschafts- und der individuumsbezogenen Dimension der Meinungsfreiheit abzuwägen ist, stellt sich besonders deutlich, wenn politische Wahlplakate verboten werden sollen. Dies bestätigt die große Zahl von Rechtsstreitigkeiten, die sich um ihre Zulässigkeit drehen. Da Wahlwerbung neben der Meinungsfreiheit auch von der Parteienfreiheit (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie der Wahlfreiheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) geschützt ist und sich dieser Schutz im Wahlkampf noch weiter verstärkt, sind an ein Verbot noch strengere Maßstäbe anzulegen als eingangs beschrieben. Ein solches Verbot stützt sich entsprechend den landesrechtlichen Generalklauseln des Sicherheits- und Ordnungsrechts regelmäßig auf den Tatbestand der Volksverhetzung als verwaltungsrechtliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit.240 Zuerst möchte ich ein Wahlplakat der NPD aus dem Jahr 2011 besprechen, das anlässlich der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus aufgestellt wurde. Die Wahlwerbung zeigt den ehemaligen Bundesvorsitzenden der NPD und damaligen Spitzenkandidaten der Partei Udo Voigt. Dieser sitzt, lächelnd in die Kamera blickend, auf einem Motorrad. In eine dunkle Lederjacke und Lederhandschuhe gekleidet umgreift seine rechte Hand den Gasgriff des Gefährts. In der unteren Hälfte des Bildes ist das Logo der NPD und ein stilisiertes Wahlkreuz zu sehen. Quer über dem Plakat prangt in weißen Buchstaben die Aufschrift „GAS geben!“.241 Scheinbar doppelbödig changiert die Darstellung zwischen zwei Optio239 Dazu, anknüpfend an den Streit zwischen Catharine MacKinnon und Judith Butler zur rechtlichen Regulierung der Meinungsfreiheit: Nikita Dhawan, Meinungsfreiheit, Hassrede und die Politik der Zensur, in: Feministische Studien, Bd. 36 2/2018, S. 322–334. 240 Grundlegend Mike Ulbricht, Volksverhetzung und das Prinzip der Meinungsfreiheit, 2017. Einschlägig könnte auch das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (§ 86 Abs. 1 StGB) oder die Beleidigung (§ 185 StGB) sein. Neben polizeirechtlichen Rechtsgrundlagen können für Verbote von ehr- oder menschenwürdeverletzenden Wahlplakaten außerdem zivilrechtliche Rechtsgrundlagen herangezogen werden, etwa die deliktischen Vorschriften der §§ 823 ff. BGB. Notwendig ist in beiden Fällen die Betroffenheit einer konkreten Person. Bei einer Kollektivbezeichnung muss es sich um einen überschaubaren Personenkreis handeln. M.w. N. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Verbot von Wahlplakaten mit ehroder menschenwürdeverletzenden Inhalten, 2017. 241 Ich habe mich entschieden, die Plakate nur zu beschreiben und nicht als Bild abzudrucken. Alle besprochenen Wahlplakate sind leicht im Wege einer Internetrecherche zu finden.

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nen des Verständnisses. Die Partei zieht sich auf die Bedeutung des Plakattextes als umgangssprachliche Redewendung zurück. Man wolle ausdrücken, dass die Berliner Landespolitik in einem unbestimmten Sinne vorankommen müsse und dies durch den Beitrag der Partei geschehe. Verschiedene Umstände begründen Zweifel an einer solchen Lesart des Plakats. Laut Medienberichten wurde die Wahlwerbung gezielt vor dem Jüdischen Museum und dem Holocaust-Mahnmal am Potsdamer Platz in Berlin aufgehängt.242 Aus diesem Umstand und aufgrund der politischen Agenda der verfassungsfeindlichen Partei243 drängt sich eine zynische Bezugnahme auf die Massenmorde des nationalsozialistischen Deutschlands durch den Einsatz von Giftgas in den Vernichtungslagern auf. Die Stadt Berlin wertete das Plakat vor diesem Hintergrund als strafrechtlich relevant. Erfüllt sah die Behörde den Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1, Abs. 2 StGB sowie das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen gem. § 86 Abs. 1 StGB. Der NPD wurde nach § 17 Abs. 1 ASOG verwaltungsrechtlich untersagt, das Plakat aufzuhängen, zu verbreiten oder sonstig zugänglich zu machen. Die Partei wehrt sich gegen die kommunale Entscheidung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes (§ 80 Abs. 5 1 Alt. 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht Berlin bewertet die in Rede stehende Assoziation und auch, dass die Partei diese bewusst wecken wollte, als „nicht von der Hand zu weisen“.244 Letztlich entschied es aufgrund möglicher Deutungsalternativen aber zugunsten der antragstellenden Partei.245 Zur Begründung führt das Gericht aus: „Jedoch ist ebenso nicht auszuschließen, dass sie [die NPD] damit auch nur auf eine eher volkstümliche Formulierung der Beschleunigung, hier von politischen Entscheidungsprozessen, hinweisen wollte. Die Formulierung ,Gas geben‘ im Zusammenhang 242 Julia Fiedler/Alke Wierth, „Gas geben“ im Berliner Wahlkampf, taz v. 15.8.2011; Sabine Beikler/Peter Knobloch, Rechtsextremistische Wahlplakate, tagesspiegel v. 17.8. 2011; zeit online v. 18.8.2011, „Gas geben mit dem Nazikreuzworträtsel“. 243 Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist die NPD verfassungsfeindlich, wurde allerdings nicht verboten: BVerfGE 144, 20 – NPD-Verbotsverfahren (2017). 244 VG Berlin, Beschl. v. 7.9.2011, 1 L 293/11, Rn. 12. 245 Im gleichen Verfahren entschied das Gericht auch über ein weiteres Wahlplakat der NPD mit der Aufschrift „Guten Heimflug!“, das drei Personen auf einem fliegenden Teppich sitzend zeigt, die migrantisch gelesen werden sollen. Auch dessen Aufstellung wurde vom zuständigen Stadtbezirk Berlin untersagt, weil das Plakat Vorurteile bediene und das Lebensrecht von Migrant*innen in Deutschland negiere. Das Gericht entschied: „Die mit dem Satz ,Guten Heimflug‘ geäußerte Meinung, die bildlich dargestellten Bevölkerungsgruppen mögen die Bundesrepublik Deutschland verlassen und in ihre Heimatländer zurückkehren, mag ein politisches Ziel der Antragstellerin zum Ausdruck bringen; allerdings ist hieraus allein noch nicht erkennbar, dass damit Ausländern das Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeiten in der staatlichen Gemeinschaft bestritten und ihre Menschenwürde in Frage gestellt oder gar angegriffen wird. Das alleinige Bestreiten des Aufenthaltsrechts der Ausländer an sich genügt hierfür nicht [. . .]. Auch wenn das Plakat in einer primitiven und Vorurteile bedienenden Gestaltung eine schon rechtlich nicht umsetzbare Forderung geltend macht, liegt darin noch keine Strafbarkeit.“ VG Berlin, Beschl. v. 7.9.2011, 1 L 293/11, Rn. 9.

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mit dem auf einem Motorrad sitzenden Bundesvorsitzenden der NPD kann [. . .] gerade auch bedeuten, dass die Antragstellerin bestimmte politische Vorhaben schnell voranbringen, etwas bewegen und beschleunigen will.“ 246

Eine solche Deutung könne nicht mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen werden. Mögliche Gründe, etwa eine Auswertung der Standorte der Plakate, die sonstigen Wahlplakate der Partei oder deren politisches Programm, werden allerdings nicht erwogen. Unerwähnt bleiben außerdem die sonstigen Aktivitäten des NPD-Personals; etwa, dass Parteimitglieder den Holocaust leugnen oder relativieren und die Vereinigung als solche NS-Nostalgie pflegt.247 Gerade diese konkreten Umstände der Aussagen sind für deren strafrechtliche Bewertung nach dem zuvor Gesagten von zentraler Bedeutung. Der Kontext der Aussage bleibt durch den vorschnellen Bezug auf eine „nicht auszuschließende“ Deutung unberücksichtigt. Wenn es – erinnert sei an die Definition der Störung des öffentlichen Friedens – darum geht, ob das Vertrauen bestimmter Bevölkerungsgruppen in die Rechtssicherheit erschüttert wird, muss in Rechnung gestellt werden, dass eine solche Einschätzung für unterschiedliche Gruppen sehr different ausfallen kann. Dies entspricht systematisch der Logik des § 130 StGB, der bereits tatbestandlich zwischen verschiedenen Personengruppen unterscheidet. Dem Verwaltungsgericht Berlin gelingt es nicht zu prüfen, inwiefern von dem Plakattext antisemitische Einschüchterungseffekte ausgehen. Noch offenkundiger wird dies in einem anderen Fall, den das Verwaltungsgericht Kassel zu entscheiden hatte. Wiederum geht es um eine Wahlwerbung der NPD, die das Gesicht einer älteren, weißen Frau zeigt. Diese blickt, offensichtlich verängstigt, verzweifelt oder zumindest besorgt, zum unteren linken Bildrand und hält nachdenklich ihre Hand vor ihren Mund. Über ihrer Stirn steht „Geld für die Oma“. Weiter unten wird der Satz durch die Ergänzung „statt für Sinti und Roma“ vervollständigt. Das Plakat fordert keine „Umverteilung“ finanzieller Leistungen oder sonstiger Vermögenswerte, sondern scheint auszudrücken, dass die benannte Bevölkerungsgruppe nach Ansicht der Partei in einem unbestimmten Sinne „zu viel Geld“ erhält und auf Staatskosten lebt. Das Verwaltungsgericht Kassel prüft die Aufforderung zu Willkürmaßnahmen gem. § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB, aber keinen Angriff auf die Menschenwürde der benannten Bevölkerungsgruppe i. S. d. § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Es zieht zwar in Erwägung, dass die Wahlwerbung dafür streite, der Gruppe der Sinti und Roma willkürlich, das heißt gleichheitswidrig, die ihnen zustehenden sozialen Leistungen zu entziehen, die Äußerung also diskriminierend sei. Wiederum sieht das Gericht jedoch eine alternative Deutungsmöglichkeit, die der Strafbarkeit des Wahlplakats im Wege steht:

246 247

VG Berlin, Beschl. v. 7.9.2011, 1 L 293/11, Rn. 12. Nachweise in BVerfGE 144, 20 – NPD-Verbotsverfahren (2017).

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„Genauso ist es denkbar, die Aussage des Plakats dahingehend auszulegen, dass weitere staatliche Mittel eher der älteren Generation als der Bevölkerungsgruppe der Sinti und Roma zukommen sollen [. . .].“ 248

Die Frage, ob die Plakate rassistisch sein könnten, wirft das Gericht nicht auf. Das Gericht erkennt an, dass die Plakate „in einer geschmacklosen Weise an dumpfe Ressentiments anknüpfen und verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen“ 249, schließlich verweist das Gericht – unter Rückgriff auf die zuvor besprochene Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin – darauf, dass es den Betrachtenden der Wahlplakate überlassen bleibt, „unter Betätigung [ihres] gesunden Menschenverstandes die richtigen Schlussfolgerungen zu treffen“.250 Kapituliert das Gericht vor einer rechtlichen Sanktion des rassistischen Aussagegehalts? Es unternimmt jedenfalls den Versuch, sich von der Aussage des Wahlplakats zu distanzieren, ohne dabei die tatsächliche Wirkung der Abbildung genauer zu untersuchen. Die Annahme, es ginge der Partei um ein finanzpolitisches Maßnahmenprogramm, ist abwegig. Es scheint, als prüfe das Gericht, ob es irgendeine Deutung der Aussage gibt, die nicht strafbar wäre. Der verfassungsgerichtlichen Vorgabe, den vorzugswürdigen Sinngehalt zu ermitteln, ist dergestalt nicht Genüge getan. Tatsächlich fordert die Verfassungsjudikatur nicht dazu auf, über alternative Deutungen zu fabulieren, sondern lediglich, andere, nicht ehrenrührige Deutungen zu überdenken, bevor die zur Verurteilung führende Bedeutung angenommen wird.251 Das Bundesverfassungsgericht verlangt einen zusätzlichen Reflexionsschritt und trägt so dem Umstand Rechnung, dass die erste Deutung nicht die alleinige und ebenfalls nicht zwingend die näherliegende sein muss. Besteht eine solch alternative, nichtstrafbare Deutung, muss diese aber gerade durch die konkrete Formulierung oder die Begleitumstände der Aussage vorzugswürdig und nicht nur denkbar sein. Vorliegend vermögen andere Deutungsmöglichkeiten die 248

VG Kassel, Beschl. v. 9.9.2013, 4 L 1117/13 KS, Rn. 9. VG Kassel, Beschl. v. 9.9.2013, 4 L 1117/13 KS, Rn. 9. 250 VG Kassel, Beschl. v. 9.9.2013, 4 L 1117/13 KS, Rn. 7, unter Rückgriff auf die zuvor besprochene Entscheidung des VG Berlin, Beschl. v. 7.9.2011, 1 L 293.11, Rn. 9. 251 BVerfGE 93, 266 (295 f.) – Soldaten sind Mörder (1995). Dass eine solche Prüfung substanziell erfolgen kann, verdeutlicht die Beurteilung einer anderen Wahlwerbung der NPD mit der Aufschrift „Polen-Invasion stoppen!“. Das Plakat zeigt drei schwarze Krähen mit aggressiver Mimik, von denen die beiden vorderen nach einem Bündel Euro-Geldscheine picken. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Greifswald, welches in der Plakataktion einen Angriff auf die Menschenwürde der in Deutschland lebenden polnischen Staatsangehörigen sah (BVerfG, Beschl. v. 24.9.2009, 2 BvR 2179/09). Das OVG berücksichtigt die „allgemein bekannten politischen Absichten der NPD“ sowie die konkrete Verwendung des Plakats „in einem Bereich, in dem viele polnische Staatsangehörige bereits für längere Zeit oder auf Dauer“ leben, und geht ebenfalls auf die herabwürdigende Kombination der Bilddarstellung mit dem Text ein. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 19.9.2009, 3 M 155/09, Rn. 22 ff. 249

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Kernaussage der Plakate nicht zu verhehlen. Bestimmte Menschen sollen im Vergleich zu anderen minderwertig erscheinen. Im Unterschied zum vorherigen ist die adressierte Bevölkerungsgruppe im zweiten Fall sogar konkret benannt. Bedient wird das Vorurteil, alle Sinti und Roma seien faul und würden das Sozialsystem unterwandern.252 Die Wahlwerbung spielt mit der bestehenden, abwertenden Markierung der Personengruppe. Da jene bereits im Allgemeinwissen verankert ist, muss der Plakatspruch das rassistische Wissen nicht differenziert ausformulieren; es reicht, eine assoziative Verknüpfung herzustellen. Indem die gerichtliche Wertung eine reine Wortlautanalyse des plakatierten Ausspruches vornimmt, beteiligt sie sich an der diskursiven Vermeidungsstrategie, die rassistische Markierung und Positionierung der Personengruppe zu neutralisieren. Diese bereits bestehenden Abwertungen werden nicht in die Rechnung eingestellt. Dies verstärkt deren ohnehin subalterne Position. Eine Prüfung, die lediglich nichtstrafbare Deutungsalternativen zu ermitteln versucht, kann dem Verletzungspotenzial mehrdeutiger Äußerungen nicht gerecht werden. Die Doppeldeutigkeit der Aussage wird zum politischen Programm und bewusst ausgenutzt, um rassistische Wissensbestände gesamtgesellschaftlich zu stärken.253 Ein anderes Verfahren verhandelt ein Plakat des Vereins „Augsburger Bündnis – Nationale Opposition“. Dieses titelt: „Aktion Ausländerrückführung. Aktionswochen 3. Juni–17. Juni 2002. Für ein lebenswertes deutsches Augsburg“. Dem Text ist der Name des Vereins als Urheber der Aussage angefügt. Die Aktion wurde zuvor in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift „Neues Schwaben“ angekündigt. Verbunden ist die Bekanntmachung mit einer Liste von zehn Gründen gegen Zuwanderung und für die Rückführung immigrierter Menschen. In erster Instanz beurteilt das Amtsgericht Augsburg das Plakat als Volksverhetzung gem. § 130 Abs. 2 Nr. 1 b) StGB.254 Das Landgericht bestätigte diese Einschätzung und verwarf die Berufung.255 Bei dem Plakattext handelt es sich nach Ansicht der Strafkammer nicht um eine mehrdeutige Aussage, vielmehr verletze die Formulierung gemäß ihrem objektiven Erklärungswert die Würde der ausländischen Mitbürger*innen, indem jene unter Missachtung des Gleichheitssatzes als minderwertig dargestellt werden. Auch die Revision wurde vom Bayerischen Obersten Landesgericht abgelehnt.256 Mitglieder des Vereins legten gegen die strafgerichtliche Verurteilung schließlich Verfassungsbeschwerde ein. Aus Sicht des Bundesver-

252 Entsprechend Hendrik Cremer, Rassistische Wahlplakate. NPD-Parole „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“ von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt, Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.), 2017, S. 9. 253 Vgl. Marie Diekmann/Lea Welsch, Die neuen Rechten und der Streit um die Meinungsfreiheit, in: KJ 2020, S. 286–298 (294 f.). 254 AG Augsburg, Urt. v. 20.1.2003, 10 Ds 101 Js 122256/02. 255 LG Augsburg, Urt. v. 18.7.2003, 7 Ns 101 Js 122256/02. 256 BayObLG, Beschl. v. 14.1.2004, 5 St RR 348/03 a–c.

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fassungsgerichts waren die Urteile rechtsfehlerhaft. Das Gericht stellte eine „offensichtliche“ Verletzung der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführer fest und hob die strafgerichtlichen Entscheidungen auf.257 Das Landgericht habe dem Plakattext einen Sinngehalt zugesprochen, den jener aus sich heraus nicht habe. Zur Begründung: „Das Plakat kann vielmehr auch so gedeutet werden, dass ein Rückführungsprogramm gegenüber Ausländern lediglich als Beitrag zu einem breiter und allgemeiner verfolgten Ziel, nämlich der Schaffung einer ,lebenswerten deutschen Stadt‘ verstanden wird, wobei Ausländer zwar als Problem, nicht aber notwendig als verächtlich hingestellt werden. [. . .] Der Wortkombination ist daher nicht ohne weiteres zu entnehmen, dass Ausländer entrechtet oder zum Objekt gemacht werden sollen beziehungsweise als rechtlos oder Objekt angesehen werden.“ 258

Das Bundesverfassungsgericht erkennt daher zwar eine „ausländerfeindliche Stoßrichtung“, das Lebensrecht als gleichwertige Personen in der Gemeinschaft werde den adressierten Menschen aber nicht abgesprochen. Natürlich muss, bevor diese argumentative Logik analysiert wird, auf den Charakter einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung hingewiesen werden. Das Bundesverfassungsgericht prüft hier nicht in der Sache, sondern lediglich, ob die Argumentation der Strafgerichte den Anforderungen an die Berücksichtigung der Meinungsfreiheit gerecht werden. Es stellt insofern keine vollumfängliche eigene Beurteilung des Sachverhalts an. Vor diesem Hintergrund rügt das Verfassungsgericht, das Landgericht hätte konkrete Begleitumstände benennen müssen, um zu einer über den Wortlaut des Plakats hinausgehenden Deutung zu gelangen. Dies entspräche den vorherigen Ausführungen, wenn hier tatsächlich – wie vom Bundesverfassungsgericht angenommen – eine mehrdeutige Aussage vorläge. Die verfassungsgerichtliche Argumentation spaltet die Wortkombination des Plakattexts in das Ziel der Initiative und die zur Zielerreichung geeigneten Mittel auf. In Ersterem erkennt es eine ausländerfeindliche Haltung: Das Plakat mache „unmissverständlich deutlich, dass die Initiative der Beschwerdeführer Ausländer ,rückführen‘ will“.259 Jedoch würden, und hier liegt der für das Gericht entscheidende Punkt, „der Umfang und die Mittel“ dieser Rückführung nicht beschrieben. Ob der Verein die Zielerreichung „nun beispielsweise durch Anreiz oder Zwang“ zu erreichen plant, bliebe unbenannt.260 Aus diesem Grund könne nicht darauf geschlossen werden, dass ausländische Personen entrechtet werden sollen. Meines Erachtens überzeugt diese technisch anmutende Interpretation der Plakatwerbung nicht. Die Tatsache, dass der Plakattext offenlässt, welche konkreten Mittel der Verein zur Zielerreichung einsetzt, ändert im vorliegenden Fall nichts 257 258 259 260

BVerfG, Beschl. v. 4.2.2010, 1 BvR 369/04. BVerfG, Beschl. v. 4.2.2010, 1 BvR 369/04, Rn. 36. BVerfG, Beschl. v. 4.2.2010, 1 BvR 369/04, Rn. 36. BVerfG, Beschl. v. 4.2.2010, 1 BvR 369/04, Rn. 36.

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daran, dass ausländischen Personen der ihnen zustehende soziale Achtungsanspruch261 verweigert wird. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut, Begleitumstände müssen in diesem Punkt nicht herangezogen werden. Die Formulierung „für ein lebenswertes deutsches Augsburg“ in der Kombination mit dem Begriff „Ausländerrückführung“ macht deutlich, dass die Urheber des Plakats den „Wert“ ihres eigenen Lebens durch die bloße Existenz von „Ausländern“ in der gleichen Stadt beeinträchtigt sehen. Ein tatsächlicher Grund für diese Beeinträchtigung, sei er zutreffend oder nicht, wird gerade nicht angeführt. Das Plakat knüpft weder an eine migrationspolitische Streitfrage noch an ein sonstiges Problem an, das etwas mit der benannten Personengruppe oder der eigenen Lebensrealität zu tun hat. Da ein solcher Aufhänger fehlt, ist umso klarer, dass es nicht um einen Beitrag zum politischen Meinungskampf geht, sondern um die bloße Abwertung bestimmter Menschen aufgrund ihres Menschseins. Wiederum knüpft der Plakattext an bestehende rassistische Denkfiguren an. Abgewertet werden damit nicht „nur“ ausländische Menschen, sondern jede Person, die im Wege des Otherings als „fremd“ gelesen wird. Die vermeintlich objektive Bewertung des Meinungsbeitrags überdeckt das besondere „Kränkungspotential“ 262 der politischen Äußerung. Die Rechtsprechung stützt sich zur Auslegung auf ein verständiges Durchschnittspublikum. Den Maßstab dieses Verstandes können nur solche Stimmen prägen, die im Diskurs auch tatsächlich vorkommen. Rassismus führt als Ausgrenzungsmechanismus dazu, dass bestimmte Wahrnehmungen nicht in gleicher Weise maßstabsbildend werden können wie andere, privilegierte Sichtweisen. Einer Kommunikation, die Menschen aufgrund ihrer (vermeintlichen) Identität herabsetzt oder bedroht („Hate Speech“)263, folgen regelmäßig Einschüchterungseffekte.264 Es handelt sich bei der Arena des Meinungskampfes eben gerade nicht um einen „neutralen Marktplatz der Ideen“.265 Vielmehr verzerren Verstummungseffekte (sog. Silencing) die diskursive Realität, weil einseitig bestimmte Stimmen feh-

261 262

Vgl. BVerfGE 87, 209 – Tanz der Teufel (1992). Stefan Magen, Kontexte der Demokratie, in: VVDStRL 77 (2018), S. 67–104

(88). 263 Die Definition für „Hassrede“ des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) lautet: „Äußerungen, welche die menschenrechtlichen Kernprinzipien wie die Menschenwürde und Gleichheit verachten und den Zweck verfolgen, Einzelpersonen und Gruppen zu degradieren und in ihrem gesellschaftlichen Ansehen zu schädigen.“ Übersetzung d. Autorin. CERD, General Recommendation No. 35 v. 26.9.2013, Combating racist hate speech, Rn. 10. 264 Dies bestätigte eine Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft. Siehe Daniel Geschke u. a., #Hass im Netz, i. A. v. campact e. V., 2019, insbesondere S. 26 ff., https://blog.campact.de/wp-content/uploads/2019/07/Hass_im_Netz-Derschleichende-Angriff.pdf. 265 Formulierung nach U.S. Supreme Court, Abrams v. United States, 250 U.S. 616 (1919).

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len.266 Dies beeinflusst wiederum den Prozess der Meinungsbildung, weil sich die Meinungsvielfalt insgesamt reduziert. Damit verschiebt sich die gesellschaftlich wahrgenommene Realität und bestimmte Positionen erscheinen als vermeintliche Mehrheitsposition anschlussfähig(-er).267 Der Rückzug aus dem Diskurs betrifft dabei nicht alle Menschen gleich, sondern diejenigen stärker, die ohnehin von Ungleichheitslagen betroffen sind.268 Ein Eingriff in die Meinungsfreiheit kann in den beschriebenen Fällen nur aus Sicht jener Menschen als Beschränkung von Freiheit empfunden werden, die zuvor nicht von den einschüchternden Effekten der Hassrede betroffen waren. Den Staat trifft eine objektiv-rechtliche Pflicht zur Vorsorge gegen eine Eskalation und Verstetigung sozialer Konflikte, der er durch eine derart enge Auslegung, die die soziale Anerkennung als Mitglied einer Gruppe verkennt, nicht gerecht werden kann. Auch dem Ehrschutz wohnt eine kollektive, also gemeinschaftsbezogene Dimension inne.269 Verfassungsrechtlich ließe sich über einen das allgemeine Persönlichkeitsrecht überragenden Schutzanspruch vor einer gruppenbezogenen Herabwürdigung – gestützt auf Art. 3 Abs. 3 GG – nachdenken.270 Unabhängig davon sollte jedenfalls auch die Herabwürdigung von Gruppen und ihren Mitgliedern als Sachverhalt anerkannt werden, der zur Einschränkung der Meinungsfreiheit grundsätzlich geeignet ist.271 Zu diesem Zwecke könnte § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB auf sämtliche Diskriminierungsmerkmale des Art. 3 Abs. 3 GG ausgedehnt werden.272 Weder die Figur des objektiven Empfängers273 der Aussage noch der dogmatische Weg über die bloße Prüfung alternativer Deu266 Eine aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass 42 % der Befragten Beiträge im Netz vorsichtiger formulieren oder nicht posten, aus Angst vor Hassrede. Elisa Hoven/Forschungsgruppe g/d/p, Hate Speech: Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, 9.7.2020, S. 7. Siehe auch Katharine Gelber/Luke McNamara, Evidencing the harms of hate speech, in: Social Identities, Vol. 22 3/2016, S. 324–341. 267 Daniel Geschke u. a., #Hass im Netz, i. A. v. campact e. V., 2019, S. 28 f. 268 Etwa Frauen: Regina Frey, Geschlecht und Gewalt im digitalen Raum, 2020. Etwa rassifizierte Menschen: Daniel Geschke u. a., #Hass im Netz, i. A. v. campact e. V., 2019, S. 23. 269 Zuerst Susanne Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, S. 329. 270 Überzeugend m.w. N. Stefan Magen, Kontexte der Demokratie, in: VVDStRL 77 (2018), S. 67–104 (88). 271 Ebenfalls Stefan Magen, Kontexte der Demokratie, in: VVDStRL 77 (2018), S. 67–104 (94). Diese Logik beinhaltet auch das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität. Die Gesetzesbegründung weist das Ziel aus, den politischen Diskurs vor Angriffen und Infragestellungen zu schützen. Eine besondere Gefährdung wird wegen der großen Reichweite für das Internet angenommen. BT-Drs. 19/17741 v. 10.3.2020. 272 Berit Völzmann, Freiheit und Grenzen digitaler Kommunikation, MMR 2021, S. 619–624 (623). In eine ähnliche Richtung geht das OLG Köln, wenn es erstmals Frauen als Teile der Bevölkerung i. S. d. § 130 Abs. 2 Nr. 1a StGB einordnet: OLG Köln, Urt. v. 9.6.2020, 1 RVs 77/20. 273 Zur Kritik des rechtlichen Ideals der Objektivität: Kapitel 2, A. II., ab S. 101.

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tungsgehalte ist geeignet, ehrverletzende Gehalte einer Meinungsäußerung angemessen zu berücksichtigen. Aus einer solchen Herangehensweise ergibt sich eine „gleichheitsrechtliche Leerstelle“ 274 der verfassungsrechtlichen Beurteilung rassistischer Aussagen. Es macht einen Unterschied, welche Personengruppe mit einer Beleidigung adressiert wird. Mittlerweile eröffnet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eben diese spezifische Betroffenenperspektive in die Abwägung einzustellen. Im bereits erwähnten Ugah-Ugah-Beschluss aus dem Jahr 2020 vergleicht das Gericht die gleiche Aussage, Affenlaute, in zwei unterschiedlichen Fällen. Das Bundesverfassungsgericht stellt explizit auf eine machtkritische Bewertung ab, wenn es ausführt: „Im Vergleich mit einer Situation im Fußball, wo dieselbe Äußerung die Leistung eines prominenten hellhäutigen, ,weißen‘ Spielers kommentierte, hat das Landesarbeitsgericht zudem klargestellt, dass die konkrete Situation einer Auseinandersetzung im Betriebsrat mit einem dunkelhäutigen Kollegen entscheidende Bedeutung dafür hat, dass hier die Herabwürdigung der Person im Vordergrund stand.“ 275

In der Rechtswissenschaft lebt indes der Fehlschluss fort, rassistische Beleidigungen könnten jenseits der sie prägenden Machtstruktur bewertet werden. In einer Besprechung des Beschlusses durch den publizierenden Anwalt Rüdiger Zuck wirft der Autor den Instanzgerichten des Verfahrens vor, die konkrete Sprechsituation der Beleidigung zu übersehen; insbesondere der üblicherweise raue Umgangston des konkreten Gesprächs und die Tatsache, dass dieses nicht öffentlich war, seien nicht angemessen berücksichtigt worden. Es sei unter den sich vertrauten Teilnehmern gängig gewesen, sich in den Sitzungen mit „Du Arschloch“ anzusprechen. Diese Umstände würden „abwertenden Aussagen ihren diskriminierenden Charakter“ nehmen.276 Gleichwohl der Kontext der Situation grundsätzlich in der Abwägung berücksichtigt werden muss, trägt die Argumentation aus verschiedenen Gründen nicht. Zunächst unterstellt Zuck durch den Verweis auf die Nichtöffentlichkeit, ein Diskriminierungsverbot würde die betroffene Person lediglich in ihrem öffentlichen Ansehen schützen. Er steht damit stellvertretend für eine verbreitete Auffassung in der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis.277 Eine solche Sichtweise verkürzt den Diskriminierungsschutz massiv und ist nicht in der Lage, das Verletzungspotenzial einer diskriminieren274 Die Formulierung geht zurück auf Eva Bredler/Nora Markard, Grundrechtsdogmatik der Beleidigungsdelikte im digitalen Raum, in: JZ 18/2021, S. 864–872. Beide diskutieren ein gleichheitsrechtliches Update der Grundrechtsabwägung von Hassrede. In eine ähnliche Richtung argumentiert Berit Völzmann, Freiheit und Grenzen digitaler Kommunikation, MMR 2021, S. 619–624. 275 BVerfGK, Nichtannahmebeschl. v. 2.11.2020, 1 BvR 2727/19, Rn. 18 – Ugah, Ugah. 276 Rüdiger Zuck, Ist Ugah eine rassistische Beleidigung?, in: NZA 2020, S. 166–169 (169). 277 Dies illustriert nicht zuletzt die Rechtsprechung zu den Diskotheken-Fällen in Kapitel 3, B. I. 3., S. 175 ff.

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den Äußerung zu erfassen. Zwar kann sich dieses durch eine öffentliche Diffamierung und Stigmatisierung verstärken, jedoch knüpft auch eine im privaten Gespräch getätigte Aussage an die überindividuelle Abwertungsstruktur an. Indem die Beleidigung die Dimension dieser Ungleichheitsmatrix aufgreift, aktiviert und auf diesem Wege stärkt, reicht deren Wirkung über den Einzelfall hinaus. Auch Zucks Vergleich einer rassistischen mit einer sonstigen ehrverletzenden Äußerung greift aus diesem Grund gerade nicht. Eine aufgeheizte Gesprächsatmosphäre rechtfertigt womöglich, ähnlich aufgebracht zu reagieren, eine rassistische, menschenwürdeverletzende Aussage dagegen ist gerade nicht abwägbar. Zuck ist der Ansicht, auch andere Beleidigungen wie „dumme Kuh, blöde Gans [. . .], doofe Ziege [. . .] (oder) blöder Hund“ seien dem Grunde nach rassistisch, weil „die in Bezug genommenen Tiere [. . .] ihrer jeweiligen Rasse angehören“.278 Der Autor ignoriert den strukturellen Unterschied zwischen einer (potenziellen) Ehrverletzung und einer rassistischen Beleidigung, welche historisch gewachsene Unterdrückungs- und Gewaltverhältnisse sprachlich reproduziert. Im Vergleich zu einer „gewöhnlichen“ Beleidigung reaktiviert eine rassistische Abwertung eine jahrhundertelange Diskriminierungserfahrung, die der Ehrverletzung ein anderes Gewicht verleiht. Es besteht nicht die gleiche, sondern eine individuell verschiedene Verletzlichkeit, die das Recht abzubilden in der Lage sein muss. Nicht das Verfassungsgericht, sondern Zuck selbst berücksichtigt die konkreten Umstände der Sprechsituation nur unangemessen. Sein Fehlschluss steht stellvertretend für eine noch immer überwiegend machtunkritische Auswertung (potenziell) rassistischer Äußerungen. Überdeutlich wird dies an einer weiteren Stelle seines Artikels. Um die dargestellte Argumentationslinie zu untermauern, beschreibt Zuck eine scheinbar alltägliche Kommunikationssituation: „Wenn der mit einer weißen Frau verheiratete Farbige beim Frühstück für seinen Obstsalat nach weiteren Bananen ruft, und die Ehefrau darauf ,Ugah Ugah‘ sagt, dann ist das eben in diesem Zusammenhang nicht mehr als harmloser Spott.“ 279

Kurz zuvor behauptet der Autor, der Ausruf „Ugah Ugah“ sei kein Affenlaut, sondern vielmehr „eine frei erfundene menschliche Äußerungsvariante bei Steinzeitmenschen“.280 Er selbst jedoch verknüpft in der frei erdachten Gesprächssi278 Rüdiger Zuck, Ist Ugah eine rassistische Beleidigung?, in: NZA 2020, S. 166–169 (167). Der rassistische Beitrag wurde mittlerweile vom Beck-Verlag zurückgenommen. Innerhalb der Rechtswissenschaft haben Zucks rassistische Aussagen Widerstand ausgelöst. Stellvertretend: Kollektiv gegen Rassismus in der Rechtswissenschaft, Rassismus ist nicht „Meinungsvielfalt“!, VerfBlog, 2021/2/12. Zur Kritik und Einordnung Hendrik Wieduwilt, Aus Freude am Rassismus, in: übermedien v. 11.2.2021; Valentina Chiofalo/ Carolin Stix, Einzelfall oder strukturelles Problem?, in: djbZ 2021, S. 45–46; Anna Katharina Mangold, „Ugah“ ist menschenverachtend, in: Austermann u. a. (Hg.), Recht gegen Rechts, 2022, S. 103–109 (105 ff.). 279 Rüdiger Zuck, Ist Ugah eine rassistische Beleidigung?, in: NZA 2020, S. 166–169 (169). 280 Rüdiger Zuck, Ist Ugah eine rassistische Beleidigung?, in: NZA 2020, S. 166–169 (168).

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tuation das semantische Bild eines bananenliebenden Affen mit einem schwarzen Mann281 und wiederum mit den geäußerten Lauten. Damit widerlegt er seine Behauptung, der Ausruf „Ugah Ugah“ habe mit Affenlauten „überhaupt nichts zu tun“.282 Er greift – wahrscheinlich ohne sich dieses Umstands bewusst zu sein – eine der wirkmächtigsten kolonialrassistischen Markierungen schwarzer Menschen auf, die deren machtpolitische Entmenschlichung symbolisiert. Die rassistische Verknüpfung diente dazu, die Körperlichkeit der versklavten Bevölkerung zu betonen, um deren imperialistische Ausbeutung ideologisch zu plausibilisieren. Die Verknüpfung von Banane, Affe und einem schwarzen Menschen wurde in zahlreichen Filmen, Büchern und Bildern aufgegriffen und ist auf diese Weise bis heute kulturell fest im kollektiven Bewusstsein verankert.283 b) N-Wort-Entscheidungen Dieses mangelnde Verständnis für diskursive Machtverhältnisse illustrieren ebenfalls zwei Entscheidungen zur Verwendung des N-Wortes. Zunächst geht es um die parlamentarische Aussprache des Antrags „Leistungsmissbrauch verhindern: Sachleistungen für Asylbewerber und Ausreisepflichtige“ der AfD-Fraktion im Landtag Mecklenburg-Vorpommern vom 25. Oktober 2018. Ein Abgeordneter, Nikolaus Kramer, nutzte in der emotional aufgeheizten Debatte mehrfach, zunächst als Zwischenruf und dann in einer Rede, das N-Wort.284 Er adressiert mit dem Begriff Asylsuchende und möchte öffentlich provozieren. Als eine Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE ihm vorwirft, alle Asylsuchenden als Kriminelle zu denunzieren, statt über ein Leben in einer friedlichen Gesellschaft nachzudenken, merkt er spöttisch fragend an „um mit den [N-Wort] dort zu wohnen“.285 Er bestätigt außerdem, dass er einen jungen Mann aus Afrika, der sich nur „äußerst schwer integrieren kann“, „gern“ mit N-Wort adressiert.286 Seine Wortbeiträge sorgen für Empörung seitens der anderen Fraktionen. Er selbst kommentiert die Verwendung des Wortes wenig später grundsätzlich und entsprechend deutlich:

281 Zur rassistischen Darstellung eines schwarzen Fußballers als Affe siehe OLG Stuttgart, Urt. v. 19.5.2009, 2 Ss 1014/09. Das OLG wertet einen entsprechenden Plakattext als Beleidigung und Volksverhetzung. 282 Siehe Rüdiger Zuck, Ist Ugah eine rassistische Beleidigung?, in: NZA 2020, S. 166–169 (168). 283 Für einen kurzen, obgleich lesenswerten Text zur kulturgeschichtlichen Erzeugung dieser Verknüpfung: Sami Omar, Von Schwarzen und Bananen, in: Belltower News v. 9.6.2017. 284 Die Bezeichnung „N-Wort“ kürzt ein kolonialrassistisches Schimpfwort für schwarze Menschen ab. Die Abkürzung soll helfen, die gewaltvollen Erfahrungen, die sich mit dem Begriff verbinden, nicht zu reproduzieren. 285 Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Plenarprotokoll 7/47 v. 25.10.2018, S. 30. 286 Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Plenarprotokoll 7/47 v. 25.10.2018, S. 35.

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„Dann komme ich mal zu einer ganz grundsätzlichen Sache. Das Wort ,[N-Wort]‘ habe ich bewusst gewählt, Herr Ritter, weil ich mir eben nicht vorschreiben lasse, was hier Schimpfwort sei oder was nicht.“ 287

Am Ende der Sitzung kündigt die Vizepräsidentin des Landtags an, die Plenarprotokolle noch einmal überprüfen zu wollen, um gegebenenfalls nachträglich Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen.288 Dazu kam es in der übernächsten Sitzung: Dem Abgeordneten Kramer wird nachträglich ein Ordnungsruf (§ 97 Abs. 1 GO LT)289 erteilt, weil er sich der Konnotation des Wortes in einer öffentlichen Sitzung des Landtages hätte bewusst sein müssen.290 Gleichwohl Kramer bereits in der ersten Sitzung selbst einräumte, der Zwischenruf sei „möglicherweise unparlamentarisch“ 291 gewesen, legt er gegen den Ordnungsruf Einspruch ein. Dieser wird vom Ältestenrat zurückgewiesen. Daraufhin wendet er sich im Wege des Organstreitverfahrens an das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern, um die Verletzung seines parlamentarischen Rederechts feststellen zu lassen. Das Gericht entscheidet, dass der ausgesprochene Ordnungsruf rechtswidrig ist, weil der Abgeordnete mit der Benutzung des N-Wortes „jedenfalls nicht in allen Fällen die Würde des Hauses“ verletzt habe und die Voraussetzungen des § 97 Abs. 1 GO LT daher nicht erfüllt seien. Die Ansicht des Gerichts ergibt sich aus der Einschätzung, das Schimpfwort könne durchaus unterschiedlich verwendet werden, nämlich einerseits als „Sprechen“ und anderseits als „Sprechen über Sprache“: „Das Wort [N-Wort] wird zwar nach heutigem Sprachgebrauch in der Regel als abwertend verstanden [. . .]. Ob es tatsächlich abwertend gemeint ist, kann jedoch nur aus dem Zusammenhang beurteilt werden. [. . .] Wenn ein Abgeordneter [. . .] also etwa im Rahmen einer Diskussion über ,politische Korrektheit‘, über ,Sprache, Diskriminierung und Rassismus‘ oder ähnliches – von der Verwendbarkeit des Wortes [N-Wort], von einem Bedeutungswandel des Wortes und dessen Ursachen spricht, so kann er das Wort selbst benutzen, anstatt es zu umschreiben. Die Verwendung des Wortes kann in einem solchen Kontext nicht ohne weiteres als bloße Provokation oder Herabwürdigung aufgefasst werden; sie kann vielmehr Bestandteil einer inhaltlichen Stellungnahme sein. So ist der Fall hier gelagert, soweit der Antragsteller [. . .] ganz grundsätzlich die Frage der Verwendbarkeit des Wortes [N-Wort] aufwirft.“ 292

Das Ergebnis der Subsumtion schließt sich der folgenden grundsätzlichen Bewertung an: „Der nachträglich erteilte Ordnungsruf rügt nach seinem Wortlaut die Verwendung des Wortes [N-Wort] allgemein und unabhängig vom Zusammenhang. Die Vizepräsi287

Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Plenarprotokoll 7/47 v. 25.10.2018, S. 34. Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Plenarprotokoll 7/47 v. 25.10.2018, S. 150. 289 Die aktuelle Geschäftsordnung des Landtages Mecklenburg-Vorpommern ist abrufbar unter: https://www.landtag-mv.de/fileadmin/media/Dokumente/Landtag/Ge schaeftsordnung_WP7.pdf. 290 Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Plenarprotokoll 7/49 v. 21.11.2018, S. 4. 291 Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Plenarprotokoll 7/47 v. 25.10.2018, S. 150. 292 LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 19.12.2019, LVerfG 1/19, Rn. 38. 288

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

dentin hält dem Antragsteller mit dem Ordnungsruf vor, dass er ein Wort benutzt habe, das von der Gesellschaft als Schimpfwort und als abwertende Bezeichnung für Menschen mit dunkler Hautfarbe verstanden werde. Dagegen knüpft sie nicht an die konkreten Äußerungen des Antragstellers an. [. . .] Der Ordnungsruf erfasst damit auch die Äußerung, in der er das Wort [N-Wort] verwendet hat, um zu erklären, dass er der Auffassung sei, dieses Wort verwenden zu dürfen.“ 293

Dieser Deutung liegt die linguistische Unterscheidung zwischen einem Sprechen in „Objektsprache“ und „Metasprache“ zugrunde. Während Erstere als natürliche Sprache zu verstehen ist, mit der auf außersprachliche Phänomene Bezug genommen werden kann, wird die Metasprache genutzt, um Aussagen etwa der Objektsprache zu besprechen – eben auf einer Metaebene.294 Der Rückzug in die Metasprache darf jedoch kein Schlupfloch sein, um die Grenzen des Sagbaren auszudehnen bzw. hier die Würde des Hauses zu verletzen. Wenn das Gericht unterstellt, man könne auf beiden Ebenen gleichzeitig kommunizieren, ohne die konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen, unterliegt es nicht nur einem offensichtlichen Logikfehler, es überlässt die Prüfung eines beleidigenden Gehalts der Äußerung dem Sprechenden selbst. Anders als vom Gericht nahegelegt, bespricht der Abgeordnete nämlich gerade nicht einen etwaigen „Bedeutungswandel“ des Wortes, sondern postuliert, es handele sich bei der gewählten Bezeichnung für ihn um keine Beleidigung. Dies festzustellen ist Aufgabe des Gerichts. Nicht in die Bewertung eingestellt wird zudem die spezifische Wirkung des konkreten Schimpfwortes im parlamentarischen Kontext.295 Das Landesparlament ist als legislative Gewalt gem. Art. 1 Abs. 3 GG dem Nichtdiskriminierungsgrundsatz verpflichtet. Bezeichnenderweise erwähnt das Gericht Art. 3 Abs. 3 GG nicht. Auch die Wirkung, die von dem Begriff für nichtweiße Menschen ausgeht, bleibt unerwähnt. Wiederum fehlt der gerichtlichen Argumentation eine machtkritische Prüfungsperspektive, welche Rassismus als diskursives Herrschafts- und Exklusionsverhältnis ernst nimmt. Diese Schwachstelle illustriert die als unzureichend beschriebenen Kenntnisse deutscher Gerichte zu den konstruktivistischen Konzepten Rasse und Rassismus. Noch im Jahr 2002 hatte das Arbeitsgericht Frankfurt beispielsweise „erhebliche Zweifel daran, dass bei heutigem Sprachgeschehen [. . .] [dem N-Wort] überhaupt eine bestimmte (ausländerfeindliche) Gesinnung zugeordnet werden kann, nachdem in vielen, großteils amerikanischen, Kinofilmen das [. . .] [N-Wort] als dem täglichen Sprachgebrauch zugehörig präsentiert wird“.296

293 294

LVerfG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 19.12.2019, LVerfG 1/19, Rn. 32. Ausführlich Ulrich Winfried, Wörterbuch linguistische Grundbegriffe, 5. Aufl.

2002. 295 Dazu Anna Katharina Mangold/Sinthiou Buszewski, Worüber man nichts sagen kann, darüber soll man schweigen, VerfBlog, 2019/12/23. 296 Der Entscheidung zugrunde liegt nicht das deutsche N-Wort, sondern die verwandte englische Bezeichnung, ArbG Frankfurt, Urt. v. 27.3.2002, 14 Ca 6501/01.

B. Vermeidungsdiskurse um Rassismus als Subalternisierung

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Auch das Arbeitsgericht ist nicht in der Lage, zwischen unterschiedlichen Verwendungen des N-Wortes – einmal als kolonialrassistische Beleidigung schwarzer Menschen und einmal als transformative, subkulturelle Selbstbezeichnung – zu unterscheiden. In einem ähnlich gelagerten Fall lehnte es die Staatsanwaltschaft Traunstein bereits ab, wegen der Verwendung des N-Wortes im Kontext einer rassistischen Abwertung ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Der bayrische AfD-Landtagsabgeordnete Andreas Winhart äußerte sich im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung in Bad Aibling am 30. September 2018 wie folgt: „Es gibt unglaublich viele HIV-Fälle, die gibt es ja in Schwarz-Afrika, das wissen wir. Es gibt aber auch Krätze, meine Damen und Herren, es gibt TBC bei uns wieder. Ich möchte wissen, wenn mich in der Nachbarschaft ein [N-Wort] anküsst oder anhustet, dann muss ich wissen, ist der krank oder ist der nicht krank, liebe Freunde und das müssen wir sicherstellen.“ 297

Als Beleg verweist Winhart auf das ortsansässige Gesundheitsamt, welches er den Sachstand habe „nachrecherchieren lassen“. Das besagte Gesundheitsamt widerspricht dieser Referenz und negiert einen Zusammenhang zwischen Migrationsbewegungen und steigenden Krankheitszahlen: „Wir stellen fest, dass ,unglaublich viele HIV-, TBC- und Krätzefälle‘ wie Winhart behauptet, durch das Gesundheitsamt für Stadt und Landkreis Rosenheim nicht bestätigt werden können.“ 298

Der Politiker sprach im Rahmen einer weiteren Wahlkampfveranstaltung ebenfalls zur Seenotrettung flüchtender Menschen im Mittelmeer: „Wir haben am 14. Oktober die Chance, die AfD in den bayrischen Landtag hineinzuschicken [. . .] und die Soros-Flotte mit den ganzen Rettungsbooten im Mittelmeer zu versenken.“ 299

Die Staatsanwaltschaft prüft, ob die genannten Äußerungen den Tatbestand der Volksverhetzung verwirklichen oder unter dem grundrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit stehen. Wiederum werden zur Klärung dieser Einschätzung nichtstrafbare Deutungsvarianten reflektiert. Schließlich lehnt die Staatsanwaltschaft einen hinreichenden Verdacht hinsichtlich der Erfüllung des Tatbestands des § 130 StGB ab. Erstere sei aus dem folgenden Grunde nicht strafbar: 297 Das Video des gesamten Vortrages ist nicht mehr online, als Teil anderer Ausschnitte ist es hingegen leicht auffindbar. Beispielsweise hier: https://www.rfo.de/me diathek/video/ermittlungen-gegen-andreas-winhart/. 298 Die Stellungnahme des Gesundheitsamts Rosenheim ist aktuell nicht mehr abrufbar. Der Auszug ist zitiert nach: Christopher Bonnen, Gefahr durch Krätze und TBC?, tagesschau.de v. 18.10.2018. 299 Zitiert nach Frederik Schindler, AfD-Landesfraktion in Bayern, taz v. 18.10.2018. Mit der Bezeichnung „Soros-Flotte“ nimmt der Redner Bezug zu Seenotrettungs-Organisationen, die der Investor George Soros finanziell unterstützt. Um Soros ranken sich verschiedene, antisemitische Verschwörungserzählungen, er wird in rechtsextremen Kreisen zum Feindbild stilisiert.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

„Die Aussagen in Bezug auf schwarzafrikanische Flüchtlinge stehen im Zusammenhang mit weiteren Äußerungen zur Gesundheitspolitik. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass sich Andreas Winhart für eine gesundheitspolitische Maßnahme aussprechen wollte.“ 300

Auch die zweite Aussage schien für die Staatsanwaltschaft zu unbestimmt zu sein, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten: „Seine Äußerung muss nicht zwingend dahingehend verstanden werden, dass er tatsächlich zum Versenken von Schiffen aufrufen wollte. Aufgrund des Gesamtzusammenhangs kommt auch eine Interpretation der Passage als Aufruf zur Änderung der Flüchtlingspolitik dahingehend, dass weniger Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen werden, in Betracht.“ 301

Die benannten sachpolitischen Bezüge der Äußerungen wirken konstruiert. Wiederum scheint aus dem Blick geraten zu sein, dass die nichtstrafbare Deutungsalternative nicht nur möglich, sondern im konkreten Zusammenhang naheliegend sein muss. 5. Zwischenergebnis Zu häufig führt die bestehende Dogmatik der mehrdeutigen Äußerungen in der gerichtlichen Praxis dazu, dass in einem Verfahren intensiv über mögliche Deutungsalternativen nachgedacht, der tatsächliche Kern eines Diskursbeitrags allerdings nur unzulänglich freigelegt wird. Ein solch liberales Verständnis der Meinungsfreiheit neigt zu einem formalen Demokratieverständnis, das tatsächliche Macht- und Ausschlussverhältnisse nicht erfassen kann. Die Subalternitätsforschung untermauert die Forderung, gleichheitsrechtliche Erwägungen in die Prüfung der Grenzen der Meinungsfreiheit einzustellen.

III. Conclusio: Rassismus „überhören“ Die deutsche Rechtsprechung operiert mit einem verkürzten „Rasse“- und Rassismusverständnis. Als verkürzt bezeichne ich das Verständnis deshalb, weil die gerichtliche Prüfung Schwierigkeiten zeigt, das Phänomen Rassismus adäquat zu erfassen. Überdies bleibt die strukturell-diskursive Ebene von Rassismus als Machtverhältnis unberücksichtigt. Während im Strafrecht die rassistische Dimension eines Tathergangs häufig gar nicht erkannt wird, scheinen die Arbeitsgerichte insgesamt etwas sensibler in der Prüfung von Rassismus zu sein. Gleichzeitig zeigt auch die arbeitsrechtliche Judikatur erhebliche Schwachstellen und logische Argumentationsfehler, die dazu führen, rassische Diskriminierung zu bagatellisieren. In den ausgewerteten AGG-Fällen fehlte es den Gerichten an einem 300 Leitender Oberstaatsanwalt in Traunstein, Pressemitteilung v. 12.2.2019, abrufbar unter: https://www.justiz.bayern.de/gerichte-und-behoerden/staatsanwaltschaft/traun stein/presse/2019/1.php. 301 Ebd.

C. Rassifizierungsprozess als Subalternisierung

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theoretischen Verständnis für die ausgrenzende Wirkung rassistischer Diskriminierungserfahrungen. Insgesamt ist eine Tendenz erkennbar, Rassismus mit Rechtsextremismus gleichzusetzen. Indes führt diese Gleichsetzung nicht dazu, dass die Gerichte einen potenziell antisemitischen Sachverhalt mit höherer gleichheitssensibler Kompetenz bewerten. Innerhalb der Prüfung der Volksverhetzung wurde deutlich, dass die Grundrechtsabwägung von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht dringend gleichheitsrechtlich aufgewertet werden muss, um bestehende Schutzlücken zu schließen. Die gerichtliche Praxis im Umgang mit mehrdeutigen Aussagen verkennt Einschüchterungseffekte und damit demokratische Gefahren, wenn mitunter die bloße Möglichkeit eines nichtstrafbaren Aussagegehalts ausreicht, um rassistische Gehalte einer Kundgabe auszublenden. Die Rechtsprechung perpetuiert auf diesem Wege den subalternen Status rassifizierter Menschen, gleichwohl Gerichte eigentlich als Instanz fungieren sollten, die ein gleichberechtigtes Sprechen und gegenseitiges Zuhören sichern. Aus diesem Grund wiegen die dargestellten Verkürzungen besonders schwer. Der Zugriff über die Subalternitätsforschung offenbart außerdem, dass ein ausdifferenzierter normativer Schutz vor Rassismus nicht automatisch zu einem reflektierten Umgang mit rassistischen Ungleichheitserfahrungen führt. Bestehende Rechtsgrundlagen zur Ahndung rassistischer Verhaltensweisen können nicht verhindern, dass infolge der gerichtlichen Argumentation Schutzlücken für die Betroffenen entstehen. Gleichzeitig zeigen viele Entscheidungen, dass jenseits dogmatischer Änderungen oder neuer rechtlicher Instrumente allein die Sensibilisierung für rassistische Ungleichheit die Gefahr der Subalternisierung deutlich abmindert. Die Rechtswissenschaft und Rechtspolitik sind zu diesem Zwecke angehalten, antirassistisches Wissen weiter zu stärken. Die Justiz ist aufgefordert, ihr Vorverständnis zu überdenken und diskriminierungsrechtliche Kompetenzen auszubauen.

C. Zweiter Analyseteil: Rassifizierungsprozess als Subalternisierung Der zweite Teil der Rechtsprechungsanalyse untersucht Sprechakte, die vor Gericht verzerrt und damit subalternisiert werden. Zu diesem Zweck spürt das Kapitel anhand des weiter oben fundierten Rassifizierungsschemas der Frage nach, inwiefern nichtweiße Stimmen vor Gericht markiert, positioniert, neutralisiert werden und ob sich infolgedessen Ausschlüsse formieren.302 Dabei ist es kaum möglich, die theoretischen Teilschritte des Rassifizierungsprozesses als solche, sozusagen in „Reinform“, abzubilden. Die Einheiten stellen analytische Parameter dar, kein tatsächliches Ablaufmodell; sie sollen die Untersuchung insofern lediglich rahmen. Insbesondere die Schritte der Markierung und Positio302

Ausführlich zum Prozess der Rassifizierung: Kapitel 1, C. II., S. 84 ff.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

nierung fallen typischerweise zusammen, da das gekennzeichnete Merkmal häufig unmittelbar mit einer bestimmten, in der Regel untergeordneten Wertung in der zu erzeugenden Ordnung versehen wird. Die besprochenen Entscheidungen greifen Sachverhalte auf, die in der (kritischen) Rechtswissenschaft – im Vergleich zum vorherigen Abschnitt – einer lebhafteren Diskussion zugeführt wurden. Aus diesem Grund soll das Augenmerk weniger auf einer detaillierten Schilderung des Verfahrensgangs liegen als vielmehr auf den Mechanismen der Rassifizierung und ihrer subalternisierenden Implikation, die sich – so die These – in der gerichtlichen Bewertung aufzeigen lässt. Im Vergleich zum ersten Abschnitt entspricht die Subalternisierung hier einer anderen Logik. Aus der verzerrenden Wahrnehmung der rassifizierten Stimme vor Gericht folgt zwar ebenfalls, dass die rassistische Dimension der Bewertung keine hinreichende Beachtung findet. Anders als bisher prüfen die Gerichte aber keine potenziell rassistische Handlung oder Aussage, sondern inkorporieren rassifizierte Deutungen in eine scheinbar neutrale Beurteilung eines Sachverhalts. Erst im Vergleich zu ähnlichen, nicht rassifizierten Konstellationen fällt die differente Beurteilung auf. Die Subalternisierung entspricht insofern keiner Dethematisierung von Rassismus, vielmehr wird erst eine eingeschränkte Diskursposition begründet. Die gerichtliche Argumentation greift dabei rassifiziertes Wissen auf und stabilisiert dieses.

I. Christlich und objektiv vs. die „tendenziöse Richterin mit Kopftuch“ Den ersten Untersuchungsbereich bilden legislative und exekutive Kopftuchverbote303 in der Justiz. In der verfassungsrechtlichen Diskussion wurde „der Stoff, aus dem Konflikte sind“ 304 zunächst für muslimische Lehrerinnen im staatlichen Schuldienst verhandelt.305 In einer ersten Entscheidung aus dem Jahr 2003 überlässt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den Streitfall der 303 Hier und im Folgenden geht es um das Tragen eines Hidschabs, also um ein Kopftuch, das Haare, Hals, Schulter- und meist auch den Brustbereich bedeckt und das Gesicht frei lässt, nicht um eine Burka oder eine Vollverschleierung. Diese würden andere Rechtfertigungsfragen aufwerfen. 304 Vgl. Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind, 2009. 305 BVerfGE 108, 282 – Kopftuch I (2003); dann gegenteilig BVerfGE 138, 296 – Kopftuch II (2015); BVerfGK, NJW 2017, S. 381 – Kopftuch Erzieherin. Zur Darstellung der „Kopftuch-Streitigkeiten“ vor dem BVerfG: Robert Chr. van Ooyen, Das Bundesverfassungsgericht und der „Kopftuch-Streit“, 3. Aufl. 2020. Jüngst machte ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen nach dem Berliner Neutralitätsgesetz Schlagzeilen. Die Bildungsverwaltung Berlin bestritt die Bindung an BVerfGE 138, 296: BAG, Urt. v. 27.8.2020, 8 AZR 62/19. Zuvor beschäftigten die Gerichte passrechtliche Fragen zum „Lichtbild mit Kopftuch“ sowie arbeitsrechtliche Fragestellungen zu Kündigung wegen des Tragens eines Kopftuchs.

C. Rassifizierungsprozess als Subalternisierung

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Normkompetenz der Länder, wenn es ein legislatives Verbot als Ausdruck der Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers nach Art. 7 Abs. 1 GG für zulässig, aber nicht zwingend hält.306 Einige Bundesländer, darunter Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, ergriffen die Möglichkeit, religiöse Symbole in öffentlichen Schulen als abstrakte Gefahr für den Schulfrieden zu qualifizieren und infolgedessen zu verbieten. Eine solche Regelung stieß die zweite Kopftuchentscheidung an. Im Beschluss von 2015 entscheidet der Erste Senat, dass nur eine konkrete Gefahr ein Verbot rechtfertigen könne und ein pauschales Kopftuchverbot daher nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.307 In den vergangenen Jahren308 erstreckt sich die (rechts-)politische sowie akademische Debatte auch auf Referendarinnen im juristischen Vorbereitungsdienst (und Richterinnen), also auf den Gerichtssaal. Nachfolgend werte ich diesen, von vielen als sog. „dritte Kopftuchentscheidung“ bezeichneten Beschluss aus. Die vorangegangenen Entscheidungen zur Lehrerin mit Kopftuch dienen als Kontrastfolie, um die Argumentation des Gerichts einzuordnen. Sie lenken die Überlegung auf die Frage, ob zwischen dem öffentlichen Raum der Schule und des Gerichts Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, die eine differente Behandlung der Kopftuchfrage sinnvoll erscheinen lassen. Insgesamt nimmt die Rechtsprechung zur Lehrerin mit Kopftuch jedoch eine untergeordnete Rolle ein. Für die angestrebte Analyse des Rassifizierungsprozesses ist der Fall der Rechtsreferendarin, respektive der Richterin, deshalb das geeignetere Anschauungsfeld, da sich hier die weiter oben beschriebene regulative Idee rechtlicher Objektivität und Neutralität in einem noch stärkeren Maße auswirkt als im Schulbetrieb.309 1. Entscheidung des BVerfG – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen Zum prominenten Aufhänger der Diskussion wurde die Verfassungsbeschwerde einer Referendarin aus Hessen, die sich gegen ein ihr auferlegtes, pauschales Kopftuchverbot im Referendariat gerichtlich zur Wehr setzte. Das Verbot stütze sich auf die beamtenrechtliche Neutralitätspflicht nach § 45 Satz 1, 2 HBG, welche gem. § 17 Abs. 1 Satz 2 JAG auch auf Rechtsreferendar*innen entsprechend 306 BVerfGE 108, 282 – Kopftuch I (2003). Zur kritischen Einordnung Ute Sacksofsky, Kopftuchverbote in den Ländern – am Beispiel des Landes Hessen, in: Berghahn/Rostock (Hg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind, 2009, S. 275–293. 307 BVerfGE 138, 296 – Kopftuch II (2015). 308 2016 klagte erstmalig eine Rechtsreferendarin aus Bayern gegen die Weisung, das Kopftuch abzulegen. Verfahrensgang: VG Augsburg, Urt. v. 30.6.2016, Au 2 K 15.457; VGH Bayern, Urt. v. 7.3.2018, 3 BV 16.2040; BVerwG, Urt. v. 12.11.2020, 2 C 5/19. Das VG Augsburg entschied, dass das Kopftuchverbot mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig war. Der BayVGH hob die Entscheidung auf. Für das Kopftuchverbot wurde im Anschluss eine Rechtsgrundlage geschaffen: Art. 11 Abs. 2 BayRiStAG (GVBl. Bayern Nr. 5 v. 29.3.2018, S. 118–144 (122)). 309 Vgl. Kapitel 2, A. II., S. 101 ff.

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Anwendung findet.310 Zwar gefährdet eine solche Einschränkung nicht den formal vollwertigen Abschluss des Referendariats,311 die Ausbildungsrealität der kopftuchtragenden Referendarin wurde von dem Verbot jedoch stark beeinflusst. Ihr war es untersagt, eine Sitzungsleitung oder Beweisaufnahmen durchzuführen sowie die Staatsanwaltschaft zu vertreten. Einer Gerichtsverhandlung durfte sie lediglich im Publikum beiwohnen. Das Bundesverfassungsgericht kam im Eilrechtsschutzverfahren zu der Einschätzung, dass die Kleidungsvorschrift sowohl in die individuelle Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) eingreift als auch den Schutz der persönlichen Identität (Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 11 GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der betroffenen Person beeinträchtigt. Diese Eingriffe ließen sich aber verschiedentlich rechtfertigen.312 Das Gericht stützt sich zur Begründung – neben der negativen Religionsfreiheit der Prozessbeteiligten – vor allem auf die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, die „insbesondere auch für den [. . .] Bereich der Justiz“ 313 gelte. Eine entsprechende Neutralitätsanforderung formulierte das Bundesverfassungsgericht erstmalig im Jahr 1965.314 Das Gericht substantiiert die Neutralität als „ethischen Standard“ des Grundgesetzes, der bestimmt sei von der „Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen“.315 Die deutsche Verfassung verschreibt sich demnach gerade keinem laizistischen Modell, also keiner strikten Trennung von Staat und Religion. Die staatliche Neutralität verbietet lediglich eine Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion; was gerade nicht heißt, dass Religiosität staatlichen Institutionen völlig fernbleiben müsste. In dieser Tradition steht auch die Rechtsprechung zum Kopftuch der Lehrerin. Während das Bundesverfassungsgericht zunächst davon ausging, ein Verbot könne verfassungskonform gesetzlich ausgestaltet werden,316 trat der Erste Senat dieser Interpretation im Jahr 2015 entgegen und erklärte ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in der Schule als verfassungswidrig.317 Das Kopftuch im Klassenzimmer drücke die individuelle Glaubensüberzeugung 310 Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz v. 28.6.2007, 2220-V/A3-2007/ 6920-V („Neutralitätspflicht im juristischen Vorbereitungsdienst“). 311 Auf die Wahrnehmung der richterlichen Aufgaben und justizähnlichen Funktion besteht kein Rechtsanspruch („soll“), gleichwohl misst § 28 Abs. 1 S. 2 JAG den praktischen Aufgaben einen hohen Stellenwert bei. Diese sollen in einem möglichst weiten Umfang „selbstständig“ und „eigenverantwortlich“ erledigt werden. 312 BVerfG, Beschl. v. 27.6.2017 – 2 BvR 1333/17. 313 BVerfG, Beschl. v. 27.6.2017 – 2 BvR 1333/17, Rn. 48. 314 Erstmalig in BVerfGE 19, 206 (216) – Kirchenbausteuer (1965): „Das Grundgesetz legt [. . .] dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf“ (Herv. d. Autorin). 315 BVerfGE 41, 29 (50) – Simultanschule (1975). 316 BVerfGE 108, 282 – Kopftuch I (2003). 317 BVerfGE 138, 296 – Kopftuch II (2015).

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der Lehrerin aus und ist dem Staat daher gerade nicht zurechenbar. Lediglich im Einzelfall könne eine „Gefahr für den Schulfrieden“ bestehen, die einen Eingriff rechtfertige.318 Hinsichtlich der Rechtsreferendarin geht das Gericht über diese tradierte Deutung hinaus und konstruiert das Erfordernis einer weltanschaulich-religiösen Neutralität der Richterin als Repräsentantin des Staates. Verfassungsrechtlich stützt es diese Pflicht auf die richterliche Unabhängigkeit gem. Art. 97 Abs. 1, 2 GG, die bisher vor allem für die Mäßigung einer politischen Betätigung im Amt galt,319 und „amalgiert“ 320 jene mit der staatlichen Neutralitätsanforderung. Im Hauptsacheverfahren prüft das Gericht beide Verfassungsgüter getrennt voneinander und verneint die rechtfertigende Kraft der richterlichen Unparteilichkeit.321 Mit abweichender Begründung, aber gleichem Ergebnis konstatiert es: Der Sonderbereich der Justiz lasse es aufgrund seines hohen Formalisierungsgrades zu, das Tragen des Kopftuchs auf der Richterbank zu verbieten. Zwar sei ein sichtbar getragenes religiöses Symbol im richterlichen Dienst nicht grundsätzlich geeignet, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter*innen zu begründen, im Falle des Kopftuchs sei jedoch das gesellschaftliche Vertrauen in die Justiz gefährdet. Dieses normative Spannungsverhältnis könne vom Gesetzgeber in verfassungsrechtlich zulässiger Weise mit einem legislativen Kopftuchverbot aufgelöst werden.322 Die Entscheidung hat heftige Kritik ausgelöst und die rechtswissenschaftliche Rezeption stark polarisiert.323 Die aktuelle Rechtslage zeigt Unterschiede innerhalb des föderalen Systems. Einige Länder haben sog. „Neutralitätsgesetze“ er318 Zur Kritik an der Entscheidung sowie insbesondere der dogmatischen Figur des „Schulfriedens“ aus rassismuskritischer Perspektive: Cengiz Barskanmaz, Das Kopftuch als das Andere, in: Berghahn/Rostock (Hg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind, 2009, S. 361–392 (378 ff.). Siehe ebenfalls Ute Sacksofsky, Kopftuch als Gefahr – ein dogmatischer Irrweg, in: Deutsches Verwaltungsblatt 2015, S. 801–808 (803 ff., 806). 319 § 39 DRiG konkretisiert: „Der Richter hat sich innerhalb und außerhalb seines Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, dass das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird.“. 320 Anna Katharina Mangold, Justitias Dresscode, VerfBlog, 2017/7/06. 321 BVerfGE 153, 1 (36) – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (2020). 322 BVerfGE 153, 1 – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (2020). 323 Gegen ein Kopftuchverbot etwa: Kirsten Wiese, Ausdruck von Illiberalität: Kopftuchverbote in Deutschland, in: NLMR 2021, S. 5–12 (10 f.); Lorenz Leitmeier, Das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen, in: NJW 2020, S. 1036–1038; Mehrdad Payandeh, Das Kopftuch der Richterin aus verfassungsrechtlicher Perspektive, in: DÖV 2018, S. 482–488; Rike Sinder, Das Kopftuchverbot für Richterinnen. Ein Plädoyer für die Aufrechterhaltung der Allgemeinheit der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 57 (2018), S. 459–476. Zumindest „noch“ dafür: Wolfgang Hecker, Das BVerfG, das Kopftuchverbot im Justizbereich und die Folgen für die öffentliche Verwaltung, in: NVwZ 2020, S. 423–427; Marion Eckertz-Höfer, Kein Kopftuch auf der Richterbank, in: djbZ 2018, S. 1–3. Auch innerhalb rechtsfeministischer Strömungen fällt die Bewertung different aus. Dies illustrieren die unterschiedlichen Stellungnahmen in: djbZ Heft 1/2018.

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lassen, um die erforderliche gesetzliche Grundlage für ein Verbot zu schaffen, andere (noch) nicht.324 Nachfolgend soll die gerichtliche Argumentation des Bundesverfassungsgerichts im Lichte des Rassifizierungsprozesses und damit als Ausdruck einer verzerrenden Rezeption des Sprechakts gedeutet werden. Diese lässt das Begehren der Referendarin zu einer subalternen, nichtgehörten Artikulation werden.325 2. Gerichtliche Argumentation im Lichte des Rassifizierungsprozesses a) Markierung und Positionierung Die Markierungspraxis bestimmt Erkenntniszeichen, die fortan mit der in Rede stehenden Person oder Personengruppe in Verbindung gebracht werden. Es handelt sich um eine Form der Prägung, um die scheinbare Andersartigkeit rassifizierter Menschen herzustellen und (zumeist) mit einer negativen Bedeutung aufzuladen. Weiter oben wurde argumentiert, dass die markierte Person und ihr Sprechakt im Wege dieser Kennzeichnung nur noch verzerrt wahrgenommen werden können. Die Markierung entwickelt sich zu einer Lerngewohnheit und erzeugt eine Wahrnehmungsfolie, die bestimmte Wissenselemente ein- und andere ausblendet.326 In der Kopftuchverbotsdebatte ist die islamische Glaubenslehre markiert und damit gläubige Muslime und Muslimas. Der – nach außen erkennbaren – Muslima wird unterstellt, in der Beurteilung von Rechtsstreitigkeiten keine ausreichende Distanz zu ihren religiösen Überzeugungen herstellen zu können. Sie erscheint als parteiisch und befangen. Da gerade Rechtsberufe in erhöhtem Maße mit Neutralität und Objektivität assoziiert werden, entfaltet eine entsprechende Markierung besondere Wirkmacht. Diese These speist sich aus der widersprüchlichen Argumentation des Bundesverfassungsgerichts. Deutlich wird eine differente Bewertung des muslimischen Glaubens im Vergleich zu anderen religiösen Überzeugungen sowie zwischen einer inneren Glaubenshaltung und der äußeren Sichtbarkeit von Religiosität. Das Bundesverfassungsgericht stellt klar, dass religiöse Zeichen im richterlichen Dienst für sich genommen nicht geeignet sind, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter*innen zu begründen.327 Glaubensüberzeugungen führen also keineswegs per se dazu, einer Person abzusprechen, objektiv urteilen zu kön324 Für einen kurzen Überblick zu Hessen, Bayern, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Berlin: Noreen v. Schwanenflug/Simone Szczerbak, Das Tragen eines Kopftuches im Lichte des Neutralitätsgebots im Öffentlichen Dienst, in: NVwZ 2018, S. 441– 447. Das Berliner Neutralitätsgesetz ist laut Bundesarbeitsgericht verfassungswidrig: BAG, Urt. v. 27.8.2020, 8 AZR 62/19. 325 Mit ähnlichem Fokus, aber bezogen auf die Entscheidungen zur Lehrerin mit Kopftuch: Cengiz Barskanmaz, Das Kopftuch als das Andere, in: Berghahn/Rostock (Hg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind, 2009, S. 361–392. 326 Ausführlich zum Markierungsprozess in Kapitel 1, C. II. 2. a), S. 87 ff. 327 BVerfGE 153, 1 (44) – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (2020).

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nen. Darüber hinaus klärt das Gericht einige Grundannahmen: Der juristischen Ausbildung ist etwa dahingehend zu vertrauen, dass erfolgreiche Absolvent*innen einen Rechtsfall unparteilich behandeln können.328 Ebenfalls ist verfassungsrechtlich eindeutig, dass auch Amtsträger*innen sich in Ausübung ihres Amtes auf Grundrechtsgarantien berufen dürfen.329 Trotzdem führt die Sichtbarkeit des muslimischen Glaubens in den Worten des Bundesverfassungsgerichts dazu, „das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen“. 330 Für die Funktionsfähigkeit der Justiz ist nach der Entscheidung erforderlich, dass sich das „gesellschaftlich[e] Vertrauen“ nicht nur auf einzelne Richterpersönlichkeiten, sondern auf die Justiz im Ganzen erstreckt.331 Diese Argumentation wirft Fragen auf: Weshalb ist die Objektivität der konkreten Person durch das Tragen des Kopftuchs nicht berührt, aber trotz allem das Vertrauen in die Justiz im Ganzen? Woraus soll sich eine solche „Eskalation“ kausal speisen? Von einer nicht erfüllten, konkreten Bedingung auf eine abstrakte Gefahr zu schließen, legt nahe, dass zwar kein rationaler Grund zum Zweifel, jedoch diffuse Vorbehalte gegenüber einer Richterin mit Kopftuch bestehen. Die (Mehrheits-)Gesellschaft könnte ihre Tauglichkeit anzweifeln. Das Bundesverfassungsgericht gibt damit einer ablehnenden Haltung zum Kopftuch und zum muslimischen Glauben nach und öffnet den Rechtsdiskurs für antimuslimische Rassismen. Ein Vergleich zur Beurteilung der Befangenheit eines Verfassungsrichters, der als gläubiger Katholik und Abtreibungsgegner über die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch (§§ 218b, 219 StGB) zu entscheiden hatte,332 legt die differenten Bewertungsmaßstäbe offen. Im damaligen Fall bot – „bei vernünftiger Würdigung“ – weder die individuelle Glaubensüberzeugung noch seine Mitgliedschaft im Verein „Juristenvereinigung Lebensrecht e. V.“ Anlass, „an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln“.333 Übersetzt heißt dies: Der gläubige Katholik auf der Richterbank birgt ein geringeres disruptives Potenzial als die erkennbar gläubige Muslima. In der Markierung des religiösen Zeichens lebt der „Leib-Seele-Dualismus“ 334 auf.

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BVerfGE 153, 1 (44) – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (2020). Für das Beamtenverhältnis: BVerfGE 108, 282 (296 f.) – Kopftuch I (2003); für Angestellte im öffentlichen Dienst: BVerfGE 138, 296 (328) – Kopftuch II (2015); vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 18.10.2016, 1 BvR 354/11, Rn. 58. 330 BVerfGE 153, 1 (40 f.) – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (2020). 331 Es müsse zwar kein „absolutes Vertrauen“ erreicht werden, dem Staat kommt allerdings die Aufgabe der „Optimierung“ zu: BVerfGE 153, 1 (40) – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (2020). 332 Gemeint ist der verstorbene, ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde. BVerfGE 88, 17 – Befangenheit BVR Böckenförde (1992). Böckenförde selbst äußert sich zu dem Vorgang in Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, S. 442 ff. 333 BVerfGE 88, 17 (23) – Befangenheit BVR Böckenförde (1992). 334 Das Leib-Seele-Problem ist eine alte Fragestellung der Philosophie, die sich mit dem Verhältnis von körperlichen und geistigen Zuständen beschäftigt und damit, ob 329

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Die leibliche Religiosität, also eine körperliche, äußere Kategorie, begründet einen abstrakt-generellen Verdacht der Befangenheit. Die seelische Religiosität hingegen, die innere Überzeugung, zieht einen solchen (auch im Falle der öffentlichen Kundgabe) nur im Falle eines konkret-individuellen Anlasses auf sich.335 Eine derartige Haltung verträgt sich nicht mit dem einheitlichen Schutzniveau der Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1, 2 GG, welches dem forum externum den gleichen Schutz zuspricht wie dem forum internum.336 Tatsächlich eignet sich weder das Kopftuch noch religiöse Symbole im Allgemeinen, um Rückschlüsse auf die Neutralität der betreffenden Person zu ziehen. Symbole, das Kopftuch im Speziellen, sind für eine solche Konklusion zu vieldeutig. Indizien und im Einzelfall auch Beweise für mangelnde Neutralität können allein aus dem Handeln der Personen im Rahmen der Amtsausübung gezogen werden, im Falle der Richterin: aus ihren Entscheidungen.337 Dieser erkennbare Fehlschluss offenbart zudem eine grundlegende Schwäche der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuch der Referendarin: Eigentlich geht es gerade nicht darum, ob das religiöse Zeichen dem Staat zugerechnet werden kann, sondern darum, ob der Staat sich mit jenem identifiziert.338 Letzterem steht vorliegend im Wege, dass das Kopftuch (erkennbar) keine Kleidervorschrift darstellt, die vom Staat ausgeht. Wäre dies der Fall, müsste die Maßnahme das gesamte Justizpersonal umfassen. Das Tragen des Kopftuchs wird aber gerade nicht hoheitlich angeordnet, sondern beruht auf der autonomen Entscheidung der Grundrechtsträgerin und ihrer individuellen Glaubensfreiheit. Aus diesem Grund verbleibt die Zurechenbarkeit bei der individuellen Person, von einer Identifizierung kann nicht gesprochen werden. Im Sinne des Rassifizierungsprozesses kennzeichnet der Beschluss das Differente als kulturell „anders“ und zur Neutralität weniger geeignet. Der nicht markierte Standpunkt hingegen, in diesem Fall der christliche Glaube oder eine christliche Sozialisation, wird universalisiert und zu einer Norm erhoben, die a priori für sich beanspruchen kann, neutral und objektiv zu sein. Zweifel an dieser Behauptung würde erst ein konkreter Anlass begründen. Die markierte Position hingegen ist einem exkludierenden Anfangsverdacht ausgesetzt. Auf diesem Wege wird die Mehrheitsposition zum Allgemeingültigen und damit zum Ort des strukturellen Vorteils,339 der gerade darin besteht, keiner Rechtfertigung zu bediese Trennung überhaupt Sinn ergibt. Zur Einführung Ansgar Beckermann, Das LeibSeele-Problem, 2. Aufl. 2011, S. 7 ff. 335 Näher Rike Sinder, Das Kopftuchverbot für Richterinnen, Der Staat 57 (2018), S. 459–476 (468 f.). 336 Statt vieler Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Komm. Bd. 1, 7. Aufl. 2018, Art. 4 Rn. 34 ff. 337 Vgl. Enno Rudolph, Neutralität, in: KJ 2021, S. 435–439 (437). 338 Frauke Brosius-Gersdorf/Hubertus Gersdorf, Fehlverständnis des Neutralitätsgebots für den Staat, VerfBlog, 2020/3/03. 339 Ruth Frankenberg, White Women Race Matters, 1993, S. 14.

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dürfen. Hierin manifestiert sich ihre Privilegierung und damit der zweite Rassifizierungsschritt: die Positionierung. Der historische Vergleich zeigt, wie sich die relevante Differenzlinie dieses hierarchischen Verhältnisses verschoben hat: Verlief diese früher noch anhand der Kategorien christlich und nichtchristlich, vollzieht sich die Positionierung heute maßgeblich zwischen säkular und religiös.340 Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts scheint das Kopftuch vor allem als politisches Symbol zu behandeln. Als solches wird es auch in der öffentlichen Debatte verhandelt. Kopftuchtragende Frauen treffen mit dem Schleier jedoch vorwiegend eine individuelle, religiöse Aussage. Ein Vergleich zu Frauen, die kein Kopftuch tragen, verdeutlicht, dass jenseits der Religiosität nur geringe Unterschiede im Wertesystem der Personengruppen bestehen. Etwa in den Bereichen Partnerschaft, Kinderwunsch, Berufsleben oder präferierter Staatsform konnten hohe Übereinstimmungen nachgewiesen werden.341 b) Neutralisierung Der Rassifizierungsschritt der Neutralisierung soll verbergen, dass und inwiefern die herausgegriffenen Merkmale in einem hierarchischen Verhältnis zueinander gelesen werden. Im hiesigen Untersuchungsfeld manifestiert sich diese diskursive Vermeidungsstrategie in der Figur des Dritten: Das Bundesverfassungsgericht führt aus, der Staat dürfe „Maßnahmen ergreifen, die die Neutralität der Justiz aus der Sichtweise eines objektiven Dritten unterstreichen sollen“.342 Aus dieser objektiven Sicht beurteilt, könne das Tragen eines Kopftuchs während der Verhandlung als Beeinträchtigung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates wahrgenommen werden. Weiter oben wurde bereits angedeutet, dass eine solche Annahme keinesfalls universell ist, sondern auf einer spezifischen Vorstellung des „Normalen“ basiert.343 Für den objektiven Dritten ist all das neutral, an das er sich gewöhnt hat. Das Kopftuch ist nicht „normal“, weil es nicht dem Eigenen, Bekannten entspricht und (noch) keine hinreichende gesellschaftliche Gewöhnung erfahren hat. Aus diesem Grund kann es nicht als „neutral“ verstanden werden. Gleichzeitig verhindert gerade das pauschale Verbot, eine solche Gewöhnung zu erzeugen und damit, dass ein Kopftuch als normal wahrgenommen werden kann. Neben der vermeintlichen Objektivierung der potenziellen 340 Zur Konstruktion rassifizierter Differenz: Kapitel 1, B., S. 60 ff. sowie Kapitel 2, C. II., S. 84 ff. 341 Frank Jessen/Ulrich Wilamowitz-Moellendorff, Das Kopftuch – Entschleierung eines Symbols?, in: Zukunftsforum Politik, Broschürenreihe Nr. 77, hg. v. KonradAdenauer-Stiftung e. V., 2006, abrufbar unter: https://www.kas.de/c/document_library/ get_file?uuid=3d08932d-3e00-7ab3-abe6-6e9bb24c0f42&groupId=252038. 342 Herv. d. Autorin, BVerfGE 153, 1 (40) – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (2020). 343 Zur „Verwechslung von Neutralität mit ,Normalität‘ “: Anna Katharina Mangold, Justitias Dresscode, VerfBlog, 2017/7/06. Siehe für eine grundlegendere Beschäftigung auch: Anna Katharina Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 314.

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„Gefahr“ des Kopftuchs lässt sich eine weitere Dimension der Neutralisierung ausmachen: Die exkludierende Wirkung des Verbots wird abgeschwächt, indem der Anlass des Konflikts der gläubigen Person als individuelle Entscheidung zugeschrieben wird. Zwar sieht das Bundesverfassungsgericht durchaus, dass ein Kopftuch nicht einfach abgenommen werden kann, sondern als verbindliche, religiöse Pflicht empfunden wird.344 Jedoch würden sich spätestens Richter*innen – anders als Referendar*innen – „in Kenntnis der bestehenden Reglementierungen bewusst und freiwillig für eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst entscheiden“.345

Die erkennbar werdende Haltung, die betroffenen Frauen könnten selbst dafür sorgen, nicht in den Anwendungsbereich des Verbots zu fallen, taucht auch in anderen Zusammenhängen auf. Die Generalanwältin Juliane Kokott argumentiert in ihrem Schlussantrag in einem Kopftuchverbotsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof: Das Kopftuch betreffe lediglich einen Aspekt der privaten Lebensführung und könne, anders als andere Diskriminierungsmerkmale, „an der Garderobe abgegeben“ 346 werden, sobald die Betroffene die Räumlichkeiten des – hier privatwirtschaftlichen – Arbeitgebers betritt. Diese Argumentation findet sich gleichsam in der rechtswissenschaftlichen Besprechung der Entscheidung wieder. Andreas Reus und Peter Mühlhausen werfen sogar die Frage auf, ob „in Anbetracht der kurzen Dauer des geforderten Verzichts auf das Kopftuch [. . .] die Bagatellgrenze, ab der von einem Eingriff gesprochen werden kann, überschritten ist“.347

Ein Anderssein scheint nur dann anerkannt zu werden, wenn es der Person zumindest nicht sichtbar anhaftet und damit provoziert. Meines Erachtens verkennt eine solche Argumentation die individuelle Bedeutung der religiösen Kleidungsvorschrift. Ebenfalls wird nicht in Rechnung gestellt, dass sich die Forderung sehr gegensätzlich auf verschiedene Religionen auswirkt: Da dem Christentum keine äquivalente Kleidervorschrift entnommen wird, sind seine Angehörigen keiner Einschränkung ausgesetzt. Die Kopftuchdebatte illustriert die diskursive Verschiebung innerhalb der Neutralisierung von rassifizierter Ungleichheit weg von einer biologistischen Argumentation, hin zu einer kulturalisierten Unterscheidung von Kultur und Religion.348 Obgleich die rassistische Markierung kultureller und religiöser Zeichen 344

BVerfGE 153, 1 (47) – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (2020). BVerfGE 153, 1 (47 Rn. 103) – Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen (2020). 346 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott v. 31.5.2016, Rn. 116 zu EuGH, Urt. v. 14.3.2017, Rs. C-157/15 – Achbita. 347 Andreas Reus/Peter Mühlhausen, Anmerkung zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen in Hessen, in: NJW 2017, S. 2333–2337 (2337). 348 Zu dieser und weiteren diskursiven Verschiebungen im Rasse- und Rassismusdiskurs Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus, 2021, S. 468 ff. 345

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seit jeher die Formation rassistischen Wissens begleitet und geprägt hat, tritt diese durch den Wegfall der meisten biologischen Anknüpfungspunkte heute noch stärker hervor. c) Ausschluss Die Ausschlusswirkung der rassifizierten Wahrnehmung des Kopftuchs, auf der das vorliegende Verbot basiert, ist besonders offensichtlich. Der Kopftuchträgerin wird verunmöglicht, den juristischen Vorbereitungsdienst vollumfänglich zu durchlaufen. Ihr wird außerdem der Beruf der Richterin verwehrt und damit ein zentraler Bereich der juristischen Tätigkeit. Dieser Ausschluss ist nur vor dem Hintergrund einer intersektionalen Lesart zu verstehen: Die kopftuchtragende Muslima wird weder nur als „Frau“ noch „gläubige Person“ diskriminiert, erst das Zusammentreffen der beiden Kategorien bedingt die Exklusion. Darüber hinaus kann die ausschließende Wirkung nicht ohne die Kategorie „Rasse“ gelesen werden, da in die Bewertung des muslimischen Glaubens rassifizierte Deutungen hineinspielen.349 Die Betroffene artikuliert sich, wird dabei nicht gehört und insofern marginalisiert. Am Beispiel der diskursiven Konstruktionen rund um das Kopftuch tritt die mehrheitsgesellschaftliche Definitionsmacht besonders deutlich hervor.350 Essentialisierende Bilder des Kopftuchs prägen den juristischen Diskurs und werden gerichtlich verankert. Die festgestellten, konkreten Ausschlusswirkungen enden nicht auf dieser rein individuellen Ebene. Hoheitliche Aufgaben wahrzunehmen, kann für Menschen, die (institutionelle) diskriminierende Erfahrungen erleben, von vornherein fernerliegen.351 Das Kopftuchverbot in der Justiz verstärkt solche abschreckenden Effekte. Der Staat kann zu einer Sphäre werden, mit der sich rassifizierte Personen schwieriger identifizieren können. Gleichwohl können Unrechtserfahrungen für einige Menschen eine Quelle der Motivation darstellen, ein juristisches Studium zu ergreifen. Die Gewissheit jedoch, den gewünschten Rechtsberuf später nicht diskriminierungsfrei ausüben zu dürfen, kann diese Motivation stark hemmen.352 Das Bewusstsein wiederum über bestehende Vorurteile gegen die eigene soziale Gruppe und die Angst, diese zu bestätigen, verstärken das Gefühl der Unzuläng-

349 Ausführlich: Bülent Ucar/Wassilis Kassis (Hg.), Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit, 2019. 350 Besonders deutlich dazu: Cengiz Barskanmaz, Das Kopftuch als das Andere, in: Berghahn/Rostock (Hg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind, 2009, S. 361–392. 351 Zu Diskriminierungserfahrungen und ihren Auswirkungen im Lebensbereich Ämter, Behörden und Politik: Steffen Beigang u. a., Diskriminierungserfahrungen in Deutschland, hg. v. Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2017, S. 248 ff. Insgesamt 21 % der antidiskriminierungsrechtlichen Beratungsanfragen betreffen die Lebensbereiche „Ämter und Behörden“ sowie „Justiz und Polizei“. 352 M.w. N. Grünberger u. a., Diversitätsdefizit in der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 28 ff., 38 ff.

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lichkeit. Ein solches kann in eine Abwärtsspirale selbsterfüllender negativer Zuschreibungen führen, die den Karriereweg deutlich erschweren.353 Mit dem „Ausschluss an Köpfen“ geht dabei auch ein inhaltlicher Perspektivverlust einher, der das bestehende Diversitätsdefizit in der Rechtswissenschaft354 und seine Probleme weiter verstärkt. Die Ausschlüsse verbinden sich daher nicht nur mit individuell negativen Konsequenzen, sondern wirken sich auch strukturell nachteilig aus. Dabei stehen die Exklusionsmechanismen in einem normativen Spannungsverhältnis zu Art. 33 Abs. 3 GG: Die Verfassungsnorm verbietet aufgrund der historischen Erfahrung während des Nationalsozialismus religiös begründete Berufsverbote in der Justiz. Aus einem religiösen Bekenntnis dürfen keine Nachteile im gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern erwachsen. Dem hier vertretenen materiellen Verständnis des Diskriminierungsverbots hält die Prüfung des Kopftuchverbots nicht stand. 3. Zwischenergebnis Es mag unterschiedliche Vorstellungen zum „richtigen“ Verhältnis von Staat und Religion geben. Die Entscheidung zum Kopftuchverbot der Rechtsreferendarin ist gemäß der grundgesetzlichen Wertung sowie der Verfassungsjudikatur jedoch nicht nur unter normativen, sondern bereits logischen Erwägungen nicht überzeugend. Das Gefahrenpotenzial religiöser Überzeugungen wird mit zweierlei Maß gemessen, wie die vorgehende Besprechung zeigte. Ein rassifizierter Wissensbestand um die islamische Religionsausübung wirkt in die Rechtsprechung zum Kopftuch ein und stabilisiert die Ausschlusswirkung. Die Judikatur zum islamischen Kopftuch wirkt an der Konstruktion des Fremden mit. Ein ähnlicher Mechanismus zeigt sich auch im nachfolgenden Analysefeld.

II. Verzweiflung vs. „fremdländische Familientradition“: Femizide in Deutschland Untersucht wird in diesem zweiten Abschnitt die strafrechtliche Bewertung von Femiziden durch die deutsche Rechtsprechung. Mit dem Begriff des „Femizids“ ist eine vorsätzliche Tötung einer Frau aufgrund deren Geschlechts und damit die schwerste Form geschlechtsspezifischer Gewalt beschrieben.355 Die Taten sanktionieren ein weibliches Opfer, weil jenes die ihr zugeschriebenen, patriarchalen Merkmals-, Rollen- oder Verhaltenserwartungen nicht zu erfüllen ver-

353 Beschrieben ist das Gefühl der „Bedrohung durch Stereotype“. M.w. N. Michael Inzlicht/Toni Schmader (Hg.), Stereotype Threat, 2012. 354 Ausführlich Michael Grünberger u. a., Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021. 355 Den Begriff „Femizid“ prägte die Soziologin Diana H. Russell. Vgl. Diana H. Russell, Preface, in: Radford/Russell (Hg.), Femicide, 1992, xiv.

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mag.356 Es handelt sich um einen Sammelbegriff, der sehr verschiedene Tötungsvarianten erfasst, die global betrachtet in unterschiedlicher Häufigkeit und Ausprägung auftreten. Als Femizid einzuordnen ist beispielsweise die Tötung weiblicher Föten oder neugeborener Mädchen, ebenfalls umfasst der Begriff den Tod infolge von Genitalverstümmlungen, Mitgifttötungen oder Tötungen wegen des Vorwurfs der Zauberei oder Hexerei.357 An dieser Stelle soll es um die Rechtsprechung zu zwei anderen Erscheinungsformen eines Femizids gehen: Tötungsdelikte von Männern an ihren Intimpartnerinnen in Paarbeziehungen bzw. in Trennungssituationen sowie Tötungen im vermeintlichen Namen der persönlichen oder – häufiger – der familiären „Ehre“, sog. „Ehrenmorde“.358 Beide Tatkonstellationen prägen patriarchale Kontroll- und/oder Besitzansprüche. Sie wurzeln insofern in sexistischen Marginalisierungsstrukturen. Die vorliegende Arbeit untersucht, ob und inwiefern sich die Spruchpraxis deutscher Gerichte in den genannten Deliktsbereichen unterscheidet. Jedenfalls die öffentliche Debatte lässt einen differenten medialen Umgang mit Partnertötungen und „Ehrenmorden“ erkennen: Während erstere typischerweise als „Familientragödie“ oder schlicht als „Beziehungstat“ 359 verharmlost werden und – zumindest bis vor einigen Jahren – keine breite Auseinandersetzung angestoßen haben, provozieren Tötungen aus „ehrbezogenen Motiven“ seit jeher eine intensive, kontrovers geführte Debatte über geschlechtsspezifische Gewaltphänomene.360 Mit Bezug auf die Gastarbeitermigration wurden „Ehrenmorde“ zum 356 Zur geschlechterspezifischen Dimension von Tötungsdelikten und Wegen der effektiveren Verfolgung: UNODC/CCPCJ/EG.8/2014/2, Expert Group on gender-related killing of women and girls, 11.–13.11.2014. 357 WHO (Hg.), Understanding and addressing violence against women, Femicide, WHO/RHR/12.38, 2012, S. 1 ff.; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on Violence against Women, its Causes and Consequences, Rashida Manjoo, A/ HRC/20/16, 23.5.2012, S. 8 ff. 358 Dazu zuvor schon rassismuskritisch: Lena Foljanty/Ulrike Lembke, Die Konstruktion des Anderen in der „Ehrenmord“-Rechtsprechung, in: KJ 2014, S. 298–315; weniger spezifisch zum Othering, gleichsam instruktiv: Inga Schuchmann/Leonie Steinl, Femizide, in: KJ 2021, S. 312–327. Außerdem sei auf folgende empirische Untersuchungen hingewiesen: Werner Baumeister, Ehrenmorde, 2007; Dietrich Oberwittler/Julia Kasselt, Ehrenmorde in Deutschland, 2011; Carina Agel, (Ehren-)Mord in Deutschland, 2013; Julia Kasselt/Dietrich Oberwittler, Die richterliche Bewertung von Ehrenmorden in Deutschland, in: MschrKrim 3/2014, S. 203–223; Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016. Dogmatisch und rechtsvergleichend zum türkischen Strafrecht: Kadir Varol, Ehre – Ehrenmord – Blutrache, 2016. 359 Zum medialen Umgang mit „Ehrenmorden“ im Kontrast zu „Familiendramen“: Olga Michel, Zur Generierung des Fremden in medialen Diskursen am Beispiel des Frames „die Gewalt der Ehre“, in: Bartmann/Immel (Hg.), Das Vertraute und das Fremde, 2011, S. 219–236. 360 Dies gilt vor allem seit Anfang der 2000er-Jahre. Ein intensives Medienecho löste die Tötung von Hatun Aynur Sürücü aus, die in Berlin am 7.2.2005 von einem ihrer Brüder an einer Bushaltestelle erschossen wurde. Die Frau hatte sich aus einer Zwangsehe befreit, ihr Kopftuch abgelegt und eine Ausbildung begonnen. Annabel Wahba,

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migrationspolitischen Beleg herangezogen, um auf Integrationsdefizite vor allem türkischer Einwandererfamilien hinzuweisen. Verdeutlicht werden soll die Gefahr, welche von migrantischen „Parallelgesellschaften“ 361 ausgehe. In der Kritik standen in den letzten Jahren aber nicht allein die brutalen Gewaltverbrechen, sondern auch die gerichtliche Bewertung der Straftaten. Den verhandelnden Gerichten wurde vorgeworfen, Tötungen aus ehrbezogenen Motiven milder zu bestrafen als vergleichbare Tötungsdelikte. Die Rede war von einem „kulturellen Rabatt“ 362 oder einem „Islam-Rabatt“.363 Vermutet wurde eine Sonderbehandlung der weit überwiegend männlichen Täter aufgrund deren kultureller Prägung oder Religionszugehörigkeit. Die Boulevardpresse befürchtete gar eine mittelbare Anerkennung der Scharia.364 Die geäußerten Vorwürfe ließen sich empirisch nicht bestätigen. Eine umfangreiche Untersuchung der Rechtswissenschaftlerin Julia Kasselt zur Praxis deutscher Schwurgerichte in der Beurteilung von „Ehrenmorden“ widerlegte die Vorwürfe nicht nur, sondern ermittelte, dass die Strafzumessung in den beschriebenen Fällen durchschnittlich sogar höher ausfällt als bei sonstigen Partnertötungen.365 Im Folgenden soll es nicht um die Höhe des verhängten Strafmaßes gehen, sondern vielmehr um das gerichtliche Argumentationsmuster. Mein Erkenntnisinteresse wird dabei von den nachstehenden Fragen geleitet: Welche Kriterien zieht die Rechtsprechung heran, um die Tötung strafrechtlich zu beurteilen? Spielt der kulturalisierte Bezug der Taten in der Prüfung eine Rolle? Wenn ja, welche? Außerdem interessiert mich, ob die gerichtliche Beurteilung auf die strukturelle Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt eingeht. Zunächst soll näher bestimmt werden, was unter einer „Partnertötung“ und einem „Ehrenmord“ zu verstehen ist und welche strafrechtsdogmatischen Vorgaben gesetzlich sowie höchstrichterlich bestehen.

Schwestermord, DIE ZEIT v. 23.7.2009, Nr. 31 zeigt in ihrer Recherche, dass die Tat trotz des „Ehrbezugs“ keiner Vollstreckung eines familiären Todesurteils über die Tochter als „Abweichlerin“ entspricht. 361 Zur kritischen Diskussion Werner Schiffauer, Parallelgesellschaften, 2. Aufl. 2011. 362 Uta Rasche, Empörung über Urteil, FAZ v. 25.3.2014. Ebenfalls Christine Kensche, Tötung aus Eifersucht, Welt v. 12.6.2017. 363 BILD v. 31.3.2014, Geben unsere Gerichte Islam-Rabatt?. Vgl. auch BILD v. 27.3.2014, Straf-Rabatt wegen religiöser Herkunft?. 364 Julian Reichelt, Keine Scharia in Deutschland!, in: BILD v. 27.3.2014. Der Autor und ehemalige Chef-Redakteur der Bild-Zeitung, der das Blatt wegen des Verdachts sexuell übergriffigen Verhaltens verlassen musste, führt aus: „Und zur Scharia und all ihren frauenverachtenden Regelungen gibt es nur eines zu sagen: Wir wollen sie hier in Deutschland nicht!“. 365 Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, Zusammenfassung ab S. 314 ff. Die festgestellten Unterschiede können laut der Autorin aber nicht auf den Einfluss potenziell rassifizierter Variablen wie „Ethnie“, „Staatsangehörigkeit“ oder „Geburtsland“ des Täters zurückgeführt werden, S. 321.

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1. Begriffsbestimmung: Partnertötung und „Ehrenmord“ Das Phänomen des sog. „Ehrenmordes“ ist nicht nur (rechts-)politisch, sondern auch terminologisch umstritten. Der euphemistische Begriff suggeriert, die Straftaten könnten tatsächlich „ehrenvoll“ oder geeignet sein, eine persönliche wie familiäre Ehre zu verteidigen.366 In der Formulierung reproduziert sich damit die Sicht der Tatperson(-en), die Opferperspektive hingegen ist geschmälert. Um diese Kritik aufzulösen, wurde vorgeschlagen, alternativ von „Schande-Morden“ 367 oder zumindest einem „Mord aus Gründen der Sitte und Gebräuche“ zu sprechen. Diese Begriffe konnten sich in der Debatte (noch) nicht etablieren. Ebenso wenig existiert eine allgemeingültige Definition dessen, was mit einem „Ehrenmord“ beschrieben wird. Es handelt sich jedenfalls um Tötungsdelikte, die im Kontext patriarchal geprägter Familienverbände oder Gesellschaften vorrangig – aber nicht ausschließlich – von Männern an Frauen verübt werden,368 um die aus Tätersicht verletzte Ehre wiederherzustellen.369 Das vielschichtige Konstrukt der Ehre umfasst in diesem Zusammenhang nicht nur den Selbstwert einer Person, sondern auch deren Anerkennung und Achtung durch die Gemeinschaft.370 Über ein als ehrenvoll konstruiertes Verhalten wird soziale Kontrolle ausgeübt und Differenz erzeugt. Insbesondere wenn Aufstiegschancen aufgrund sozioökonomischer Missstände gering sind, avanciert die Ehre zum sozialen Kapital.371 Der persönlichen oder familiären Ehre kommt neben dieser gemeinschafts- auch eine stark geschlechtsbezogene Dimension zu.372 Das Konstrukt lässt sich nicht ohne das Patriarchat verstehen: Da das Verhalten einer Frau vor allem eine potenzielle Gefahr für die männliche Ehre darstellt, ist das Ehrkonzept eng verknüpft mit der Kontrolle über das Weibliche. Es geht vor allem

366 Statt vieler Katja Luopajärvi, Honour Killings as Human Rights Violations, 2003, S. 12; Myria Böhmecke, Studie: Ehrenmord, 2005, S. 5; Erol R. Pohlreich, „Ehrenmorde“ im Wandel des Strafrechts, 2009, S. 19. 367 Die Formulierung nutzte der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan. Die CDU/CSU griff sie in einem Antrag im Bundestag auf: BT-Drs. 14/7457 v. 13.11.2001. 368 Die deutschen Tatpersonen sind in Kasselts Untersuchung zu 92,6 % männlich. Das Alter der Täter weist eine breite Streuung auf; der Peak liegt mit fast einem Drittel bei den 20- bis 29-Jährigen. Geboren sind die Täter zu etwa zwei Dritteln in der Türkei, zu etwa 10 % in Deutschland. Ebenfalls relevant ist ihr soziokultureller Status: Ungefähr zwei Drittel der Tatpersonen entstammen bildungsfernen, niedrig qualifizierten Gesellschaftsschichten. Julia Kasselt, Die Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 34. 369 Vgl. auch zu anderen Definitionsversuchen und ihren Stärken und Schwächen: Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 10 f., 22. Ausführlich auch: Mukaddes Gorar, Honour Based Crimes and the Law, 2021. 370 Aisha K. Gill, Introduction, in: dies. u. a. (Hg.), „Honour“ Killing and Violence, 2014, S. 1–23 (2). 371 Mit Bezug auf die türkische Kultur Senan Elyafi-Schulz, Das Phänomen des „Ehrenmordes“, 2012, S. 73 ff. 372 Ausführlich Ayfer Yazgan, Morde ohne Ehre, 2014, S. 26 f.

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darum, die Ehre zu erhalten, indem Schande von ihr abgewendet wird.373 Die Taten ereignen sich im globalen Vergleich häufig in ländlichen Gebieten, in denen der Einfluss staatlich legitimierter Gewalt gering ist.374 Obwohl sich „Ehrenmorde“ nicht religiös begründen lassen, sind sie in Ländern mit einem höheren islamischen Bevölkerungsanteil stärker verbreitet.375 Bei genauerem Hinsehen prägen nicht Glaubenssätze, sondern patriarchale Gesellschaftssysteme sowie eine herausragende Stellung der Familie innerhalb des sozialen Gefüges den Deliktsbereich.376 Beide Umstände führen dazu, dass vor allem Frauen das Recht auf eine freie Gestaltung ihres Lebens abgesprochen wird.377 Ein „Ehrenmord“ grenzt sich zum verwandten Phänomen der „Blutrache“ 378 insofern ab, als dass die Blutrache zwar ebenfalls Tötungen umfasst, denen eine vermeintliche Ehrverletzung als Tatanlass vorausgeht. Jedoch stützt sich diese, anders als beim „Ehrenmord“, nicht hauptsächlich auf das (sexuelle) Verhalten von Frauen. Für die Blutrache ist vielmehr ein vorausgehender Angriff oder die Tötung eines nahen Familienmitglieds durch Angehörige einer anderen Familie tatursächlich. Die Opfer sind typischerweise Männer, die außerhalb, nicht inner-

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Ebd. Vgl. WHO (Hg.), Understanding and addressing violence against women, Femicide, WHO/RHR/12.38, 2012; UN General Assembly, Report of the Special Rapporteur on Violence against Women, its Causes and Consequences, Rashida Manjoo, A/HRC/ 20/16, 23.5.2012. 375 Näher zum Verhältnis von „Ehrenmord“ und Islam: Aysan Sev’er/Gökçeçiçek Yurdakul, Culture of Honor, Culture of Change, in: Violence against Women, Vol. 7 9/ 2001, S. 964–998; Mohammad Mazher Idriss/Tahir Abbas (Hg.), Honour, Violence, Woman and Islam, 2011; Senan Elyafi-Schulz, Das Phänomen des „Ehrenmordes“, 2012, S. 150–197; Mukaddes Gorar, Honour Based Crimes and the Law, 2021, S. 27– 31. 376 Dies bestätigt Kasselt, deren Daten zeigen, dass die Religiosität der Täter keinen starken Einfluss auf die Begehung der Taten hat: Gleichwohl etwa 83 % der Tatpersonen dem muslimischen Glauben angehören, bezeichneten sich nur 23,2 % als (streng) gläubig. Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 34 f. 377 Ein überraschender Befund der Studie bestand in der hohen Anzahl getöteter Männer. Etwa 43 % aller getöteten Personen waren männlich. Das stereotype Bild, nur Frauen wären Opfer von Ehrenmorden, erweist sich insofern als falsch. Das männliche Opfer ist meist ein neuer, als nicht legitim angesehener Partner einer Frau, der Vater eines unehelichen Kindes oder verstößt gegen eine bestehende, homophobe Sexualmoral. Selten ist er das alleinige Tatopfer, sondern wird typischerweise zusätzlich zu einer Frau angegriffen: Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 28. 378 Vgl. BGH, Beschl. v. 10.1.2006, 5 StR 341/05. Die „Blutrache“ stellt nach Ansicht des BGH ebenfalls einen niedrigen Beweggrund dar. Gemäß Rn. 36 ist die Tat „besonders verwerflich und sozial rücksichtslos, weil sich der Täter dabei seiner persönlichen Ehre und der Familienehre wegen gleichsam als Vollstrecker eines von ihm und seiner Familie gefällten Todesurteils über die Rechtsordnung und einen anderen Menschen erhebt“. Vgl. zu Tötungen wegen „Blutrache“ auch BGH, Urt. v. 28.8.1979, 1 StR 282/79; BGH, Urt. v. 24.6.1998, 3 StR 219/98; BGH, Beschl. v. 6.11.1997, 5 StR 548/ 97; BGH, Beschl. v. 23.3.2004, 4 StR 466/03 und 9/04; BGH, Beschl. v. 10.1.2006, 5 StR 341/05. 374

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halb der Familie stehen.379 Eine Partnertötung bezeichnet demgegenüber eine Einzeltötung, die nicht eine vermeintliche Familienehre wiederherstellen soll, sondern typischerweise ohne direkte Unterstützung oder Bezug zum familiären Umfeld vorgenommen wird. Auch die Tötung aus ehrbezogenen Motiven entspricht zwar keinesfalls in allen Konstellationen einer entsprechenden Erwartungshaltung der Familie. Regelmäßig antizipieren auch Einzeltäter allerdings, dass die Familie oder das soziale Umfeld die Tat für unausweichlich halten und aus diesem Grund befürworten würde.380 Die hohe Selbstmordrate im Nachgang von Partnertötungen legt zumindest nahe, dass eine vergleichbare Akzeptanz hier nicht angenommen wird.381 Die Tötung manifestiert typischerweise das Erleben eines Kontrollverlusts durch den Täter über seine Partnerin.382 Die Eskalation fußt auf einem patriarchalen Besitzdenken, das durch ein (vermeintlich) untreues Verhalten oder einen Trennungswunsch der Frau „getriggert“ wird.383 Der Intimpartnerinnen-Femizid ist Ausdruck eines Denkens, das auf der Annahme beruht: „Wenn ich sie nicht haben kann, soll sie niemand haben.“ 384 Empirisch betrachtet handelt es sich in den allermeisten Fällen der Femizide in Deutschland um sog. Partnertötungen und nicht um „Ehrenmorde“. In der bereits erwähnten Studie erfasst Kasselt in einem Zeitraum von zehn Jahren 78 Tötungsdelikte, die als Ehrenmorde im Sinne der Untersuchung eingeordnet wurden.385 Das Bundeskriminalamt zählt allein für das Berichtsjahr 2021 insgesamt 301 weibliche Opfer einer Tötung (Mord und Totschlag) im Zusammenhang mit partnerschaftlicher Gewalt.386 379

Ausführlicher Julia Kasselt, Die Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 16 ff. Dietrich Oberwittler/Julia Kasselt, Ehrenmorde in Deutschland, 2011, S. 21, 23. 381 Zu unterscheiden ist zwischen dem Phänomen des erweiterten Suizids (Mitnahmesuizid), einem postaggressionellen Suizid und einer Selbsttötung aus Reue oder Schuld. In Deutschland werden die Zahlen der Suizide im Anschluss an Partnertötungen nicht systematisch erfasst. Verschiedene Studien haben aber gezeigt, dass Partnertötungen oft mit der Selbsttötung des männlichen Täters enden. Bundeskriminalamt (Hg.), Innovative Formen der Datenerhebung bei empirischen Studien zu Tötungsdelikten, KI 2010 – Vortrag 4. 382 Aus psychiatrischer Perspektive zu Ursachen, der Tatsituation und deren Bewertung vor allem in der Schuldfähigkeit: Andreas Marneros, Intimizid, 2012. 383 UN Office on Drugs and Crime, Global Study on Homocide, 2019, S. 38. 384 Vgl. Jacquelyn Campbell, „If I can’t have you, no one can“, in: Radford/Russell (Hg.), Femicide, 1992, S. 99–113; R. Emerson Dobash/Russell P. Dobash, What Were They Thinking?, in: Violence Against Women, Vol. 17 1/2011, S. 111–134. 385 Davon ordnet Kasselt 20 Fälle als „Ehrenmorde im engeren Sinne“ ein, 33 Fälle als Grenzfälle zur Partnertötung, 13 weitere als Grenzfälle zur Blutrache und weitere 12 Delikte fasst sie unter die Kategorie „sonstiges oder Mischfälle“. Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 26. 386 Insgesamt wurden 115.342 weibliche Opfer und 28.262 männliche Opfer von Partnerschaftsgewalt erfasst. Gemessen an der Gesamtzahl der Opfer von Gewalttaten sind dies im ersten Fall 34,6 % und im zweiten 6,2 %. Zur Verteilung der Zahlen auf die verschiedenen Deliktsbereiche: Bundeskriminalamt, Partnerschaftsgewalt, November 2021, S. 5, abrufbar unter: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/ 380

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

2. Strafrechtliche Einordnung: Mord aus niedrigen Beweggründen? Femizide sind das Resultat struktureller Abwertungs- und Gewaltphänomene gegen Frauen. Dies führt, ähnlich wie im Falle rassistischer Tatmotive,387 zu einer potenziellen Spannungslage hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Bewertung; streitet das Strafrecht doch gerade für eine individuelle Prüfung des Sachverhalts. Nichtsdestotrotz kann die geltende Strafrechtsdogmatik geschlechtsspezifische Tatmotive berücksichtigen.388 Dies geschieht regelmäßig innerhalb der Prüfung des Motivs der Tötung als „niedriger Beweggrund“ im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB. Nach ständiger Rechtsprechung kennzeichnet diese Motivgeneralklausel eine solche Tatmotivation, die „nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe“ steht und „deshalb besonders verwerflich, ja verächtlich“ 389 ist. Das Mordmerkmal gibt Gelegenheit, strukturelle, von der Rechtsordnung pönalisierte Abwertungsverhältnisse in die Bewertung einzustellen. Zur Beurteilung ist eine Gesamtbetrachtung aller inneren und äußeren handlungsleitenden Faktoren heranzuziehen.390 Handelt eine Person etwa aus Wut, Zorn oder Trauer – also aus sog. „normalpsychologischen Antrieben“ –, ist die Tatmotivation nach einhelliger Auffassung nur dann niedrig, wenn die Gefühlsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen;391 das heißt, wenn der Grund, der eine Tatperson wütend, zornig und traurig macht, „verachtenswert“ ist. Da die Anknüpfung an sittliche oder moralische Vorstellungen in diesem Zusammenhang irreleitend sein kann, kommt es mittlerweile zunehmend darauf an, ob die Tat den „personalen Eigenwert“ des getöteten Menschen missachtet392 oder ein krasses Missverhältnis zwischen Anlass und Tötungshandlung besteht.393 Beide Aspekte müssen den Unrechtsgehalt einer „bloßen“ Tötung im Sinne des § 212 StGB übersteigen. JahresberichteUndLagebilder /Partnerschaftsgewalt/Partnerschaftsgewalt_2021.html?nn =63476. 387 Siehe Kapitel 3, B. I. 1., S. 153 ff. 388 Stark umstritten ist die Notwendigkeit der Einführung eines eigenen „Femizid“Straftatbestands. Das Schrifttum weist kritisch darauf hin, dass eine angemessene Bestrafung bereits möglich ist, es lediglich an der Sensibilisierung für den Deliktsbereich fehle. Statt eines eigenen Tatbestandes sei die Aufnahme geschlechtsbezogener Motive als strafschärfend in § 46 StGB zu erwägen. Aus der jüngeren Debatte: Hartmut Schneider, Trennungstötungen als Mord, in: ZRP 2021, S. 183–186; Julia Habermann, Möglichkeiten der Sanktionierung von Femiziden im deutschen Strafrecht, in: NK 2021 S. 189–208 (299 ff.). Siehe ebenfalls Deutscher Juristinnenbund (Hg.), 1. Themenpapier. Istanbul-Konvention: Umsetzungsdefizite bei Femiziden, 2019, abrufbar unter: https:// www.djb.de/fileadmin/user_upload/presse/stellungnahmen/st19-24_IK1_Femizide.pdf. 389 St. Rspr. seit BGHSt 2, 60. M.w. N. Hartmut Schneider, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2021, § 211 Rn. 70. 390 St. Rspr. seit BGH, Urt. v. 2.12.1987, 2 StR 559/87. 391 BGH, Urt. v. 8.8.2001, 2 StR 504/00; BGH, Urt. v. 14.12.2000, 4 StR 375/00; BGH, Beschl. v. 10.1.2006, 5 StR 341/05. M.w. N. Hartmut Schneider, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2021, § 211 Rn. 100 ff. 392 BGH, Urt. v. 15.9.2015, 5 StR 222/15. 393 BGH, Urt. v. 28.11.2018, 5 StR 379/18.

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Zum Vorliegen eines insofern objektiv niedrigen Beweggrundes muss auf subjektiver Ebene hinzutreten, dass die Tatperson die Tatmotive in das eigene Bewusstsein aufgenommen hat und fähig ist, das eigene Handeln „gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern“ 394 (sog. Motivationsbeherrschungspotenzial). Bei „trennungstypischen“ Tatmotiven im Rahmen von Partnertötungen führt dies regelmäßig dazu, dass Gerichte prüfen, ob die Tatantriebe „nachvollziehbar“ waren. Zur Bewertung ziehen sie wahlweise das Opfer- oder Täterverhalten im Vorfeld heran.395 „Migrantische Tötungen“ aus ehrbezogenen Gründen werfen hingegen eine weitere Frage auf: Wie soll damit umgegangen werden, dass sich in der Tat Wertvorstellungen ausdrücken, die scheinbar im Widerspruch zur deutschen Anschauung stehen. Die höchstrichterliche Spruchpraxis zum Phänomen des „Ehrenmordes“ oszilliert zwischen der Annahme, „ausländische Wertvorstellungen“ seien entweder bereits im Rahmen der objektiven Prüfung des Mordmerkmals zu berücksichtigen oder erst innerhalb dessen subjektiver Beurteilung heranzuziehen. In der sich wandelnden Maßstabsbildung lassen sich drei Phasen396 nachzeichnen. Im Jahr 1966 lehnte der BGH einen niedrigen Beweggrund im Falle ehrbezogener Tatmotive ab, weil dem Täter aufgrund seiner Sozialisation die subjektive Einsichtsfähigkeit in die Verwerflichkeit der Tathandlung fehle. Das Gericht verglich die kulturelle Prägung mit einer schuldmindernden psychischen Krankheit und kam zu dem Ergebnis, dass eine Tötung aus ehrbezogenen Gründen aufgrund der „Persönlichkeit und Denkweise“ 397 des Täters nicht besonders verwerflich und sein Beweggrund daher ebenfalls nicht niedrig sei. Der BGH bezog sich auf seine Rechtsprechung zu tatursächlichen „Persönlichkeitsmängeln“ und argumentierte mit einem Erst-recht-Schluss: „Der Bundesgerichtshof hat wiederholt entschieden, daß Persönlichkeitsmängel bei der sittlichen Bewertung einer Tat u. U. zu berücksichtigen sind. Gilt das in gewissem Umfange schon für ,psychopathische Persönlichkeiten‘, so ist dieser Grundsatz erst recht dann anzuwenden, wenn Ausländer in – von den unseren abweichenden – Anschauungen und Vorstellungen ihrer Heimat befangen sind, von denen sie sich zur Tatzeit noch nicht lösen konnten.“ 398

Obgleich dem Gericht hinsichtlich dieser Einschätzung zu Recht vorzuwerfen ist, ausländische Tatpersonen zu pathologisieren,399 bestätigte der BGH die Sicht394 Wörtlich in: BGH, Urt. v. 28.1.2004, 2 StR 452/03. St. Rspr. seit BGH, Urt. v. 7.10.1994, 2 StR 319/94. 395 Die Rechtsprechung wird später – als Kontrastfolie zu den Ehrenmord-Judikaten – näher dargestellt. Ausführlich zur Spruchpraxis Hartmut Schneider, Trennungstötungen als Mord, in: ZRP 2021, S. 183–186. 396 Das Phasenmodell geht zurück auf Frank Saliger, Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe bei kulturell abweichenden Moralvorstellungen, in: StV 2003, S. 22–25. 397 BGH, Urt. v. 26.4.1966, 5 StR 122/66. 398 BGH, Urt. v. 26.4.1966, 5 StR 122/66. 399 Vgl. Frank Saliger, Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe bei kulturell abweichenden Moralvorstellungen, in: StV 2003, S. 22–25 (22); Werner Baumeister, Eh-

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

weise in einer weiteren Entscheidung: Der Täter des damaligen Falles, ein 22jähriger Mann, der in Sizilien aufgewachsen ist, tötete eine 17-jährige Frau, mit der er sich vergeblich ein Liebesverhältnis wünschte, und drei weitere Personen. Der BGH urteilte, der Täter befinde „sich noch im Stadium der kulturellen Anpassung und damit in einem Zustand interkultureller Spannung“, weshalb nicht auszuschließen sei, dass er „im Augenblick der Tat [. . .] in sizilianische Denkweisen zurückgefallen ist und deshalb das krasse Missverhältnis zwischen Anlaß der Tötung [. . .] und ihrem Erfolg nicht in ausreichendem Maße in sein Bewußtsein aufgenommen hat“.400

Zwei Jahre später brach der BGH mit dieser Rechtsprechungslinie und begründete die zweite Phase der Spruchpraxis. Die Wertvorstellungen des Täters wurden nunmehr bereits auf der Seite des objektiven Tatbestands des Mordmerkmals berücksichtigt und können zum Ausschluss des Mordmerkmals führen. Aus dieser Herangehensweise folgt, dass dieser Zeitraum als „objektive Phase“ der Maßstabsbildung besprochen wird.401 Zwar sei das Motiv der Tötung aus Sicht der deutschen Wertvorstellung „unverständlich und mißbilligenswert“, jedoch gleichsam nicht ausgeschlossen, „daß die individuellen Bedingungen der Tat, zu denen die Bindung des Täters an die besonderen Ehrvorstellungen seines Lebenskreises gehören können, in die Bewertung einbezogen werden und den Ausschlag dafür geben, daß die Beweggründe nicht als niedrig erscheinen“.402

Argumentiert wurde für eine solche Prüfungslogik, dass ein liberaler, werteneutraler Staat kulturell-ethische Inhalte nicht verbindlich festschreiben könne.403 Ein weltoffener Staat gebiete die Rücksichtnahme auf fremde Wertverständnisse. Diese Herangehensweise erfuhr berechtigterweise scharfe Kritik, da sie patriarchalen, frauenfeindlichen Überzeugungen mit einem nicht zu rechtfertigenden Verständnis gegenübertritt und das Recht von Frauen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, schwächt.404 Eine Entscheidung aus dem Jahr 1994 läutet schließlich die dritte und noch immer andauernde Phase der Maßstabsbildung ein. Der BGH prüft den Tathinter-

renmorde, 2007, S. 141; Bahar Erbil, Toleranz für Ehrenmörder?, 2008, S. 178; Brian Valerius, Die strafrechtliche Problematik sog. Ehrenmorde in deutscher Rechtsprechung und Lehre, in: Scholz u. a. (Hg.), Jahrbuch für Verfassung, Recht und Staat im islamischen Kontext, 2013, S. 83–93 (73). 400 Unveröff., zitiert nach Günther Holtz, Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, in: MDR 10/1997, S. 807–811 (809 f., Zitat auf S. 810). 401 Zu weiteren Entscheidungen aus dieser zweiten Phase siehe Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 42 f. 402 BGH, Beschl. v. 27.11.1979, 5 StR 711/79. 403 M.w. N. aus der Zeit Anette Grünewald, Tötungen aus Gründen der Ehre, in: NStZ 2010, S. 1–9 (4 f.). 404 Ebd., S. 8 f.

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grund seither wieder auf der subjektiven Ebene und geht im Falle eines „Ehrenmordes“ grundsätzlich (objektiv) von einem niedrigen Beweggrund aus.405 Zur Beurteilung seien allein die Wertvorstellungen der deutschen Rechtsgemeinschaft heranzuziehen und nicht die „Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt“.406 Ein niedriger Beweggrund liegt nur dann ausnahmsweise nicht vor, wenn die Tatperson von ihren heimatlichen „Vorstellungen und Anschauungen“ derart beherrscht war, dass sie sich von ihnen nicht lösen konnte.407 In diesem Fall komme lediglich eine Verurteilung wegen Totschlags in Betracht. Als wesentliches Argument der besonderen Verwerflichkeit führt der BGH an, dass die deutsche Rechtsordnung selbst keine Todesstrafe kenne, vielmehr „das Lebensrecht des Menschen so hoch einschätzt, daß sie es auch einem Täter nicht aberkennt, der denkbar schwerste verbrecherische Schuld auf sich geladen hat“.408

Diese Prüfungslogik kehrt das bis dato geltende „Regel-Ausnahme-Prinzip“ um und ist vom BGH mittlerweile mehrfach bestätigt worden.409 Dem kulturellen Hintergrund der Tat wird damit grundsätzlich eine geringere Bedeutung zugesprochen als zuvor. Diese Entwicklung ist zu begrüßen.410 In der vorliegenden Untersuchung werden entsprechend der methodischen Einschränkung vor allem Judikate ab dem Jahr 2000 analysiert, also lediglich solche, die in die anhaltende dritte Phase der Maßstabsbildung fallen. Daher ist anzunehmen, dass die zuständigen Schwurgerichte im Falle eines sog. „Ehrenmordes“ grundsätzlich vom Vorliegen eines niedrigen Beweggrundes ausgehen. Ebenfalls 405 Diese Kehrtwende leitete ein: BGH, Urt. v. 7.10.1994, 2 StR 319/94. Der BGH beschäftigt sich hier mit einer „Blutrache“ und keinem Ehrenmord im engeren Sinne. Der Rechtsprechungswandel erfasste allerdings nicht alle Senate gleichzeitig, vgl. BGH v. 26.6.1997, 4 StR 180/97. Zu der abweichenden Senatsrechtsprechung ausführlich Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 43 ff. 406 BGH, Urt. v. 7.10.1994, 2 StR 319/94, Rn. 18. Unklar bleibt der Bezugspunkt, da auch in den meisten Herkunftsländern der Tatpersonen eine Tötung aus ehrbezogenen Motiven strafbar ist. Befürwortet werden die Taten zumeist lediglich durch das regionale Brauchtum. 407 BGH, Urt. v. 7.10.1994, 2 StR 319/94, Rn. 20. 408 BGH, Urt. v. 7.10.1994, 2 StR 319/94, Rn. 18. 409 Zur weiteren Rechtsprechung und der (überwiegend zustimmenden) Rezeption der BGH-Entscheidung im juristischen Schrifttum: Hartmut Schneider, in: MüKo StGB, 4. Aufl. 2021, § 211 Rn. 111 ff.; Albin Eser/Detlev Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder StGB, 30. Aufl. 2019, § 211 Rn. 19a. 410 Der scheinbar befriedete Streit wurde durch den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer noch einmal aufgeheizt, als dieser 2009 in einem Interview mit dem Spiegel forderte, „der soziale Kontext und die Sozialisation des Täters“ müssten rechtlich stärker bedacht werden und daher müsse ein Verbotsirrtum gem. § 17 StGB in Erwägung gezogen werden. SPIEGEL v. 13.5.2009, „Folter gedeiht im Dunkeln“, Interview mit Ex-Verfassungsrichter Hassemer, geführt von Thomas Darnstädt und Hans-Ulrich Stoldt.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

möglich wäre, dass die Ausnahmeregelung von den Gerichten weit ausgelegt und die subjektive Ebene des niedrigen Beweggrundes ausgeschlossen wird.411 Gegenstand der Betrachtung ist vor allem, wie die Prüfung im Vergleich zu den sonstigen Partnertötungen vollzogen wird. Grundsätzlich wäre anzunehmen, dass auf Grundlage der deutschen Rechtsordnung geschlechterspezifische Aspekte von Femiziden sowohl bei Tötungen aus ehrbezogenen Motiven als auch bei sonstigen Partnertötungen berücksichtigt werden. 3. Gerichtliche Argumentation im Lichte des Rassifizierungsprozesses Im Zuge der Untersuchung traten deutliche Spannungen zwischen den höchstrichterlichen Vorgaben des BGH und den Urteilen der Tatgerichte hervor.412 Teilweise stehen die Kammerentscheidungen im direkten Widerspruch zu den Prüfungsvorgaben des BGH, andere Entscheidungen strapazieren zumindest dessen Ausnahmeregelung stark. Häufig prüfen die Tatgerichte gar nicht, ob ein niedriger Beweggrund vorliegt.413 Deshalb konzentriert sich die Darstellung auf die reichhaltige Spruchpraxis des BGH. Es werden ebenfalls Entscheidungen der Landgerichte herangezogen, jedoch vorwiegend, um die Umsetzung der BGHRechtsprechung zu illustrieren. Diese Einschränkung legt zudem die nur sehr geringe Veröffentlichungsrate der Schwurgerichtsentscheidungen nahe. Im Vorfeld der Analyse ist auf eine weitere Schwierigkeit hinzuweisen: Der BGH sowie die erstinstanzlichen Gerichte nutzen die Formulierung „Ehrenmord“ selbst nicht oder zumindest nicht einheitlich, um die jeweiligen Sachverhalte einzuordnen.414 Dies ist aufgrund der problematischen Konnotation des Begriffs grundsätzlich zu begrüßen. Für den Zusammenhang dieser Untersuchung folgte aus diesem Befund, dass die Materialsammlung mit anderen Suchbegriffen ope-

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Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 46. Dazu Dietrich Oberwittler/Julia Kasselt, Ehrenmorde in Deutschland, 2011, S. 161 f. 413 Oberwittler und Kasselt kommen zu dem Ergebnis, dass die Schwurgerichtsentscheidungen insgesamt milder ausfallen, als die BGH-Rechtsprechung erwarten lassen würde: Dietrich Oberwittler/Julia Kasselt, Ehrenmorde in Deutschland, 2011, S. 162. 414 LG Schweinfurt, Urt. v. 10.3.2010, 1 KLs 11 Js 6760/09; LG Kleve, Urt. v. 29.12. 2009, 170 KLs-101 Js 105/09 – 10/09; LG Hamburg, Urt. v. 13.2.2009, 621 Ks 17/08; LG Limburg, Urt. v. 23.4.2007, 3 Js 14048/06 – 2 Ks. Teilweise wird der Terminus in der Pressemitteilung verwendet oder der Verschlagwortung durch die Datenbank, aber nicht im Entscheidungstext selbst, etwa: BGH, Urt. v. 28.1.2004, 2 StR 452/03; BGH, Urt. v. 9.9.2010, 1 StR 376/10; BGH, Urt. v. 25.9.2019, 5 StR 222/19; BGH, Urt. v. 22.7.2020, 5 StR 543/19. Anders LG Detmold, Urt. v. 16.5.2012, 4 Ks 31 Js 1086/11– 10/12, allerdings spielt der Begriff hier bereits in der Sachverhaltsermittlung eine Rolle und wird vom Gericht lediglich aufgegriffen. Das OLG Hamm, Beschl. v. 15.1.2013, 3 Ws 5/13, nutzt den Begriff in den Leitsätzen, nicht in der Prüfung des Mordmerkmals (es geht um den Tatverdacht der versuchten Beteiligung). 412

C. Rassifizierungsprozess als Subalternisierung

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rieren musste.415 Ob die verhandelten Sachverhalte tatsächlich als „Ehrenmord“ im engeren Sinne gefasst werden können oder Grenzfälle zur Blutrache oder Partnertötung darstellen, ist im Einzelfall schwierig zu bestimmen. Eine trennscharfe Unterscheidung ist für diese Zwecke jedoch ohnehin nicht zwingend. Das Ziel der Untersuchung besteht in einem Vergleich der gerichtlichen Prüfung zwischen kulturalisierten und nicht kulturalisierten Tötungen. Sie dient nicht einer empirischen Auswertung der absoluten Häufigkeit der benannten Fälle, des Strafmaßes oder sonstiger Werte, die einen Bezug zu einer Grundmenge voraussetzen würden. a) Markierung und Positionierung Die Markierungspraxis knüpft in der vorliegenden Konstellation an kulturelle bzw. religiöse Erkenntniszeichen an, um „Ehrenmorde“ von sonstigen Partnertötungen zu unterscheiden. Während „Ehrenmorde“ als „rückständige“, patriarchale Tradition gekennzeichnet werden, die von „fremdländischen Migranten“ nach Deutschland importiert werden, erscheint die Tötung einer Intimpartnerin durch einen „heimischen Täter“ als individueller Rechtsbruch, der vor allem auf psychische und soziale Umstände zurückzuführen ist. Mit der Markierung wird die soziokulturelle und religiöse Prägung der „Ehrenmörder“ betont. Das ursächliche patriarchale Besitz- und Kontrolldenken tritt in den Hintergrund. Auf diesem Wege bildet sich eine spezifische Wahrnehmungsfolie der Taten heraus, die von den Gerichten sprachlich ausgestaltet wird. Die Entscheidungstexte markieren sowohl die Tatpersonen als auch deren kulturellen Hintergrund: „Ehrenmorde“ sind Taten, die von „ausländischen Tätern“ 416 oder einem „anatolischen Täter“ 417 begangen werden, gleichwohl der tatsächliche Ausländerstatus von den Gerichten nicht festgestellt und im weiteren Verlauf der Prüfung nicht relevant wird. Ur415 Folgende Suchbegriffe wurden herangezogen: „Tötung durch Ausländer“; „niedrige Beweggründe bei ausländischen Tätern“; „abweichende Wertvorstellungen“; „ausländische/fremde Wertvorstellungen“; „heimatliche Wertvorstellungen“ „niedrige Beweggründe“ und „Ehre“ und andererseits „Ehepartnertötung“; „Partnertötung“; „Intimpartnertötung“; „Tötung des Intimpartners“. Interessanterweise gilt die Vermeidung des Begriffs nicht für aufenthalts- und asylrechtliche Fälle, in denen die Gerichte über die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung subsidiären Schutzes wegen eines drohenden Ehrenmordes im Herkunftsland zu entscheiden haben. In einer solchen Konstellation bezeichnen die Gerichte die potenziell drohende Gefahr durchweg als „Ehrenmord“ und erkennen die Schutzbedürftigkeit und ein Abschiebeverbot regelmäßig an. Etwa VG Münster, Urt. v. 1.12.2021, 7 K 1859/20.A; VG Cottbus, Urt. v. 5.11.2021, VG 6 K 248/17.A; VG Köln, Urt. v. 1.10.2021, 12 K 10530/17.A; VG Freiburg, Urt. v. 31.8.2021, A 14 K 4613/17. Dies gilt aber insbesondere für Frauen, nicht für Männer, die von einem Ehrenmord bedroht werden: VG Braunschweig, Urt. v. 30.7.2021, 2 A 275/18; VG Würzburg, Urt. v. 24.8.2020, W 8 K 20.30714. Die Beurteilung wird länderspezifisch vorgenommen, der Ehrenmord als „häusliche Gewalt“ in Russland rechtfertigt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht: VG Augsburg, Urt. v. 12.8.2020, Au 2 K 19.30113. 416 BGH, Urt. v. 28.1.2004, 2 StR 452/03; BGH, Urt. v. 28.11.2017, 5 StR 480/17. 417 BGH, Urt. v. 28.1.2004, 2 StR 452/03.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

sächlich für die Tatbegehung sind „fremde soziokulturelle Wertvorstellungen“ 418 und eine „kulturelle Denkweise“,419 welche die Tatperson aus ihrem „Heimatoder Herkunftsland“ 420 importiert hat oder die ihrer „Volksgruppe“ 421 entstammt. Das Landgericht Hagen prüft in einem vergleichbaren Fall, ob der Täter „aus traditionsgebundener Familienräson zur Wiederherstellung einer auf hybride Ansprüche gestützten Stammesehre“ handelte.422 Gemein ist den Tatmotiven jedenfalls, dass sie einer per se „fremde[n] Vorstellungswelt“ 423 entspringen. Auch das Schrifttum spricht von den Tatmotiven als „exotisch abweichenden Ansichten“.424 Dem gegenüber steht, scheinbar völlig abgegrenzt zu den beschriebenen Phänomenen, die „moderne Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland“, die durch ihre „individualistische und freiheitliche Ausrichtung“ 425 bestimmt ist. Die Taten zeigen insofern einen eklatanten Widerspruch zu „deutsche[n] Bräuche[n] und Überzeugung[en] hinsichtlich des Verhältnisses von Mann und Frau“ 426 und den „hiesigen Rechts- und Wertvorstellungen“ an.427 Diese Gegenüberstellung erzeugt im Sinne der Positionierung ein hierarchisches Verhältnis zwischen den beiden Werteordnungen. Diese werden als monolithische Einheit essentialisiert. Die „fremde Ordnung“ wird zu einem Kollektiv, welches die gegenteiligen Überzeugungen der eigenen Identitätsgemeinschaft in sich vereint. Im Sinne des Otherings wird die „eigene Kultur“ stets mitgedacht, wenn von „den fremden Bräuchen“ gesprochen wird. Das Eigene wird zu einer Folie des Gegensätzlichen, vor der die Andersartigkeit der Taten und insofern deren Ausnahmecharakter hervortreten sollen. Um diesen zu betonen, verweisen einige Entscheidungen darauf, dass den Angeklagten im Vorfeld der Tat die Chance geboten wurde, „deutsche Wertvorstellungen“ kennenzulernen. Das Landgericht Cottbus führt beispielsweise aus, dass die „hier herrschenden Normen und Werte – insbesondere auch die gleichberechtigte Stellung von Frauen und Mädchen im Allgemeinen sowie die Gleichberechtigung in einer Beziehung im Besonderen –“

dem Täter „mehrfach vermittelt“428 wurden. Das gleiche Gericht verwies in einem anderen Verfahren darauf, dass der Angeklagte 418

BGH, Urt. v. 28.1.2004, 2 StR 452/03; BGH, Urt. v. 28.11.2017, 5 StR 480/17. LG Detmold, Urt. v. 16.5.2012, 4 Ks 31 Js 1086/11–10/12, Rn. 227. 420 BGH, Urt. v. 28.1.2004, 2 StR 452/03; LG Limburg, Urt. v. 23.4.2007, 3 Js 14048/06 – 2 Ks. 421 BGH, Urt. v. 20.2.2002, 5 StR 538/01; BGH, Urt. v. 11.10.2005, 1 StR 195/05; LG Kleve, Urt. v. 29.12.2009, 170 KLs-101 Js 105/09; LG Bielefeld, Urt. v. 17.8.2009, 19 Ks 46 Js 1/09–11/09. 422 LG Hagen, Urt. v. 10.11.2006, 31 Ks 400 Js 179-06/9/06. 423 Etwa BGH, Urt. v. 2.2.2000, 2 StR 550/99. 424 Hartmut Schneider, in: MüKo, StGB Komm., 4. Aufl. 2021, § 211 Rn. 105. 425 LG Detmold, Urt. v. 16.5.2012, 4 Ks 31 Js 1086/11–10/12, Rn. 40. 426 BGH, Urt. v. 28.1.2004, 2 StR 452/03. 427 LG Limburg, Urt. v. 23.4.2007, 3 Js 14048/06 – 2 Ks, Rn. 100. 419

C. Rassifizierungsprozess als Subalternisierung

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„die kulturellen Unterschiede zu seinem ,traditionellen‘ Vorstellungsbild von Ehe und Familie intellektuell erfasst hatte, nur unwillig war, sich darauf einzustellen und diese zu akzeptieren“.429

Die versäumte Anpassung an die deutsche Werteordnung mag darauf zurückzuführen sein, dass die Tatpersonen von den benannten kulturellen Wertvorstellungen vollständig „durchdrungen“ 430 oder zumindest in eben jenen „verhaftet“ 431 sind. Die fremde Sozialisation scheint das Handeln des Täters vollständig zu determinieren. In einem anderen Fall wurden dem Angeklagten „von den Familienmitgliedern deutsche Bräuche und Überzeugungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Mann und Frau erklärt“; die eigene Schwester drohte sogar, sich an die Polizei zu wenden.432 Gegenüber seinen Eltern bestritt der Angeklagte die vorausgehenden Misshandlungen seiner Ehefrau, weil er deren Missachtung fürchtete. Weshalb das Vorgehen trotz allem als kulturell bedingtes Todesurteil im Sinne des Familienverbandes gelesen wird, bleibt unverständlich. Scheinbar herrschen nicht einmal innerhalb der gleichen Familie einheitliche Vorstellungen. Die Positionierung der markierten Eigenschaft des Tötungsverbrechens zeigt sich besonders deutlich in einem Vergleich zur Prüfung sonstiger Partnertötungen. Im Rahmen der strafrechtlichen Einordnung habe ich dargestellt, dass für die Bewertung des Beweggrundes als niedrig von Bedeutung ist, ob die Gefühlsregung selbst auf einer niedrigen Gesinnung beruht. Geprüft wird daher, ob die Reaktion auf einem nachvollziehbaren Grund fußt.433 Der zu diesem Zwecke aufgestellte Beurteilungsmaßstab weicht stark ab. Während der „Ehrenmord“ grundsätzlich unverständlich und verachtenswert ist, scheinen Tötungen in Intimbeziehungen emotional rekonstruierbar zu sein. Zumindest soll ein solcher Versuch unternommen werden, bevor objektiv vom Vorliegen des Mordmerkmals ausgegangen werden kann. Der BGH argumentierte etwa, eine Bewertung als niedrig sei dann fraglich, wenn „die Trennung von dem Tatopfer ausgegangen ist und der Täter durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will“.434 428

LG Cottbus, Urt. v. 9.6.2017, 21 KS 1/17. LG Cottbus, Urt. v. 26.5.2019, R 1 Ks 2/19, Rn. 11. Der BGH bemängelt, dass das LG das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe nicht erörtert hat: BGH, Urt. v. 22.7.2020, 5 StR 543/19, Rn. 8. 430 BGH, Urt. v. 28.1.2004, 2 StR 452/03. 431 LG Limburg, Urt. v. 23.4.2007, 3 Js 14048/06 – 2 Ks, Rn. 56; LG Braunschweig, Urt. v. 13.2.2020, 9 Ks 7/19; BGH, Beschl. v. 3.11.2020, 6 StR 328/20. 432 BGH, Urt. v. 28.1.2004, 2 StR 452/03. 433 St. Rspr. seit: BGH, Urt. v. 6.3.1992, 2 StR 551/91. Siehe auch BGH, Beschl. v. 22.7.2010, 4 StR 180/10; BGH, Urt. v. 1.3.2012, 3 StR 425/11. 434 BGH, Beschl. v. 15.5.2003, 3 StR 149/03; BGH, Urt. v. 25.7.2006, 5 StR 97/06; fast identischer Wortlaut in BGH, Urt. v. 29.10.2008, 2 StR 349/08. In neueren Entscheidungen wird die Formulierung nicht mehr gebraucht. 429

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

Dies bekräftigt der BGH kurze Zeit später: „Die Tötung des abkehrwilligen Intimpartners beruht nicht stets auf niedrigen Beweggründen; allein die Erwägung, der Täter habe aus ,überzogenem Besitzdenken‘ gehandelt, trägt das Mordmerkmal nicht.“ 435 „Gerade der Umstand, dass eine Trennung vom Tatopfer ausgegangen ist, darf als gegen die Niedrigkeit des Beweggrundes sprechender Umstand beurteilt werden.“ 436

Während der Wunsch des „Ehrenmörders“, das Opfer möge nach seinen Vorstellungen leben, als patriarchaler Herrschaftsanspruch gedeutet wird, suggeriert der BGH im Falle der Trennungstötung, der Täter befinde sich in einem (nachvollziehbaren) Zustand der emotionalen Verwundbarkeit. Die Tötung einer Intimpartnerin, die sich aus der Beziehung lösen möchte, erfolge grundsätzlich nicht aus niedrigen Beweggründen. Das Opferverhalten müsse sorgfältig berücksichtigt werden. In Partnertötungsfällen führt dies häufiger dazu, dass das Opfer für mitschuldig an der Eskalation des tatauslösenden Konflikts befunden wird als bei „Ehrenmorden“.437 Beispielsweise wird dem Opfer zum Vorwurf gemacht, trotz Eheproblemen die Trennung vom Täter nicht deutlich forciert zu haben. Strafmildernd wird insofern bewertet, dass die Ehefrau „selbst die Tat in gewisser Weise dadurch mitverursacht hat, dass sie zuvor nicht konsequent war und die Trennung oder Scheidung offensichtlich selbst nicht erstrebte, weil sie offenbar den gehobenen gesellschaftlichen Status einer Arztfrau beibehalten und nach außen den Schein der ehelichen Harmonie wahren wollte.“ 438

Ein solches Vorgehen führt zu einer ungerechtfertigten Privilegierung patriarchaler Tötungsbeweggründe und wurde als Form der „täterfreundlichen Individualethik“ zu Recht kritisiert.439 Die Rechtsprechung des BGH bekräftigt geschlechtsbezogene Besitzansprüche. Gleichsam konstruiert das Gericht einen Unterschied zwischen einer Form der Eifersucht, die das Gericht wohl als normal versteht, und einer „ungehemmten Eifersucht“. Dieser Unterschied wird an der differenzierenden Bewertung deutlich, eine Tötung aus Eifersucht müsse „nicht zwingend auf tiefster sittlicher Stufe“ 440 stehen: Eifersucht ist etwa dann nachvollziehbar, wenn das Opfer „Kontakte zu anderen Männern suchte und sich zweimal wegen einer neuen Bekanntschaft kurzzeitig vom Angeklagten getrennt hatte“, „während des der Tat vorange435

BGH, Urt. v. 29.10.2008, 2 StR 349/08. BGH, Beschl. v. 24.10.2018, 1 StR 422/18, Rn. 20; BGH, Beschl. v. 7.5.2019, 1 StR 150/19, Rn. 8; kritisch Anette Grünewald, Niedrige Beweggründe bei Tötung des Intimpartners, in: NStZ 2019, S. 518–520. 437 Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 273. 438 Unveröff. Entscheidung, zitiert nach Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 273. 439 Hartmut Schneider, Trennungstötungen als Mord, in: ZRP 2021, S. 183–186 (185). 440 BGH, Urt. v. 25.1.1984, 3 StR 481/83. 436

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gangenen Diskothekenbesuchs, für dessen Kosten – wie stets – der Angeklagte aufkam, flirtete“ und „eine ungewöhnlich hohe Zeche, die nahezu zwei Fünftel des monatlichen Einkommens des Angeklagten betrug“

verursachte.441 Aus Sicht des Landgerichts hat sich der Täter in „noch verständlicher Aufwallung von Jähzorn, Enttäuschung, Wut, aber auch Angst davor, verlassen zu werden, zur Tat entschlossen“.442 Das männliche Besitzdenken scheint, solange es nicht in einen „rücksichtslosen Egoismus“ umschlägt, Verständnis zu genießen. Auch, wenn sich die Frau wegen eines anderen Mannes vom Täter trennt, hat dieser einen „begründeten Anlass zur Eifersucht“.443 Auch zu dieser Zeit galten für als fremdartig gelesene Wertvorstellungen andere Maßstäbe. Dies zeigt sich an den Umständen, die aus einer normalen eine „ungehemmte“ Eifersucht machen können: etwa die „Bindung an eine fremde Kultur“ 444, die „besonderen Ehrvorstellungen seines [des Täters] Lebenskreises“ 445 und ein „autoritär-patriarchales Weltbild“.446 Die Rechtsprechung setzt sich – anders als bei „Ehrenmorden“ – ebenfalls kaum damit auseinander, ob die Partnertötung durch den Druck des sozialen Umfelds ausgelöst wurde; dies gilt selbst dann, wenn dieser Hänseleien von Arbeitskollegen vorausgehen, die dem Täter nahelegten, er könne nicht dulden, dass seine Frau „jetzt einen anderen Mann küsse“.447 Doch selbst wenn allein der Täter für die Zerrüttung der Beziehung verantwortlich ist, führt dies nicht zwangsläufig dazu, die Tötung des Intimpartners auf einen niedrigen Beweggrund zurückzuführen. Vielmehr muss auch in solchen Fällen die Wut über das Beziehungsende als nicht völlig unbegreiflich angesehen werden.448 Das Landgericht Berlin beurteilt eine Tötung, obwohl Vorfeldplanungen ermittelt wurden, als „Verzweiflungstat und nicht als Aktion aus schlechterdings nicht nachzuvollziehendem, nur noch verachtenswertem Hass“.449 Der Angeklagte sei zur Tatzeit „von dem Gefühl einer inneren Ausweglosigkeit beherrscht gewesen“, welches er wohl nicht willensmäßig zu steuern wusste.450 Ein vergleichbarer Passus taucht in den Konstellationen der sog. „Ehrenmorde“ nicht auf. Spiegelbildlich wird eine leidvolle Biografie der Tatperson – passive Gewalterfahrungen in der Kindheit, sonstige Traumata oder Suchterkrankungen – im 441

BGH, Beschl. v. 22.7.2010, 4 StR 180/10, Rn. 7. LG Nürnberg Fürth, Urt. v. 11.11.2009, zitiert nach BGH, Beschl. v. 22.7.2010, 4 StR 180/10, Rn. 7. 443 BGH, Urt. v. 1.3.2012, 3 StR 425/11, Rn. 13. 444 BGH, Beschl. v. 27.11.1979, 5 StR 711/79; BGH, Urt. v. 5.5.1981, 1 StR 145/81. 445 BGH, Beschl. v. 27.11.1979, 5 StR 711/79. 446 BGH, Urt. v. 5.5.1981, 1 StR 145/81, Rn. 4. 447 Auch den BGH stört die unterbliebene Prüfung nicht: BGH, Urt. v. 15.2.2007, 4StR 467/06, Rn. 3. 448 BGH, Beschl. v. 7.5.2019, 1 StR 150/19. 449 BGH, Urt. v. 25.7.2006, 5 StR 97/06, Tatgericht: LG Berlin, Urt. v. 7.9.2005, (529) 1 Kap Js 154/05 Ks (4/05). 450 BGH, Urt. v. 25.7.2006, 5 StR 97/06. 442

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

Falle der Partnertötung häufiger strafmildernd berücksichtigt als bei einer Tötung mit kulturalisiertem Ehrbezug.451 In einem „Ehrenmord“-Verfahren vor dem Landgericht Hamburg führt das Gericht etwa lediglich aus, dass der Täter von seinen Eltern zu Erziehungszwecken häufig geschlagen wurde. Er erfuhr insbesondere von seinem Vater regelmäßig Gewalt. Danach folgt die lapidare Feststellung: „Die Eltern erzogen ihre Kinder entsprechend den [. . .] muslimischen Traditionen.“ 452 Neben der kulturellen Markierung wird auch der Tathergang different gekennzeichnet: Im Schrifttum heißt es beispielsweise, „Ehrenmorde“ seien lange vorher geplant. Es handele sich um rationale Taten, während Partnertötungen eher spontan und affektiv entstünden.453 Es scheint, als wolle eine solch dichotome Darstellung Hinweise auf das Wesen der Tatperson geben. Doch auch diese Einschätzung lässt sich durch die empirische Untersuchung von Kasselt nicht halten. Partnertötungen ereignen sich nicht überwiegend spontan, sondern in vergleichbarer Weise (un-)geplant wie „Ehrenmorde“. Häufig kündigen Tatpersonen die eigene Tat dem Opfer oder anderen Personen zuvor an.454 In beiden Fällen gehen der Tötung typischerweise jahrelange Gewalthandlungen voraus.455 b) Neutralisierung Im dritten Schritt der Rassifizierung, der Neutralisierung, werden die Gewalttaten gegen Frauen als Phänomen gedeutet, das in der Kultur und damit in der wesenhaften Sozialisation der Tatpersonen liegt. Damit angesprochen ist eine scheinbar natürliche Differenz zwischen den konstruierten Personengruppen und deren Kulturen. Während die Partnertötung ohne kulturellen Verweis auskommt, nehmen kulturelle Traditionen und Bräuche der Herkunftsländer in der Judikatur zu „Ehrenmorden“ verhältnismäßig viel Raum ein. Teilweise wird die Religion der Tatpersonen genannt,456 auch wenn sie im Anschluss nicht als relevant eingeschätzt wird. Die Tötung der Intimpartnerin wird jedenfalls am Maßstab der

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Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 274 f. LG Hamburg, Urt. v. 13.2.2009, 621 Ks 17/08. 453 Myria Böhmecke, Studie: Ehrenmord, 2005, S. 10; Phyllis Chesler, Are Honor Killings Simply Domestic Violence?, in: Middle East Quarterly 16/2, 2009, S. 61–69. 454 Dagmar Oberlies, Tötungsdelikte zwischen Männern und Frauen, 1995, S. 79; Karin Herbers/Heike Lütgert/Jürgen Lambrecht, Tötungsdelikte an Frauen durch (Ex-) Intimpartner, in: Kriminalstatistik 6/2007, S. 377–385 (379); Isabel Zoder, Tötungsdelikte in der Partnerschaft, 2008, S. 13. 455 Dagmar Oberlies, Tötungsdelikte zwischen Männern und Frauen, 1995, S. 79, 154 f.; Karin Herbers/Heike Lütgert/Jürgen Lambrecht, Tötungsdelikte an Frauen durch (Ex-)Intimpartner, in: Kriminalstatistik 6/2007, S. 377–385 (379); Isabel Zoder, Tötungsdelikte in der Partnerschaft, 2008, S. 16 f. 456 Vgl. LG Kleve, Urt. v. 22.7.2004, 140 Ks 1/04; LG Hagen, Urt. v. 19.1.2010, 52 KLs 400 Js 552/08–9/09. 452

C. Rassifizierungsprozess als Subalternisierung

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„deutschen Rechtsgemeinschaft“ 457 und sonstigen, nicht näher genannten Werten gemessen. Diese „Ethnisierung von Sexismus“,458 vor allem die antimuslimische Rassifizierung des Phänomens der geschlechtsbezogenen Gewalt, verdeckt die strukturellen Defizite im Schutz von Frauen. Im Zuge der dargestellten Externalisierung erscheinen die Probleme „bei den Anderen“ sehr viel größer als die vermeintlich eigenen. Die Taten bieten eine willkommene Projektionsfläche für moralische und gesellschaftliche Überlegenheitsgefühle. Das gesellschaftliche Problem wird an den Anderen abgearbeitet und das Eigene dadurch freigesprochen oder zumindest entlastet. Unabhängig davon, dass bestimmte Gewaltphänomene in anderen Ländern und/oder Kulturkreisen tatsächlich in größerer Zahl vorkommen, kann sich eine nationale Perspektive auf die Problematik nicht damit zufriedengeben, Ursachen und Schutzlücken nur außerhalb der dominanten Bezugsgruppe zu suchen. Im Sinne des Subalternisierungsprozesses entsteht auf diesem Wege ein Trugbild. Kein spezifischer kultureller oder religiöser Ehrbegriff ist für Femizide tatursächlich, sondern eine patriarchal organisierte und hierarchisierte Familien-/Gesellschaftsstruktur.459 c) Ausschluss Die Ausschlusswirkung vollzieht sich nicht als unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung, sondern in Form eines kulturalisierten Labels, welches Angehörigen der muslimischen Religion grundsätzlich anhaftet: patriarchal, gewalttätig, im „Clan“ 460 agierend. Die Rassifizierung einer bestimmten Erscheinungsform eines Femizids wirft die Sorge einer rechtsstaatlich bedenklich verkürzten Prüfung des Mordmerkmals auf. Das Label „fremde Wertvorstellungen“ darf keinesfalls an die Stelle einer detaillierten Prüfung des Sachverhalts treten oder die Verwerflichkeit des Tötungsmotivs vorwegnehmen.461 Aufgrund der vorangegangenen Auswertung besteht die begründete Sorge, dass zwischen Mord und Tot457

St. Rspr. seit BGH, Urt. v. 7.10.1994, 2 StR 319/94. Margret Jäger, Fatale Effekte, 1996. 459 Vereinzelt gelingt es den Gerichten, ohne einen kulturalisierten Bezug auszukommen: Etwa LG Kiel, Urt. v. 7.11.2012, 2 KLs 6/11. Das Gericht spricht von einer „hierarchisch-patriarchalischen Festungsfamilie“, Rn. 196. Obwohl das Gericht selbst den Begriff „Ehrenmord“ nicht verwendet und niedrige Beweggründe im Ergebnis ablehnt, bezeichnet der BGH den Fall als „sogenannter Kieler Ehrenmordfall“. Pressemitteilung Nr. 194/2012 v. 20.11.2012, BGH, Beschl. v. 6.11.2012, 5 StR 473/12. Siehe auch: BGH, Beschl. v. 20.8.2004, 2 StR 281/04; BGH, Urt. v. 25.9.2019, 5 StR 222/19. 460 Ausführlich zur diskursiven Verschiebung von Rasse auf Clan als Modernisierung des Rassismus: Doris Liebscher, Clans statt Rassen, in: KJ 2020, S. 529–542 (534 ff.). 461 Kritisch auch Anette Grünewald, Tötungen aus Gründen der Ehre, in: NStZ 2010, S. 1–9 (3); Lena Foljanty/Ulrike Lembke, Die Konstruktion des Anderen in der „Ehrenmord“-Rechtsprechung, in: KJ 2014, S. 298–315 (308 ff.); Hartmut Schneider, Trennungstötungen als Mord, in: ZRP 2021, S. 183–186 (185 f.); Julia Habermann, Möglichkeiten der Sanktionierung von Femiziden im deutschen Strafrecht, in: NK 2021 S. 189– 208 (199). 458

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

schlag nicht auf der Basis von rechtlichen, sondern kulturalisierten Kriterien entschieden wird. Denkbar ist ebenfalls eine öffentliche Vorverurteilung der Tatpersonen, welche die Unvoreingenommenheit der rechtsprechenden Personen und Schöffen beeinträchtigen könnte.462 Zwar scheinen die Variablen „Ethnie“ oder „Staatsangehörigkeit“ sowie das Geburtsland der Tatpersonen keinen Effekt auf das verhängte Strafmaß zu haben.463 Gleichwohl hat das Ausmaß der kulturellen Assimilation Einfluss auf die Länge der verhängten Freiheitsstrafe.464 Eine subalternisierende Ausschlusswirkung betrifft zudem auch nichtstraffällige Personen, denen zumindest ein bestimmter „Ehrenkodex“ und eine entsprechende „Triebhaftigkeit“ zugeschrieben werden. Vor allem muslimische Männer werden infolgedessen mit einer höheren Gewaltbereitschaft assoziiert. Ebenfalls wirkt sich das erzeugte Label nachteilig auf muslimische Frauen aus: Diese werden als passive, hilflose Opfer patriarchaler Gewalt gelesen. Dieser Befund steht im Widerspruch zu verschiedenen internationalen Verpflichtungen Deutschlands sowie der seit 1. Februar 2017 als Bundesgesetz geltenden Istanbul-Konvention.465 Eine mangelnde Sensibilisierung der Justiz begründet eines von mehreren Umsetzungsdefiziten466 beim Schutz von Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt. Die Justiz sollte dem Phänomen der Partnertötung genauso wenig Verständnis entgegenbringen wie sonstigen Formen des Femizids. Andersfalls, so legt es diese Betrachtung nahe, bleiben die Stimmen patriarchaler Gewaltopfer im Sinne des Subalternitätskonzepts ungehört. Mit Spivak könnte man argumentieren, die Rechtsprechung „rette“ die Opfer von „Ehrenmorden“, wohingegen sie Schutzlücken vor allem für Frauen produziert, die Trennungstötungen und anderen Formen von Partnerschaftsgewalt ausgesetzt sind. 4. Zwischenergebnis Die einseitig rassifizierte Deutungsschablone sucht Erklärungen zu brutalen Gewaltverbrechen in vermeintlich fremden Religionen und Kulturkreisen statt in

462 Geäußert vom Strafverteidiger des Angeklagten, Bernd Scharinger, in einem aktuellen Verfahren vor dem LG Berlin: rbb v. 27.12.2021, abrufbar unter: https:// www.rbb24.de/panorama/ beitrag/2021/12/berlin-staatsanwaltschaft-anklage-bruedermord-afghanin.html. 463 Julia Kasselt, Ehre im Spiegel der Justiz, 2016, S. 321. 464 Ebd. 465 Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt v. 17.7.2017, BGBl. II Nr. 19, S. 1026. 466 Siehe dazu: Deutscher Juristinnenbund (Hg.), 1. Themenpapier. Istanbul-Konvention: Umsetzungsdefizite bei Femiziden, 2019, abrufbar unter: https://www.djb.de/file admin/user_upload/presse/stellungnahmen/st19-24_IK1_Femizide.pdf.

C. Rassifizierungsprozess als Subalternisierung

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strukturellen Unterdrückungssystemen, ihrer Historie und ihren Kontinuitäten. Tötungen von Frauen oder Mädchen sind weit überwiegend das Ergebnis patriarchaler Besitzansprüche, nicht religiöser Dogmen. Diese zu bekämpfen und Frauen vor Gewalt zu schützen, fordert eine umfassende Analyse des Phänomens. Die Gewaltverbrechen zu rassifizieren und ihr Vorkommen lediglich in der Einwanderungsgesellschaft zu vermuten, verkürzt das Problem massiv. Selbstverständlich können patriarchale Besitz- und Kontrollwünsche unterschiedlich stark ausgeprägt sein, diese Unterschiede verlaufen jedoch nicht zwingend entlang einer kulturellen Grenzlinie. Zu Recht werden patriarchale Besitzansprüche der Tatpersonen bei sog. „Ehrenmorden“ nicht als strafmildernd relevant eingeschätzt. Dies sollte auch für sonstige Femizide gelten. Stattdessen stabilisiert die Rechtsprechung die Vorstellung des anderen als rückständig und frauenverachtend. In beiden Fällen sollten die notwendigen Rückschlüsse auf strukturelle gesellschaftliche Konfliktfelder gezogen werden.

III. Conclusio: Rassifizierte Stimmen „verzerren“ Der zweite Teil der Rechtsprechungsanalyse offenbart, wie verwoben die gerichtliche Argumentation mit diskursiv eingeübten Selbst- und Fremdzuschreibungen ist. Diese aufzubrechen, löst Abwehrreaktionen aus, wie die aufgeheizte Debatte um die Kopftuchentscheidung sowie um das Phänomen der sog. „Ehrenmorde“ zeigt. Die daraus resultierende Empörung durchzieht den rechtswissenschaftlichen Diskurs genauso wie den politischen. Die Stimmen der vermeintlich anderen in ihrer Komplexität umfänglich wahrzunehmen würde bedeuten, das Eigene zu hinterfragen und die einseitige Deutungshoheit über die entsprechenden Zusammenhänge aufzugeben. Der analytische Vierschritt von Markierung, Positionierung, Neutralisierung und Ausschluss ermöglicht die rassifizierende Logik zu sezieren und nachzuvollziehen, wie die Kategorie „Rasse“ in den benannten Kontexten (mit-)konstruiert wird. Gleichwohl die Phänomene eine „kulturelle“ Dimension aufweisen, behandeln sie keine originär religiösen Fragen. Die Beurteilung der beiden Zusammenhänge stabilisiert abwertende Deutungen über Menschen, die als Mitglieder einer bestimmten Gruppe gelesen werden: kopftuchtragende Frauen sowie (vor allem) junge, muslimische Männer. Schon innerhalb des beschränkten Feldes dieser Untersuchung wurde deutlich, welch hohe exkludierende Wirkung eine solch rassifizierte Diskursposition haben kann: Muslimisch gelesene Männer werden vom Zugang zu öffentlich angebotenen Dienstleistungen ausgeschlossen; muslimischen (kopftuchtragenden) Frauen wird abgesprochen, sich religiösen Wertmaßstäben entziehen zu können. Dieser essentialisierende Blick schreibt sich in ihrer Behandlung fort und erschwert rassifizierten Menschen jenseits des Stereotyps zu existieren. Besonders deutlich wird in den untersuchten Feldern die intersektionale Verwobenheit rassifizierter Differenz.

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Kap. 3: Empirische Rechtsprechungsanalyse

D. Gesamtanalyse Die deutsche Rechtsprechung operiert mit einem verkürzten „Rasse“- und Rassismusverständnis. Vor allem deutsche Strafrechtsorgane verknüpfen Rassismus mit der politischen Ideologie des Rechtsextremismus und verorten Rassismus intuitiv am „rechten Rand“ der Gesellschaft.467 Ein solch verengte Lesart sorgt dafür, dass Ungleichheitserfahrungen jenseits von gewaltsamen Auseinandersetzungen oder schwerwiegenden Beleidigungen nicht erkannt und rechtlich sanktioniert werden. Die besprochenen Entscheidungen lassen eine nur geringe Sensibilisierung für die strukturelle Wirkmächtigkeit von Rassismus erkennen. Teilweise reproduzieren die Gerichte selbst rassistische Stereotype. Dies gilt in geringerem Umfang auch für die arbeitsrechtliche Rechtsprechung zu rassistischen Beleidigungen als Kündigungsgrund: Auch innerhalb dieses Diskursstrangs wird Rassismus häufig mit einer nationalsozialistischen Gesinnung assoziiert.468 Obwohl insgesamt kompetenter im Umgang mit Rassismus, unterlaufen den Arbeitsgerichten zahlreiche Abwägungsfehler, die vor allem darauf zurückzuführen sind, dass die gravierenden Auswirkungen einer rassistischen Behandlung am Arbeitsplatz nicht hinreichend berücksichtigt werden. Dies zeigt sich im Rahmen der Diskotheken-Fälle noch deutlicher.469 Hier ist die festgesetzte Schadensersatzsumme im Falle eines Anspruches nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz häufig davon beeinflusst, die rassistische Diskriminierung zu bagatellisieren. Der empirische Teil dieser Untersuchung orientierte sich an den benannten Erscheinungsformen von Subalternität. Deutsche Gerichte subalternisieren rassifizierte Stimmen dadurch, dass die rassistische Dimension eines Sachverhalts nicht oder nur unzulänglich erkannt wird. Wenn Rassismus auf eine rechtsextreme Gesinnung reduziert oder als Bagatellerfahrung marginalisiert wird, verliert das Recht demnach die Fähigkeit, rassifizierte Stimmen zu hören. Rechtsanwendende Personen sind unter dieser Bedingung nicht in der Lage, das Vorgetragene zu verstehen. Deutsche Gerichte stellen zudem die Machtverhältnisse, welche aus einer rassifizierten Diskursordnung folgen, nur unzulänglich in die grundrechtliche Abwägung ein. Dies verdeutlichte die Judikatur zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht. Die bestehende gerichtliche Praxis der Prüfung mehrdeutiger Aussagen verkennt die demokratischen Gefahren, die von bewusst doppelbödigen, rassistischen Kundgaben ausgehen. Die Rechtsprechung perpetuiert in den genannten Fällen den subalternen Diskursstatus rassifizierter Menschen.

467 468 469

Ausführlich dazu Kapitel 3, B. I. 1. b), S. 156 ff. Ausführlich dazu Kapitel 3, B. I. 2. b), S. 165 ff. Ausführlich dazu Kapitel 3, B. I. 3. b), S. 179 ff.

D. Gesamtanalyse

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Der zweite Teil der Rechtsprechungsanalyse spürte der Beteiligung der deutschen Rechtsprechung am Prozess der Rassifizierung nach. Dabei zeigte sich, dass rassifizierte Wissensbestände vor allem hinsichtlich der islamischen Religionsausübung Eingang in gerichtliche Bewertungen finden. Sowohl die Judikatur zum islamischen Kopftuch470 als auch die Spruchpraxis zum Phänomen der sog. „Ehrenmorde“ 471 wirkt insofern an der Konstruktion des Fremden mit. Die einseitig rassifizierte Deutungsschablone sucht Erklärungen zu brutalen Gewaltverbrechen in vermeintlich fremden Religionen und Kulturkreisen statt in strukturellen Unterdrückungssystemen, ihrer Historie und ihren Kontinuitäten. Stattdessen stabilisiert die Rechtsprechung die Vorstellung des Anderen als rückständig und frauenverachtend. In beiden Fällen sollten die notwendigen Rückschlüsse auf strukturelle gesellschaftliche Konfliktfelder gezogen werden.

470 471

Ausführlich dazu Kapitel 3, C. I., S. 206 ff. Ausführlich dazu Kapitel 3, C. II., S. 216 ff.

Zusammenfassung Zu sprechen und dabei gehört zu werden, ist ein Privileg, das als solches nicht immer leicht zu erkennen ist. Es entspricht weder der bloßen akustischen Wahrnehmung des Gesagten noch einer formalen Rechtsposition, eigene Überzeugungen frei äußern zu können. Vielmehr setzt „wirklich“ 1 gehört zu werden die Chance voraus, innerhalb gleicher Artikulationsbedingungen zu sprechen. Rassifizierten Stimmen bleibt diese Möglichkeit vielfach verwehrt. Sie treffen auf ein exkludierendes Hörverhalten, welches die Stimme des Gegenübers nicht zu hören vermag oder diese in ihrem Äußerungsgehalt entfremdet. Eine solche Rezeption ist nicht darum bemüht, das Gesagte zu verstehen, sondern vereinnahmt den Sprechakt zu eigenen Zwecken und anhand dominanter Deutungsschablonen. Subalternität beschreibt einen in dieser Weise marginalisierten Diskursstatus.2 Gleichwohl es unmöglich bleibt, andere in ihrer Komplexität und vielschichtigen Erfahrungswelt vollumfänglich zu erfassen, ist ein entsprechendes Bemühen notwendig, um das Feld des Diskursiven nicht zu verengen. Rassismus als Subalternität zu untersuchen, greift die diskursive Dimension rassifizierter Ungleichheit auf.3 Ihr Transfer in die Rechtswissenschaft befördert sowohl theoretische als auch empirische Erkenntnisgewinne, die an dieser Stelle rekapituliert werden sollen. Aus rassismuskritischer Perspektive konstruiert sich Subalternität vor allem auf zweierlei Wegen:4 Zunächst werden im Sprechen über Rassismus unterschiedliche Vermeidungsdiskurse wirksam, welche die Hörenden über einen langen Zeitraum davor bewahren konnten, sich der eigenen rassistischen Historie und ihrer Kontinuität zu stellen. Der erste Vermeidungsdiskurs umfasst kolonialrassistische Wissensbestände, die in Deutschland lange unreflektiert fortbestehen konnten. Eine weitere Tendenz der Vermeidung betrifft die kritische Auseinandersetzung mit dem Rassebegriff. Indem Rassismus mit der Ideologie des Nationalsozialismus gleichgesetzt wird, beschränkt sich das Verständnis rassischer Ungleichheitserfahrungen fälschlicherweise auf extreme Formen der Gewalt und Ausgrenzung. Benachteiligungen unterhalb dieser Schwelle und rassistische Strukturen können nur schwer erkannt und nachvollzogen werden. Transformierte Erscheinungsformen von Rassismus, wie etwa kulturalisierte Wissensbe1 Angelehnt an die Formulierung in BVerfGE 107, 395 (409) – Rechtsschutz gegen den Richter I (2003). 2 Kapitel 1, A., S. 31 ff. 3 Kapitel 1, B., S. 60 ff. 4 Kapitel 1, C., S. 71 ff.

Zusammenfassung

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stände, sind ungleich schwerer als Zuschreibungspraxis zu erkennen. Die zweite Variante von Subalternität entspricht dem diskursiven Prozess der Rassifizierung. Indem rassifizierte Stimmen einseitig markiert und positioniert sind, ist ihr Aussagegehalt verfremdet. Die Kennzeichnung wertet die rassifizierte Stimme ab und erschwertes ihr, an der Aushandlung des Normalen teilzuhaben. Dies steht einer authentischen Wiedergabe der Stimme entgegen. Im Recht begründen rechtstheoretische, rechtssoziologische und dogmatische Aspekte, dass subalterne Stimmen auf exkludierende Artikulationsbedingungen treffen. Zunächst offenbart ein Transfer der Subalternitätsforschung in die Sphäre des Rechts die sprachliche Bedingtheit der rechtlichen Aushandlung.5 Im Spivak’schen Sinne entspricht das rechtliche Sprechen einem Sprechen für, da es Interessen verhandel- und durchsetzbar macht. Es handelt sich gleichsam um ein Sprechen über, weil die zu verhandelnde Realität in der Sprache des Rechts erst hergestellt wird. Spivaks repräsentationstheoretischen Überlegungen folgend, stellt die rechtliche Übersetzung ein hierarchisches Verhältnis dar, das stets auf Tendenzen der Vereinnahmung und Verfremdung hin untersucht werden muss. Subalternität im Recht verweist darüber hinaus auf die Grenzen rechtlicher Objektivität und Neutralität.6 Indem diese auf vielfältige Weise verschleiert werden, wirken sich Normalitätsvorstellungen der dominanten Mehrheit besonders stark aus. Die Subalternitätsforschung fordert dazu auf, den eigenen Ort des Sprechens, Verstehens und der Wahrnehmung zu reflektieren. Dies gilt in besonderem Maße für die Rechtsanwendung und umfasst gleichsam das Setting der gerichtlichen Verhandlung.7 Persönliche Lerngewohnheiten und scheinbar neutrale Zusammenhänge müssen daher immer wieder aufs Neue auf eine mögliche Komplizenschaft mit der rassifizierten Ordnung hinterfragt werden. In dogmatischer Hinsicht sind die Bedingungen des Gehörtwerdens im Recht vor allem dadurch eingeschränkt, dass Rasse als Diskriminierungskategorie im juristischen Mainstream noch immer stark untertheoretisiert ist.8 Sowohl der Verfassungsjudikatur als auch dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum gelingt es nur langsam, die Diskriminierungskategorie zu fundieren und damit die Voraussetzung eines hörenden Verstehens zu schaffen. Der Rechtsschutz entfaltet jedoch so lange keine hinreichende Wirkung, bis rechtsanwendende Personen lernen, Rassismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen zu erfassen. Die Rechtswissenschaft ist gehalten, neue Wissensbestände in die rechtliche Normsetzung und Anwendung zu integrieren. Das Antidiskriminierungsrecht ist dabei in besonderer Weise darauf verwiesen, die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften zu berücksichtigen und anschlussfähig zu übersetzen, um souverän zwischen verschiedenen inhaltlichen Ausprägungen von 5 6 7 8

Kapitel 2, A. I., ab S. 98. Kapitel 2, A. II., ab S. 101. Kapitel 2, B. I.–III., ab S. 104. Kapitel 2, C. I.–IV., ab S. 114.

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Zusammenfassung

Rassismus und potenziell betroffenen Personengruppen unterscheiden zu können. Diese Souveränität fehlt der deutschen Jurisprudenz bislang. Auch ausdifferenzierte Rechtsgrundlagen zur Ahndung von Rassismus können nicht verhindern, dass infolge einer unterkomplexen gerichtlichen Argumentation Schutzlücken für die Betroffenen entstehen. Jenseits dogmatischer Änderungen oder neuer rechtlicher Instrumente mindert allein die Sensibilisierung für rassistische Ungleichheit die Gefahr der Subalternisierung deutlich ab. Rassismus muss als prägende gesellschaftliche Ideologie und Entstehungsbedingung von Regeln und Organisationen begriffen werden, um rassistische Ungleichheitserfahrungen nicht länger zu „überhören“. Die empirische Rechtsprechungsanalyse wertete strafrechtliche, zivilrechtliche, verfassungsrechtliche und verwaltungsrechtliche Judikate aus. Die deutsche Strafgerichtsbarkeit verkennt die dogmatische Anforderung von § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB, indem Rassismus als Tatmotiv nur selten erkannt oder mit einer rechtsextremen Gesinnung verwechselt wird.9 Dies gilt in geringerem Ausmaß auch für die arbeitsrechtliche Rechtsprechung.10 Eine Auswertung der AGG-Rechtsprechung zeigt, dass die verhandelnden Gerichte für das Ausmaß der Demütigung und Ausgrenzung einer rassistischen Behandlung nicht hinreichend verständig sind.11 Innerhalb der Abwägung von Persönlichkeitsverletzungen und Meinungsfreiheit räumt die Rechtsprechung überindividuellen Effekten des Silencing durch rassistische Hassrede einen zu geringen Stellenwert ein. Gleichheitsrechtliche Erwägungen sollten in die Bewertung rassistischer Diskursbeiträge einfließen, um deren Einschüchterungswirkung hinreichend Rechnung zu tragen.12 Die Rechtsprechungsanalyse kommt überdies zu dem Ergebnis, dass gerichtliche Argumentationsmuster verschiedentlich von rassifizierten Wissensbeständen beeinflusst sind, wie sich an der Kopftuchentscheidung13 und der gerichtlichen Beurteilung sog. „Ehrenmorde“ 14 zeigen lässt. Das Bundesverfassungsgericht verwechselt – mit drastischen Konsequenzen – ein neutrales mit einem „normalen“ Verhalten. Innerhalb der Rechtsprechung zum Phänomen des sog. „Ehrenmordes“ stabilisieren Strafgerichte die rassifizierte Vorstellung, patriarchale Besitzansprüche seien ausschließlich in „fremden“ Kulturkreisen zu suchen. Mit der Untersuchung verbindet sich ein Plädoyer für weitere empirische Rechtsforschung. Die Auswertung gerichtlicher Entscheidungstexte hat einen ersten Schritt unternommen, das Phänomen der rassifizierten Subalternität zu erfassen. Vertieft und systematisiert werden konnten die Auswirkungen von strukturel9

Kapitel 3, B. I. 1., S. 153 ff. Kapitel 3, B. I. 2., S. 163 ff. 11 Kapitel 3, B. I. 3., S. 175 ff. 12 Kapitel 3, B. II., S. 185 ff. 13 Kapitel 3, C. I., S. 206 ff. 14 Kapitel 3, C. II., S. 216 ff. 10

Zusammenfassung

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lem Rassismus in der deutschen Rechtsprechung. Dringend erforderlich sind weitere empirische Untersuchungen, die mit einem intersektionalen, strukturellen Verständnis von Rassismus und interdisziplinärer Kompetenz den Diskursraum des Rechts auf weitere Ausschlusswirkungen überprüfen. Vor allem die Beobachtung im Prozesssaal sowie eine rechtssoziologische Begleitung des gerichtlichen Verfahrens könnten wichtige neue Erkenntnisse generieren. Das Recht muss sich an seinem Versprechen messen lassen, für universale Gleichheit und Gerechtigkeit zu streiten – auch und gerade, wenn es diesen Anspruch in der Realität verfehlt. Wenn das Recht, die Rechtsanwendung und -fortbildung lernen, eine subjektive Perspektive anzuerkennen, und so der Spivak’schen Forderung nachkommen, dem „speaking subject“ zuzuhören, lassen sich exkludierende Effekte des Rechts leichter aufdecken. Auch den nächsten Schritt der Auseinandersetzung mit Subalternität hat Spivak bereits vorgezeichnet: „Not to study the subaltern, but to learn.“ 15 Wo ein solch rassismuskritisches Lernen im Recht und innerhalb der Rechtsprechung beginnen könnte, versuchte die vorliegende Arbeit zu zeigen.

15 Gayatri C. Spivak, Scattered speculations on the subaltern and the popular, in: Postcolonial Studies, Vol. 8 4/2005, S. 475–486 (483).

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Sach- und Personenverzeichnis Adorno, Theodor W. 66 AGG 107, 118, 131, 163, 171, 177 Arbeitsrecht 163 Crenshaw, Kimberlé 48, 132 Deleuze, Gilles 51 Dhawan, Nikita 47, 57 Dilemma der Differenz 53 Diskotheken-Fälle 176 Diskurs 20, 69, 140 Diskursanalyse 24, 139 – Adaptionen 149 Dokumentenanalyse 138 ff. Eggers, Maureen Maisha 85 Ehrenmord 219 Essentialismus, strategisch 54 ethnische Herkunft 128, 129, 179 Femizid 216 Foucault, Michel 19, 51, 56 Frankenberg, Ruth 27 Gastarbeitsmigration 80 Gramsci, Antonio 33 – Gefängnishefte 34 – Hegemonie 35 Guha, Ranajit 38 Haraway, Donna 104 Hören 31, 40, 42, 52, 54, 204, 235 – Dethematisierung 58 – subversiv 54 – Verzerrung 58

Inhaltsanalyse 139, 141 Intersektionalität 44 Kolonialrassismus 56, 73 Kopftuchverbot 206 Korpusbildung 142 Levit, Nancy 103 Mayring, Philipp 142 Meinungsfreiheit 185 – mehrdeutige Aussage 188 – N-Wort 200 – Wahlplakate 190 N-Wort 180, 200 Nationalsozialismus 76, 77, 119, 123, 134, 152, 157, 167, 168, 191 Objektivität 101, 211, 213 Othering 46, 228 – Self-Othering 47 Racial Bias 109 Rasse 60, 119, 125, 127 Rassifizierung 85, 210, 227 – Ausschluss 93, 215, 233 – Markierung 210, 227 – Neutralisierung 91, 213, 232 – Positionierung 89, 213, 229 Rassifizierungsprozesses 87 Rassismus – antiasiatisch 174 – antimuslimisch 210, 227 – Antiziganismus 192 – Bewusstseinsphänomen 65 – Definition 70

Sach- und Personenverzeichnis – Kolonialrassismus 61 – Kommentarliteratur 126 – Machtverhältnis 68 Religion 128, 206, 208, 220 Repräsentation 35, 50, 51, 133 Said, Edward W. 46 Sati-Ritual 45, 46 Selbstsubalternisierung 47 Silencing 196, 240 Situiertheit 25 Spivak, Gayatri Chakravorty 39 – Can the Subaltern Speak? 41 – Kritik 48 – Sprechen für 52, 55, 99, 239 – Sprechen über 52, 59, 89, 239

Sprache und Recht 98 Statistiken 133 Strafzumessung 153 Subaltern Studies Group 37, 44 Subalternisierung 37, 57, 59, 72, 84 Subalternität – Analysekategorie 33 – Etymologie 32 – Militärsprache 32 Volksverhetzung 186 Weber, Max 18 Zugangshürden Gericht 104

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