Passivrauchen und Recht: Eine kritische Bestandsaufnahme der Rechtsprechung [1 ed.] 9783428475759, 9783428075751


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German Pages 149 Year 1993

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Passivrauchen und Recht: Eine kritische Bestandsaufnahme der Rechtsprechung [1 ed.]
 9783428475759, 9783428075751

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Klaus Zapka . Passivrauchen und Recht

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 120

Passivrauchen und Recht Eine kritische Bestandsaufnahme der Rechtsprechung

Von Dr. Klaus Zapka

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Zapka, Klaus:

Passivrauchen und Recht : eine kritische Bestandsaufnahme der Rechtsprechung / von Klaus Zapka. - Berlin: Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht; Bd. 120) ISBN 3-428-07575-7 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 21 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-07575-7

Vorwort Nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der wissenschaftlichen, rechtlichen und politischen Ebene bestimmen krasse Diskrepanzen die mittlerweile sehr emotionalisierte Diskussion um das Rauchen bzw. Passivrauchen. Die EG bemüht sich seit Jahren um ein Werbeverbot für Tabakwaren und zugleich subventioniert sie mit knapp drei Milliarden DM den europäischen Tabakanbau. Offensichtlich hat der Bürger mit diesen Widersprüchen zu leben. Auf der rechtlichen Ebene können indes angesichts solcher Widersprüche rechtsstaatliehe Probleme entstehen, zumal der Betroffene nicht mehr die relevanten Rechtsfolgen vorhersehen kann. Die hier vorliegende Studie soll deshalb für mehr Rechtssicherheit sorgen, zumal von weiteren rechtlichen Auseinandersetzungen ausgegangen werden muß. Schließlich ist vor der allgemeinen Gewohnheit zu warnen, nur die Ergebnisse der Rechtsprechung ausschließlich zu hofieren. An dieser Stelle möchte ich mich für die Unterstützung von Prof. Dr. jur. Ralf Dreier, Göttingen, bedanken, der mich zu dieser Thematik ermunterte. Ebenso gilt mein Dank den endlosen Bemühungen meines Bruders Manfred Zapka, München, der mir mit Rat und Tat hilfreich zur Seite stand, wenn der Computer entgegen meinen Erwartungen reagierte. Göttingen, im Juli 1992

Klaus Zapka

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsstaatsprinzip und die Rechtsprechung

9 21

2.1. Zur Richtigkeit richterlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Das Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2.3. Rechtsstaatliche Handlungsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Medizinische Erkenntnisse zum Passivrauchen

21 23 25 30

3.1. Epidemiologie des Passivrauchens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

3.2. Toxikologie des Passivrauchens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

3.3. Akut-Wirkungen des Passivrauchens

42

3.4. Die gesundheitspolitische Diskussion um das Passivrauchen

45

3.4.1. Die Position von F. Schmidt und F. Portheine ........ . . . ..

46

3.4.2. Die MAK-Kommission

47

3.4.3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

48

3.5. Richterlicher Beweis naturwissenschaftlicher Gutachten ...........

48

4. Grundrechtlicher Schutz der Raucher und Nichtraucher gemäß Art. 2 GG ..

56

4.1. Allgemeine Handlungsfreiheit und Persönlichkeitsentfaltung . . . . . . ..

56

4.1.1. Raucherschutz gemäß Art. 2 I GG

....................

56

4.1.2. Grenzen der allgemeinen Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . .

61

4.2. Grundrechtsschutz des Nichtrauchers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

4.2.1. Begriff der Krankheit - Problematik seiner Definition 4.2.2. Der rechtliche Krankheitsbegriff

.......

63

.....................

66

4.3. Nichtraucherschutz und körperliche Unversehrtheit 4.4. Belästigungsschutz des Nichtrauchers nach Art. 21 GG

70 ...........

4.4.1. Wertausfüllungsbedürftiger Begriff der Belästigung

80

.........

80

4.4.2. Sozialsphäre und Belästigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

84

4.4.3. Erhebliche Belästigung

92

4.5. Sozialstaatliche Schutzpflicht

............................

96

4.6. Zusammengefaßte Kriterien zur Bewertung der Rechtsprechung zum Passivrauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

8

Inhaltsverzeichnis

5. Analyse der Rechtsprechung

103

5.1. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit

103

5.1.1. Auswahl der medizinischen Beweismittel ................ 103 5.1.2. Intensive Bestandsaufnahme medizinischer Gutachten

....... 104

5.1.3. Einseitige Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 5.1.4. Unzulängliche Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.1.4.1. Kein Rauchverbot infolge unzulänglichen Beweises ... 109 5.1.4.2. Rauchverbot infolge unzulänglichen Beweises ....... 110 5.1.5. Nichtraucherschutz wegen körperlicher Unversehrtheit ....... 111 5.1.6. Nichtraucherschutz wegen Belästigung

................. 113

5.1.6.1. Belästigungsschützende Entscheidungen

.......... 113

5.1.6.2. Keine belästigungsschützende Entscheidungen

114

5.1. 7. Resümee der Verwaltungsgerichtsbarkeit ................ 115 5.2. Die Arbeitsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5.2.1. Intensive Beweisaufnahme medizinischer Gutachten

........ 116

5.2.2. Einseitige Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5.2.3. Unzulänglicher Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 5.2.3.1. Kein Rauchverbot infolge unzulänglichen Beweises ... 121 5.2.3.2. Rauchverbot infolge unzulänglichen Beweises ....... 122 5.2.4. Nichtraucherschutz wegen körperlicher Unversehrtheit

123

5.2.5. Nichtraucherschutz wegen Belästigung

123

5.2.5.1. Belästigungsschützende Entscheidungen

123

5.2.5.2. Keine belästigungsschützende Entscheidungen

124

5.2.6. Resümee der Arbeitsgerichtsbarkeit ................... 125 5.3. Die ordentliche Gerichtsbarkeit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

5.3.1. Intensive Beweisaufnahme medizinischer Gutachten

........ 125

5.3.2. Einseitiger Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.3.3. Unzulänglicher Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.3.4. Nichtraucherschutz wegen Belästigung

................. 128

6. Zusammenfassung und Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Literaturveneicbnis

138

1. Einleitung und Fragestellung Gegenstand der folgenden Darstellung ist die umfangreiche Rechtsprechung zum Passivrauchen am Arbeitsplatz. Anlaß dieser Abhandlung ist, daß die Rechtsprechung in der Frage des Passivrauchens bislang keine einheitliche Entscheidungspraxis zeigt, obwohl stets der gleiche Sachverhalt zur richterlichen Disposition stand. Zentrum der richterlichen Entscheidung war die Klärung der Frage, ob aus gesundheitlichen Gründen ein Rauchverbot am Arbeitsplatz erlassen werden soll oder nicht. Mit anderen Worten: Von besonderer Bedeutung ist die Klärung des Problemkomplexes, ob Passivrauchen tatsächlich die Gesundheit gefährdet. Etliche Gerichte sahen hinreichende Gründe für ein Rauchverbot am Arbeitsplatz, während andere wiederum keine ausreichenden Gründe für ein solches Verbot lokalisieren konnten. Letztere sahen im Rauchen lediglich eine Form der allgemeinen Handlungsfreiheit und Persönlichkeitsentfaltung realisiert. Daß dieses Grundrecht - und nicht nur dieses - auch für den Arbeitnehmer am Arbeitsplatz nicht ohne weiteres aufgelöst werden darf, ist in Lehre und Rechtsprechung unumstritten.! Insbesondere ist die freie Persönlichkeitsentfaltung, soweit sie aus betrieblichen Gründen nicht mit anderen Rechten kollidiert, sowie die Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer grundsätzlich zu gewährleisten. Dieses gilt selbstverständlich auch für den (Nicht-) Raucher am Arbeitsplatz. Es wird bereits hier deutlich, daß die abweichenden richterlichen Entscheidungen der Verwaltungs-, Arbeits- und ordentlichen Gerichtsbarkeit unterschiedliche Schutzrechte für den betroffenen Arbeitnehmer am Arbeitsplatz sanktionierten. Offensichtlich scheint es von dem einzelnen Richter abzuhängen, ob ein (nicht-)rauchender Arbeitnehmer den Schutz des Art. 2 GG beanspruchen durfte oder nicht. Zugleich rückt auch die Gleichbehandlung .im Sinne des Art. 3 GG in den Vordergrund; sie scheint vom Ermessen des entscheidenden Richters abzuhängen. Je nach Standort des Gerichtes werden dem einen Arbeitnehmer Grundrechte zugebilligt oder eben nicht. Diese "geopolitische" Entscheidungspraxis der Richter aber ist mit dem Gleichheitsgebot nicht vereinbar. Gleichheit bedeutet im Rechtsstaat auch, die Kontinuität der Rechtsprechung zu garantieren. Anders formuliert: Der Bürger hat einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine Rechtssicherheit. Rechtssicherheit korrespondiert unmittelbar mit dem Vertrauensschutz. Ohne Vertrauensschutz besteht prinzipiell keine angemessene Handlungsfreiheit des 1

Statt aller F. Gamillscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, Berlin 1989.

10

1. Einleitung und Fragestellung

Bürgers. Für die vorliegende Fragestellung konkretisiert sich dieses dahingehend, daß selbst der Arbeitgeber hinsichtlich eines Rauchverbotes am Arbeitsplatz verunsichert ist. Gleiches gilt auch für den Betriebs- oder Personalrat, der möglicherweise über ein betriebliches Rauchverbot zu entscheiden hat. Schließlich besteht eine Unsicherheit bei den direkt betroffenen (Nicht-) Rauchern. Jeder dieser hier zitierten Funktionsträger kann sich jeweils auf die unterschiedliche Entscheidungspraxis der Gerichte berufen. Vordringliches Problem auf der hier relevanten betrieblichen Ebene gilt der Durchsetzung bestimmter gesundheitsfördernder bzw. gesundheitssichernder Schutzrechte für den betroffenen Arbeitnehmer. Für die vorliegende Fragestellung geht es also primär um die mögliche Gesundheitsschädlichkeit des Passivrauchers am Arbeitsplatz. Selbst in dieser Frage besteht eine Fraktionierung der medizinischen Wissenschaft. Dieses spiegelt sich notwendigerweise und unmittelbar in der Entscheidungspraxis des Richters wider. Als fachfremder Laie ist der Richter auf die Ergebnisse der Naturwissenschaftler dringend angewiesen. Hier entfaltet sich schon das nächste Problem, das für die unterschiedliche Entscheidungspraxis des Richters mitverantwortlich sein dürfte. Da ein Richter wohl oder übel die medizinischen Gutachten zum Passivrauchen ergebnisorientiert "konsumiert", wird er zwangsläufig von der Richtigkeit dieses Ergebnisses ausgehen. Inwieweit aber ein naturwissenschaftlicher Erfahrungssatz tatsächlich richtig ist, kann in der Regel nur von spezifisch qualifizierten Fachwissenschaftlern überprüft werden. Ein Richter wird also im allgemeinen keinen erforderlichen Einblick in die Problematik und Komplexität naturwissenschaftlicher Forschungsarbeit haben dürfen. Ein Richter wird also mit einer kaum zu durchdringenden Komplexität in der Frage des Passivrauchens konfrontiert. Aber dennoch stellt sich die Frage, welche Wege zu beschreiten wären, um diese zwei existenten rechtlichen Wirklichkeiten aufzulösen. Es erscheint befremdlich, wenn die Judikatur zwei sich ausschließende Wirklichkeiten rechtlich sanktioniert und diese von einem Großteil der Gesellschaft stillschweigend hingenommen wird. Bevor in dieser Frage ein Weg aufgezeichnet werden soll, wie dieses Dilemma zu enträtseln wäre, wird skizzenhaft der Hintergrund erhellt, warum seit einigen Jahren das Passivrauchen zu einem Rechtsproblem überhaupt werden konnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann man behaupten, daß sich das Passivrauchproblem vor allem vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Wertewandels vollzogen hat. Es wird wohl von niemanden ernsthaft bezweifelt, daß ein Großteil der Bundesbürger ein zunehmendes Interesse in Umwelts- und Gesundheitsfragen entwickelt hat. Man kann sozusagen von einer "Ne~en Sensibilität" in diesem Zusammenhang ausgehen. Seitdem sich in der Bundesrepublik die Partei der Grünen konstituiert hat, setzen sich auch Politiker der etablierten Parteien mit den existenten Problemen der Umweltbedrohung auseinander. Inwieweit

1. Einleitung und Fragestellung

11

dieses lang ausgebliebene Engagement etablierter Parteien anfangs nur wahltaktische Manöver oder tatsächliche Überzeugungen waren, soll hier nicht geklärt werden. Festzustellen bleibt, daß nicht nur Politiker unterschiedlicher Provenienz, sondern auch zahlreiche Bürgerinitiativen, institutionalisierte Umweltorganisationen sowie der einzelne Bürger selber Partei ergreifen für eine Renovierung der schon sehr geschädigten Umwelt. Eine kranke Umwelt korrespondiert in engem Maße mit der Gesundheit des Menschen. Von bedeutender Aktualität sind u. a. insbesondere das vielseitig beklagte Ozonloch, der Treibhauseffekt, die kanzerogenen Dieselabgase, der Asbest in Gemeinschaftsräumen, das durch Hormone verseuchte Kalb, die allesamt einzeln wie kumulativ - die Gesundheit des Menschen erheblich beeinträchtigen können. Seit Mitte der siebziger Jahre wehren sich auch etliche Nichtraucher gegen angeblich gesundheitsschädigende Immissionen des Tabakrauches. Unverkennbar nehmen solche Konflikte im alltäglichen Miteinander zu. Die allgemeine Verstädte'rung und die durch sie bewirkte räumlich-soziale Verdichtung engen den Lebensraum des Einzelnen ein. Die fühlbare Abhängigkeit der individuellen Existenz von der Umgebung, der Mangel an Ausweichmöglichkeiten sensibilisieren die Empfindlichkeit gegenüber Lebensäußerungen einer näherrückenden Nachbarschaft. Mit dieser rapiden Emotionalisierung verdichten sich zugleich die Schwierigkeiten, zwischen den Kontrahenten einen befriedigenden Ausgleich herbeizuführen. 2 Die "Emanzipationsbewegung" der Nichtraucher befindet sich deshalb auf dem Vormarsch. Seit geraumer Zeit sieht sich das "Heer der Raucher", etwa 36 Prozent der Gesamtbevölkerung, zunehmend strengeren Restriktionen durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltungsmaßnahmen gegenüber. Es überrascht deshalb nicht, daß derzeit nicht so sehr der Nichtraucher Schutzansprüche gegenüber dem Raucher zu beanspruchen versucht, sondern sich vielmehr auch der Raucher durch Verbote in seinen Rechten tangiert fühlt. Explizit wird das Rauchen von keinem Grundrecht geschützt. Deshalb wird es durch das Auffanggrundrecht des Art. 2 I GG geschützt. 3 Beide Seiten berufen sich dabei oft auf Grundrechtspositionen: Während der Nichtraucher eine Gesundheitsverletzung durch inhalierten Tabakrauch hervorhebt, beruft sich der Raucher auf seine allgemeine Handlungsfreiheit und stellt sich gegen eine staatliche Entmündigung. 4 Geographisch konzentriert sich die Kontroverse u. a. auf den Arbeitsplatz, auf den der arbeitende Bürger zwangsläufig angewiesen ist. Dabei oszil2 W. Loschelder, Staatliche Regelungsbefugnis und Toleranz im Immissionsschutz zwischen Privaten, in: ZBR 1977,337 - 355 (337). 3 D. Merten, Blauer Dunst im Amt, in: JuS 1982, 365 - 370 (365); R. Scholz, DB 1979, S.15. 4 R. Jahn, (Nicht)-Raucherschutz als Grundrechtsproblem, in: DÖV 1989, 850 - 855 (850).

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1. Einleitung und Fragestellung

liert das Problem zwischen dem Recht des Nichtrauchers auf saubere Luft5 als Ausfluß seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts und seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit einerseits. Andererseits beharrt der Raucher auf seine freie Entfaltung der Persönlichkeit, die nicht ohne weiteres zurücktreten soll.6 Ebenfalls auf sozialer Ebene wird das Rauchen kontrovers bewertet. Während der Raucher sich auf die Üblichkeit des Rauchens als gesellschaftlich akzeptierten Tatbestand beruft, wird dieser wiederum mit polemischen Attakken konfrontiert: "Für sie (die Raucher, K. Z.) ist der Verzicht auf eine Zig~rette nicht eine entgangene Steigerung, sondern eine zwanghafte Beeinträchtigung ihres Wohlbefindens ... Dulden Anwesende den Rauch eines Nikotinabhängigen, so hat das nichts mehr mit stolzer, freier Persönlichkeitsentfaltung des Rauchers, wohl aber etwas mit Mitleid zu tun."7

Beschäftigt man sich eingehender mit den Gründen des Rauchens, dann zeigt sich, daß die Ursachen weniger beim Einzelnen als vielmehr im Normund Wertesystem unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft liegen. Es ist schlichtweg eine Tatsache, daß permanent für den Konsum im allgemeinen und den von Genußmitteln im besonderen geworben wird. Das bezieht sich nicht einmal nur auf den Konsum von Zigaretten, sondern weitaus mehr auf sportlich ausgerüstete Autos. Ein riskantes Verhalten in unserer Gesellschaft wird überall gefordert und gefördert. Gleiches gilt für die berufliche Leistung in unserer ausgeprägten Konkurrenzgesellschaft, die sich nicht selten frühzeitig in tödliche Krankheiten auflöst. Manchmal scheint es so, als ob der Raucher zum Sündenbock gekrönt wird, und dieser engagierte Kampf die soziale Funktion ausübt, von den Gesundheitsgefahren abzulenken, die mit den Umweltschäden und -katastrophen verknüpft sind.B Daß diese Strategie durchaus Erfolg haben kann, liegt auf der Hand. Gefahren durch das Rauchen sind in der Regel wesentlich konkreter, räumlich näher als die eher anonymen, mittelbaren Umweltschäden. 5 Erst kürzlich berichtete das Europäische Parlament über Klimaanlagen in Großraumbüros, die die Luft am Arbeitsplatz mit Bakterien verseucht. Die Arbeitnehmer klagen über Kopfschmerzen, Augenreizungen, Erkrankungen der Atmungswege. Allesamt Symptome, die auch der Passivraucher insbesondere in Großraumbüros anführt. Bislang hat sich aber niemand die Mühe gemacht zu untersuchen, ob diese Beschwerden primär durch das Passivrauchen oder durch Klimaanlagen herrühren. Zum EG-Bericht siehe Sitzungsdokument A 2 - 156/88, PE 123.391/endg., Bericht im Namen des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Verbraucherschutz über die Luftqualität in geschlossenen Räumen. 6 W. Mummenhoff, Rauchen am Arbeitsplatz, in: RdA 1976, 364 - 374 (364). 7 So D. Suhr, Die Freiheit vom staatlichen Eingriff als Freiheit zum privaten Eingriff? Kritik der Freiheitsdogmatik am Beispiel des Passivraucherproblems, in: JZ 1980, 166 - 174 (172). Siehe dagegen die differenzierte Studie von J. von Troschke, Das Rauchen. Genuß und Risiko, Basel 1987, S. 27ff., 55ff.; siehe auch J. C. Brengelmann, Determinanten des Rauchverhaltens, Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1987. 8 J. von Troschke, Rauchen, S. 17f.

1. Einleitung und Fragestellung

13

Warum so viele Menschen gegen ihren verbalen Anspruch rauchen, scheint weniger ein Problem individueller Entscheidung zu sein als vielmehr gesellschaftlicher Natur. Man lebt in einer Gesellschaft, in der das Rauchen ebenso wie der gesundheitsschädigende Umgang mit anderen Genußmitteln ein angepaßtes, d. h. den allgemeinen sozialen Bedingungen entsprechendes Verhalten ist. Daran ändert die öffentliche Diskreditierung des Rauchens im Prinzip gar nichts. Die Frage, ob sich die Raucher wegen ihres Verhaltens weiterhin stigmatisieren lassen sollen in einer Zeit, in der regelmäßig über immer neue Gesundheitsgefahren berichtet wird, die durch die industrielle Produktion verursacht werden, wäre doch grundsätzlich zu überprüfen. Kein Augenblick vergeht, in dem nicht über Gesundheitsgefahren durch Lebensmittel, durch verunreinigte Luft oder verseuchtes Wasser berichtet wird. Man ist gewohnt, daß nicht die Automobilindustrie, die Alkohol- oder Tabakindustrie im Kreuzfeuer der Kritik steht, sondern das Individuum, das deren Produkte konsumiert. Dabei ist auch nicht die Industrie selbst die eigentliche Ursache, sondern primär die Gesellschaft, deren Wert- und Normsystem eben diese industrielle Produktion ebenso fördert wie das Konsumverhalten der Bürger. 9 Aus diesem Grunde sind Versuche, das Rauchen rechtlich, in welcher Form auch immer, zu sanktionieren, deplaziert und unangemessen. Allenfalls verfügen sie über einen Alibicharakter. lO Der Staat ist nicht berechtigt, "den einzelnen Bürger an riskanten Unternehmungen und an einer seiner Gesundheit unzuträglichen Lebensweise zu hindern. "11 Daß Übergewicht, Ernährungsverhalten, Alkohol- und Nikotingenuß lebensverkürzendebzw. gesundheitliche Risikofaktoren sein können - vor allem in Kombination miteinander, dürfte jedem Menschen klar sein. Insoweit wird ihm die Freiheit belassen werden müssen, selbstverantwortlich auch über seine Lebenserwartung zu entscheiden.!2 Heftige Debatten löste das Rauchen bereits aus, als die Zigarette in Europa vor etwa 400 Jahren importiert worden ist.!3 In der zweiten Hälfte des Ebd., S. 21ff. In der letzten Zeit versuchte das Europäische Parlament, einen solchen Zustand herzustellen. Siehe dazu K. Zapka, Grund- und europarechtliche Bewertung der Werbung. Zum EG-Richtlinienvorschlag für Tabakerzeugnisse, in: RIW 1990, 132 - 139 sowie K. Zapka, Gesundheitspolitik durch Harmonisierung? Zur Richtlinie über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen, in: RIW 1990, 814 - 820. Nach neusten Untersuchungen soll für den Lungenkrebs ein Gen verantwortlich sein, das möglicherweise durch häufiges Inhalieren von Zigarettenrauch ausgelöst wird. Gesicherte Erkenntnisse bestehen aber noch nicht. Vg!. K. W. Kinzler et a!., Identification of a gene located at chromosome 5q21 that is mutated in colorectal cancers, in: Science Vo!. 251 (1991), 1366 - 1370; S. H. Reynolds eta!., Activated protoocogenes in human lung tumors from smokers, in: Proceedings of the National Academy of Science, Vo!. 88, No.4, 1991, 1085 - 1089. 11 O. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, Köln/Berlin 1981, S. 218. 12 Ebd., S. 219. 13 Dazu ein knapper Überblick bei J. von Troschke, Rauchen, S. 67 mwN. 9

10

14

1. Einleitung und Fragestellung

17. Jahrhunderts lobte der Hofmedicus beim Kurfürsten von Brandenburg das Rauchen, der für das Leben und der Gesundheit nötig und dienlich sei. Ein Wortführer der Disputation über den Tabak malte 1699 in der Socit~te Royale de Medecine zu Paris ein apokalyptisches Szenario und sah im Rauchen "Ungemach, Erbrechen und Tod. "14 Neben diesen privaten Fehden wurden etliche staatliche Sanktionen gegen das Rauchen verhängt. Der Patrimonialstaat beispielsweise reglementierte alle Lebensbereiche. Polizeigesetze, wie die Reichspolizeiordnung aus dem Jahre 1530, trafen selbst Anordnungen über Kleidervorschriften, weil die standesgemäße Kleidung nach damaliger Auffassung zur öffentlichen Ordnung gehörte. Mit dem Beginn der Rechtsstaatlichkeit Ende des 18. Jahrhunderts änderte sich nach und nach die staatliche Bevormundung. Die Bürger erkämpften sich "kleine Freiheiten", die sich auch im Kampf gegen staatliche Rauchverbote in der Öffentlichkeit richteten. In der nicht gerade liberalen Epoche des Vormärz hatte König Friedrich Wilhelm III. von Preußen in einer Kabinettsorder polizeiliche Verbote auch des nicht feuergefährlichen Tabakrauchens für bestimmte Plätze, Spaziergänge und Straßen für zulässig erklärt. Es heißt dort: "Da jedoch auch das nicht feuergefährliche Tabackrauchen zur Belästigung des Publikums gereichen kann, so genehmige ich den Antrag, daß in den Fällen und an den Orten, wo eine solche Belästigung nach dem Ermessen der Orts-Polizeibehörde zu besorgen ist, auch das nicht feuergefährliche Tabackrauchen für bestimmte Plätze, Spaziergänge und Straßen, so wie selbst für den ganzen Bezirk eines Orts, bei einer zur Orts-Armenkasse einzuziehenden Strafe von 10 Sgr. bis 1 Rthlr. von den OrtsPolizeibehörden verboten werden dürfe, welche Verbote jedoch durch besondere in hinreichender Zahl gesetzte Warnungstafeln oder sonst genügend bekannt zu machen sind. "15

Der Staat hatte sich damit nicht auf seine eigentliche Aufgabe der Gefahrenabwehr beschränkt, sondern schlichtweg Bürgererziehung betrieben. Dieses Rauchverbot spielte eine bedeutsame Rolle sodann in der März-Revolution von 1848. So war die Forderung nach Rauchen in der Öffentlichkeit Teil des Kampfes um die bürgerlichen Freiheiten. 16 Weitaus brutaler gegen Raucher gingen andere Staaten vor. Sultan Murad IV. (1609 - 1640), der die Raucher konsequent verfolgte, ließ mindestens 20000 von ihnen hinrichten. Zweck dieses Rauchverbotes sowie des gleichzeitigen Niederreißens der Cafe-Häuser war jedoch, die Zusammenkünfte unzu14 W. Vorndran, Ansprache, in: Passivrauchen am Arbeitsplatz, hrsg. von der Bayerischen Akademie für Arbeits- und Sozialmedizin, Stuttgart 1977, S. 25. 15 Allerhöchste Kabinetsorder vom 9ten Dezember 1832 wegen des öffentlichen Tabackrauchens in den Städten. Gesetz-Sammlung für die Königlich-Preußischen Staaten 1833, S. 1, zit. nach D. Merten, Die juristische Bewertung des Passivrauchens, in: E. O. Krasemann (ed.), 3. Wedeler Gespräch zur Sozialmedizin. Thema: Das Problem Passivrauchen, WedellHolstein 1988, S. 33 - 41 (34). 16 D. Merten, JuS 1982, 365.

I. Einleitung und Fragestellung

15

friedener Kritiker der Regierung zu unterbinden. In Rußland ließ Zar Michael Romanow Tausenden die Nase abschneiden, in Persien schlitzte man ihnen die Ohren auf, "Mordbrenner" und "Tabaktrinker"17 wurden oft in einem Zusammenhang genannt. In der Schweiz gab es besondere Hochgerichte; den Zehn Geboten fügte man ein elftes hinzu: "Du sollst nicht Rauchen".

Tausende sind ausgepeitscht, Tausende ins Gefängnis geworfen worden. 18 Noch heute kursieren makabere Kampagnen gegen den Raucher: "Only a dead smoker is a good smoker. "19

Selbst heute ist dieses apokalyptische Szenario nicht abgeklungen. Ob durch das Passivrauchen gesundheitliche Gefahren drohen, ist absolut nicht offenkundig. Allzu pauschal und undifferenziert wird behauptet, daß an den Folgen des Passivrauchens gesundheitliche Gefahren und sogar eine höhere Krebshäufigkeit zu verzeichnen sei. 20 Ob die Gesundheit des Passivrauchers tatsächlich gefährdet wird, hängt einzig und allein von den naturwissenschaftlichen Gutachten ab. 21 Zwar wird der Markt nahezu mit Gutachten zu dieser Frage überschwemmt, trotzdem konnte auch die wissenschaftliche Aufarbeitung die Emotionen nicht dämpfen. Man kann eher behaupten, daß die Emotionalisierung gerade aufgrund der vielen, teilweise kontroversen Gutachten zugenommen hat. Und das hat seinen guten Grund. Die diskrepante, emotionale Diskussion entzündet sich an der methodischen Gewinnung von Daten, die die Wahrheit belegen soll. Nicht nur im Ringen um die Richtigkeit eventueller gesundheitlicher Folgen durch das Passivrauchen bestehen große Diskrepanzen der Wahrheitsfindung. Beispielsweise die sehr medienträchtige Zivilisationskrankheit Krebs nebst ihren Prüfmethoden stehen im Brennpunkt zweifelnder Kritik. Jahrelang riß die Kette der Alarmstufe aus den Prüflabors nicht ab, jeden Monat präsentierte die Presse einen neu erkannten Krebsträger.22 Umstritten sind selbst Daten um die Krebssterblichkeit in der Nähe von Kernreaktoren. Es wurde eindringlich darauf hingewiesen, daß Krebserkrankungen nicht immer monokausal bedingt sind. Neben Umweltbelastungen können auch andere, beispielsweise genetische Faktoren eine erhebliche Rolle spie17 Im 17. Jahrhundert wurde Rauchen als "trockenes Trinken" benannt, wobei eine Verbindung zum Kaffee hergestellt wurde. Dazu J. von Troschke, Rauchen, S.67; J. Rahmede, Passivrauchen, Gelsenkirchen 1983, S.lff. 18 J. von Troschke, Rauchen, S. 11. 19 So ein amerikanischer Gesundheitserzieher im Jahre 1982, zit. n. J. von Troschke, Rauchen, S. 11. 20 D. Merten, Das Problem des Passivrauchens in der öffentlichen Verwaltung, in: Passivrauchen am Arbeitsplatz, Stuttgart 1977, S. 105 - 114 (107f.); F. Schmidt, Tabakrauch als wichtigste Schädigung am Arbeitsplatz, in: RdA 1987, 337 - 339. 21 Statt aller W. Mummenhoff, RdA 1976, 365. 22 Dazu der kritische Kommentar von H. Schuh, Das Dilemma der Krebstests, in: DIE ZEIT Nr. 40 vom 28.9. 1990, S. 96.

16

1. Einleitung und Fragestellung

len. 23 Ebenso zerren Wissenschaftler am Wahrheitsgehalt um das Krebsrisiko durch Rußpartikel der Dieselmotorenabgase. 24 Man findet widersprüchliche Ergebnisse auch der Naturwissenschaften in vielen Bereichen ihrer Forschungstätigkeit vor. Ein Konsument solcher allesamt wissenschaftlich "bewiesener" Erkenntnisse kann selbstverständlich weder eine Bestätigung noch eine Ablehnung solcher Ergebnisse vollziehen. Vielmehr ist es oft eine Glaubensfrage, welcher Meinung sich der Einzelne anschließt. Damit wird eine weitere Stufe in der Umwelt- und Gesundheitsfrage betreten, die nicht gerade zwingend für Klarheit oder gar Wahrheit sorgen muß. Es ist in der Tat nichts Neues, daß selbst Wissenschaftler renommierter Forschungsinstitute Dispute dieser Art kreieren. Von nicht unerheblicher Bedeutung - und das soll an dieser Stelle mit aller Deutlichkeit hervorgehoben werden - ist ebenso das Zusammenspiel von Wissenschaft und Journalismus. Drei Dinge seien erforderlich, damit ein Wissenschaftsthema in der Öffentlichkeit Karriere machen kann: Ein relevantes Ereignis, eine einfache wissenschaftliche Deutung und - gleichsam als Katalysator - das entsprechende Meinungsklima. Wie stets, wenn die Zusammenhänge undurchschaut bleiben und - der Spitze des berühmten Eisbergs vergleichbar - nur ein paar Daten bekannt sind, tritt an die Stelle des Wissens der Glaube. Zeitgemäßer formuliert: Die Forscher stellen Hypothesen auf. Weil sie aber für den Laien nicht zu durchschauen sind, reduzieren Journalisten die Komplexität des Gesamtgeschehens auf den mageren Kern ihres vorläufigen Wissens und deuten die Daten nach Maßgabe eines naheliegenden, intuitiv geschöpften Verdachts. 25

In einer gerichtlichen Klärung kann beim Richter schon durch die Medien ein gewisses Vorverständnis möglicher Gesundheitsgefahren durch das Passivrauchen geprägt sein. Angesichts der bestehenden widersprüchlichen Meinungen seitens der Mediziner, wie noch zu zeigen sein wird, kann jedes Vorverständnis in Form naturwissenschaftlicher Erkenntnisse rationalisiert werden. Je nach der Tendenz des Vorverständnisses läßt sich ein entsprechendes, naturwissenschaftliches Ergebnis als gerichtlichen Beweis finden. Wenn richterliche Entscheidungen im Rahmen kontroverser, naturwissenschaftler Erkenntnisse 23 Dazu der aktuelle Bericht von W. R. Hendee, Journal of The American Medical Association 265/1991, zit. n. H. H. Bräutigam, Eine unheimliche Bedrohung. Streit um die Krebssterblichkeit in der Nähe von Kernreaktoren, in: DIE ZEIT Nr.17 vom 19. April 1991, S. 88. Dieses wurde erst jüngst unterstrichen. Siehe dazu K. W. Kinzier, Science, Vol. 251/1991, 1366; S. H. Reynolds. Proceeding of the National Academy of Science, Bd.88/1991, 1085. Zur psychosomatischen Erklärung von Krebs siehe statt aller P. Lambley, Psyche und Krebs, Reinbek 1991; R. Konstanty, Arbeitsumwelt und Lungenkrebs - eine Abschätzung des Risikos, in: Soziale Sicherheit 3/1986,79 - 83. 24 Süddeutsche Zeitung Nr.117 vom 23. Mai 1991. 25 Siehe dazu den höchst interessanten Bericht von Tb. von Randow, Falsch verstandene Risiken. Plädoyer für eine adäquatere Darstellung von Gefahren in den Medien, in: DIE ZEIT Nr.l vom 28. 12. 1990, S. 58.

I. Einleitung und Fragestellung

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zu fällen sind, werden sie auf einer konkreten Handlungsebene vollzogen. Gerade diese Ebene trifft das betroffene Individuum in seinem Lebensbereich. Inwieweit er durch die richterliche Praxis geändert wird, korreliert selbstverständlich höchstgradig mit den naturwissenschaftlichen Erfahrungssätzen. Als Sachfremder ist der Richter natürlich auf die Daten der Naturwissenschaften angewiesen. Zudem ist davon auszugehen, daß er über ein gewisses Vorverständnis auch zum Problem des Passivrauchens verfügt. Die Medien beschreiben diesen Sachverhalt mit hinreichender Kondition. Hinlänglich bekannt ist, daß die richterliche Spruchpraxis in einem kaum erforschten Ausmaß durch außergesetzliche Determinationsfaktoren mitbestimmt wird, zu denen u. a. unbewußte, vorurteilshafte und statusbedingte Wertvorstellungen gehören. Diese müssen von der Rechtswissenschaft um der Rechtssicherheit willen korrigiert werden. Nach überzeugender Ansicht von Ralf Dreier26 dient die Rechtswissenschaft auch dazu, dem Richter bestimmte Anweisungen zu geben. Ein Erfordernis der Rechtswissenschaft wiederum besteht in einer sorgfältigen Arbeitsweise, weil beim Richter die Neigung besteht, "bei problematischen Entscheidungen hinter dem Prestige der Rechtswissenschaft in Deckung zu gehen. "27 Also hat die Rechtswissenschaft auf die Grundsätze der Wissenschaftstheorie einzugehen. Insbesondere aber sind die mittlerweile gelösten Grundprobleme der Erkenntnislogik zu berücksichtigen. Karl R. Popper stellt zwei Thesen auf, die den Gegensatz zwischen Wissen und Nichtwissen aussprechen. Einerseits besteht eine tiefe theoretische Einsicht zum Verständnis der Welt. Andererseits ist die Unwissenheit aber grenzenlos. Gerade der überwältigende Fortschritt der Naturwissenschaften öffnet die Augen für die bestehende Unwissenheit. Mit jedem Schritt der Erkenntnis stößt man auf neue, ungelöste Probleme. Darüber hinaus wird auch entdeckt, daß die einst geglaubte sichere Erkenntnis sich letztlich als völlig unsicher erweist. Es ist eigentlich selbstverständlich, daß die Erkenntnislogik an der Reibungsfläche zwischen Wissen und Nichtwissen anzuknüpfen hat. Nach Popper stellt es sich immer wieder heraus, daß unser Wissen stets nur in vorläufigen und versuchsweisen Lösungsvorschlägen besteht und daher prinzipiell die Möglichkeit einschließt, daß es sich als irrtümlich, also als Nichtwissen herausstellen wird. Die einzige Form der Rechtfertigung des Wissens kann daher nur vorläufig sein. 28 Popper spricht ein höchst brisantes Wissenschaftsproblem an und warnt: R. Dreier, Recht-Moral-Ideologie, Frankfurt a. M. 1981, S. 51 ff. Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, Neuwied/Berlin 1964, S. 289; vgl. auch R. Dreier, Recht-Moral-Ideologie, S. 55. 28 Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Th. Adorno etal., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied und Berlin 1969, S. 103 - 123 (103ff.). 26

27

2 Zapka

1. Einleitung und Fragestellung

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"Es ist gänzlich verfehlt, daß die Objektivität der Wissenschaft von der Objektivität des Wissenschaftlers abhängt. Und es ist gänzlich verfehlt zu glauben, daß der Naturwissenschaftler objektiver ist als der Sozialwissenschaftler. Der Naturwissenschaftler ist ebenso parteiisch wie alle anderen Menschen, und er ist leider ... gewöhnlich äußerst einseitig und parteiisch für seine eigenen Ideen eingenommen. Einige der hervorragendsten zeitgenössischen Physiker haben sogar Schulen gegründet, die neuen Ideen einen mächtigen Widerstand entgegensetzten. "29

Motive der wissenschaftlichen Wahrheitssuche sind oftmals zutiefst in außerwissenschaftlichen, wie religiösen oder politischen Wertungen verankert. 3o In der Wissenschaft sind "nicht selten Dogmatisierungstendenzen zu konstatieren, nicht nur dann, wenn außerwissenschaftliche Instanzen Einfluß auf die Forschung nehmen, wie das unter religiösen und politischen Gesichtspunkten geschehen ist, sondern auch im Wege der endogenen Schulenbildung, wie man sie auch in den Naturwissenschaften mitunter findet. "31

Zu Recht warnt Hans Albert deshalb vor diesen Dogmatisierungstendenzen: "Der Anspruch, im vollen und alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein und daher kritische Argumente nicht beachten zu müssen ... , erweist sich ... oft als von erstaunlicher Durchschlagskraft, wenn er mit der Fähigkeit verbunden ist, wichtige Bedürfnisse zu befriedigen oder ihre Befriedigung in Aussicht zu stellen. "32

Ein echtes Interesse an der Wahrheit kann nur derjenige besitzen, der gewillt ist, "die Schwächen und Schwierigkeiten seiner Denkresultate und Problemlösungen kennenzulernen, Gegenargumente zu hören und seine Ideen mit Alternativen konfrontiert zu sehen, um sie zu vergleichen, modifizieren und revidieren zu können. Nur Anschauungen, die kritischen Argumenten ausgesetzt werden, können sich bewähren. "33

Die Bewertung einer naturwissenschaftlichen Aussage im Hinblick auf den geforderten Erfahrungssatz hat den zugehörigen wissenschaftstheoretischen Hintergrund zu berücksichtigen: Nach allgemeiner Auffassung entzieht sich jede empirisch-wissenschaftliche Theorie logisch betrachtet der endgültigen Verifizierung. Ihre Geltung läßt sich nur auf den Grad ihrer Bewährung stützen. Eine Theorie bewährt sich, wenn sie eingehenden und strengen empirischen Nachprüfungen der aus ihr deduktiv abgeleiteten Prognosen standhält und durch die fortschreitende Entwicklung der Wissenschaft nicht überholt wird. 34

29 30 31 32 33

Ebd., S.112. Ebd., S.114. H. Albert, Plädoyer für den kritischen Rationalismus, München 1971, S. 13. Ebd., S.14. Ebd., S.15f.

1. Einleitung und Fragestellung

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Unter Berücksichtigung dieses erkenntnistheoretischen Hintergrundes ist deshalb zu beachten, daß "Rechtsnormen kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck der effektiven Gestaltung der sozialen Wirklichkeit"35 sind. Auch im Rahmen der hier vorliegenden Untersuchung zur Rechtsprechung des Passivrauchens muß die soziale respektive naturwissenschaftliche Wirklichkeit auf der rechtlichen Ebene entsprechend "wahr" abgebildet werden. Gestaltung der sozialen Wirklichkeit bedeutet nicht das fahrlässige Verfälschen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Dieses scheint aber angesichts der sehr unterschiedlichen Rechtsprechung zum Passivrauchen der Fall zu sein. Nach den vorliegenden gerichtlichen Entscheidungen existieren zwei Wirklichkeiten, die sich einander ausschließen. Im folgenden sollen die für die Rechtsprechung entscheidenden Kriterien genannt und begründet werden, die nur eine "richtige", soziale Wirklichkeit zulassen soll. Zum methodischen Vorgehen: Mit dem Rechtsstaatsprinzip sowie dem grundrechtlichen Gebot der Gleichheit, zugleich Agens der Gerechtigkeit, ist es prinzipiell unvereinbar, wenn in der Frage des Passivrauchens am Arbeitsplatz zum gleichen Sachverhalt eine auffällig widersprüchliche Rechtsprechung besteht. Weder der (nicht-)rauchende Arbeitnehmer noch der weisungsbefugte Arbeitgeber können die genauen Rechtsfolgen des Passivrauchens vorhersehen. Das verunsichert beide Seiten. Eine nach Art.20 GG gebotene Rechtssicherheit sowie das Vertrauen auf die eigene Handlung entfällt damit. Daß auch das Rechtsstaatsprinzip nebst seiner diversen Subbegriffe geltendes Recht ist, soll in Kapitel 2 begründet werden. Der dem Rechtsstaatsprinzip inhärente Vertrauenstatbestand, der Ausdruck und Postulat der Rechtssicherheit ist, steht im engen Verbund mit der adäquaten Auswertung der medizinischen Gutachten zur Frage möglicher gesundheitlicher Auswirkungen des Rauches auf den Passivraucher. Von besonderer Wichtigkeit ist hierbei die Grenzziehung der freien Beweiswürdigung für den Richter (Kapitel 3). Gerichtsverwertbare, naturwissenschaftliche Erfahrungssätze haben im maßgebenden Fachkreise über eine allgemeine Akzeptanz zu verfügen. Welche medizinische Position - a) ob Passivrauchen gesundheitliche Gefährdungen zur Folge und b) ob Passivrauchen lediglich Belästigungscharakter hat der naturwissenschaftlich-empirischen Wirklichkeit entspricht, wird in Kapitel 3.2. ausführlich zu klären sein. Sowohl der Raucher als auch der Nichtraucher können Schutzrechte aus Art. 2 GG geltend machen. In welchem Umfang dieses jeweils der Fall sein 34 K. R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 1973, S. 8 passim; E. Ströker, Einführung in die Wissenschaftstheorie, München 1973, S. 96ff.; W. Mummenhoff, RdA 1976,370. 35 P. Sourlas, Juristische Methodenlehre im Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis, in: FS für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, München 1983, S. 615 - 630 (617).

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1. Einleitung und Fragestellung

wird, wird an diesem Grundrecht in Kapitel 4 diskutiert. Vor allem gilt es, einen praktikablen Krankheitsbegriff zu entwickeln, denn nicht jedes Symptom hat rechtlich einen Krankheitswert. Anhand dieses Begriffes kann definiert werden, ob Passivrauchen diesen Begriff tatbestandsmäßig erfüllt oder ob nur ein Belästigungstatbestand vorliegt. Auch die Belästigung führt kein eigenständiges', absolutes Dasein in einer Industriegesellschaft, d. h. ihre Grenzen sind aufzuzeichnen. In Kapitel 5 wird anhand der entwickelten verfassungsrechtlichen Kriterien die umfangreiche Rechtsprechung der Verwaltungs-, Arbeits- und ordentlichen Gerichtsbarkeit kritisch gewürdigt. Hauptsächlich aber wird die Argumentationsweise der Gerichte verdeutlicht. Abschließend werden in Kapitel 6 einige Denkmodelle zur Lösung dieses Konflikts am Arbeitsplatz vorgestellt.

2. Rechtsstaatsprinzip und die Rechtsprechung 2.1. Zur Richtigkeit richterlicher Entscheidungen

Allein die Tatsache, daß zum "Tatbestand" des Passivrauchens eine abweichende, ja sogar widersprüchliche Rechtsprechung vorliegt, deutet eine Reihe von - bislang nicht erörterten - Problemdimensionen an. Statt einer zu erwartenden homogenen, richterlichen Entscheidungspraxis zum - von der Natur der Sache her - gleichen Sachverhalt, präsentiert sie sich als prinzipiell nicht duldbares Paradoxum. Was für die Theorie allgemeine Gültigkeit besitzt, sollte ebenso für die Praxis gelten, nämlich: Alle juristischen Diskursformen müssen Begründungen! enthalten. Wer indes etwas begründet, beansprucht auch die erforderliche Stichhaltigkeit und erklärt seine Behauptung deshalb als richtig. 2 Die Forderung nach einer Begründung respektive des Anspruchs auf Richtigkeit lassen sich, zumindest hinsichtlich der Rechtsprechung, auch positivrechtlich begründen. Die Richter sind nach dem geltenden Recht verpflichtet, ihre Entscheidung zu begründen. So steht die richterliche Entscheidung bereits durch das positive Recht unter dem Anspruch auf Richtigkeit. 3 Eine völlig andere Frage ist, ob dieser Anspruch tatsächlich erhoben wird. Dies wäre nach Robert Alexy4 dann der Fall, wenn der Begriff der richterlichen Entscheidung auch den Begriff der Richtigkeit einschlösse. R. Alexy konzediert: Es spräche einiges für die Auffassung, daß das Fehlen des Anspruchs auf Richtigkeit einer Entscheidung zwar nicht unbedingt den Charakter einer gültigen richterlichen Entscheidung aufhebt, diese Entscheidung jedoch in einem nicht nur moralischen Sinne fehlerhaft erscheinen läßt. 5 Eine zusätzliche Frage stellt sich: Inwieweit wird mit der in juristischen Urteilen und mit juristischen Begründungen erhobene Anspruch auf Richtigkeit für die Praxis richterlichen Begründens und Entscheidens konstitutiv?6 Auch Rechtsanwälte erheben mit ihren Ausführungen den Anspruch auf Richtigkeit, auch wenn sie subjektiv ihre Interessen verfolgen. Gleichwohl könnten ihre Begründungen rechtswissenschaftlichen Abhandlungen entlehnt sein. Wissenschaftliche Erörterungen finden nicht selten Eingang in richterliche Begründungen. 1 2 3

4 5 6

Baumbach I LilUterbach, ZPO, München 1987, §286, 2 D. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt a.M. 1983, S. 265. R. Alexy, Theorie, S. 266. Ebd. Ebd., S. 266f. Ebd., S. 267.

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2. Rechtsstaatsprinzip und die Rechtsprechung

Kaum jemand würde bezweifeln wollen, daß sie unter dem Anspruch auf Richtigkeit basieren.? Diese luziden Erkenntnisse Robert Alexys dürften analog auch für richterlichen Entscheidungen über das Passivrauchen gelten. Gleichwohl erzeugen diese Begründungen nicht nur eine Richtigkeit, sondern mindestens zwei Richtigkeiten. Offensichtlich scheint die jeweilige Richtigkeit eine eher geographische, d. h. abhängig vom Standort des Gerichts zu sein. Es dürfte doch arg ungewiß sein, daß ein nach rechtsstaatlichen Prinzipien konstituierter Staat "richtiges" Recht geographischen Prinzipien unterordnet. Zu Recht weist Dürig8 darauf hin, daß richterliche Entscheidungen individuellen Einflüssen, wie Umwelt, Weltanschauung, Erfahrung ausgesetzt sind. Deshalb aber sind diese "unkontrollierten Subjektivismen"9 nicht zu rechtfertigen. Eine richterliche Entscheidung, die auf subjektiven Faktoren oder auf intuitiven Bewertungen beruht, ist im höchsten Maße unbefriedigend und eine Ursache der Rechtsunsicherheit. lO Freilich ist die Rechtspflege durch die Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG) konstitutionell "uneinheitlich".1 1 Gleichwohl gibt es stets "Überraschungsentscheidungen"12, die die Rechtsunsicherheit nährt. Das sich hier entfaltende - rechtsstaatliche - Problem ist schnell umrissen: Rechtsfolgen einer bestimmten Handlung müssen evident und dürfen niemals ambivalent sein. Ein rechtskräftiges Urteil beendet definitiv den Rechtsstreit und trägt damit zum Rechtsfrieden und auch zur Rechtssicherheit bei. 13 Richterliche Entscheidungen betreffen im allgemeinen Einzelfälle. Zudem wirken sie zukunftsweisend, weil sie zur Klärung strittiger Rechtslagen beitragen. Für künftige Fälle sollen sie damit als Präjudiz bedeutsam sein. Die unteren Instanzen sollen sich an der höchstrichterlichen Rechtsprechung orientieren. Der Bürger erwartet, daß sie bei der Entscheidung seiner Angelegenheit zugrunde gelegt werden. In Anlehnung an Hartrnut Maurer14 stellt sich daher die Frage, ob und inwieweit das Vertrauen des Bürgers auf die Beständigkeit der Rechtsprechung geschützt wird und ob die Rechtsprechung zur Kontinuität verpflichtet ist. 15 Aus rechtsstaatlichen Gründen muß in dieser Frage die höchstrichterliche Rechtsprechung als Maßstab verbindlich sein: Der BGH vertritt überzeugend die - gebotene rechtsstaatliEbd., S. 270. Dürig, in: Maunz I Dürig I Scholz, Art. 3 I Rz. 384 a; vgl. AK-GG-Stein, 2. Auf!. , . Art. 3 Rz. 31. 9 Ebd. 10 AK-GG-Stein, Art. 3 Rz. 30. 11 Dürig, in: Maunz I Dürig I Scholz, Art. 3 I Rz. 410. 12 Ebd., Art. 3 I Rz. 189. 13 H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: Isensee I Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, Heidelberg 1988, § 60 Rz. 100. 14 Ebd., § 60 Rz. 101. 15 Näher dazu weiter unten: 7

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2.2. Das Rechtsstaatsprinzip

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che - Auffassung, "die Rechtswerte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes" verlangen ein Festhalten an der einmal durch höchstrichterliche Rechtsprechung getroffenen Entscheidungen und lassen ein "Abgehen von der Kontinuität der Rechtsprechung nur ausnahmsweise" zu, wenn "deutlich überwiegende oder sogar schlechthin zwingende Gründe dafür sprechen. "16 Diese Auffassung soll im folgenden ausführlicher begründet werden. 2.2. Das Rechtsstaatsprinzip Den Begriff "Rechtsstaatlichkeit" mit dem Anspruch auf Letztbegründbarkeit zu definieren, soll und kann nicht die entscheidende Frage sein. 17 Vielmehr geht es um die Staatsidee bzw. Zielorientierung rechtsstaatlichen Handelns, das sich zunächst in der Absage absoluter Macht und der Hinwendung zur Herrschaft des Rechts und dem Schutz persönlicher Freiheit durch Mäßigung, Gliederung und Begrenzung sowie richterlicher Kontrolle der Staatsgewalt ausdrückt,18 Ziele des Rechtsstaatsprinzips bestehen in der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. 19 Angesichts der Erfahrungen insbesondere mit der nationalsozialistischen Willkürherrschaft wurde auf die Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips höchsten Wert gelegt. Der Weg zum heutigen Rechtsstaatsverständnis des Grundgesetzes war weit. Ein knapper Überblick soll dies erhellen: Während es im absolutistischen Staat kaum Schutz vor Willkürherrschaft der Obrigkeiten gab, änderte sich dies allmählich im 19. Jahrhundert. Das Bürgertum wandte sich gegen obrigkeitliche Ansprüche und wünschte Rechtssicherheit. Die staatliche Gewalt sollte im klassischen Liberalismus, der allerdings aufgrund der verzögerten Entwicklung in Deutschland nichts vollends zum Durchbruch kam, die politische und wirtschaftliche Freiheit des Bürgers garantieren. Das Rechtsstaatsprinzip wurde so verstanden, daß der Erlaß eines Gesetzes die Grundlage aller staatlichen Akte bildete. Doch begnügte sich das heutige Grundgesetz nicht mit einem formellen Rechtsstaatsverständnis. Recht bedarf der Ergänzung durch Gerechtigkeit. Entscheidend sollte die Verbindlichkeit des Rechts insgesamt sein.2° 16 BGHZ 85,64 - 75 (66); 87, 150 - 156155f.). Diese Auffassung wird ebenfalls vom BAG, BSG und BFH vertreten. Siehe dazu H. Maurer, ebd., § 60 Rz. 104. 17 Zum Problem dieses Unterfangens siehe Ph. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Tübingen 1986, S.4ff., 117ff.; Herzog, in: Maunz I Dürig I Scholz, Art.20 Rz.2 (VII.Abschnitt); E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee I Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, Heidelberg 1987, § 24 Rz. 2ff. 18 K. Stern, Das Staatsrecht, Bd. I, München 1984, S. 765; vgl. H. F. Zacher, Freiheitliche Demokratie, München 1969, S. 54. 19 K. Stern, Staatsrecht, S. 781 mwN; K. A. Schachtschneider, Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, in: JA 1978, 185 - 193 (185). 20 E. Jesse, Die Demokratie in Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1982, S. 27ff.

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2. Rechtsstaatsprinzip und die Rechtsprechung

Das Rechtsstaatsprinzip zielt also auf die Domestizierung des Staates zum Schutze des Bürgers. Der Rechtsstaat bindet die Macht, orientiert das Recht an der Gerechtigkeit. 21 Die zentrale, ungeschriebene Quelle des Rechtsstaatsprinzips ist definitiv in Art. 20 GG enthalten. 22 Trotz aller terminologischen Schwankungen stellt sich die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts das Rechtsstaatsprinzip in ständiger Rechtsprechung neben anderen Verfassungsnormen. 23 Auch Roman Herzog wertet das Rechtsstaatsprinzip "in seiner vollen Breite"24 als elementaren Bestandteil des Grundgesetzes. Es bedarf also keiner weiteren Erörterung, daß das Rechtsstaatsprinzip als "leitendes Prinzip und Staatszielbestimmung des Grundgesetzes"25 über einen verfassungsrechtlichen Rang verfügt und somit den unbedingten Anspruch auf seine Einlösung fordert. Für die vorliegende Problemkonstellation der widersprüchlichen Rechtsprechung zum Passivrauchen sollen einige der wesentlichen Bestimmungen bzw. Elemente des Rechtsstaatsprinzip verdeutlicht werden, die für eine angemessene Rechtsprechung verfassungsrechtlich erforderlich sind. Zur Rechtsstaatlichkeit gehört die Forderung, daß jedes staatliche Handeln immer begrenzt sowie meßbar und vorausberechenbar zu sein hat. Hier verbirgt sich eine der zentralen Aufgabe des Rechtsstaats. 26 Die "Unterprinzipien"27, die das Rechtsstaatsprinzip verfassungstechnisch gestalten, sind zahlreich. Die GedilOkenkette "Rechtsstaatsprinzip-Rechtssicherheit-Verläßlichkeit der RechtsordnungVoraussehbarkeit der Rechtsordnung-Voraussehbarkeit staatlicher EingriffeSchutz des Vertrauens auf Rechtskontinuität"28 findet zahlreiche Gefolgschaft.

21 Herzog, in: Maunz I Dürig I Scholz, Art.20 Rz.83 (VII. Abschnitt); K. A. Schachtschneider, JA 1978, 185. 22 K. A. Schachtschneider, JA 1978, 185; K. Stern, Staatsrecht, S.780 mwN zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; Ph. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 119, 153; Schmidt-Bleibtreu I Klein, Grundgesetz, Art. 20 Rz. 9. 23 Ph. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S.6; Schmidt-Bleibtreu I Klein, Grundgesetz, Art. 20 Rz.15. 24 Herzog, in: Maunz I Dürig I Scholz, Art. 20 Rz. 32 (VILAbschnitt). 25 Ph. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 185. 26 Herzog, in: Maunz I Dürig I Scholz, Art. 20 Rz. 26 (VII.Abschnitt). 27 Ebd. 28 So E. W. Fuß, Der Schutz des Vertrauens auf Rechtskontinuiät im deutschen Verfassungsrecht und europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS für H. Kutscher, München 1981, S.201ft. (203); vgl. auch Maunz I Zippelius, Deutsches Staatsrecht, München 1985, § 1211 1,2; III 1 - 6; K. Stern, Staatsrecht, S.781, 784; E. Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, § 24 Rz. 69.

2.3. Rechtsstaatliche Handlungsmaßstäbe

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2.3. Rechtsstaatliche Handlungsmaßstäbe Die hierunter zusammengefaßten Unterprinzipien von Rechtsstaatlichkeit stellen für jede Art staatlichen Handeln respektive der Judikative unabdingbare Kriterien der Gerechtigkeit dar. Als herausragendes Element des Rechtsstaatsprinzips gilt das Prinzip der Rechtssicherheit. 29 Daß das Rechtsstaatsprinzip vor allem Rechtssicherheit gebietet, gehört mittlerweile zum Bestand etablierter Einsicht. 3o Das Prinzip Rechtssicherheit ist zugleich "geltendes Recht. "31 Sie sorgt für die Einzelfallgerechtigkeit und steht damit dem Willkürverbot des Art. 3 I GG gleichrangig gegenüber, so daß die Abwägungsprobleme im prozessualen Bereich auch auf der Verfassungsebene zu finden sind. Insbesondere aber hat sich die allumfassende Rechtsordnung die stetig variierenden gesellschaftlichen Entwicklungen zu adaptieren. Nicht nur die Rechtsordnung allein, sondern das gesamte Staatshandeln hat innerhalb bestimmter Grenzen für den Bürger vorhersehbar zu sein und damit zugleich berechenbar. Der Betroffene muß in die Lage versetzt sein, die aktuelle Rechtslage zu erkennen und sein Verhalten dementsprechend einzurichten. 32 Dieses gebietet das Rechtsstaatsprinzip. Wird das Gebot des Mindestmaß an Rechtssicherheit nicht gewährleistet, steht es im Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip.33 Schon der Begriff Rechtssicherheit impliziert allemal Beständigkeit, Verläßlichkeit, Voraussehbarkeit und Meßbarkeit staatlicher Entscheidungen. 34 Meßbarkeit heißt, daß staatliches Handeln - und dies gilt für alle drei Gewalten - gemessen werden kann, d. h. vorherberechenbar ist. Verläßlichkeit dagegen steht als Oberbegriff für Subbegriffe wie Sicherheit, Bestandskraft, Rechtssicherheit, Vertrauensschutz rechtlichen Handelns. 35 Hinter dem vagen Begriff der Verläßlichkeit steht das Erfordernis, daß staatliches Handeln so bestandskräftig zu sein hat, daß sich der Bürger auch darauf verlassen kann. Ohne Einbeziehung der Verläßlichkeit bleibt jede staatliche Intervention unvorhersehbar und damit unberechenbar. Der betroffene Bürger müßte sich als bloßes Objekt staatlicher Gewalt bzw. Willkür empfinden. 36 In der Regel 29 BVerfGE 2, 380ff.(403); 60, 253ff. (268f.); vgl. Ph. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S.193 mwN del'" Rechtsprechung des BVerfG. 30 Ph. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 193. 31 Ebd., S.194. 32 Herzog, in: Maunz I Dürig I Scholz, Art. 20 Rz.6lf.; Ph. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S.152, 155; Maunz I Zippelius, Staatsrecht, 12 1115; E. Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, § 24 Rz. 8I. 33 BVerfGE 21,312 - 328 (324); Schmidt-Bleibtreu I Klein, Art. 2 Rz. 18. 34 E. Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, § 24 Rz. 8I. 35 Ph. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 193; K. A. Schachtschneider, JA 1978, 241 mit zahlreichen Nachweisen der Rechtsprechung des BVerfG; K. Stern, Staatsrecht, S. 833. 36 Herzog, in: Maunz I Dürig I Scholz, Art. 20 Rz. 58 (VII. Abschnitt).

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2. Rechtsstaatsprinzip und die Rechtsprechung

formuliert sich die Rechtssicherheit respektive ihrer Subbegriffe durch das Gesetz. Im gleichen Maße gilt dieses auch für die Judikative, die letztlich für die (Einzel-)Gerechtigkeit Sorge zu tragen hat. Rechtssicherheit umfaßt unbedingt die Freiheit, sein Leben nach eigenen Plänen zu gestalten. Dies aber setzt voraus, daß der Einzelne eine verläßliche Dispositionsgrundlage hat und sich vor allem auf die Rechtslage verlassen kann. 3? Ansonsten besteht nicht ansatzweise die Möglichkeit für eine persönliche Handlungsfreiheit sowie der Persönlichkeitsentfaltung. Vielmehr wäre eine Entfaltungsfreiheit auf der Grundlage des "trial and error" gegeben, die jedoch gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt. Bereits wegen der dauerhaften Sicherung des Rechtsfriedens sind die richterlichen Entscheidungen in hohem Maße auf Beständigkeit angewiesen. Die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen nimmt daher ein verfassungsfestes Element des Rechtsstaatsprinzips ein. 38 Richter sind unstreitig legitimiert, das positive Recht weiterzubilden und hierbei die in der Gesellschaft dominierenden Gerechtigkeitsvorstellungen zum Maßstab zu nehmen: "Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. "39

Zu beachten sind stets grundlegend die "fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft. "40 Seine Aufgabe als ordnender Faktor des gesellschaftlichen Lebens kann das Recht nur dann erfüllen, wenn es auf Beständigkeit und Dauerhaftigkeit angelegt ist. Einen bedeutenden Faktor stellt dabei die Zeit. Sie repräsentiert einerseits eine konservierende Dimension. Soll das Recht aber einen Realitätsbezug und damit seine Gestaltungskraft beibehalten, dann hat es sich andererseits auf neue Entwicklungen einzustellen und notfalls zu beeinflussen. Die Variable Zeit verfügt somit über einen ambivalenten Charakter. Sie insistiert auf Bewahrung, aber auch auf Veränderung. Mit anderen Worten: Das Recht steht im Spannungsverhältnis von Stabilität und Flexibilität bzw. Tradition und Innovation. 41 37 Maunz / Zippelius, Staatsrecht, § 1213; vgl. BVerfGE 60,353 (267ff.); H. Maurer, Kontinuitätsgewähr , § 60 Rz 5; Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, § 2 Rz. 16 mwN. 38 Statt aller E. Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, 24 Rz. 82. 39 BVerfGE 34, 269 - 293 (287); vgl. E 65, 182 - 195 (190ff.); K. Stern, Staatsrecht, S.800ff. 40 Maunz I Zippelius, Staatsrecht, § 121II 4.

2.3. Rechtsstaatliche Handlungsmaßstäbe

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Besonders die Bedingungen der modernen Industrie- und Massengesellschaft fordern den Staat in steigendem Maße zur Aktivität im gesellschaftlichen Bereich heraus. Dabei kann er nicht immer an bestehende und allgemein anerkannte Ordnungsvorstellungen anknüpfen, sondern muß einen angemessenen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen herstellen. Der Bürger steht einem ständig dichter werdenden Geflecht sich schnell verändernder staatlicher Regelungen gegenüber. 42 Um aber dennoch seine Erwartungen und Dispositionen realisieren zu können, soll ihm hauptsächlich der Vertrauensschutz Sicherheit vermitteln. Vertrauen ist eine grundlegende Bedingung der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Vertrauensschutz meint die Verteidigung von Rechtspositionen des Bürgers gegenüber dem Staat, meint die Honorierung von Verhaltenserwartungen gegenüber staatlichen Instanzen, gleichgültig ob Gesetzgebung, Verwaltung oder Rechtsprechung. 43 Vertrauen ist zugleich Ausdruck und Postulat der Rechtssicherheit. Maßgebliche Rechtsgrundlage des Vertrauensschutzes nebst ihrer Wirkungskraft besteht im Rechtsstaatsprinzip sowie in der Rechtssicherheit. Ebenfalls zählen die Grundrechte und "Treu und Glauben" dazu. 44 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nimmt der Vertrauensschutz deshalb einen breiten Raum ein. Seine Vielfalt von Entscheidungen werden am Grundsatz des Vertrauensschutzes gemessen. 45 Vertrauensschutz bedeutet einen effektiven Bestandschutz und Dispositionsschutz. 46 Beim Vertrauen handelt es sich "im weitesten Sinne des Zutrauens zu eigenen Erwartungen" um einen "elementaren Tatbestand des sozialen Lebens. "47 Nicht nur das individuelle Dasein, sondern vor allem die gesellschaftliche Interaktion ist ohne ein bestimmtes Maß an Vertrauen unvorstellbar. Der Vertrauensgedanke fundiert und trägt die gesamte Rechtsordnung. 48 Erforderlich ist deshalb eine "Kongruenz von Recht und Vertrauen. "49 Die rechtliche Tragweite des Vertrauensschutzes als wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips konnte allgemein und aber auch für die Judikative verdeutlicht werden. Gleichwohl bildet der Vertrauenschutz keine Sperre, aber doch eine "Leitlinie für die Änderung der Rechtsprechung. "50 Doch prinzipiell hat der Verfassungsschutzgedanke Bestand. Das richterliche Urteil binH. Maurer, Kontinuitätsgewähr, § 60 Rz.1. Ebd., 60 Rz. 5. 43 F. Ossenbühl, Vertrauensschutz, S. 25ff.; Ph. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S.194. 44 F. Ossenbühl, ebd., S. 27; Vgl. H. Maurer, § 60 Rz. 9,15. 45 H. Maurer, § 60 Rz. 4 mit zahlreichen Nachweisen; desgleichen bei F. Ossenbühl, ebd., S.33. 46 F. Ossenbühl, ebd., S. 27. 47 N. Luhmann, Vertrauen, Stuttgart 1989, S. 1. 48 F. Ossenbühl, DÖV 1972, 25. 49 N. Luhmann, Vertrauen, S. 35. 50 H. Maurer, Kontinuitätsgewähr, § 60 Rz.105. 41

42

2. Rechtsstaatsprinzip und die Rechtsprechung

28

det nicht nur "inter partes", sondern erzeugt eine über den Streitfall hinausgehende rechtliche Wirkung. 51 Der verfassungsmäßige Vertrauensschutz indes ist begrenzt, wenn auch an enge Voraussetzungen gebunden: Vertrauensschutz entfällt, wo das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertig ist. 52 Sicherlich kann die Justiz wegen ihrer besonderen Entscheidungsstrukturen nur schwer auf eine absolute Selbstbindung festgelegt werden. 53 Philip Kunig54 spricht deshalb von einer "vorübergehenden justiziellen Selbstbindung. " Vorübergehend deshalb, weil eine völlige Unveränderbarkeit der Rechtsprechung nirgends postuliert ist. Bereits mit dem Begriff und der Funktion von Rechtsprechung wäre es unvereinbar, daß ein Gericht an einer als unzutreffend erkannten Rechtsauffassung festhalten sollte, weil es diese in früheren Entscheidungen vertreten hat. J. Burmeister55 spricht von der "immerwährenden Überprüfungsbedürftigkeit und Änderungsfähigkeit der bisherigen Rechtsprechung." Solange tatsächlich ein sachlich exponierter Grund vorliegt, ist letztere Auffassung zu vertreten. Generell aber untergräbt sie wiederum die Rechtssicherheit einschließlich des Vertrauensschutzes. Nur unter den engen Voraussetzungen neuer Erkenntnisse ist die rechtliche Selbstbindung zu lösen. Damit ist um der Rechtssicherheit willen an der richtigen Entscheidung des BGH festzuhalten, nach der ein Abgehen der Kontinuität der Rechtsprechung nur ausnahmsweise zulässig ist, wenn zwingende Gründe dafür sprechen. 56 Kontinuität der Rechtsprechung bedeutet darüber hinaus eine weitgehende Eindämmung der willkürlichen Behandlung gleicher Sachverhalte, wie es bekanntlich beim Passivrauchen eben nicht der Fall ist. Nach allgemeiner Ansicht liegt dann eine Willkürhandlung im Sinne des Art. 3 I GG vor, wenn sich ein "vernünftiger, sich aus der Natur der Sache einleuchtender Grund für eine Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt. "57 Von Bedeutung ist nicht die subjektive Willkür, sondern vielmehr die objektive, d. h. es kommt auf die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit der getroffenen Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation an. Beurteilungsmaßstab der getroffenen Maßnahme ist einzig und allein der Gerechtigkeitsgedanke. 58 Ob ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vorliegt, ist mit Hilfe des F. Ossenbühl, DÖV 1972, 33. Schmidt-Bleibtreu I Klein, Art. 2 Rz.17. 53 E. Schmidt-Aßmann, Rechtsstaat, § 24 Rz. 82. 54 Rechtsstaatsprinzip, S. 432. 55 Vertrauensschutz im Prozeßrecht. Ein Beitrag zur Theorie vom Dispositionsschutz des Bürgers bei Änderung des Staatshandelns, Berlin 1979, S. 29. 56 Siehe zu Beginn des Kapitels. 57 BVerfGE 1, 14 - 66 (52), st. Rechtsprechung; vgl. M. Kromer, Objektive Willkür und Gerichtsentscheidungen, in: JuS 1984, 601 - 605 (603); H. F. Zacher, Soziale Gleichheit, in: AÖR 93, 341 - 383 (382f.); AK-GG-Stein, 2. Aufl., Art. 3 Rz. 29. 58 AK-GG-Stein, Art. 3 Rz.29 mN; Ph. Kunig, Rechsstaatsprinzip, S. 153, 312ff., 337ff.; Schmidt-Bleibtreu I Klein, Art. 3 Rz. 13. 51

52

2.3. Rechtsstaatliche Handlungsrnaßstäbe

29

Kriteriums "Willkür" zu entscheiden. Dieses Kriterium verfügt nicht über einen objektiv bestimmbaren Gehalt. Vielmehr verweist es auf subjektive Faktoren, vor allem aber auf die intuitive Bewertung u. a. durch den Richter. 59 Das Bundesverfassungsgericht betont die Bindung auch der Rechtsprechung an den Gleichheitssatz. Er gebietet die Rechtsanwendungsgleichheit als Grunderfordernis des Rechtsstaats. Den rechtsprechenden Instanzen ist es daher verwehrt, bestehendes Recht zum Vor- oder Nachteil einzelner Personen nicht anzuwenden. 60 Das Willkürverbot gilt im Rahmen der vom Gesetz gelassenen Beurteilungs- und Ermessensspielräume auch für die Exekutive und Judikative. 61 Bei der Ausfüllung der ihr eingeräumten Beurteilungs- und Ermessensspielräume sind der Rechtsprechung bestimmte äußere Grenzen gezogen. 62 Ein Ermessensfehlgebrauch stellt im Prinzip einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz dar. 63 Daß die Parteilichkeit gegen den Gleichheitssatz verstößt, bedarf keiner näheren Begründung. Die unparteiische Ausübung der staatlichen Gewalt ist eine Forderung des Rechtsstaates. 64 Überzeugend wertet das Bundesverfassungsgericht die "Gleichheit der Rechtsanwendung" als "Seele der Gerechtigkeit. "65 Dagegen verstoßen sachgerechte Argumente nicht gegen das Willkürverbot. 66

59

60 61

62

63 64

15l.

AK-GG-Stein, Art. 3 Rz. 30. AK-GG-Stein, Art. 3 Rz. 68. K. A. Schachtschneider, JA 1978, 187. Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 3 Rz. 13. v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 3 Rz. 164. K. A. Schachtschneider, JA 1978, 238; Ph. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S.122,

BVerfGE 54, 277 - 300 (296); vgl. K. Stern, Staatsrecht, § 20 IV 2b mwN. Ph. Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 314; H. J. Rinck, Gleichheitssatz, Willkürverbot und Natur der Sache, in: JZ 1963, 521 - 527 (521). 65

66

3. Medizinische Ausgangslage zum Passivrauchen 3.1. Epidemiologie des Passivrauchens

Bereits im Jahre 1939 widmete der Internist F. Lickint der Frage des Passivrauchens ein eigenes Kapitell, dennoch beginnt die wissenschaftliche Diskussion über mögliche Gefahren des Passivrauchens erst mit einer Studie aus dem Jahre 1981 des Epidemiologen T. Hirayama2 . Dieser hatte in einer Kohortenstudie die Mortalität von 91540 nichtrauchenden Ehefrauen im Alter von über vierzig Jahren bezüglich des Rauchverhaltens ihrer Männer untersucht. Während des 14jährigen Untersuchungszeitraums starben 200 Frauen an Lungenkrebs. Hirayama stellte fest, daß nichtrauchende Ehefrauen rauchender Männer ein signifikant höheres Lungenkrebsrisiko hätten als solche, die mit einem Nichtraucher verheiratet waren. Es bestand seiner Erkenntnis nach auch eine signifikante Dosis-Wirkungs-Beziehung: Je höher der Tabakkonsum des Ehemanns, desto höher das Lungenkrebsrisiko der Frau. Das relative Lungenkrebsrisiko dieser nichtrauchenden Ehefrauen betrug 1,00; 1,36; 1,42; 1,58 und 1,91 und zwar in Abhängigkeit davon, ob der Ehemann Nichtraucher, Exraucher oder Raucher von täglich 1 - 14, 15 - 19 oder 20 und mehr Zigaretten konsumierte. 3 Andere prospektive Studien zeigten indes keine signifikante Erhöhung des Lupgenkrebsrisikos; darunter befand sich auch eine Sekundäranalyse der Daten einer Kohortenstudie der American Cancer Society. 4 Der hierbei operationalisierte Stichprobenumfang betrug 94000 männliche sowie 375000 weibliche Nichtraucher, die ab dem Jahr 1959 über 12 Jahre beobachtet worden sind. Garfinkel stellte für die 176739 verheirateten Nichtraucherinnen, die er entsprechend dem Tabakkonsum der Ehemänner in drei Gruppen klassifizierte, keine signifikante Risikoerhöhung fest. Gleichfalls konnten seine Ergebnisse auch keine Dosis-Wirkungs-Beziehung nachweisen. F. Lickint, Tabak und Organismus, Stuttgart 1939, S. 260 - 265. T. Hirayama, Non-smoking wives of heavy smokers have a higher risk of lung cancer: a study from Japan, in: Br. Med. J. 282 (1981),183 - 185; siehe auch ders., Passive smoking and cancer: The association between husbands smoking and cancer in the lung of non-smoking wives, in: H. Kasuga (ed.), Indoor air quality, Berlin/Heidelberg 1990, S.299 - 311. 3 T. Hirayama, Krebsmortalität bei nichtrauchenden Ehefrauen rauchender Ehemänner auf der Basis einer großangelegten Kohortenstudie in Japan, in: International Green Cross (ed.), Passivrauchen aus medizinischer Sicht, Genf 1986, S. 38. 4 Dazu L. Garfinkel, Time trends in lung cancer mortality among non-smokers and a note on passive smoking, in: J. Natl. Cancer Inst. 66 (1981), 1061 - 1066. 1

2

3.1. Epidemiologie des Passivrauchens

31

Nach Ansicht von Überlas scheint die Studie von Hirayama die "beste verfügbare Studie zur Frage Passivrauchen und Lungenkrebs, die einen positiven Zusammenhang zeigt", zu sein. Auf jeden Fall gilt sie als die entscheidende Grundlage zur Risikobewertung des EPA, des Bundesgesundheitsamtes und des amerikanischen Surgeon General, die allesamt aufgrund dieser Datenlage eine Gesundheitsgefährdung durch das Passivrauchen bejahen. Dafür scheinen drei Gründe zu sprechen: 1. Die Hirayama-Studie ist die erste epidemiologische Untersuchung dieser Art. 2. Es handelt sich um eine Kohortenstudie. Dabei geht man von der Gegenwart aus, wählt eine Gruppe aus und stellt an ihr die Exposition beispielsweise von Passivrauch fest und beobachtet über einen längeren Zeitraum die Zahl der Lungenkrebsfälle. Bias-Fehler, wie sie typisch für Fall-Kontrollstudien sind, treten hier nicht auf. Das fördert zweifelsfrei ihren wissenschaftlichen Wert und schließlich: 3. Die hohe Anzahl der untersuchten Probanden.

Ohne die Hirayama-Studie gäbe es keine epidemiologisch sigifikante Wahrscheinlichkeit für eine Gesundheitsgefährdung durch Passivrauchen. Obwohl Hirayama mit seinem methodischen Weg siginifikante Risikowahrscheinlichkeiten dokumentiert, schränkt er den Aussagewert seiner eigenen Untersuchungen erheblich ein: Er selbst meint, daß man hinsichtlich einer Gesundheitsgefährdung für seine Forschungsarbeit auf einer vierstufigen Skala "unwahrscheinlich" - "wahrscheinlich" - "möglich" - "definitiv" den Terminus "wahrscheinliche Karzinogenese" wählen sollte. 6 Darüber hinaus sind weitere methodische Unzulänglichkeiten zu nennen, die Anlaß geben, seine eindeutigen Ergebnisse kritisch zu hinterfragen. Vor allem die folgenden Gründe sprechen für eine Überprüfung seiner Studie: 1. Ursprüngliches Ziel seiner Studie war die Erfassung und Bewertung von Zusammenhängen zwischen verschiedenen gesundheitlichen Belastungen (u. a. Alkoholkonsum, Rauchen, Ernährung) und Todesursachen. Der Fragebogen7 enthielt keine Frage zu einer möglichen Belastung durch Passivrauch, d.h. weder zum Umfang noch zum Ort (z.B. Arbeitsplatz und Wohnung) der Probanden. Die Fragestellung zum Passivrauchen wurde - wie auch bei Garfinkel- erst nach Abschluß der Studie nachgeschoben und analysiert.B 5 K. Überla, Die Epidemiologie des Passivrauchens, in: E. O. Krasemann (ed.), 3. Wedeler Gespräch zur Sozialmedizin: Das Problem des Passivrauchens, Wedel 1988, S. 17 - 32 (22). 6 Zit. n. International Green Cross (ed.), Passivrauchen aus medizinischer Sicht. Round-table-discussion, Genf 1986, S. 13 - 32 (15). 7 T. Hirayama, Life-style and mortality: a large-scale census-based cohort-study in Japan, Basel 1990, Appendix. 8 H. Letzei, Passivrauchen und Lungenkrebs, Berlin/Heidelberg/New York/Tokyo 1988, S.19.

32

3. Medizinische Ausgangslage zum Passivrauchen

2. Die Kohorte war nicht repräsentativ für Japan: Eine deutliche Altersselektion konnte definiert werden. Frauen über 70 Jahre, bei denen Lungenkrebs besonders häufig ist, waren unterrepräsentiert. Werden die Daten nach dem Alter der japanischen Bevölkerung adjustiert, löst sich das von Hirayama definierte Risiko auf. 9 3. Der Indikator für die Belastung durch Passivrauchen - die Rauchgewohnheiten des Ehemannes - ist nicht verläßlich, valide und spezifisch. Die untersuchten Personen wurden nur einmal, nämlich zu Beginn der Studie, nach ihren Rauchgewohnheiten befragt. Es ist jedoch unbekannt, wie viele der täglich gerauchten Zigaretten auch tatsächlich zu Hause konsumiert worden sind. Mögliche Veränderungen dieses Status - etwaiger Rauchbeginn der nichtrauchenden Frau - sind nicht überprüft worden. Bei näherer Betrachtungsweise liegt keine relevante Information über die tatsächlich erfolgte Passivrauchexposition vor. Damit werden Hirayamas Angaben über seine DosisWirkungs-Beziehung durchaus sehr fragwürdig. 1o 4. Eine Reihe wichtiger Confounding-Faktoren, wie z. B. die allgemeine Umweltverschmutzung, Kochgewohnheiten oder Belastungen am Arbeitsplatz, fanden keine BeTÜcksichtigung. ll 5. Mißklassifikation: Nach Lee 12 dürften die Selbst auskünfte zum eigenen Rauchverhalten in etwa 5 Prozent der Fälle nicht richtig sein. Mit anderen Worten: Etwa 5 Prozent der Nichtraucherinnen haben entgegen ihrer Angaben geraucht. Für diese Annahme spricht nicht nur, daß im Jahre 1965 Rauchen für Frauen in Japan sozial nicht akzeptabel war, sondern dieses wurde auch in anderen Untersuchungen bestätigt. 6. Genaue Angaben über die 200 Todesfälle liegen nicht vor. Nur bei 23 Personen wurde eine notwendige histologische Untersuchung durchgeführt, während bei den anderen lediglich der Totenschein vorlag. Bekannt ist, daß Totenscheindiagnosen alles andere als verläßlich sind.!3 Als allgemein bekannt kann vorausgesetzt werden, daß relative Risiken unter einer Wahrscheinlichkeit von 2.0 nicht sicher erfaßbar sind. Sogenannte "low-risk-Assoziationen" bergen die Gefahr, daß durch Mißklassifikationen, fehlende Berücksichtigung von Confounding-Faktoren oder Bias ein in Wirk9 K. Überla, Wir wissen nicht, ob Passivrauchen Lungenkrebs hervorruft, in: Der Kassenarzt 23 (1989), 41 - 43. 10 K. Überla, Epidemiologie des Passivrauchens, in: Zeitschrift für Hautkrankheiten 66 (1989), 26 - 29. 11 K. Überla, Lung cancer from passive smoking: hypothesis or convincing evidence?, in: Int. Arch. Occup. Environ. Health 59 (1987), 421 - 437. 12 P. Lee, Misclassification of smoking habits and passive smoking, Berlin/Heidelberg/New York/London/Paris/Tokyo 1988. 13 H. Letzei, Ob Passivrauchen schädlich ist, weiß man nicht, in: Weltgesundheit 6 (1989), 13 - 19.

3.1'. Epidemiologie des Passivrauchens

33

lichkeit nicht vorhandener Zusammenqang simuliert wird. Darüber hinaus ist von besonderer Wichtigkeit, daß Studien dieser Art und Tragweite für andere Wissenschaftler rekonstruierbar und damit überprüfbar sein müssen. Hirayama dagegen weigert sich, der Öffentlichkeit - selbst der amerikanischen Umweltbehörde EPA - seineOriginaldaten für eine Reanalyse zur Verfügung zu stellen. 14 Zum anderen mag auch ein eher unbekannter Zusatzbefund verdeutlichen, wie problematisch die Hirayama-Studie ist. Nach seinen Erkenntnissen ist das Selbstmordrisiko nichtrauchender Ehefrauen von rauchenden Männem ähnlich hoch wie ihr Lungenkrebsrisiko. Hirayamas Erklärung zu diesem Phänomen: "Man kann davon ausgehen, daß es zwei Menschentypen gibt: Der eine verträgt mühelos den Zigarettenrauch anderer, der zweite ist dazu unfähig. Frauen dieses zweiten Typs ergreifen, weil sie aus sozialen Gründen dem Rauch nicht entkommen können, die Flucht, indem sie sich umbringen. "!5 M. E. scheint diese Erklärung doch etwas sehr spektakulär zu sein. Ursachen für einen Suicid dürften eher auf einer völlig anderen Ebene anzusiedeln sein als der von Hirayama zitierten. Neben diesen drei Kohortenstudien sind mittlerweile 22 Fallkontrollstudien erschienen, von denen vier eine signifikante Risikoerhöhung im Ergebnis beinhalten. In diesen retI,espektiven Fallkontrollstudien werden Erkrankungsfälle und vergleichbare Kontrollpersonen erhoben und beide Gruppen werden hinsichtlich früherer Expositionen gegenüber dem verdächtigen Risikofaktor untersucht. 16 Ein hier inhärentes Problem verbirgt sich in der Subjektivität der Erhebungsmethode. Untersuchte Personen müssen über Vorgänge bzw. Verhaltensweisen Auskunft geben, die bis zu dreißig Jahren zurückliegen. Häufig müssen Verwandte oder Bekannte befragt werden. Alle erfragten Angaben bergen zwangsläufig besondere Fehlerquellen in bezug auf die gen aue Erfassung der untersuchten Exposition, von Bias und Confoundings, die sich vor allem auf Belastungen am Arbeitsplatz oder in der Umwelt allgemein ergeben: "In den allermeisten Fällen werde diese beiden wichtigsten Confounding-Faktoren nicht verläßlich zu kontrollieren sein, so daß sie vielfach zu den Faktoren werden, die stärker über die Frage Risiko oder kein Risiko entscheiden als der Faktor Passivrauchen."!?

!4 F. Adlkofer, Probleme mit dem Passivrauchen, in: Der Kassenarzt 27 (1987),

29 - 39.

!5 T. Hirayama, Was spricht für, was gegen die Schädlichkeit des Passivrauchens?, in: MMW 123 (1981), 1480 - 1483 (1482). !6 C. Vutuc, Die ~issenschaft darf nicht zum Helfershelfer in einem ideologischen Streit werden, in: DOG Sonderheft 2, 53 (1991), 151 - 153 (152). 17 Ebd. 3 Zapka

34

3. Medizinische Ausgangslage zum Passivrauchen

Besondere Bedeutung hat dabei insbesondere die Trichopoulos-Studie gefunden. 18 Er hat vierzig Lungenkrebspatientinnen mit 149 Kontrollen verglichen. Als Ergebnis wurden statistisch signifikant unterschiedliche Lungenkrebsmortalitäten gefunden. Für diese wie auch für die übrigen Fallkontrollstudien gilt weitgehend die Methodenkritik, die oben bereits an der Studie von Hirayama skizziert worden ist. Zwei neuere japanische Untersuchungen konnten hingegen die Ergebnisse von Hirayama nicht bestätigen.19 Auch Fallkontrollstudien von Koo und Liu20 finden keinen Zusammenhang zwischen Passivrauchen und Lungenkrebs bei chinesischen Frauen. Gleiches gilt für eine exakt durchgeführte Untersuchung in den USA, bei der u. a. genaue Abgaben über die häusliche Passivrauchexposition und am Arbeitsplatz erhoben wurde. Ein Zusammenhang zwischen Passivrauchen und Lungenkrebs konnte nicht hergestellt werden. 21 Wald et a1.22 faßten im Jahre 1986 die Ergebnisse der bis dahin veröffentlichten Einzelstudien (Kohorten- und Fallkontrollstudien) zu einer sogenannten Meta-Analyse zusammen. Sie errechneten insgesamt ein Risiko von 1.35. Die Problematik dieser zunächst augenscheinlich überzeugenden Vorgehensweise (die Fallzahlen werden größer und damit mögliche Aussagen präziser) liegt darin, daß Wald et al. alle Studien gleich bewertet haben und zwar unabhängig von ihrer methodischen Qualität. Meta-Analysen sind aber nur dann sinnvoll, wenn die in die Auswertung einfließenden Studien bestimmte Qualitäten aufweisen. Prinzipiell dürfte man sie nur bei nach übereinstimmenden Parametern kontrollierten Studien anwenden, die aber hier nicht gegeben sind. Dennoch wurde diese Studie vom US-Surgeon General sowie von der National Academy of Sciences als eindeutiger Beweis für die Gesundheitsschädlichkeit des Passivrauchens akzeptiert. Darüber hinaus wurde von diesen Institutionen die aktuelle Datenlage ignoriert, die sich seit dem Jahre 1986 entscheidend verändert hat. Nimmt man eine Gewichtung der Studien nach bestimmten Kriterien vor, also z. B. die histologische Abklärung, das Vorgehen bei der Expositions18 D. Trichopoulos, Lung cancer and passive smoking, in: Int. J. Cancer 27 (1981), 1 - 4. 19 T. Sobue et al., Association of indoor air pollution and passive smoking with lung cancer in Osaka/Japan, in: Jpn. J. Cancer Clin. 36 (1990),329 - 333; H. Shimizu etal., A case-control study of lung cancer in nonsmoking women, in: Tohoku J. Exp. Med. 154 (1988), 389 - 397. 20 L. C. Koo, etal., Measurements of passive smoking and estimates of lung cancer risks among nonsmoking Chinese females, in: Int. J. Cancer 39 (1987), 162 - 169; Z. Liu etal., Smoking and other risk factors for lung cancer in Xuanwei/China, in: Int. J. of Epidemiology 20 (1991), 26 - 31. 21 L. Varela, Assessment of the association between passive smoking and lung cancer, Yale University 1987. 22 N. J. Wald etal., Does breathing other people's tobacco smoke cause lung cancer?, in: Br. Med. J. 293 (1986),1217 - 1222.

3.1. Epidemiologie des Passivrauchens

35

abschätzung und die Gesamtqualität der Methodik, gelangt man zu anderen Ergebnissen. Danach liegt das relative Risiko unter Berücksichtigung der Trichopoulos-Studie bei 1.12 und bei Verzicht bei 1.08. Mit anderen Worten: Es liegt keine signifikante Risikoerhöhung VOr. 23 Dieses Ergebnis dokumentiert auch Überla24 in einer graphischen Analyse. Ebenso gelangen Fleiss und Gross 25 bei einer Analyse der in den USA durchgeführten Kohorten- und Fallkontrollstudien zum gleichen Ergebnis. Insgesamt ist festzuhalten, daß von den beiden umfangreichen prospektiven Studien (Garfinkel und Hirayama) eine davon keine Assoziation zwischen Passivrauchen und Lungenkrebs dokumentiert, die andere dagegen (Hirayama) zwar von einer solchen berichtet, jedoch aus methodischen Gründen grundsätzlich zu überprüfen wäre. Wissenschaftlich weniger aussagekräftige Fallkontrollstudien, die methodisch exakter angelegt sind, insbesondere die nach dem Jahr 1986 unter Berücksichtigung der bis dahin geübten Methodenkritik erhobenen, berichten von keinem Zusammenhang. Schließlich ist zu konstatieren, daß methodisch einwandfreie Studien überhaupt nicht vorliegen. Eine Arbeitsgruppe der Internationalen Krebsforschungsagentur der WHO, der auch der anerkannte Epidemiologe Richard Doll angehört, hat diesen Sachverhalt wie folgt zusammengefaßt: "Aus den bisherigen Untersuchungen an Nichtrauchern kann geschlossen werden, daß Passivrauchen sowohl mit einem erhöhten Risiko einhergeht als auch, daß überhaupt kein Risiko besteht. "26

Zwar ist diese widersprüchlich kommentierte Sachlage für eine Klärung der Gesundheitsschädlichkeit des Passivrauchens nicht gerade förderlich, aber anderslautende Stellungnahmen lassen sich angesichts der aktuellen epidemiologischen Faktenlage nicht begründen. Diese Aussagequalität gilt auch für den Zusammenhang zwischen Passivrauchen und Koronarrisiko: die bisher verfügbaren epidemiologischen und pathophysiologischen Daten sprechen eher gegen einen solchen Zusammenhang.27 Wenn die Aufgabe der Epidemiologie 23 H. Letzeil E. Blümmer I K. Überla, Meta-Analyses on passive smoking and lung cancer, in: H. Kasuga (ed.), Indoor air quality, Berlin/Heidelberg 1990, S. 316 - 322. 24 K. Überla, Epidemiologie des Passivrauchens, in: Zeitschrift für Hautkrankheiten Supplement 2, 66 (1991), 28. 25 J. L. Fleiss I A. Gross, Meta-analysis in epidemiology, with special reference to studies of the association between exposure to environmental tobacco smoke and lung cancer: a critique, in: J. Clin. Epidemiol. Vol. 44 No. 2 (1991),127 - 139. 26 World Health Organization, International Agency for Research on Cancer: Monographs on the Evaluation of the Carcinogenic Risk of Chemicals to Humans, Vol. 38 (1986): Tobacco smoke, IARC/Lyon, S. 314. 27 J. Thiery, Innenraumluftqualität: Passivrauchen und Koronarrisiko; in: Weltgesundheit 2 (1991), 9 - 12; L. M. Wexler, Environmental tobacco smoke and cardiovascular disease: a critique of the epidemiological literature and recommendations for future research, in: D. J. Ecobichon I J. M. Wu, Environmental tobacco smoke: Proceedings of the International Symposium at McGill University 1989, Lexingtonl

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3.2. Toxikologie des Passivrauchens

37

darin besteht festzustellen, ob ein Risiko vorhanden und wie groß es ist, dann kann sie für den Zusammenhang zwischen Passivrauchen und Lungenkrebs keine eindeutige Antwort geben. 3.2. Toxikologie des Passivrauchens Aufgrund der bestehenden Unsicherheit der epidemiologischen Datenlage ist der Versuch unternommen worden, das Gesundheitsrisiko des Passivrauchens vom Risiko des Aktivrauchens abzuleiten. Die Begründung für diese Vorgehensweise sollte die Analytik liefern. Sie zeigt, daß Tabakrauch in der Raumluft (ETS -Environmental Tobacco Smoke) toxische, darunter mutagene und cancerogene Substanzen enthält. Mit Ausnahme von Nikotin und tabakrauchspezifischen Nitrosaminen handelt es sich dabei um Substanzen, die überall in der Umwelt anzutreffen sind. 28 ETS ist ein Gemisch, das zu 15 - 20 Prozent aus vom Raucher exhaltierten Hauptstromrauch besteht, der in den Zugpausen am brennenden Ende der Zigarette entsteht. 29 Die aktuell von der Toxikologie zu klärenden Fragen umfassen den folgenden Sachverhalt: Wie groß ist die Menge, die der Nichtraucher von den einzelnen als toxisch geltenden Stoffen aufnimmt? Welche biologische Bedeutung hat ETS beim Nichtraucher? Ist ETS in der Lage, beim Passivraucher einen Krankheitsprozeß zu initiieren? Nach der toxikologischen Erkenntnis ist es weitgehend unwahrscheinlich, daß eine Schädigung des Passivrauchers gerade im Hinblick auf den am heftigsten diskutierten Zusammenhang, nämlich die Frage des Lungenkrebses, erfolgt. Dazu werden in der aktuellen Diskussion folgende Gründe aufgelistet: 1. Der Passivraucher inhaliert je nach Raumgröße, Durchlüftung und Entfernung zum Raucher im Vergleich zu diesem die fraglichen Substanzen in nur sehr starker Verdünnung. 3o

2. ETS verliert durch Alterung sehr schnell an Wirkung. 31 So hat sich nach etwa 30 Sekunden praktisch seine gesamte cytotoxische Wirkung32 aufgelöst. Toronto 1990, S.139 - 152; P. Cremer, Für Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Passivrauchen gibt es keine Beweise, in: DÖG Sonderheft 2, 53 (1991), 167 - 169; siehe auch die Zusammenfassung bei J. Leßmann, Rauchverbote am Arbeitsplatz, Stuttgart 1991, S. 173f. 28 Siehe dazu die Tabelle bei D. Henschler, Passivrauchen am Arbeitsplatz, Weinheim 1985, S. 11. 29 F. Adlkofer, Toxikologie des Passivrauchens, in: Zeitschrift für Hautkrankheiten Supplement 2,66 (1991), 20 - 25 (21). 30 D. Schmähl, Lungenkrebs durch Passivrauchen? Nein, alles nur Spekulation, in: Ärztliche Praxis Nr. 92 (1988),2867 - 2868. 31 R. R. Rawbone et al., The aging of sidestream tobacco smoke components in ambient environments, in: H. Kusuga (ed.), Indoor air quality, Berlin/Heidelberg 1990, S. 55 - 61.

38

3. Medizinische Ausgangslage zum Passivrauchen

3. Es gibt eine Vielzahl von chemischen und physikalischen Unterschieden zwischen Hauptstromrauch und ETS. Schon dieser Sachverhalt läßt einen Analogieschluß von den Gefahren des Aktiv- zu denen des Passivrauchens nicht zu. Dazu erklären Doll und Peto: "Leider ist es unmöglich, das durch diese chemischen Substanzen in der Umgebungs- , Juft möglicherweise entstehende Risiko abzuschätzen und zwar zum Teil deshalb, weil wir nicht wissen, welcher dieser Substanzen im Tabakrauch die krebserzeugende Wirkung bei aktiven Rauchern zuzuschreiben ist. Zum Teil auch, weil die verschiedenen Substanzen, je nachdem, ob sie aktiv oder passiv inhaliert werden, von unterschiedlicher physikalischer Beschaffenheit sind und sich unterschiedlich in den Atemwegen verteilen. "33

Es gibt dennoch Untersuchungen, die eine Belastung der Nichtraucher durch Rauchinhaltsstoffe in Relation zur Belastung des Aktivrauchers vornehmen. Im Ergebnis "rechnet sich für den Passivraucher eine Schadstoffbelastung, die dem aktiven Rauchen von 0,1 bis 1 Zigarette pro Tag entspricht. "34 Aus den großen epidemiologischen Studien ist allgemein bekannt, daß bei einem aktiven Rauchen von bis zu fünf Zigaretten am Tag für den Raucher keine signifikante Erhöhung zu verzeichnen ist. 4. Tabakrauch besteht aus einer Partikel- und einer Gasphase. Die aus der Toxikologie bekannten mutagenen oder cancerogenen Substanzen wie Nitrosamine oder polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAH) mit dem bekannten Benzo(a)pyren sind an die Partikelphase gebunden. Von der Partikelphase werden vom Raucher etwa drei lOer Potenzen mehr als vom Nichtraucher aufgenommen. 35 5. Beim Passivrauchen werden zudem durch das unterschiedliche Atemmuster (Nasenatmung), das auch die Eindringtiefe von Gas- und Partikelphase bestimmt, nur zwischen 10 - 20 Prozent der Partikelphase in den Atemwegen zurückgehalten. Beim Raucher liegt der Anteil etwa zwischen 45 - 90 Prozent. 36 Angesichts eines in der Regel funktionierenden Reinigungsapparates der Atemwege beim Nichtraucher können diese geringen Mengen ohne Proble~e wieder absorbiert werden. 6. Scherer konnte zeigen, daß bei Rauchern nach Ausfilterung der Partikelphase keine signifikante Erhöhung im Urin zu finden ist. Wurde hingegen normaler Hauptstromrauch inhaliert, konnte eine signifikante Erhöhung - und 32 G. Sonnenfeld I D. M. Wilson, The effect of smok~ age and dilution on the cytotoxicity of sidestream (passive) smoke, in: Toxicol. Leu. 35 (1987), 89 - 94. 33 J. Peto I R. Doll, Passive smoking, in: Br. J. Cancer 54 (1986), 381 - 383. 34 C. Vutuc, DÖG 1991, 151. . 35 A. Arundel, Never smoker lung cancer risks from exposure to particulate tobacco smoke, in: Environment int. 12 (1978), 1 - 18. 36 R. Hiller, Deposition of sidestream cigareue smoke in the human respiratory tract. 11. Deposition of ultrafine smoke partic1es, in: Toxicol. LeU. 35 (1987), 95 - 99.

30

- 19 Formaldehyd

1'8

0,02-0,08

2800 Nickel 475 Benzo(a)pyren

ng ng ng

1,1-3,8 0,1-9,1 0,1-2,5 0,1-9,1 5,6-15,8

177 N-Diethylnitrosamin

163 N-Ethyl-N-methylnitrosamin

n.a. = nicht angegeben.

ng ng

ng ng ng

0,1-27 1,8-13,8 1,7-97

N-Dimethylnitrosamin

151

ng ng ng ng

30 2,6-51,7

ng

3,1-30,3 1,5-29

Benz(a)anthrazen

32

214 N-Nitrosopyrrolidin

435

113 Hydrazin

12

ng ng

1'8

0,10-0,12

765 Cadmium 38

1'8

0,364

184 Anilin

N-Ni~nornikotin

1'8

1'8 1'8

1'8

"g

0.8.

5-27 9-75

8,2-73 9-75

143-US 213-558 680-1040

296-700 2,8-150

81 204-612

n.8.

2S

0,62-1,03 131

0,43-0,72

10,8

0,15-6,1

1526

92S

ng og

ng ng

ng ng ng

ng ng

ng ng

ng ng

1'8

1'8

1'8

1'8

1'8

1'8

mg mg

Nebenstrom

im

43,1-58,0 52,0

pro Zigarette

mg mg

0,24-3,70

(~90)

70 (25-140)

31,4

31,~33,3

im Hauptstrom

52 Acrolein

Trockenkondensat

- - 14 Vinylchlorid

oe

Siedepuukt

Tabelle 1:

4,5-11,5 o.a.

2,2-78,8

11,5-437,5 n.a.

n.a. 2,6-52,7

2,7

3

12,9-31,0 3,5 2,1

3,6-7,2

29,7

0,48-7,1

- 51

-12

1,29-1,87 1,66

Verhiltnis Nebenstrom Hauptstrom

(23)

[21] (22)

(22) [22]

(21) [20) (22)

[20) (21)

[16-18) (22)

(19)

(15) [10) [16-18)

(15)

(14)

(13)

[6,12)

[6,11)

(4) [10)

Lit.

111 A 1)

III A 2)

111 A 2)

111 A 1) Vd

111 B, 111 A 2)

IIIB

IIIB

MAK-WerteListe [1) Abschnitt

Angegebene Mengen der wichtigsten bisher nachgewiesenen oder stark verdächtigen Kanzerogene im Haupt- und Nebenstromrauch einer Zigarette (nach [2])

...,

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3.4. Die gesundheitspolitische Diskussion um das Passivrauchen

45

nen keine klinische Relevanz haben dürfte. In einer Untersuchung an 700 Familien fand Lebowitz keine eindeutige Beziehung zwischen der Passivrauchexposition und akuten Atemwegssymtomen oder Lungenfunktionsparametern. 62 Selbst Magnussen konnte bei Versuchen an Kindern und Erwachsenen mit diagnostiziertem Asthma sowie nachgewiesener Überempfindlichkeit trotz eines einstündigen Aufenthalts in einer Versuchkammer mit 20 ppm CO und 2950 Mikrogramm Rauchpartikeln pro Kubikmeter Luft, was vergleichsweise einer Tabakrauchbelastung einer unbelüfteten Kneipe entspricht, keine objektivierbare Verschlechterung der Lungenfunktion oder Atemwegsempfindlichkeit nachweisen. 63

Im Ergebnis kann davon ausgegangen werden, daß die normalerweise am Arbeitsplatz erreichten Konzentrationen von Tabakrauch in der Atemluft für den normal empfindenen Erwachsenen keine erhebliche Belästigung im Sinne des geltenden Rechts darstellen dürfte. Übliche Belüftungsmaßnahmen sorgen in der Regel für ausreichend gesundheitlich zuträgliche Atemluft am Arbeitsplatz. 3.4. Die gesundheitspolitische Diskussion um das Passivrauchen

Von diversen juristischen, medizinischen, behördlichen und politischen Institutionen bzw. Personen ist das gesundheitspolitische Problem des Passivrauchens diskutiert worden. In der Bundesrepublik Deutschland haben vor allem Ferdinand Schmidt und andere Vertreter, wie z. B. F. Portheine, des von ihm gegründeten "Ärztlichen Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit" diese Diskussion aufgenommen und erheblich in der Öffentlichkeit forciert. Deshalb ist es keinesfalls zufällig, daß die beiden Vertreter dieses "Arbeitskreises" sehr häufig als Sachverständige in Gerichtsurteilen zitiert worden sind. Da beide Wissenschaftler aufgrund ihrer zahlreichen Publikationen auch auf die Rechtsprechung einen durchaus meßbaren Einfluß ausüben, soll deren gesundheitspolitische Außenseiterposition ein wenig ausführlicher skizziert werden.

62 M. D. Lebowitz / J. J. Quackenboss, The effects of environmental tobacco smoke on pulmonary function, in: H. Kasuga (ed.), Indoor air quality, Berlin/Heidelberg 1990, S. 147 - 152. 63 H. Magnussen et al., Acute effects of passive smoking on lung function und airway responsiveness in asthmatic children, in: Pediatric Pulmonology 10 (1991), 123 - 131; ders., Weder bei Kindern noch Erwachsenen beeinträchtigt Passivrauchen akut Lungenfunktion und bronchiale Empfindlichkeit, in: DÖG Sonderheft 2, 53 (1991), 162 164; vgl. auch K. Zapka, Passivrauchen - Diskussion ohne Praxisrelevanz, in: der niedergelassene Arzt 10/1990, S. 11.

46

3. Medizinische Ausgangslage zum Passivrauchen 3.4.1. Die Position zum Passivraucben von F. Scbmidt und F. Portbeine

Ferdinand Schmidt hat sich der wissenschaftlichen Fachöffentlichkeit seit Beginn seines Engagements gegen das Rauchen mit einer enormen Anzahl von Stellungnahmen, Offenen Briefen, Literaturübersichten etc. zum gesundheitspolitischen Problem des Passivrauchens in Szene gesetzt. Originäre wissenschaftliche Studien, wie experimentelle oder epidemiologische Untersuchungen, gibt es aus dieser Zeit kaum. Die bekannten eigenständigen Arbeiten 64 sind nach Meinung verschiedener Kritiker65 Ergebnisse von Computeranalysen mit so gravierenden Mängeln in Planung und Ausführung, daß sie wissenschaftlichen Ansprüchen nicht gerecht werden. So hat Wald 66 die Passivrauchstudie von Knoth et al. aufgrund methodischer Unzulänglichkeit in seiner Meta-Analyse nicht berücksichtigt. Ebenso stieß eine Studie zum Leichtrauchen (H. Krüger) beim Deutschen KrebsforschungszentrumlHeidelberg auf massive Kritik. 67 Von besonderer Denkwürdigkeit ist das eigenwillige Wissenschaftsverständnis von Schmidt. Nach ihm handelt es sich bei der Medizin um einen Sonderbereich, "in dem die absolute Wahrheit wenn schon keine Fiktion, so doch keinesfalls ein Absolutum darstellt, zumal die Zuordnung der Medizin zu den exakten Wissenschaften ohnehin problematisch ist. "68

Das allgemein anerkannte Wissenschaftsverständnis, nur das als wahr auszuweisen, was auch strengen wissenschaftlichen Methoden gerecht wird und objektivierbar ist, lehnt er für sich ab. 69 Seine Veröffentlichungen ignorieren aufgrund des politischen Impetus folgerichtig wissenschaftliche Ergebnisse widersprüchlicher Provenienz. Sein leichtfertiges Wissenschaftsverständnis und sein engagierter Kampf gegen das Rauchen brachte ihm von verschiedenen Seiten nicht nur Unverständnis, sondern auch für einen Wissenschaftler prinzipiell untragbare und wissenschaftlich disqualifizierende Vorwürfe ein. 7o 64 A. Knoth 1 H. Bohn 1 F. Schmidt, Passivrauchen als Lungenkrebsursache bei Nichtraucherinnen, in: Med. Klin. 78 (1983), 66 - 69; dies., Filterzigaretten als Lungenkrebsursache, in: Med. Klin. 78 (1983),25 - 28; H. Krüger 1 F. Schmidt, Leichtrauchen ist kein Ausweg, in: medwelt 40 (1989), 1091 - 1094. 65 W. D. Heller, Lung cancer and passive smoking, in: Lancet Vol. 2/1983, S. 1309; M. Rutsch 1 W. D. Heller, "Bedeutsame Ergebnisse" vom Zigarettenrauchen, in: Med. Klin. Prax. 78 (1983), S. 8. 66 N. J. Wald etal., Br. Med. J. 293 (1986),1217 - 1222. 67 Massive Kritik an der Studie über Leichtrauchen, in: Ärzte Zeitung v,om 3. 10. 1989, S.17; ebenso F, Adlkofer, Fragwürdige Leistung, in: Der Kassenarzt Nr,14 (1990), S. 14. 68 F. Schmidt, Tabakrauch als wichtigste Luftverschmutzung in Innenräumen und als pathogene Noxe für Passivraucher, in: medwelt 25 (1974), 1824 - 1832. 69 Ebd., 1824.

3.4. Die gesundheitspolitische Diskussion um das Passivrauchen

47

Diese detaillierteren Ausführungen verdeutlichen, daß F. Schmidt respektive sein "Ärztlicher Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit" das Problem des (Passiv-)Rauchens eher politisch gewichtet, statt es sachlich und mit wissenschaftlicher Präzision aufzuarbeiten. Seine medizinischen Bewertungen zur Gesundheitsschädlichkeit des Passivrauchens am Arbeitsplatz sind deshalb mit entsprechendem Vorbehalt zu würdigen. 3.4.2. Die MAK-Kommission

Die MAK-Kommission hat sich seit dem Jahre 1980 mit der Problematik des Passivrauchens auseinandergesetzt. Im Jahre 1985 hat ihr Vorsitzender D. Henschler einen umfassenden Bericht mit einer Bewertung der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden epidemiologischen und toxikologischen Daten vorgelegt. Aus epidemiologischer Sicht gelangt Henschler zu der Auffassung, daß "jede der besprochenen Publikationen ... Mängel"71 aufweise. Und weiter: "Eine zweifelsfreie Aussage ist indessen auch bei der Gesamtbetrachtung aller bisher vorliegenden Studien nicht möglich. "72

Für die Aufnahme in die MAK-Liste hat die Kommission diesen Tatbestand wie folgt formuliert: "Epidemiologische Studien lassen z. T. eine statistisch sigifikante Assoziation bei nichtrauchenden Ehefrauen rauchender Ehemänner erkennen. Dies ergibt eine ernstzunehmende Hypothese. Der Kausalzusammenhang wird jedoch zur Zeit kontrovers diskutiert. "73

Die Annahme der MAK, daß die epidemiologischen Studien trotz aller methodischer Vorbehalte eher in der Lage seien, eventuell vorhandene Assoziationen undeutlicher in Erscheinung treten zu lassen, als nicht vorhandene vorzutäuschen, läßt sich aus der Analyse der vorliegenden Untersuchungen nicht herleiten. Nur aufgrund der analytischen Befunde und des Analogieschlusses von den Risiken des Aktivrauchens kommt die MAK-Kommission zu der eher vagen Schlußfolgerung, daß "mit einer gewissen Krebsgefährdung ... an gewissen Arbeitsplätzen zu rechnen"74 sei. Sie empfiehlt "bei diesem Sachstand zu 70 Dazu "Blinder Anti-Raucher-Eifer schadet nur!", in: Medical Tribune Nr. 18 vom 4.5. 1973, S.50; H. Schievelbein, Meinungsstreit Passivrauchen, in: Med. Klin. 80 (1985),748; P. Udelhoven, Rauchzeichen, in: Der Kassenarzt vom 3. 4. 1991, S. 13; D. Henschler, Passivrauchen, S.30; W. Klosterkötter , Abschließende Stellungnahme zu den "kritischen Bemerkungen" von Ferdinand Schmidt, in: Arbeitsmedizin-Sozialmedizin-Präventivmedizin 4 (1976), 119 - 120. Weitere detailliertere Hinweise siehe K. Zapka, Passivrauchen - Wissenschaft in Beweisnot, in: DÖD 1991, 269 - 279. 71 D. Henschler, Passivrauchen, S. 26. 72 Ebd., S. 31. 73 Ebd., S. 32. 74 Ebd.

48

3. Medizinische Ausgangslage zum Passivrauchen

geeigneten Präventivmaßnahmen an stark durch Tabakrauch kontaminierten Arbeitsplätzen." Wie vorsichtig und zurückhaltend sich die Kommission bei ihrem Votum gefühlt hat ist daran zu erkennen, daß sie das Passivrauchen weder als Arbeitsstoff deklariert noch eine Klassifizierung in eine der drei Kategorien krebserregender Arbeitsstoffe vorgenommen hat. Insgesamt scheint diese Position eher Ausfluß ihres Präventivdenkens als eine arbeitsmedizinisch gesicherte Überzeugung zu sein. 3.4.3. Zusammenfassung

Nach dem aktuellen Stand der medizinischen Diskussion um die Gesundheitsgefahren des Passivrauchens ist davon auszugehen, daß es unter normalen Raumluftbedingungen im Prinzip keine Gesundheitsgefährdungen verursachen dürfte.75 Für die rechtliche Bewertung ist bedeutsam, daß dieses Ergebnis über die gesundheitlichen Folgen der Einwirkung von Tabakrauch ein medizinischer Erfahrungssatz zu sein hat. Rechtliche Bewertungen sind solche Aussagen, die die Disziplin sachfremder Wissenschaften betreffen, stets dann zugrundezulegen, wenn sie im entsprechenden Fachkreise anerkannt sind. Eine drohende Gefahr einer gesundheitlichen Schädigung läßt die vorhandene medizinische Datenlage nicht zu. Eine bloße, abstrakte Wahrscheinlichkeit einer Gesundheitsschädigung läßt keinen hinreichenden Tatbestand definieren.7 6 3.5. Richterlicher Beweis naturwissenschaftlicher Gutachten Nicht selten steht der Richter vor Aufgaben, die er selber aufgrund völlig unzureichender Sachkenntnis nicht lösen kann. Er ist deshalb, zumal eine Entscheidung im Rechtsstreit gefällt werden muß, von der Sachkenntnis fachfremder Institutionen abhängig. Besonders die naturwissenschaftliche Bewertung der gesundheitlichen Auswirkungen des Passivrauchens steht dafür als Paradigma. In den Medien wird regelmäßig über spezielle Gesundheitsfragen berichtet. In den Vordergrund treten dabei aktuelle Forschungsergebnisse, die den Zusammenhang von Toxen und deren Gesundheitsauswirkungen darzustellen versuchen. Die Regel ist, daß der Journalist die Aufbereitung oftmals nur schwer zu verstehender naturwissenschaftlicher Beziehungen einem überwiegend sachunkundigen Leser zu leisten hat. Journalisten sind in solchen The75 Zu diesem Ergebnis gelangt prinzipiell nach einer umfangreichen Auswertung medizinischer Studien jüngst auch J. Leßmann, Rauchverbote am Arbeitsplatz, Stuttgart 1991, S. 147 - 186. 76 Staudinger I Gursky, § 1004 BGB Rz.153.

3.5. Richterlicher Beweis naturwissenschaftlicher Gutachten

49

men im allgemeinen fachfremd und können daher im Prinzip nur über die Ergebnisse selber berichten; sie verfahren also ergebnisorientiert. Da es sich bei naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen um recht kompakte Zusammenhänge handelt, ist eine Reduktion dieser Komplexität immer zu erwarten. Methodische Vorgehensweisen, die meist gar nicht erwähnt werden, bleiben auch dem Journalisten verborgen. Aber gerade sie stellen die wesentliche Substanz wissenschaftlicher Forschungen dar. Ohne diese Kenntnisse ist der Sinngehalt von Forschungen nicht nachprüfbar. Verzerrte, nur halb richtige Darstellungen bleiben dabei nicht aus und bilden die Grundlage für ein laienhaftes, vorurteilhaftes Halbwissen. 77 Bestimmte Ergebnisse, vor allem die aktueller und spektakulärer Natur, besetzen die Karriereleiter in den Medien. Indem sie dort publikumswirksam präsentiert werden, verwertet der Konsument diese reduzierten Erkenntnisse als wahre, wissenschaftlich erwiesene und daher mit absolutem Gültigkeitsanspruch geltende Informationen. Zu unterstellen ist, daß auch Richter dieser Wissensquelle ausgesetzt sind. Nachhaltig beeindruckt von der Richtigkeit solcher Berichterstattung wird ein Konsument schon deshalb sein, weil stets der wissenschaftliche Nachweis zitiert wird. Es besteht ohnehin eine große Wissenschaftsgläubigkeit. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann man davon ausgehen, daß auch Richter mit dieser Art von Vorverständnis belastet sind. Dieses Vorverständnis wiederum könnte Gegenstand der richterlichen Entscheidung sein. Damit stellt sich die Frage nach den rechtsstaatlichen Grenzen der richterlichen Gewalt sowie den erforderlichen Grundlagen der richterlichen Rechtsfindung. Zu Recht betont J. H. Kaiser78 , daß primär dieser so gewonnene (Ein-) Druck sozialer sowie Reformtendenzen der Fragestellung ein neues Profil verleihen. Dieses manifestiert sich in aller Deutlichkeit anhand der aktuellen Kontroversen, die sich durch den Konflikt über die gesundheitlichen Folgen des (Passiv-) Rauchens ergeben. Der bislang erklagte Schutz der Passivraucher scheint offensichtlich ein zeitbedingter Wertewandel bei Teilen der Bevölkerung zu sein. Dieser gesundheitliche Wertewandel setzte mit der sogenannten Erdölkrise Mitte der siebziger Jahre ein, als diese knappe Ressource Umwelt sich sprunghaft verteuerte. Ebenfalls verdeutlichte sich das Ausmaß an Umweltschäden durch den hemmungslosen Gebrauch fossiler Brennstoffe in Haushalten und Automobilen. Opfer dieser fossilen Energiepolitik sind nach - geteilter - Auffassung etlicher Wissenschaftler die Ozonschicht und die folgenreiche Erwärmung der Erde (Treibhauseffekt). Beides gefährdet nicht 77 Als exemplarisches Beispiel dafür siehe die überzeugende Abhandlung von EvaChristiane Rumpf, Die Kontroverse um mammographische Reihenuntersuchungen als Beispiel für die Verarbeitung medizinisch-wissenschaftlicher Informationen auf verschiedenen Ebenen der Öffentlichkeit, Diss. Gießen 1982. 78 J. H. Kaiser, Sozialauffassung, Lebenserfahrung und Sachverstand in der Rechtsfindung, in: NJW 1975, 2237 - 2238.

4 Zapka

50

3. Medizinische Ausgangslage zum Passivrauchen

nur die Umwelt, sondern auch die menschliche Gesundheit. Im Zuge dieser - wenn auch umstrittenen - Erkenntnis resultierte eine bis dato dichter werdende Umwelt- und Gesundheitspolitik. Auch das Passivrauchen gehört zu diesen Elementen des Gesundheitsschutzes. Es entwickelte sich eine bis dahin unbekannte "Neue Sensibilität" gegenüber diesem Thema, das in den Medien eine nachhaltige Resonanz bewirkte. Für die richterliche Bewertung hat dieser Sachverhalt selbstverständlich auch Auswirkungen, deren Folgen bislang nicht untersucht worden sind. Als allgemeine bekannte Tatsache gilt: Bei jeder richterlichen. Rechtsanwendung wird häufig "schon bei der Abfassung oder Qualifikation des~ach­ verhalts"79 ein wertendes Vorverständnis wirksam. Dieser Aspekt ;,mit der Auswahl nach der Vernünftigkeit einer Lösung" eilt der Auswahl del dogmatischen Möglichkeit voraus. "80 Bereits mit der Sprache als einem "Stück Vorverständnis" werden die ihr jeweilig spezifischen Modalitäten der Anschauung determiniert.81 Dieses vielfach vorurteilshafte Vorverständnis kann vom Richter aber nicht ungeprüft übernommen werden. Selbst diese "Sozialanschauung" unterliegt dem "Richtigkeitsnachweis"82, den der Richter in seiner Urteilsbegründung zu leisten hat. Sätze allgemeiner und künstlich gewonnener Lebenserfahrung nehmen in der richterlichen Rechtsfindung einen großen Raum ein. In einer gefestigten Rechtsprechung dienen sie primär zur Ermittlung von Kausalzusammenhängen: Ein Ereignis muß "im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen ... geeignet" sein, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen .83 Allgemein heißen Erfahrungssätze erst dann, wenn "weite Kreise" aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung und Bildung84 daran teilhaben können. Auch kann sie der Richter seiner eigenen Sachkunde entnehmen. Jedoch müssen sie "eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit zum Inhalt haben" und damit an Stärke den Naturgesetzen etwa gleichstehen.Bs Gegen die Ergebnisse einer dem Sachverhalt methodisch angemessenen Sachverständigenforschung können sie aber keinen Bestand beanspruchen. In der Frage irgendwelcher gesundheitlicher Auswirkungen des Passivrauchens verfügen lediglich und ausschließlich die Naturwissenschaften über den Gegenstand adäquate Erkenntnismethoden. Dagegen kann die öffentliche 79 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt a. M. 1970, S. 8. 80 Ebd., S. 9. 81 Ebd., S. 10. 82 Ebd., S. 8 und S.139ff.; vgl. J. H. Kaiser, NJW 1975, 2237. 83 BGHZ 7,198 - 208 (204). 84 Löwe-Rosenberg, StPO IV, 24. Auf!. München 1988, § 337. 85 Tb. Kleinknecht / K. Meyer, StPO, 38. Auf!. München 1987, § 337 Rz. 31.

3.5. Richterlicher Beweis naturwissenschaftlicher Gutachten

51

Meinung einschließlich das, was der Richter subjektiv dafür hält, keinesfalls als sachverständig gelten. Lebenserfahrene Inhalte dürfen nur dann grundlegendes Element richterlicher Erkenntnis sein, wenn ihnen ein "Evidenzcharakter"86 eigen ist. Gesetz den Fall, daß ein Beweis aufgrund der den Sachverhalt adäquaten, hier der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden, nicht zu erbringen ist, dann fehlt auch der richterlichen Auffassung der erforderliche Evidenzcharakter . In der richterlichen Entscheidung kann sie deshalb keinen Raum finden, denn "Erfahrungssätze haben nicht den Charakter von Rechtsnormen, sondern sind ein Mittel zur richtigen Anwendung der Rechtsnormen. "87 Alles andere füllt den Raum für den richterlichen Subjektivismus und Dezisionismus und bietet damit die Möglichkeit, allein seinen subjektiven Vorstellungen zu folgen.8 8 Die Aussage über gesundheitliche Folgen des Passivrauchens ist ein naturwissenschaftlicher Erfahrungssatz. Ihre Nachprüfung kann ausschließlich nach medizinischen Kriterien erfolgen89 und kann sich nicht etwa .darauf stützen, daß die Bundesregierung die Gesundheitsgefahren des Passivrauchens amtlich bestätigt habe. 90 Wie in nahezu allen komplizierten naturwissenschaftlichen Forschungen, bestehen in der Ursachendiktion kausaler Zusammenhänge auch bei den gesundheitlichen Folgen kontroverse Aussagen. Der richterliche Entscheidungszwang erfordert aber eine Stellungnahme. Zu Recht betont der BGH diese sich daraus ergebene Problematik für den Richter: "Es ist nun nicht zu verkennen, daß es für den Richter schwierig und bis zu einem gewissen Grade unmöglich ist, sich unmittelbar auf Grund eigener Sachkunde anhand der ihm vorgelegten Gutachten davon zu überzeugen, daß ... alle gebotene Sorgfalt beobachtet ist und alle wissenschaftlichen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, durch die nach Lage des Falles eine fehlerfreie Bestimmung ... als gewährleistet angesehen werden kann. "9!

Generell konzediert der BGH, daß "Erfahrungssätze des Lebens oder der Wissenschaft ... im allgemeinen eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit für die Gestaltung eines Sachverhalts oder eines Geschehenablaufs zum Ausdruck (bringen). Diesen Beweiswert zu ermitteln oder abzuschätzen und gegen etwaige Beweisgründe abzuwägen, die im Einzelfall die Geltung des Erfahrungssatzes einschränken können, ist an sich Sache der freien Beweiswürdigung"92 86 87

88 89 90

9! 92

4*

J. Esser, Vorverständnis, S. 168ff. J. H. Kaiser, NJW 1975, 2238. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a.M. 1983, S.143f. W. Mummenhoff, RdA 1976, 369; J. H. Kaiser, NJW 1975, 2238. So aber F. Schmidt I G. Wischnath, Zbl.Arbmed 1975,110. BGHZ 2,6 - 16 (11); 12, 22 - 41 (39). BGHZ 12, 22 (25); BGH, NJW 1973, 1411 - 1412.

52

3. Medizinische Ausgangslage zum Passivrauchen

des Richters. Gutachten, die keine absolute Beweiskraft erklären, unterliegen also grundsätzlich der freien, richterlichen Beweiswürdigung. Anders verhält es sich aber, wenn darüber zu entscheiden ist, ob einem Erfahrungssatz die Bedeutung eines Naturgesetzes zukommt. Wenn seine Erkenntnis "eindeutig und zweifelsfrei festgestellt"93 und "so sicher verbürgt ist, daß seine Geltung auch in jedem Einzelfall vernünftigerweise nicht angezweifelt werden kann", dann kommt der "wissenschaftlichen Erkenntnis absoluter Beweiswert zu. "94 Selbstverständlich bestehen auch im naturwissenschaftlichen Forschungsbereich gegensätzliche Auffassungen. Vielfach gelten besonders die methodischen Vorgehensweisen als Ursache abweichender Meinungen, die nicht selten interpretativ von Naturwissenschaftlern gewonnen werden. Ein entscheidender Richter steht vor dem Dilemma, daß angesichts solcher Gegensätze keine allgemeine Anerkennung dieser Wissenschaft konstatiert werden kann, d. h. "also ein allgemeiner Erfahrungssatz in dem einen oder anderen Sinne nicht besteht. "95 In diesem Fall stellt der BGH dem Richter frei, "sich in freier Beweiswürdigung ein Urteil über den Beweiswert ... zu bilden. Er wird dabei bemüht sein, sich nach besten Kräften an Hand der vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu dieser Frage ... über das Für und Wider ... zu unterrichten. "96 Zwar gehört zu "den Rechten und Pflichten des Gerichts, die Glaubwürdigkeit grundsätzlich selbst zu beurteilen"97, dennoch besteht schon allein aus Gründen gerechter, der Wahrheit verpflichteter Entscheidungen ein Recht auf "fehlerfreien Ermessensgebrauch. "98 Unabdingbare Grundvoraussetzung dafür liegt nicht nur in der Unterrichtung durch die vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern es besteht die "Pflicht zu gewissenhaftester Prüfung"99 des zu entscheidenden Sachverhalts. Das schließt - im Prinzip selbstverständlich - ein, den "gesamten Streitstoff"IOO erschöpfend zu behandeln. Mit anderen Worten: Bestehen in einem Streitfalle wissenschaftlich kontroverse Aussagen, und der Richter zieht nur einseitige Gutachten zu Rate, so verstößt er eklatant gegen das Prinzip der freien Beweiswürdigung. Ansonsten wäre dem Gebot der unbedingt erforderlichen "Ausschaltung aller ihm erkennbaren Fehlerquellen"101 nicht entsprochen. BGHZ 12, 22 (22). BGHZ 12, 22 (23, 25f.). 95 BGHZ 12, 41 - 49 (46). 96 BGHZ 12,41 (46). 97 Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, ZPO, Müncht