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German Pages [369] Year 2018
Hartmut von Hentig und die ästhetische Erziehung Eine kritische Bestandsaufnahme
Beiträge zur Historischen Bildungsforschung 53
Christian Timo Zenke
Christian Timo Zenke
Obwohl Hartmut von Hentig (*1925) als einer der wichtigsten wie auch umstrittensten Pädagogen und Erziehungswissenschaftler der deutschen Nachkriegszeit gilt, handelt es sich bei dem vorliegenden Band um die erste erziehungswissenschaftliche Monographie zu Person und Werk Hentigs überhaupt. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen dabei Fragen ästhetischer Bildung und Erziehung: So wird einerseits die Bedeutung Hentigs für die Begriffs- und Ideengeschichte ästhetischer Bildung und Erziehung seit Beginn der 1960er Jahre kritisch nachgezeichnet und analysiert, während andererseits versucht wird, durch eine systematische Analyse seiner Veröffentlichungen zum Thema die aktuelle Theorie- und Praxisdiskussion im Spannungsfeld von Kunst, Ästhetik, Bildung und Erziehung historisch kontextualisiert um neue Impulse zu bereichern.
Hartmut von Hentig und die ästhetische Erziehung
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Beiträge zur Historischen Bildungsforschung Begründet von Rudolf W. Keck Herausgegeben von Meike Sophia Baader, Elke Kleinau und Karin Priem Band 53
Christian Timo Zenke
Hartmut von Hentig und die ästhetische Erziehung Eine kritische Bestandsaufnahme
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel „Zwischen Kunst und Aisthesis. Grundprobleme ästhetischer Bildung und Erziehung und ihre Bearbeitung bei Hartmut von Hentig“ vom Fachbereich 1 (Erziehungs- und Sozialwissenschaften) der Universität Hildesheim als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen und am 9. Februar 2017 erfolgreich verteidigt. Erstgutachterin war Prof. Dr. Meike Sophia Baader (Universität Hildesheim), Zweitgutachter Prof. Dr. Volker Schubert (Universität Hildesheim).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Theodor Schulze: Hartmut von Hentig im Gespräch mit Ivan Illich, Dezember 1976 (Bildausschnitt). Museums-Archiv des Oberstufen-Kollegs Bielefeld. Korrektorat: Annabelle Cora Lienhart, Weiden in der Oberpfalz Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50077-1
Inhalt
Vorwort
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1 Einleitung
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2 Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Klassiker und Außenseiter: Hartmut von Hentig im Frühjahr 2010 .. 2.2 (Selbst-)Demontage eines Denkmals: Der Odenwaldschulskandal . . . 2.2.1 Die weitere Diskussion: Zur Person Hentigs . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die weitere Diskussion: Zum Werk Hentigs . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Hartmut von Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
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23 24 35 50 56 65
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4 Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Von der musischen Bildung zur ästhetischen Erziehung . . . . . . . . . . . 4.1.1 Die Renaissance des Begriffs „ästhetische Erziehung“ . . . . . . 4.1.2 Die Ausweitung der ästhetischen Erziehung . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die Politisierung der ästhetischen Erziehung . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Kunst als Maßstab der ästhetischen Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Vom „Unruhestifter“ zur historischen Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Zwischenfazit: Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte .. . . . . . . . . .
5 Die Grenzen des Ästhetischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 „Das Verstehen des Unverstandenen“: Ein erster Kunstbegriff (1959) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Die Kunst als „Erkundung des Möglichen“ (1959 – 1965) . . . . 5.1.3 Die Ausweitung des hentigschen Kunstbegriffs (1966 – 1969) . . 5.1.4 Revision und erneute Einengung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Zwischenfazit: Zum Begriff der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72 73 82 89 101 108 126 144 148 154 154 157 164 175 188 191
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Inhalt
5.3 Aisthesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Universität und Höhere Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter . . . . 5.3.3 „Das Leben mit der Aisthesis“ als allgemeines Lernziel der Gesamtschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Zwischenfazit: Zum Begriff der Aisthesis . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Zwischenfazit: Die Grenzen des Ästhetischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 Ästhetik und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kunst als „Ernstfall“: Das Prinzip „vikarische Erfahrung“ . . . . . . . . . . 6.2 Kunst als „Spielraum“: Das Prinzip „Befreiung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Ästhetische Erfahrung als Glückserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Ästhetische Mündigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Zwischenfazit: Ästhetik und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204 205 208 210 216 217 224 232 236 247 258 265 272
7 Gesamtfazit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 7.1 Konklusion und Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 7.2 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung Literaturverzeichnis
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Vorwort
„Hierzulande“, so heißt es in einer vielzitierten Passage aus Lewis Carrolls Alice hinter den Spiegeln, „musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst“ 1. Diese Sentenz – im Original als Rat von der Roten Königin des Spiegellandes an Alice gerichtet – hat es als „Red Queen hypothesis“ nicht nur zu einem festen Begriff in der Evolutionsbiologie gebracht, sie beschreibt darüber hinaus auf vortreffliche Weise ein grundsätzliches Problem wissenschaftlichen Schreibens. So sieht sich eine jede Autorin, ein jeder Autor wissenschaftlicher Texte mehr oder weniger deutlich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sich der Gegenstand ihrer bzw. seiner Auseinandersetzung (oder zumindest die spezifische, eben diesen Gegenstand betreffende Fachdiskussion) während der Anfertigung des jeweiligen Textes weiterhin zu verändern vermag – eine Veränderung, die im Anschluss wiederum Zeit verlangt, um in den Text eingearbeitet zu werden, und dies prinzipiell ad infinitum. Eben dieser letztlich nur willkürlich zu durchbrechende Kreislauf hat schließlich zur Folge, dass ein jeder wissenschaftlicher Text zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung – und erst recht zum Zeitpunkt seiner Publikation – in gewisser Weise bereits wieder veraltet ist. Oder, um den Rat der Roten Königin entsprechend zu adaptieren: Nur ein Text, der nie beendet wird, vermag es, aktuell zu bleiben. Ganz in diesem Sinne hat denn auch meine hier vorgelegte Dissertationsschrift zum Thema „Grundprobleme ästhetischer Bildung und Erziehung und ihre Bearbeitung bei Hartmut von Hentig“ (so der originale Untertitel) mit eben jenem „Rote-Königin-Effekt“ zu kämpfen. Und dies sogar in mehrfacher Weise: So handelte es sich bei dem von mir gewählten Gegenstand zum Zeitpunkt der Aufnahme meiner Arbeit im Frühjahr 2009 zunächst einmal um ein etwas abseitiges, weder sonderlich kontroverses noch sonderlich breit diskutiertes Thema. Dieser Umstand jedoch änderte sich bereits ein knappes Jahr später, im März 2010, fundamental, als im Zuge der öffentlichen Diskussion um Fälle sexualisierter Gewalt an Schülerinnen und Schülern der Odenwaldschule Ober-Hambach schon bald auch Hartmut von Hentig in den Fokus der Kritik geriet: Aufgrund seiner engen beruflichen wie privaten Verbindungen zu Gerold Becker, dem ehemaligen Schulleiter der Odenwaldschule und nach heutigem Wissensstand Haupttäter der bekannt gewordenen Missbrauchsfälle, wurde Hentig schon bald eine gewisse Mitwisserschaft oder sogar eine konkrete, in seinen eigenen pädagogischen Schriften begründete Mitverantwortung für die diversen, mit jahrzehntelanger Verspätung ans Licht gekommenen Verbrechen vorgeworfen – ein Vorwurf, den zu entkräften Hentig im weiteren Verlauf der Diskussion nie vollkommen gelingen sollte.
1
Carroll 2015, S. 39 (Hervorhebung im Original)
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Vorwort
In diesem Zusammenhang wandelte sich innerhalb weniger Wochen nicht nur die öffentliche Wahrnehmung und Reputation Hentigs auf radikale Weise, sondern damit einhergehend zugleich nahezu der gesamte allgemeine wie fachspezifische Kontext und Erwartungshorizont meines eigenen, gerade erst begonnenen Forschungsvorhabens. So sah ich mich unweigerlich konfrontiert mit Fragen beispielsweise nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Person und Werk im Kontext wissenschaftlicher Arbeit, nach der Bedeutung und den Wurzeln des „pädagogischen Eros“, nach der Pädophilie-Diskussion insbesondere der 1970er und 1980er Jahre oder nach dem theoretischen wie praktischen Umgang mit Nähe und Distanz in der Reformpädagogik – allesamt Problemstellungen, die schließlich in der Frage kumulierten, inwiefern es überhaupt noch sinnvoll und nicht zuletzt auch fachöffentlich angemessen kommunizierbar sein könne, eine ganze Dissertationsschrift ausgerechnet Hartmut von Hentig und dessen Arbeiten zum „Schönen“ zu widmen. Nach eingehender Analyse der entsprechenden Fachdiskussion sowie in engem Austausch mit der Betreuerin meiner Arbeit an der Universität Hildesheim, Frau Prof. Dr. Meike Sophia Baader, entschied ich mich jedoch schließlich ganz bewusst dazu, das von mir gewählte Thema auch weiterhin zu bearbeiten. Denn, und damit möchte ich bereits an dieser Stelle ein erstes Teilergebnis meiner Arbeit vorwegnehmen 2: Gerade weil mit der Person Hentigs „der Komplex Odenwaldschule von einem moralisch-kriminellen Fall zu einem systematischen Problem der Pädagogik“ 3 geworden ist, scheint es mir heute auf erziehungswissenschaftlicher Ebene mehr denn je darum gehen zu müssen, eine detaillierte Auseinandersetzung mit Person und Werk Hentigs gezielt voranzutreiben und in den Mittelpunkt auch längerfristig angelegter wissenschaftlicher Arbeiten zu rücken. So gilt es nicht allein, Hartmut von Hentigs persönliche Verstrickung in die Ereignisse um Gerold Becker und die Odenwaldschule genauer zu untersuchen, sondern es stellen sich darüber hinaus mindestens drei weitere Aufgaben, die es im Zuge einer solchen Auseinandersetzung zu bearbeiten gilt: 1. Die Bedeutung Hentigs für die bildungspolitische und erziehungswissenschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte muss in historiographischer Perspektive nachgezeichnet und kritisch geprüft werden, wobei insbesondere dessen politische und pädagogische Netzwerke sowie der Einfluss dieser Netzwerke auf den beruflichen Werdegang Hentigs genauer zu untersuchen sind. 2. Theorie und Praxis der hentigschen Pädagogik müssen in systematischer Perspektive rekonstruiert, aufeinander bezogen und in die Ideengeschichte der Reformpädagogik eingeordnet werden, wobei es insbesondere gilt, auf Grundlage einer genauen Lektüre der Schriften Hentigs dessen Umgang mit Begriffen und Themen wie „pädagogischer Eros“, „pädagogische Liebe“ oder „Nähe und Distanz in päda gogischen Beziehungen“ nachzuzeichnen und zu analysieren. 2 Siehe zum Folgenden genauer unten, Kapitel 2.2.3. 3 Brumlik 2012, S. 154
Vorwort
9
3. In Zusammenhang mit einer solch historiographischen wie systematischen Auseinandersetzung ist schließlich zu prüfen, ob – und wenn ja inwiefern – sich Hentigs Arbeiten dennoch, trotz aller möglichen und notwendigen Kritik, gewinnbringend auf aktuelle Fragen und Schwierigkeiten pädagogischer Th eorie und Praxis anwenden lassen. In diesem Sinne gilt: Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex „Hartmut von Hentig und der Odenwaldschulskandal“ nicht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht, so wird im Folgenden dennoch versucht, zumindest einen kleinen Teil zur Bearbeitung der skizzierten Anforderungen beizutragen. So wird am Beispiel des Themenfeldes „Ästhetische Bildung und Erziehung“ nicht nur die Bedeutung Hentigs für die pädagogische und erziehungswissenschaftliche Diskussion der vergangenen fünf Jahrzehnte nachgezeichnet, es wird darüber hinaus – ausgehend von einer detaillierten Auseinandersetzung mit Hentigs diversen Schriften zur ästhetischen Erziehung – die Frage diskutiert, inwiefern den hentigschen Arbeiten zum Thema auch heute noch, zumindest prinzipiell, eine gewisse Anschluss- und Zukunftsfähigkeit zugesprochen werden kann. Diejenigen Leserinnen und Leser jedoch, die vor dem Hintergrund der skizzierten Diskussion in erster Linie an meiner expliziten Auseinandersetzung mit sowie an meiner grundsätzlichen Haltung zu den oben unter dem Stichwort „Hartmut von Hentig und der Odenwaldschulskandal“ subsumierten Problemfeldern interessiert sind, seien insbesondere auf die Kapitel 2.2, 5.2 und 7 verwiesen: In Kapitel 2.2 diskutiere ich ausführlich die Verstrickung Hentigs in die Ereignisse um Gerold Becker und die Odenwaldschule, in Kapitel 5.2 steht unter anderem Hentigs theoretische Bezugnahme auf Platon und dessen Eros-Konzept im Mittelpunkt der Analyse, und in Kapitel 7 bemühe ich mich, im Rahmen meines Gesamtfazits die verschiedenen, bis dahin zum Teil getrennt voneinander entwickelten Diskussionsstränge wieder zusammenzuführen. Bei alledem sei jedoch zugleich noch ein weiterer wichtiger Hinweis gegeben: Nicht nur hat der eingangs skizzierte „Rote-Königin-Effekt“ während der konkreten Niederschrift meiner Dissertation, also in den Jahren 2009 bis 2015, Wirkung gezeigt, dasselbe gilt schließlich auch für den Zeitraum seit Beendigung meiner inhaltlichen Arbeit an dieser im Winter 2015/2016 über deren Verteidigung im Februar 2017 bis hin zur Abfassung dieses Vorworts im November 2017. So sind in diesem Zeitraum mit Jürgen Oelkers’ Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die „Karriere“ des Gerold Becker 4 und Hartmut von Hentigs Noch immer Mein Leben. Erinnerungen und Kommentare aus den Jahren 2005 bis 2015 5 nicht nur zwei weitere überaus gewichtige Arbeiten zum Thema erschienen, auch die im Frühjahr 2017 durch die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DG fE) vorgenommene Aberkennung des knapp zwanzig
4 Oelkers 2016 5 Hentig 2016
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Vorwort
Jahre zuvor an Hentig verliehenen Ernst-Christian-Trapp-Preises 6 sowie die sich daran anschließende Debatte um das Für und Wider dieser Aberkennung 7 hätten der vorliegenden Arbeit zahlreiche weitere wichtige Diskussionsanlässe geliefert. Da die zur Berücksichtigung und Einarbeitung dieser Entwicklungen erforderliche Zeit jedoch erneut Raum für weitere, im Anschluss ebenfalls einzuarbeitende Entwicklungen geboten hätte, wird die vorliegende Arbeit hier nun in ihrer finalen, von der Universität Hildesheim als Dissertation angenommenen (und lediglich sprachlich noch einmal leicht überarbeiteten) Fassung vom Juni 2016 abgedruckt. Für meine darüberhinausgehende Auseinandersetzung insbesondere mit den soeben genannten neueren Entwicklungen zum Thema sei in d iesem Zusammenhang deshalb auf meine weitere, zum jetzigen Zeitpunkt bereits begonnene und in Zukunft noch weiter zu intensivierende Vortrags- und Publikationstätigkeit zu Person und Werk Hentigs verwiesen.8 Abschließend bleibt mir daher an dieser Stelle nur noch, einen mehrfachen Dank auszusprechen: zuallererst an Prof. Dr. Meike Sophia Baader für ihre langjährige, so geduldige wie inspirierende Begleitung auf dem Weg hin zur Beendigung meines Forschungsvorhabens, an Prof. Dr. Volker Schubert für seine wertvolle Beratung und Unterstützung als Zweitgutachter sowie an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meines Doc-/Post-Doc-Kolloquiums an der Universität Hildesheim für die vielen, so spannenden wie ertragreichen Diskussionen. Mein besonderer Dank gilt darüber hinaus auch Prof. Dr. Dieter Timmermann und Prof. Dr. Annette Textor: dafür, dass sie mir die Möglichkeit gegeben haben, parallel zu meiner Promotion an der Universität Hildesheim eine Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld auszufüllen und in d iesem Zusammenhang unter anderem den Aufbau eines Archivs der Bielefelder Laborschule (als Teil des Universitätsarchivs Bielefeld) voranzutreiben. Ich hoffe, nicht zuletzt auch durch dieses Engagement insgesamt einen nachhaltigen Beitrag zur zukünftigen Auseinandersetzung mit Person und Werk Hartmut von Hentigs leisten zu können. Bielefeld, im November 2017
6 Siehe hierzu die im März 2017 veröffentlichte „Stellungnahme des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) zur Diskussion um sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten“: http://www.dgfe.de/fileadmin/OrdnerRedakteure/Stellungnahmen/2017.03_ Sexuelle_Gewalt_in_paedagogischen_Kontexten.pdf, letzter Zugriff: 01. 11. 2017. 7 Siehe hierzu insbesondere das im Juni 2017 erschienene Heft Nr. 54 der von der DG fE herausgegebenen Zeitschrift Erziehungswissenschaft. 8 Siehe hierzu beispielsweise meinen auf der Herbsttagung der Kommission Wissenschaftsforschung der DG fE im September 2017 gehaltenen Vortrag „Lichtgestalt und Dunkelziffer: Hartmut von Hentig und die Erziehungswissenschaft“ (erscheint als Zenke 2018).
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Einleitung
Spätestens seit Veröffentlichung von Klaus Mollenhauers Studie Grundfragen ästhetischer Bildung 9 im Jahr 1996 sowie dem damit verbundenen Versuch Mollenhauers und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern 10 miteinander zu verknüpfen, lässt sich für den deutschsprachigen Raum eine deutliche Zunahme empirischer Forschungs arbeiten zu Fragestellungen ästhetischer Bildung und Erziehung konstatieren.11 Trotz des beachtlichen hiermit verbundenen Erkenntnisgewinns, insbesondere im Bereich der Wirkungs- und Transferforschung, muss der empirische Forschungsstand zum Thema jedoch nach wie vor als weitestgehend unbefriedigend bezeichnet werden.12 Als Gründe hierfür lassen sich zum einen spezifische methodische Schwierigkeiten bezüglich der Erforschung ästhetischer Wirkungen ausmachen 13 sowie zum anderen eine oftmals nur unzureichende bildungstheoretische Fundierung der verwendeten Begriffe und Modelle. So resümiert etwa Christian Rittelmeyer 2012 in einem Überblicksbeitrag zur „Erforschung von Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten“, die bisherige Forschung zum Thema weise „eine Reihe von Mängeln“ auf, wobei eines der „Hauptprobleme“ darin bestehe, „dass in den meisten Arbeiten von einem ungeklärten Begriff der ‚ästhetischen Erfahrung‘ oder des ‚Kunstunterrichts‘ ausgegangen“ werde 14: „Daher ist es für eine anspruchsvolle, bildungstheoretisch begründete Wirkungsforschung erforderlich, dass genauer analysiert wird, worin die jeweils als künstlerisch deklarierte Tätigkeit besteht […]. Ferner muss geklärt werden, was man mit den Begriffen ‚künstlerisch‘ oder ‚ästhetisch‘ meint – was voraussetzt, dass man sich hier mit Theorien des Ästhetischen befasst.“ 15
In eine ähnliche Richtung zielend argumentieren auch Manfred Prenzel und Johanna Ray, wenn diese unter dem Stichwort „Bildungsqualität, Bildungsforschung und Kulturelle Bildung“ konstatieren, „Hindernisse für umfassendere Untersuchungen zur 9 Mollenhauer 1996 10 So der Untertitel der von Mollenhauer gemeinsam mit Cornelie Dietrich, Hans Rüdiger Müller und Michael Parmentier durchgeführten Studie. 11 Siehe beispielsweise Peez 2005; Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S. 157 ff.; Bockhorst et al. 2012, S. 899 ff.; Fink et al. 2012 oder Rittelmeyer 2012b. 12 Vgl. Klepacki & Zirfas 2009, S. 123 sowie Reinwand 2012, S. 900. 13 Siehe hierzu genauer Koch 2008, S. 712 sowie Liebau 2010, S. 14. 14 Rittelmeyer 2012a, S. 930 15 Ebenda
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Einleitung
Kulturellen Bildung“ lägen „weniger im methodischen, sondern eher im theoretischen Bereich“ 16. So setzten repräsentative Studien „Theorien und Modelle Kultureller Bildung voraus, die von den Fachleuten in d iesem Bereich weitgehend akzeptiert“ seien und „einigermaßen konkrete Aussagen“ zuließen, „zum Beispiel über die Struktur der angestrebten und zu erfassenden Kompetenzen“.17 Solche Theorien und Modelle allerdings, so Prenzel und Ray weiter, gebe es derzeitig nicht.18 Neben der „empirische[n] Verifizierung spezifisch ästhetischer Wirkungen“ im Sinne einer „empirischen Grundlagenforschung“ 19 wäre es deshalb – wie von Yvonne Ehrenspeck bereits 1998 angemerkt – „ebenso sinnvoll, sich mit Theorien zu Ästhetik und ästhetischer Erfahrung auseinanderzusetzen und insofern theoretische Grundlagenforschung zu betreiben“ 20, denn: „[A]uch die Theorien über Ästhetik und ästhetische Erfahrung dienen der Legitimation vergangener und aktueller didaktischer, pädagogischer oder kulturpolitischer Projekte. Sie sind die Folie, auf der sich die gängigsten Vorstellungen und Erwartungen bezüglich Ästhetik und Kunst ausgeprägt haben.“ 21 Bildungstheoretische Überlegungen und Begriffsklärungen zum Thema Ästhetische Bildung und Erziehung wären in diesem Sinne – wie Ehrenspeck es an anderer Stelle 16 Prenzel & Ray 2012, S. 926 17 Ebenda 18 Vgl. ebenda. Wie unmittelbar sich diese von Rittelmeyer, Prenzel und Ray benannte Problematik dabei bereits auf terminologischer Ebene niederschlägt, dies zeigt exemplarisch der unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung angefertigte Bildungsbericht 2012 (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012). Hier konstatieren die Autorinnen und Autoren zu Beginn einer gesonderten, knapp fünfzig Seiten umfassenden, indikatorengestützten „Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf“ (ebenda, S. I), die Bearbeitung des solchermaßen angekündigten Schwerpunkthemas sei „mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden“ gewesen, „zu denen vor allem die präzise definitorisch-begriffliche Abgrenzung des Bereichs und seiner Teile sowie eine unbefriedigende Datenlage“ gezählt hätten (ebenda, S. 159). In der Hoffnung, damit „der Breite des Berichts Rechnung zu tragen“ (ebenda S. 157), entscheiden sich die Autorinnen und Autoren deshalb schließlich zur Verwendung eines sprachlichen Konstrukts, das die ganze Begriffskonfusion der aktuellen Diskussion zu Fragen der ästhetischen und kulturellen Bildung eindrucksvoll dokumentiert: Sie sprechen im Folgenden, wenn es ihnen um die bildende Bedeutung der Sparten „Bildende Kunst, Musik, Tanz, Theater, Film und Literatur“, aber auch um „Neue Medien, wie digitale Ton-, Bild- und Videoaufzeichnungen und deren digitale Bearbeitungsmöglichkeiten, sowie vereinzelt Architektur, Spiel, Akrobatik und Computer-Animationen“ geht (ebenda, S. 159), in einem bemerkenswerten Begriffs-Mash-up von „kultureller/musisch-ästhetischer Bildung“ (ebenda). Zur hier relevant werdenden, zu großen Teilen synonymen Verwendung der Bezeichnungen „Ästhetische Bildung“, „Kulturelle Bildung“ und „ästhetisch-kulturelle Bildung“ sowie zu den mit dieser Begriffsdiffusion einhergehenden inhaltlichen Problematiken siehe genauer Zürner 2015, S. 75 ff. sowie ebenda S. 88 (Fußnote 1). 19 Ehrenspeck 1998, S. 285 (Hervorhebung im Original) 20 Ebenda (Hervorhebung im Original) 21 Ebenda, S. 285 f.
Einleitung
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in Anlehnung an Armin Wildermuth formuliert – „nicht nur ‚abklärendes Geplänkel‘“, sondern „die Grundlage für die Einschätzung und Bewertung […] pädagogischer Programme sowie erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung und deren strategischer Implikationen“.22 Diese Einschätzung wiederholt Ehrenspeck im Jahr 2003 noch einmal nachdrücklich, wenn sie in einem Vortrag zum Thema „Ästhe tische/Mediale Bildung als Versprechen nach PISA – Schlüsselkompetenzen und Wirkungsdiskussion“ resümiert: „[…] die Frage, ob Ästhetische Erfahrung oder Ästhetische Bildung den Erwerb von Schlüsselkompetenzen, wie beispielsweise Kreativität, fördern kann, [ist] nicht pauschal zu beantworten. Es kommt darauf an, ein empirisch operationalisierbares Begriffs- und Theoriekonstrukt von Ästhetischer Bildung zu konstruieren, welches ein solches Phänomen zuallererst erforschbar machen kann.“ 23
Versteht man Ästhetische Bildung insofern mit Jörg Zirfas einerseits als menschliche „Grundbildung“ 24 und berücksichtigt andererseits, dass „weder geisteswissenschaftlich- normativ noch sozialwissenschaftlich-empirisch geklärt“ ist, „welche Ziele inwieweit durch ästhetische Bildung verfolgt werden sollen, bzw. w elche auch verwirklichbar sind“ 25, dann braucht es neben einer fortgesetzten empirischen Forschung zum Thema zugleich eine weitergehende theoretische Auseinandersetzung mit „Grundprobleme[n] oder auch Grundfragen ästhetischer Erziehung und Bildung“ 26: den kontinuierlichen Versuch also, „jene Prämissen, Implikationen, Fundamente freizulegen, auf denen pädagogisches Handeln und seine Theorien aufbauen“ 27. So lassen sich im Anschluss an Egon Schütz 28 und Klaus Mollenhauer 29 auf der einen sowie Cornelie Dietrich, Dominik Krinninger und Volker Schubert 30 auf der anderen Seite insbesondere zwei als „fortwährende Herausforderungen“ wirkende Problemstellungen des „pädagogischen Umgangs
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Ehrenspeck 1996, S. 205 Ehrenspeck 2003, S. 17. Ganz ähnlich argumentiert auch Klepacki 2012, S. 30 ff. Zirfas 2009, S. 78 Ebenda, S. 77 Schütz 1987, S. 107 Ebenda. Auch für den Bereich der ästhetischen Bildung und Erziehung gilt insofern, was Ewald Terhart bereits 2006 mit Blick auf das grundsätzliche Verhältnis von „Bildungsphilosophie und empirischer Bildungsforschung“ konstatiert hatte: „[D]ie gegenwärtig in einer expansiven Hochphase sich befindende empirische Bildungsforschung führt bestimmte, weitgehend unexpliziert bleibende stille bildungsphilosophische oder doch bildungsphilosophisch relevante Argumentationen und Positionen mit sich, die im Interesse Aller expliziert gehören. Hier sehe ich ein sehr wichtiges Arbeitsfeld für die Bildungsphilosophie.“ (Terhart 2006, S. 9) 28 Schütz 1987 29 Siehe insbesondere Mollenhauer 1993, S. 20 ff. sowie Mollenhauer 1996. 30 Dietrich et al. 2012
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Einleitung
mit ästhetischem Erleben“ identifizieren 31, die sich als „Grundprobleme ästhetischer Bildung […] ähnlich immer wieder stellen und unter veränderten Umständen immer wieder neu – theoretisch und praktisch – bearbeitet werden müssen“ 32: 1. Das Problem der Grenzen des Ästhetischen im Umgang mit Fragen der Bildung und Erziehung: Welches ist die „Eigenart“ 33, die „spezifische Qualität“ 34 ästhetischen Erlebens und wie lässt sich unter Berücksichtigung dieser Eigenart der „Gegenstand der ästhetischen Erfahrung definitorisch fassen“ 35? Was also ist demzufolge genau gemeint, wenn eine spezifische Form der Erziehung oder Bildung als „ästhetische“ beschrieben wird? 2. Das Problem des grundsätzlichen Verhältnisses von Ästhetik und Bildung: Worin liegt „die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen“ 36 – und zwar zunächst unabhängig von „didaktischen Vorstellungen oder Unterrichtsarrangements“ 37? Innerhalb welches „subjekt- und bildungstheoretische[n] Rahmen[s]“ also lässt sich ästhetischer Bildung „Bedeutung“ zuweisen 38? 31 Ebenda, S. 160 32 Ebenda, S. 61 f. Mit dieser Bestimmung wird der Begriff des „Grundproblems“ hier sowie im weiteren Verlauf dieser Arbeit explizit nicht im Sinne einer „zeitlose[n] ontologische[n], anthropologische[n] oder tiefenpsychologische[n] Konstante“ (Dorschel 2010, S. 91) verstanden, die sich entsprechend „zeitlos“ – sprich: endgültig – beantworten ließe, sondern vielmehr als historisch konkret zu verortende Problematik, die je nach Zeit und Ort unterschiedlicher Bearbeitungsstrategien und „Lösungen“ bedarf. (Zur hier relevant werdenden Frage nach Kontinuität und Diskontinuität historischer Probleme siehe genauer ebenda, S. 121 ff. sowie in erziehungswissenschaftlicher Perspektive Bellmann & Ehrenspeck 2006, S. 253 ff.) Darüber hinaus sei an dieser Stelle angemerkt, dass neben den beiden im Folgenden genauer behandelten Grundproblemen der Grenzen des Ästhetischen sowie des grundsätzlichen Verhältnisses von Ästhetik und Bildung noch zahlreiche weitere, ähnlich gelagerte Problemstellungen identifiziert und diskutiert werden können. So nennen Dietrich et al. beispielsweise zusätzlich die Frage nach dem „Verhältnis von Politik/Staat/Gesellschaft und Kunst(-werk)“ (Dietrich et al. 2012, S. 62) und Mollenhauer diskutiert in ähnlicher Perspektive unter anderem die Frage, wie sich das „Dokument“ einer ästhetischen Erfahrung „ästhesiologisch“ zum „Subjekt der produktiven oder rezeptiven ästhetischen Tätigkeit“ verhalte (Mollenhauer 1993, S. 20). Da im Rahmen der vorliegenden Arbeit allerdings allein schon aus forschungspragmatischen Gründen eine bewusste Auswahl der zu untersuchenden Grundprobleme getroffen werden musste, wurde sich bewusst für diejenigen beiden Problemstellungen entschieden, die in der aktuellen Diskussion zum Thema die prominenteste Rolle einnehmen, das heißt sowohl von Mollenhauer und Schütz als auch von Dietrich et al. als solche identifiziert und diskutiert werden (siehe hierzu genauer unten, Kapitel 5 und 6). 33 Dietrich et al. 2012, S. 67 34 Ebenda, S. 67 f. 35 Ebenda, S. 70 36 Mollenhauer 1996, S. 27 37 Ebenda 38 Dietrich et al. 2012, S. 72
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Zwar konnte die mit diesen zwei Grundproblemen verknüpfte „Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie“ 39 innerhalb der letzten zweieinhalb Jahrzehnte sukzessive aus ihrem von Mollenhauer noch 1990 beklagten Zustand der „Vergessenheit“ 40 heraustreten und gerade in der Allgemeinen Pädagogik eine bis dato nie da gewesene „Renaissance“ 41 erleben, das betreffende Forschungsfeld allerdings ist auch heute noch – und wie von Schütz bereits 1986 konstatiert – nicht nur durch eine „verwirrende Mannigfaltigkeit von Fragen“, sondern auch durch einen „kaum überschaubaren Spielraum von Antworten“ gekennzeichnet 42: So vermerkt Wolfgang Krieger in seiner 2004 erschienenen Studie Wahrnehmung und ästhetische Erziehung, die „den Konzepten ästhetischer Erziehung zugrunde liegenden Begriffe des Ästhetischen“ seien „teilweise inhaltlich sehr diffus, teilweise sehr einseitig“ 43, Annette Franke beklagt 2007 in ihrer Arbeit Aktuelle Konzeptionen der ästhetischen Erziehung, das „vorliegende Forschungsfeld“ müsse als „äußerst diffus und umfassend“ bezeichnet werden 44, und Jürgen Oelkers resümiert, bei „näherem Hinsehen“ habe sich das Objekt der ästhetischen Bildung als „irritierend vielfältig, oft flüchtig, auch abgeschlossen, hermetisch, und dann wieder äusserst [sic!] reduktiv herausgestellt, ohne dass eine der klassischen Theorien bestätigt worden wäre“ 45. Gabriele Weiß schließlich hebt noch 2010 im Rahmen ihrer Rezension des ersten Bandes einer Reihe zur Geschichte der Ästhetischen Bildung lobend die Einleitung selbigen Bandes mit dem Hinweis hervor, hier würden „auf ganzen sechs Seiten die Dimensionen von ästhetischer Bildung differenziert und erschöpfend aufgefächert bzw. erläutert“. Derart viele „Verständnisweisen und Perspektiven auf das diffuse und oft nur einseitig definierte Phänomen der ästhetischen Bildung“, so Weiß, fänden sich selten.46 „Das Zeitalter der großen Entwürfe und philosophischen Grundlegungen scheint vorbei zu sein“ 47, resümiert in diesem Sinne denn auch Lutz Koch 2008 in einem Überblicksbeitrag zum Thema „Ästhetische Bildung“ für das Handbuch der Erziehungswissenschaft und er ergänzt: „Es dominiert die didaktische Gestaltung von Kunst-, Musik- und Literaturunterricht mit ihren immanenten Schwankungen ‚zwischen Gemütsbildung und Kognitionstraining‘. Es
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Mollenhauer 1990b Vgl. ebenda. Ehrenspeck 1998, S. 18 Schütz 1986, S. 4 Krieger 2004, S. 19 Franke 2007, S. 8 Oelkers 2005, S. 277 Weiß 2010. Es handelt sich hierbei um eine Rezension des von Jörg Zirfas, Leopold Klepacki, Johannes Bilstein und Eckart Liebau verfassten Bandes Geschichte der Ästhetischen Bildung, Antike und Mittelalter (Zirfas et al. 2009). 47 Koch 2008, S. 712
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mangelt auch nicht an theoretischen Detailstudien, z. T. angelegt an den postmodernen Ästhetikdiskurs. […] Auch die empirische Forschung hat sich mit Kreativitätsforschung und Studien über die kindliche Entwicklung ästhetischer Erfahrung der Problematik ästhetischer Bildung angenommen. […] Alles in allem fehlt aber eine die verschiedenen Motive zusammenfassende Theorie mit dem Versuch, ihre Teilgedanken in einer Grundidee zu fundieren und aus dieser zu entfalten.“ 48
Vor dem Hintergrund dieser Befunde erscheint es aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive sinnvoll, neben interdisziplinären sowie international vergleichenden Bemühungen zur Bearbeitung der genannten Grundprobleme zugleich gezielt zu untersuchen, wie diese bisher, in bereits bestehenden Theorien zum Thema, gefasst und bearbeitet worden sind: einerseits, um genauer zu verstehen, „wie sich das theore tische Nachdenken über das, was man aus einer heutigen Perspektive als Ästhetische Bildung bezeichnen kann, historisch in theoretischen Grundpositionen entwickelt hat“ 49, andererseits aber auch, um auf d iesem Wege einen etwaigen Ertrag für die aktuelle Th eorie- und Praxisdiskussion zum Thema generieren zu können – einen „bislang uneingelösten Bedeutungsüberschuß“ also, an den wir „unsere heutigen Bemühungen anschließen“ könnten 50. In diesem Sinne gilt auch für den Bereich ästhetischer Bildung und Erziehung, was Hans-Christoph Koller 2012 mit Blick auf das grundsätzliche Verhältnis von „Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung“ formuliert: „Bildungstheorie kann […] zugleich als Ort der Erinnerung an und der kritischen Ausein andersetzung mit der Geschichte des Nachdenkens über Bildung und Erziehung verstanden werden. Diesem Traditionsbezug, der von Kritikern gelegentlich als ‚Klassikerpflege und -exegese‘ abgetan wird (Tenorth), kann im Sinne des von Habermas beschriebenen ‚praktischen‘ Erkenntnisinteresses der historisch-hermeneutischen Wissenschaften eine wichtige Funktion für die Verständigung über bildungspolitische und bildungspraktische Entscheidungen in einer demokratischen Gesellschaft zugeschrieben werden.“ 51
Habermas zufolge, so Koller weiter, sei „die Auseinandersetzung mit der Tradition als Beitrag zum Ziel ‚der Erhaltung und der Erweiterung der Intersubjektivität möglicher handlungsorientierender Verständigung‘ zu verstehen“ und habe den Sinn, „dafür zu sorgen, dass in die intersubjektive Verständigung über bildungspolitische 48 Ebenda (Koch nimmt hier Bezug auf Parmentiers Überlegungen zur Geschichte der ästhetischen Bildung als einer Geschichte des stetigen Schwankens „zwischen Gemütsbildung und Kognitionstraining“ in Parmentier 2004a, S. 22 ff. Zu den gemeinten Überlegungen Parmentiers siehe darüber hinaus genauer unten, S. 104 f. und 285 f.) 49 Klepacki & Zirfas 2012, S. 68 50 Müller 1994, S. 40 51 Koller 2012, S. 9 (Hervorhebung im Original) unter Verweis auf Tenorth 1997, S. 976.
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und bildungspraktische Entscheidungen auch Positionen der Vergangenheit“ einbezogen würden, „nicht im Sinne dogmatischer Glaubenssätze, wohl aber im Sinne eines Potentials, dessen Möglichkeiten und Grenzen im Blick auf aktuelle Fragen es auszuloten“ gelte.52 Eben diese enge Verknüpfung von systematischer und historischer Forschung hebt auch Meike Sophia Baader hervor, wenn sie 2010 zum Thema „Historische Bildungsforschung als Erinnerungsarbeit“ konstatiert: „Ohne vorausgegangene genaue historische Rekonstruktion und Forschung sind normative Fragen, etwa nach ‚Hinterlassenschaften‘ oder ‚Zukunftsfähigkeit‘ – im Zusammenhang mit historischen Themen – nicht zu beantworten und zu klären. Favorisiert man jedoch die normative Perspektive vor aller historischen Rekonstruktion, so wird Forschung systematisch verhindert. Die systematische Perspektive setzt m. E. also eine historisch- rekonstruktive voraus bzw. hat diese mindestens zur Kenntnis zu nehmen.“ 53
In eine ähnliche Richtung zielend argumentiert schließlich auch Rebekka Horlacher, wenn sie 2012 im Rahmen einer Sammelrezension zum Thema „Bildung“ anmerkt, allzu oft würden „zwar historische Texte analysiert und für die Argumentation in aktuellen Debatten verwendet“, sie würden aber „häufig nicht als historische Texte in einem bestimmten historischen Kontext gelesen, sondern als relativ frei schwebende Ideen“, die „vor allem aber auf ihre Bedeutung für heute befragt“ würden 54. Das allerdings, so Horlacher, werde „dem Potenzial der Geschichte nicht gerecht“ und vermöge „auch keine Antworten auf aktuelle Fragestellungen zu geben“ 55: „Viel sinnvoller scheint es da, diese historisch informiert zu bearbeiten.“ 56 Eine begriffskritisch-hermeneutische Analyse bereits bestehender Theorien zum Thema „ästhetische Bildung und Erziehung“ unter besonderer Berücksichtigung der oben skizzierten „Grundprobleme“ hätte insofern im Anschluss an Koller, Baader und Horlacher zwei eng miteinander verknüpfte Zielsetzungen zu verfolgen: auf historiographischer Ebene die Leistung eines Beitrags zur Ideen- und
52 Koller 2012, S. 9. Koller bezieht sich hier auf Habermas’ Überlegungen zum Verhältnis von „Erkenntnis und Interesse“ in dessen 1968 erstmals erschienenen Sammelband Technik und Wissenschaft als „Ideologie“ (Habermas 1974, S. 146 – 168, Zitat Koller: S. 158). 53 Baader 2010a, S. 211 (Hervorhebung im Original) 54 Horlacher 2012, o. P. 55 Ebenda 56 Ebenda. Zur weiteren Diskussion des in d iesem Zusammenhang relevant werdenden „konstitutiven Zusammenhang[s] historischer und systematischer Operationen“ (Bellmann & Ehrenspeck 2006, S. 258) in der erziehungswissenschaftlichen Forschung sowie zu dem mit dieser Diskussion verbundenen methodologischen Widerstreit z wischen Kontextanalyse, Problemgeschichte und „Applikationshermeneutik“ siehe genauer Langewand 1999, Bellmann 2004 sowie Bellmann & Ehrenspeck 2006.
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Begriffsgeschichte ästhetischer Bildung und Erziehung durch die exemplarische Analyse dessen, „wie sich das theoretische Nachdenken über das, was man aus einer heutigen Perspektive als Ästhetische Bildung bezeichnen kann, historisch in theoretischen Grundpositionen entwickelt hat“ 57, und auf systematischer Ebene die historisch kontextualisierte Generierung eines Ertrags für die aktuelle Theorie- und Praxisdiskussion zum Thema „ästhetische Bildung und Erziehung“, einschließlich deren empirischer Fragestellungen. Zwar gab es – unter anderem angestoßen durch Mollenhauers 1988 formulierte Forderung nach einer „bildungshistorischen Rekonstruktion“ der „ästhetischen Dimension des Bildungsprozesses“ 58 – besonders in den 1990er Jahren einige Bemühungen, eine kritische Rekonstruktion bereits bestehender Beiträge zum Spannungsfeld Kunst, Ästhetik, Bildung und Erziehung zu realisieren, diese Bemühungen jedoch konzentrierten sich nahezu ausschließlich auf die klassischen Autoren der pädagogischen Moderne: Rousseau, Kant, Schiller, Humboldt und Herbart 59. Die systematische Rekonstruktion und kritische Revision neuerer diesbezüglicher Ansätze bildet dementgegen allenfalls ein Randgebiet erziehungswissenschaftlicher Forschung. Gerade hier jedoch wären Anschlussmöglichkeiten zu finden für eine Integration des Ästhetischen in ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung und dessen praktische Umsetzung gerade auch in derjenigen pädagogischen Institution, die unsere Zeit wie keine andere geprägt hat: die allgemeine, öffentliche Pflichtschule. In diesem Zusammenhang bieten sich als Untersuchungsgegenstand ganz besonders Hartmut von Hentigs Arbeiten zum Thema „ästhetische Bildung und Erziehung“ an: gilt Hentig selbst doch nicht nur als einer der exponiertesten Pädagogen und Erziehungswissenschaftler Deutschlands, er nimmt darüber hinaus auch im Bereich ästhetischer Bildung und Erziehung eine Sonderstellung unter den Pädagogen der Gegenwart ein. So hat Hentig wie kein zweiter Allgemeinpädagoge seit Ende der 1950er Jahre den diesbezüglichen Diskurs publizistisch begleitet und in d iesem Zusammenhang weit über hundert Beiträge zum Thema veröffentlicht, die – und das macht die hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung 60 so interessant – genau innerhalb jener zwei oben skizzierten Problemfelder angesiedelt sind. Das bedeutet, sie
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Klepacki & Zirfas 2012, S. 68 Mollenhauer 1988b, S. 459 Siehe bspw. Schütze 1987; Schütze 1993; Werschkull 1994; Ehrenspeck 1998 oder Stuckert 1999. Mit dieser von Hentig selbst als Untertitel seines 1985 erschienenen (und seine bis dahin wichtigsten Veröffentlichungen zum Thema versammelnden) Bandes Ergötzen, Belehren, Befreien (Hentig 1985e) gewählten Wendung wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit die Gesamtheit an Veröffentlichungen Hentigs zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung bezeichnet – ohne dabei allerdings bereits ein Urteil dahingehend zu treffen, ob sich Hentigs Arbeiten zum Thema vornehmlich dem Bereich der ästhetischen Erziehung oder doch eher demjenigen der ästhetischen Bildung zuordnen lassen. Die damit berührte Frage soll vielmehr erst gegen Ende dieser Arbeit, in den Kapiteln 6.5 und 7.1 näher beleuchtet werden.
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verhandeln über einen Zeitraum von über fünfzig Jahren mehr oder weniger explizit immer wieder sowohl die Frage nach den Grenzen des Ästhetischen als auch diejenige nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Ästhetik und Bildung – und dies mit zum Teil überaus kontrovers diskutierten Ergebnissen. So geht es Hentig, um den Titel seines wohl wirkmächtigsten Textes zum Thema zu zitieren, in seinen Bemühungen ganz prinzipiell um das „Leben mit der Aisthesis“ 61, darum also, als Pädagoge „darüber nachzudenken, wie die öffentliche Schule mit der aisthesis umgeht, mit der Wahrnehmung und Gestaltung der Phänomene – zumal mit der machtvollsten Wahrnehmung: der Schönheit, und der wirkungsreichsten Gestaltung: der Kunst – und mit den ihnen unterworfenen Tatbeständen, den ihnen innewohnenden Chancen und Gefahren“ 62. Hartmut von Hentig hat sich in dieser Hinsicht nie als Fachdidaktiker ästhetischer Bildung und Erziehung verstanden, sondern als Allgemeinpädagoge das Ästhetische immer in ein Projekt der allgemeinen Bildung, in ein Konzept der Schule als „Lebens- und Erfahrungsraum“ 63 zu integrie ren versucht, und das nicht allein in Form theoretischer Bemühungen, sondern ganz unmittelbar auch in der schulischen Praxis. So gründet Hentigs langjähriger – und erst mit seiner Verstrickung in den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule grundsätzlich in Frage gestellter – Ruf als „Nestor der deutschen Pädagogik“ 64 nicht nur auf seiner Arbeit als Erziehungswissenschaftler, sondern insbesondere auch auf der Gründung und langjährigen Leitung der Bielefelder Schulprojekte Laborschule und Oberstufen-Kolleg. Der hentigsche Beitrag zur ästhetischen Erziehung beschränkt sich in diesem Sinne nicht allein auf den Bereich der Bildungstheorie, sondern berührt immer auch die schulpraktische Umsetzung, weshalb eine systematische Analyse der hentigschen Arbeiten zum Thema nicht nur der aktuellen Theoriediskussion, sondern auf lange Sicht gesehen auch der ganz konkreten schulischen Praxis im Umgang mit dem Ästhetischen wichtige Impulse liefern könnte. Doch nicht nur in systematischer Perspektive erscheint das hentigsche Konzept ästhetischer Erziehung als geeigneter Gegenstand einer entsprechenden Analyse zu den skizzierten Grundproblemen ästhetischer Bildung und Erziehung: Die Genese und Rezeption dieses Konzepts bietet darüber hinaus auch in historiographischer Perspektive einen überaus geeigneten Ausgangspunkt für eine detailliertere Auseinandersetzung mit der Begriffs- und Ideengeschichte ästhetischer Bildung und Erziehung. So gilt Hentig nicht nur als derjenige, der Ende der 1960er Jahre den Begriff der ästhetischen Erziehung in den allgemeinpädagogischen und fachdidaktischen Diskurs einführte, sondern darüber hinaus auch als zentraler Motor und Initiator einer radikalen Ausweitung, Neuorientierung und Politisierung des gesamten Feldes
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Hentig 1969a, S. 29 Hentig 1985e, S. 11 (Hervorhebung im Original) Vgl. bspw. Hentig 2003a, S. 214 ff. Kahl 2007, S. 58
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ästhetischer Erziehung in den 1970er Jahren.65 Besonders zwei Veröffentlichungen Hentigs – der 1967 erschienene Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ 66 sowie der 1969 im Rahmen eines Gutachtens für den Deutschen Bildungsrat veröffentlichte Beitrag „Das Leben mit der Aisthesis“ 67 – konnten bis in die 1980er Jahre hinein eine entscheidende Wiederbelebung der „Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten ästhetischer Erziehung“ bewirken 68: weg von einer als ideologisch empfundenen „Kunsttempel-Feierlichkeit“ 69 hin zu einer allgemeinen „Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis – in der Wahrnehmung“ 70. Ganz in diesem Sinne resümiert denn auch Hans-Günther Richter 2003 in seiner Geschichte der ästhetischen Erziehung: „Könnte man die Wirkungsgeschichte dieser Auffassungen H. v. Hentigs auch nur annähernd genau beschreiben, so hätte man damit einen wesentlichen Teil der Bedeutungsgeschichte des Begriffes ‚Ästhetische Erziehung‘ in den (wilden) siebziger Jahren dokumentiert.“ 71 Obwohl Hentig insofern eine überaus zentrale Stellung in der Geschichte der ästhetischen Bildung und Erziehung einnimmt, steht eine systematische wie historiographische Analyse seines Beitrags zum Thema – wie im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit noch genauer zu zeigen sein wird 72 – nach wie vor aus. So gibt es zwar einige inhaltlich äußerst pointierte Auseinandersetzungen mit seiner gesamten Schul- und Bildungstheorie sowie deren Bedeutung für die Allgemeine Pädagogik 73, was den Bereich der ästhetischen Bildung und Erziehung angeht, findet sich jedoch keine einzige auch nur annähernd ausführliche Arbeit zum Thema 74. Die vorliegende Arbeit verfolgt in dieser Hinsicht zwei eng miteinander verknüpfte Zielsetzungen: Einerseits geht es in ihr darum, die durch Hartmut von Hentig vorgenommene Bearbeitung der skizzierten Grundprobleme ästhetischer Bildung und Erziehung nachzuzeichnen und in ihrer Bedeutung für die Begriffs- und Ideengeschichte ästhetischer Bildung und Erziehung seit Beginn der 1960er Jahre zu analysieren; andererseits darum, durch eine systematische Analyse und kritische Revision der hentigschen Veröffentlichungen zum Thema die aktuelle Diskussion 65 Vgl. hierzu für das Gesamtfeld ästhetischer Erziehung Richter 2003, S. 305 ff.; Engel 2004, S. 24 ff. und Krieger 2004, S. 96; für den Bereich der Kunstpädagogik vgl. Seufert 1993, S. 74 ff. und Franke 2007, S. 111 f.; für den Bereich der Musikpädagogik vgl. Brenk 2003, S. 371; Gruhn 2003, S. 341 f. und Schatt 2007, S. 102 ff. 66 Hentig 1967c 67 Hentig 1969a, S. 29 ff. 68 Richter 2003, S. 305 69 Hentig 1985e, S. 18 70 Hentig 1967c, S. 283 (Hervorhebung im Original) 71 Richter 2003, S. 307 72 Siehe unten, Kapitel 4. 73 Siehe bspw. Liebau 1999; Kutting 2004 oder Oelkers 2009. 74 Am ausführlichsten gehen noch Jungbluth 1987, S. 7 ff.; Richter 2003, S. 305 ff. sowie Lowinski 2007, S. 38 ff. vor.
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im Spannungsfeld von Kunst, Ästhetik, Bildung und Erziehung historisch kontextualisiert um neue Impulse zu bereichern. Im Zuge einer solchermaßen zweifachen – also sowohl historiographisch wie systematisch ausgerichteten – Bestandsaufnahme des Themenkomplexes „Hartmut von Hentig und die ästhetische Erziehung“ sollen dabei insbesondere zwei Fragen bearbeitet werden: 1. Wie bestimmt Hentig die Grenzen des Ästhetischen und damit auch diejenigen der ästhetischen Bildung und Erziehung? Wie also lässt sich sein Verständnis ästhetischer Erziehung als „Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis – in der Wahrnehmung“ 75 mit der Forderung verbinden, „die Kunst als Maßstab der Ästhetischen Erziehung“ 76 zu begreifen? 2. Wie wird bei Hentig das Ästhetische in ein Projekt der allgemeinen Bildung integriert? Wie also bestimmt Hentig das grundsätzliche Verhältnis von Ästhetik und Bildung und damit „die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen“ 77? Diesen Zielsetzungen entsprechend ist das Vorgehen im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit wie folgt: Im zweiten Kapitel („Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft“) wird zunächst nach der allgemeinen, sich auch auf den Bereich der ästhetischen Bildung und Erziehung auswirkenden Wahrnehmung Hentigs in Öffentlichkeit und Erziehungswissenschaft gefragt. Dabei steht insbesondere die seit März 2010 breit diskutierte Verstrickung Hentigs in den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule Ober-Hambach im Mittelpunkt der Analyse und damit die Frage, inwiefern es heute überhaupt noch sinnvoll erscheint, sich in erziehungswissenschaftlicher Perspektive mit Person und Werk Hentigs auseinanderzusetzen. Im dritten Kapitel („Hartmut von Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung“) wird sodann unter Bezugnahme auf die im Anhang abgedruckte ausführliche Biblio graphie der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung zunächst ein erster kursorischer Überblick über die zeitliche, inhaltliche und formale Ausgestaltung der betreffenden Veröffentlichungen Hentigs gegeben, bevor im darauffolgenden vierten Kapitel („Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte“) schließlich die damit verbundene Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung genauer untersucht wird: von dessen ersten systematischen Überlegungen zum Thema gegen Ende der 1950er Jahre über die Hochphase der ästhetischen Erziehung Mitte der 1970er Jahre bis in die Gegenwart. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung wird daraufhin im fünften und sechsten Kapitel in systematischer Perspektive nach Hentigs Bearbeitung der beiden genannten Grundprobleme ästhetischer Bildung und Erziehung gefragt: also sowohl nach dessen Bestimmung der „Grenzen des Ästhetischen“ (Kapitel 5) als auch nach 75 Hentig 1967c, S. 283 (Hervorhebung im Original) 76 Hentig 1981b, S. 27 77 Mollenhauer 1996, S. 27
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dessen Auseinandersetzung mit dem grundsätzlichen Verhältnis von „Ästhetik und Bildung“ (Kapitel 6). Zu Beginn beider Kapitel wird dabei zunächst jeweils die betreffende „Problemstellung“ 78 unter Bezugnahme insbesondere auf Dietrich et al. noch einmal genauer umrissen sowie ein kurzer Überblick über die aktuelle Diskussion zum Thema gegeben, bevor im Anschluss daran schließlich eine hermeneutische Analyse der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung unter besonderer Berücksichtigung derer zuvor herausgearbeiteten Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte vorgenommen wird. Ist dies geschehen, soll im siebten Kapitel („Gesamtfazit“) abschließend der Versuch unternommen werden, die in den vorangegangenen Kapiteln gewonnenen Ergebnisse zusammenzuführen, auf den aktuellen Diskurs zum Thema anzuwenden sowie auf ihre Bedeutung für die weitergehende historiographische, systematische wie auch empirische Auseinandersetzung mit Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung hin zu analysieren. Im Mittelpunkt des gesamten Vorgehens wird dabei stets die Ebene der bildungstheoretischen Reflexion stehen, während diejenige der schulischen Praxis wenn überhaupt nur am Rande berührt wird. Diese Schwerpunktsetzung erklärt sich einerseits aus der grundsätzlichen bildungstheoretischen Anlage der vorliegenden Arbeit, andererseits aber auch aus dem Umstand, dass sich Hentig – wie im Folgenden noch genauer zu zeigen sein wird – zumindest publizistisch nur selten konkret mit der schulpraktischen Umsetzung seiner diversen Überlegungen zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung befasst hat. Dieser Umstand gilt nicht zuletzt auch für die beiden Bielefelder Schulprojekte, die Laborschule und das Oberstufen-Kolleg: Zwar nehmen diese unbestritten eine zentrale Stellung im Leben und Werk Hentigs ein, in die konkrete Ausgestaltung des dortigen Umgangs mit Gegenständen und Fragen der Kunst, der Ästhetik sowie der Aisthesis war Hentig selbst allerdings nur am Rande involviert 79. Seine wenigen vorliegenden Arbeiten zum Thema 80 werden in d iesem Sinne im weiteren Verlauf dieser Untersuchung zwar durchaus berücksichtigt, eine darüber hinausgehende, systematische Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis ästhetischer Bildung und Erziehung an den beiden Bielefelder Schulprojekten kann an dieser Stelle allerdings nicht geleistet werden – wenngleich eine solche (insbesondere im Abgleich mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit) durchaus reizvoll erschiene. 78 Dietrich et al. 2012, S. 61 79 So wurden nicht nur die entsprechenden Rahmencurricula zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung von anderen Autorinnen und Autoren entwickelt und publiziert (siehe insbesondere Haebler 1974; Below 1974; Nykrin 1974; Krieger 1974; Stroh 1975; Krieger & Stroh 1975; Nykrin & Völker 1977), dasselbe gilt auch für die konkrete Ausgestaltung der diesbezüglichen Praxis im Anschluss an die Eröffnung der beiden Schulprojekte im September 1974 – und erst recht für die mittlerweile knapp dreißig Jahre umfassende Zeit seit Hentigs Emeritierung im Herbst 1987 (siehe hierzu genauer Below et al. 1977 und Höhmann 2006). 80 Siehe insbesondere Hentig 1969c, S. 329 f.; Hentig 1977b; Hentig et al. 1978; Hentig 1980b, S. 307 ff.; Hentig o. J. [1987].
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Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft
Hartmut von Hentig hat sich zwar immer wieder mit Problemen und Fragen ästhetischer Bildung und Erziehung auseinandergesetzt, in erster Linie jedoch ist er hervorgetreten als Allgemeinpädagoge und „pädagogischer Intellektueller“ 81, der sich, wie Dietrich Benner es formuliert, stets „in drei ‚Rollen‘“ 82 präsentierte: „als praktizierender Pädagoge, als nach- und vorausdenkender Theoretiker und als zu pädagogischen Fragen Stellung nehmender Bürger“ 83 – allesamt Rollen, die „kaum ein anderer aus der ‚Zunft‘ mit ähnlicher Intensität und öffentlicher Aufmerksamkeit wahrgenommen und sich zu eigen gemacht hat“ 84. Wer die Bedeutung Hentigs für Geschichte und Gegenwart ästhetischer Bildung und Erziehung besser einordnen und verstehen möchte, muss deshalb zunächst dessen allgemeine Wahrnehmung als Erziehungswissenschaftler und öffentlicher Pädagoge genauer betrachten. Dabei müssen insbesondere auch jene Entwicklungen mit in den Blick genommen werden, die im Frühjahr 2010 unter dem Stichwort „Odenwaldschulskandal“ 85 sowohl die erziehungswissenschaftliche als auch die öffentliche Wahrnehmung und Reputation Hentigs nachhaltig verändern sollten. Die Tragweite dieser Veränderung lässt sich dabei bereits im März 2010 in einem Artikel Katja Irles für die Frankfurter Rundschau erahnen, wenn diese Hentig unter dem Titel „Demontage eines Denkmals“ wie folgt einführt: „Das Wort Denkmal kommt einem nicht in den Sinn, wenn man den alten Mann vor sich sieht. […] Hartmut von Hentig, der in d iesem Jahr 85 Jahre alt wird, wirkte beim letzten Zusammentreffen vor drei Jahren dünn und zerbrechlich. So als brauche es nicht viel, um so einen vom Sockel zu stoßen. Die eigene Zunft hat ihn dorthin gestellt. Unter den modernen Bildungsreformern gibt es wenige seines Formats. Doch jetzt wankt das Denkmal. Es demontiert sich selbst. Und seine Anhänger schauen sprachlos zu.“ 86
Über Hentig zu sprechen bedeutet in d iesem Sinne und seit den im Folgenden noch genauer zu skizzierenden Ereignissen um die Odenwaldschule immer zweierlei: sowohl 81 Tenorth 2008, S. 710 82 Benner 1988, S. 131 83 Ebenda 84 Ebenda 85 Die Wendung „Odenwaldschulskandal“ wird im Folgenden als Kurzform verwendet zur Bezeichnung der 2010 einsetzenden öffentlichen Diskussion um Fälle sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen an der Odenwaldschule Ober-Hambach. 86 Irle 2010, S. 5
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Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft
vom Denkmal Hentig zu sprechen, als auch von dessen (Selbst-)Demontage. Mit anderen Worten: Um jene durch den Odenwaldschulskandal ausgelöste Auseinandersetzung mit der Person Hartmut von Hentig und dessen Werk besser verstehen und einordnen zu können, muss zunächst die vorherige Rezeption Hentigs in Erziehungswissenschaft und allgemeiner Öffentlichkeit genauer in den Blick genommen werden. Im Folgenden soll deshalb zunächst Hentigs Rolle als Erziehungswissenschaftler und öffentlicher Pädagoge bis zum Frühjahr 2010 kurz skizziert werden (Kapitel 2.1), um anschließend die jüngere Entwicklung um dessen Person und Werk genauer nachzeichnen und in ihrer Bedeutung für den weiteren Verlauf dieser Arbeit diskutieren zu können (Kapitel 2.2).87
2.1 Klassiker und Außenseiter: Hartmut von Hentig im Frühjahr 2010 Als Hartmut von Hentig im Januar 2010 in Stuttgart unter dem Titel „Das Ethos der Erziehung. Was ist in ihr elementar?“ seinen laut offizieller Einladung „letzten pädagogischen Vortrag“ hält 88, berichtet Tanjev Schultz wenige Tage später in der
87 Da die inhaltliche Arbeit an der vorliegenden Dissertation bereits im Dezember 2015 weitest gehend beendet wurde, werden in den folgenden beiden Kapiteln – genauso wie im Rest der Arbeit – lediglich solche Texte berücksichtigt, die zu diesem Zeitpunkt bereits publiziert worden waren. Das bedeutet zugleich, dass – wie im Vorwort bereits erläutert – weder Jürgen Oelkers’ im Februar 2016 erschienene Studie Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die „Karriere“ des Gerold Becker (Oelkers 2016) noch Hartmut von Hentigs im Juni 2016 als dritter Teil seiner Autobiographie veröffentlichter Band Noch immer Mein Leben. Erinnerungen und Kommentare aus den Jahren 2005 bis 2015 (Hentig 2016) berücksichtigt sind. 88 Vgl. die entsprechende Vortragsankündigung in: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg 2009. Die gemeinte Veranstaltung findet am 26. Januar 2010 im Neuen Schloss in Stuttgart statt. Während der dort gehaltene Vortrag bereits im Vorjahr in leicht abgewandelter Form und unter demselben Titel in der Zeitschrift für Pädagogik veröffentlicht worden war (Hentig 2009a), erscheint eine wortgetreue Abschrift erst einige Monate später unter dem Titel „Die Elemente der Erziehung“ in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik (Hentig 2010c). Die zitierte Ankündigung Hentigs, hierbei handele es sich um seinen „letzten pädagogischen Vortrag“, muss dabei als weiterer Schritt einer sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren abzeichnenden Verabschiedung Hentigs aus dem pädagogischen Diskurs verstanden werden. So schreibt er in seinem 2006 veröffentlichten Buch Bewährung: „In meinem 81. Lebensjahr stehend, an der Praxis der Pädagogik seit langem nicht mehr beteiligt, abgeneigt, weiter an der sich wandelnden oder wiederholenden bildungstheoretischen und bildungspolitischen Diskussion teilzunehmen, habe ich beschlossen, mich von dieser mit der Darstellung von zwei Aufgaben zu verabschieden, denen ich in meinem Berufsleben nicht gerecht geworden bin.“ (Hentig 2006, S. 14) Dies ist eine Ankündigung, die er nicht nur an anderer Stelle noch einmal bekräftigt (vgl. Hentig 2007a, S. 108
Klassiker und Außenseiter: Hartmut von Hentig im Frühjahr 2010
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S üddeutschen Zeitung rückblickend von einer Veranstaltung, die auf ihn „fast wie eine pädagogische Messe“ 89 gewirkt habe: „Der Saal des neuen Schlosses war voll besetzt, und dem Gastgeber, Baden-Württembergs Kultusminister Helmut Rau ( CDU ), war der Stolz anzumerken, einen ‚epochalen Pädagogen‘ begrüßen zu dürfen. Am Ende erhoben sich die 400 Zuhörer samt Minister von den Stühlen, um einem Mann zu huldigen, der mit seiner Fliege, seinem weißen Haar und seiner feinen Stimme gleichermaßen zart und großbürgerlich wirkt – der aber ein radikaler Aufklärer ist, ein unerbittlicher Irritator, der sich an den Verhältnissen reibt.“ 90
Schultz gelingt es hier, ein treffendes Bild von der öffentlichen „Huldigung“ H entigs zu zeichnen, gilt Hentig doch zu diesem Zeitpunkt – und das trotz aller in seinem Werk und seiner Person angelegten „Irritationen“ – bereits seit etlichen Jahren als von Politik und Öffentlichkeit gefeierter „epochaler Pädagoge“, als „Nestor der deutschen Pädagogik“ 91. Dies ist ein Motiv, das die jeweiligen Kurzcharakterisierungen in Zeitungen und Zeitschriften in immer neuen Formulierungen variieren: Da ist die Rede vom „Altmeister der Pädagogik“ 92, vom „Doyen der Bildung“ 93 und vom „Grandseigneur der Reformpädagogik“ 94. Da wird Hentig eingeführt als „der bedeutendste deutsche Pädagoge der Nachkriegszeit“ 95, als „großer Mentor aller pädagogischen Erneuerung“ 96 oder gar als „Helmut Schmidt unter den deutschen Pädagogen“ 97. Nicht selten kommen dabei, wie bereits in Tanjev Schultz’ Rede von der „pädagogischen sowie Hentig 2009c, S. 552), sondern in deren Zusammenhang auch die Publikation seiner zweibändigen Autobiografie Mein Leben – bedacht und bejaht im Jahre 2007 (Hentig 2007e und Hentig 2007 f; im weiteren Verlauf dieser Arbeit zitiert nach der überarbeiteten, einbändigen Taschenbuchausgabe von 2009 (Hentig 2009c)) sowie die 2009 von ihm angekündigte Veröffentlichung einer Bibliographie „meiner sämtlichen Publikationen von 1949 bis 2009“ (ebenda, S. 9; im Folgejahr erschienen als Hollender & Hollender 2010) gesehen werden muss. Im Frühjahr 2010, so ließe sich demnach schließen, möchte sich Hartmut von Hentig also tatsächlich mit einem letzten Vortrag zur Frage „Was ist elementar in der Erziehung?“ aus dem öffentlichen Pädagogikdiskurs zurückziehen – ein Vorhaben, das, wie weiter unten noch genauer zu zeigen sein wird, grandios scheitern sollte. 89 Schultz 2010a, S. 16 90 Ebenda 91 Vgl. etwa Ostlender 1997, S. 17; Nadolny 1999, S. 17; Kutting 2004, S. 11 oder Goddar 2006, S. 38. 92 Fehrmann 2000, S. V2/24 93 Kahl 1999, S. 17 94 Irle 2007, S. 13 95 Bölsche 1996 96 Kahl 2006, S. 18 97 Venutti 2009, S. 8
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Messe“ 98, auch religiöse Motive zur Anwendung: Da berichtet Ines Alwardt im September 2009 (wiederum in der Süddeutschen Zeitung) von einer „fast heiligen Stille“ unter der hentigschen „Fangemeinde“, während dieser „wieder und wieder die ‚Entschulung‘ predigt“ 99, da ist in der taz vom „Bildungsguru“ 100 Hentig die Rede und im Spiegel gar vom gleichnamigen „Pädagogikpapst“ 101. In dieser Hinsicht erscheint es nur folgerichtig, wenn Eckard Liebau 1998 anlässlich der Verleihung des Ernst- Christian-Trapp-Preises an Hartmut von Hentig dessen Verhältnis zur Öffentlichkeit wie folgt zusammenfasst: „Wenn es in der deutschen Öffentlichkeit um Pädagogik geht, ist Hartmut von Hentig die erste Adresse: in der Presse, im Rundfunk, im Fernsehen, in den Akademien, auf dem Kirchentag usw. Expertenbefragungen, Streitgespräche, Podiumsdiskussionen, Reden und immer wieder Vorträge; Hartmut von Hentig ist selbst ein – schriftliches und mündliches – Medien-Ereignis. Er bietet nicht nur eine mediengerechte Erscheinung; er zeigt sich auch als brillanter Sprecher in Live-Situationen: Kein Wunder also, wenn die Öffentlichkeit ihn hört und hören will, ihn, der seinerseits aus seinem Verständnis von Pädagogik als öffentlicher Aufgabe und aus seinem Selbstverständnis als aktiver und eingreifender Bürger der Demokratie immer die Öffentlichkeit gesucht hat.“ 102
Während diese Rolle Hentigs als wichtigster öffentlicher Pädagoge der Jahrtausendwende allerdings bis zum Frühjahr 2010 weitestgehend unumstritten ist 103, gestaltet sich dessen Verhältnis zur universitären Erziehungswissenschaft schon in frühen Phasen seines Wirkens um einiges komplizierter. So resümiert Jürgen Oelkers bereits 1985, Hentig gehöre gemeinsam mit Martin Wagenschein zu den „Außenseitern der Zunft“ 104: Sie bezahlten „ihren öffentlichen Erfolg mit einer splendid isolation im Fach, zumindest, wie Wagenschein schreibt, in der Gymnasialpädagogik und, worauf Hentig verweist, in der theoretischen Erziehungswissenschaft“.105 Wie weit diese „splendid isolation“ Hentigs in der Erziehungswissenschaft zeitlich zurückreicht, zeigt ein Aufsatz von Werner Ross „Zu den Schriften Hartmut von Hentigs“ aus dem Jahr 1970. Hentig, so heißt es dort, sei „genialisch in Gedankenklarheit und Tatendrang“, weshalb es „in der Natur der Sache“ liege, dass er „umstritten“ sei 106: 98 Schultz 2010a, S. 16 99 Alwardt 2009, S. R4 100 Füller 2007, S. 18 101 Bölsche 2008, S. 40 102 Liebau 1999, S. 43 103 Siehe hierzu auch Kleinespel & Tillmann 1998, S. 728; Flitner 2005, S. 81 ff. oder Brumlik 2008, S. 47. 104 Oelkers 1985, S. 544 105 Ebenda (Hervorhebung im Original) 106 Ross 1970, S. 332
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„Übelgenommen hat man ihm […] die erstaunliche Vielseitigkeit, die Vermischung von wissenschaftlicher Pädagogik, praktischer Pädagogik, Publizistik. Da schreibt einer über die innere Situation der Bundeswehr und über Freizeitgestaltung, entwickelt w eitgespannte Theorien und philosophische Gesamtsysteme, interpretiert mal den Ödipus-Mythos und mal Goldings ‚Herr der Fliegen‘, und packt in das gleiche Buch 200 philosophiegetränkte Seiten über ‚Humanismus als Methode‘ und 300 weitere schulmeisterlich genaue zur Didaktik des Lateinunterrichts. Das riecht nach dem, was die seriöse, die fachstolze, grenzstrenge Wissenschaft seit langem für die tödlichste der Todsünden hält: nach Feuilletonismus.“ 107
Dieses Verhältnis Hentigs zur „grenzstrengen Wissenschaft“ hat sich dabei in den folgenden vierzig Jahren kaum geändert. So bleibt Hentig, wie Heinz-Elmar Tenorth es 2008 in einer Besprechung der hentigschen Autobiografie Mein Leben – bedacht und bejaht formuliert, ein „Fremder“ in der „Zunft der Universitätspädagogen“ 108: „Er findet zwar seinen Platz in der Disziplin, ist präsent auf den Kongressen, aber noch in seiner Abschiedsrede in Bielefeld bekennt er, nicht zu wissen, was Erziehungswissenschaft eigentlich sei; sein definierendes Lebensthema war sie jedenfalls nicht.“ 109 Am augenfälligsten wird dieses schwierige Verhältnis Hentigs zur Zunft der Erziehungswissenschaft dabei anlässlich der Verleihung des Ernst-Christian-Trapp-Preises im Jahre 1998. Diesen Preis, den die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DG fE) alle zwei Jahre für „innovative und unkonventionelle wissenschaftliche Leistungen im Fach Erziehungswissenschaft“ vergibt 110, erhält Hartmut von Hentig am 18. März 1998 auf dem damaligen DG fE-Kongress in Hamburg. Nach einer Laudatio von Eckard Liebau, in der dieser Hentig ausdrücklich sowohl für dessen öffentliches wie auch für dessen erziehungswissenschaftliches Wirken lobt 111, beginnt Hentig seinen anschließenden Eröffnungsvortrag zum Thema „Jugend im Medienzeitalter“ mit einer Einleitung, die sein schwieriges Verhältnis zur Erziehungswissenschaft in solch verdichteter Form enthält, dass sie an dieser Stelle nur leicht gekürzt wiedergegeben sei: „Ich bin gebeten worden, […] in das Thema des Kongresses ‚Jugend im Medienzeitalter‘ einzuführen“ 112, beginnt Hentig nach einer kurzen Begrüßung der Anwesenden seinen Vortrag, um im Anschluss sogleich zu fragen: „Kann ich das?“ 113 Die Antwort auf diese Frage gibt er schließlich selbst: 107 Ebenda, S. 333 108 Tenorth 2008, S. 709 109 Ebenda 110 Vgl. http://www.dgfe.de/wir-ueber-uns/ernst-christian-trapp-preis.html, letzter Zugriff: 01. 11. 2017. 111 Vgl. Liebau 1999, S. 43 ff. 112 Hentig 1999c, S. 17 113 Ebenda
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„Es wird niemand unter den hier Versammelten aus dem hier gegebenen Anlaß eine wissen schaftliche Abhandlung von mir zu d iesem Gegenstand erwarten. Ich bin zeitlebens ein Praktiker der Pädagogik gewesen, habe meine in der Schule gemachte Erfahrung […] dem Nachdenken unterworfen und kam mit diesem wiederum besser zurecht, wenn ich es einigermaßen systematisch betrieb, wobei dann eine Art Th eorie entstand. Aber als ‚Wissenschaft‘ mochte ich das nicht bezeichnen, weil ich einen strengen Begriff von ihr habe. […] Ich habe mich um die Hervorbringungen meiner Disziplin nicht methodisch und regelmäßig gekümmert; ich habe eine empirische Absicherung meiner Sätze und Thesen nicht angestrebt; ich bin der Terminologie der Zunft nicht nur nicht gefolgt, ich habe sie bewusst gemieden […]. Was eine Analyse verlangt oder verspricht – ein Vortrag zum Beispiel über Jugend im Medienzeitalter –, wird bei mir in der Beschreibung des Gegenstandes aus einer bestimmten, ebenfalls zu beschreibenden Position heraus bestehen. Sie wird den versammelten Wissenschaftlern allenfalls dadurch nützlich oder interessant erscheinen, daß sie sie bei der Wahl ihrer Forschungsfragen anregt oder beunruhigt, nicht dadurch, daß sie Antworten auf diese Fragen gibt. Praktiker freilich könnten schon aus dem, was ich beschreibe, und daraus, wie ich es bewerte, Gewinn ziehen: Sie haben ja das entsprechende Korrektiv in der eigenen Erfahrung.“ 114
Hier wird in vollem Umfang erkennbar, in welchem Ausmaß sich Hentig nicht nur von seiner eigenen Zunft der Erziehungswissenschaft, sondern sogleich vom gesamten Wissenschaftsbetrieb als solchem distanziert. Er gibt nicht nur an, sich nie regelmäßig um die „Hervorbringungen“ seiner Disziplin gekümmert zu haben, er nimmt sich und seine Arbeit darüber hinaus selbst von jeglichem Anspruch der Wissenschaftlichkeit aus: Nicht für die Wissenschaft, sondern für die Praxis habe er geschrieben und sei dabei der „Terminologie der Zunft nicht nur nicht gefolgt“, sondern habe diese „bewusst gemieden“. Dass eine solch harsche Abgrenzung des „praktischen Pädagogen“ von der eigenen Disziplin der Erziehungswissenschaft dabei weit mehr als Koketterie ist, zeigt ein weiterer Beitrag Hentigs in einer 1984 erschienenen Darstellung der eigenen Pädagogik für eine von Herbert Gudjons, Rita Teske und Rainer Winkel herausgegebene Veröffentlichungsreihe zum Thema „Erziehungswissenschaftliche Theorien“ 115: „Wenn einer, dessen Berufsbezeichnung Professor der Pädagogik lautet, sich solchermaßen aus der etablierten Erziehungswissenschaft ausnimmt, wird man das für eine Ausflucht oder Fahrlässigkeit oder für Hochmut halten“ 116, schreibt Hentig hier und fährt fort: „In Wahrheit drückt 114 Ebenda 115 Im Jahr 1984 veröffentlicht die Zeitschrift Westermanns Pädagogische Beiträge eine Reihe von Beiträgen zum Thema „Erziehungswissenschaftliche Theorien“, im Rahmen derer insgesamt sieben Erziehungswissenschaftler „ihre“ Theorien vorstellen. Hartmut von Hentigs Beitrag erscheint unter dem Titel „Meine Pädagogik“ in Heft 6/1984 und wird hier zitiert nach der erweiterten Fassung des 1986 herausgegebenen Sammelbandes (Hentig 1986a). 116 Ebenda, S. 67
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die Rang- und Reihenfolge meiner Tätigkeiten meine Theorie von deren richtigem Verhältnis aus. Erziehungswissenschaft ist der Pädagogik dienstbar; Pädagogik kann nicht in Erziehungswissenschaft aufgehen; eine Wissenschaft von der Erziehung hat eine wichtige, aber begrenzte Funktion.“ 117 Trotz dieses gebrochenen, von gegenseitiger Abgrenzung geprägten Verhältnisses zur universitären Erziehungswissenschaft spielt Hentig jedoch gerade auch innerhalb dieser eine zentrale Rolle. So verleiht die Universität Kassel im Frühjahr 2004 Hartmut von Hentig und Wolfgang Klafki gemeinsam die Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Erziehungswissenschaft/Humanwissenschaften mit der Begründung, bei diesen handele es sich um „zwei der renommiertesten – um nicht zu sagen die beiden renommiertesten – Erziehungswissenschaftler der Bundesrepublik Deutschland“ 118. Beide hätten den erziehungswissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte „maßgeblich geprägt“ 119, weshalb ihnen „entscheidende Grundlagen erziehungswissenschaftlichen Denkens, Forschens und Handelns“ zu verdanken seien 120. Zu Hentig heißt es darüber hinaus in einer Würdigung durch Rudolf Messner, dieser habe „mit seinem pädagogischen Gesamtwerk […] Beiträge zu einer erziehungswissenschaftlich relevanten Schulpädagogik und Schulentwicklung geleistet […], die – auch aus internationaler Sicht – als epochal zu bezeichnen“ 121 seien. Das schwierige Verhältnis Hentigs zur universitären Erziehungswissenschaft bleibt jedoch auch im Zuge der Verleihung dieser Ehrendoktorwürde Gegenstand der Auseinandersetzung. „Diese heutige Ehrung […] kommt von einem Fachbereich Erziehungswissenschaft – dem ersten in Deutschland, der sich aufgeschwungen hat zu dieser Tat, die längst fällig, aber offenbar nicht selbstverständlich ist“ 122, heißt es in Ludwig Hubers Laudatio, und weiter: „Er [der Fachbereich] beweist Mut, insofern er einen exzentrischen Erziehungswissenschaftler ehrt: exzentrisch zur scientific community, weil diese im Ganzen exzentrisch zu seinem Wirkungskreis steht, der praktischen Pädagogik und ihrer Reflexion. Der Kasseler 117 Ebenda. Dass eine s olche Einschätzung dabei von Seiten der Erziehungswissenschaft nicht nur auf Zustimmung stößt, kann denn auch kaum verwundern. So konstatiert etwa Heinz-Elmar Tenorth 1992 in einem Aufsatz „Über die Unaufhaltsamkeit der Pädagogik in der Moderne“, es seien „fast nur noch die Pädagogen selbst und gelegentlich einige emphatische Bildungspolitiker des linken und liberalen Lagers, die positiv von der Erziehung“ sprächen, und selbst diese sprächen „in der Regel schlecht von der Erziehungswissenschaft“ (Tenorth 1992, S. 130), um dann in einer Fußnote hinzuzufügen: „Das Phänomen gibt es freilich auch in der Disziplin selbst, z. B. bei H. v. Hentig, dem die Pädagogik lieb, die Erziehungswissenschaft ein Ärgernis ist.“ (Ebenda, S. 138) 118 Stübig 2005b, S. 7 119 Bachmair 2005, S. 13 120 Stübig 2005a, S. 21 121 Messner 2005, S. 97 122 Huber 2005, S. 28
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Fachbereich krönt, wissend, was er tut, gleichsam das schärfste Fragezeichen gegenüber der herrschenden universitären Erziehungswissenschaft […]. Es ist wie ein Dr. h. c. der Informatik an Weizenbaum oder der Chemie an Chargaff.“ 123
Auch Messner resümiert in seinem Würdigungsschreiben, Hentig habe „durch seine – in den letzten Jahren verstärkte – Wissenschaftskritik selbst beigetragen, ihn in der öffentlichen Wahrnehmung in zunehmender Distanz zum wissenschaftlichen Betrieb und damit auch zu dem sich immer stärker herausbildenden Mainstream seines Faches zu sehen“ 124. Es wäre jedoch falsch, so Messner, „im Lebenswerk Hentigs die pädagogischen und wissenschaftlichen Intentionen gegeneinander auszuspielen“ 125. Vielmehr sei dieses „genuin wissenschaftlich, weil in ihm Theorie und Erfahrung auf diffizile Weise zu einem wissenschaftsgeleiteten pädagogischen Reflexionszusammenhang verknüpft“ 126 seien. Inwiefern Hentig mit einer solchen Form „wissenschaftsgeleiteter“ Pädagogik dennoch auch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der vergangenen Jahrzehnte seine Spuren hinterlassen konnte, darüber gibt eine von Klaus-Peter Horn und Christian Ritzi 2001 unter dem Titel Klassiker und Außenseiter 127 veröffentlichte Studie zu den „‚pädagogisch wichtigsten Veröffentlichungen‘ des 20. Jahrhunderts“ 128 weiteren Aufschluss. Horn und Ritzi gehen in dieser Studie der Frage nach, „durch welche Bücher die heute tätigen Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler nachhaltig beeinflusst wurden“ 129, und baten zu d iesem Zweck sämtliche Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DG fE)130, in einem schriftlich auszufüllenden Fragebogen die Titel „von bis zu zehn zwischen 1900 und 1999 erschienenen Büchern“ anzugeben, „die Ihrer Ansicht nach herausragende Bedeutung für die Pädagogik hatten bzw. haben“ 131. Und auch wenn Hentig dabei mit keiner seiner Veröffentlichungen unter den zehn meistgenannten, noch einmal gesondert vorgestellten Büchern vertreten ist 132, lassen die Ergebnisse der Befragung dennoch 123 Ebenda (Hervorhebung im Original) 124 Messner 2005, S. 99 125 Ebenda 126 Ebenda, S. 100 127 Hier zitiert nach der 2., korrigierten Auflage (Horn & Ritzi 2003b). 128 Horn & Ritzi 2003a, S. 7 129 Ebenda, S. 10 130 Durch dieses Vorgehen konnte erreicht werden, dass „ca. 70 Prozent der Teilnehmer an der Befragung Universitätsangehörige aus dem Bereich Erziehungswissenschaft sind, darunter wiederum ca. 70 Prozent aktive bzw. emeritierte Professoren“ (ebenda). 131 Ebenda, S. 18 132 Die ersten Plätze belegen Siegfried Bernfeld mit Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (1), John Dewey mit Demokratie und Erziehung (2), Theodor Litt mit Führen und Wachsenlassen (3), Herman Nohl mit Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (4), Heinrich Roth mit Begabung und Lernen (5), Ellen Key mit Das Jahrhundert des Kindes (6), Paulo Freire
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einige Schlussfolgerungen über seine Stellung im Kanon der Erziehungswissenschaft zu: So stellt Hentig mit seinem 1996 erschienenen Band Bildung. Ein Essay nicht nur die jüngste der insgesamt 626 genannten Veröffentlichungen 133, er ist darüber hinaus mit insgesamt zehn Werken (nach Sigmund Freud und Jean Piaget) derjenige Autor mit der dritthöchsten Gesamtzahl an genannten Veröffentlichungen 134. Richtet man sich vor diesem Hintergrund nicht nach Nennungen pro Buch, sondern nach Gesamtnennungen pro Autorin oder Autor, so findet sich Hentig an 9. Stelle der meistgenannten Autorinnen und Autoren wieder (hinter Wolfgang Klafki, Siegfried Bernfeld, Theodor W. Adorno, Herman Nohl, Heinrich Roth, John Dewey, Theodor Litt und Klaus Mollenhauer, jedoch noch vor Ellen Key, Sigmund Freud, Jean Piaget, Herwig Blankertz, Paulo Freire und anderen).135 Hentig wird in diesem Sinne also, um mit Rainer Winkel zu sprechen, wohl zwar „kein Hauptwerk hinterlassen“ 136, er scheint jedoch mit einer Vielzahl verschiedener Veröffentlichungen immer wieder von neuem Einfluss auf den erziehungswissenschaftlichen Diskurs geübt zu haben. Diese Vermutung bestätigt sich auch durch einen Blick auf die zeitliche Verteilung der genannten Veröffentlichungen: So ist Hentig gemeinsam mit Klafki derjenige Autor, dessen gelisteten Werke sich mit insgesamt 29 Jahren auf den längsten Zeitraum verteilen – vom 1968 erschienenen Systemzwang und Selbstbestimmung bis hin zu Bildung. Ein Essay aus dem Jahr 1996.137 Hartmut von Hentig erweist sich insofern auch im Rahmen der von Horn und Ritzi durchgeführten Studie als einer der wichtigsten Protagonisten des erziehungswissenschaftlichen Diskurses der vergangenen 40 Jahre und kann deshalb neben Wolfgang Klafki ohne Zweifel als einer der wichtigsten und einflussreichsten deutschsprachigen Pädagogen und Erziehungswissenschaftler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten. Setzt man diesen Befund jedoch in Beziehung zu der skizzierten Außenseiterrolle Hentigs innerhalb der universitären Erziehungswissenschaft, so ergibt sich ein durchaus widersprüchliches Bild. Hentig wäre demnach, um den von Horn und Ritzi gewählten Titel ihrer Untersuchung aufzugreifen, tatsächlich beides zugleich: Klassiker und Außenseiter – einerseits in der Öffentlichkeit gefeiert
mit Pädagogik der Unterdrückten (7), Alexander S. Neill mit Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung (8), Max Horkheimer und Theodor W. Adorno mit Dialektik der Aufklärung und Anton Semjonowitsch Makarenko mit Ein pädagogisches Poem – Der Weg ins Leben. Hentig ist erst an 28. Stelle mit Bildung. Ein Essay vertreten. (Vgl. ebenda, S. 19 f.) 133 Vgl. Horn 2003, S. 28. 134 Vgl. ebenda, S. 36. 135 Vgl. ebenda, S. 38. 136 Winkel 1981, S. 42 137 Vgl. Horn & Ritzi 2003a, S. 19 ff. Da Horn und Ritzi nur die ersten 100 der insgesamt 626 Veröffentlichungen namentlich nennen, kann diese Rechnung auch lediglich jene 100 erstgenannten Werke berücksichtigen. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass das angeführte Ergebnis unter Berücksichtigung sämtlicher Nennungen noch einmal anders ausfiele.
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und auch in der Erziehungswissenschaft viel gelesen und viel zitiert, andererseits als „Außenseiter der Zunft“ 138 mit dieser in einen ständigen Konflikt gegenseitiger Abgrenzung verstrickt. Diese Sonderrolle mag auch einer der Gründe dafür sein, dass das hentigsche Œuvre kaum je einer systematischen Analyse unterzogen worden ist. So resümiert Eckart Liebau 1998 in seiner Laudatio zur Verleihung des Ernst-Christian-Trapp- Preises, Bezug nehmend auf die kurz zuvor erschienene, sich auf knapp 40 Seiten mit Hentigs Wissenschafts- und Bildungstheorie auseinandersetzende Habilitationsschrift Schulpädagogik als Experiment von Karin Kleinespel 139, diese sei „gerade noch rechtzeitig zum Kongress erschienen“ und habe damit „dem für die Erziehungswissenschaft beschämenden Zustand ein Ende gemacht, daß Hartmut von Hentig zwar der in der allgemeinen, der bildungspolitischen und auch der schulischen Öffentlichkeit bekannteste, angesehenste und am meisten gelesene deutsche Pädagoge der Gegenwart“ sei, aber „gleichzeitig in der eigenen Zunft, der Erziehungswissenschaft, nur selten systematisch diskutiert worden“ sei 140. Zwar erscheinen neben jener Arbeit Kleinespels einige Zeit später eine längere Studie zur humanistischen Schul- und Bildungstheorie Hartmut von Hentigs in theologischer Sicht 141 von Dirk Kutting sowie ein ausführlicher Aufsatz von Jürgen Oelkers zur historiographischen Einordnung der Bildungstheorie Hentigs 142. Die Sekundärliteratur zum Thema gibt jedoch auch in den folgenden Jahren – und wie von Liebau bereits 1998 beklagt – „insgesamt […] wenig her“ 143. So vermutet Liebau denn auch, es seien eher andere „Kanäle“, auf denen die hentigschen Texte „in die pädagogischen und bildungspolitischen Diskurse“ einsickerten und dabei eine „subkutane, höchst effektive“ Wirkung erzielten 144: „Ohne daß ihre Herkunft genau zu bestimmen wäre, finden sie den Weg in das Alltagsbewußtsein und 138 Oelkers 1985, S. 544 139 Kleinespel 1998, S. 138 – 174. Zwar umfasst das betreffende Kapitel „Politik – Pädagogik – Wissenschaft. Schule als Polis (Hartmut von Hentig)“ insgesamt 60 Seiten, in großen Teilen dieses Kapitels beschäftigt sich Kleinespel jedoch mit Geschichte und Konzept der Laborschule Bielefeld. 140 Liebau 1999, S. 46 141 Kutting 2004 142 Oelkers 2009 143 Liebau 1999, S. 46. Zwar gibt es neben einer Vielzahl von Rezensionen (etwa Oelkers 1985, Weiland 2007 oder Kraul 2008) auch immer wieder Aufsätze, die sich mit Hartmut von Hentig und dessen Arbeiten beschäftigen, bei diesen handelt es sich jedoch zumeist um sehr allgemein gehaltene Überblicksdarstellungen, Würdigungen und Laudationes (vgl. etwa Hecker 1995 oder Flitner 2005). Ausführlichere, systematische Analysen und Diskussionen des hentigschen Werkes finden sich demgegenüber eher selten (neben den bereits angeführten Arbeiten von Kleinespel, Kutting und Oelkers wären hier Bodensieck 1972, Sasse 1999 und Groeben 2009 hervorzuheben). 144 Liebau 1999, S. 47
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zum Teil wohl auch in die Alltagspraxis.“ 145 In diesem Sinne, so Liebau weiter (und hier bezieht er sich auf eine Formulierung Hans-Paul Bahrdts), seien „ziemlich viele Hentig’sche Katzen und Kater unterwegs“ 146: „Man weiß oft nicht, wo sie sich herumgetrieben haben, bevor sie bei einem zu Gast sind. Danach machen sie sich wieder auf den Weg, und trotz aller ‚Zitatpflicht‘ hat man es nicht in der Hand, was aus ihnen wird.“ 147 Dieses Bild der „Hentig’sche[n] Katzen und Kater“ trifft einen entscheidenden Punkt: sind es doch insbesondere jene k urzen, „eingängigen Formulierungen“ 148 Hentigs, die dessen Status als „Nestor der Pädagogik“ begründen. So tauchen hentigsche Formulierungen wie „Die Schule neu denken“, „Erfahrung statt Belehrung“, „Die Menschen stärken, die Sachen klären“ oder „Schule als Lebens- und Erfahrungsraum“ nicht nur überall in den pädagogischen Diskussionen auf 149, sie haben es mitunter gar zu einem solchen Grad an „redensartliche[r] Ausbreitung“ 150 gebracht, dass sie als sprichwörtliche Formeln „längst zum alltäglichen Verständigungsbestand der Pädagogik“ 151 gehören. Diese Fähigkeit Hentigs, „komplexe Probleme […] in klärende Formeln zu fassen“ 152, mag einerseits seinen Erfolg sowie die häufige Zitation der von ihm geprägten „Merkformeln“ 153 erklären, andererseits aber verleitet sie zugleich dazu, bei einer recht oberflächlichen Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten stehenzubleiben. Das hentigsche Œuvre droht so schnell als „Reservoir zur Selbstbedienung“ 154 zu fungieren: als Ansammlung reformpädagogischer Merkformeln und Slogans, die nahezu beliebig in jeden Text zum Thema Bildung, Schule und Erziehung eingesetzt werden können.155 145 Ebenda 146 Ebenda, S. 48 147 Bahrdt 1968, S. 9 (zitiert nach Liebau 1999, S. 48). 148 Flitner 2005, S. 81 149 Vgl. Huber 2005, S. 26 f. 150 Ebenda, S. 27 151 Liebau 1999, S. 45 152 Messner 2005, S. 99 153 Liebau 1999, S. 45 154 Stroh 2002, S. 5 155 Ein besonders prägnantes Beispiel einer solch beliebigen Verwendung findet sich dabei in Bernhard Buebs 2006 erschienenen Pädagogik-Bestseller Das Lob der Disziplin. Dort heißt es: „Der große Unruhestifter in Sachen Bildung und Erziehung der Nachkriegszeit und Nestor pädagogischer Theorie und nachdenkender Praxis, Hartmut von Hentig, hat es verdient, schon wegen seiner genialen Formel zur Beschreibung der Tätigkeit aller Lehrer und Erzieher in den pädagogischen Olymp aufzusteigen. Seine Formel lautet: Die Menschen klären, die Sachen stärken. Darin fasst er die Botschaft zusammen, die Bildung und Erziehung ausmacht.“ (Bueb 2007, S. 164) Hier ist alles beisammen: die mit großer Geste vorgenommene Huldigung Hentigs als „Nestor“ der Pädagogik, die Reduzierung der hentigschen Pädagogik auf eine einzige „geniale Formel“, die Verwendung eben dieser Formel vollkommen losgelöst von deren ursprünglichem Sinnzusammenhang sowie eine entlarvend oberflächliche
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Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft
Vor d iesem Hintergrund nimmt es denn auch kaum wunder, wenn Hentig anlässlich seiner Kasseler Ehrenpromotion konstatiert: „Dem Autor des Buches ‚Die Schule neu denken‘ – vor über zehn Jahren geschrieben als ‚zornige, aber nicht eifernde Reaktion auf Hoyerswerda und Mölln‘ – wird man nicht verübeln, wenn er aus Anlass der heutigen Ehrung darüber nachdenkt, ob sie nicht einem Versager zuteil wird: Ein Erfolgsbuch, viel zitiert (auch heute von Ludwig Huber), dem niemand folgt, dessen einfache, im Titel genannte ‚proposition‘ übergangen, bestenfalls umgedeutet wird, verfehlt seine Chance und seinen Zweck.“ 156
So stellt sich die Wirkungsgeschichte Hentigs zwar nicht als eine Geschichte des „Versagens“ dar, seine Rolle in Öffentlichkeit und Erziehungswissenschaft ist jedoch bereits vor dem Skandalon Odenwaldschule geprägt durch eine ganze Reihe von Konflikten und Auseinandersetzungen, vor deren Hintergrund sich das Verhältnis Hentigs zur Öffentlichkeit und zur Erziehungswissenschaft im Frühjahr 2010 wie folgt zusammenfassen lässt: In der deutschen Öffentlichkeit gilt Hartmut von Hentig als einer der wichtigsten Pädagogen, wenn nicht sogar als der wichtigste Pädagoge der vorangegangenen Jahrzehnte. Im Bereich der Erziehungswissenschaft hingegen kommt ihm eine durchaus widersprüchliche Rolle zu: Einerseits gehört er zu jenen Protagonistinnen und Protagonisten, die den erziehungswissenschaftlichen Diskurs der Disziplin seit Mitte der 1960er Jahre entscheidend mitgeprägt haben, andererseits nimmt er immer wieder die Rolle eines „Außenseiters der Zunft“ 157 ein. Die sich hieraus ergebende Sonderrolle Hentigs wirkt sich dabei auf zweierlei Weise auf dessen Rezeption aus: zum einen findet auf erziehungswissenschaftlicher Ebene kaum eine systematische Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten statt, zum anderen sind einige seiner Formulierungen bereits dermaßen in den „alltäglichen Verständigungsbestand der Pädagogik“ 158 eingegangen, dass sie sich mehr und mehr sowohl von ihrem Urheber als auch von ihrem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang zu lösen beginnen – ein Vorgang, der die systematische Auseinandersetzung mit Werk und Person Hentigs noch einmal zusätzlich erschwert.
Auseinandersetzung mit der zitierten Textstelle. Denn: jene „geniale Formel“ lautet eben nicht „Die Menschen klären, die Sachen stärken“, sondern genau andersherum: „Die Menschen stärken, die Sachen klären“ (vgl. Hentig 1985b, S. 59 ff.). Dies ist ein Fehler, der – da auch in der zehnten Auflage der Hardcover-Ausgabe noch immer nicht korrigiert – zumindest als Hinweis darauf gelesen werden kann, dass es Bueb hier weniger um die zitierte inhaltliche Position gegangen zu sein scheint, als vielmehr um die prinzipielle Aufrufung der Zitatauto rität Hentig. 156 Hentig 2005b, S. 37 f. 157 Oelkers 1985, S. 544 158 Liebau 1999, S. 45
(Selbst-)Demontage eines Denkmals: Der Odenwaldschulskandal
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2.2 (Selbst-)Demontage eines Denkmals: Der Odenwaldschulskandal Keine zwei Monate nach Hentigs Stuttgarter Rede berichtet die Frankfurter Rundschau am 6. März 2010 unter dem Titel „Missbrauch an einer Elite-Schule“ von Missbrauchsvorwürfen gegen mehrere ehemalige Lehrer der Odenwaldschule Ober-Hambach. Im Aufmacher der Wochenendausgabe heißt es: „Ehemalige Schüler berichteten der FR [Frankfurter Rundschau] davon, wie sie von Lehrern regelmäßig durch das Streicheln der Genitalien geweckt, wie sie als ‚sexuelle Dienstleister‘ für ganze Wochen eingeteilt, wie sie zu Oralverkehr gezwungen wurden. Einige Pädagogen hätten ihren Gästen Schüler zum sexuellen Missbrauch überlassen. Lehrkräfte hätten Schutzbefohlene geschlagen, mit Drogen und Alkohol versorgt oder beim gemeinschaftlichen Missbrauch eines Mädchens nicht eingegriffen.“ 159
Diese Vorwürfe, deren Spätfolgen im Sommer 2015 schließlich zur dauerhaften Schließung der Odenwaldschule führen 160, erhalten eine zusätzliche Brisanz dadurch, dass sie – zumindest in Teilen – bereits zehn Jahre zuvor publik gemacht worden waren. So hatte die Frankfurter Rundschau im November 1999 unter der Überschrift „Der Lack ist ab“ 161 von mutmaßlichen Übergriffen auf Schüler der Odenwaldschule in den 1970er und 1980er Jahren berichtet: Von sexuellem Missbrauch in „inflationärem Umfang“ war dort die Rede gewesen, von „Herumgefuhrwerke“ an den Genitalien der Schüler und ständigem „Begrabschen“.162 Ein entsprechender Skandal war 1999 allerdings ausgeblieben, keine weitere überregionale Tageszeitung hatte den Bericht der Frankfurter Rundschau aufgegriffen, und auch die Odenwaldschule selbst war schon bald zum Tagesgeschäft übergegangen: „Fehleinschätzungen über die Dimension des Skandals, Desinteresse am Thema, die Unlust zu recherchieren – und gelegentlich das Bedürfnis, die Reformpädagogik gegen Angriffe zu schützen“, konstatiert DIE ZEIT später, seien damals wohl die Gründe gewesen, „das Thema Missbrauch nicht zu verfolgen.“ 163 Im März 2010 treffen die neuerlich erhobenen Vorwürfe allerdings auf eine für das Thema Missbrauch in erhöhtem Maße sensibilisierte Öffentlichkeit. Nachdem in den vorangehenden Wochen und Monaten bereits etliche Meldungen über Missbrauchsfälle an katholischen Schulen und Internaten die öffentliche Diskussion beherrscht hatten,
159 Schindler 2010b, S. 1 160 Siehe hierzu Mühl 2015, Breuning 2015b und Breuning 2015a. 161 Schindler 1999 162 Vgl. ebenda, S. 3. 163 Simon & Wileke 2010, S. 18. Zur mangelnden Aufarbeitung in den Jahren 1999 bis 2009 siehe darüber hinaus Füller 2011, S. 149 ff.; Dehmers 2011, S. 167 ff. und Kaufmann 2014, S. 86 f.
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Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft
gerät die Odenwaldschule als „Vorzeige-Anstalt der Reformpädagogik“ 164 schon bald in den Mittelpunkt des Medieninteresses.165 Im Fokus der Vorwürfe steht dabei – wie bereits 1999 – in erster Linie eine Person: Gerold Becker. Der 1936 geborene studierte Theologe war 1969 als Lehrer an die Odenwaldschule gekommen, leitete diese von 1972 bis 1985 und wird schon bald zur zentralen Figur des sich nun rasant entwickelnden Odenwaldschulskandals.166 So wird ihm nicht nur vorgeworfen, etliche Schüler zum Teil über Jahre hinweg sexuell missbraucht zu haben, in einem Gutachten heißt es darüber hinaus, er habe in seiner Funktion als Schulleiter den sexuellen Missbrauch von Kindern an der Odenwaldschule geradezu als „Kulturprogramm“ 167 etabliert.168 Becker äußert sich zu diesen Vorwürfen zunächst nicht, schreibt jedoch schließlich Ende März 2010 in einem Brief an die aktuelle Schulleiterin der Odenwaldschule, Margarita Kaufmann: „Schüler, die ich in den Jahren, in denen ich Mitarbeiter und Leiter der Odenwaldschule war (1969 – 1985), durch Annäherungsversuche oder Handlungen sexuell bedrängt oder verletzt habe, sollen wissen: Das bedaure ich zutiefst und bitte sie dafür um Entschuldigung.“169 164 Schindler 2010a, S. 2 165 Zur „Mediendebatte um den Missbrauch in pädagogischen und kirchlichen Institutionen des Jahres 2010“ siehe in allgemeiner Perspektive genauer Behnisch & Rose 2012. 166 Zur Person Gerold Beckers und dessen beruflichen Werdegang siehe genauer Schmoll 2010, S. 3; Füller 2011, S. 58 ff. und Brachmann 2015, S. 256 ff. 167 Schultz 2010b, S. 3 unter Bezugnahme auf ein Gutachten des „als Vermittler eingesetzte[n] Frankfurter Psychologen Walter Schwertl“ (ebenda). 168 Zum Umfang der gegen Becker und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Odenwaldschule erhobenen Vorwürfe siehe genauer Burgsmüller & Tilmann 2010; Kaufmann & Priebe 2010, S. 343; Füller 2011, S. 80 ff. und Burgsmüller & Tilmann 2014. Zwar war Becker im Zuge der schulinternen Aufarbeitung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe bereits 1999 von all seinen schulischen Ämtern zurückgetreten, da die ihm vorgeworfenen Taten zu d iesem Zeitpunkt jedoch bereits verjährt waren, kam es weder zu einer gerichtlichen Verhandlung der entsprechenden Vorwürfe noch zu einer rechtskräftigen Verurteilung Beckers, der sich so nach kurzer „Schamfrist“ (Schindler 2010a, S. 2) schon bald wieder als öffentlicher Redner, Publizist und Herausgeber betätigen konnte. (Siehe hierzu sowie zu einer ausführlichen Chronik des Odenwaldschulskandals genauer Schindler 2010c; Füller 2011, S. 146 ff. und Kaufmann 2014, S. 86 ff.) 169 Zitiert nach Simon & Wileke 2010, S. 18. Wenige Wochen später, am 7. Juli 2010, stirbt Becker an den Folgen eines Lungenemphysems (vgl. Schultz 2010e, S. 11), nur einen Tag bevor mit den Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen der Odenwaldschule diejenige Veranstaltung beginnt, die nicht nur den Anstoß zur Wiederaufnahme der skizzierten Missbrauchsvorwürfe geliefert hatte (vgl. Kahl 2010c, S. 13), sondern zugleich auch deren Aufarbeitung vorantreiben sollte (vgl. Schultz 2010d, S. 6). Die versammelten Gäste reagieren dementsprechend mit „Fassungslosigkeit, Trauer und Wut“ (Füller 2010c, S. 5), als Schulleiterin Margarita Kaufmann am 9. Juli 2010 – kurz vor Auftakt eines Hearings zum Thema „Wahrheit“ – den Tod Beckers verkündet (vgl. Eppelsheim 2010, S. 4). Adrian Koerfer etwa, stellvertretender Vorsitzender des Trägervereins der Odenwaldschule, kommentiert, Beckers Tod sei „schade, aber nicht traurig“ (vgl. ebenda und Menke & Hans 2010), und die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt, das
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Mit Bekanntwerden der gegen Becker gerichteten Vorwürfe im März 2010 gerät nun auch Hartmut von Hentig in den Fokus der Öffentlichkeit: schließlich sind beide, Hentig und Becker, zu diesem Zeitpunkt bereits seit etlichen Jahren sowohl publizistisch 170 als auch privat überaus eng miteinander verbunden. So arbeitete Becker von 1963 bis 1969 nicht nur gemeinsam mit Hentig am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen 171 – wo er schnell in den „engsten Freundeskreis“ 172 Hentigs aufrückte –, beide wohnen darüber hinaus seit 1994 im selben Haus am Berliner Kurfürstendamm: in zwei übereinander gelegenen, durch eine Treppe miteinander verbundenen Wohnungen.173 Während Hentig von Becker allerdings lediglich als Publikum habe auf die Forderung Tilman Jens’, auch Becker eine „Totenwürde“ zuzugestehen, mit „‚Nein‘-Schreien“ geantwortet (vgl. Eppelsheim 2010, S. 4). Eine Gruppe von Künstlern schließlich befestigt noch am selben Tag auf dem Gelände der Schule ein Plakat, auf dem ein Grabstein mit einer davor liegenden Rose zu sehen ist. Daneben die Inschrift: „Ich sterbe mich aus der Verantwortung.“ (Vgl. Menke & Hans 2010). Wie sehr dabei die letzten Lebensmonate Beckers von dem skizzierten Konflikt geprägt waren, zeigt zugleich dessen am 10. Juli 2010 in der Süddeutschen Zeitung (S. 20) und am 12. Juli 2010 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (S. 30) abgedruckte Todesanzeige, der folgendes Goethe-Zitat vorangestellt ist: „‚Die Feinde, die bedrohen dich,/ Das mehrt von Tag zu Tage sich;/ Wie dir doch gar nicht graut!‘/ Das seh‘ ich alles unbewegt,/ Sie zerren an der Schlangenhaut,/ Die längst ich abgelegt./ Und ist die nächste reif genug,/ Abstreif‘ ich die sogleich,/ Und wandle neu belebt und jung/ Im frischen Götterreich.“ Zu den Unterzeichnern der Anzeige gehört neben Beckers Familie auch Hartmut von Hentig. (Zur weiteren Diskussion dieser Todesanzeige siehe u. a. Schmid 2010, S. 21; Dehmers 2010, S. 2; Amendt 2010, S. 6; Dotzauer 2010, S. 23 und Brumlik 2012, S. 161 ff.) 170 Hentig und Becker waren über viele Jahre hinweg gemeinsame Mitherausgeber der Neuen Sammlung, im Jahr 1985 gab Gerold Becker darüber hinaus gemeinsam mit Hellmut Becker und Ludwig Huber unter dem Titel Ordnung und Unordnung ein „Buch für Hartmut von Hentig“ zu dessen sechzigstem Geburtstag heraus (Becker et al. 1985). Hentig wiederum fungierte elf Jahre später gemeinsam mit Antoinette Becker als Herausgeber eines schmalen B andes zu Gerold Beckers sechzigstem Geburtstag mit dem Titel Geschichten mit Kindern (Becker & Hentig 1996). Eine weitere publizistische Zusammenarbeit findet sich darüber hinaus in Hentigs „pädagogischem Manifest“ Bewährung aus dem Jahre 2006: Hier wird Gerold Becker gemeinsam mit neun anderen Personen als „Berater“ aufgeführt (vgl. Hentig 2006, S. 3). 171 Becker war während Hentigs „Göttinger Jahre“ (Lehberger 2011) Assistent am Lehrstuhl von Heinrich Roth. (Siehe hierzu genauer Füller 2011, S. 65 ff. und Brachmann 2015, S. 263 ff. sowie im autobiographischen Rückblick Hentig 2009c, S. 595 ff. und 704.) 172 Füller 2011, S. 65 173 Hentig beschreibt d ieses Wohnarrangement sowie das damit verbundene gemeinsame Leben mit Becker ausführlich in seiner Autobiographie Mein Leben – bedacht und bejaht (vgl. Hentig 2009c, S. 1022 ff.). Es sei nun nicht mehr „mein Leben“, sondern „unser Leben“, resümiert er denn auch gegen Ende seines Buches (ebenda, S. 1044). Von der langjährigen Freundschaft zwischen den beiden zeugt darüber hinaus eine Widmung Hentigs in seinem 1993er „Erfolgsbuch“ (Hentig 2005b, S. 38) Die Schule neu denken: Dieses widmet er „Gerold Becker im dreißigsten Jahr unserer Freundschaft“ (Hentig 1993, S. 5).
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„Freund“ und „Nachbar“ spricht 174, werden beide im Zuge des Odenwaldschulskandals in der Presse immer wieder als gegenseitige „Lebensgefährten“ bezeichnet 175: So seien Becker und Hentig, wie es in der ZEIT heißt, „schon lange ein Paar“ 176, und die „Liaison Hentigs mit Becker“ laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung spätestens seit den 1980er Jahren „allgemein bekannt“ 177. Doch selbst wenn weder Becker noch Hentig eine solche „Liaison“ je öffentlich bestätigen 178, reicht die offenkundige, wie auch immer geartete persönliche Verbindung zwischen den beiden zumindest aus, um neben Becker nun auch Hentig in unmittelbare Nähe zu den genannten Vorfällen an der Odenwaldschule zu rücken. So heißt es bereits im Aufmacher der Frankfurter Rundschau vom 6. März 2010: „Dem Vordenker der Reformpädagogik und Lebensgefährten von Ex-Schulleiter Becker, Hartmut von Hentig, warfen die Betroffenen zumindest Mitwisserschaft vor.“ 179 Dieser Umstand wird im Innenteil der Zeitung noch einmal präzisiert, wenn es unter dem Hinweis, das nun Folgende sei „besonders heikel“, heißt: 174 Vgl. Hentig & Verbeet 2010. 175 Vgl. bspw. Schindler 2010b, S. 1; Rasche 2010, S. 2; Schultz 2010c, S. 3 oder Kerstan & S piewak 2010, S. 71. 176 Ulrich 2010, S. 16 177 Schmoll 2010, S. 3 178 „Als Lebensgefährten im heute gängigen Sinn haben wir uns weder empfunden noch bezeichnet, wir waren und sind Freunde und jetzt auch Nachbarn im selben Haus, nicht in einer Wohngemeinschaft“ (Hentig 2010b, S. 4), schreibt Hentig hierzu im März 2010 – und tatsächlich hat zumindest er selbst sich nie öffentlich zu seiner vermeintlichen Homosexualität, geschweige denn zu einer über die zitierte „Freundschaft“ hinausgehenden Verbindung zu Becker geäußert. Diese Haltung behält er auch in seiner 2007 erschienenen Autobiographie bei. Dort heißt es denn auch sogleich im ersten Absatz, aus „den hier beginnenden Aufzeichnungen“ werde „[g]ewiss keine Bekenntnisschrift!“, denn, so Hentig, „Warum sollte ich der Nachwelt preisgeben, was ich meinte, meinen Zeitgenossen verbergen zu müssen?“ (Hentig 2009c, S. 11). Dass dabei zu all jenem, was er seinen Zeitgenossen meinte „verbergen“ zu müssen, nicht zuletzt auch seine Homosexualität gehörte, dies legt zumindest Lutz van Dijk nahe, wenn er sich im März 2010 in einem „Offenen Brief eines jüngeren Weggefährten“ an Hentig wendet und schreibt, er sei beim Lesen von dessen Autobiographie „enttäuscht“ gewesen: „Mit keinem Wort erwähnst du Deine Homosexualität.“ (van Dijk 2010b, S. 8) So hätten sich er und Hentig, wie van Dijk fortfährt, zwar immer wieder in Gesprächen sowie in einem über viele Jahre hinweg geführten Briefwechsel zu Fragen der Liebe und Sexualität ausgetauscht, auf van Dijks These allerdings, dass „auch heute junge Menschen, gerade Angehörige von Minderheiten, positive Vorbilder“ bräuchten – und das insbesondere auch im Bereich des Sexuellen – habe Hentig geantwortet: „Bei anderen Menschen mag das anders sein, zumal wenn sie in jungen Jahren glücklich geliebt haben. Die mögen sich ‚outen‘ und tun vielleicht ermutigende Wirkung. […] Ich selber überlebe durch Platonismus.“ (Vgl. ebenda.) Nun jedoch, so van Dijk, sei geschehen, was er „lange befürchtet“ habe: „Du bist an die Öffentlichkeit gezerrt worden. Nun explodieren die verdrängten Fragen […] unkontrollierbar.“ (Ebenda) 179 Schindler 2010b, S. 1
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„Drei Altschüler werfen Hartmut von Hentig, dem Nestor der deutschen Reformpädagogik, vor, den Missbrauch gedeckt zu haben. In einem Brief vom 19. Februar 2010 an alle OSO -Gremien schreiben sie: ‚Hartmut von Hentig ist nicht nur der langjährige Lebensgefährte von Gerold Becker, er war auch durch seine häufigen Besuche in der OSO [Odenwaldschule Ober-Hambach] mit den Umgangsformen in Beckers ‚Familie‘ vertraut.‘ Hentig selbst sagte der FR [Frankfurter Rundschau]: ‚Das ist grotesk.‘ Becker habe sich ‚dadurch ausgezeichnet, dass er immer sehr offen Mädchen und Jungen bei sich ein- und ausgehen ließ‘. Mehr habe er ‚natürlich nicht mitbekommen‘.“ 180
Ähnlich wie die Frankfurter Rundschau wenden sich nun auch andere Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender direkt an Becker und Hentig. DIE ZEIT etwa hätte, wie sie wenige Tage später schreibt, „Becker und Hentig gern nach den Vorwürfen und nach dem Zusammenhang zwischen Theorie und Missbrauch gefragt“, weshalb sie „bei ihnen geklingelt“ habe: „Hartmut von Hentig öffnet die Tür, ein freundlicher Herr mit weißen Haaren. Er und Becker, sagt von Hentig, hätten vereinbart, sich zu den Vorwürfen nicht zu äußern. ‚Ich bin nicht involviert, und Gerold Becker ist todkrank.‘ Mehr war nicht zu erfahren, ein Schweigen wie hinter Klostermauern.“ 181 Konfrontiert mit diesem immensen Medieninteresse empfängt Hentig am 9. März 2010 – und damit drei Tage nach dem neuerlichen Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Gerold Becker – bei sich zuhause in Berlin einen Journalisten der Süddeutschen Zeitung, um d iesem als Gesprächspartner für einen entsprechenden Hintergrundbericht zur Verfügung zu stehen. Bei d iesem Journalisten handelt es sich mit Tanjev Schultz um denjenigen Autor, der keine zwei Monate zuvor den weiter oben bereits zitierten, überaus wohlwollenden Artikel über Hentigs Stuttgarter Rede verfasst hatte.182 Diese Wertschätzung thematisiert Schultz denn auch gleich zu Beginn seines am 12. März 2010 veröffentlichten ganzseitigen Artikels mit dem Titel „Zeugnistage“, wenn er schreibt: „Der Besucher wird ins Wohnzimmer gebeten, er darf auf einem dunklen Ledersofa Platz nehmen. Links neben ihm sitzt der Gastgeber und schenkt ein Glas Sekt ein. Der Gastgeber ist Hartmut von Hentig, Deutschlands berühmtester Pädagoge, Vorbild und Idol für Generationen von Lehrern. Hentig wird in diesem Jahr 85 Jahre alt, sein Leben hat er der Bildung verschrieben. Hentigs Kampf für eine Schule, die Kinder nicht verletzt, sondern ihnen guttut, sein Plädoyer für eine echte ‚Lebensschule‘, hat ihn zum Star gemacht in seiner Zunft.“ 183
Dieses Bild als „Deutschlands berühmtester Pädagoge“ und „Star seiner Zunft“ kontrastiert Schultz sodann mit Hentigs räumlicher und persönlicher Nähe zu Gerold Becker: 180 Schindler 2010a, S. 2 181 Ulrich 2010, S. 16 182 Siehe oben, Kapitel 2.1. 183 Schultz 2010b, S. 3
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„Hätte Hentig nicht Besuch von einem Journalisten, könnte Gerold Becker neben ihm sitzen. Sie würden zu dieser Zeit einen Cognac trinken und die Nachrichten schauen. So machen sie es seit Jahren. An der Wand hinter dem Sofa führt mitten in Hentigs Zimmer eine Treppe direkt in Beckers Wohnung. Sie leben hier gemeinsam unter den hohen Decken eines Berliner Altbaus am Kudamm. […] Es ist kurz vor sieben Uhr am Abend, gleich beginnen im ZDF die Nachrichten, wieder wird über sexuellen Missbrauch berichtet. Ein Bild der Odenwaldschule wird auf dem Bildschirm erscheinen. Dort ist ans Licht gekommen, dass in den siebziger und achtziger Jahren offenbar Dutzende Schüler von ihren Lehrern missbraucht worden sind. Täglich werden es mehr, die sich melden. Wenn sie über die Täter sprechen, fällt immer wieder ein Name: Gerold Becker. Becker hat damals die Odenwaldschule geleitet, das berühmte Internat im hessischen Heppenheim. Die Schule ist weltlich, nicht katholisch, sie will ein liberaler Hort der Reformpädagogik sein. Jetzt sieht es so aus, als sei sie jahrelang ein Hort für Pädophile gewesen. Hartmut von Hentig, der Professor in Göttingen und Bielefeld war, hat das Internat und seinen Freund Becker damals etliche Male besucht. Er hat die Schule gepriesen. Er hat Becker gepriesen. Und er tut es bis heute.“ 184
Die nun folgende Auseinandersetzung Schultz’ mit Hentigs Verstrickung in die Geschehnisse um Becker und die Odenwaldschule hat nun nicht nur immense Bedeutung für die sich in den anschließenden Wochen und Monaten entwickelnde öffentliche Diskussion zum Thema. Schultz fasst darüber hinaus die zentralen, im Zuge dieser Diskussion immer wieder erhobenen Vorwürfe gegenüber Hentig auf exemplarische Weise zusammen. So sind es zunächst zwei grundsätzliche, auf das Verhalten Hentigs in der Vergangenheit gerichtete Vorwürfe, mit denen Schultz seine Leserinnen und Leser konfrontiert: erstens der Vorwurf – und hier bezieht sich Schultz wie zuvor bereits die Frankfurter Rundschau auf die Aussage der drei ehemaligen Odenwaldschüler –, Hentig sei als Beckers „langjähriger Lebensgefährte“ und regelmäßiger Besucher der Odenwaldschule mit den „Umgangsformen“ in Beckers „Familie“ vertraut gewesen und habe deshalb etwas von den nun erneut publik gewordenen Missbrauchsfällen mitbekommen müssen, er sei in diesem Sinne „Mitwisser des Missbrauchs“ gewesen 185; und zweitens, Hentig hätte, selbst wenn er während Beckers aktiver Zeit an der Odenwaldschule tatsächlich unwissend geblieben sein sollte, spätestens seit Ende der neunziger Jahre „von der Geschichte gewusst haben“ müssen – seit jenem Zeitpunkt also, als die Vorwürfe gegenüber Becker das erste Mal an die Öffentlichkeit gelangt waren. Auch zu d iesem Zeitpunkt jedoch habe Hentig die Angelegenheit nicht angemessen 184 Ebenda 185 Ebenda. Als „Familien“ werden in der Odenwaldschule die einzelnen Wohngruppen bezeichnet, in denen mehrere Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit einer Pädagogin oder einem Pädagogen – dem „Familienoberhaupt“ – zusammenleben. Siehe hierzu u. a. Herrmann 2010, S. 13 und Kaufmann 2014.
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aufgearbeitet – zumindest nicht öffentlich. So komme der Name Gerold Becker in Hentigs mehr als 1000 Seiten umfassender Autobiographie aus dem Jahr 2007 zwar sehr oft vor, vom Missbrauch allerdings, so Schultz, finde sich darin „kein Wort“.186 Neben diesen Vorwürfen der Mitwisserschaft sowie der mangelnden Aufklärung – von anderen Autoren bisweilen auch als bewusstes „Decken“ der Becker vorgeworfenen Missbrauchsfälle gewertet 187 – ist es sodann ein dritter, diesmal auf die unmittelbare Gegenwart gerichteter Vorwurf, dem der Großteil des Artikels gewidmet ist 188: Hentig, so heißt es bereits im Untertitel, „leugnet, verdrängt und bagatellisiert“.189 Diese Formulierung greift Schultz im weiteren Verlauf noch einmal auf, wenn er schreibt: „Hentig nippt am Sekt und erzählt, wie bewundernswert geduldig Becker mit Kindern umging. Er hält seinen Freund für einen begnadeten Lehrer und für einen besonders feinsinnigen Menschen. Dass Becker je den Willen eines Kindes gebrochen hat, das kann, das will er sich nicht vorstellen. Hentig ist alt und schwerhörig, und er ist blind vor Liebe und Loyalität. Er weint. Der Besucher spürt den Impuls, trösten zu wollen. Und den Wunsch, diese Szene und überhaupt das ganze Treffen schnell zu vergessen. Aber diese 186 Schultz 2010b, S. 3 187 Vgl. etwa Schindler 2010a, S. 2. 188 Dementgegen wird eine mögliche Mittäterschaft Hentigs (also eine direkte Beteiligung an den betreffenden Missbrauchsfällen) kaum diskutiert. Missbrauchsvorwürfe gegenüber Hentig selbst werden in d iesem Sinne also nicht erhoben. Der einzige in eine s olche Richtung gehende Vorwurf findet sich bei Adrian Koerfer, einem ehemaligen Schüler der Odenwaldschule, der in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sagt: „Ich weiß es und ich beschwöre es vor Gericht: Ein Freund von mir hat bei ihm [Hentig] und Becker übernachtet. Was sie dort gemacht haben, weiß ich natürlich nicht – vielleicht haben sie nur geredet?“ (Bappert et al. 2010, S. 22) Zwar wird diese Aussage Koerfers von verschiedenen Zeitungen aufgegriffen, etwaige Mutmaßungen jedoch, Hentig selbst könne Kinder sexuell missbraucht haben, werden dementgegen lediglich angedeutet, etwa wenn Tanjev Schultz – Bezug nehmend auf ein Kapitel in Hentigs Autobiographie, das unter dem Titel „Der pädagogische Onkel“ (Hentig 2009c, S. 667 ff.) von einer mehrwöchigen Reise Hentigs gemeinsam mit Gerold Becker und seinem damals zehnjährigen Neffen Nikolaus auf einem Segelboot berichtet – fragt: „Würde man heute sein eigenes Kind dem berühmten ‚pädagogischen Onkel‘ mit in den Urlaub geben?“ (Schultz 2010b, S. 3) Die Antwort hierauf bleibt bewusst der Fantasie der Leserinnen und Leser überlassen. Inwiefern allerdings bereits die rein assoziative Verknüpfung der Person Hentigs mit dem Tatbestand des sexuellen Missbrauchs auszureichen vermag, Hentig selbst als entsprechenden Täter zu kennzeichnen, zeigt wiederum ein Artikel im Münchner Merkur, in dem es am 25. Juni 2010 anlässlich der Abiturfeier des Tölzer Gabriel-von-Seidl-Gymnasiums heißt: „Peter Meyer [der Direktor der Schule] holte in seiner letzten Abiturrede noch einmal die Philosophen-Keule heraus und sprach über richtige und falsche Vorbilder, über Idole und sonstige gesellschaftliche Phänomene – ein Stimmungsbild von Käßmann und von Hentig, dem des Missbrauchs überführten eistigen [sic!] Idol der Reformpädagogik, bis zu Helmut Schmidt und Weizsäcker: ‚Es gibt also Vorbilder, nur sind sie entweder alt oder schon tot.‘“ (job 2010) 189 Vgl. Schultz 2010b, S. 3.
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Wahrheit gehört in die Welt. Hentig leugnet, verdrängt und bagatellisiert: Becker kann nichts Böses getan haben. Die Vorwürfe sind für den Altphilologen ein einziges Enigma. Wenn überhaupt, könnte allenfalls mal ein Schüler seinen Lehrer Becker irgendwie verführt haben …“ 190
Besonders jener letzte Satz ist es, der im Folgenden nun, wie Antje Vollmer es formuliert, „wie ein Fallbeil durch den deutschen Blätterwald“ rauscht 191. So kommentiert etwa Oskar Negt, Hentigs Aussage verschiebe „die Perspektiven von Opfern und Tätern völlig“, sei „unerträglich“ und widerspräche „im Übrigen allem, wofür Hentig in seinem Leben eingetreten“ sei 192, und Micha Hilgers resümiert in der Frankfurter Rundschau: „Dass die Täter schweigen bis sich die Balken biegen, und dann in die für Pädophile üblichen Ausflüchte verfallen, die die Opfer zu den wahren Tätern zu machen versuchen, wundert nicht. Das Trio infernale der pädophilen Rechtfertigungen besteht aus dem Vorwurf an die Opfer, diese hätten in Wirklichkeit den Täter verführt – also einer Verkehrung von Tätern und Opfern. So zum Beispiel der im Alter nicht weiser gewordene sogenannte Reformpädagoge Hartmut von Hentig (84), der sich allenfalls vorstellen kann, dass sein Lebenspartner von Schülern verführt worden wäre. Womit sich jede weitere Debatte über die Qualitäten von Hentigs erübrigt.“ 193
Hentig schreibt hierzu wenige Tage später, die von Schultz zitierte und ihm, Hentig, zugeschriebene Äußerung „Wenn überhaupt, könnte allenfalls mal ein Schüler seinen Lehrer Becker irgendwie verführt haben“, habe mit dem, was er damals hatte sagen wollen, „nichts mehr zu tun“. Schultz sei vielmehr durch die gewählte indirekte Zitationsweise die gemeinsame Absprache umgangen, „direkte Äußerungen“ ihm zuvor „zur Genehmigung vorzulegen“. Eine solche Genehmigung jedoch hätte Schultz für die genannte Formulierung von ihm niemals erhalten.194 So beklagt Hentig denn auch, die sich an Schultz’ Artikel anschließende, immer wieder dessen Formulierungen aufgreifende Berichterstattung mache ihn, Hentig, „zu einem erst Verschweiger, dann Verteidiger eines systematischen sexuellen Kindermissbrauchs, zu einem Ungeheuer, das die Opfer nicht nur ignoriert, sondern zu den einzig möglichen Tätern macht, und nicht zuletzt zu einem Mann, dessen pädagogische Gedanken nunmehr als ‚Heuchelei‘ entlarvt sind“. Man betreibe dadurch die „Vernichtung“ seiner Person und könne dies mit Schultz’ Hilfe als eine durch „‚schlimme Gedankenlosigkeit‘, ‚Verstiegenheit‘, ‚Naivität oder Unverfrorenheit‘ verursachte Selbstvernichtung hinstellen“.195 190 Ebenda 191 Vollmer et al. 2010, S. 7 192 Negt & Irle 2010, S. 20 193 Hilgers 2010, S. 12 194 Hentig 2010b, S. 15 195 Ebenda, S. 2
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In den folgenden Wochen und Monaten reagiert Hentig auf diese seiner Wahrnehmung nach „arglistige Verdächtigung“ 196 seiner Person und seines Werkes denn auch auf verschiedene Weise: Zunächst gibt er – unmittelbar nach Veröffentlichung von Schultz’ Artikel in der Süddeutschen Zeitung – dem Spiegel ein schriftlich geführtes Interview, das am 14. März 2010 zuerst auf Spiegel Online und einen Tag später in der Druckausgabe des Spiegel erscheint (dort allerdings nur in Auszügen)197, und noch in derselben Woche vereinbart er einen Interviewtermin mit Reinhard Kahl für DIE ZEIT . Kurzfristig sagt er dieses Interview jedoch wieder ab und verfasst stattdessen eine schriftliche Stellungnahme, die in der Ausgabe der ZEIT vom 25. März 2010 unter dem Titel „Was habe ich damit zu tun?“ abgedruckt wird.198 Neben diesen beiden öffentlichen Stellungnahmen zum Thema 199 finden sich aus demselben Zeitraum zudem zwei nichtöffentliche oder zumindest nur teilöffentliche Texte Hentigs zur Angelegenheit Odenwaldschule 200: erstens ein sechzehn Seiten langer, an Tanjev Schultz gerichteter Brief vom 16. März 2010, den Hentig zwar nicht an Schultz selbst, wohl aber als Kopie an verschiedene befreundete Personen versendet 201, sowie zweitens ein auf den 27. April 2010 datierender Text mit der Überschrift „Hartmut von Hentig
196 Hentig 2010e, S. 19 197 Siehe Hentig & Verbeet 2010 bzw. für die Druckausgabe Bartsch et al. 2010. 198 Hentig 2010e. Zum geplanten Interview vgl. Hentig 2010d, S. 6 f. und Kahl 2010b. 199 Eine dritte, wenn auch überaus kurze öffentliche Stellungnahme Hentigs findet sich darüber hinaus in der Ausgabe der ZEIT vom 22. April 2010. Hier ist ein Leserbrief Hentigs abgedruckt, in dem er – Bezug nehmend auf einen am 25. März 2010 veröffentlichten Artikel von Alexander Cammann – schreibt: „In Ihrer Ausgabe vom 25. März behaupten Sie, mein Neffe Nikolaus ‚wird im Jahr 1982 Selbstmord begehen‘. Dies ist falsch. Nikolaus ist in dem genannten Jahr durch einen Unfall ums Leben gekommen.“ (Hentig 2010 f., S. 83) Diese Einlassung Hentigs sei an dieser Stelle einerseits der Vollständigkeit halber erwähnt, andererseits aber auch deshalb, weil sie zeigt, wie anhaltend und intensiv Hentig die ihn betreffende Berichterstattung verfolgt – ganz entgegen der von ihm getätigten Aussage, nicht er verfolge „irgendwelche ‚Nachrichten‘“, sondern deren „Macher“ verfolgten ihn (Hentig & Verbeet 2010). 200 Da beide Texte allerdings trotz ihres teilöffentlichen Charakters im Folgezeitraum dennoch zitiert werden (vgl. bspw. Schultz 2010 f, S. 5; Füller 2011, S. 245 f. oder Oelkers 2014a, S. 16) und vom Autoren dieser Arbeit darüber hinaus im Frühjahr 2010 als Beilage zur Hauspostille der Laborschule Bielefeld eingesehen werden konnten, werden beide im Verlauf dieser Arbeit ebenfalls zur Rekonstruktion der Reaktion Hentigs auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe herangezogen. Hentig selbst hat beide Texte dementgegen erst 2016 in Zusammenhang mit der Veröffentlichung des dritten Bandes seiner Autobiographie Noch immer Mein Leben (Hentig 2016) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht: den Brief an Tanjev Schultz in längeren Auszügen (ebenda, S. 667 ff.) und seinen Text „Hartmut von Hentig redet“ in voller Länge als Teil eines separat beim Verlag wamiki zu beziehenden (und darüber hinaus online abrufbaren) Anhangs (vgl. ebenda, S. 1368 f.). Zur weiteren Berücksichtigung des genannten Bandes im Rahmen der vorliegenden Arbeit siehe darüber hinaus oben, Fußnote 87. 201 Hentig 2010b
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redet“ 202, mit dem er auf einen von Reinhard Kahl in der ZEIT veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Hartmut von Hentig muss reden“ 203 reagiert. Eine Begründung für die von ihm auch hier gewählte Form der nichtöffentlichen Reaktion gibt Hentig dabei sogleich zu Beginn des genannten Textes, wenn er schreibt: „Hartmut von Hentig redet – aber nicht zur Öffentlichkeit, […] sondern zu einem Kreis von ausgewählten Personen. Die Öffentlichkeit – das sind heute die Medien. Für den Rundfunk ist mein Text zu lang. Die kleineren Zeitungen haben die Reichweite nicht, die ich mir für meine Darstellung wünsche. Die großen Zeitungen haben sich […] mir gegenüber so feindlich gezeigt, dass sie ihn ohne gleichzeitige Entgegnung nicht abdrucken können. In dieser würde ich durch die Zitierung von korrekt in Anführungsstrichen gesetzten Halbsätzen alsbald dem Hohn der Leser ausgeliefert und könnte mich nicht unmittelbar wehren. Für eine fortgesetzte Schreibfehde bin ich zu alt. – Möge dies einstweilen das Letzte sein, was ich in der Angelegenheit ‚Odenwaldschule‘ zu sagen habe.“ 204
Zwar äußert sich Hentig auch nach diesem „einstweilen“ letzten Text zur „Angelegenheit ‚Odenwaldschule‘“ noch gelegentlich öffentlich zum Thema 205, die genannten Texte bilden aber dennoch den Hauptbezugspunkt der sich in den folgenden Wochen, Monaten und Jahren entfaltenden Diskussion um Person und Werk Hentigs. Im Folgenden soll deshalb zunächst versucht werden, auf Grundlage eben dieser vier Texte die Reaktion Hentigs auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu rekonstruieren, um im Anschluss daran die weitergehende öffentliche Auseinandersetzung mit dessen Person und Werk genauer darstellen und diskutieren zu können. Zunächst zum Vorwurf einer möglichen Mitwisserschaft Hentigs, zur Frage also, ob er während Beckers Zeit an der Odenwaldschule bereits etwas über die Becker nun zur Last gelegten Vorgänge gewusst habe. Hierauf gibt Hentig eine eindeutige und in ihrer Bestimmtheit in all seinen Texten sich wiederholende Antwort: Nein, er habe bis 1998 weder etwas von dem Becker nun zur Last gelegten Missbrauch gewusst, gemerkt oder geahnt, noch sei er, wie immer wieder in der Presse dargestellt, in besonderer Weise mit den Umgangsformen in dessen „Familie“ vertraut gewesen.206
202 Hentig 2010d 203 Kahl 2010c 204 Hentig 2010d, S. 1 205 Siehe Hentigs von zahlreichen Autorinnen und Autoren als Kommentar auf den Odenwaldschulskandal gewerteten Aufsatz „Ist Bildung nützlich?“, erschienen im Februar 2011 in der Literaturzeitschrift Akzente (Hentig 2011b, siehe hierzu genauer unten, Fußnote 747), seinen im November 2011 auf der Website www.forum-kritische-pädagogik.de veröffentlichten Text „Ein Erklärungsversuch“ (Hentig 2011a, hierzu genauer unten, S. 49 f.) sowie einen anlässlich seines 90. Geburtstags im September 2015 geführten Briefwechsel mit der Deutschen Presse- Agentur (Linnhoff 2015). 206 Vgl. insbesondere Hentig 2010b, S. 2 ff.; Hentig 2010e, S. 19 und Hentig 2010d, S. 2.
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In jener Zeit habe er Becker „vermutlich einmal jährlich besucht, selten länger als einen Tag, meistens verbunden mit einer Tagung […], einer Vereinsgründung […], einer besonders gerühmten Theateraufführung, einem Jubiläum“ 207. Dabei habe er keinen anderen „als den öffentlichen Umgang Beckers mit den Schülern beobachten“ 208 können. Gemeinsam mit diesen habe er ihn nur bei den Mahlzeiten erlebt, „in den Konferenzen, […] in seinem Unterricht, beim Gang über den Hof “ 209. Diese Gelegenheiten hätten, so Hentig weiter, zwar ausgereicht, Beckers „so wirksamen wie mühelosen pädagogischen Umgang mit den Schülern zu beobachten und zu bewundern, nicht aber, um in mögliche Abgründe zu schauen“ 210. Er habe deshalb auch „keinen Anlass zu peinlichen Nachforschungen“ 211 gehabt. In ähnlichem Maße eindeutig reagiert Hentig zunächst auch auf den Vorwurf, bei erstmaligem Bekanntwerden der gegen Becker gerichteten Missbrauchsvorwürfe Ende der 1990er Jahre unangemessen reagiert zu haben: „[I]ch habe“, so Hentig rückblickend im April 2010, „Gerold Becker zugesetzt und ich habe ihm geglaubt. Dass er mir nicht alles preisgegeben hat, findet mein Verständnis. Man zeigt seine peinlichsten Schwächen nicht gerade dem, auf dessen Achtung man den größten Wert legt. Es ist eine nur oberflächlich plausible Erwartung, dass der beste Freund auch der beste Kenner, gar der beste ‚Mitwisser‘ sein müsse.“ 212
Er, Hentig, habe also sehr wohl Aufklärung betrieben, wenn auch nicht in öffent licher Form. Da Becker ihm jedoch damals nicht „alles preisgegeben“ habe, sei er zu einer falschen Einschätzung der Situation gelangt. Dies ist eine Argumentation, die Hentig in ähnlicher Form bereits zuvor in seinem Artikel für DIE ZEIT vorgebracht hatte: „[M]eine nach Bekanntwerden der Vorwürfe an Becker gerichteten Fragen“, schreibt Hentig hier, „ergaben Aussagen, die mich vielleicht hätten beunruhigen können (Wecken der Schüler durch eine freundliche Berührung), mich aber nicht an meiner Überzeugung zweifeln ließen, dass Becker nichts (also auch s olche Gesten nicht) gegen den Willen eines Schülers ausgeübt habe.“ 213 Insbesondere diese Formulierung jedoch ist es nun, die erneut für öffentliche Diskussion sorgt. So schreibt etwa Peter Michalzik kurze Zeit später unter der Überschrift „‚Freundliche Berührungen‘. Ein Mann windet sich. Der Fall des großen Pädagogen Hartmut von Hentig“ in der Frankfurter Rundschau zu eben jenem Satz Hentigs: 207 Hentig & Verbeet 2010 208 Hentig 2010e, S. 19 209 Hentig 2010b, S. 4 210 Ebenda 211 Ebenda, S. 5 212 Hentig 2010d, S. 11 213 Hentig 2010e, S. 19
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„Es ist ein Satz, der alles erklären möchte und nichts sagt. Die Überzeugungskraft solcher Sätze liegt bei null. Aber man sollte d ieses Statement trotzdem aufmerksam lesen. Unter dem Strich bestätigt Hentig nämlich exakt, was der Kernvorwurf gegen ihn ist. Es war und ist nie die Frage, ob Becker etwas gegen den Willen der Schüler gemacht hat, es war und ist die Frage, ob er sie missbraucht hat. Und das liegt, zumindest nach deutschen Gesetzen, nicht im Ermessen des Schülers, das hängt mit guten Gründen nicht vom Willen eines Schülers ab.“ 214
Hentig, so Michalzik weiter, verstehe hingegen nicht, „worum es geht“: „Der Vorwurf gegen ihn lautet, dass er schwerem Missbrauch zugesehen habe. Seine Antwort ist, dass die ‚freundlichen Berührungen‘ nicht gegen den Willen der Kinder stattgefunden haben.“ 215 Es stelle sich deshalb die Frage, ob Hentig „grenzenlos naiv“ sei oder den Missbrauch rechtfertige.216 Und auch wenn Michalziks Lesart der von Hentig verwandten Formulierung „freundliche Berührung“ zumindest ungenau ist 217, berührt sie doch den Kern der nun folgenden Diskussion und damit den bereits angesprochenen dritten Vorwurf gegenüber Hentig: denjenigen Vorwurf nämlich, Hentig bagatellisiere die Missbrauchsvorwürfe, oder – wie Michalzik es formuliert – er habe „schwerem Missbrauch“ nicht nur „zugesehen“, sondern versuche nun auch noch, ihn zu „rechtfertigen“ 218. Die entscheidende Frage ist in diesem Sinne also nicht allein, ob Hentig als möglicher „Mitwisser des Missbrauchs“ 219 Beckers Taten gedeckt habe, sondern vielmehr, was Hentig unter sexuellem Missbrauch versteht: Gibt es Formen der körperlichen Nähe z wischen Kindern und Erwachsenen, die nach deutscher Rechtsprechung zwar den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs erfüllen, von Hentig aber nicht als solcher verurteilt werden? Wären für Hentig etwa – wie Michalzik es nahelegt – sexuelle Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen dann kein Missbrauch mehr, wenn sie nicht „gegen den Willen des Schülers“ ausgeübt würden? Diese Fragen betreffen nicht nur die allgemeine Glaubwürdigkeit Hentigs und dessen pädagogischen Gesamtwerks, sondern wirken sich darüber hinaus ganz unmittelbar auch auf die beiden zuerst genannten Vorwürfe der Mitwisserschaft sowie der mangelnden Aufklärung aus, denn: Sollte Hentig tatsächlich ein in d iesem Sinne bagatellisierendes Verständnis vom Tatbestand des sexuellen Missbrauchs haben, erschienen seine Aussagen, er habe von etwaigen Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule nichts gewusst, in einem gänzlich anderen Licht. 214 Michalzik 2010, S. 32 215 Ebenda 216 Vgl. ebenda. 217 Hentig schreibt eben nicht, dass es sich bei den Becker nun vorgeworfenen Handlungen um „freundliche Berührungen“ gehandelt habe, er deutet lediglich an, dass Becker ihm gegenüber 1998 die betreffenden Handlungen als eben solch „freundliche Berührungen“ bezeichnet habe. 218 Ebenda 219 Schultz 2010b, S. 3
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Schaut man sich deshalb die von Hentig im Zuge des Odenwaldschulskandals veröffentlichten Texte vor d iesem Hintergrund noch einmal genauer an, so fällt zunächst auf, dass Hentig sich – zumindest öffentlich – zu d iesem Thema nur sehr begrenzt äußert: Zwar schreibt er in seinem Artikel für DIE ZEIT , es solle „in keinem Fall […] zu sexuellen Handlungen zwischen Erziehern und Zöglingen kommen“ 220, davon abgesehen allerdings finden sich weder hier noch in seinem Spiegel-Interview ausdrückliche Stellungnahmen zum Thema. So bleibt es einem seiner beiden teilöffentlichen Texte vorbehalten, in Form eines Resümees zur „Angelegenheit ‚Odenwaldschule‘“ 221 einige „Grund-Sätze“ 222 zum Thema zu formulieren: „Sexuelle Handlungen, an, mit und vor Kindern sind falsch – auch mit ihrem Willen“, schreibt er in seinem Aufsatz „Hartmut von Hentig redet“ und ergänzt: „Sie werden abscheulich, wenn Täuschung, Gewalt, Erniedrigung im Spiel sind. Das Gesetz regelt die Verfolgung und Ahndung solcher Taten.“ 223 Die in dieser Formulierung vorgenommene Unterscheidung zwischen falschen und abscheulichen Formen von „[s]exuelle[n] Handlungen, an, mit und vor Kindern“ gewinnt dabei allerdings noch einmal dadurch an Brisanz, dass Hentig im Folgenden schreibt, man habe, um die Einhaltung der sich aus diesen Grundsätzen ergebenden „Gebote“ 224 zu stützen, insgesamt drei Mittel: „das Mittel der vorgängigen Ermahnung und Belehrung, das Mittel der nachträglichen strafrechtlichen Verfolgung […] und das Mittel der moralischen Ächtung.“ 225 Da er jedoch im Falle Beckers „weder einen allgemeinen Grund noch einen besonderen Anlass“ gehabt habe, diesen „während seiner Amtszeit zu belehren und zu ermahnen“, und es auch nicht die „Sache seines engsten Freundes“ sei, „den fehlsamen, schuldig gewordenen Gerold Becker im Nachhinein anzuzeigen“, sei ihm, Hentig, in dieser Sache lediglich das Mittel der „moralischen Ächtung“ geblieben.226 Für eine solche Ächtung jedoch, so Hentig, hätten ihm 1998 in seiner „Vorstellung von Gerold Beckers Taten die ‚Abscheu‘ erzeugenden Merkmale“ gefehlt.227 Diese Formulierung wiederum lässt nun insofern aufhorchen, als sie – unter Berücksichtigung der zuvor von Hentig hergestellten D ifferenz zwischen „falschen“ und „abscheulichen“ Handlungen – die Deutung nahelegt, sexuelle Handlungen an, mit oder vor Kindern seien im Sinne Hentigs nur dann mit moralischer Ächtung zu belegen, wenn jene „‚Abscheu‘ erzeugenden Merkmale“ der Täuschung, Gewalt und Erniedrigung im Spiel s eien. Wie aber, so stellt sich angesichts dieser Haltung die Frage, wären dann sexuelle Handlungen an, mit oder vor Kindern moralisch zu bewerten, 220 Hentig 2010e, S. 19 221 Hentig 2010d, S. 1 222 So die Überschrift des entsprechenden Abschnitts (vgl. ebenda). 223 Ebenda 224 Ebenda, S. 2 225 Ebenda 226 Ebenda, S. 3 227 Ebenda
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die ohne jene „‚Abscheu‘ erzeugenden Merkmale“ auskommen und dadurch im Sinne Hentigs nur „falsch“, nicht jedoch „abscheulich“ wären? Welches moralische Mittel, wenn nicht ebenfalls das der „Ächtung“, wäre in einem solchen Fall angemessen? 228 Zwar ließe sich solchen Fragen, auf die der genannte Text nicht weiter eingeht, Hentigs Aussage entgegenhalten, Becker habe ihm 1998 auf die Frage, „ob es denn gar keine physischen Annäherungen“ z wischen ihm und den ihn anklagenden Schülern gegeben habe, geantwortet „Aber ja doch! Freundliche Berührungen, aber nur bei gespürtem Einverständnis, nie Überrumpelung, schon gar keine Gewalt, keine ‚sexuellen Akte‘“ 229; auch dieser Hinweis allerdings (der zumindest so verstanden werden könnte, dass Becker Hentig gegenüber gar keine sexuellen Handlungen an, mit und vor Kindern zugegeben hatte, also weder „abscheuliche“ noch „falsche“, und H entig andernfalls sehr wohl mit „moralischer Ächtung“ reagiert hätte) ändert nichts an dem Umstand, dass es Hentig auch hier, in seiner als grundsätzlich angekündigten „Erklärung“ 230 zum Thema, nicht gelingt, eindeutig Stellung gegen jedwede Form sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen zu beziehen. Dies gilt auch für den weiteren Verlauf des Textes „Hartmut von Hentig redet“, etwa wenn Hentig schreibt, er habe den „taktischen Fehler begangen“, den ersten seiner „Grund-Sätze“ „nicht auch als ersten in jenem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung“ genannt zu haben, so dass ihm die Versicherung, Gerold Becker habe „gewiss nie etwas gegen den Willen eines Kindes mit ihm vorgenommen“, folgendermaßen hatte ausgelegt werden können: „Aha! Also mit Willen wäre das – nach Hentig – rechtens gewesen!“ 231. „[N]ein“, schreibt Hentig hierzu, es wäre nicht rechtens gewesen, „aber es wäre etwas anderes gewesen“.232 Auch hier jedoch bleibt offen, was Hentig mit diesem – zumal in Klammern nachgeschobenen – Hinweis meint: Wenn es einerseits nicht „rechtens“, andererseits aber dennoch „anders“ gewesen wäre, was wäre es dann gewesen? Angesichts solch vager Formulierungen sowie in Anbetracht des offensichtlichen Unwillens Hentigs, sexuelle Handlungen z wischen Erwachsenen und Kindern unmissverständlich und ohne jede Einschränkung zu verurteilen, kann es denn auch kaum verwundern, wenn die von Tanjev Schultz geprägte Formulierung, Hentig leugne, verdränge und bagatellisiere, von nahezu sämtlichen Medien aufgegriffen und in den Mittelpunkt ihrer jeweiligen Hentig betreffenden Berichterstattung gerückt wird. Dies wiederum kommentiert Hentig mit dem Hinweis:
228 Zu einer ähnlich gelagerten Kritik an der hier skizzierten Unterscheidung Hentigs zwischen „falschen“ und „abscheulichen“ Formen von „[s]exuelle[n] Handlungen, an, mit und vor Kindern“ siehe Füller 2011, S. 245. 229 Hentig 2010b, S. 6 230 Hentig 2010d, S. 9 231 Ebenda 232 Ebenda
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„Geleugnet habe ich – und zwar entschieden! – die Mitwisserschaft und die Behauptung, ich hätte die Gerold Becker vorgeworfenen Verfehlungen ‚gedeckt‘. Verdrängen kann man etwas, was man einmal gewusst hat und nicht wahrhaben will. Bagatellisieren kann man eine schlimme Tat, nicht eine schlimme Behauptung. Aber die drei Verben werden im Bewusstsein der Leser hängen bleiben.“ 233
Um einer solchen Entwicklung zu begegnen, beklagt er denn auch in seinem ZEIT - Artikel, man nehme ihn „in Sippenhaft für einen Freund, Nachbarn und, weil schwerstkrank, auch Anbefohlenen“ und fordert eine „gerichtliche Aufklärung der Fälle“, damit es nicht weiterhin „so hysterisch zugehe wie vor dem Tribunal der Medien“ 234. Diese Forderung greift er auch an anderer Stelle noch einmal auf, wenn er schreibt: „Ich wünsche uns allen, dass die Aufklärung und Aufarbeitung in professionelle Hände gelegt werden – jedenfalls in die Verantwortung einer Person mit der Befähigung zum Richteramt, die mit Geduld und Strenge prüft, was anliegt, bevor sie (ver)urteilt.“ 235 Dass von einer solch „professionelle[n]“ Aufklärung aus Sicht Hentigs zu jenem Zeitpunkt noch nicht die Rede sein kann, wird deutlich, wenn er in seinem Spiegel-Interview schreibt, die mit der Angelegenheit befasste Schulleiterin der Odenwaldschule Margarita Kaufmann sei „im Begriff, die Aufklärung zu versäumen, wenn nicht gar zu verderben, indem sie von vorneherein Aussagen der Beschuldiger, deren Erinnerung an lang Zurückliegendes, zum Teil auch bloße Mutmaßungen wie Fakten“ behandele 236. So fände er es zwar richtig, dass sie ernst nehme, was ihr ehemalige Schüler sagten, aber „solange sie nicht auch andere ehemalige Schüler, Erwachsene, Eltern angehört und nicht auch Verbindung zu den Beschuldigten wenigstens gesucht“ habe, sollte sie sich „der rechtsstaatlich gebotenen Vorbehaltsklausel bedienen“. Was dementgegen nun „in sämtlichen Zeitungen Deutschlands“ stehe, sei in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit „‚das Geschehen‘ und nicht ‚der Vorwurf‘, ‚die Beschuldigung‘“.237 Hentigs Position in Sachen Odenwaldschulskandal ist also geprägt durch zwei gegenläufige Tendenzen: Einerseits fordert er eine offene und gründliche Aufklärung der Gerold Becker und anderen ehemaligen Lehrerinnen und Lehrern der Odenwaldschule zur Last gelegten Missbrauchsvorwürfe, andererseits aber hält er sich selbst auffallend zurück, wenn es darum geht, eindeutig Stellung zu beziehen gegen jedwede Form sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern im Allgemeinen sowie gegen mögliche diesbezügliche Verfehlungen Gerold Beckers im Besonderen. Eine entsprechend eindeutige Stellungnahme veröffentlicht er schließlich erst im November 2011 – und damit mehr als ein Jahr nach Gerold Beckers Tod 233 Hentig & Verbeet 2010 234 Hentig 2010e, S. 19 235 Hentig 2010d, S. 10 f. 236 Hentig & Verbeet 2010 237 Ebenda
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am 7. Juli 2010238 –, wenn er auf der von Ulrich Herrmann und Andreas Gruschka betriebenen (und mittlerweile eingestellten) Website Forum Kritische Pädagogik einen kurzen, nach eigenen Angaben bereits im Juli 2011 verfassten Text mit dem Titel „Ein Klärungsversuch“ online stellt, in dem es unter anderem heißt: „Die Berichte von Betroffenen sind Zeugnisse/Dokumente schwerer Verletzungen und nicht entschuldbarer Übergriffe von Seiten Erwachsener. Sexueller Missbrauch von K indern ist ein Verbrechen. Dass solche Übergriffe Gerold Becker anzulasten sind, trifft niemanden härter als seinen engsten Freund. Als dieser bitte ich seine Opfer in Demut, sie mögen dem Toten die Verzeihung gewähren, um die er sie noch lebend gebeten hat. Ich tue es im Mitgefühl für die Kinder, die sie damals waren, und für die Kränkung, dass man ihnen als Erwachsenen nicht geglaubt hat. Was das bedeutet, habe ich im letzten Jahr gründlich gelernt. Eine Abkehr von dem toten Freund nützt niemandem und ist von mir nicht zu erwarten.“ 239
Doch auch wenn dieser „Klärungsversuch“ Hentigs nun erstmals eine eindeutige Verurteilung von sexuellem Missbrauch im Allgemeinen sowie von Gerold Beckers Taten im Besonderen enthält, gelingt es Hentig auf d iesem Wege nicht mehr, die öffentliche Diskussion zum Thema entscheidend zu beeinflussen. Zwar greifen einige Zeitungen jene neuerliche Stellungnahme Hentigs zumindest am Rande auf 240, die öffentliche Wahrnehmung seiner Person und seines Werkes hat sich zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits radikal und nachhaltig gewandelt. Eben dieser sich insbesondere im März und April 2010 vollziehende Wandel soll deshalb im Folgenden noch einmal kurz rekonstruiert und diskutiert werden, bevor im Anschluss daran in Kapitel 2.2.3 nach der Bedeutung der skizzierten Vorgänge für die zukünftige erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Person und Werk Hentigs gefragt wird.
2.2.1 Die weitere Diskussion: Zur Person Hentigs „Man kann es immer noch nicht glauben, dass dieser alte Mann, der jahrzehntelang so sehr und auch so schön für das Verletzliche im Menschen eingetreten ist, […] ebenso lange dem Missbrauch von Kindern zusah oder die Augen vor diesem Missbrauch mit einer Hartnäckigkeit verschlossen hat, die sich ebenfalls wie Mittäterschaft anfühlt“ 241, schreibt Peter Michalzik am 31. März 2010 in der Frankfurter Rundschau zum „Fall des großen Pädagogen Hartmut von Hentig“ 242 und bringt damit einen 238 Siehe hierzu genauer oben, Fußnote 169. 239 Hentig 2011a, S. 1 240 Vgl. bspw. Schindler 2011 und Schultz 2011. 241 Michalzik 2010, S. 32 242 Ebenda
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entscheidenden Gegensatz auf den Punkt: Hentig habe, wie Michalzik ausführt, „sozusagen für das Beste an der Nachkriegspädagogik“ gestanden, weshalb man „bei ihm nicht umsonst gern vom Doyen der deutschen Pädagogik“ gesprochen habe, und „dieser Mann“ solle nun „in intimem Kontakt mit der finsteren Welt des Kindesmissbrauchs stehen“? 243 „Auch mit blühender Vorstellungskraft bringt man das nur schwer zusammen“, konstatiert Michalzik und schließt: „Hier erleben zwei Welten eine Art Kurzschluss, Welten, von denen man dachte, dass sie weiter voneinander entfernt nicht sein könnten.“ 244 Dieser „Kurzschluss“ zweier Welten ist es denn auch, der einen großen Teil der Faszination zu erklären vermag, den der „Fall des großen Pädagogen Hartmut von Hentig“ 245 auf die deutsche Medienlandschaft ausübt. So spielt nicht nur Tanjev Schultz’ viel zitierter Artikel „Zeugnistage“ ganz gezielt mit jener in der Figurenkonstel lation Hentig/Becker angelegten Spannung z wischen „Deutschlands berühmtestem Pädagogen“ und dessen räumlicher wie persönlicher Nähe zu dem mit Missbrauchsvorwürfen schwer belasteten Gerold Becker 246, auch die Bild-Zeitung hebt diesen Gegensatz in dem ihr eigenen Duktus hervor, wenn sie – einem Portrait Hentigs ein großformatiges, geschwärztes Bild Beckers gegenüberstellend – titelt: „Deutschlands berühmtester Schul-Professor liebt Skandal-Direktor vom Odenwald“ 247. Das ungemein große öffentliche Interesse an der Person Hentigs und dessen Verstrickung in die Ereignisse um Gerold Becker und die Odenwaldschule bestätigt in dieser Hinsicht nicht nur die in Kapitel 2.1 bereits thematisierte Sonderrolle H entigs als öffentlicher Pädagoge, es wird darüber hinaus noch einmal mehr deutlich, in welchem Maße das vorherige Hentig-Bild eines der Idealisierung gewesen war, denn erst in jener Rolle als „Papst“ 248 und „Guru“ 249 der Pädagogik eignet sich die Person Hentigs so hervorragend als Gegenbild zur „finsteren Welt“ 250 des Gerold Becker. Um diesen wahrgenommenen Gegensatz für die Leserinnen und Leser zu verdeutlichen, werden im Zuge des Odenwaldschulskandals neben Formulierungen wie solchen, Hentig sei der „bedeutendste deutsche Pädagoge der Nachkriegszeit“ 251 und „Urvater der modernen Reformpädagogik“ 252, denn immer wieder auch religiöse Motive zur Charakterisierung der hentigschen Sonderrolle herangezogen – etwa wenn Reinhard Kahl schreibt, Hentig habe „etwas von einem Christus“, „so leidend und 243 Ebenda 244 Ebenda 245 Ebenda 246 Vgl. Schultz 2010b, S. 3 sowie oben, S. 39 ff. 247 Reinhardt & Schwarz 2010, S. 6 248 Kahl 2010c, S. 13 249 Füller 2010a, S. 1 250 Michalzik 2010, S. 32 251 Füller 2010b, S. 10 252 Kerstan & Spiewak 2010, S. 71
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leidenschaftlich, so freundlich und zart, so einfühlend und zerbrechlich“ 253, oder wenn Heinz-Elmar Tenorth in der ZEIT mit den Worten zitiert wird, Hentig sei in der „in viele Gemeinden und Sekten zerfallenen Kirche“ der Reformpädagogik „der wichtigste Prediger, eine Art Oberpriester“ gewesen 254 –, nur um das auf diese Weise hergestellte Bild sodann, im Sinne eines „Sündenfalls“ 255 Hentigs, umso wirkungsvoller mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen kontrastieren zu können. So ergänzt etwa Kahl – bis dato eher als Bewunderer denn als Kritiker Hentigs in Erscheinung getreten 256 – seine Formulierung, Hentig habe „etwas von einem Christus“, mit dem Hinweis: „Ich sage ‚etwas von einem Christus‘ und bleibe dabei. Aber ich habe auch häufig eine andere Seite erlebt, eine streng kategoriale, herrisch rechthaberische, wenn er bei Interviews erst mal die Eingangsfrage korrigierte, wenn er das Raster zurechtrücken wollte, damit dann alles gut passt. Diese besserwisserische Seite, unter der manche seiner Mitarbeiter litten, gehört aber nicht zu dem eindeutigen Bild, das wir wollten. Wir, die wir immer noch viel zu sehr erlösungsbedürftig waren und sind und deshalb dem schönen platonischen Ideenhimmel zuweilen den Vorrang vor irdischen Beobachtungen geben. Da gibt es Abspaltungen, die Hentig schärfer an sich vorgenommen und Idealisierungen, die er schöner und perfekter modelliert hat, als seine Anhänger es konnten.“ 257
Die Tragweite d ieses Wahrnehmungswandel wird dabei spätestens dann deutlich, wenn Micha Hilgers in der Frankfurter Rundschau schreibt: „Leuten wie von Hentig, die 253 Kahl 2010a, S. 64 254 Kerstan & Spiewak 2010, S. 71 255 Esser & Reinke-Nobbe 2010, S. 39. Zur Kritik an der Verwendung des Begriffs „Sündenfall“ im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule siehe einen entsprechenden Kommentar Meike Sophia Baaders, die in einer Besprechung von Christian Füllers 2011 erschienener Monographie Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte (Füller 2011) konstatiert: „Einzig der Titel des Buches – ‚Sündenfall‘ – macht etwas stutzig. Schließlich ist der ‚Sündenfall‘ die Menschwerdung und die Voraussetzung für Erkenntnis. So aber ist der Titel mit Sicherheit nicht gemeint.“ (Baader 2011, S. 316) 256 Reinhard Kahl studierte in den 1960er Jahren bei Hartmut von Hentig in Göttingen Pädagogik und arbeitet seitdem als Filmemacher, Wissenschaftsjournalist und Buchautor. Im Rahmen dieser Tätigkeiten schrieb er nicht nur zahlreiche lobende Rezensionen über Bücher Hentigs (vgl. etwa Kahl 1999 oder Kahl 2007), sondern drehte darüber hinaus 1997 ein 45-minütiges filmisches Portrait Hentigs mit dem Titel In Sachen Bildung: Lob des Anfängers (in dem auch Gerold Becker ausführlich interviewt wird) und widmete ihm seinen im Jahre 2004 erschienenen eigenen Erfolgsfilm Treibhäuser der Zukunft. Für September 2005 war zudem in Hentigs damaligem Hausverlag Beltz die Veröffentlichung eines von Kahl verfassten Buches mit dem Titel Hartmut von Hentig. Ein Portrait (ISBN: 978 – 3407857743) geplant, kurz vor dem offiziellen Erscheinungstermin zog der Verlag die Veröffentlichung jedoch ohne Angabe von Gründen zurück. 257 Kahl 2010a, S. 64
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noch nicht einmal eine Demenz als Entschuldigung für ihre Einlassungen vorbringen können, wäre in den Arm zu fallen, wenn nicht öffentlich der Mund zu verbieten.“ 258 Zwar bleiben solch radikale Formulierungen eher die Ausnahme, sie bestätigen aber dennoch, was Katja Irle bereits einige Tage zuvor – ebenfalls in der Frankfurter Rundschau – konstatiert hatte: Die öffentliche Auseinandersetzung mit der Person Hentigs kommt in vielerlei Hinsicht einer Demontage nahe, der „Demontage eines Denkmals“ 259. Diese Demontage beschränkt sich allerdings nicht allein auf Hentigs Status als „Guru“ und „Säulenheiliger“ 260 der Pädagogik, sie weitet sich vielmehr schon bald auf dessen persönliche und berufliche Verbindungen aus. So schreibt etwa Alexander Cammann in der ZEIT , Hentig sei (und hier bezieht er sich auf eine Formulierung Ralf D ahrendorfs) Teil einer „Protestantischen Mafia“ gewesen, die die frühe Geschichte der Bundesrepublik durch eine „Mischung von Eros, Geist, Pädagogik und männerbündischer Eliterekrutierung“ entscheidend mitgeprägt habe und zu deren Netzwerk neben den Weizsäckers, den Dönhoffs und Georg Picht auch der „schillernd-verführerische“ Hellmut Becker gehört habe – der mit Gerold Becker nicht verwandte spätere Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.261 Hierbei habe es sich um eine Gruppe einflussreicher Persönlichkeiten aus Politik und Pädagogik gehandelt, die, so Cammann weiter, durch ihr „elitäres Grundgefühl“ dabei geholfen habe, „Grauzonen ab und an lässig zu übersehen“, weshalb es sich im „Falle Gerold Becker/Hartmut von Hentig“ denn auch um einen „klaren Fall von Elitenversagen“ handele, wenn „ein Pädagoge und sein befreundetes Umfeld“ Missbrauch systematisch nicht als solchen wahrnähmen.262 258 Hilgers 2010, S. 12 259 Irle 2010, S. 5 260 Füller 2010a, S. 1 261 Cammann 2010, S. 23 (Zu dem von Ralf Dahrendorf geprägten Begriff der „Protestantischen Mafia“ siehe genauer u. a. Brachmann 2015, S. 195.) 262 Ebenda. „Warum wurde […] Hartmut von Hentig, der sich beschönigend vor Becker stellte, so lange geschont? Warum blieb er der verehrte Übervater der Reformpädagogik? Weil Hentig geschützt wurde von mächtigen Intellektuellen, mächtigen Eltern, mächtigen Politikern, Publizisten und Wirtschaftsführern?“ (Simon & Wileke 2010, S. 17), fragen Jana Simon und Joachim Wileke in der gleichen Ausgabe der ZEIT und fügen hinzu: „Auch unter Reformpädagogen wurde vermutet, dass weitere Enthüllungen auf ‚hoher journalistischer Ebene verhindert w urden‘. Becker und vor allem Hentig hatten einflussreiche Bekannte in vielen Redaktionen, auch bei der ZEIT . Die langjährige Herausgeberin, die verstorbene Marion Gräfin Dönhoff, war mit Hentig befreundet. Sein Reformwerk, auch die Odenwaldschule, wurde in ZEIT -Artikeln wohlwollend besprochen. ‚Man darf seinen Lehrer auch einmal anfassen, ihn umarmen‘, hieß es 1985 in der ZEIT , ‚es sind so Kleinigkeiten, an denen der Besucher das Klima einer Schule spürt.‘“ (Ebenda, S. 18) Zu jenen Netzwerken und Hentigs vermeintlicher Verstrickung in diese siehe darüber hinaus Schmoll 2010, Posener 2010, Bartsch & Verbeet 2010, S. 43; Füller 2011 sowie die bereits 2009 erschienene Studie Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben von Ulrich Raulff (Raulff 2009).
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Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft
Hentig selbst schreibt hierzu später, es sei eine „wohlkalkulierte Erwartung, dass der gewünschte Eklat umso größer“ sei, „je weiter oben man den eigentlich Schuldigen“ ausmache, und ergänzt: „Hentig eignet sich da einstweilen doch noch etwas besser als Bueb – vollends wenn man dabei die Prominenz von Richard von Weizsäcker über Antje Vollmer und Adolf Muschg bis zur toten Gräfin Dönhoff mit in Verruf ziehen kann. Je höher der Sockel, umso krachender der Sturz. Darum nennt mich, wer mir einen solchen bereiten will, erst einmal bieder den ‚verehrten Hartmut von Hentig‘, dann aber schon genüsslich ‚Deutschlands berühmtesten Pädagogen‘, einen ‚Säulenheiligen‘, einen ‚Guru‘ und schließlich den ‚Papst‘ der Pädagogik. – Selbst ich sehe ein: Wenn ich das bin, geschieht mir recht, wenn ich tief stürze.“ 263
Ganz ähnlich argumentiert auch Sten Nadolny in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung, wenn er schreibt, Tanjev Schultz habe in seinem Artikel „Hentig unbedingt zu einem irgendwie […] Tatverdächtigen machen“ wollen, um so einer „der vornehmsten Aufgaben des Journalisten“ gerecht zu werden, derjenigen nämlich, „Größen zu Fall zu bringen“ 264, und Lutz van Dijk resümiert in einem „Offenen Brief eines jüngeren Weggefährten“ direkt an Hentig gewandt: „Diejenigen, die jetzt mitmachen bei der ‚Demontage eines Denkmals‘, vergessen, dass selten jemand so eindeutig gegen Denkmäler war und so eindeutig zu selbstbestimmtem Denken und Handeln aufgerufen hat wie Du. Blinde Flecken in der Verehrung Deiner Person bei manchen Deiner nun ehemaligen Anhänger rechtfertigen keine neuen blinden Flecken in der jetzt umso radikaleren Abwehr von allem, was Deinen Namen trägt.“ 265
Die Folgen dieser Entwicklung wirken sich dabei ganz unmittelbar auch auf Hentigs Teilnahme am öffentlichen Leben aus: War er bis März 2010 noch gern gesehener Gast öffentlicher Veranstaltungen und viel gebuchter Festredner gewesen, gerät er nun deutlich und nachhaltig ins gesellschaftliche Abseits. So sieht er sich im Oktober 2011 etwa gezwungen, seinen ersten öffentlichen Vortrag nach Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe gegen Gerold Becker in „buchstäblich letzter Minute“ abzusagen, da er – wie es in einer entsprechenden Stellungnahme heißt – erfahren habe, dass der Opferverein Glasbrechen „im Internet gegen meinen heutigen Auftritt im Rahmen der Golo Mann- Tagung in Frankfurt protestiert, dass er vor dem Veranstaltungsort zu demonstrieren plant und mich im Anschluss an meinen Vortrag zur Rede stellen will“ 266. Noch im selben
263 Hentig 2010d, S. 11 (Hervorhebung im Original) 264 Nadolny 2010, S. 46 265 van Dijk 2010b, S. 8 266 Zitiert nach Eppelsheim 2011, S. 11.
(Selbst-)Demontage eines Denkmals: Der Odenwaldschulskandal
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Monat wird ihm der 1994 verliehene Comenius-Preis 267 durch einen in der WELT abgedruckten Brief der Deutschen Comenius-Stiftung offiziell mit dem Hinweis aberkannt, Hentig möge die damalige Preissumme von 20.000 DM (die er im Anschluss in gleichen Teilen an die Odenwaldschule sowie an die Helene-Lange-Schule Wiesbaden weitergereicht hatte 268) an den „Opferfonds der Odenwaldschule […] transferieren, auf dass wenigstens materiell eine Geste der Wiedergutmachung sichtbar“ werde 269. Die ihm damals zusätzlich übergebene „bronzene Comenius-Statuette“ hingegen, so die Verfasser des Schreibens, möge er behalten, „zumal der böhmische Bischof Sie zu mahnen vermag, sich um das Wohl und Wehe von Kindern zu kümmern, nicht aber um die sexuelle Befriedigung Erwachsener durch den Missbrauch an den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen.“ 270 Zwar bleibt auch diese insbesondere durch Rainer Winkel 271 initiierte Aberkennung des zuvor verliehenen Preises nicht unumstritten 272 – und führt letztlich auch 267 Der betreffende Preis, der laut Selbstdarstellung der Comenius-Stiftung dafür vorgesehen ist, Menschen für ihren „besonderen Einsatz im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe“ zu ehren (vgl. http://wp.comenius-stiftung.de/comenius-preis/, letzter Zugriff: 01. 11. 2017), wurde H entig am 12. März 1994 unter anderem mit der Begründung verliehen, er habe als „Gründer und langjähriger Wissenschaftlicher Leiter der Bielefelder Laborschule und des Oberstufen-Kollegs der Schulreform entscheidende Impulse gegeben“ und darüber hinaus durch ein „beispielhaftes Engagement die Möglichkeiten einer Humanisierung des schulischen Lebens scharfsinnig analysiert und mit Leidenschaft in der Öffentlichkeit vertreten“ (Winkel 1994, S. 19). 268 Die Preisträger des Comenius-Preises sind gehalten, das ihnen verliehene Preisgeld an „solche Personen oder Institutionen weiterzugeben, die in ihrem Sinne tätig sind“ (vgl. http://wp.comenius- stiftung.de/comenius-preis/, letzter Zugriff: 01. 11. 2017). 269 Schneider & Winkel 2011, S. 23. Zu der entsprechenden Rückforderung der Comenius-Stiftung heißt es in dem von Rainer W. Schneider und Rainer Winkel verfassten Schreiben genauer: „Damals [bei Weiterleitung des Preisgeldes an die Odenwaldschule und die Helene-Lange- Schule im Jahr 1994] konnten wir noch nicht einmal ahnen, dass an der einen Schule Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht wurden und an der anderen ein Musiklehrer Hunderte von pornografischen Fotos seiner Schüler anfertigte. Als uns diese Strafbestände bekannt wurden, wir [bei Ihnen, Hartmut von Hentig] nachfragten und um Aufklärung baten, wurde der Gründer und Vorsitzende unserer Stiftung [Rainer Winkel] durch Sie der ‚Vorverurteilung‘ geziehen, und von der damaligen Leiterin der Helene-Lange-Schule Enja Riegel erhielt er gar ein ‚Hausverbot‘.“ (Ebenda) Zu den hier angesprochenen, offenbar bereits im Frühjahr 2001 vollzogenen Vorgängen siehe genauer Winkel 2011, S. 13. 270 Schneider & Winkel 2011, S. 23 271 Winkel hatte sich als Gründer und Vorsitzender der Comenius-Stiftung bereits im Juli 2011 in einem offenen Brief sowie in Anrufung der gemeinsamen „jahrzehntelange[n] freundschaftliche[n] Beziehung“ in der Welt am Sonntag mit der Bitte an Hentig gewandt, sich öffentlich erneut zu erklären (Winkel 2011). Auf diesen Brief nimmt das neuerliche Schreiben von Winkel und Schneider ausführlich Bezug. 272 Siehe hierzu insbesondere die entsprechende Diskussion im Forum Kritische Pädagogik mit Beiträgen von Herrmann & Gruschka (2011), Schulze (2011) und Huber (2011).
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Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft
zu der von Ulrich Herrmann und Andreas Gruschka lancierten Veröffentlichung des hentigschen „Klärungsversuchs“ 273 –, der skizzierte Vorgang als solcher kann aber durchaus als symptomatisch für den fundamentalen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung Hentigs gelten. Vom viel gelobten „Nestor der deutschen Pädagogik“ ist Hentig in wenigen Monaten zur Persona non grata geworden: zum „Pate[n] einer Päderasten-Seilschaft“ 274, von dem man sich im Zweifelsfall öffentlichkeitswirksam zu distanzieren versucht, um so – wie Herrmann und Gruschka es in einer direkt an Winkel gerichteten Replik formulieren – zu vermeiden, selbst „in den Strudel des Ansehensverlustes“ 275 zu geraten.
2.2.2 Die weitere Diskussion: Zum Werk Hentigs Die öffentliche Diskussion zum Thema „Hartmut von Hentig und die Odenwaldschule“ beschränkt sich allerdings nicht allein auf die Person Hentigs, zugleich gerät auch dessen theoretisches und praktisches Werk als Pädagoge mit auf den Prüfstand. Das hat mindestens zwei Gründe: Zum einen ist sexueller Missbrauch, wie Volker Zastrow es formuliert, immer ein „spezifisch pädagogisches Verbrechen“ 276, weshalb die genannten Vorwürfe zwangsläufig auch die Glaubwürdigkeit des Pädagogen Hentig betreffen, zum anderen sind Person und Werk im Falle Hentigs ohnehin ganz besonders eng miteinander verbunden. So notiert Hentig bereits in seinem 1983 veröffentlichten „Versuch einer pädagogischen Autobiographie“, „Wie ich Pädagoge geworden bin, ist nicht ablösbar davon, wie ich ich geworden bin“, und er ergänzt: „Will ich meine Pädagogik erklären, muß ich mich erklären. Die ‚Lehren‘, auf die ich mich im Laufe der Jahre berufen habe, die Ableitung und Zuordnung, die man meinen Schriften zuteil werden läßt, das theoretische Gerüst meiner praktischen Arbeit stimmen über die Zeit hinweg vornehmlich in meiner Person überein. In ihr steckt darum auch die einzige zulässige Abbreviatur.“ 277
Knapp 25 Jahre später bekräftigt er diese Einschätzung noch einmal mit dem Hinweis, die entsprechende Umkehrung sei „freilich seit ebenso langer Zeit ebenso wahr“: „Will ich mich erklären, muss ich vor allem meine Pädagogik erklären.“ 278 Das allerdings bedeutet zugleich: Gerät die Person Hentig in Erklärungsnot, gerät auch dessen Pädagogik in Erklärungsnot. 273 Siehe oben, S. 49 f. 274 Jens 2011, S. 177 275 Herrmann & Gruschka 2011, S. 1 276 Zastrow 2010, S. 10 277 Hentig 1983a, S. 69 278 Hentig 2009c, S. 681
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„Es sei ihm nie gelungen, seinen Beruf von seinem Leben zu trennen“, zitiert denn auch Katja Irle rückblickend im März 2010 eine von Hentig im gemeinsamen Gespräch getätigte Aussage und ergänzt: „Genau das versucht er nun. Es wird ihm kaum gelingen.“ 279 Er beschädige vielmehr, so Irle, durch sein „beredtes Schweigen“ nicht nur die Opfer, sondern auch „sein eigenes Lebenswerk“.280 Ganz in diesem Sinne heißt es noch am selben Tag in der Bild-Zeitung: „Hartmut von Hentig gilt als einer der wichtigsten Pädagogen Deutschlands. Er setzte sich zeitlebens für ein reformiertes Schulwesen ein, war aktiv in der Friedensbewegung, beriet Willy Brandt. Grundgedanke seiner Philosophie ist die Stärkung des Individuums. Doch all seine klugen Ideen klingen plötzlich wie Heuchelei!“ 281 Mit der Person Hentigs geraten in dieser Weise auch dessen Arbeiten in Misskredit, und das gerade weil Hentig zuvor stets für eine „Stärkung des Individuums“ und damit für das genaue Gegenteil der nun diskutierten Missbrauchsfälle eingetreten war – sei es durch seine Formel „Die Menschen stärken, die Sachen klären“ 282 oder durch seinen als freiwillige Selbstverpflichtung für Pädagogen konzipierten „Sokratischen Eid“, dessen erste Zeilen lauten: „Als Lehrer und Erzieher verpflichte ich mich, die Eigenarten eines jeden Kindes zu achten und gegen jedermann zu verteidigen; für seine körperliche und seelische Unversehrtheit einzustehen.“ 283 Auf diesen Gegensatz verweist auch Oskar Negt, wenn er in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau erklärt, Hentig begreife sich „mit Recht als Aufklärer im Sinne Kants“, weshalb seine in der Süddeutschen Zeitung zitierten Aussagen nicht nur unerträglich s eien, sondern darüber hinaus allem widersprächen, wofür dieser in seinem Leben eingetreten sei 284, und in einem Leserbrief in der Frankfurter Rundschau heißt es: „Es wurde gesagt, was dringend gesagt werden musste: Anspruch und Wirklichkeit des größten deutschen Reformpädagogen stehen einander diametral entgegen. Hentig beschädigt mit seinem Verhalten nicht nur sein eigenes Lebenswerk, sondern auch das vieler anderer engagierter Pädagogen.“ 285
Während einige Autorinnen und Autoren jedoch auf diese Weise das Werk Hentigs ganz bewusst in Gegensatz zu den genannten Missbrauchsfällen rücken und eine 279 Irle 2010, S. 5 280 Ebenda 281 Reinhardt & Schwarz 2010, S. 6 (Hervorhebung im Original durch Fettsatz) 282 Vgl. Hentig 1985b, S. 49 ff. 283 Hentig 2003a, S. 258. Auf diesen „Sokratischen Eid“ Hentigs nehmen denn auch zahlreiche Autorinnen und Autoren in Auseinandersetzung mit Hentigs Äußerungen zum Thema „Odenwaldschule“ Bezug (vgl. bspw. Füller 2011, S. 246; Jens 2011, S. 181 ff. oder Herrmann 2012, S. 107). 284 Negt & Irle 2010, S. 20 285 Fahrenbach 2010, S. 28
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Beschädigung desselbigen gerade aus dieser Spannung heraus zu begründen versuchen, beginnen andere schon bald damit, das hentigsche Werk selbst nach etwaigen Hinweisen auf die Ereignisse um Gerold Becker und die Odenwaldschule abzuklopfen und eine mögliche Mitschuld der hentigschen Pädagogik an den zu beklagenden Missbrauchsfällen zu diskutieren. So schreibt etwa Jürgen Kaube bereits am 9. März 2010 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Eine ‚Polis im Kleinen‘ hat der Pädagoge Hartmut von Hentig die ideale Schule einmal genannt. Nach den Berichten über den Missbrauch von Schülern an der hessischen Odenwaldschule […] tritt die entsetzliche Möglichkeit, die in dieser Formulierung steckt, zutage. Zwar meinte Hentig, die Schule solle nicht nur den Lehrstoff unterrichten, s ondern auch Demokratie, Zivilität, Solidarität, Moral und was man sich noch alles an wichtigen Dingen vorstellen kann. Doch die Wortwahl, die zu ‚Polis‘ griff und damit schönes Griechentum mitbeschwor, ist nicht ohne Symptomwert. Denn es ist das Ideal des schönen und ganzen Lebens, der Gemeinschaft und der Freundschaft, das viele reformpädagogische Diskurse prägt und das hier mitzitiert wird. Dabei war die historische ‚Polis im Großen‘ – von Opferblut dampfend, auf Sklavenhaltung gegründet, päderastisch – ja durchaus nicht so, dass sie sich irgendjemand und gar für Kinder und Jugendliche als soziales Modell wünschen kann.“ 286
Kaube spricht damit einen zentralen Aspekt an: Gerade Hentigs fortwährende Bezugnahme auf Autoren, Begriffe und Ideale der griechischen Antike wird in der nun folgenden öffentlichen Diskussion immer wieder kritisch hinterfragt und in Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule gebracht, wobei insbesondere der Begriff des „pädagogischen Eros“ und mit ihm die – wie Kaube es formuliert – „päderastische“ Seite des „schönen Griechentums“ im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen.287 Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei wiederholt eine Passage aus Hentigs im Januar 2010 gehaltener Stuttgarter Rede zum Thema „Das Ethos der Erziehung“ 288, in der er als eines von zehn notwendigen „Elementen der Erziehung“ auch dasjenige der „Zuwendung und Zuneigung“, der „Liebe zu Kindern“ nennt. Dort heißt es: „Dass man Kinder mögen muss, um ihr Erzieher sein zu können, wird leicht dahergeredet. Man erspart sich damit die Einsicht, wie viel mehr d ieses ‚Mögen‘ sein muss als die Abwesenheit von Unlust und Ungeduld oder bloßes Aushalten aus Pflicht. Es muss eine Freude an ihrer Lebhaftigkeit und zunehmenden Freiheit, Neugier auf ihren Wandel, 286 Kaube 2010, S. 29 287 Zum Begriff des pädagogischen Eros sowie zu dessen historiographischer Einordnung siehe in allgemeiner Perspektive insbesondere Gaus 2010; Oelkers 2011; Baader 2012a; Herrmann 2012 sowie weiter unten, Kapitel 5.2. 288 Hentig 2010c (Vgl. hierzu genauer oben, Fußnote 88.)
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Wohlgefallen an ihrer Wohlgestalt einschließen – und von daher eine Bereitschaft, mit ihnen zu teilen, zu rechten, zu leiden, zu fantasieren, die Zeit zu vergessen, längst Bekanntes neu zu entdecken. Eine solche – nun wage ich das Wort – Liebe zu Kindern erleichtert dem Erzieher seine Aufgabe nicht nur, sie fordert Opfer von ihm, die nur dann taugen, wenn er sie gern bringt. Früher hat man das den ‚pädagogischen Eros‘ genannt. Diesen Gott hat Platon in die Erziehung eingeführt; […] Noch Eduard Spranger kann unbefangen sagen, es werde ‚im Idealfall‘ erwartet, dass jeder echte Erzieher etwas von ‚pädagogischer Liebe‘ in sich trage, und diese sei mehr als ein Klima oder ein Medium der Zuneigung – sie sei eine Form der ‚persönlichen Liebe‘. Unsere aufgeklärte Gesellschaft ist in diesem Punkt kleinmütig. Sie blickt misstrauisch auf jede Zärtlichkeit und errichtet fürsorgliche Schutzvorkehrungen gegen den scheuen Gott. Athene und Telemachos, Wilhelm Meister und Mignon, Kapitän Vere und Billy Budd lässt sie nur in der Literatur zu.“ 289
Zwar waren diese Äußerungen Hentigs im Januar 2010 zunächst auf keinerlei öffentliche Kritik gestoßen 290, im Zuge des Odenwaldschulskandals allerdings ändert sich diese Situation grundlegend. So schreibt Tanjev Schultz bereits am 12. März 2010 in direktem Bezug auf eben jene Stuttgarter Veranstaltung (zu der er zuvor selbst einen lobenden Artikel in der Süddeutschen Zeitung verfasst hatte 291), es habe eine Stelle in Hentigs Vortrag gegeben, bei welchem dem „begeisterten Zuhörer schon damals flau“ 292 geworden sei. Schultz zitiert daraufhin einige der genannten Stellen zum „pädagogischen Eros“ und schließt mit den Worten: „Wie verhöhnt muss sich ein Missbrauchsopfer bei diesen Sätzen fühlen“ 293. Diese Formulierung wählt ganz ähnlich auch die Bild-Zeitung, wenn sie am darauffolgenden Tag – ihrerseits wiederum den Artikel Schultz’ zitierend – schreibt, Hentigs Äußerung, die Gesellschaft blicke „misstrauisch auf jede Zärtlichkeit“, sei für die betreffenden Missbrauchsopfer „der blanke Hohn“.294 Keine zwei Monate später schließlich, im Mai 2010, veröffentlicht die Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik unter dem Titel „Das Ethos der Erziehung: Der Streit um die Reformpädagogik“ noch einmal den Stuttgarter Original- Vortrag Hentigs, verbunden mit einem Aufsatz Micha Brumliks, der sich – wie es im Editorial der Zeitschrift heißt – „in einer kritischen Betrachtung […] insbesondere mit dessen [Hentigs] Auslassungen und Andeutungen zum ‚pädagogischen Eros‘“ 289 Hentig 2010c, S. 89 f. 290 Das gilt auch für die Veröffentlichung seines Aufsatzes „Das Ethos der Erziehung“ im April 2009 in der Zeitschrift für Pädagogik, der jene zehn „Elemente der Erziehung“ im selben Wortlaut enthält (vgl. Hentig 2009a, S. 518 f ). 291 Siehe oben, Kapitel 2.1. 292 Schultz 2010b, S. 3 293 Ebenda 294 Reinhardt & Schwarz 2010, S. 6 (Hervorhebung im Original durch Versalsatz)
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Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft
auseinandersetzt 295. In diesem Text geht Brumlik sogleich auf die betreffenden Formulierungen Hentigs ein und fragt: „Was genau bedeutet es, dass ‚unsere aufgeklärte Gesellschaft‘ hinsichtlich ‚pädagogischer Liebe‘ ‚kleinmütig‘ sei und das Erscheinen des ‚scheuen Gottes‘, das heißt des Eros, nur in der Literatur zulasse? Und vor allem: Belegen die von Hentig hinzugezogenen literarischen Gestalten tatsächlich das, was er als ‚pädagogische Liebe‘ im besten Sinne verstehen könnte?“ 296
Das möge, so Brumlik, beim ersten der drei genannten Paare, Athene und Telemachos, noch der Fall sein. Die Gestalt der Mignon in Goethes Wilhelm Meister allerdings provoziere „schon eher Bedenken“: „Nicht nur Germanisten ist bekannt, dass im 18. Jahrhundert ‚Mignon‘ der Name für vor allem schöne, verführerisch wirkende Knaben war; und die Mühe, die sich Goethe gibt, am Ende die sinnverwirrende Gestalt ‚Mignon‘ doch noch zu Wilhelm Meisters und der Leser Beruhigung als Mädchen erscheinen zu lassen, beweist denn doch, dass es hier um die erotischen Reize eines Kindes geht. Aber wie dem auch sei – gänzlich fatal wird der Bezug auf Herman Melvilles Erzählung ‚Billy Budd‘, der Geschichte eines jungen Matrosen, der von einem offensichtlich lüsternen und sadistischen Bootsmann, Clagg, so schikaniert und bedrängt wird, dass er ihn schließlich umbringt. Warum Hartmut von Hentig dann den Namen des Kapitäns des Schiffes, Vere, der Budd trotz einer deutlichen Zuneigung zu dem verzweifelten jungen Matrosen hängen lässt, erwähnt, bleibt im Zusammenhang des ‚pädagogischen Eros‘ sein Geheimnis.“ 297
Brumliks Urteil fällt in dieser Hinsicht zwiespältig aus: Einerseits stelle Hentigs Text, so Brumlik, ein „mustergültiges Beispiel verantwortlicher und reflektierter Pädagogik dar – erfahrungsgesättigt, theoretisch und moralisch begründet, ohne hochtrabende Terminologie formuliert und somit auch für wissenschaftlich nicht sozialisierte Eltern und Erzieher einsichtig und nachvollziehbar“ 298; andererseits aber biete sein Text auch deutlichen „Anlass zur Kritik“ – und zwar „fatalerweise“ an genau jenen Stellen, „in denen sich Hentig dem gegenwärtig viel diskutierten Thema des ‚pädagogischen Eros‘“ widme, der „durch die bekannt gewordenen Missbrauchsfälle als männerbündische, päderastische Ideologie in Verruf geraten“ sei.299 In diesem Punkt attestiert Brumlik dem hentigschen Text denn auch „problematische Auslassungen und Ungereimtheiten“.300 295 Leisegang et al. 2010, S. 85 296 Brumlik 2010, S. 99 297 Ebenda, S. 99 f. 298 Ebenda, S. 99 299 Ebenda 300 Ebenda, S. 100
(Selbst-)Demontage eines Denkmals: Der Odenwaldschulskandal
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Eine solch differenzierte und detaillierte Analyse der betreffenden Textstellen bleibt allerdings die Ausnahme: Zwar zitieren etliche Autoren den genannten Vortrag H entigs in Auszügen 301, eine systematische, auch ältere Arbeiten mitberücksichtigende Auseinandersetzung mit dessen Äußerungen zum „pädagogischen Eros“ findet allerdings kaum statt.302 Das mag zum einen an dem zunächst weitestgehend journalistisch geprägten Charakter der Debatte liegen 303, zum anderen jedoch auch daran, dass die erziehungswissenschaftliche Diskussion zum Thema sich schon bald weniger auf die Einzelfälle Becker und Hentig konzentriert als vielmehr auf „die Reformpädagogik“ im Allgemeinen. So entwickelt sich im Folgezeitraum zwar eine breit geführte erziehungswissenschaftliche Debatte sowohl zum Verhältnis von 301 Vgl. bspw. Füller 2011, S. 132 f. und 249; Oelkers 2014b, S. 57 ff. oder Huckele 2014, S. 220. 302 So konzentriert auch Brumlik sich im Anschluss an die zitierte, knapp anderthalb Seiten umfassende Auseinandersetzung mit Hentigs Stuttgarter Rede auf den verbleibenden acht Seiten seines Aufsatzes in erster Linie darauf, anhand dreier historischer Beispiele den Charakter der Reformpädagogik als denjenigen einer „internationalen Bewegung“ zu kennzeichnen, während das Thema „Hartmut von Hentig und der pädagogische Eros“ in diesem Zusammenhang keine Rolle mehr spielt (vgl. Brumlik 2010, S. 100 ff.). Ähnliches gilt auch für Jürgen Oelkers, der in seinem 2014 publizierten Vortrag „Wenn die Reformpädagogik den Missbrauch deckt“ (Oelkers 2014b) zwar konstatiert, Hentig habe sich genau wie Gerold Becker auf „platonische Theorien des pädagogischen Eros“ bezogen, „mit denen die Nähe zum Kind gerechtfertigt wurde“ (ebenda, S. 50), und dabei mit immenser „Wortgewalt“ und hohem „persönlichem Ruhm“ die „‚Nähe‘ und ‚Liebe zum Kind‘ beschworen“ (ebenda, S. 57), als Beleg hierfür dienen allerdings auch Oelkers lediglich jener Stuttgarter Vortrag Hentigs zum „Ethos der Erziehung“ sowie dessen Aufsatz „Was habe ich damit zu tun?“ (Hentig 2010e) von 2010 (vgl. Oelkers 2014b, S. 57 ff.). Weitere Texte Hentigs zum Thema werden dementgegen von Oelkers nicht aufgeführt. Dies gilt insbesondere auch für denjenigen Text Hentigs, in dem sich dieser am deutlichsten – und aus heutiger Perspektive auch am problematischsten – zum Thema „pädagogischer Eros“ äußert: gemeint ist dessen 1996 im Rahmen einer Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin gehaltener Vortrag „‚Und dem Mentor glich sie ganz an Stimme und Aussehen‘. Nachdenkliches über die männliche Absicht in der Pädagogik“ (Hentig 1997). Dieser Text wird in der aktuellen Diskussion lediglich von Baader 2012a (S. 88) berücksichtigt. (Siehe hierzu genauer unten, S. 201 ff.) 303 Neben zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln erscheinen insbesondere im Jahr 2011 mehrere, zum Teil journalistisch, zum Teil autobiographisch angelegte Bücher zum Komplex Odenwaldschule, darunter Andreas Huckeles (alias Jürgen Dehmers) Wie laut soll ich noch schreien? (Dehmers 2011), Tilmans Jens‘ Freiwild (Jens 2011) und Christian Füllers Sündenfall (Füller 2011). Darüber hinaus werden zwischen 2011 und 2014 mehrere Filme zum Thema ausgestrahlt: die beiden Dokumentarfilme Und wir sind nicht die Einzigen (Röhl 2011) und Geschlossene Gesellschaft. Der Missbrauch an der Odenwaldschule (Schilling & Schmid 2011) sowie der Fernsehfilm Die Auserwählten (Röhl 2014), wobei sich der letztere lediglich lose an den Ereignissen um Gerold Becker und die Odenwaldschule orientiert (siehe hierzu auch Röhl 2015).
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Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft
Reformpädagogik und sexueller Gewalt 304 als auch zur Pädophilie-Diskussion der 1960er, 1970er und 1980er Jahre 305, eine detailliertere Auseinandersetzung speziell mit Hentigs theoretischen Arbeiten als Pädagoge und Erziehungswissenschaftler bleibt allerdings auch in d iesem Zusammenhang weitestgehend aus.306 Im Zuge des Odenwaldschulskandals setzen sich in dieser Hinsicht die weiter oben bereits skizzierten Mechanismen und Versäumnisse der bisherigen Hentig-Rezeption nahezu ungebrochen fort: Einerseits steht Hentig in seiner Rolle als „öffentlicher Pädagoge“ weiterhin im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses – und damit auch der öffentlichen Kritik –, andererseits aber geht die inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten auch hier nur selten über einige wenige Zitate und Schlagwörter hinaus. Dadurch wiederum bleiben auch die verschiedenen inhaltlichen Vorwürfe ihm gegenüber oft unpräzise und vage: So etwa wenn der Tagesanzeiger schreibt, die „antike Knabenliebe“ habe in Hentigs „Büchern über Erziehung“ einen „nicht unbedeutenden Part“ gespielt, was man allerdings als „Ausdruck seiner ungemeinen Bildung verstanden“ habe 307, oder wenn Wolfgang Edelstein im Berliner Tagesspiegel mit den Worten zitiert wird, der „pädagogische Eros“ und „diese ganze Mystifizierung pädagogischer Beziehungen unter Berufung auf eine höchst problematische Überlieferung aus der Antike“ seien „selbstwertdienlicher Quatsch dieser Kreise um Becker und von Hentig“ 308. Hierauf reagierend beklagt Hentig denn auch bereits im April 2010, seine Pädagogik werde „aus blanker (und nachweisbarer) Unkenntnis oder aus Mutwillen zu den Ursachen der Vorfälle gerechnet, die sich an der Odenwaldschule ereignet“ hätten, und er ergänzt: „[M]anches, zum Beispiel der ‚pädagogische Eros‘, kommt in meinen Schriften nur als Zitierung anderer vor – ich habe für ihn keine Verwendung. Indem die Journalisten jedoch voneinander abschreiben, sieht es so aus, als wimmele es in den Schriften des ‚erostrunkenen‘ Hentig nur so von diesen obendrein unsinnig miteinander verknüpften Phantomen: Griechenkult, Knabenliebe, Platonismus.“ 309
Dies ist eine Klage, die ganz ähnlich auch Lutz van Dijk formuliert, wenn er im September 2010 in einem Aufsatz für die Zeitschrift Pädagogik schreibt, „Gerold Becker und sein Freund, der greise Hartmut von Hentig“, seien „ohne Gerichtsurteil mit Ausstoßung bestraft“ worden, da sie „auf die Vorwürfe nicht so reagiert“ hätten, wie 304 Siehe hierzu insbesondere Oelkers 2011; Andresen & Heitmeyer 2012; Baader 2012b; Herrmann & Schlüter 2012; Thole et al. 2012; Miller & Oelkers 2014 und Andresen 2015. 305 Siehe hierzu insbesondere Baader 2010b; Baader 2012a, S. 90 ff.; Feddersen 2012; Reichhardt 2014, S. 762 ff.; Sager 2015, S. 125 ff. und Baader 2015b. 306 Am ausführlichsten gehen noch Brumlik 2012 und Oelkers 2014b vor. 307 Kalberer 2010, S. 2 308 Edelstein & Burchard 2010, S. 7 309 Hentig 2010d, S. 4
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„es sich viele gewünscht hätten“. Jetzt, so van Dijk, seien viele „in ihrer Wahrnehmung ehemals wertgeschätzter, ja auch über Jahrzehnte als Orientierung im eigenen Leben empfundener pädagogischer Theorien so erschüttert“, dass „eher Lähmung und Schweigen“ stattfinde anstelle von „differenzierter Auseinandersetzung“, die „keineswegs eine Kritik“ ausschließe.310 Eben solch eine kritische Form der Auseinandersetzung – allerdings noch ohne direkten Bezug auf Hentig – hatte bereits in der vorangegangenen Ausgabe der Pädagogik von Juli/August 2010 Klaus-Jürgen Tillmann gefordert, „die Geschichte der Reformpädagogik, die Geschichte der Internate“ einer „erneuten kritischen Aufarbeitung“ zu unterziehen, und zwar in Form „längerfristig angelegter wissenschaftlicher Arbeiten“.311 Dabei, so Tillmann, seien insbesondere „unklare Aussagen zum ‚pädagogischen Eros‘“ genauer zu untersuchen und „[n]icht nur historische Werke, sondern auch aktuelle Schriften aus der reformpädagogischen Diskussion“ auf den „Prüfstand“ zu stellen.312 Dies ist eine Forderung, die sich ganz ähnlich bereits im März 2010 bei Meike Sophia Baader findet, wenn diese in der tageszeitung resümiert: „Differenzierung […] tut not, um nicht von einander zu Unterscheidendes unter der allgemeinen Formel ‚Missbrauch‘ zum Amalgam werden zu lassen. […] Aufklärung tut not, aber eben genau in jener differenzierten Perspektive, um nicht eine erregte öffentliche Stimmung zu erzeugen, die zu dem führt, was die unlängst verstorbene Katharina Rutschky als ‚Missbrauch mit dem Missbrauch‘ bezeichnet hat.“ 313
Bezogen auf den Sonderfall Hartmut von Hentig ist es schließlich Bernard Bueb, der sich in der ZEIT an „alle Reformpädagogen“ mit dem „Appell“ richtet, „unsere Geschichte aufzuarbeiten, die Frage von Distanz und Nähe von Erwachsenen zu erörtern und Richtlinien zu erarbeiten, die allen pädagogischen Einrichtungen Orien tierung geben“ 314, und ergänzt: „Wir müssen die Ideen Hentigs retten, auch wenn wir jetzt kritisch mit ihm auch in Fragen von Nähe und Distanz ins Gericht gehen. Wir werden zu d iesem Thema in seinen Schriften die Spreu vom Weizen trennen müssen.“ 315 Dies hebt auch Theodor Schulze hervor, wenn er in einer Replik auf die Aberkennung des Comenius-Preises im Herbst 2011 konstatiert, es wäre zunächst „zu klären, in welcher Weise sich die Person und ihre Lebensweise einerseits und das gewürdigte Werk oder die gewürdigte Handlung andererseits gegenseitig bedingen“ 316, und er präzisiert: 310 van Dijk 2010a, S. 26 311 Tillmann 2010, S. 12 312 Ebenda 313 Baader 2010c, S. 18 314 Bueb 2010, S. 73 315 Ebenda 316 Schulze 2011, S. 2
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Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft
„Ich denke, man müsste die ‚pädagogischen Werke‘ – also die Erfindungen, Einrichtungen, Unternehmungen oder Ideen – in ihrem für Lernende und Lehrende, für Kinder und Menschen förderlichen Gehalt bewerten bezogen auf die Menschen, die mit ihnen umgehen, aber zunächst unabhängig von der Lebensgeschichte der Personen, die sie hervorgebracht oder propagiert haben. Dann erst sollte man prüfen, ob deren möglicherweise tadelnswürdigen Handlungen und Entscheidungen in bestimmten Situationen und Zusammenhängen ihres Lebens dazu ausreichen, ihre ‚pädagogischen Werke‘ nicht mehr als anerkennens- und nachahmenswert zu betrachten. Zweifellos wirkt sich die Art, wie ein Mensch lebt, denkt, sich äußert und darstellt, wie er sich zuordnet und wofür er Partei ergreift, auch auf das, was er tut und hervorbringt aus. Aber hier muss man genau sein und zeigen, wie es zu dem Verhalten kam und in welcher Weise es sich auf das ‚Werk‘ auswirkt, wie es das ‚Werk‘ verändert.“ 317
Wie kontrovers die von Schulze hier aufgeworfene Frage nach einer angemessenen zukünftigen Bewertung der „pädagogischen Werke“ Hentigs allerdings auch weiterhin diskutiert wird, zeigt sich spätestens anlässlich des 90. Geburtstags Hentigs im September 2015. Während Jürgen Oelkers in diesem Zusammenhang in der Süddeutschen Zeitung resümiert, der „Schatten Gerold Beckers“ laste nun unweigerlich auch auf den „Ideen“ Hentigs, weshalb dessen Pädagogik „schon mit Blick auf die Opfer der Odenwaldschule“ als „gescheitert“ verstanden werden müsse 318, plädieren andere Erziehungswissenschaftler wiederum dafür, bei aller Kritik an Hentigs Verhalten im Umgang mit den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule dennoch dessen „Lebensleistung zu würdigen“ 319. So konstatiert etwa Dietrich Benner, es könne und müsse zwar kritisiert werden, dass Hentig 317 Ebenda 318 Oelkers 2015, S. 12. Im Einzelnen heißt es bei Oelkers in diesem Zusammenhang: „Hartmut von Hentig wirkte, weil er als Person und Lehrer überzeugend zu sein schien wie kein Zweiter; gerade seine späten Vorträge verzückten das Publikum. Nun aber lastet der Schatten Gerold Beckers, der Minderjährige sexuell missbrauchte, auf diesen Ideen. Das macht jede Würdigung schwierig, zumal da Hentig schon früh Kontakte zur Odenwaldschule hatte und die Idee der Landerziehungsheime seine eigene Pädagogik weit mehr beeinflusst hat, als er am Ende zugestehen mochte. Denn die ‚totale‘ Erziehungssituation, in der sich Lernen mit Arbeit verbindet und Gemeinschaft herrscht, war das durchgehende Ideal dieses auf seine Weise doch sehr deutschen Pädagogen. Noch 2006 hat er sich von Gerold Becker als Experten für die Landerziehungsheime beraten lassen, als Becker eigentlich längst als Pädophiler entlarvt war und doch wieder auf die Füße fiel, wie immer in seinem Leben. Diese Pädagogik ist gescheitert. Das muss man allein schon mit Blick auf die Opfer der Odenwaldschule sagen. Damit ist aber auch ein Lebensentwurf gescheitert, und das erklärt den Rückzug. Es wird kein Comeback dieser Reformpädagogik geben, wenigstens nicht verbunden mit dem Namen Hartmut von Hentig – und das ist leider nicht das, was man zu einem solchen Geburtstag wünschen möchte, was man aber doch festhalten muss.“ (Ebenda) 319 Hansen-Schaberg 2015, S. 15. Siehe auch Huber 2015.
(Selbst-)Demontage eines Denkmals: Der Odenwaldschulskandal
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„seinem Lebensgefährten Gerold Becker viel zu lange die Treue gehalten und sich erst spät von dessen sexuellen Vergehen an Schülern distanziert“ habe, Hentig selbst sei allerdings „mehr als ein Reformpädagoge“ gewesen, nämlich ein „theoretisch reflektierender Erziehungswissenschaftler, ein staatlicher Schulreformer und pädagogisch argumentierender Lehrer, Hochschullehrer und Intellektueller“, und in „keiner dieser Rollen“ habe er „je sexuellen Missbrauch gebilligt“.320 Dementsprechend wirft Benner Oelkers denn auch vor, die hentigsche Pädagogik „in die Nähe einer Landerziehungsheimbewegung, die auf totale Institutionen gesetzt habe“, zu rücken und damit „aus der Sicht einer Dogmengeschichte“ zu urteilen, „deren pauschale Verurteilungen historisch und empirisch so nicht haltbar“ seien.321 Er ergänzt: „Wer die Schriften Hentigs und die Schulkonzepte der Bielefelder Reformschulen kennt, weiß, dass diese die Bildungsziele schulischer Erziehung nicht an Lebensgemeinschaften, sondern an der Partizipation der Heranwachsenden am öffentlichen Leben orientieren.“ 322 In diesem Sinne, so Benner, sei „der von Hentig vertretene pädagogische Eros des Lehrers stets sokratisch begründet und auf eine Einführung Heranwachsender in Kulturtechniken, Weltinhalte, Wissensund Reflexionsformen ausgerichtet gewesen“.323
2.2.3 Ausblick Zwar mag sich die öffentliche Wahrnehmung und Reputation Hentigs im Zuge des Missbrauchsskandals an der Odenwaldschule noch so sehr gewandelt haben, der Umgang mit dessen Lebenswerk als Pädagoge und Erziehungswissenschaftler bleibt nach wie vor gekennzeichnet durch einen deutlichen Mangel an systematischer Auseinandersetzung und differenzierter Kritik. Doch gerade weil mit Hentigs noch immer „unklarer Rolle“ in ebenjenem Skandal „der Komplex Odenwaldschule von einem moralisch-kriminellen Fall zu einem systematischen Problem der Pädagogik“ 324 wird, muss es auf erziehungswissenschaftlicher Ebene nun verstärkt darum gehen, eine entsprechend kritische Auseinandersetzung mit Person und Werk Hentigs gezielt voranzutreiben und in den Mittelpunkt auch längerfristig angelegter wissenschaftlicher Arbeiten zu rücken. Deshalb gilt es nicht nur, Hartmut von Hentigs persönliche Verstrickung in die Ereignisse um Gerold Becker und die Odenwaldschule genauer zu untersuchen, es stellen sich darüber hinaus mindestens drei weitere Aufgaben, die es im Zuge einer solchen Auseinandersetzung zu bearbeiten gilt:
320 Benner 2015b, S. 15 321 Ebenda 322 Ebenda 323 Ebenda 324 Brumlik 2012, S. 154
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Hartmut von Hentig, die Öffentlichkeit und die Erziehungswissenschaft
1. Die Bedeutung Hentigs für die bildungspolitische und erziehungswissenschaftliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte muss in historiographischer Perspektive nachgezeichnet und kritisch geprüft werden, wobei insbesondere dessen politische und pädagogische Netzwerke sowie der Einfluss dieser Netzwerke auf den beruflichen Werdegang Hentigs genauer zu untersuchen sind. 2. Theorie und Praxis der hentigschen Pädagogik müssen in systematischer Perspektive rekonstruiert, aufeinander bezogen und in die Ideengeschichte der Reformpädagogik eingeordnet werden, wobei es insbesondere gilt, auf Grundlage einer genauen Lektüre der Schriften Hentigs dessen Umgang mit Begriffen und Themen wie „pädagogischer Eros“, „pädagogische Liebe“ oder „Nähe und Distanz in päda gogischen Beziehungen“ nachzuzeichnen und zu analysieren. 3. In Zusammenhang mit einer solch historiographischen wie systematischen Auseinandersetzung ist schließlich zu prüfen, ob – und wenn ja inwiefern – sich Hentigs Arbeiten dennoch, trotz aller möglichen und notwendigen Kritik, gewinnbringend auf aktuelle Fragen und Schwierigkeiten pädagogischer Theorie und Praxis anwenden lassen. Zwar werden all diese Anforderungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht erschöpfend bearbeitet werden können, es soll aber dennoch versucht werden, zumindest einen kleinen Teil zu ihrer Klärung beizutragen. Das bedeutet, es soll im Folgenden nicht nur die historische Rolle Hentigs als kunst- und musikpädagogische „Leitfigur“ 325 genauer untersucht werden, auch theoretische Bezugnahmen Hentigs beispielsweise auf Platon und dessen Eros-Konzept sollen in Zusammenhang mit einer Diskussion des hentigschen Kunst- und Schönheitsbegriffs genauer in den Blick genommen werden. Die drei skizzierten Aufgabenfelder bilden in dieser Hinsicht denn auch das analytische Grundgerüst der vorliegenden Arbeit: Nach einer bibliographischen Erfassung der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung (Kapitel 3) steht zunächst die Bedeutung Hentigs für die Geschichte der ästhetischen Bildung und Erziehung im Mittelpunkt der Untersuchung (Kapitel 4), bevor im Anschluss daran die von Hentig vorgenommene Bearbeitung der eingangs skizzierten Grundprobleme ästhetischer Bildung und Erziehung genauer analysiert wird (Kapitel 5 und 6). Erst wenn dies geschehen ist, soll schließlich diskutiert werden, ob, und wenn ja inwiefern, sich die hentigschen Überlegungen zum Thema trotz aller möglichen Einwände gewinnbringend auf aktuelle Fragen und Probleme ästhetischer Bildung und Erziehung anwenden lassen (Kapitel 7).
325 Selle 1981, S. 284
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Hartmut von Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
Hartmut von Hentigs Arbeit als Erziehungswissenschaftler und öffentlicher Pädagoge ist von Beginn an geprägt durch eine ungemein hohe Publikationstätigkeit Hentigs. So führen allein Ulrike und Martin Hollender in ihrer im Herbst 2010 erschienenen, in Zusammenarbeit mit Hentig erstellten Bibliographie dessen sämtlicher Schriften von 1949 bis 2010 insgesamt 1289 Veröffentlichungen auf: von Aufsätzen und Monographien über Sammelbände und Zeitungsartikel bis hin zu Leserbriefen und öffentlichen Stellungnahmen 326 – ein publizistisches Output, dessen Umfang Werner Ross bereits 1970 mit dem Hinweis kommentiert, Hentig habe seit Ende der 1950er Jahre nicht nur „an unzähligen Tagungen, Diskussionen, Kongressen teilgenommen“ und „in Göttingen und Bielefeld in vollen Zügen reformiert, organisiert, Pläne entworfen“, er habe zugleich „eine kaum noch übersehbare Fülle von Büchern, Aufsätzen, Memoranden veröffentlicht“ 327. In eine ähnliche Richtung zielend notiert vierunddreißig Jahre später, im Mai 2004, Rudolf Messner bezüglich der ihm von der Universität Kassel angetragenen Aufgabe, die Verleihung des Ehrendoktorats an Hentig in Form einer Würdigung dessen „wissenschaftlichen und pädagogischen Lebenswerks“ zu begründen: „Diese Aufgabe birgt die Gefahr, mit der eigenen Stellungnahme zu kurz zu greifen, ja allein schon am schieren Umfang, noch mehr aber an der thematischen Reichhaltigkeit und Weitgespanntheit des Hentigschen Oeuvres zu scheitern.“ 328 Nicht nur habe Hentig, wie Messner ausführt, mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen „über mehr als eine Generation hinweg die pädagogische und erziehungswissenschaftliche Debatte im deutschen Sprachraum und darüber hinaus mit großer öffentlicher Resonanz mitbestimmt“, die „Schwierigkeit, dem Hentigschen Lebenswerk gerecht zu werden“, liege zudem darin begründet, dass sich dieses „nicht in seinem pädagogischen Schrifttum und dessen vielfältigen Bezügen zu Schulgründungs- und Praxisaktivitäten“ erschöpfe.329 Hentig sei darüber hinaus – „ohne Anspruch auf Vollständigkeit“ – als „Schriftsteller und Literat, Vortragender, Filmproduzent, Kinderbuchautor und Akademiemitglied hervorgetreten“.330 Auch auf diesen Gebieten habe er „außergewöhnliche Leistungen erbracht, immer mit pädagogischem Bezug“, so dass auch sie für eine „Gesamtcharakteristik“ wichtig seien.331 326 Vgl. Hollender & Hollender 2010. In den genannten 1289 Veröffentlichungen sind allerdings sämtliche Neuauflagen, Übersetzungen und anderweitige Wiederveröffentlichungen bereits publizierter Texte mit enthalten, so dass die tatsächliche Publikationszahl weitaus geringer anzusetzen sein dürfte. 327 Ross 1970, S. 332 328 Messner 2005, S. 89 329 Ebenda 330 Ebenda, S. 89 f. 331 Ebenda
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Hartmut von Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
Was Messner hier bezogen auf Hentigs „Lebenswerk“ formuliert, gilt ebenso für dessen Arbeiten zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung: Auch diese umfassen ein enormes Textkonvolut, erstrecken sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten und sind nicht nur inhaltlich, sondern gerade auch in der Art und Weise ihrer Veröffentlichung ungemein vielfältig und weit gestreut. Zum einen befindet sich deshalb im Anhang dieser Arbeit eine ausführliche Bibliographie sämtlicher von Hentig veröffentlichter Schriften zur ästhetischen Erziehung, zum anderen sollen im Folgenden – der besseren Übersicht halber – die bereits angedeuteten wichtigsten Eigenarten der hentigschen Arbeiten zum Thema noch einmal kurz zusammengefasst und erläutert werden. • Hartmut von Hentig hat im Laufe seiner Tätigkeit als Pädagoge und Publizist ins-
gesamt mehr als hundert Beiträge zu Fragen der Ästhetik im Allgemeinen sowie der ästhetischen Bildung und Erziehung im Besonderen veröffentlicht. Diese Veröffentlichungen umfassen dabei nicht nur eine überaus umfangreiche Textmenge, sie erstrecken sich zugleich über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren. So beschäftigt sich Hentig bereits in einer seiner ersten pädagogischen Veröffentlichungen – dem im Frühjahr 1959 in der Zeitschrift Der altsprachliche Unterricht erschienenen Aufsatz „Das Verstehen des Unverstandenen“ 332 – mit der „Aufführung von griechischen Tragödien am altsprachlichen Gymnasium“ 333. Er berichtet von seinen eigenen Erfahrungen als Lehrer am Tübinger Uhland-Gymnasium, skizziert eine aus seinem Griechischunterricht entstandene Aufführung des Aias von Sophokles (im altgriechischen Original) und e ntwickelt erste bildungstheoretische Überlegungen
332 Hentig 1959a. Zu pädagogischen Themen hatte Hentig zuvor lediglich einen Aufsatz in der Sammlung zur „humanistischen Bildung“ (Hentig 1958a) sowie einen Artikel in der ZEIT zur englischen Public School veröffentlicht (Hentig 1958b). Zwar war er bereits davor als Autor unter anderem für die Deutsche Universitäts-Zeitung (vgl. bspw. Hentig 1949), für die ZEIT (vgl. bspw. Hentig 1952) oder für die Frankfurter Hefte (vgl. bspw. Hentig 1955) hervorgetreten, dieses jedoch – mit Ausnahme eines k urzen, anonym verfassten ZEIT-Artikels zum Thema „Warum ich Lehrer bleibe“ (N. N. [Hartmut von Hentig] 1954 (siehe hierzu auch den entsprechenden Eintrag in Hollender & Hollender 2010, S. 10)) von 1954 –, ausschließlich zu nichtpädagogischen Fragestellungen. Nichtsdestotrotz finden sich bereits in den 1950er Jahren zwei weitere Texte Hentigs zum Themenfeld „Ästhetik“: erstens ein kurzer Kommentar Hentigs zum Musikprogramm eines amerikanischen Radiosenders (Hentig 1951) – veröffentlicht im November 1951 im „Organ des Verbandes des Deutschen Bahnhofshandels“ Der Bahnhof – sowie zweitens ein knapp fünfseitiger Text zur Schüleraufführung des Oberuferer Weihnachtsspiels am Birklehof von 1957 (Hentig 1957). Wie früh Hentig sich bereits mit Fragen und Problemen ästhetischer Erziehung auseinandergesetzt hatte, zeigt zudem eine im Jahre 1985 in Ergötzen, Belehren, Befreien abgedruckte „geraffte Wiedergabe“ seiner „Zulassungsarbeit für das 2. Staatsexamen für das Höhere Schulamt“ aus dem Jahre 1957. Das Thema der Arbeit: „Der Parthenontempel im Unterricht“ (Hentig 1985e, S. 257 ff.). (Zu dieser Arbeit Hentigs siehe auch Lüth 1990; Klingelhöfer 1990 sowie Hentig 2009c, S. 501 f.) 333 Hentig 1959a
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zum Verhältnis von Kunst, Th eater und Schule.334 Von d iesem Zeitpunkt an publiziert er über fünf Jahrzehnte hinweg regelmäßig zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung, und noch gegen Ende seiner publizistischen Tätigkeit, in den Jahren 2007 bis 2010, veröffentlicht er neben seiner Autobiographie Mein Leben – bedacht und bejaht (in der er über weite Strecken auch die Bedeutung des Ästhetischen für die eigene Bildungsgeschichte thematisiert 335) ein Interview zur Theaterpädagogik 336, Rezensionen zu Büchern von Kurt Vonnegut 337, Günter Grass 338 und Dagmar Nick 339, eine Würdigung des Jugendtheaterstücks „Stauffenbergs Schwur“ in der Zeitschrift junge bühne 340, einen Vortrag zum Thema „Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und die Pädagogik“ 341 sowie einen Kommentar zur Frage, „wie Literatur bearbeitet werden könne, damit sie Jugendlichen zugänglich wird“ 342. Die Auseinandersetzung mit Fragen und Problemen ästhetischer Bildung und Erziehung zieht sich insofern wie ein roter Faden durch Hentigs gesamtes Werk und kann mit einigem Recht als eines seiner Lebensthemen bezeichnet werden. • Die verschiedenen Arbeiten H entigs zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erzie-
hung unterscheiden sich allerdings nicht allein durch den Zeitpunkt, sondern auch durch die Form ihrer Veröffentlichung zum Teil deutlich voneinander. So umfasst das hentigsche Œuvre zum Thema neben zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen zugleich solch unterschiedliche Publikationsformate wie Interviews, Leserbriefe, Rezensionen, öffentliche Korrespondenzen, Vor- und Nachworte, Beiträge zu Podiumsdiskussionen und tagespolitische Stellungnahmen.343 Zwar finden sich ebenfalls einige Monographien Hentigs zum Thema, bei diesen handelt es sich jedoch entweder um Sammlungen bereits zuvor publizierter Arbeiten 344 oder aber um einzelne in Buchform veröffentlichte Vorträge 345. Das Gros der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung setzt sich insofern zusammen aus verstreuten Beiträgen in Sammelbänden, Zeitschriften, Zeitungen und anderweitigen Publikationen, von denen einige darüber hinaus lediglich an entlegener Stelle oder in nur kleiner Auflage erschienen sind und damit dem erziehungswissenschaftlichen Diskurs zum Thema nur eingeschränkt
334 Vgl. Hentig 1959a sowie zur Entstehungsgeschichte der Aias-Aufführung Hentig 2009c, S. 514 ff. 335 Vgl. Hentig 2009c (hier besonders S. 126 ff., 135 f., 289 f., 386 ff. und 1038 f.). 336 Hentig & Merschmeier 2009 337 Hentig 2007d 338 Hentig 2007b 339 Hentig 2009b 340 Hentig 2008 341 Hentig 2007d 342 Hentig 2010a 343 Vgl. bspw. Hentig & Schötker 1966; Hentig 1970a; Hentig 1977b; Hentig et al. 1980; Hentig 1992c; Duve et al. 1995; Hentig 1999a oder Hentig 2003c. 344 Vgl. bspw. Hentig 1985e oder Hentig 1995. 345 Vgl. bspw. Hentig 1990c oder Hentig 2000a.
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zur Verfügung stehen. Dies gilt ebenfalls für einen von Hentig im Jahre 1966 produzierten 45-minütigen Fernsehfilm mit dem Titel Kinder, Kunst und Kunsterziehung 346: Auch dieser Film findet – trotz seiner anschließenden Nominierung für den Grimme-Preis 347 – nur geringe Verbreitung, wird nach 1966 lediglich ein weiteres Mal ausgestrahlt und ist heute nur noch über den Archivservice des Hessischen Rundfunks erhältlich. Diese Unübersichtlichkeit der hentigschen Veröffentlichungen zum Thema wird darüber hinaus noch dadurch erhöht, dass H entig einzelne Texte oftmals in unterschiedlichen Fassungen an verschiedenen Stellen publiziert. Dabei ändert er in der Regel nicht nur den Titel des jeweiligen Textes und überarbeitet ihn sprachlich, oft verwirft er auch ganze Passagen der ersten Fassung, fügt neue Absätze hinzu oder kombiniert zwei Texte zu einem neuen.348 Die im Anhang abgedruckte Bibliographie trägt diesem Umstand dadurch Rechnung, dass sie zwar einerseits chronologisch aufgebaut ist, andererseits jedoch verschiedene Fassungen des gleichen Textes immer ihrer jeweiligen Erstveröffentlichung zuordnet. Auf diese Weise soll nicht nur die Publikationsgeschichte der einzelnen Texte besser nachvollziehbar werden; Ziel ist es zugleich, auch intertextuelle Veränderungen, Überschneidungen und Wiederholungen eindeutiger darstellen zu können.349 • Die hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung zeichnen sich darüber hinaus auch
inhaltlich durch eine außerordentlich große Vielfalt und „Weitgespanntheit“ 350 aus. So hat Hentig im Laufe der Jahre nicht nur zu den verschiedensten Gegenständen ästhetischer Bildung und Erziehung gearbeitet – also zu Fragen der Kunstpädagogik, Musikpädagogik und Theaterpädagogik ebenso wie zu solchen der Literaturdidaktik, Kulturpolitik und Wahrnehmungserziehung 351 –, er hat sich den jeweiligen Th emen zudem auf den verschiedensten Wegen zu nähern versucht. Im Œuvre Hentigs finden sich dementsprechend neben Aufsätzen und Vorträgen zur bildungstheoretischen Begründung ästhetischer Erziehung 352 zugleich Praxisberichte über seine eigene Arbeit als Lehrer 353, Essays und Abhandlungen zu Einzelfragen ästhetischer Bildung und
346 Hentig 1966c. Zur Entstehungsgeschichte des Films siehe genauer Hentig 2009c, S. 625 f. 347 Vgl. ebenda, S. 626. 348 So lassen sich, berücksichtigt man nur Erstveröffentlichungen, insgesamt 108 Texte Hentigs der Ästhetik im Allgemeinen sowie der ästhetischen Bildung und Erziehung im Besonderen zuordnen, bezieht man jedoch sämtliche Wiederveröffentlichungen bereits publizierter Texte mit ein, so gelangt man – Neuauflagen ein und desselben Buches noch nicht mitgerechnet – bereits zu 174 verschiedenen Publikationen. 349 Zum genaueren Aufbau der Bibliographie siehe unten, S. 313 ff. 350 Messner 2005, S. 89 351 Vgl. bspw. Hentig 1984d; Hentig 1985e (insbesondere S. 151 ff., 187 ff. und 213 ff.); Hentig 1990c sowie Hentig 1994b. 352 Vgl. bspw. Hentig 1967c oder Hentig 1981b. 353 Vgl. bspw. Hentig 1959a oder Hentig 2000c.
Hartmut von Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
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Erziehung 354, Beiträge zur Kunst-, Musik- und Theaterdidaktik 355 sowie zahlreiche anderweitige Veröffentlichungen zum Thema: Darunter – um nur einige Beispiele zu nennen – ein „Nach-denk-wort für die Eltern“ 356 als Beilage zu einem von ihm selbst verfassten Kinderbuch, Besprechungen und Kritiken zu Aufführungen im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters 357, autobiographische Berichte über eigene Bildungserfahrungen im Umgang mit diversen Kunstformen 358 sowie ein an Kinder gerichtetes Nachwort zu einem für diese konzipierten Kunsthallenführer 359. Neben solch dezidiert pädagogischen Veröffentlichungen allerdings finden sich zugleich auch etliche Beiträge Hentigs, in denen sich dieser zwar nicht im engeren Sinne mit Fragen der ästhetischer Bildung und Erziehung auseinandersetzt, wohl aber mit solchen der Ästhetik im Allgemeinen sowie der dabei berührten Einzelkünste im Besonderen. So hat Hentig im Laufe seiner Tätigkeit als Pädagoge und Publizist nicht nur zu Fragen der philosophischen Ästhetik Stellung genommen – etwa mit seinem 1999 im Schiller archiv Marbach gehaltenen Vortrag „‚… rastlos von Veränderung zu Veränderung‘ Oder: Was ist Kunst?“ 360 –, er hat darüber hinaus etliche Rezensionen zu literarischen Werken veröffentlicht 361, unter dem Titel Meine deutschen Gedichte eine mehr als 700 Seiten umfassende, kommentierte Lyrikanthologie herausgegeben 362, sich intensiv an der Diskussion um das Berliner Holocaustdenkmal beteiligt 363 und zahlreiche weitere Beiträge zu diversen Autoren, Musikern und Künstlern publiziert.364 Und auch wenn Hentig sich in all diesen Veröffentlichungen zumeist nur am Rande mit Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung auseinandersetzt, so haben doch auch diese in der Regel einen eindeutig „pädagogischen Bezug“ 365. Die verschiedenen Schriften Hentigs zur ästhetischen Erziehung erweisen sich in dieser Hinsicht also nicht allein auf zeitlicher, sondern gerade auch auf formaler und inhaltlicher Ebene als ungemein heterogen. Dieser Umstand allerdings wirkt sich nicht nur erschwerend auf eine systematische Rekonstruktion des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung aus, sondern hat darüber hinaus – und wie im Folgenden noch genauer zu zeigen sein wird – die Rezeptionsgeschichte eben d ieses Konzepts entscheidend mitgeprägt. 354 Vgl. bspw. Hentig 1986b oder Hentig 1996d. 355 Vgl. insbesondere Hentig 1985e, S. 151 – 315. 356 Hentig 1972b 357 Vgl. bspw. Hentig 1999b oder Hentig 1999 f. 358 Vgl. bspw. Hentig 1983a, S. 312 ff. oder Hentig 2004c. 359 Vgl. Hentig 1992c. 360 Hentig 2000a 361 Vgl. bspw. Hentig 2007b oder Hentig 1975c. 362 Hentig 1999d 363 Vgl. Hentig 1999e und Hentig 1999a. 364 Vgl. bspw. Hentig 1987a, S. 103 ff. oder Hentig 2004c. 365 Messner 2005, S. 90
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Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte
Wie bereits ein erster, kursorischer Blick in Hartmut von Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung zeigen konnte, hat dieser seine Überlegungen zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung sukzessive über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten und im Rahmen zahlreicher Veröffentlichungen entwickelt. In diesem Zusammenhang konnte er – wie weiter oben bereits angedeutet – nicht nur eine ungemein breite Wirkung auf den erziehungswissenschaftlichen Diskurs zum Thema entfalten, er hat darüber hinaus auf die Rezeption seiner Werke zugleich immer wieder mit neuen Veröffentlichungen, Kommentaren und Entgegnungen reagiert und seine Positionen dabei zum Teil deutlich verändert. Die Entwicklungsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung ist aus d iesem Grund untrennbar mit dessen Rezeptionsgeschichte verbunden, so dass beide stets zusammengedacht und aufeinander bezogen werden müssen. Im Folgenden sollen deshalb beide, d. h. sowohl die Entwicklungs- wie auch die Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung, genauer rekonstruiert und analysiert werden, um auf dieser Grundlage sodann in den darauffolgenden Kapiteln eine systematische Analyse eben jenes Konzepts entfalten zu können, die folglich auch dessen historische Entwicklung mit in den Blick nimmt. Ziel ist es dabei nicht, die mehr als fünfzig Jahre umfassende Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung lückenlos in all ihren inhaltlichen und diskursiven Verästelungen zu dokumentieren. Vielmehr geht es darum, einzelne zentrale Entwicklungs- und Rezeptionslinien vor dem Hintergrund der jeweils zeitgenössischen fachdidaktischen und allgemeinpädagogischen Diskussion herauszuarbeiten und miteinander in Beziehung zu setzen. So lassen sich grob drei Phasen in der Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Erziehung unterscheiden: • eine erste Phase, die die Grundlegung des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung im Laufe der 1960er Jahre sowie die Rezeption der entsprechenden Schriften Hentigs insbesondere in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren umfasst (Kapitel 4.1: Von der musischen Bildung zur ästhetischen Erziehung), • eine zweite Phase, die die Reaktion Hentigs auf die Rezeption seiner eigenen Schriften zum Thema sowie die mit dieser Reaktion verbundene Hinwendung zur „Kunst als Maßstab der Ästhetischen Erziehung“ umfasst und von den frühen 1970er Jahren bis zur Veröffentlichung des hentigschen Sammelbandes Ergötzen, Belehren, Befreien im Jahr 1985 reicht (Kapitel 4.2: Die Kunst als Maßstab der ästhetischen Erziehung), • sowie eine dritte Phase, die einerseits die zunehmende Skepsis Hentigs gegenüber einer pädagogischen Indienstnahme des Ästhetischen sowie andererseits die voranschreitende Historisierung von dessen Schriften zur ästhetischen Erziehung umfasst und von der Veröffentlichung des Sammelbandes Ergötzen, Belehren, Befreien 1985 bis in die Gegenwart reicht (Kapitel 4.3: Vom „Unruhestifter“ zur historischen Person).
Von der musischen Bildung zur ästhetischen Erziehung
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4.1 Von der musischen Bildung zur ästhetischen Erziehung Im April 1963, als Hartmut von Hentig an der Georg-August-Universität in Göttingen die Nachfolge Erich Wenigers als Inhaber des dortigen „geisteswissenschaftlich bestimmten“ 366 Lehrstuhls für Pädagogik antritt 367, befindet sich die pädagogische Diskussion zum Zusammenhang von Kunst, Ästhetik, Bildung und Erziehung gerade in den Anfängen eines sich in den folgenden Jahren mehr und mehr ausweitenden Richtungsstreites: Auf der einen Seite plädieren die Vertreter der sogenannten „musischen Bildung“ – in der Tradition der Kunsterzieherbewegung, der Jugendmusikbewegung sowie der musischen Erziehung der 1920er und 1930er Jahre stehend – für ein durch „Innerlichkeit“ und „Versenkung“ gekennzeichnetes „bildnerisches Schaffen“ 368, auf der anderen Seite beginnen insbesondere jüngere Vertreter der Kunst- und Musikpäda gogik verstärkt für eine „Orientierung am Kunstwerk“ 369 einzutreten, verbunden mit der Forderung nach einem wissenschaftlich fundierten Schulunterricht gerade auch in den künstlerischen Fächern 370. Dieser Richtungsstreit schlägt sich insbesondere im Fall der Kunstpädagogik zusätzlich in einer Diskussion um die richtige Bezeichnung der eigenen pädagogischen Praxis nieder: Während Vertreter der musischen Bildung in der Regel von „Kunsterziehung“ im Sinne einer ganzheitlichen „Erziehung durch Kunst“ sprechen, plädieren deren Gegner für einen an objektiven Kriterien ausgerichteten „Kunstunterricht“ mit dem Ziel einer „Erziehung zur Kunst“.371 Im Gegensatz zur Kunst-Erziehung strebt der Kunst-Unterricht der 1960er Jahre also nicht „Beseelung, Ehrfurcht und Hingabe an das Werk des Genies an“ 372, sondern dem Schüler sollen vielmehr – wie Dietrich Grünewald und Ingelore Sengstmann es 1973 rückblickend in ihrem Buch Visuelle Kommunikation in der Schule formulieren – „Kriterien an die Hand gegeben werden, die es ihm ermöglichen, Kunstwerke rational zu verstehen und zu beurteilen“ 373. Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen beginnt Hentig Mitte der 1960er Jahre, nachdem er zuvor bereits einige erste, an seine eigenen Erfahrungen als Lehrer
366 Hentig 1983a, S. 162 367 Zu Hartmut von Hentigs Berufung nach Göttingen und seinen damit verbundenen „Göttinger Jahre[n]“ siehe genauer Lehberger 2011. 368 Peez 2002, S. 70. Zu Geschichte und Ideologie der musischen Erziehung und Bildung siehe darüber hinaus Richter 2003, S. 261 ff. sowie Gruhn 2003, S. 232 ff. und 285 ff. 369 So der gerade auch in historiographischer Perspektive vielzitierte (vgl. bspw. Gruhn 2003, S. 301 ff.) Untertitel von Michael Alts 1968 erschienener Didaktik der Musik (Alt 1968). 370 Siehe hierzu Richter 2003, S. 279 ff.; Gruhn 2003, S. 299 ff.; Krieger 2004, S. 100 ff. sowie L egler 2011, S. 267 ff. 371 Siehe hierzu beispielsweise Möller 1971, S. 9 ff.; Grünewald & Sengstmann 1973, S. 16 ff. oder Krieger 2004, S. 113. 372 Grünewald & Sengstmann 1973, S. 27 373 Ebenda
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Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte
anknüpfende Arbeiten zur Kunst- und Theaterpädagogik veröffentlicht hatte 374, sich in seiner neuen Rolle als Universitätsprofessor auch in allgemeinpädagogischer Perspektive mit Fragen ästhetischer Bildung und Erziehung auseinanderzusetzen. „[D]ie Kunsterziehung [hatte] im Jahrzehnt der Emanzipation große Konjunktur“ 375, notiert er hierzu mehr als vierzig Jahre später und ergänzt: „Wer die Schule verändern und verbessern wollte, musste sich mit ihr befassen. Ich tat es aus Überzeugung und mit Leidenschaft, sah ich doch, wie der sogenannte Kunstunterricht hoffnungslos unter dem Anspruch der Kunst selber […] blieb: eine Übung in dienstbaren Techniken und andächtiger Betrachtung.“ 376
Dementsprechend veröffentlicht er bereits im Juli 1964 einen Aufsatz in der ZEIT zum Thema „Kunst und Wissenschaft in der Erziehung“ 377, in dem er nicht nur resümiert, „[b]eide, Kunst und Wissenschaft“, dienten „der Freiheit, der Veränderlichkeit, der Offenheit“, sondern zugleich fordert, die „Funktion von Kunst und Wissenschaft, die wir allzu geläufig miteinander verbinden, sorgfältig zu bedenken“ 378. Ein solch „sorgfältiges Bedenken“ setzt er schließlich selbst ein halbes Jahr später, im Februar 1965, im Rahmen einer Tagung an der Berliner Akademie der Künste zum Thema „Literatur im Spannungsfeld von Wissenschaft und Technik“ höchst öffentlichkeitswirksam fort 379: Unter dem Titel „Spielraum und Ernstfall“ entwickelt er hier in scharfer Auseinandersetzung mit einem vorangegangenen Vortrag Helmut Heißenbüttels 380 eine funktionale Definition der Kunst als „Entdeckung von Möglichkeit“ 381, grenzt diese ab von einer Wissenschaft als „Erkenntnis des Unbekannten“ 382 und bestimmt die Aufgabe der Kunst, welche „eine Wissenschaft von der Erziehung für sich formulieren und austragen“ müsse, schließlich darin, „[e]inerseits ‚Spielraum‘ 374 Vgl. Hentig 1957, Hentig 1959a, Hentig 1959b sowie Hentig 1960. 375 Hentig 2009c, S. 623 376 Ebenda 377 Hentig 1964b. Bei d iesem Text handelt es sich um den zweiten Teil einer insgesamt dreiteiligen Artikelserie Hentigs zum Thema „Korrektive der modernen Gesellschaft“. Die anderen beiden Teile tragen die Überschriften „Korrektive in der Gesellschaft“ und „Die Kluft zwischen Schule und Leben“. Alle drei Teile veröffentlicht Hentig später in leicht überarbeiteter Fassung als Monographie unter dem Titel Die Schule im Regelkreis. Ein neues Modell für die Probleme der Erziehung und Bildung (Hentig 1965a). 378 Hentig 1964b, S. 16 379 Eine Veröffentlichung des in diesem Zusammenhang von Hentig gehaltenen Vortrags findet allerdings erst im März 1967, also mehr als zwei Jahre später, in erweiterter und hier zitierter Fassung unter dem Titel „Spielraum und Ernstfall. Betrachtungen eines Pädagogen über das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft“ in den Frankfurter Heften statt (vgl. Hentig 1967b). 380 Siehe Heißenbüttel 1965. 381 Hentig 1967b, S. 189 382 Ebenda
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zu schaffen, Offenheit, Beweglichkeit, den Mut zum eigenen Entwurf“ und „andererseits in dieser Einschränkung oder Aufhebung der Primärerfahrungen gleichwohl den ‚Ernstfall‘ einzubringen“ 383. Die öffentlichen Reaktionen auf diesen Vortrag sowie auf den damit verbundenen Auftritt Hentigs in der Akademie der Künste fallen ausgesprochen positiv aus. So resümiert Walter Lenning am 28. Februar 1965 im Sonntagsblatt unter der Überschrift „Caruso contra Heißenbüttel“ 384, es ließe sich „beim besten Willen kaum eine Andeutung geben von diesem mitreißenden, leidenschaftlichen Vortrag“, der „hoffentlich bald gedruckt vorliegen“ und „auch als Lektüre aufrüttelnd wirken werde“ 385. Er ergänzt: „Wo kommt es vor, daß ein nahezu tausendköpfiges Publikum in der Berliner Akademie der Künste fast zwei Stunden so gefesselt war, daß man kaum ein Husten hörte. Und dies bei einem sachlich schwierigen, in seiner Problematik ungemein komplizierten Vortrag, der selbst an Gebildete hohe Ansprüche stellte und das Gegenteil von ‚volkstümlich‘ war! Hier gab es dann am Ende nicht den Höflichkeitsbeifall eines erschöpften Auditoriums, sondern einen geradezu südländischen Begeisterungsausbruch, als hätte ein Caruso der Pädagogik gesungen und allen unsterblichen Zauber von Poesie und Dichtung walten lassen – in der Tat: viel mehr Vorhänge kriegt nicht einmal Fischer-Dieskau.“ 386
„‚I carried the floor‘“ 387, erinnert sich Hentig dementsprechend auch noch mehr als vierzig Jahre später an diese Zeit und resümiert, seine „Widerlegung“ der Thesen Heißenbüttels habe im weiteren Verlauf „so viel Widerhall“ gefunden, dass er „mit dem Auskosten der Folgen einen neuen Beruf hätte ausfüllen können“ 388. Und auch wenn Hentig die von ihm evozierte Möglichkeit eines solchen Berufswechsels nicht ergreift, so widmet er sich in den darauffolgenden Jahren doch immer wieder mit großer Intensität eben jenem Zusammenhang von Kunst, Ästhetik, Bildung und Erziehung. Im April 1965 etwa nimmt er an einer Fernsehdiskussion zur Frage „Die Kunst – Stiefkind der Bildung?“ teil 389 und noch im Oktober desselben 383 Ebenda, S. 188 384 Lenning 1965b 385 Ebenda, S. 23 386 Ebenda. Bereits einige Tage zuvor hatte derselbe Autor in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift „Literatur zwischen den Stühlen“ geschrieben: „Matador unter allen Rednern und am Schluß applaudiert, zu mehrmaligem Zeigen und Verneigen aufgerufen wie Martin Held nach großen Premieren, wurde am zweiten Tage Hartmut von Hentig, Ordinarius für Pädagogik in Göttingen. Seine ungemein lebhaften Ausführungen waren zum guten Teil nahezu ein Totalangriff gegen Heißenbüttel und dessen Auffassungen und Bestimmung von Literatur.“ (Lenning 1965a, S. 12, Hervorhebung im Original.) 387 Hentig 2009c, S. 589 388 Ebenda, S. 623 389 Die fünfundvierzigminütige, von Hans-Ulrich Asemissen geleitete Gesprächsrunde mit den Gästen Kurt Martin, Hartmut von Hentig, Heinz Fischer-Wollpert und Werner Simon wurde
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Jahres wird er vom Deutschen Werkbund zusammen mit Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Walter Jens und anderen intellektuellen Größen der damaligen Bundesrepublik nach Berlin zum Werkbundtag 1965 eingeladen. Das Thema: „Bildung durch Gestalt“. Hier spricht Hentig – nach einem Vortrag Adornos zum „Funktionalismus heute“ 390 und einem darauffolgenden von Ernst Bloch zum Thema „Bildung, Ingenieurform, Ornament“ 391 – über „Die Wirkungen des Schönen“ 392: Er skizziert sein Verständnis des „Schönen als Wirkung“ und resümiert, die Pädagogik habe ihrerseits noch zu lernen, „wie man an der Kunst erzieht und nicht für die Kunst – und nicht nur an der Kunst, sondern an allem, was sich ihres Prinzips bewußt oder unbewußt“ bediene 393, „von der Liturgie eines Parteitages bis zur Gestaltung eines Treppenhauses“ 394. Damit entwickelt er nicht nur ein für die damalige Zeit ungewöhnlich weites Verständnis von Kunst und ihren „Wirkungen“, er plädiert mit seiner Forderung nach einer „Erziehung an der Kunst“ zugleich für einen dritten Weg jenseits der Alternativen „Erziehung durch Kunst“ und „Erziehung zur Kunst“ – allerdings zunächst noch ohne eine solche Form der „Erziehung an der Kunst“ genauer zu umreißen. 1966 schließlich nimmt Hentig den „unwiderstehlichen Auftrag“ 395 des Hessischen Rundfunks an, für dessen Fernsehprogramm einen 45-minütigen Film zum Thema Kunsterziehung zu produzieren. Der fertige Film wird im Juni 1966 unter dem Titel Kinder, Kunst und Kunsterziehung. Kritische Beobachtungen von Hartmut von Hentig 396 in der ARD erstausgestrahlt und trägt Hentig nicht nur eine Grimme-Preis-Nominierung ein 397, sondern zugleich eine deutlich gesteigerte Aufmerksamkeit der kunstpädagogischen Fachöffentlichkeit. So schreibt Wahner vom Bund Deutscher Kunsterziehung im Anschluss an die Erstausstrahlung des Filmes in den hauseigenen BDK-Mitteilungen: „Der im 1. Programm gesendete, von Prof. Dr. Hartmut von Hentig, Göttingen, geschaffene Film – von Hentig hat selber die tragende Rolle des Sprechers übernommen – gefiel Fachkollegen und Freunden der Kunsterziehung ebenso wie mir, weil in sehr lebendigem Vortrag Wort und Bild gegeneinander geklärt und erklärt wurden.
vom Hessischen Rundfunk produziert und am 17. April 1965 von 23:00 bis 23:45 Uhr im E rsten Deutschen Fernsehen als Teil der Reihe „Das Podium“ gesendet. Eine Aufzeichnung dieser Sendung existiert laut Auskunft des Archiv-Service des Hessischen Rundfunks leider nicht mehr. Siehe hierzu auch den in den BDK -Nachrichten abgedruckten Briefwechsel Hentigs mit Friedrich Schötker anlässlich der genannten Sendung in Hentig & Schötker 1966. 390 Adorno 2003, S. 375 ff. 391 Bloch 1965 392 Hentig 1965b 393 Ebenda, S. 6 (Hervorhebung im Original) 394 Ebenda 395 Hentig 2009c, S. 625 396 Hentig 1966c 397 Vgl. Hentig 2009c, S. 626.
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Mit dem Tenor der Sendung und dem Niveau dieses Films können wir uns nach meiner Auffassung, die von den meisten meiner Gesprächspartner geteilt wird, sehr einverstanden erklären. Publikationen dieser Art über die Kunsterziehung sind um so mehr zu begrüßen, wenn sie nicht von Kunsterziehern allein geschaffen werden. Wenn auch in d iesem Film durch die große Zahl der dargestellten und abgehandelten Phänomene […] mehr angedeutet als eingehend ausgeführt war, wie dies in einer solchen Fernsehsendung wohl nicht anders zu verwirklichen ist, so läßt uns gerade ein so geraffter Inhalt wünschen, Herr Prof. v. Hentig möge sein Filmthema als einen vielversprechenden Beginn und als Ausgangsbasis für spezielle Untersuchungen im Rahmen der künstlerischen und kunstpädagogischen Thematik nehmen.“ 398
Tatsächlich setzt Hentig nach diesem „vielversprechenden Beginn“ seine Untersuchungen zum Thema auch im weiteren Verlauf des Jahres 1966 unvermindert fort. Er verfasst als Mitglied des Komitees zur Vorbereitung des Deutschen Beitrags zur Weltausstellung in Montreal 1967 einen knapp vierzigseitigen Essay mit dem Titel „Creator – Die Entdeckung eines neuen Kulturprinzips“ für den deutschen EXPO - Katalog 399, hält den Eröffnungsvortrag der Musischen Wochen in Berlin zum Thema „Bildende Kunst“ 400, leitet eine Fernsehdiskussion des Hessischen Rundfunks anlässlich der Erstausstrahlung von Gerd Winklers Film Kunst 66. Hinweise, Ansichten und Tendenzen 401 und nimmt erneut an der Jahrestagung des Werkbundes teil, dieses Mal mit einem Vortrag zum Thema „Bilden in der Gesellschaft“ 402. Bemerkenswerterweise ist es bei all diesen Publikationen und öffentlichen Auftritten Hentigs allerdings gerade seine Rolle als allgemeiner Erziehungswissenschaftler, die seinen Einlassungen zum Thema auch in den entsprechenden Fachwissenschaften ein besonderes Gewicht verleiht. So hatte bereits Wahner in seiner oben zitierten Besprechung von Kinder, Kunst und Kunsterziehung resümiert, „Publikationen dieser Art über die Kunsterziehung“ seien „um so mehr zu begrüßen, wenn sie nicht von Kunsterziehern allein geschaffen werden“ 403, und auch Alfred Fäustle notiert – im Rückblick auf den von Hentig gehaltenen Vortrag während der Werkbundtagung 1966 – in
398 Wahner 1966, S. 15 399 Hentig 1967a. Siehe hierzu auch Hentig 2009c, S. 655 f. 400 Siehe hierzu Leonhard 1967. 401 Die fünfunddreißigminütige, von Hentig geleitete Gesprächsrunde mit den Gästen A lexander Mitscherlich und William Simmat wurde vom Hessischen Rundfunk produziert und im Anschluss an die Erstausstrahlung des Films Kunst 66. Hinweise, Ansichten und Tendenzen von Gerd Winkler am 31. Oktober 1966 von 22:55 bis 23:30 Uhr im Ersten Deutschen Fernsehen gesendet. Eine Aufzeichnung dieser Sendung existiert laut Auskunft des Archiv-Service des Hessischen Rundfunks leider nicht mehr. Siehe hierzu auch den diese Sendung betreffenden Leserbrief in der ZEIT vom 11. November 1966 (Momos 1966). 402 Hentig 1966a 403 Wahner 1966, S. 15
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den BDK -Mitteilungen: „Dieser Anstoß von außen sollte uns wirklich alarmieren.“ 404 Rudolf Leonhard schließlich schreibt in derselben Ausgabe der BDK -Mitteilungen zum Vortrag Hentigs auf den Musischen Wochen: „Erstaunlicherweise lösten v. Hentigs Gedanken nicht heftige Reaktionen aus. Es schien, als wären die aggressiven Gedanken und folgenschweren Äußerungen nicht ganz angekommen. Nicht einmal der Kontrast zu den ausgestellten Schülerarbeiten wurde offenkundig. Auch Prof. Pfennigs Versuche, die Farblehre im 1. Schuljahr einzuführen, lieferte als Gegenpol zu der geforderten Undogmatik nicht die Spannung, die sich in Funkenentladungen hätte zeigen müssen. […] Augenzeuge d ieses neuen Geistes sein zu dürfen, hätte den Aufwand, den die Musischen Wochen machten, lohnen können. Wo und wann kann man Arbeiten aus d iesem Geist sehen? Herr Prof. v. Hentig sprach nicht als Kunsttheoretiker sondern als Fern- und Darüberstehender mit sarkastischer Schärfe und Eleganz des Wortes. Wenn der frische Wind die Musenschiffe zu neuen Gestaden treiben sollte, käme auf die Steuermänner […] nach erfolgtem Umdenken eine Fülle an Kleinarbeit in der kunstpädagogischen Lehre und Praxis zu.“ 405
Als solch ein „Fern- und Darüberstehender“ beginnt Hentig mit seinen Arbeiten zum Thema nun tatsächlich verstärkt auch an Einfluss auf die von Leonhard evozierten „Musenschiffe“ und deren „Steuermänner“ zu gewinnen. Den wichtigsten Beitrag hierzu liefert er mit seinem im Oktober 1967 erstmalig publizierten Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ 406, in dem er sich – wie er es später selbst formuliert – „endgültig für die richtige Bezeichnung“ 407 seiner Position entscheidet. Hatte er zuvor in der Regel noch von „Kunsterziehung“ sowie in Einzelfällen von „Kunstunterricht“ gesprochen, schreibt er nun an zentraler Stelle jenes Aufsatzes: „Was auch immer Kunstpädagogen treiben und meinen: ihre wahre Aufgabe scheint mir ästhetische Erziehung und nicht musische Bildung zu sein.“408 Er ergänzt: „‚Ästhetische Erziehung‘ heißt Ausrüstung und Übung des 404 Fäustle 1967, S. 1 405 Leonhard 1967, S. 11 406 Dieser Aufsatz, mit dem vollständigen Titel „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter. Einige Grundbegriffe aus dem Wörterbuch der Kunsterziehung“, erscheint zunächst in einer Festschrift für Elisabeth Blochmann zum 75. Geburtstag (Hentig 1967c) sowie zeitgleich hierzu in der Oktoberausgabe der Zeitschrift Die Deutsche Schule (Hentig 1967d). 407 Hentig 2009c, S. 627 408 Hentig 1967c, S. 282. Zwar finden sich mit Hentigs 1957er Examensarbeit „Der Parthenontempel im Unterricht“ sowie mit seiner anlässlich des 75. Geburtstags Werner Otto von Hentigs gehaltenen „Rede auf den Vater“ von 1961 zwei nominell ältere Texte Hartmut von Hentigs, in denen dieser den Begriff der „ästhetischen Erziehung“ verwendet (vgl. Hentig 1985e, S. 259 und S. 297 sowie Hentig 1971 f, S. 187), da beide Texte allerdings erst deutlich nach dem hier zitierten Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ von 1967 erstmals publiziert wurden (1971 und 1985), kann – eingedenk der weiter oben ausführlicher
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Menschen in der aisthesis – in der Wahrnehmung. Sie will etwas ganz Elementares und Allgemeines.“ 409 Als Ausgangspunkt seiner Argumentation dienen ihm dabei Friedrich Schiller und dessen Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen, auf die er sich gleich zu Beginn seines Aufsatzes bezieht: „Vor einhundertundsiebzig Jahren sind Schillers Briefe ‚Über die ästhetische Erziehung des Menschen‘ veröffentlicht worden. Die Überschrift des ersten Abschnitts lautete: Die Kunst im politischen Zeitalter. Das politische Zeitalter war das der Französischen Revolution, ein Zeitalter des Aufbruchs zu einer neuen Freiheit, ein Zeitalter, in dem der Staat seine moralische Legitimierung vor der Vernunft noch suchen mußte und nicht leicht fand, weil die Voraussetzungen in den einzelnen Menschen fehlten. […] Auch wir leben in einem politischen Zeitalter; auch wir fordern neben der wissenschaftlichen und politischen Bildung eine ästhetische, die wir ‚musische‘ nennen. Wir sprechen in dieser Hinsicht, wenn nicht die gleiche, so doch eine ganz ähnliche Sprache. – Meinen wir noch dasselbe? Können und dürfen wir noch dasselbe meinen?“ 410
Zwar sind mit diesen Fragen und Formulierungen im Herbst 1967 bereits die zentralen Stichwörter der schon bald einsetzenden Hentig-Rezeption in Sachen „ästhetische Erziehung“ beisammen, der zitierte Aufsatz allerdings wird zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1967 zunächst kaum rezipiert. Die entscheidende Phase in der Wirkungsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung beginnt vielmehr erst im Jahre 1969. In diesem Jahr veröffentlicht Hentig zunächst den Band Spielraum und Ernstfall. Gesammelte Aufsätze zu einer Pädagogik der Selbstbestimmung 411, in dem er unter anderem seine vier bis dato wichtigsten Publikationen zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung versammelt: den titelgebenden Vortrag „Spielraum und Ernstfall“, die Arbeiten „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ und „Die Wirkungen des
dargestellten Angewohnheit Hentigs, bereits abgeschlossene Texte bei erneuter Drucklegung noch einmal deutlich zu überarbeiten – davon ausgegangen werden, dass es sich bei dieser Begriffswahl um das Ergebnis einer nachträglichen Überarbeitung handelt. Zumindest im Falle seines Textes zum Parthenontempel weist Hentig auf einen solchen Überarbeitungsvorgang auch selbst explizit hin, wenn er einleitend notiert, bei dem gemeinten Beitrag handelte es sich um „eine geraffte Wiedergabe“ seiner „Zulassungsarbeit für das 2. Staatsexamen für das Höhere Schulamt aus dem Jahre 1957“ (Hentig 1985e, S. 257, Hervorhebung C. T. Z.). Zur genaueren Verwendung des Begriffs der ästhetischen Erziehung in Hentigs „Rede auf den Vater“ siehe darüber hinaus unten, S. 228 ff. Zur Entstehungsgeschichte jener Rede siehe zudem Hentig 1983a, S. 239. 409 Hentig 1967c, S. 283 (Hervorhebung im Original) 410 Ebenda, S. 275 411 Hentig 1969c
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Schönen“ sowie den EXPO -Essay „Creator – die Entdeckung eines neuen Kulturprinzips“ 412. Mit der Veröffentlichung d ieses „in Etappen geschriebenen Buch[es]“ 413 versucht Hentig nicht nur, seine zuvor verstreut publizierten Arbeiten einem breiteren Publikum erneut zugänglich zu machen; die einzelnen hier versammelten „Aufsätze zu einer Pädagogik der Selbstbestimmung“ 414 sollen zugleich als Teil eines größeren „Handlungs- und Denkzusammenhang[s]“ 415 sichtbar gemacht werden. So schreibt Hentig im Vorwort des Bandes, er habe sich für einen Wiederabdruck der einzelnen Aufsätze gerade auch deshalb entschieden, weil sie „als Teildarstellungen ungeschützt und missverständlich“ seien und weil man „von den einzelnen Äußerungen her“ habe meinen können, „Hentig wolle die Moral zerstören oder Hentig wolle nur Spiel und Zufall oder Hentig wolle nur Planung oder Hentig wolle nur Platon oder Hentig wolle nur nicht Platon“ 416. Mit der Veröffentlichung von Spielraum und Ernstfall zieht Hentig insofern auch im Bereich ästhetischer Bildung und Erziehung eine Art Zwischenresümee seiner bisherigen Überlegungen zum Thema und stellt zugleich eine Textauswahl zusammen, die eben diese Überlegungen auf knapp achtzig Seiten noch einmal in verdichteter Form enthält. Ebenfalls im Jahr 1969 entwickelt Hentig im Auftrag des Deutschen Bildungsrates zudem dreizehn „allgemeine Lernziele für die Gesamtschule“, die zunächst in der Reihe „Gutachten und Studien der Bildungskommission“ im Band Lernziele der Gesamtschule erscheinen 417 und noch im selben Jahr in die zweite Auflage der Hentig- Monographie Systemzwang und Selbstbestimmung 418 übernommen werden. Eines dieser Lernziele ist dabei mit „Das Leben mit der Aisthesis“ überschrieben und wird mit folgender „Hypothese“ eingeleitet: „Wenn man die Kunst nicht als die Summe der anerkannten Kunstwerke, als die Objektivationen der durch die Ästhetik bestätigten Gestaltungsgattungen und -prinzipien auffaßt, wenn man sie vielmehr schon mit den Wahrnehmungsprozessen beginnen und bis in die elementaren Ausdrucksmöglichkeiten bis hin zur Mode, zur Reklame, zur politischen Symbolik, zu Stilisierung oder Variation der sozialen Verhaltensformen reichen läßt, dann wird deutlich, w elche großen und wichtigen Bereiche unseres Lebens wir dem Zufall oder der Gewohnheit oder der Manipulation oder der Verödung überlassen: daß unsere ästhetische Erziehung in einem grotesken Mißverhältnis zu unserer ästhetischen
412 Die drei zuerst genannten Arbeiten sind dabei in einem eigenständigen Kapitel mit der Überschrift „Die Kunst als Ernstfall“ zusammengefasst, das zugleich den Abschluss des Buches bildet (siehe Hentig 1969c, S. 345 ff.). 413 Ebenda, S. 9 414 Ebenda 415 Ebenda 416 Ebenda 417 Hentig 1969a 418 Hentig 1969d, S. 75 ff.
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Beanspruchung steht – und erst recht zu unserer wissenschaftlichen, beruflichen und politischen Erziehung.“ 419
Zwar umfasst der gesamte Abschnitt nur etwas mehr als zwei Seiten, dennoch handelt es sich bei diesen um Hentigs wohl meistzitierten und weitestverbreiteten Beitrag zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung: Allein in den darauffolgenden Jahren wird „Das Leben mit der Aisthesis“ immer wieder unter verschiedenen Titeln in den verschiedensten Zeitschriften und Sammelbänden abgedruckt – sei es unter dem Titel „Lernziele im ästhetischen Bereich“ in Kunst + Unterricht (1971)420, als „Das Leben mit der Kunst“ in Musik und Bildung (ebenfalls 1971)421, als „Lernziele im ästhetischen Bereich“ in Olaf Schwenckes und Henning Schröers ästhetische erziehung + kommunikation (1972)422 oder unter Verwendung des Originaltitels in Gunter Ottos Sammelband Texte zur Ästhetischen Erziehung (1975)423. Dieses fortdauernde publizistische Interesse an jenem Beitrag Hentigs markiert zugleich einen entscheidenden Entwicklungsschritt in der Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung: Waren dessen Arbeiten zum Thema noch in den Jahren 1964 bis 1968 von den Vertretern der zuständigen Fachdidaktiken zwar in der Regel wohlwollend, aber dennoch zumeist nur am Rande zur Kenntnis genommen worden, so entwickeln sich eben jene Arbeiten Hentigs in den darauffolgenden Jahren schon bald zum Ausgangs- und Mittelpunkt der entsprechenden Fachdiskussion. Dabei sind es insbesondere die beiden 1969er Veröffentlichungen Spielraum und Ernstfall sowie Systemzwang und Selbstbestimmung, die Hentig schon bald von jenem „Fern- und Darüberstehenden“ 424, den Rudolf Leonhard noch 1967 in ihm gesehen hatte, zu einem der wichtigsten Protagonisten der kunst- und musikpädagogischen Entwicklung der 1970er Jahre reifen lassen. So ist Hentig nicht nur mitverantwortlich für eine sich zu Beginn der 1970er Jahre rasch vollziehende Renaissance des Begriffs der „ästhetischen Erziehung“, auch der schon bald einsetzende Prozess einer fortwährenden Ausweitung und Politisierung des neu konstituierten Feldes ästhetischer Erziehung steht in engem Zusammenhang mit einer verstärkten Rezeption der hentigschen Veröffentlichungen zum Thema. Diese drei Hauptentwicklungslinien in der Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Erziehung während der 1960er und 1970er Jahre sollen deshalb im Folgenden nun noch einmal gesondert dargestellt und analysiert werden: in jeweils eigenen kurzen Abschnitten zur „Renaissance des Begriffs ‚ästhetische Erziehung‘“ 419 Hentig 1969a, S. 29 420 Hentig 1971d 421 Hentig 1971b 422 Hentig 1972c 423 Hentig 1975a 424 Leonhard 1967, S. 11
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(Kapitel 4.1.1), zur „Ausweitung der ästhetischen Erziehung“ (Kapitel 4.1.2) sowie zur „Politisierung der ästhetischen Erziehung“ (Kapitel 4.2.3). Dabei wird es an einigen Stellen erforderlich sein, in der Chronologie der dargestellten Ereignisse noch einmal einen Schritt zurückzugehen, um so einzelne, bereits skizzierte Ereignisse und Veröffentlichungen differenzierter betrachten und in ihrer Bedeutung für die Entwick lungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung detaillierter analysieren zu können.
4.1.1 Die Renaissance des Begriffs „ästhetische Erziehung“ Als Hartmut von Hentig im Herbst 1967 seinen Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ 425 erstmals veröffentlicht und darin – in direkter Bezugnahme auf Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen – dem Begriff der „musischen Bildung“ denjenigen der „ästhetischen Erziehung“ entgegensetzt, nimmt er damit einen Begriff wieder auf, dessen Diskussion, wie Hans-Günther Richter in seiner Geschichte der ästhetischen Erziehung schreibt, zum damaligen Zeitpunkt „zwar nicht völlig abgestorben“ war, aber doch „seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts […] eher in den Zirkeln fachphilosophischen Theoretisierens […] als in den Bezirken pädagogischer oder gar kunstpädagogischer Diskussion“ überlebt hatte 426. So taucht der Begriff der ästhetischen Erziehung zwar bereits vor Hentigs 1967er Aufsatz vereinzelt in der pädagogischen Diskussion der 1960er Jahre auf, dies in der Regel allerdings an wenig exponierter Stelle und ohne programmatischen Anspruch der jeweiligen Autorinnen und Autoren.427 Der prägende kunstund musikpädagogische Begriff der damaligen Zeit ist vielmehr derjenige der „musischen Bildung“, gefolgt von verschiedenen, auf die einzelnen Kunstsparten bezogenen Bezeichnungen wie „Kunsterziehung“ und „Musikerziehung“ oder „Kunstunterricht“ und „Musikunterricht“. Ab Mitte der 1960er Jahre allerdings gerät der Begriff der musischen Bildung aufgrund seiner „ideologischen Grundannahmen“ 428 und seiner Rolle während des Nationalsozialismus verstärkt in die Kritik der fachöffentlichen Diskussion.429 So schreibt etwa Ernst-Günther Cordes in seiner Funktion als zweiter Vorsitzender des Bundes Deutscher Kunsterzieher im Herbst 1965 in den BDK -Nachrichten:
425 Hentig 1967c 426 Richter 2003, S. 305. Zur Begriffsgeschichte ästhetischer Erziehung siehe darüber hinaus Kerbs 1976, S. 47; Krieger 2004, S. 100 f. sowie Zacharias 2007, S. 61 f. 427 Vgl. bspw. Osten 1966, S. 6 f. oder Otto 1967, S. 4. 428 Legler 2011, S. 310 429 Siehe hierzu genauer Gruhn 2003, S. 293 ff; Ehrenforth 2010, S. 480 ff. und Legler 2011, S. 241 ff.
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„War dieser Begriff [der Musischen Bildung] schon zu seiner Blütezeit recht verschwommen, so wird er erst recht fragwürdig, will man ihn heute als Basis für ein Gespräch über Kunsterziehung belassen. […] Aber so zäh, wie sich einmal die Vorstellung hielt, im Kunstunterricht nur das Fertigkeiten vermittelnde Fach Zeichnen zu sehen, so scheint man in Kunsterzieherkreisen wie auch unter anderen Pädagogen nicht einsehen zu wollen, daß diese hybride ‚Bildung‘ schon von ihrem Begriffsschatz her ihre wahre Ortsbestimmung offenbart. Da raunen die Kräfte der Elemente, da ist die gestörte Welt, die es zu heilen gilt mit den Kräften des Gemütes, und stets ist die Rede vom Schöpferischen. Es soll nicht verkannt werden, daß der Begriff der Musischen Bildung einem kulturhisto rischen Komplex angehört, der aus einer Protesthaltung entstand, die die angeblich festen Werte ihrer Zeit in Frage stellte. Seine Unwissenschaftlichkeit wie die Tatsache, daß mit diesem Vokabular das tausendjährige Reich seine Kunst feilbot, sollten uns veranlassen, ‚Musische Bildung‘ nur noch historisch zu verstehen. Soll sich die Kunsterziehung als Unterrichtsfach in der Schule behaupten, so muß sie eine solide erziehungswissenschaftliche Basis erhalten.“ 430
In eine ähnliche Richtung zielend fragt knapp anderthalb Jahre später im Editorial der Zeitschrift deutsche jugend unter der Überschrift „Das Ende der ‚musischen Bildung‘?“ ein sich hinter dem Kürzel M. F. verbergender Autor: „Wäre es nicht besser, den Begriff der musischen Bildung endlich aus dem Verkehr zu ziehen und ihm einen ehrenwerten Platz in der historischen Schatzkammer zuzuweisen? Er fände dort sicher gute Nachbarschaft, am besten wohl z wischen der Jugendbewegung und der Reformpädagogik des ersten Drittels unseres Jahrhunderts.“ 431
Und er ergänzt: „Aber was soll dann an die Stelle der musischen Bildung treten? Braucht man dann nicht einen neuen Sammelbegriff, der die Aktivitäten zusammenfaßt, die man bisher unter der musischen Bildung subsumierte? In einem Beitrag dieses Heftes wird statt von musischer Bildung von kultureller Bildung gesprochen. Doch schon der damit verbundene Hinweis, daß man dabei natürlich nicht den Kulturbegriff des deutschen Bildungshumanismus zugrunde legen dürfe, zeigt welch neue Gefahrenquellen damit auftauchen. Auch Technik, auch Politik gehört ja zur Kultur. Und ebenso wie eine solche Ausweitung auf den Gesamtbereich der Kultur, wirft auch eine Begrenzung auf den Bereich des Ästhetischen oder der Künste eine Reihe von Problemen auf. Auf Anhieb läßt sich sicher keine befriedigende Lösung finden. Aber das Nachdenken darüber würde vielleicht zu manchen neuen Möglichkeiten führen, zu denen solange der Zugang versperrt bleibt, solange man
430 Cordes 1965, S. 1 431 F. 1967, S. 1
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sich an den Begriff der musischen Bildung klammert. […] Der Abschied von ihr mag schwerfallen. Aber es ist Zeit sich von ihr zu trennen.“ 432
Der Begriff der musischen Bildung ist insofern bereits angeschlagen und die Suche nach einer geeigneten Alternative entsprechend im Gange 433, als Hentig im Herbst 1967 in seinem Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ schreibt: „Was auch immer Kunstpädagogen treiben und meinen: ihre wahre Aufgabe scheint mir ästhetische Erziehung und nicht musische Bildung zu sein. Ästhetische Erziehung will ausdrücken, daß die Bemühung nicht auf Kunstwerke, auf die musischen Gegenstände oder musischen Qualitäten im herkömmlichen Sinne aus ist oder gar auf sie beschränkt bleiben darf. Sie ist darum auch den Kunsterziehern nicht allein aufgegeben, die freilich ihre spezialisierten Anwälte sind – nicht zuletzt gegenüber anderen Pädagogen. ‚Musische Bildung‘ heißt soviel wie: man weiß nicht recht, wie man dazu kommt und ob jemand anderes sie auch so erfährt […]. Musische Bildung ist seit Platon zum Inbegriff der zweckfreien, ganz und gar indirekten Bildung geworden. Die Kennwörter sind: ganzheitlich, ursprünglich, eigenständig, Bildungsgehalt, Urphänomen, Spiel, poiesis, […], das Schöpferische, das Einfache und alle jene Komposita, die so tun, als entsprächen sie vorgegebenen Entitäten: Formwille, Gestaltkraft, Wirkmacht, Werkbereitschaft, Werksinn, Werkbesinnung etc. – ‚Bildung‘ sucht dabei wie immer Anschluß an Höheres.
432 Ebenda, S. 2 433 Tatsächlich lässt sich ab Mitte der 1960er Jahre ein verstärktes Experimentieren mit Alternativen zum Begriff der musischen Bildung beobachten. So stellt beispielsweise Gunter Otto im Mai 1967 an der Berliner Akademie der Künste eine Reihe von „Forderungen zur ästhetischen Bildung“ des Gestaltkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie vor, in denen nicht nur von „ästhetischer Bildung“, sondern immer wieder auch von „ästhetischer Erziehung“ die Rede ist (vgl. Gestaltkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. 1967). Beide Begriffe miteinander verbindend resümiert Otto denn auch in seinem einleitenden Vortrag zu jenen Forderungen des Gestaltkreises: „Wer heute Ästhetische Bildung fordert oder fördert, meint damit nicht Flucht in die Unverbindlichkeit, meint nicht Gegengewicht. Er meint nicht Anhäufung weiterer Spezialkenntnisse oder Gründung neuer Schulfächer. Er meint auch nicht den Glaubenssatz der Naivität, von dem man früher gern die Korrespondenz mit dem Künstler und den Weg in die hochkomplizierte Erwachsenenkultur erhofft hatte. Ästhetische Erziehung meint die Vermittlung aller der Fertigkeiten, Kenntnisse und Verhaltensweisen, die dem Menschen die Chance geben, sensibel und verständig auf Form in unserer Welt zu reagieren.“ (Otto 1967, S. 4, Hervorhebung im Original) Sowohl der Begriff der ästhetischen Bildung als auch derjenige der ästhetischen Erziehung sind insofern bereits vor Hentigs 1967er Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ in Gebrauch: Sie werden allerdings in der Regel noch weitestgehend synonym verwendet und nicht in programmatischer Absicht voneinander sowie vom Begriff der musischen Bildung abgegrenzt.
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‚Ästhetische Erziehung‘ heißt Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis – in der Wahrnehmung. Sie will etwas ganz Elementares und Allgemeines.“ 434
Doch auch wenn diese Formulierungen Hentigs im Folgenden „etwa ein Jahrzehnt kunstpädagogischen Argumentierens“ nachhaltig prägen werden 435 und – wie Klaus Matthies es formuliert – bereits „in nuce die meisten der später von anderen Autoren pointierter ausgelegten Gedanken für eine veränderte Auffassung von ‚Kunsterziehung‘“ 436 enthalten, so wird jener Aufsatz Hentigs – wie weiter oben bereits angedeutet – zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1967 zunächst kaum rezipiert. Die zitierten Auffassungen Hentigs zum Thema bleiben vielmehr, wie Hans-Günther Richter es in seiner Geschichte der ästhetischen Erziehung formuliert, kunstpädagogisch zunächst „wenig wirksam“ 437: „Erst als sie in den Thesen D. Kerbs Zum Begriff der ästhetischen Erziehung aufgegriffen werden, erhalten sie Einfluß auf die Zielvorstellungen und die Inhaltsfelder des Faches, werden also kunstpädagogisch bedeutsam.“ 438 Tatsächlich lässt sich die Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Erziehung kaum losgelöst von der Person Diethart Kerbs und dessen Arbeiten zum Thema betrachten: Kerbs – später Professor für Kunstpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Berlin und eine der zentralen Gestalten des kunstpädagogischen Diskurses der 1970er Jahre – ist von 1963 bis 1969 Wissenschaftlicher Assistent Hentigs am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen und arbeitet damit genau in demjenigen Zeitraum mit Hentig zusammen, in dem dieser seine zentralen Arbeiten zur ästhetischen Erziehung veröffentlicht.439 Während dieser Zeit ist Kerbs nicht nur an der Produktion von Hentigs Fernsehfilm Kinder, Kunst und Kunsterziehung beteiligt 440, in dem er zudem einen Gastauftritt als „kunstinteres sierter Großstadt-Tourist“ hat 441, er beginnt darüber hinaus schon bald auch selbst publizistisch zum Thema „ästhetische Erziehung“ hervorzutreten. So hält Kerbs im August 1966 auf dem „18. Internationalen Kunsterzieher-Kongreß der INSEA “ in Prag einen Vortrag zum Thema „Die Kunsterziehung und die Probleme der Zukunft“ 442, in dem er neben dem Begriff der „musisch-ästhetischen Erziehung“ bereits denjenigen der „ästhetischen Erziehung“ verwendet 443 und resümiert: „Das
434 Hentig 1967c, S. 282 f. (Hervorhebung im Original) 435 Richter 2003, S. 305 436 Matthies 1972, S. 37 437 Richter 2003, S. 307 438 Ebenda (Hervorhebung im Original) 439 Zum Lebenslauf Diethart Kerbs‘ sowie zu dessen Zeit als Assistent bei Hartmut von Hentig siehe u. a. Kerbs 2007, S. 157 ff.; Alphei 2007, S. 25 ff. sowie Hentig 2009c, S. 620 ff. 440 Siehe hierzu Hentig 2009c, S. 625. 441 Für die Identifizierung des jungen Kerbs’ danke ich Irene Below. 442 Kerbs 1967 443 Ebenda, S. 4 f.
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Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte
Unterrichtsklima und damit die Motivation der Schüler könnte entscheidend verbessert werden, wenn die ästhetische und die politische Erziehung […] verbunden und vertieft würden.“ 444 Zwar bleibt dieser Vortrag bei seiner Veröffentlichung in den BDK -Nachrichten im Frühjahr 1967 noch weitestgehend unbeachtet, nur etwas mehr als ein Jahr später allerdings wird Kerbs neben Gunter Otto, Dietrich Helms, Siegfried Neuenhaus und Walter Troike als Mitherausgeber der 1968 vom Friedrich- Verlag gegründeten Zeitschrift Kunst + Unterricht angeworben 445. In dieser neuen Rolle als Mitherausgeber der in den folgenden Jahren „diskursbestimmenden“ 446 Kunstpädagogik-Zeitschrift kann Kerbs sich nicht nur mit seinem Vorschlag durchsetzen, der Zeitschrift den Zusatz „Zeitschrift für alle Bereiche der ästhetischen Erziehung“ hinzuzufügen 447, ihm steht von nun an zudem ein geeignetes Forum zur Verfügung, in dem er seine Vorstellungen zur ästhetischen Erziehung gezielt entfalten und einem großen Leserkreis präsentieren kann 448. So veröffentlicht Kerbs bereits in der ersten Ausgabe von Kunst + Unterricht im September 1968 einen längeren Aufsatz zum Thema „Ästhetische und politische Erziehung“ 449, in dem er sich – genau wie zuvor bereits Hentig – an zentraler Stelle auf Friedrich Schiller und dessen Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen bezieht 450 und im Anschluss eine Auseinandersetzung mit dem „Zusammenhang zwischen Kunstpädagogik und Kunst, Ästhetik und Macht“ 451 fordert: „Die Kunstpädagogik kann und darf nicht länger in den schon vor Jahrzehnten ungültig gewordenen Grenzen verharren, sondern wird sich – mindestens in der Theorie – wieder zur ästhetischen Erziehung erweitern müssen, um dann erneut über eine sinnvolle Einteilung und Vermittlung ihrer Gegenstände nachzudenken.“ 452
Zwei Jahre später schließlich, im September 1970, publiziert Kerbs in der Zeitschrift Die Deutsche Schule einen Aufsatz mit dem Titel „Zum Begriff der ästhetischen Erziehung“ 453, in dem er insgesamt drei ihm „besonders wichtig“ erscheinende „Funktionen
444 Ebenda, S. 5 445 Vgl. Kirschenmann 2006, S. 41 und Zacharias 2007, S. 67. 446 Legler 2011, S. 314 447 Vgl. Otto 1978, S. 20. 448 Die erste Ausgabe von Kunst + Unterricht erscheint mit einer Auflage von 55.000 Stück und wird zunächst an „alle Volks-, Real-, Ober- und Hochschulen, Schulbehörden, Ministerien und an den Buchhandel ausgeliefert“ (Kirschenmann 2006, S. 41). In den darauffolgenden Jahren erreicht die Zeitschrift eine Abonnentenzahl von über 20.000 (vgl. ebenda). 449 Kerbs 1968 450 Vgl. ebenda, S. 28. 451 Ebenda 452 Ebenda, S. 29 453 Kerbs 1970
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der ästhetischen Erziehung“ zusammenfasst: die kritische, die utopische und die hedonistische Funktion 454. In d iesem Zusammenhang führt er Hentigs 1967er Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ (neben seinem eigenen von 1968 über „Ästhetische und politische Erziehung“) als einen von „den beiden Aufsätzen“ an, „durch die der Begriff der ästhetischen Erziehung wieder ins Gespräch gebracht“ worden sei.455 Kerbs resümiert: „Der Begriff der ästhetischen Erziehung erlaubt die politische Reflexion nicht nur, sondern fordert sie aufgrund seiner Theoriegeschichte geradezu. Das kann man weder von der Theorie der ‚Musischen Bildung‘ noch von der Didaktik des ‚Kunstunterrichts‘ sagen.“ 456 Diese beiden Aufsätze Kerbs‘ bilden in den folgenden Jahren im Verbund mit Hentigs Arbeiten „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ von 1967 und „Das Leben mit der Aisthesis“ von 1969 denn auch den Ausgangspunkt für eine beispiellose Renaissance des Begriffs der ästhetischen Erziehung – verbunden mit einer neuerlichen, nunmehr pädagogisch geprägten Lektüre der ästhetischen Schriften Schillers. Der damit einhergehende „Paradigmenwechsel“ 457 allerdings, der – wie Birgit Engel es rückblickend formuliert – als „zentrale bildungswissenschaftliche Zäsur“ 458 der 1960er Jahre gesehen werden muss, bleibt dabei nicht allein auf den Bereich der Kunstpädagogik beschränkt: vielmehr beginnt der Begriff der ästhetischen Erziehung sich schon bald als fachübergreifender Oberbegriff für eine Vielzahl verschiedener, zuvor weitestgehend voneinander getrennter Strömungen der Kunst-, Musik-, Literatur- und Theaterpädagogik zu etablieren.459 Doch auch wenn das Konzept der ästhetischen Erziehung und mitunter sogar deren Schreibweise im Verlauf der folgenden Jahre einem ständigen Wandel unterworfen ist 460: Die genannten Texte Hentigs und Kerbs’ bleiben dennoch über Jahre hinweg „Ausgangs- und Bezugspunkt“ 461 aller diesbezüglicher Diskussion in den entsprechenden Auseinandersetzungen. Dabei ist es in historiographischer Perspektive 454 Ebenda, S. 566 ff. Zwei Jahre später fügt er in einer erweiterten Fassung des Aufsatzes in den Gesamtschul-Informationen noch eine vierte, die „pragmatische Funktion“ hinzu (vgl. Kerbs 1972, S. 55 ff.). Zu Kerbs’ vier Funktionen der ästhetischen Erziehung siehe darüber hinaus in historiographischer Perspektive Zacharias 2007, S. 71 ff. 455 Kerbs 1970, S. 565 456 Ebenda, S. 565 f. (Hervorhebung im Original) 457 Zacharias 2007, S. 61 458 Engel 2004, S. 72 459 Siehe hierzu u. a. Richter 2003, S. 305 ff.; Gruhn 2003, S. 341 ff.; Krieger 2004, S. 123 ff. und Ehrenforth 2010, S. 491 ff. Zur Schiller-Rezeption der 1970er Jahre siehe darüber hinaus insbesondere Noetzel 2006, S. 11 ff. 460 So beginnt sich beispielsweise ab Mitte der 1970er Jahre eine Unterscheidung zwischen „Ästhetischer Erziehung“ (großgeschrieben) als Unterrichtsfach und „ästhetischer Erziehung“ (kleingeschrieben) als allgemeinem Erziehungsprinzip durchzusetzen. (Siehe hierzu u. a. Krieger 2004, S. 27.) 461 Gruhn 2003, S. 341
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Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte
zwar in der Regel Hentig, der als „geistiger Vater“ 462 und wichtigster Theoretiker der ästhetischen Erziehung angeführt wird 463, wenn es allerdings um die konkrete Etablie rung des Begriffs der ästhetischen Erziehung geht, werden zumeist beide, Hentig und Kerbs, mit ihren jeweiligen Veröffentlichungen zum Thema genannt 464. So lässt sich aus heutiger Perspektive denn auch nicht mehr eindeutig klären, von wem der beiden nun der entscheidende Impuls kam, in Zukunft vornehmlich auf den Begriff der ästhetischen Erziehung zu setzen: Zwar benutzt Kerbs diesen als Erster in einer offiziellen Publikation 465, Hentig allerdings verwendet ihn deutlich vor Kerbs in programmatischer Absicht, bezieht ihn zurück auf Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen und stellt ihn dem Begriff der musischen Bildung entgegen.466 462 Funk-Hennings 1980, S. 39 463 Vgl. bspw. Staudte 1996, S. 2; Gruhn 2003, S. 341; Richter 2003, S. 305; Lowinski 2007, S. 42 f. und Sievert 2008, S. 8. 464 Vgl. bspw. Daschner 1984, S. 12; Giffhorn 1987, S. 11; Engel 2004, S. 172; Krieger 2004, S. 26 f.; Tappert-Süberkrüb 2005, S. 27 und Noetzel 2006, S. 15 f. 465 Vgl. Kerbs 1967, S. 4. 466 Vgl. Hentig 1967c. Es finden sich allerdings dennoch zumindest einige vereinzelte Hinweise auf die genauere Gestalt jener Zusammenarbeit Hentigs und Kerbs‘. Wolfgang Zacharias etwa resümiert anlässlich des siebzigsten Geburtstags Kerbs‘ im Jahr 2007: „Als Mitarbeiter mit kunstpädagogischem Hintergrund ist es wohl auch die Aufgabe von Diethart Kerbs gewesen, Hartmut von Hentigs ‚schillernde‘ Botschaften und konzeptionell-theoretische Makroreflexionen fachpolitisch und alltagsbezogen zu operationalisieren und sozusagen unters Volk zu bringen – in den turbulenten Zeiten vor und nach 1968, auf dem Weg vom begrifflichen Überbau in den aktiven Alltag der politisch-ästhetischen Aktion.“ (Zacharias 2007, S. 64) Folgt man dieser Einschätzung Zacharias’, wäre Hentig also eher mit der konzeptionellen Ausarbeitung eines entsprechenden Konzepts ästhetischer Erziehung beschäftigt gewesen – dem „begrifflichen Überbau“ gewissermaßen –, während Kerbs eher die Aufgabe des fachpolitischen „Operationalisierens“ übernommen hätte. Diese Form der Arbeitsteilung legt auch Adelheid Sievert nahe, wenn sie konstatiert, der Begriff der ästhetischen Erziehung sei „[e]ntstanden aus der Kritik an der inhaltlichen Enge und der fachlichen Verkürzung des Kunstunterrichts auf ein Schulfach“ und gehe „auf Hartmut von Hentigs grundlegenden Beitrag von 1967 zurück“, während der „frühere Assistent des Erziehungswissenschaftlers von Hentig aus der Göttinger Zeit, Diethard Kerbs, […] diesen Begriff programmatisch in die ‚68er Diskussion‘ der Kunstpädagogik eingebracht“ habe (Sievert 2008, S. 8). Auch Wolfgang Legler resümiert 2011 in seiner Geschichte des Zeichen- und Kunstunterrichts, Diethart Kerbs habe „von Hentigs Positionen als Kunstpädagoge“ lediglich „weiter differenziert“ (Legler 2011, S. 312). In eine ähnliche Richtung weist schließlich auch die jeweilige Bezugnahme der beiden aufeinander: Während Kerbs von Hentig wiederholt – und oftmals geradezu bewundernd – als von seinem „damaligen Lehrer“ (Kerbs 1979, S. 3 und Kerbs 2004, S. 89) spricht, mit dem gemeinsam er sich bemüht habe, „den Begriff der ästhetischen Erziehung wieder in die kunstpädagogische Diskussion Westdeutschlands einzuführen“ (Kerbs 1979, S. 3), notiert Hentig – ein deutliches fachliches Ungleichgewicht zwischen ihnen beiden evozierend – in seiner Autobiographie über Kerbs: „Dieser große blonde Mann mit der
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Für eine Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Erziehung allerdings ist die Frage, wer von beiden nun im Sinne einer originären Autorenschaft tatsächlich als „Wiederentdecker“ oder gar „Erfinder“ der ästhetischen Erziehung gelten darf, letztlich wenig bedeutsam. Entscheidend ist vielmehr der Umstand, dass Hentig und Kerbs offensichtlich gleichzeitig und zum Teil wohl auch gemeinsam am selben Thema gearbeitet und sich dabei im Anschluss an die Lektüre der ästhetischen Briefe Schillers für den Begriff der ästhetischen Erziehung als Leitmotiv ihrer je eigenen Konzeptionen entschieden haben. So sind Hentig und Kerbs gegen Ende der 1960er Jahre zwar weder die E rsten, die den Begriff der ästhetischen Erziehung auf pädagogische Fragen anzuwenden versuchen, noch war ihre Kritik an der musischen Bildung und deren „terminologischen Filz“ 467 vorher so noch nie formuliert worden – wohl aber sind Hentig und Kerbs diejenigen, denen es zuerst gelingt, beide Aspekte miteinander zu verbinden und den Begriff der ästhetischen Erziehung in programmatischer Absicht demjenigen der musischen Bildung entgegenzusetzen. Damit stoßen sie sowohl eine Renaissance des Begriffs „ästhetische Erziehung“ als auch eine Wiederentdeckung der ästhetischen Schriften Schillers an und prägen auf diese Weise den pädagogischen Diskurs der 1970er Jahre in entscheidendem Maße. Die Ursache dieser immensen Wirkkraft allerdings ist dabei nicht allein in der Wahl des Begriffs der ästhetischen Erziehung zu suchen, sondern darüber hinaus in zwei weiteren Aspekten, die Hentig und Kerbs in all ihren genannten Veröffentlichungen immer wieder hervorheben und thematisieren: in denjenigen der Ausweitung und Politisierung des gesamten Feldes ästhetischer Erziehung.
4.1.2 Die Ausweitung der ästhetischen Erziehung War die Diskussion der 1960er Jahre zum Zusammenhang von Kunst, Ästhetik, Bildung und Erziehung noch geprägt durch einen weitestgehend bipolaren Richtungsstreit zwischen musischer Bildung und „rationalem“ 468 Kunst- und Musikunterricht,
Anmutung des kleistschen Tanzbären war deutlich nicht für die harte Wissenschaft geboren, konnte aber bewundernswert artistisch mit ihr umgehen. Er ‚assistierte‘ mir und dem Seminar mit unermüdlichen Einfällen, treuherzigen Querfragen und herzbewegender Loyalität. Er war in allem viel zu ‚natürlich‘, um eine erziehungswissenschaftliche Arbeit zu schreiben und sich einer der auf uns alle eindringenden politischen Botschaften zu unterwerfen. […] War Kerbs ein Schelm? Nein, ein Gaukler! Sein Seil war z wischen Jugendbewegung und Antifaschismus gespannt; seinem Dudelsack entströmten die Lieder der Burg Waldeck und die Internationale, seiner Feder in Schönschrift kopierte Traktate von Tusk und Sentenzen von Adorno.“ (Hentig 2009c, S. 621 f.) 467 Hentig 1967c, S. 280 468 Legler 2011, S. 300
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Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte
so beginnt sich der diesbezügliche Diskurs Anfang der 1970er Jahre nach und nach in eine Vielzahl verschiedener theoretischer Strömungen aufzufächern. Eines der wenigen verbindenden Elemente zwischen diesen Strömungen – gewissermaßen eine Unterströmung des entsprechenden Diskurses bildend – ist dabei neben der Etablierung des Begriffs „ästhetische Erziehung“ die fachübergreifende Forderung nach einer radikalen Ausweitung derselbigen: „Wir plädierten damals für Öffnung und Erweiterung auf allen Ebenen“ 469, erinnert sich in d iesem Zusammenhang Diethart Kerbs anlässlich eines „Kunstpädagogischen Generationengesprächs“ im Jahr 2004 und ergänzt: „Den kunstpädagogischen Fachdiskurs wollten wir zu einer interdisziplinären Theoriedebatte unter dem Oberbegriff ‚Ästhetische Erziehung‘ erweitern. In der Praxis wollten wir nach Mao-Tse-Tungs Devise ‚Lasst 100 Blumen blühen‘ eine neue Reichhaltigkeit und Experimentierfreude stimulieren, die sich nach den Präferenzen der jeweilig Beteiligten und nach den örtlichen Gegebenheiten richten sollte.“ 470
Diese „Öffnung und Erweiterung auf allen Ebenen“ bezieht sich dabei in erster Linie auf den Gegenstandsbereich der ästhetischen Erziehung, auf die Frage also, welche künstlerischen, ästhetischen oder sonstigen Gegenstände im Mittelpunkt einer modernen ästhetischen Erziehung zu stehen hätten 471: eine Frage, mit deren Beantwortung insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine radikale Ausweitung des gesamten Feldes ästhetischer Erziehung einhergeht, die sich zugleich auf zwei einander überlagernden Ebenen vollzieht. Auf einer ersten Ebene wird dabei der Gegenstandsbereich ästhetischer Erziehung von traditionellen Kunstwerken auf „ästhetische Objekte“ 472 aus allen Bereichen der Populären Kultur und Alltagskultur ausgeweitet. So stellt die Kunstpädagogik etwa nunmehr „die visuellen, meist massenmedialen Phänomene des Alltags der Heranwachsenden und deren Wirkung in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen“ und lässt der Kunst, wie Georg Peez es formuliert, eher eine „marginale Rolle“ zukommen 473: Die entsprechende Fachdiskussion der 1970er Jahre ist infolgedessen geprägt von Forderungen wie derjenigen, die „Gewichte genau andersherum“ zu verteilen, als der bisherige Kunstunterricht es getan habe, und „nicht mehr 80 % Kunst und 20 % andere ‚ästhetische Objekte‘“ zu behandeln, „sondern von nun an 80 % Film, Fernsehen, Comic Strips, Plakatwerbung usw. und nur noch 20 % Kunst“ 474. 469 Kerbs 2004, S. 89 470 Ebenda 471 Axel Jansa spricht in d iesem Zusammenhang auch von einem „Erweiterungs- und Öffnungsprozeß des Gegenstandsfeldes“ ästhetischer Erziehung im Verlauf der 1970er Jahre (vgl. Jansa 1999, S. 23). 472 Kerbs 1970, S. 564 473 Peez 2002, S. 79 474 Kerbs 1970, S. 564
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Auf einer zweiten Ebene wird der Begriff des Ästhetischen unter Verweis auf dessen etymologischen Ursprung im griechischen Begriff der „Aisthesis“ mit „Sinnliche Wahrnehmung“ übersetzt und ästhetische Erziehung infolgedessen verstanden als eine Form der allgemeinen Wahrnehmungserziehung. Dieses Verständnis, am radikalsten umgesetzt in den Konzeptionen der „Visuellen Kommunikation“ sowie der „Auditiven Wahrnehmungserziehung“, bezieht sich nun nicht mehr allein auf „ästhetische Objekte“ der Alltags- oder Hochkultur, sondern schließt darüber hinaus das gesamte Feld des sinnlich Wahrnehmbaren mit ein. Als exemplarisch für ein solches Verständnis des Ästhetischen kann dabei eine Formulierung Hans Giffhorns gelten, der 1970 in seinem programmatischen Aufsatz „Neun Ziele der Erziehung im ästhetischen Bereich“ 475 den Wortbestandteil „ästhetisch“ im Titel seines Aufsatzes mit dem in einer Fußnote angeführten Hinweis versieht: „‚Ästhetisch‘ bedeutet hier: (visuell) wahrgenommen und wahrnehmbar, hat also nicht mit schön oder hässlich zu tun.“ 476 Ganz ähnlich formuliert es auch Ulrich Günther, einer der wichtigsten Protagonisten der Auditiven Wahrnehmungserziehung, wenn er 1971 vom Musikunterricht als von einer „planmäßigen Differenzierung und Schulung der hörenden Wahrnehmung“ spricht 477 und ergänzt: „Hörbare Wirklichkeit beinhaltet mehr als nur musikalische Kunstwerke, die überdies noch unter bestimmten pädagogischen, gesellschaftlichen oder politischen Vorurteilen ausgewählt und angeboten werden. Hörbare Wirklichkeit meint alles Hörbare, das geordnet ist oder das sich ordnen läßt, darunter die Musik aller Zeiten, Formen, Völker und Kulturkreise sowie Musik in allen möglichen ästhetischen Kombinationen – ohne Einschränkung.“ 478
Diese sich auf mehreren Ebenen vollziehende Ausweitung des Gegenstandsbereiches ästhetischer Erziehung 479 – weg von einer als elitär empfundenen Orientierung am bürgerlichen Kunstwerk und einer als potentiell faschistoid verstandenen musischen Volkstümlichkeit hin zu einer am emanzipatorischen Ideal der Egalität ausgerichteten neuen Sensibilität sowohl für Gegenstände der Populären Kultur und Alltagskultur als auch für eigene Wahrnehmungsprozesse – muss dabei in unmittelbarem Zusammenhang mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der 1960er und 1970er Jahre gesehen werden. So ist es gerade eine solch radikale Infragestellung bestehender, 475 Giffhorn 1975 476 Ebenda, S. 75 477 Günther 1971, S. 18 478 Ebenda 479 Eine ganz ähnliche Unterscheidung nimmt auch Mollenhauer vor, wenn er 1988 eine Ausweitung des Begriffs „‚ästhetische Erziehung/Bildung‘ nach zwei Seiten hin“ konstatiert: einerseits hin zur „‚Waren-Ästhetik‘“ und andererseits hin zur „Verwendung des Ausdrucks ‚ästhetisch‘ auf die sensuellen Funktionen des menschlichen Organismus“ (Mollenhauer 1988a, S. 22).
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auf „bürgerlichen“ Wertvorstellungen und Traditionen beruhender Strukturen, die eines der Hauptmotive der 1968er-Bewegung darstellt und deren Auswirkungen im Laufe der 1970er Jahre verstärkt auch in den drei zentralen Bezugsfeldern ästhetischer Erziehung sichtbar werden: in den Feldern der Pädagogik, der Politik und der Ästhetik.480 Dieses „Wirkungsdreieck“ 481 ästhetischer Erziehung ist in den Jahren nach 1968 gekennzeichnet durch das Ideal einer „Befreiung von vorgegebenen Konventionen“ 482, verbunden mit der „Überschreitung und Schleifung bestehender Grenzen“ 483, was wiederum, wie Axel Jansa es 1999 in seiner Studie Pädagogik – Politik – Ästhetik formuliert, „zur Erweiterung von Inhalten durch die Integration randständiger Felder und zur Öffnung gegenüber anderen Bereichen“ führt und dabei nicht selten auch eine gewisse „Beliebigkeit“ mit sich bringt 484: eine Beliebigkeit, im Rahmen derer „nun tendenziell alles politisch oder alles Kunst“ sein kann 485. Die skizzierte Ausweitung des Gegenstandsbereiches ästhetischer Erziehung zu Beginn der 1970er Jahre lässt sich vor diesem Hintergrund denn auch nicht auf eine einzelne Person oder gar auf eine einzelne Veröffentlichung zurückführen, sondern muss als Teil einer umfassenderen Entwicklung betrachtet werden, an deren Fortgang die verschiedensten Personen auf unterschiedliche Weise beteiligt waren. Dennoch lassen sich auch in diesem Zusammenhang einige Protagonisten ausmachen, die eben jene Entwicklung im Bereich ästhetischer Erziehung in entscheidendem Maße anstoßen und prägen konnten – unter ihnen erneut: Gunter Otto, Diethart Kerbs und Hartmut von Hentig. Wie bereits im Fall der sich in etwa zeitgleich vollziehenden Etablierung des Begriffs „ästhetische Erziehung“ kommt Hentig auch hier erneut eine besonders exponierte Rolle zu, und erneut sind es seine beiden Arbeiten „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ und „Das Leben mit der Aisthesis“, die sich in diesem Zusammenhang als besonders wirkmächtig erweisen sollen. So hatte Hentig bereits 1967 im ersten der beiden Aufsatz resümiert, er könne „keine prinzipielle Schranke […] sehen zwischen heutigen Kunstübungen und Stimulierung der Wahrnehmung durch Wein, Narkotika und LSD “ 486, und gefordert, die ästhetische Erziehung dürfe in ihrer „Bemühung nicht auf Kunstwerke, auf die musischen Gegenstände oder musischen Qualitäten im herkömmlichen Sinne […] beschränkt bleiben“, sondern müsse zu einer „Ausrüstung und Übung des Menschen in der
480 Siehe hierzu insbesondere Jansa 1999, besonders S. 22 ff., sowie in allgemeiner Perspektive zum Themenkomplex „1968 und die Pädagogik“ Baader 2008a. 481 Jansa 1999, S. 25 482 Ebenda, S. 256 483 Ebenda 484 Ebenda 485 Ebenda 486 Hentig 1967c, S. 299 (Hervorhebung im Original)
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aisthesis – in der Wahrnehmung“ erweitert werden 487. Diese Einschätzung nimmt er zwei Jahre später in seinem Text „Das Leben mit der Aisthesis“ noch einmal auf und radikalisiert sie sogar: „Wenn man die Kunst nicht als die Summe der anerkannten Kunstwerke, als die Objektivationen der durch die Ästhetik bestätigten Gestaltungsgattungen und -prinzipien auffaßt, wenn man sie vielmehr schon mit den Wahrnehmungsprozessen beginnen und bis in die elementaren Ausdrucksmöglichkeiten bis hin zur Mode, zur Reklame, zur politischen Symbolik, zu Stilisierung oder Variation der sozialen Verhaltensformen reichen läßt, dann wird deutlich, w elche großen und wichtigen Bereiche unseres Lebens wir dem Zufall oder der Gewohnheit oder der Manipulation oder der Verödung überlassen: daß unsere ästhetische Erziehung in einem grotesken Mißverhältnis zu unserer ästhetischen Beanspruchung steht – und erst recht zu unserer wissenschaftlichen, beruflichen und politischen Erziehung.“ 488
Der Mensch, so Hentig weiter, bedürfe deshalb einer „ästhetischen Erziehung und das heißt einer systematischen Ausbildung seiner Wahrnehmungsmöglichkeiten, des Wahrnehmungsgenusses und der Wahrnehmungskritik“ 489. Entscheidend an diesen Formulierungen Hentigs ist dabei nicht allein die exem plarische Ausweitung des Gegenstandsbereichs ästhetischer Erziehung auf „Narkotika“, „politische Symbolik“ oder „soziale Verhaltensformen“. Von besonderer Tragweite ist darüber hinaus seine Forderung, Kunst nicht als „Summe der anerkannten Kunstwerke“ aufzufassen, sondern diese von ihren Wirkungen her zu begreifen: als „Funktionsbegriff“ und erst „in zweiter Linie als […] Wertbegriff “ 490. Mit dieser Forderung erweitert Hentig, wie Karl Heinrich Ehrenforth es in seiner Geschichte der musikalischen Bildung formuliert, nicht nur „den Horizont der ästhetischen Belange“, er verlagert darüber hinaus „die bis dahin unumstrittene kunstpädagogische Maxime vom Werk und seiner Kenntnis zur Rezeption“ 491. Auf diese Weise eröffnet er einen argumentativen Raum, der es ihm und seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern ermöglicht, den Wahrnehmungsprozess als solchen in den Mittelpunkt ihrer pädagogischen Überlegungen zu stellen – und ausgehend von d iesem gleichfalls das gesamte Feld des sinnlich Wahrnehmbaren. So resümiert Erika Funk-Hennings bereits 1980, es sei Hentig gewesen, der mit seiner Definition der ästhetischen Erziehung als „Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis“, den „Begriff der Wahrnehmung in die kunst- und musikdidaktische Diskussion“ eingebracht habe 492, und sie ergänzt:
487 Ebenda, S. 282 f. (Hervorhebung im Original) 488 Hentig 1969a, S. 29 489 Ebenda, S. 29 f. 490 Ebenda, S. 29 491 Ehrenforth 2010, S. 491 492 Funk-Hennings 1980, S. 39
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Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte
„Ästhetische Erziehung bedeutet hinfort [im Anschluss an Hentig] kritische Wahrnehmungserziehung, die dazu verhelfen soll, Wahrnehmungsstereotype aufzubrechen. Kunst wird in diesem Kontext nicht länger als Bildungsgut vermittelt, sondern als Funktion, die Bewußtseinsveränderung durch Wahrnehmungsveränderung erreichen kann.“ 493
Ähnlich argumentiert auch Wolfgang Krieger 2004 in seiner Studie Wahrnehmung und ästhetische Erziehung, wenn er anmerkt, „[g]erade von Hentigs Arbeiten aus den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren“ s eien „wesentlich für die Diffusion der Fundamente der ästhetischen Erziehung in ‚allgemeine ‚Aisthesis‘-Behauptungen‘ ( Mollenhauer) verantwortlich gewesen“ 494. So habe – wie Krieger an späterer Stelle ausführt – im Anschluss an das hentigsche Verständnis ästhetischer Erziehung als „Ausrüstung und Übung des Menschen in der Aisthesis“ nicht mehr die „Auseinandersetzung mit der ‚hehren‘ Kunst“ als wichtigster „Gegenstand des Unterrichts“ gegolten, „sondern die allgemeine Förderung eines grundlegenden menschlichen Vermögens, nämlich eines basalen Teilvermögens der menschlichen Erkenntnis und Erlebnisfähigkeit“.495 Diese von Funk-Hennings und Krieger umrissene Bedeutung Hentigs für die Ausweitung ästhetischer Erziehung im Laufe der 1970er Jahre soll im Folgenden – nachdem der Fokus bisher vornehmlich auf dem Bereich der Kunstpädagogik lag – noch einmal etwas genauer anhand eines Beispiels aus dem Bereich der Musikpädagogik dargestellt werden: am Beispiel der „Auditiven Wahrnehmungserziehung“. Der Begriff „Auditive Wahrnehmungserziehung“ bezeichnet dabei eine musikpädagogische Strömung der 1970er Jahre, in deren Mittelpunkt die Hinwendung des schulischen Musikunterrichts zu allgemeinen Prozessen der auditiven Wahrnehmung steht, verbunden mit einer verstärkten Einbeziehung auch außermusikalischer Ereignisse der hörbaren Umwelt.496 So treten, wie Christian Harnischmacher es formuliert, an die Stelle der „Musik als Kunstform“ allgemeine „Erscheinungen der akustischen Seite der Musik und ihres sozialen Kontextes, wobei Musikunterricht die ‚hörbare Wirklichkeit‘ bzw. das Gesamte alles Hörbaren betrifft“ 497. Auditive Wahrnehmungserziehung gerät auf diesem Wege zum „Teil der Wahrnehmungserziehung […], die eine Erziehung zur Kommunikation im nichtsprachlichen Bereich anstrebt“.498 Eine zentrale Stellung innerhalb dieser Entwicklung nimmt dabei das Lehrwerk Sequenzen 499 ein, das – konzipiert von der „Arbeitsgemeinschaft Curriculum Musik“ mit den Mitgliedern Rudolf Frisius, Peter Fuchs, Ulrich Günther, Willi Gundlach 493 Ebenda 494 Krieger 2004, S. 96 unter Bezugnahme auf Mollenhauer 1996, S. 253. 495 Krieger 2004, S. 123 496 Zu Geschichte und Konzeption der Auditiven Wahrnehmungserziehung siehe genauer Küntzel 1994; Gruhn 2003, S. 339 ff. und Ott 2006. 497 Harnischmacher 2005, S. 29 498 Ebenda 499 Arbeitsgemeinschaft Curriculum Musik 1972
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und Gottfried Küntzel – den Versuch unternimmt, das zunächst rein theoretische Konzept der Auditiven Wahrnehmungserziehung auf die Praxis des schulischen Musikunterrichts zu übertragen.500 Der inhaltliche Aufbau des Lehrwerks lässt sich im Zuge dessen denn auch zugleich in programmatischer Perspektive lesen: An die Stelle musikhistorischer Epochen oder anderweitiger musikimmanenter Ordnungsmerkmale treten insgesamt sechs „Komplexe“ 501, die von „Schall“ über „Musik und Sprache“, „Hören und Verstehen“, „Schalleigenschaften“ und „Formverläufe“ bis zu „Hörerfahrung und Gesamterfahrung“ reichen.502 Zwar kommt dabei dem „Phänomen Musik“ 503 in all seinen Ausprägungen noch immer eine zentrale Rolle im Gesamtgefüge des Lehrwerks zu, neben diesem allerdings steht nun die „Vielfalt der Höreindrücke, wie sie sich durch unsere alltäglichen Erfahrungen erschließt“ 504. Das Konzept der Auditiven Wahrnehmungserziehung kann in diesem Sinne durchaus als exemplarisch für den skizzierten Ausweitungsprozess ästhetischer Erziehung im Laufe der 1970er Jahre gelten: fordern die Autoren der Sequenzen doch nicht nur eine Hinwendung des Musikunterrichts zum „Gesamtbereich alles Hörbaren“ 505, einschließlich popkultureller Phänomene wie „Beat“ und „Schlager“ 506, ihnen ist zugleich explizit an einer „Wahrnehmungserziehung“ gelegen, die es zum Ziel hat, „Kommunikation durch Hören bewusst zu machen, zu beurteilen und zu üben“ 507. Bemerkenswerterweise ist es auch in d iesem Fall erneut Hentig, der mit seinen Arbeiten entscheidende Impulse für einen solchen Ausweitungsprozess liefern kann, obwohl er zum damaligen Zeitpunkt noch kaum zum Thema „Musikpädagogik“, geschweige denn zu Fragen der „Auditiven Kommunikation“, publiziert hatte.508 In 500 Dem ersten Band der Sequenzen, der ab 1971 mit einem „Schülerarbeitsbuch für das 5./6. Schuljahr, einem Lehrerband in Ringbuchform, Arbeitskarten, einer Schallplatte und einer Reihe von Tonbändern“ erscheint, folgt 1976 ein zweiter, allerdings von anderen Autoren konzipierter Band, bevor der Klett-Verlag schließlich die gesamte Reihe wegen mangelnden Erfolgs einstellt (vgl. Ott 2006, S. 50 f.). 501 Arbeitsgemeinschaft Curriculum Musik 1972, Einleitung, S. 0.13 502 Vgl. ebenda, S. 0.13 f. 503 Ebenda, S. 0.13 504 Ebenda, S. 0.17. Die Klangbeispiele der beigefügten Tonbänder reichen infolgedessen denn auch von Rasenmähergeräuschen über Vogelstimmen und Sportreportagen bis hin zu Morsezeichen, einem Stück der Jimi Hendrix Experience und Bruckners 4. Sinfonie (vgl. die Liste der Tonbeispiele im Anhang, S. A.59 – 88). 505 Ebenda, Einleitung, S. 1.3 506 Ebenda, Anhang, S. A.65 507 Ebenda, Einleitung, S. 0.10 508 Die einschlägigen Arbeiten Hentigs zur ästhetischen Bildung und Erziehung im Laufe der 1960er und frühen 1970er Jahre konzentrieren sich in der Regel auf die Felder Bildende Kunst, Theater und Literatur und thematisieren musikalische Belange wenn überhaupt nur am Rande (siehe etwa Hentig 1966a, S. 4 oder Hentig 1967a, S. 51 ff.). Konkret mit musikpädagogischen Fragestellungen setzt Hentig sich erst ab 1977 auseinander: zunächst in Form eines Vorwortes
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welchem Maße Hentigs Arbeiten allerdings dennoch von Autoren aus dem Kreis der Auditiven Wahrnehmungserziehung rezipiert und auf Fragestellungen und Probleme aus dem Bereich der Musikpädagogik angewandt werden, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel Ulrich Günthers und an dessen Aufsatz „Zur Neukonzeption des Musikunterrichts“ von 1971. Günther, zum damaligen Zeitpunkt Professor für Musikpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Oldenburg, wichtigster Theoretiker der Auditiven Wahrnehmungserziehung und einer der fünf Sequenzen-Autoren, hatte eine erste Fassung des genannten Aufsatzes bereits im Oktober 1970 auf einer Tagung der Akademie Loccum zum Thema „Probleme und Möglichkeiten ästhetischer Erziehung“ vorgetragen 509, bevor er im Sommer 1971 eine stark erweiterte Fassung unter dem Titel „Zur Neukonzeption des Musikunterrichts“ im Beiheft Forschung in der Musikerziehung der Zeitschrift Musik und Bildung veröffentlicht 510. In dieser erweiterten Fassung von 1971 entwirft Günther nun nicht nur die Grundkonzeption des Lehrwerks Sequenzen (bereits mitsamt aller sechs im späteren Band übernommenen „Komplexe“)511, er entwickelt darüber hinaus eine bildungstheoretische Begründung seiner „Vorstellungen vom Musikunterricht“ 512, die in den darauffolgenden Jahren die Grundlage für die theoretische wie praktische Entfaltung der Auditiven Wahrnehmungserziehung bildet 513. In eben diesem Schlüsseltext bezieht Günther sich nun an zentraler Stelle auch auf Hentigs Vorarbeiten zum Thema, indem er – unter der Kapitelüberschrift „Wahrnehmungserziehung und ihr Fehlen“ – resümiert: „Hartmut von Hentig umschreibt die ‚Ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter‘ als Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis – in der Wahrnehmung. Ästhetische Erziehung will, sagt von Hentig, etwas ganz Elementares und Allgemeines. Daran anschließend lässt sich Musikunterricht allgemein definieren als planmäßige und systematische Schulung und Differenzierung der hörenden Wahrnehmung.“ 514
Nach dieser Definition des Musikunterrichts – in der die Grundidee der Auditiven Wahrnehmungserziehung bereits deutlich zutage tritt – und einigen Hinweisen zum Verhältnis von Sprachunterricht und Musikunterricht sowie zur Bedeutung des zu einem von Rudolf Nykrin und Hella Völker veröffentlichten Buches zum Thema „Theater und Musik an Schulen“ (Hentig 1977b), danach in einem längeren Interview in der Zeitschrift für Musikpädagogik (Hentig et al. 1978). 509 Damals noch unter dem Titel „Musikalische Kommunikation. Zum Musikunterricht in der Schule von heute und morgen“ (Günther 1972). 510 Günther 1971 511 Vgl. ebenda, S. 18 f. 512 Ebenda, S. 12 513 Vgl. Gruhn 2003, S. 339 f. 514 Günther 1971, S. 16 (Hervorhebung im Original)
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Gehörsinns für die „berufliche und gesundheitliche“ Entwicklung des Menschen in unserer Gesellschaft ergänzt Günther: „Abschließend zum […] Aspekt [der Wahrnehmungserziehung und ihrem Fehlen] noch folgende Überlegungen, die mit von Hentigs schon zitiertem Beitrag über ‚Ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter‘ korrespondieren. Von Hentig kritisiert dort, daß wir uns vor unserer Wahrnehmung meist keine Rechenschaft geben und daß wir uns im Wahrnehmungsbereich das ungeschützte ‚natürliche‘ Empfinden leisten zu können glauben. Führen wir den Gedanken weiter, so läßt sich folgendes feststellen: Ohne Zweifel erfährt von unseren Sinnen der Sehsinn die meiste Beachtung […] So ist, anthropologisch gesehen, unser Gehörsinn gegenüber dem Sehsinn benachteiligt – eine Benachteiligung, die durch gesellschaftliche Traditionen, Bedingungen und Zwänge nur noch verstärkt wird.“ 515
Günther beendet diesen Abschnitt zum Thema Wahrnehmungserziehung schließlich mit einem weiteren Zitat Hentigs, mit dessen Worten er resümiert: „[W]ir werden der immer größeren Flut von Wahrnehmung nur durch immer größere Diskriminierung Herr werden; wir werden uns auch gegen die Wahrnehmung nur durch Wahrnehmung – nämlich durch kritische und sinnvoll ausgewählte (Wahrnehmung) – wehren können; wir werden schließlich für eine zunehmende Freizeit und ein längeres einsames Alter nicht nur neue Aktionsmöglichkeiten, sondern vor allem neue Perzeptionsmöglichkeiten erfinden müssen.“ 516
Es ist allerdings nicht Günther allein, der sich in seinen Texten zur Auditiven Wahrnehmungserziehung in solch programmatischer Perspektive auf Hentig bezieht: So schreibt beispielsweise Gottfried Küntzel, ein weiterer Sequenzen-Autor, im Mai 1971 im ersten (und einzigen) Heft der Reihe Curriculum Musik in seinem einleitenden Beitrag „Musik im Lehrplan der Gesamtschule – Versuch einer Lernzieldefinition“: „Wenn Musik in den Kernfachbereich des Gesamtschul-Curriculums eingehen soll, wird nichts anderes übrigbleiben, als ihre traditionellen Fachgrenzen zu sprengen und eine neue, andere Art fächerübergreifender Öffnung zu versuchen. Um anzudeuten,
515 Ebenda, S. 16 f. 516 Ebenda, S. 17. Hierbei handelt es sich um einen Abschnitt aus Hentigs Text „Ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“, abgedruckt in Spielraum und Ernstfall (Hentig 1969c) auf den Seiten 360 bis 361. In d iesem k urzen Zitat Hentigs finden sich allerdings drei Zitationsfehler Günthers (die jeweiligen Abweichungen sind im Folgenden kursiv gesetzt): So spricht Hentig im Originaltext von einer „Flut von Wahrnehmungen“, derer wir „nur durch größere Diskriminierung Herr werden“, nicht von einer „Flut von Wahrnehmung“, derer wir „nur durch immer größere Diskriminierung Herr werden“, sowie von einem „einsameren Alter“ nicht von einem „einsamen Alter“.
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in welche Richtung eine solche Öffnung geschehen könnte, sei der Kürze halber ein Nicht-Fachmann zitiert, also eine Stimme, die nicht in der Argumentationsweise des Musikers befangen ist.“ 517
Küntzel zitiert im Anschluss mehrere Passagen aus „den Überlegungen H. v. Hentigs zu den Allgemeinen Lernzielen der Gesamtschule“ 518 und resümiert: „Es geht also um eine andere, erweiterte ästhetische Erziehung als jene traditionelle, die primär auf das Verständnis und die Reproduktion von Kunstwerken gerichtet ist. Der übergreifende Sachzusammenhang, in dem der Musikunterricht künftig zu sehen ist, kann (in aller Vorläufigkeit) definiert werden als die auditive Kommunikation und ihre Bedeutung für das Individuum und für die Gesellschaft. Im Rahmen dieses Sachzusammenhanges kann Musik im engeren Sinne als ein Teil des Kommunikationsnetzes vielfältig thematisiert werden.“ 519
Angesichts dieser Präsenz Hentigs in den Gründungstexten der Auditiven Wahrnehmungserziehung kann es kaum verwundern, dass die Bedeutung Hentigs für die Gesamtentwicklung der Auditiven Wahrnehmungserziehung schon bald auch in historiographischer Perspektive hervorgehoben wird – selbst wenn die Autoren dabei zunächst dieselben bleiben. So ist es zunächst Ulrich Günther, der 1984 im Lexikon der Musikpädagogik schreibt, die Auditive Wahrnehmungserziehung habe „den Prozess des Lernens im Blick gehabt“, wobei sie sich von der Erkenntnis habe leiten lassen, „daß der Akzent vom Bildungsgut, also vom Unterrichtsstoff, auf diejenigen verlagert werden müsse, um die es in Schule und Erziehung ginge: die Schüler“ 520. Und er ergänzt: „Wesentliche Beiträge zur Übertragung dieser Erkenntnisse auf die didaktische Ebene lieferte Hentig, indem er daran erinnerte, daß alle Erkenntnis auf sinnlicher Wahrnehmung beruhe und unser Alltag ohne produktive und integrative Beteiligung aller Sinne nicht zu bewältigen wäre. Ästhetische oder Wahrnehmungserziehung ziele daher auf die planmäßige Schulung der Sinne und auf ein je nach Zielgruppe wünschenswertes Wahrnehmungsverhalten. Ihre Aufgabe sei es, z wischen Mensch und Umwelt zu vermitteln.“ 521
Zehn Jahre später, im Neuen Lexikon der Musikpädagogik, ist es dann Gottfried K üntzel, der unter dem Stichwort „Auditive Wahrnehmungserziehung“ schreibt: „Zu ihrem zentralen Ansatz, der zum rational-reflektierenden auch das […] gestalterische Moment integrierte, gelangte die A. W. [Auditive Wahrnehmungserziehung] allerdings erst über 517 Küntzel 1971, S. 10 518 Ebenda (Hervorhebung im Original) 519 Ebenda (Hervorhebung im Original) 520 Günther 1984, S. 28 f. (Hervorhebung im Original) 521 Ebenda, S. 29 (Hervorhebung im Original)
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die Schriften des Pädagogen H. v. Hentig, besonders durch dessen Beitrag ‚Leben mit der Aisthesis‘ in ‚Lernziele der Gesamtschule‘“ 522 – und unter dem Stichwort „Ästhetische Erziehung“ resümiert Karl Heinrich Ehrenforth im selben Band: „Im 20. Jhdt. greift v. Hentig auf den aisthesis-Begriff zurück. Sein Konzept einer ‚Erziehung zur Aisthesis‘ betont als Gegenentwurf zur traditionellen, am Kunstwerk orientierten Kunst- und Musikerziehung, daß der Anspruch auf Teilhabe an Allgemeinbildung im Bereich der Künste nur als Wahrnehmungserziehung behauptet werden könne. Hentigs Anstoß hat folgerichtig zum Versuch einer ‚Auditiven Wahrnehmungserziehung‘ im Anschluss an vorangehende Entwicklungen in der Kunsterziehung geführt.“ 523
Eben diese Entwicklung hat schließlich auch Thomas Ott im Blick, wenn er 2006 in seinem Beitrag zur Auditiven Wahrnehmungserziehung für die Serie „Aus der Geschichte lernen?“ der Zeitschrift Diskussion Musikpädagogik schreibt: „Oft zitiert (auch von den ‚Sequenzen‘-Autoren) wurden damals Texte des Pädagogen Hartmut von Hentig, die sich programmatisch mit der Zukunft des ästhetischen Lernens in der Schule befassten. […] Ablehnung des Kunstbegriffs als Wertbegriff, Ausweitung des Gegenstandsbereichs und Hinwendung zu den Wahrnehmungsprozessen (‚Aisthesis‘): darin traf Hentig sich mit den AWE-Autoren, und die Lernziele zum Thema ‚Schall‘ in den ‚Sequenzen‘ lassen sich durchaus analog zu seinen Formulierungen – oder sogar von ihnen inspiriert – lesen […].“ 524
Im weiteren Verlauf seines Textes allerdings setzt Ott sich sodann kritisch mit dem oben zitierten Beitrag Ehrenforts auseinander und widerspricht d iesem in einem zentralen Punkt, der die Bedeutung Hentigs für die Entwicklung der Auditiven Wahrnehmungserziehung betrifft: „Wenn allerdings Karl Heinrich Ehrenforth meint, Hentigs Überlegungen hätten überhaupt erst den Anstoß zur AWE gegeben, so dürfte er irren. Schon ein Blick auf die Chronologie lehrt, daß wichtige Texte der AWE parallel zu Hentigs Publikationen entstanden sind. Und wenn man sich von den vordergründigen Übereinstimmungen nicht beeindrucken läßt und z. B. Hentigs ‚Aisthesis‘-Abschnitt in den ‚Allgemeinen Lernzielen der Gesamtschule‘ genauer liest, sieht man sich in ganz andere Sphären versetzt. Hentig hatte damals schon im Blick, was man später die ‚Ästhetisierung‘ der Lebensbereiche nannte. Die ästhetisierte Welt ist aber etwas ganz anderes als die ‚Schallwelt‘ der AWE . Hätten die AWE -Autoren Hentigs Überlegungen umsetzen wollen, so wären sie eher 522 Küntzel 1994, S. 27 523 Ehrenforth 1994, S. 24 f. 524 Ott 2006, S. 49 f. Die Abkürzung AWE steht hier sowie im folgenden Zitat für „Auditive Wahrnehmungserziehung“.
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von Erscheinungsformen und Funktionen der Gebrauchsmusik und von der Funktionalisierung der Kunstmusik ausgegangen, hätten diese einer politischen Kritik unterworfen und daraus eine Didaktik mit ganz anderen Akzenten als denen der AWE entwickelt. Ein Vergleich der AWE mit ähnlichen Konzepten in der Kunstpädagogik wie z. B. der ‚Ästhetischen Erziehung‘ oder der ‚Visuellen Kommunikation‘ würde wohl ebenfalls grundlegende konzeptionelle Unterschiede ergeben. Hier stößt man auf offene Fragen für historische Untersuchungen.“ 525
Mit dieser Entgegnung wider Ehrenforth spricht Ott einen entscheidenden Punkt an: Zwar finden sich insbesondere in den Gründungsschriften der Auditiven Wahrnehmungserziehung immer wieder Hinweise und Bezüge auf Hentigs Arbeiten zur ästhetischen Erziehung, die inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen beschränkt sich allerdings in der Regel auf die Zitation einiger weniger, zudem immer derselben Abschnitte aus insgesamt zwei Texten Hentigs. Dies ist ein Umstand, den auch Wolfgang Martin Stroh hervorhebt, wenn er 2002 in der Zeitschrift für kritische Musikpädagogik schreibt, Hentigs „Leben mit der Aisthesis“ habe sich „als ein Reservoir zur Selbstbedienung erwiesen“ 526, und er ergänzt: „So konnte die ‚Auditive Wahrnehmungserziehung‘, die eine Sensibilisierung der auditiven Perzeption fördern wollte, sich auf einen Teil des Hentig’schen Konzepts berufen. Auch Hermann Rauhes frühe Popmusik-Didaktik, in der eine Ich-Stärkung gegenüber der Musikindustrie erreicht werden sollte, konnte Hentig zitieren.“ 527
Ganz ähnlich – dies sei an dieser Stelle noch hinzuzufügen – verhält es sich zudem mit Rudolf Nykrins „Erfahrungserschließender Musikerziehung“ 528 sowie mit Wolfgang 525 Ebenda 526 Stroh 2002, S. 5 527 Ebenda 528 Rudolf Nykrin war von 1972 bis 1975 Mitarbeiter Hentigs in der Laborschule Bielefeld und entwickelte in dieser Zeit ein „Rahmencurriculum Musikerziehung unter besonderer Berücksichtigung der Bielefelder Laborschule“ (Nykrin 1974), in dem er sich nicht nur intensiv mit Hentigs Arbeiten zur ästhetischen Erziehung auseinandersetzt (vgl. insbesondere ebenda, S. 104 ff.), sondern zugleich die Grundlagen für sein späteres, 1978 als Dissertation veröffentlichtes Konzept einer „Erfahrungserschließenden Musikerziehung“ entwickelt (Nykrin 1978). Nykrin selbst äußert sich hierzu rückblickend im Winter 2000 in einem Interview mit der Zeitschrift Orff Schulwerk Informationen: „Vom Studium der S chulmusik in München ging der Weg 1972 zuerst nach Bielefeld, wo mir Hartmut von Hentig die Aufgabe anvertraute, für seine neue ‚Bielefelder Laborschule‘ das Feld Musik zu umreißen. Diese Schule nun war interdisziplinär angelegt, was mich zum Beispiel in Kontakt mit dem Kunsterzieher und der Theaterpädagogin brachte. Die Bielefelder Zeit war für mich sehr anregend und auch prägend: Hentigs Programm von der ‚Schule als Erfahrungsraum‘ verwandelte sich für mich musikdidaktisch in das Konzept einer ‚Erfahrungserschließenden
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Roschers Konzept der „Polyästhetische[n] Erziehung“ 529: Sie alle beziehen sich – trotz immenser inhaltlicher Differenzen untereinander – in ihren musikpädagogischen Konzeptionen immer wieder auf Hentig, so dass dieser zwar als einer der einflussreichsten Autoren der 1970er Jahre auch im Bereich Musikpädagogik gelten kann, sein genuines Konzept ästhetischer Erziehung allerdings zugleich merkwürdig unkonturiert bleibt. Die skizzierte Bedeutung Hentigs für die Ausweitung ästhetischer Erziehung zu Beginn der 1970er Jahre korrespondiert in d iesem Sinne also zumindest in Teilen auch mit einer verkürzten Rezeption der hentigschen Veröffentlichungen zum Thema, sowie – im Umkehrschluss – mit einer offensichtlichen Eignung der hentigschen Arbeiten zur Verwendung als ebensolches „Reservoir zur Selbstbedienung“ 530: ein Umstand, der im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch einmal gesondert zu berücksichtigen sein wird.
4.1.3 Die Politisierung der ästhetischen Erziehung Das gesamte Feld ästhetischer Erziehung ist zu Beginn der 1970er Jahre nicht nur geprägt durch einen fortwährenden Ausweitungsprozess, es ist darüber hinaus gekennzeichnet durch eine überaus starke Politisierung. So wirkt sich die gesamtgesellschaftliche Situation der 1960er und 1970er Jahre, die sich mit Ursula Boelhauve als eine „Zeit des Aufbruchs, des Protestes, des Bemühens um gesellschaftliche Neuformation“ charakterisieren lässt 531, ganz unmittelbar auch auf den Bereich der Pädagogik aus: Unter dem Stichwort „Das Private ist politisch“ 532 kommt es, wie Meike Sophia B aader jüngst gezeigt hat, zu einer „Politisierung der Erziehung, die Psyche und Körper unmittelbar zum Austragungsort des Politischen macht und Erziehung damit auch utopisch überfrachtet“ 533. Diese Entwicklung wiederum lässt nun auch den Bereich der ästhetischen Erziehung nicht unberührt:
Musikerziehung‘, das ich während meiner nächsten Berufsphase im Bereich der Musikpädagogik an der Universität Münster ausarbeiten konnte.“ (Nykrin & Haselbach 2000, S. 42) Auch in Nykrins Dissertation finden sich dementsprechend immer wieder Hinweise und Bezüge auf Veröffentlichungen Hentigs (vgl. Nykrin 1978, S. 39, 52, 104 f., 160, 182, 199, 218, 226 und 237). 529 Vgl. beispielsweise Roscher 1971, S. 155, sowie in historiographischer Perspektive Günther 1984, S. 30 und Helmholz 1996, S. 41 ff. 530 Stroh 2002, S. 5 531 Boelhauve 1988, S. 21 532 Zu diesem Slogan und seiner Bedeutung für die pädagogische Diskussion der 1960er und 1970er Jahre siehe genauer Baader 2008a, insbesondere S. 64 ff., sowie Baader 2008b. 533 Baader 2008a, S. 77
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„Die politische Dimension pädagogischer Tätigkeit rückt stärker in der Vordergrund. […] Aufklärung, Emanzipation und Mündigkeit werden zu zentralen Leitideen in der päda gogischen Diskussion. Die ästhetische Erziehung in den 60er und 70er Jahren ist von dieser Grundtendenz entscheidend geprägt. So unterschiedlich die Positionen der einzelnen Vertreter – z. B. die von D. Kerbs, W. Roscher und H. v. Hentig – auch sind, die gesellschaftspolitische Implikation ästhetischer Erziehung im Hinblick auf Innovation und Veränderung ist ihnen allen gemein.“ 534
In eben diesem Sinne entwickelt sich die Politik schon bald – neben Pädagogik und Ästhetik – zum dritten wesentlichen Bezugsfeld ästhetischer Erziehung: zu deren „dritter zeitspezifischer Determinante“ 535. Einen wichtigen theoretischen Bezugspunkt dieses Politisierungsprozesses sowie der damit verbundenen, oftmals überaus kontrovers geführten Diskussion bildet auch in diesem Zusammenhang erneut Hartmut von Hentigs Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“, in dem die Verknüpfung von ästhetischer Erziehung und Politik nicht nur bereits im Titel angelegt ist, sondern darüber hinaus als inhaltliche Klammer des gesamten Textes fungiert. So heißt es gleich zu Beginn des 1967 erstmals erschienenen Aufsatzes: „Vor einhundertundsiebzig Jahren sind Schillers Briefe ‚Über die ästhetische Erziehung des Menschen‘ veröffentlicht worden. Die Überschrift des ersten Abschnitts lautete: Die Kunst im politischen Zeitalter. Das politische Zeitalter war das der Französischen Revolution, ein Zeitalter des Aufbruchs zu einer neuen Freiheit, ein Zeitalter, in dem der Staat seine moralische Legitimierung vor der Vernunft noch suchen mußte und nicht leicht fand, weil die Voraussetzungen in den einzelnen Menschen fehlten. […] Auch wir leben in einem politischen Zeitalter; auch wir fordern neben der wissenschaftlichen und politischen Bildung eine ästhetische, die wir ‚musische‘ nennen. Wir sprechen in dieser Hinsicht, wenn nicht die gleiche, so doch eine ganz ähnliche Sprache. – Meinen wir noch dasselbe? Können und dürfen wir noch dasselbe meinen?“ 536
534 Boelhauve 1988, S. 21 535 Jansa 1999, S. 25. Siehe hierzu auch Uli Jungbluth, der 1987 in seiner Studie Ästhetische Erziehung und politisches Lernen notiert: „Die im Zusammenhang mit der Studentenbewegung entstandenen Überlegungen zur gesellschaftlichen Funktion der Erziehungswissenschaft stellten Ende der 60er Jahre Allgemeine Didaktik wie Fachdidaktik vor die Frage der ‚gesellschaftspolitischen Relevanz‘. Auch in die Ästhetische Erziehung wurde d ieses Kriterium eingeführt, was eine stürmische Entwicklung der Fachdidaktik Ästhetischer Erziehung zur Folge hatte; dies zeigte sich in besonderem Maße dort, wo das Verhältnis zwischen Ästhetischer Erziehung und Politischer Bildung in das Zentrum des Interesses gerückt wurde.“ (Jungbluth 1987, S. 1) 536 Hentig 1967c, S. 275
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Auf den folgenden dreißig Seiten jenes Textes setzt Hentig sich sodann mit einigen „Grundbegriffen aus dem Wörterbuch der Kunsterziehung“ 537 auseinander, entwickelt sein Konzept einer ästhetischen Erziehung als „Übung in der aisthesis“ 538, grenzt d ieses 539 ab von einer auf „Zweckfreiheit“ gerichteten „musischen Bildung“ und erörtert daran anschließend unter anderem Fragen der „Kreativität“ 540, der „Ästhetisierung“ 541 sowie des „guten Geschmacks“ 542 – um am Ende seines Textes mit der Forderung zu schließen: „Die Kinder von heute müssen ihre Welt von morgen anders machen dürfen als wir sie gemacht haben. Das ist die Aufgabe aller Lehrer, mit Hilfe aller ihrer Mittel und Verfahren. Kunst ist nur Anlaß für die Kultur, sich ihrer selbst bewußt zu werden; Kultur ist nur Anlaß für die Gesellschaft, sich ihrer selbst bewußt zu werden. Daraus scheint mir hervorzuheben [sic!], daß allgemeine Bildung heute immer politische Bildung ist – auch die ästhetische.“ 543
Hentigs Konzept ästhetischer Erziehung ist insofern von Anfang an mit einer, wie B irgit Engel es formuliert, „politischen Vision“ 544 verbunden: einer Vision, die besonders in der ersten Hälfte der 1970er Jahre auf ungemein große Resonanz insbesondere von Seiten der entsprechenden Fachdidaktiken stößt. So resümiert Gunter Otto bereits im Jahr 1986, der „Appell“ Hentigs, „das Fach zu öffnen und ästhetische Erziehung politisch zu verstehen“, sei „in der Folgezeit von Vielen und mit ganz unterschiedlichen Akzentuierungen und Intentionen, auch in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgenommen“ worden 545, und Hans-Günther Richter notiert 2003 in seiner Geschichte der ästhetischen Erziehung, die hentigschen „Bemerkungen zum Verhältnis von Kunst und Politik“ s eien zu „Leitmotiven einer fachdidaktischen Schule“ geworden, die „die ästhetische Erziehung dem (nur) politischen Lernen“ habe unterstellen wollen 546. Ganz ähnlich formuliert es auch Wolfgang Legler, wenn er 2011 in seiner Geschichte des Zeichen und Kunstunterrichts schreibt, „die Idee einer Ästhetischen Erziehung, die Hartmut von Hentig und Diethart Kerbs mit Hinweis auf Schillers Briefe am Ende der 60er Jahre in die Diskussion um eine Veränderung des Kunstunterrichts eingebracht“ hätten, habe „ihre Attraktivität wesentlich aus ihrem implizit politisch-emanzipatorischen Anspruch“ gewonnen 547.
537 Ebenda 538 Ebenda, S. 283 (Hervorhebung im Original) 539 Ebenda, S. 282 f. 540 Ebenda, S. 288 ff. 541 Ebenda, S. 297 ff. 542 Ebenda, S. 300 f. 543 Ebenda, S. 307 f. (Hervorhebung im Original) 544 Engel 2004, S. 24 545 Otto 1986, S. 44 546 Richter 2003, S. 306 (Hervorhebung im Original) 547 Legler 2011, S. 312
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Eben diese Attraktivität der hentigschen Thesen zur „ästhetischen Erziehung im politischen Zeitalter“ beschränkt sich allerdings nicht allein auf den Bereich der Kunstpädagogik – auch wenn sie von hier ihren Ausgang nimmt. So resümiert etwa Wilfried Gruhn in seiner Geschichte der Musikerziehung: „Der wörtlich genommene Begriff einer ästhetischen Erziehung, die [in der Nachfolge Hartmut von Hentigs] als grundlegende Wahrnehmungserziehung von der Fixierung an das tradierte Kunstwerk abrückte, wurde zunächst in der Kunsterziehung wirksam, wo Diethart Kerbs eine kritische Ästhetik der Wahrnehmung formulierte, die sich nun überwiegend den außerkünstlerischen Objekten der Umwelt zuwandte. Bezugsdisziplinen sollten nicht mehr die Kunst und Kunstwissenschaft, sondern die kritische Ästhetik (Adorno), Einsichten in Ökonomie, Sozialforschung und Politikwissenschaft sein. […] Die gleiche Wende weg von den Kunstwerken, die in der Ästhetik der Objektkunst und Environments dieser Jahre selber angelegt war, hatte auch der Deutschunterricht durch die Beschäftigung mit der Sprache der Werbung, der kommunikativen Funktion der Umgangssprache und der Vernachlässigung formaler Systeme […] vollzogen. Das gleiche ereignete sich im Musikunterricht. Die Dominanz medial vermittelter Musik sowie die Übermacht der Popmusik im Alltag machten eine Einbeziehung dieser Kulturphänomene unausweichlich.“ 548
Die weiter oben bereits eingehend skizzierte Ausweitung ästhetischer Erziehung zu Beginn der 1970er Jahre ist insofern nicht nur eine curriculare, sondern, wie Birgit Engel es 2004 in ihrer Studie Spürbare Bildung formuliert, zugleich „wesentlich von einem politischen Erziehungsanspruch begleitet“ 549: Ausweitung und Politisierung ästhetischer Erziehung sind in d iesem Zusammenhang also ungemein eng miteinander verknüpft, wobei „das Ästhetische“ in der ästhetischen Erziehung von nun an weniger als Bildungsanlass („Erziehung durch Kunst“) oder Bildungsziel („Erziehung zur Kunst“) verstanden wird, sondern vielmehr als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analyse. So diagnostiziert Michael Parmentier 2004 in seinem für das Historische Wörter buch der Pädagogik verfassten Überblicksbeitrag zum Thema „Ästhetische Bildung“ 550 denn auch für den gesamten Bereich der „Kunstausbildung und schulischen Kunsterziehung“ ein sich durch die „gesamte Moderne“ ziehendes „auffälliges Schwanken zwischen einseitiger Gemütsbildung und einseitigem Verstandestraining“ 551, dessen spezielle Dynamik er insbesondere auch im Streit der 1960er und 1970er Jahre um eine zeitgemäße „ästhetische Erziehung“ am Werk sieht: Als Reaktion auf die damals vorherrschende Hoffnung, durch musische Bildung und Erziehung den „an der eigenen Zivilisation erkrankten Menschen der Gegenwart gesunden lasse[n]“ zu können, 548 Gruhn 2003, S. 342 f. 549 Engel 2004, S. 30 550 Parmentier 2004a 551 Ebenda, S. 22
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sei zunächst das „fächerübergreifende Prinzip des Musischen“ aufgegeben und im Gegenzug für die „Einrichtung eines klar definierten Unterrichtsfachs ‚Kunst‘“ plädiert worden 552. Diese „Vertreibung der Gemütskräfte aus dem Prozess der ästhetischen Bildung“ wiederum habe, so Parmentier weiter, „dann kurz darauf in dem Konzept der ‚Visuellen Kommunikation‘ ihren Höhepunkt erreicht“ und schließlich sogar die bildende Kunst selbst „zum Opfer“ genommen 553: „Sie [die Kunst] galt ‚als Instrument von Herrschaft‘ und wurde schließlich nur noch als ‚Anlass für relevante Aufklärung‘ akzeptiert. Was an Kunst interessierte, war ihr Verwertungszusammenhang, ihr gesellschaftlicher Stellenwert, nicht ihre eigentümliche Wirkung und auch nicht ihr Erfahrungsgehalt […]. Im Grunde waren die Kunstwerke bloß noch Lehrstoff für einen sozialwissenschaftlich orientierten Unterricht.“ 554
Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für eine s olche Form des „sozialwissenschaftlich orientierten Unterricht[s]“ im Umgang mit Werken der Kunst liefert dabei – unter gleichzeitiger Bezugnahme auf Hartmut von Hentigs Texte zum Thema – Lutz R össner in seinem Einleitungstext zum 1972 erschienenen, von Helmut Segler herausgegebenen Sammelband Musik und Musikunterricht in der Gesamtschule. Unter der Überschrift „Sozialwissenschaftliche Grundlagen“ schreib Rössner dort: „[…] wenn […] die Forderung Adornos erfüllt würde, daß politischer Unterricht ‚in Soziologie sich verwandeln (sollte), also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren (würde), das hinter der Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat‘ bzw. wenn politischer Unterricht zu dem würde, was wir notwendig fordern müssen […], nämlich zum politikwissenschaftlichen (als Teilbereich des sozialwissenschaftlichen oder soziologischen Unterrichts) Unterricht, dann wäre die Musiksoziologie zu ihm zu rechnen. Dies stimmt auch mit der erziehungswissenschaftlichen Forderung v. Hentigs überein, ‚daß allgemeine Bildung heute immer politische Bildung (sein müßte) – auch die ästhetische‘. So müßte gerade in einer demokratischen Gesamtschule, die an der demokratischen Gesellschaft orientiert ist und somit den sozialwissenschaftlichen Unterricht zentral machen muß, Musik als soziale Tatsache zu einem wichtigen Gegenstand vieler Fachbereiche werden.555
So diene der Musikunterricht, wie Rössner an späterer Stelle ausführt, nicht „der unbefragten Initiation in die bestehende Gesellschaft […] und ihre Ordnung“, sondern „als musiksoziologischer Unterricht der Aufdeckung, der ‚Entzauberung‘ der
552 Ebenda, S. 26 553 Ebenda, S. 26 f. 554 Ebenda, S. 27 (Parmentier bezieht sich hier auf Heino R. Möllers Gegen den Kunstunterricht (Möller 1971, S. 23).) 555 Rössner 1972, S. 36 f. (Hervorhebung im Original)
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gesellschaftlichen Verhältnisse“ 556, denn: „erst dann werden sie und mit ihnen die soziale Tatsache Musik durchschaubar, dann wird durchschaubar, wie es zu Musik- und entsprechendem Hingabezwang kommt, und Schutz aus wissender Distanz wird möglich.“ 557 Aus d iesem Grund müsse das Lernen, so Rössner in Anlehnung an Hermann Giesecke, „intellektualisiert“ werden, denn allein auf diese Weise werde „der kritisch- distanzierte Mensch möglich, der Bedingung ist für die Demokratie“ 558. „Bildende Initiation“ hingegen diene „definitionsgemäß und real der Bewußtseinsferne, wenn nicht der Bewusstlosigkeit“ 559: „Solche Effekte sind – diese Prognose ist sicher – für totalitäre Systeme sehr dienlich, für Demokratie sehr schädlich. Daher fordert auch v. Hentig u. a.: ‚Ästhetische Erziehung‘ ist ‚Ausrüstung und Übung des Menschen in der … Wahrnehmung.‘ Und dies heißt inhaltlich, sich darüber Rechenschaft geben, w elche Festlegungen sie erfährt: durch die Sprache, durch Vorbilder und Vorurteile, durch Institutionen und Gewohnheiten, durch Bequemlichkeiten und Tabus‘, darüber, ‚welche Ausweitungen folglich noch möglich sind und versäumt werden (und) welche Ausweitungen nötig sind und wozu‘. Dies alles bedeutet: Die Wahrnehmung schärfen, Übung in der Beobachtung, die Voraussetzung ist für die Beschreibung, das Bewußtsein schärfen gegenüber ideologischen Sicherungsbestrebungen, die sich der affektiven Besinnungslosigkeit des nur emotional Eingestimmten bedienen, das Bewußtsein schärfen gegen Denk- und Lernverbote. Das alles bedeutet letztlich, den Lern- oder Bewußtseinsprozeß als einen permanenten Korrekturprozeß zu sehen, wodurch Unterricht wissenschaftlicher Unterricht wird […].“ 560
Die von Hentig geforderte „Übung“ in der Wahrnehmung wird so bei Rössner zu einer ideologiekritischen „Schärfung“ derselben: zu einem permanenten Prozess der Wahrnehmungskorrektur. Doch auch wenn es sich hierbei um eine ungemein radikale Interpretation der hentigschen Forderungen zur „ästhetischen Erziehung im politischen Zeitalter“ handeln mag: jene grundsätzliche Verknüpfung von Wahrnehmungserziehung und (politisch motivierter) Wahrnehmungskritik ist auch in Hentigs einschlägigen Arbeiten zum Thema immer wieder zu finden. So heißt es etwa in „Das Leben mit der Aisthesis“ von 1969: „Heute […] erkennt man allmählich, daß der Mensch einer ästhetischen Erziehung und das heißt einer systematischen Ausbildung seiner Wahrnehmungsmöglichkeiten, des Wahrnehmungsgenusses und der Wahrnehmungskritik gerade deshalb bedarf, weil potentiell alles künstlerisch gestaltet oder mißgestaltet sein kann, die rationalisierte und 556 Ebenda, S. 49 557 Ebenda 558 Ebenda 559 Ebenda, S. 50 560 Ebenda
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gemachte Welt also insgesamt an den Wirkungen beteiligt ist, die man den Kunstwerken im Guten wie im Schlechten vorbehalten hatte. […] Die Unterwerfung der individuellen Reaktionen unter die Werthierarchie der klassischen Kunstwerke, die Ausrichtung nach dem letzten Schrei der Kunstmode, die Überwältigung der Spontanität durch wissenschaftliche oder ideologische Deutung der Kunstgebilde, die Verherrlichung des Schaffensprozesses an sich – sie beeinträchtigen alle gleichermaßen unser Verhältnis zu einer mit dem Wort ‚Kunst‘ bezeichneten individuellen und gesellschaftlichen Funktion: zur Selbstbestätigung und Selbstbefreiung durch die Entdeckung eigener Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten.“ 561
Eben diese von Hentig vorgenommene Verknüpfung von „politisch-emanzipatorischem Anspruch“ 562 und Entgrenzungsrhetorik – verbunden mit der Bereitstellung einer auch begrifflichen Alternative zur „musischen Bildung“ – ist es denn auch, die die ungeheuer breite Rezeption der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung zu Beginn der 1970er zu erklären vermag: Ganz offensichtlich gelingt es Hentig, mit seinen Arbeiten zum Thema den Nerv der Zeit zu treffen.563 Das hat zur Folge, dass ebenjene Arbeiten Hentigs nicht nur maßgeblich für eine Renaissance des Begriffs „ästhetische 561 Hentig 1969a, S. 29 f. 562 Legler 2011, S. 312 563 Das bedeutet allerdings keinesfalls, dass Hentigs Forderungen – gerade in politischer Perspektive – unwidersprochen bleiben. Wie eine entsprechend „linke“ Kritik am hentigschen Konzept ästhetischer Erziehung und dessen politischen Implikationen aussehen kann, lässt sich dabei exemplarisch an Klaus Matthies und dessen Arbeit Erkenntnis und Interesse in der Kunstdidaktik von 1972 zeigen. Dort heißt es im Anschluss an eine längere Auseinandersetzung mit Hartmut von Hentigs „Erneuerung einer Vision“ (Matthies 1972, S. 37) von ästhetischer Erziehung: „Die [vorangegangenen] Ausführungen […] machen bereits deutlich, in welcher Weise eine Kritik an Hartmut von Hentigs Vorschlägen ansetzen kann. Mit dem Vorschlag, anstelle des Wertbegriffs von Kunst einen Funktionsbegriff zu setzen, würde traditionelle Kunstdidaktik sich einrichten können. Solange die Diskussion sich auf der formalen Ebene vollzieht, wird das System nicht ernsthaft infrage gestellt, die Grundlagenkonstruktion nicht erschüttert. Erst wenn entschieden werden muß, wem die daraus abzuleitenden konkreten Zielsetzungen nützen sollen, wird der Modus der Entscheidungsstrategie verändert. Weder die propagierte ‚Erziehung zum guten Geschmack‘, noch die bloße Kritik an der Geschäftigkeit einer ‚Kunsterziehung abseits von wissenschaftlicher und politischer Bildung‘, noch der versöhnliche (und ungenaue) Schlußsatz bei Hartmut von Hentig: ‚Kunst ist nur Anlaß für die Kultur, sich ihrer selbst bewußt zu werden; Kultur ist nur Anlaß für die Gesellschaft sich ihrer selbst bewußt zu werden. Daraus scheint mir hervorzuheben, daß allgemeine Bildung heute immer politische Bildung ist, auch die ästhetische‘, lassen mehr erkennen als den Willen zu einer internen Umstrukturierung dieses Erziehungs- und Unterrichtsbereichs, die der Kreativität, der Auflösung fachlicher Begrenzungen, der kritischen Analyse Raum geben soll, d. h. mehr Bewegungsenergie innerhalb der bestehenden Verhältnisse. Kunsterziehung als ‚Erziehungskunst‘ […] ist in theoretischer Hinsicht nichts wesentlich anderes als Interpretationskunst und im Hinblick auf Praxis nichts anderes als ein schönes liberales Programm.“ (Ebenda, S. 41, Hervorhebung im Original)
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Erziehung“ zu Beginn der 1970er Jahre verantwortlich sind, sondern darüber hinaus auch wichtige Impulse für den sich in den folgenden Jahren anschließenden Ausweitungs- und Politisierungsprozess ästhetischer Erziehung zu geben imstande sind: eine Entwicklung, auf die Hentig selbst im weiteren Verlauf der 1970er Jahre immer wieder – und zunehmend kritisch – reagiert.
4.2 Die Kunst als Maßstab der ästhetischen Erziehung Obwohl Hartmut von Hentig auch im Laufe der 1970er Jahre weiterhin zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung publiziert, beschränkt sich die Rezeption seiner Arbeiten zum Thema doch auch in diesem Zeitraum nahezu ausschließlich auf diejenigen seiner Veröffentlichungen aus den Jahren 1965 bis 1969. Dabei sind es – wie weiter oben bereits gezeigt werden konnte – insbesondere zwei Arbeiten Hentigs, die immer wieder gelesen, zitiert und argumentativ aufgegriffen werden: der Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ 564 von 1967 sowie der Text „Das Leben mit der Aisthesis“ 565 von 1969. Hentigs Veröffentlichungen aus den Jahren 1970 bis 1979 spielen dementgegen – mit Ausnahme der zahlreichen Nachdrucke von „Das Leben mit der Aisthesis“ 566 – in der zeitgenössischen Diskussion zum Thema kaum eine Rolle. Dies mag zum einen daran liegen, dass Hentig seinen publizis tischen Output in Sachen ästhetischer Bildung und Erziehung mit seinem Wechsel an die Universität Bielefeld im Herbst 1968 und der damit einhergehenden Arbeit an den Bielefelder Schulprojekten deutlich reduziert 567, zum anderen allerdings wohl auch daran, dass diejenigen längeren Texte, die Hentig im Verlauf der 1970er Jahre dennoch ganz konkret dem Thema „ästhetische Erziehung“ widmet, eine deutlich gewachsene Distanz zu den neueren Entwicklungen in eben d iesem Bereich zeigen, die er zuvor selbst mit angestoßen hatte.568 564 Zitiert wird dieser Aufsatz zumeist in seiner 1969 unter dem Titel „Ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ in Spielraum und Ernstfall veröffentlichten Fassung (Hentig 1969c, S. 352 ff.). 565 Hentig 1969a, S. 29 ff. 566 Siehe oben, S. 81. 567 So publiziert Hentig, wie ein Blick in die von Ulrike und Martin Hollender 2010 veröffentlichte Bibliographie Hartmut von Hentig (Hollender & Hollender 2010) zeigt, während seiner (Praxis-)Jahre an den Bielefelder Schulprojekten (1974 bis 1987) keine einzige längere – das heißt, mehr als 100 Seiten umfassende – eigenständige Monographie, sondern lediglich Aufsätze, Sammelbände sowie in Buchform zusammengefasste Gutachten (siehe etwa Hentig 1980b oder Hentig 1985g) oder Essays (siehe etwa Hentig 1984a). Erst nach seiner Emeritierung im Herbst 1987 beginnt Hentig wieder mit der Veröffentlichung längerer, eigenständiger Monographien (siehe etwa Hentig 1992b, Hentig 1993 oder Hentig 1996a). 568 So veröffentlicht Hentig zwar weiterhin zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung, dieses allerdings zumeist in Form von knappen, oftmals an entlegener Stelle publizierten
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Diese wachsende Distanz zeigt sich zum ersten Mal bereits im September 1971, als Hentig in Nürnberg einen längeren Vortrag zum Thema „Dürer als Erzieher“ 569 hält, in dem er sich – anlässlich einer Vorlesungsreihe zum 500. Geburtstag Albrecht Dürers – mit den verschiedenen „Wirkungen“ Dürers auseinandersetzt: „auf ein Kind oder einen naiven Betrachter“, „im Kontext von Schule“, „im Rahmen unseres öffentlichen kulturellen und politischen Lebens“, „auf den gelehrten Betrachter“ und „im Dürerjahr“ 570. Während dieser Vortrag allerdings noch vornehmlich durch sein klassisches Sujet sowie durch dessen nicht weniger klassische Bearbeitung in Kontrast zum mittlerweile fortgeschrittenen Ausweitungs- und Politisierungsprozess ästhetischer Erziehung tritt 571, gerät Hentig keine zwei Monate später bereits in einen deutlich schärferen Konflikt mit einem der Hauptakteure jenes sich neu konstituierenden Feldes ästhetischer Erziehung: seinem ehemaligen Mitarbeiter Diethart Kerbs. Ausgangspunkt dieses Konfliktes ist eine im März 1971 erschienene Sonderbeilage der Zeitschrift Kunst + Unterricht mit dem Titel Protest: Im Zuge der technokratischen Schulreform wird der Kunstunterricht abgeschafft, in dem die prekäre Personalsituation des Kunstunterrichts an deutschen Schulen im Allgemeinen sowie der Kunsterzieherausbildung an deutschen Universitäten und Hochschulen im Besonderen angeprangert wird. Im Mittelpunkt der achtseitigen Beilage steht dabei neben einer erweiterten Fassung des Hentig-Textes „Das Leben mit der Aisthesis“ (hier abgedruckt unter der Überschrift „Lernziele im ästhetischen Bereich“ 572) ein längerer Text Kerbs’ mit dem Titel „Der große Ausverkauf der Kunsterziehung“ 573, in dem dieser insgesamt drei Vorworten (Hentig 1977c; Hentig 1977b; Hentig 1978), Nachworten (Hentig 1972b) oder Buchbesprechungen (Hentig 1970b; Hentig 1970a; Hentig 1975c; Hentig 1976a; Hentig 1979b). Andere, längere Veröffentlichungen Hentigs wiederum, die sich dem Themenbereich Ästhetik oder zumindest einzelnen Kunstsparten zurechnen lassen, berühren konkrete Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung oftmals nur am Rande – so etwa der 1971 veröffentlichte Aufsatz „Logomythie“ über das „Verhältnis von Anschauung und Abstraktion“ (Hentig 1971e), der 1976 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Max Frisch gehaltene Vortrag „Wahrheitsarbeit und Frieden“ (Hentig 1976c und Hentig 1976b) oder der 1978 auf einer Arbeitstagung der Fremdsprachendidaktiker gehaltene Vortrag „Die Fremdsprache als Anlaß für Menschenbildung“ (Hentig 1979a). 569 Hentig 1972a 570 Ebenda, S. 138 571 So setzt sich Hentig – in „ironischer Nachbildung“ (ebenda, S. 136) der Schrift Rembrandt als Erzieher von Julius Langbehn – mit den unmittelbar bildenden Wirkungen der Werke Dürers auseinander. Er versucht zu zeigen, „was Dürers Werk uns vor aller Absicht der Ideologen und Antiideologen, der Schulmeister, Dürergelehrten und Dürerjahrmanager schon antut und eingibt“, denn, so Hentig weiter, „[d]er Maler Dürer als Erzieher lenkt mich – seinen Zögling – immer wieder auf die Sachen, ihren Anblick und Sinn, und weg von uns und unseren Deutungen, fort auch von Dürer selbst“ (ebenda). 572 Hentig 1971d 573 Kerbs 1971
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orderungen im „Kampf gegen die Liquidierung der ästhetischen Erziehung“ 574 formuF liert: So müsse erstens die „ästhetische Erziehung, insbesondere in den Fachbereichen Bildende Kunst (visuelle Kommunikation) und Musik, […] als Pflichtunterricht für alle Kinder in allen Altersstufen der allgemeinbildenden Schule erhalten bleiben“, es müssten zweitens die Lehrer „in allen Bereichen der ästhetischen Erziehung ebensogut ausgebildet und bezahlt“ werden „wie ihre Kollegen aus den anderen Fachbereichen“ und drittens die „bestehenden Ausbildungsstätten“ im Bereich ästhetischer Erziehung „in ihrer Kapazität erweitert und in ihrer Qualität angehoben werden“.575 Der Text schließt sodann mit der Forderung, „den Verantwortlichen, d. h. in erster Linie den Kultusministerien und Schulbehörden, die Hölle heiß zu machen“ und den eigenen Protest „so eindringlich und wirkungsvoll vorzubringen, wie es nötig wäre, um die zuständigen Bürokraten von den Stühlen zu reißen“.576 Vor dem Hintergrund dieser Forderungen sowie auf Bemühen Kerbs’ und einer Gruppe junger Kunsterzieherinnen und Kunsterzieher 577 findet am 4. November 1971 eine Sitzung der sogenannten „Grundsatzkommission“ der Berliner Akademie der Künste statt, in der über eine etwaige kritische Stellungnahme der Akademie zu dem seit Anfang des Jahres 1971 vorliegenden Entwurf der Kultusministerkonferenz (KMK ) über die Neugestaltung der Gymnasialen Oberstufen beraten werden soll.578 Im Mittelpunkt steht dabei die Befürchtung der um Kerbs organisierten Kunsterzieherinnen und Kunsterzieher, die im KMK -Entwurf vorgesehene Erweiterung des Wahlbereichs in der Sekundarstufe II – mit der einhergehend auch der Unterricht in Kunst und Literatur seinen verpflichtenden Charakter verlieren würde – könne zu einer weiteren Zurückdrängung ästhetischer Erziehung im öffentlichen Schulwesen führen. Zur fachkundigen Erörterung dieser Fragen und Probleme wird daraufhin von der Grundsatzkommission Hentig als „bildungspolitischer Experte“ 579 eingeladen, und zwar mit dem Auftrag, die Kommission zu beraten, „ob die Künste und die Literatur“ im KMK -Entwurf „nicht erheblich zu kurz“ kämen 580. 574 Ebenda, o. P. 575 Ebenda 576 Ebenda 577 Kerbs ist zu d iesem Zeitpunkt Dozent für ästhetische Erziehung an der Pädagogischen Hochschule Berlin (vgl. Kerbs 2007, 158). 578 Zur Chronologie der im Folgenden dargestellten Ereignisse vgl. Hentig 1985e, S. 367 ff.; Kerbs 1985; Zacharias 2007, S. 78 f. sowie Kerbs 2011, S. 160 f. 579 Kerbs 1985, S. 384 580 Hentig 1985e, S. 367. Wolfgang Zacharias schreibt hierzu rückblickend in einem Aufsatz anlässlich Diethart Kerbs’ siebzigsten Geburtstags im August 2007: „Die Akademie der Künste zu Berlin war von einer Gruppe jüngerer Kunsterzieher aufgefordert worden, deren Votum für den Erhalt des Faches Kunst und gegen die technokratische Schulreform zu unterstützen. D iethart Kerbs hatte in einer Beilage zu Kunst + Unterricht (Heft 11, März 1971) einen vehementen Protest unter dem Titel ‚Der große Ausverkauf der Kunsterziehung‘ verfasst. Da die Akademie sich überfordert fühlte, rief sie ihren zuständigen Pädagogen zur Hilfe. Hartmut von Hentig
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Hentig nimmt diese Einladung an, spricht sich allerdings auf der am Nachmittag des 4. November 1971 stattfindenden Sitzung – die unter Ausschluss der „klage führenden Kunstpädagogen“ 581 stattfindet – wider Erwarten für den Entwurf der Kultusministerkonferenz und gegen eine öffentliche Stellungnahme der Akademie aus. Die Kommission folgt diesem Rat Hentigs, sieht von einer entsprechenden Stellungnahme ab und stellt den Kunsterzieherinnen und Kunsterziehern um Kerbs lediglich den großen Saal der Akademie für eine „zentrale Warn- und Mahnveranstaltung“ 582 am 17. November 1971 zur Verfügung. In unmittelbarem Anschluss an die nachmittägliche Sitzung der Grundsatzkommission findet schließlich eine öffentliche Diskussion z wischen Hentig, Kerbs und einer Gruppe junger Berliner Studierender statt, im Rahmen derer Hentig seine vor der Kommission vertretene Position noch einmal erläutert und infolgedessen von den anwesenden Kunsterzieherinnen und Kunsterziehern scharf angegriffen wird. Es kommt, wie Wolfgang Zacharias es rückblickend im Jahr 2007 formuliert, zum „Eklat“ 583: „Zur Enttäuschung der Versammlung unterstützte Hartmut von Hentig […] die zaghafte Politik der Akademie und versagte den Protestierenden seinen Beistand. Diese gaben ihrer Enttäuschung offen Ausdruck. Eine junge Lehrerin sagte, sie hätte nun den berühmten Herrn von Hentig die längste Zeit für einen progressiven Pädagogen gehalten, das sei nun vorbei.“ 584
Unter dem Eindruck dieses Ereignisses verfasst Hentig kurz darauf einen langen Brief an Kerbs, in dem er zunächst die „Enttäuschung“ kundtut, die Kerbs ihm durch seine Weigerung bereitet habe, einzusehen, „daß die Stimme der Akademie Ihrer Sache nur dann nützt, wenn die Akademie weiß, was sie sagt und tut: wenn sie das Problem genau erkennt, in das Ihre Aufforderung sie stößt“ 585. Im weiteren Verlauf seines Briefes setzt Hentig sich sodann mit dem in Berlin diskutierten Entwurf der Kultusministerkonferenz sowie mit den von Kerbs formulierten drei Forderungen in dessen Text „Der große Ausverkauf der Kunsterziehung“ auseinander und resümiert, er „billige“ jene Forderungen Kerbs’ „mit Ausnahme der ‚status-quo‘-Formel“, w elche besage, dass ästhetische Erziehung, insbesondere in den Fachbereichen Bildende Kunst und Musik, „als Pflichtunterricht für alle Kinder in allen Altersstufen der allgemeinbildenden Schule erhalten bleiben“ müsse 586. kam dann auch am 4. November 1974 nach Berlin. Dort wurde er noch einmal mit den Forderungen und Protesten der jungen Kunsterzieher, die um die Zukunft ihres Faches bangten, konfrontiert.“ (Zacharias 2007, S. 78 f.) 581 Hentig 1985e, S. 369 582 Kerbs 2011, S. 160 583 Zacharias 2007, S. 78 584 Ebenda, S. 79 585 Hentig 1985e, S. 368 586 Ebenda, S. 376
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Diese Forderung, so Hentig, lege „den Kampf auf die Verteidigung von Fächern und den Unterricht auf das Prinzip der durchgehenden Lehrpläne“ fest 587. Es gehe doch aber „um die Aufhebung der Fächerautonomie und um die Neuverteilung der Aufgaben auf die neuerkannten allgemeinen Lernziele hin“ 588 – deshalb auch seine grundsätzliche Zustimmung zum Entwurf der Kultusministerkonferenz. Er beendet seinen Brief mit den Worten: „Ich habe Ihnen hier meine Not ausgebreitet: die Not eines Vielfrontenkämpfers. Irgendwo muß man sich noch immer gegen den alten musischen Unterricht absetzen; vor einem stehen – mit allen Macht- und Erkenntnismitteln gerüstet – die Unterrichtstechnologie und -technokratie; und plötzlich tauchen da aus einer Richtung, in der man sich sicher glaubte, auch noch Reformer auf, die das Richtige kompromittieren, indem sie die falschen Mittel benutzen, die falschen Kräfte mobilisieren, eine peinliche oder jedenfalls erbärmliche Sprache sprechen: Die Absicht, ‚den Schulbehörden die Hölle heiß zu machen‘ oder ‚die zuständigen Bürokraten von den Schemeln zu reißen‘, und die Wunschbehauptung, die KuPäd solle abgeschafft werden, weil sie sich für das kapitalistische System als zu gefährlich erwiesen habe – das ist mir zu eitel, zu wichtigtuerisch, um Aussicht auf politischen Erfolg zu haben. Ich nehme um einer wirksameren Politik willen das Odium des Abwieglers auf mich und rufe Ihnen zu: Cool off!“ 589
Auf diesen Brief – den Hentig als Kopie zugleich den Mitgliedern der Berliner Akademie der Künste sowie dem Vorstand des Deutschen Werkbundes zukommen lässt 590 – reagiert Kerbs ein knappes Jahr später mit einem ebenfalls teilöffentlichen Schreiben an die Adresse Hentigs.591 Darin lässt er zunächst noch einmal die Ereignisse in der Akademie der Künste Revue passieren, wenn er schreibt: „Im Laufe der Diskussion am Abend des 4. 11. 1971 ist Ihnen von einer ganzen Anzahl junger Berliner Lehrer die Sympathie gekündigt worden. Die Kollegen äußerten, daß sie von Ihnen enttäuscht s eien, daß sie von Ihnen mehr politischen Mut und weniger selbstgefällige Wenns und Abers erwartet hätten, und daß sie nun den berühmten Herrn von Hentig die längste Zeit für einen progressiven Pädagogen gehalten hätten. […] Sie hatten am Abend des 4. 11. 1971 die Wahl, entweder die Initiative der jungen Berliner Kunsterzieher (bei aller gleichwohl möglichen Kritik) zu begrüßen und die Akademie zur Unterstützung dieser Bemühungen aufzufordern oder aber die Initiative als Ganzes infrage 587 Ebenda 588 Ebenda 589 Ebenda, S. 382 590 Vgl. ebenda, S. 386. 591 Kerbs bittet Hentig in seinem Schreiben, den Brief „im vollen Wortlaut dem gleichen Adressatenkreis zur Kenntnis zu geben, dem Sie damals Ihren Brief geschickt haben“ (Kerbs 1985, S. 383).
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zu stellen und die Akademie in ihrer abwartenden und untätigen Haltung zu bestärken. Sie haben die letzte Möglichkeit gewählt und, wie Sie es selbst ausdrücken, das ‚Odium des Abwieglers‘ auf sich genommen. Deshalb die Kritik der jungen Kollegen, deshalb Ihr Antwortbrief als Rechtfertigungsversuch Ihres Verhaltens.“ 592
Im weiteren Verlauf seines Schreibens erläutert Kerbs sodann noch einmal ausführlich seine politische „Einschätzung der Lage“ 593, äußert seine „Fassungslosigkeit“ darüber, dass Hentig „sich tatsächlich in die Ecke derer habe abdrängen lassen, die sich ihren Reformwillen mit dem Scheinargument der ‚ökonomischen Sachzwänge‘ ausreden“ ließen 594, und schließt mit den Worten: „Lieber Herr von Hentig, unsere Kontroverse, die von einer Auseinandersetzung über die komplizierte Lage der ästhetischen Erziehung ausgegangen ist, hat mich, den ideologischen und politischen Implikationen von Erziehung und Ästhetik entsprechend, zur Darstellung und Kritik grundsätzlicher, gesellschaftlicher Probleme veranlaßt. Sie mögen nun fortfahren, uns als links-pubertäre Fachegoisten darzustellen; wir halten nichtsdestoweniger Ihre Vorschläge für eine Aufforderung zum Auf-der-Stelle-treten. […] Sie, lieber Herr von Hentig, haben in Ihrem Brief und in manchen Veröffentlichungen Ihre bildungspolitischen Vorstellungen formuliert: wir haben unsere dargestellt. Die Unterschiede liegen auf der Hand, – aus der Distanz eines Jahres sind sie sogar noch klarer zu erkennen. Unabhängig von den Zufälligkeiten und Bedingtheiten des Anlasses, der uns zu d iesem Briefwechsel geführt hat und vor dem Hintergrund der Argumente, die wir in unseren Briefen vorgebracht haben, stellt sich nun abermals die Frage, für w elche Seite man sich entscheidet.“ 595
An diesem Briefwechsel, den Hentig dreizehn Jahre später in seinem Sammelband Ergötzen, Belehren, Befreien noch einmal in voller Länge und – um die Auseinandersetzung mit Diethart Kerbs „nicht zu erneuern oder zu verlängern“ 596 – ohne längeren Kommentar abdruckt, wird deutlich, wie weit Hentig sich zu Beginn der 1970er Jahre bereits von einzelnen, durch ihn mit angestoßenen Entwicklungen im Bereich ästhetischer Erziehung entfernt hat. So handelt es sich bei seiner schriftlich ausgetragenen Auseinandersetzung mit Kerbs nicht nur um einen persönlichen Konflikt zweier ehemaliger Mitstreiter, die sich nun „in deutlich verschiedenen Lagern“ 597 wiederfinden, sondern vielmehr um einen grundsätzlichen Richtungsstreit in Sachen ästhetischer
592 Kerbs 1985, S. 384 f. 593 Ebenda, S. 386 594 Ebenda, S. 394 595 Ebenda, S. 397 f. 596 Hentig 1985e, S. 29 597 Hentig 2009c, S. 621
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Erziehung: um die Frage, mit welcher „Strategie der Reform“ 598 die neuen Lernziele im ästhetischen Bereich auf bildungspolitischer wie schulpraktischer Ebene am sinnvollsten und effektivsten umgesetzt werden könnten.599 Während es Hentig allerdings im Rahmen dieses lediglich teilöffentlich ausgetragenen Richtungsstreits mit Kerbs zunächst noch vornehmlich um eine „wirksamere Politik“ 600 geht – und damit um die Abwendung der Gefahr, „das Richtige“ zu „kompromittieren“, indem man die „falschen Mittel“ benutzt, die „falschen Kräfte“ mobilisiert und eine „peinliche oder jedenfalls erbärmliche Sprache“ spricht 601 –, beginnt er sich bereits einige Zeit später verstärkt auch inhaltlich und zugleich öffentlicher von einigen neueren Entwicklungen im Bereich ästhetischer Erziehung zu distanzieren. So veröffentlicht er im April 1974 im Merkur einen Essay mit dem Titel „Kunst als Ärgernis“ 602, in dem er – ausgehend von einem Radiobeitrag Claus Borgeests vom 27. Januar 1974 zum Thema „Das Fiasko der Kunstpädagogik“ – resümiert, die Kunstpädagogen neigten in ihrer „Verwirrung“ dazu, „ihre Tätigkeit […] zu überschätzen: sie behaupten einfach ihren hohen emanzipatorischen oder heilenden Wert und reichern sie mit allem an, was sie einer progressiven oder bewahrenden Schule empfiehlt; oder sie bejammern ihre Tätigkeit: daß das Musische das Opfer kalter Rationalität und technokratischer Planung werde; oder sie geben sie zynisch preis: als etwas, was doch soviel Aufhebens nicht wert sei, eine entbehrliche elitäre Präokkupation; oder sie ersetzen sie: durch eine Schulung des Wahrnehmens, Gestaltens und Kommunizierens, die vom Kochen bis zur Analyse von Reklamen, von einer schichtenspezifischen Geschmackssozialisation bis zur Medientheorie reicht. Kunst hat längst nicht nur ihre ‚Mitte‘ verloren, sondern auch alle Konturen.“ 603
Um eben diese verloren gegangenen „Konturen“ der Kunst geht es Hentig schließlich auch im weiteren Verlauf seines Textes, wenn er – im Anschluss an ein „Gedankenspiel“ über die „Abschaffung der Kunst“ 604 – fragt: „Wie wäre es, wenn man all das Kunst 598 Vgl. hierzu Hentig 1985e, S. 380 ff. und Kerbs 1985, S. 397 f. 599 Wolfgang Zacharias schreibt hierzu rückblickend im Jahr 2007: „Von heute aus gesehen, stellt dieser Briefwechsel ein erstaunliches Dokument dar, in dem die damaligen Probleme und Positionen mit seltener Klarheit zutage treten. Beide Briefschreiber nahmen kein Blatt vor den Mund. Da sie sich seit langem kannten und schätzten, konnten sie ihre gegensei tigen Auffassungen in diesem zunächst privat bleibenden Briefwechsel offen aussprechen. Es ist Hartmut von Hentig hoch anzurechnen, dass er nicht nur seinen Rechtfertigungsbrief, sondern auch die bei allem Respekt doch sehr scharfe Antwort von Diethart Kerbs dann in seinem Aufsatzband mit abdrucken ließ.“ (Zacharias 2007, S. 79) 600 Hentig 1985e, S. 382 601 Ebenda 602 Hentig 1974a 603 Ebenda, S. 328 604 Ebenda, S. 329
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nennte, was die Frage ernsthaft zuläßt, ob es Kunst sei?“ 605 Bei einem „Autowrack“, einer „trächtigen Kuh“, einer „Reklame für Campbell’s Tomato Soup auf einer Litfaßsäule“ oder einer „Zahnbürste“ komme ihm diese Frage nicht 606: „Aber wenn sie mir kommt – z. B. weil diese Reklame von einem Menschen gemacht wird, der keine Campbell’s Tomatensuppe zu verkaufen hat und der diese Reklame auch hundertmal nebeneinander anbringt und damit selber aufdeckt, daß dies ein ökonomisch sinnloser Vorgang ist, oder wenn sich die trächtige Kuh in einer Galerie, das Autowrack auf einem wohlgemeißelten Steinsockel in einem Park und meine Zahnbürste im Revers meines Smokings befinden – dann haben sie eine eigene Bedeutung, dann sind sie aus der Welt-wie-sie-ist herausgehoben, dann sind sie der Realität gegenüber ‚Kunst‘ – nämlich deren künstliche Fort-Setzung, ihr künstliches Gegenstück, eine erfundene Möglichkeit.“ 607
Der „Kunstunterricht“, so Hentig weiter, hätte deshalb die „harten aber fruchtbaren Fragen“ zu lehren: „Was will ich vom Kunstwerk?“; „Was tut das Kunstwerk […] und wie, mit welchen Mitteln erreicht es das?“; „Was tue ich, seit ich das alles erfahren habe und weiß?“ 608; und er ergänzt: „Daß wir in einer Epoche, die man das ‚optische Zeitalter‘ genannt hat, eine Hilfe bei der Ausbildung der eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten, von Kritik und Verarbeitung nicht nur des Wahrgenommenen, sondern auch des Wahrnehmungsprozesses brauchen, also ein Fach, das von mir aus ‚Visuelle Kommunikation‘ heißen mag, erledigt keineswegs das Bedürfnis, sich mit den besonderen Wirkungen der Kunstwerke zu befassen, die durch einen historisch-dialektischen Prozess Geschichte und damit uns gemacht haben. Aus ihrem musée imaginaire heraus lassen sie uns Gegenbilder und Gegenkräfte zukommen, die wichtiger sind als so manche Aufklärung über Mittel und Absicht der Werbung, über Kommunikationsmodelle, Medien und Sprachbarrieren.“ 609
Mit seinem Essay „Kunst als Ärgernis“ wendet sich Hentig insofern nicht allein gegen einen radikal erweiterten, von ihm als „konturlos“ empfundenen Kunstbegriff, er distanziert sich darüber hinaus zugleich deutlich von jenem Ausweitungs- und Politisierungsprozess ästhetischer Erziehung, den er zuvor durch seine eigenen Schriften mit angestoßen hatte. Diese scheinbare Kehrtwendung Hentigs bleibt von kunstpädagogischer Seite nicht lange unkommentiert: So schreibt die Zeitschrift Kunst + Unterricht knapp zwei Monate später, man habe den „Text des Bielefelder (Nicht-Kunst-)Pädagogen 605 Ebenda, S. 334 606 Ebenda 607 Ebenda 608 Ebenda, S. 336 (Hervorhebung im Original) 609 Ebenda (Hervorhebung im Original)
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Hartmut von Hentig lesenswert, bedenkenswert“ und „lesbar“ gefunden im „gelegentlichen Begriffs-Wirrwarr der kunstpädagogischen Fachliteratur“ 610, weshalb man den gesamten Essay Hentigs in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift denn auch unter dem leicht erweiterten Titel „Kunst als Ärgernis. Betrachtungen zur Kunst als Schulfach“ 611 erneut abdruckt. Im November 1974 schließlich erscheint darüber hinaus in der Zeitschrift für Kunstpädagogik unter der Überschrift „Eine Kritik an Hartmut von Hentig“ 612 eine längere Besprechung selbigen Textes durch Reimar Stielow, in dem dieser resümiert, es sei zwar zu begrüßen, dass sich ein „in der Öffentlichkeit bekannter und beachteter Erziehungswissenschaftler“ als „Nicht-Fachmann“ auch um „ästhetische Fragen“ kümmere, umso notwendiger allerdings sei es zugleich, dessen „Aussagen kritisch zu befragen“ 613. Dies tut Stielow denn auch im Folgenden, wenn er schreibt, Hentigs „subjektive emotionale Reduktion der Kunst zum Ärgernis“ lasse „den materiellen Gegenstand völlig entschwinden“ 614. Indem dieser „eindeutige verabsolutierende Deutungsversuche der Kunst zurückweise“, relativiere er die Kunst „seinerseits total“, schneide sie ab von der „Bestimmung der konkreten historisch-gesellschaftlichen Existenz“ und mache sie zum „voluntaristischen, abstrakt- inhaltsleeren Wirkungsphänomen, und damit selbst in der von ihm geleisteten reduzierten Bestimmung total wirkungslos“.615 Neben dieser deutlichen Kritik Stielows – auf die Hentig seinerseits an späterer Stelle nicht weniger scharf reagiert 616 – findet sich in den darauffolgenden Jahren allerdings kaum eine weitere Bezugnahme auf Hentigs Merkur-Essay, geschweige denn eine kritische Inbezugsetzung der dort vertretenen Thesen zu den noch immer kanonisch zitierten Arbeiten Hentigs aus den 1960er Jahren. Dies gilt ebenfalls für ein im Oktober 1978 veröffentlichtes Interview in der Zeitschrift für Musikpädagogik, in dem Hentig seine vorherige Kritik an der ästhetischen Erziehung noch einmal erneuert und nun auch auf den Bereich der Musikpädagogik ausweitet, wenn er resümiert: „Wir haben auch falsche Erweiterungen erlebt, eine zunächst notwendige Einbeziehung der Politik, die sich dann plötzlich ihrerseits ausschließlich gebärdete. Was auch immer man in der Schule machte, geriet zu politischer Soziologie, war immer von irgendwelchen soziokulturellen Determinanten abhängig, gegen die man emanzipatorisch vorzugehen hatte, lief auf die Entlarvung einer Ideologie hinaus. Alles ist vom Standort abhängig. Das ist zwar wahr, aber die Verabsolutierung der Wahrheit zerstört sie wieder. Kinder, die fragen, wie dies funktioniert oder warum das schön ist, darf man nicht damit abfertigen, 610 Zerull 1974, S. 1 611 Hentig 1974b 612 Stielow 1974 613 Ebenda, S. 108 614 Ebenda 615 Ebenda, S. 109 616 Vgl. Hentig 1981b, S. 30 f. sowie Hentig 1985e, S. 16.
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daß es eine von den Produktionsverhältnissen her bestimmte Warenästhetik gebe, die sie als Konsumenten manipuliert. Richtig ist, daß die Kinder und Jugendlichen eine leichte Beute der Musik-, Schau- und Medienindustrie sind, und daß man in der Schule kritische Einsicht und wenigstens ‚gegenhaltende Kräfte‘ entwickeln sollte. Aber das tut die reiche abendländische Musikkultur eher durch sich selbst als durch das, was man über sie sagt.“ 617
Einige Jahre später schließlich, im Oktober 1980, findet auf Einladung des Bundes Deutscher Kunsterzieher im Kölner Gürzenich ein Kongress zum Thema „Funktionen ästhetischer Erziehung“ statt, auf deren Eröffnungsveranstaltung es mit Hartmut von Hentig und Gunter Otto als Hauptreferenten zu einer direkten Konfrontation der beiden „ungleichen ‚Päpste‘ der […] Ästhetischen Erziehung“ 618 kommt: Hentig und Otto dürfen, wie Johannes Kirschenstein es rückblickend im Jahr 2006 formuliert, „noch einmal den Sängerwettstreit austragen“ 619. Während Otto das Eröffnungsreferat zum Thema „Bedingungen und Funktionen ästhetischer Erziehung – aus fachdidaktischer Sicht“ 620 hält, spricht Hentig im Anschluss hieran sowie auf ausdrücklichen Wunsch des Veranstalters 621 zum selben Thema „aus bildungstheoretischer Sicht“ 622. An dieses Ereignis erinnert sich Hentig knapp dreißig Jahre später in seiner Autobiographie Mein Leben – bedacht und bejaht mit den folgenden Worten: „Meine Aufgabe meinte ich erfüllt zu haben, indem ich kräftig dazu beigetragen hatte, aus ‚musischer Bildung‘ und ‚Kunstunterricht‘ die ‚Ästhetische Erziehung‘ zu machen, die nun im Titel dieses ‚Kunstpädagogischen Kongresses‘ stand. […]
617 Hentig et al. 1978, S. 9 618 Noetzel 2006, S. VIII 619 Kirschenmann 2006, S. 42 620 Otto 1981 (Hervorhebung C. T. Z.) 621 Vgl. Hentig 1981b, S. 22. 622 Ebenda (Hervorhebung C. T. Z.). Eine erweiterte Fassung des am 2. Oktober 1980 in Köln gehaltenen Vortrags erscheint im darauffolgenden Jahr im Berichtband des Kongresses (ebenda) sowie in leicht veränderter Fassung 1985 in Hentigs Sammelband Ergötzen, Belehren, Befreien (Hentig 1985e, S. 105 ff.). Die kürzere, tatsächlich in Köln gehaltene Fassung des Vortrags liegt demgegenüber an keiner Stelle gedruckt vor, so dass sich im Nachhinein nicht mehr eindeutig rekonstruieren lässt, welche Teile des später veröffentlichten Textes Hentig tatsächlich vorgetragen hat. Vor d iesem Hintergrund ist denn auch ein Kommentar Hentigs in Ergötzen, Belehren, Befreien irreführend, in dem es heißt, der in Köln gehaltene Vortrag sei „in Kurzform im Tagungsbericht abgedruckt worden“ (ebenda, S. 105): tatsächlich unterscheiden sich die Fassungen im Tagungsbericht sowie in Ergötzen, Belehren, Befreien nur marginal voneinander. Dass Hentig allerdings den gesamten später abgedruckten Text von insgesamt 45 Buchseiten (in der Ergötzen, Belehren, Befreien-Fassung) in Köln vorgetragen haben sollte, scheint angesichts des für seinen Beitrag vorgesehenen Zeitrahmens von ca. 60 Minuten eher unwahrscheinlich. (Zum angesprochenen Zeitrahmen des hentigschen Vortrags vgl. die Programmankündigung in Kunstpädagogischer Kongreß Köln 1980, S. 36.)
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Nun wurde ich bei der Vorbereitung auf den Kongress, auf dem ich als Konterpart zu Gunter Otto […] auftreten sollte, gewahr, dass es eine Kunst-Erziehung gar nicht mehr gab. Sie hatte sich in ‚visuelle Kommunikation‘ und ‚sinnliche Praxis‘ aufgelöst. […] Dagegen machte ich auf dem Kongress unversehens und energisch Front – unbekümmert darum, dass mir nun wohl feiger Rückzug, Widersprüchlichkeit und Arroganz vorgeworfen werden würde. Ich bestand darauf, dass wir weiter an der Klärung und Härtung der Maßstäbe für Kunst zu arbeiten hätten und dass Kunst selbst – oder diese Arbeit – eine der wirksamsten (und obendrein erfreulichsten) Übungen unserer Wahrnehmung seien. Ein Fach ohne Kern und Kontur könne auch den anderen Disziplinen weder Partner noch Widerpart sein. Es befriedigte mich, den ungewollten Nebenwirkungen der eigenen Tat entgegentreten zu können – das war eine gute Folge d ieses Ereignisses. Man zürnte mir (mündlich und schriftlich), man geißelte mich mit Habermas-Zitaten und lud mich nie wieder ein – das war die beste Folge dieses Ereignisses.“ 623
Tatsächlich gerät Hentigs Vortrag zu einer radikalen Abrechnung nicht nur mit zahlreichen aktuellen Entwicklungen im Bereich ästhetischer Erziehung, sondern zugleich mit seiner eigenen Rolle innerhalb dessen Fachgeschichte. So resümiert Hentig in seinem Vortrag, der Anlass für sein Mitte der 1960er Jahre vorgetragenes Plädoyer für eine „ästhetische Erziehung“ und gegen eine „musische Bildung“ sei das Bedürfnis gewesen, „einer in sich ruhenden und geregelten Pädagogik mit einer veränderten Wahrnehmung der veränderten Welt zuzusetzen“, sowie der Wunsch, „den überall herrschenden Schematismen Kunst und Kreativität als fruchtbares Ärgernis zu verschreiben“ 624. Heute allerdings, so Hentig, habe er es mit den „Folgen der damals eingeleiteten Bewegung“ zu tun.625 Ihn beschleiche deshalb die Ahnung, die Veranstalter des Kongresses könnten ihn deswegen um seinen Vortrag gebeten haben, weil sie sehen wollten, „wie ein sogenannter Progressiver mit dem fertig wird, was ihm und seinesgleichen seit langem zusetzt und was seine Gegner seine ‚konservativen Anwandlungen‘ nennen“ – man erwarte von ihm also eine „Antwort auf die ungewollten Folgen der eigenen Anstöße“.626 Diese allerdings zu geben falle ihm leicht: „Ich habe zu keinem Zeitpunkt aufgegeben, Kunst an einem Maßstab zu messen – und ich habe zu keinem Zeitpunkt aufgegeben, als Pädagoge von der Kunst Gebrauch zu machen. Ich kann mir eine Ästhetische Erziehung sonst nicht vorstellen, gerade, wenn ich sagen und zeigen will: was mir in meinem Leben die größten Erschütterungen und die größten Beglückungen bereitet hat und was ‚Entdeckung von Möglichkeit‘ als allgemeine Funktion der Kunst für uns alle bedeutet. Das kann ich am besten an Kunstwerken, die 623 Hentig 2009c, S. 1000 ff. (Hervorhebung im Original) 624 Hentig 1981b, S. 33 625 Ebenda 626 Ebenda, S. 33 f.
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dies für viele, unbestritten, verlässlich getan haben. Umgekehrt sehe ich, daß im Namen einer anderen Theorie der Ästhetischen Erziehung nicht mehr nur die Proletarierkinder, sondern alle Kinder ‚kulturell benachteiligt‘ werden. Die Ästhetische Erziehung droht trivial, aktivistisch, unästhetisch, unförderlich und am Ende auch politisch unwirksam zu werden, in erster Linie, wie ich behaupte, weil den Lehrern heute oft selber die Heraus forderung durch die Kunstwerke fehlt.“ 627
Im weiteren Verlauf seines Vortrags konzentriert Hentig sich sodann vornehmlich auf den durch seine eigenen Schriften mit angestoßenen Ausweitungsprozess ästhetischer Erziehung, wenn er resümiert: „Was als ‚entgrenztes‘ Lernen, als Überwindung der Kunst-Pädagogik und musischen Bildung gefeiert wird, erscheint mir als eine unnötige und ungewollte ‚Entkernung‘ der Ästhetischen Erziehung.“ 628 Diese sei durch ihre „theoretisch begründete Uferlosigkeit banal und pointenlos geworden“ und müsse nun ihre „Spannungen, Herausforderer und Widersacher anderwärts suchen“.629 Zwar sei die „Ausweitung der Kunst-Pädagogik zur Ästhetischen Erziehung“ ein richtiger und jedenfalls nicht aufhaltbarer Schritt gewesen, sie habe allerdings „ungewollte Nebenwirkungen“ und „negative Folgen“ gehabt und zugleich „Veränderungen hervorgebracht, die entgegen dem Prinzip der Ausweitung auf die Dauer zu einer Verengung führen müssen“.630 Ebenfalls kritisch in den Blick nimmt Hentig zudem die fortschreitende Politisierung ästhetischer Erziehung, wenn er sogleich zu Beginn seines Referats anmerkt, dass, wo sich „Kunst in Politik“ verwandele, diese ihre „politische Kraft“ verliere 631. Er ergänzt: „[…] der Antagonismus von Kunst und politischer Pädagogik ist notwendig und bekommt beidem; ich werde seiner Auflösung meine Hand nicht leihen.“ 632 An späterer Stelle seines Vortrags kritisiert er schließlich insbesondere das – unter anderem von Vertreterinnen und Vertreter des Bielefelder Oberstufen-Kollegs propagierte – pädagogische Programm einer „Kultur von unten“, deren Begriff „schlecht“, „irreführend“ und „unnötig aufreizend“ sei 633 und deshalb die ihm zugedachte Funktion, „ein Fach zu gliedern und seine Tätigkeiten auszuwählen, auszurichten und auszuwerten“, nicht erfüllen könne 634. Er beendet sein Referat mit den Worten: „Es gibt zwei Möglichkeiten: ‚Alles kann Kunst sein‘ und ‚Jede Ästhetische Praxis hat Maßstäbe‘. Das erste führt über eine zeitweilige psychische Entlastung zu Überdruß und
627 Ebenda, S. 34 628 Ebenda, S. 36 629 Ebenda 630 Ebenda 631 Ebenda, S. 23 632 Ebenda 633 Ebenda, S. 46 634 Ebenda, S. 47
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am Ende einer vermutlich heftigen, ich scheue mich nicht zu sagen faschistischen Reaktion. Das zweite kann mißbraucht werden – aber dem kann man wehren. Ich halte an der Offenheit fest, die ich vor 15 Jahren mit proklamiert habe, aber ich wende jetzt meine Aufmerksamkeit der Notwendigkeit der nie geleugneten Maßstäbe zu. Ob meine alten Definitionen diesem Anspruch gewachsen sind – der Ästhetischen Erziehung sei Kunst der Maßstab, und Kunst sei die Exploration des Möglichen und an ihren Wirkungen faßbar – muß neu geprüft werden. Damit begänne eine neue Arbeit.“ 635
Dieser Aufruf Hentigs zu einer neuerlichen, an der „Kunst als Maßstab“ ausgerichteten Wende im Bereich ästhetischer Erziehung – verbunden mit einer offensiv vorgetragenen Kritik an zahlreichen, für die Entwicklung ästhetischer Erziehung in den vorangegangenen Jahren mitverantwortlichen (und zudem anwesenden) Personen – führt sowohl im weiteren Verlauf des Kongresses als auch im Anschluss an diesen zu lebhaften, oftmals kontrovers geführten Diskussionen. So konstatiert Hans Brög bereits wenige Wochen später im redaktionellen Vorwort der Zeitschrift für Kunstpädagogik zum Themenschwerpunkt „Kunstpädagogischer Kongress Köln 1980“: „Von Hentig bürstete gegen den Strich. Zumindest nach Ansicht vieler, wie die Diskussion zeigte. Die Diskussion zeigte aber auch, daß von Hentig, zumindest in all den Punkten, die Gegenstand der Diskussion waren, falsch verstanden und/oder falsch benutzt wurde. […] Nun, man wusste die durch von Hentig erschütterte eigene Welt auf bequeme Weise wieder in Ordnung zu bringen: Allenthalben war in der Lobby des Gürzenich der nunmehr ‚alt gewordene‘ von Hentig bedauert worden. Eine Ehre für ihn? Adorno und Marcuse erging es jedenfalls nicht anders. Das Lustige war eben, daß von Hentig das, weshalb man glaubte, böse sein zu müssen, gar nicht gesagt hatte. Man nahm voreilig an, daß der bereits vor über einem Jahrzehnt zur Galionsfigur gedrängte von Hentig nun eine kopernikanische Wende vollzogen habe. Man hatte von Hentig offenbar zu diesem Referat gedrängt, und vielleicht lag es daran, daß man so sensibel auf einige Reizwörter reagierte, wie der Pawlowsche Hund auf die Glocke.“ 636
Von eben dieser vermeintlich „kopernikanische[n] Wende“ der „Galionsfigur“ Hentig und den damit verbundenen „sensiblen“ Reaktionen der kunstpädagogischen Welt zeugt denn auch eine Vielzahl weiterer Berichte, Kommentare und sogar Zeichnungen zum Kölner Kongress – sei es in der genannten Ausgabe der Zeitschrift für Kunstpädagogik, den BDK -Nachrichten 637, der Zeitschrift Kunst und Unterricht 638, der von Rolf Niehoff und Gerolf Schülke editierten „Kongreßkritik“ 639 oder anderen Fachpublikationen. 635 Ebenda, S. 50 636 Brög 1980, S. 1 f. 637 Vgl. insbesondere Heft 4/1980. 638 Vgl. insbesondere Heft 64 von Dezember 1980. 639 Kongreßkritik 1981
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So resümiert etwa Hermann Hackstein unter der Fragestellung „Was leistet ein kunstpädagogischer Fachkongreß für den Kunstunterricht in der Schule?“: „Wer von Hartmut von Hentig in Erinnerung früherer Aufsätze Erleuchtung erwartet hatte, sah sich ebenso enttäuscht, wie von Hentig offenbar selbst angesichts der zunehmenden Kulturlosigkeit unserer Gesellschaft enttäuscht ist.“ 640 Doris Schneider merkt in ihren „Impressionen einer Referendarin“ an, Hentigs „geistige Anwesenheit“ habe sich auf dem Kongress zwar in der „häufigen Auseinandersetzung mit seiner Prognose des ‚Absackens‘ des Faches in ‚Naivität‘ und ‚Primitivität‘“ gezeigt, dessen Position allerdings bleibe – wenn man sich seiner 1969 getätigten Aussagen erinnere – nichtsdestotrotz „fraglich“ 641, und Gert Selle schließlich konstatiert 1981 in seiner Studie Kultur der Sinne und ästhetische Erziehung unter der Fragestellung „Hat die ästhetische Erziehung in der Bundesrepublik eine Zukunft?“ 642: „Noch wissen viel zu wenige Lehrer und Erzieher, was ästhetische Erziehung war, ist, will und kann. […] Wir behaupten, daß es auch eine Frage von Einstellung, Wissen und Fähigkeiten ist, ob jemand so oder so lehrt, diese oder jene Zielsetzung verfolgt, sein professionelles Selbstverständnis einschränkt oder erweitert. Umso bedenklicher ist es, wenn Leitfiguren wie H. v. Hentig auf dem kunstpädagogischen Kongreß in Köln 1980 früher vertretene Positionen widerrufen und die bescheidene Einkehr in das Reich der Künste fordern. Gewiß sind auf d iesem Gebiet Entdeckungen zu machen. Die fachspezifisch orientierte ästhetische Erziehungspraxis fördert s olche Entdeckungsarbeit zu Recht. Aber jede Form des Verzichts auf eine erweiterte Funktion ästhetischer Erziehung schränkt die Möglichkeit ein, mit Hilfe d ieses historischen Entwurfs die erstarrte Leistungsschule wieder ein wenig in Bewegung zu bringen und durch neue Impulse die zunehmend organisierte Freizeit-Ersatzkultur wirklich zu einer Kulturbewegung von unten zu machen. Hier sind nicht Widerrufe, sondern beharrliche Verbreiterungen einer bereits beträchtlichen Erfahrungsbasis mit dem ästhetischen Lernen vonnöten.“ 643
Hentig selbst nutzt seinen Kölner Vortrag als Anlass, sich zunächst für einige Jahre aus der entsprechenden Fachdiskussion zurückzuziehen, und veröffentlicht, was den Bereich ästhetischer Bildung und Erziehung angeht, in der ersten Hälfte der 1980er Jahre lediglich einige wenige, zumeist marginale Beiträge zu Fragen der Kinder- und Jugendliteratur 644, des Schultheaters 645 oder der Architektur 646. Erst einige Jahre später wendet er sich erneut in grundsätzlicherer Perspektive dem Gesamtthema „ästhetische 640 Hackstein 1980, S. 12 641 Schneider 1980, S. 14 642 Selle 1981, S. 271 643 Ebenda, S. 284 644 Hentig 1982d, Hentig 1984d und Hentig 1985 f 645 Hentig 1985c 646 Hentig 1982c und Hentig et al. 1982
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Bildung und Erziehung“ zu: Nachdem er zwischen 1980 und 1983 bereits mehrere Sammlungen seiner in den vorangegangenen Jahrzehnten entstandenen Aufsätze und Vorträge herausgegeben hatte 647, veröffentlicht er 1985 unter dem Titel Ergötzen, Belehren, Befreien schließlich einen Sammelband auch seiner „Schriften zur ästhetischen Erziehung“ 648. Dieser Band, bereits 1981 erstmalig angekündigt 649 und insgesamt mehr als 400 Seiten umfassend, versammelt im Anschluss an eine knapp zwanzigseitige Einleitung insgesamt dreizehn Beiträge Hentigs, von denen lediglich drei zuvor noch an keiner Stelle publiziert worden waren.650 Bei den verbleibenden zehn Beiträgen handelt es sich um sprachlich und inhaltlich zumeist leicht überarbeitete Fassungen von Texten aus den Jahren 1965 bis 1981 – darunter solch zentrale Arbeiten wie „Die Wirkungen des Schönen“ von 1965, „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ von 1967, „Kunst als Ärgernis“ von 1974 oder „Bedingungen und Funktionen Ästhetischer Erziehung – aus bildungstheoretischer Sicht“ von 1980.651 In der Einleitung erläutert Hentig die Textauswahl und versucht im Zuge dessen einerseits, inhaltliche Brüche z wischen den einzelnen Texten und dadurch auch innerhalb der Entwicklungsgeschichte des eigenen Konzepts ästhetischer Erziehung zu kennzeichnen und in den Gesamtzusammenhang der entsprechenden Fachgeschichte einzuordnen, andererseits ist er bemüht, eine inhaltliche Kontinuität zwischen den einzelnen Texten herauszustellen und zu belegen: „Zwischen dem ersten und dem letzten meiner fünf theoretischen Aufsätze liegen fünfzehn Jahre ausgreifender erziehungswissenschaftlicher und bildungspolitischer Entwicklungen. Es ginge seltsam zu, würden die Aufsätze nicht auch einen Wandel des Autors spiegeln“ 652, resümiert er und ergänzt: 647 Gemeint sind die Bände Die entmutigte Republik. Politische Aufsätze (Hentig 1980a), Aufwachsen in Vernunft. Kommentare zur Dialektik der Bildungsreform (Hentig 1981a), Erkennen durch Handeln. Versuche über das Verhältnis von Pädagogik und Erziehungswissenschaft (Hentig 1982b) und Aufgeräumte Erfahrung. Texte zur eigenen Person (Hentig 1983a). Während die ersteren drei dieser Sammelbände allerdings noch bei Klett-Cotta erscheinen, kommt es anlässlich des Lektorats von Ergötzen, Belehren, Befreien zum Konflikt mit dem Klett-Verlag, woraufhin Ergötzen, Belehren, Befreien schließlich bei Hanser verlegt wird (vgl. Hentig 2009c, S. 1002). 648 So der Untertitel des Sammelbandes (Hentig 1985e). Siehe hierzu auch oben, Fußnote 60. 649 Vgl. Hentig 1981d, S. 17. 650 Darunter die „geraffte Wiedergabe“ einer Examensarbeit Hentigs aus dem Jahr 1957 zum Thema „Der Parthenontempel im Unterricht“, eine stark erweiterte Fassung eines 1981 vor den Bielefelder Theater- und Konzertfreunden gehaltenen Vortrags zum Thema „Die Bühne als pädagogische Anstalt“ sowie einen knapp eine Seite umfassenden, 1982 für den Rat der Formgebung erstellten Textentwurf zum Thema „Die Grenzen der ästhetischen Erziehung“. 651 Nicht in den Sammelband aufgenommen, sondern lediglich in Ausschnitten in der Einleitung zitiert (vgl. Hentig 1985e, S. 21 f.), ist dementgegen der Text „Das Leben mit der Aisthesis“ von 1969. 652 Hentig 1985e, S. 20
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„Die Sammlung meiner Schriften zur ästhetischen Erziehung zieht nicht zuletzt eine Rechtfertigung daraus, daß dieser Wandel sich als in sich folgerichtig erweisen möge – als eine dialektische Bewegung. Gewiß, 1966 habe ich den Begriff der ästhetischen Erziehung so erweitert, daß ‚visuelle Kommunikation‘ und Wahrnehmungskritik darin enthalten sein konnten. An der Laborschule habe ich 1970 den Erfahrungsbereich, der die bildenden Künste, das Theater und die Musik umfaßt, ‚Wahrnehmen und Gestalten‘ genannt. Jetzt bestehe ich darauf, daß es neben improvisierten Rollenspielen und einem selbst komponierten Musical auch ‚Antigone‘ oder ‚Andorra‘ gebe; neben Pop- Music auch Bach und Schubert; neben der Analyse von Plakaten und Reklame auch das Studium von Dürers Grafik […]. Denn das sollte nie ausgeschlossen sein! – Meine Definition von Kunst habe ich nicht geändert, aber ich erkenne deutlicher den Missbrauch, den man mit ihr treiben kann. Ich wehre mich dagegen, daß der Kunstunterricht einem ungenauen, für seinen Gegenstand unzuständigen Gesellschaftsunterricht geopfert wird […] Ich bleibe dabei, daß es in d iesem Unterricht in erster Linie um das Erfahren, Verstehen und Hervorbringen von ästhetischen Wirkungen geht, und sehe, daß die großen Kunstwerke hierbei vor allen anderen möglichen ästhetischen Gegenständen einen gewaltigen Vorsprung haben.“ 653
Hentig versucht also, den „Wandel“ der eigenen Einschätzungen und Ansichten im Sinne einer „dialektischen Bewegung“ als „in sich folgerichtig“ und somit als in einer starken inhaltlichen Kontinuität stehend zu kennzeichnen und dadurch insbesondere auch den von ihm wiederholt formulierten Anspruch, die „Kunst als Maßstab der Ästhetischen Erziehung“ 654 zu begreifen, mit seinen vorangegangenen Forderungen nach einer ästhetischen Erziehung als „Übung in der aisthesis“ zu verknüpfen. Sein Vorgehen beim Verfassen der einzelnen in den Sammelband aufgenommenen Texte möchte er in d iesem Sinne denn auch als das „Schreiben eines ‚Buches‘ auf Raten“ 655 verstanden wissen – als die „mühsam, aber willig vorgenommene Abwandlung einer bleibenden idealistischen Figur“ 656. Zur Verdeutlichung des gemeinten Sinnzusammenhangs ist eine Vielzahl der abgedruckten Aufsätze denn auch mit neuen, im Vergleich zur Erstveröffentlichung zum Teil stark veränderten Überschriften versehen – denn, so Hentig, „hier beziehen sie sich aufeinander; damals bezogen sie sich auf eine bestimmte Lage oder Frage oder Herausforderung“ 657. So wird beispielsweise aus „Spielraum und Ernstfall. Betrachtungen eines Pädagogen über das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft“ nun „Die Erkundung des Möglichen“, aus „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter. Einige Grundbegriffe aus dem Wörterbuch der Kunsterziehung“ wird „Die Entzauberung der Ästhetik“, oder aus 653 Ebenda, S. 20 f. (Hervorhebung im Original) 654 Hentig 1981b, S. 27 655 Hentig 1985e, S. 12 656 Ebenda, S. 16 657 Ebenda, S. 16 f.
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Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte
„Bedingungen und Funktionen Ästhetischer Erziehung – aus bildungstheoretischer Sicht“ wird „Ästhetische Erziehung ohne Kunst?“. Nun setzt sich Hentig in seiner Einleitung zu Ergötzen, Belehren, Befreien allerdings nicht allein mit der wechselvollen Entwicklungsgeschichte des eigenen Konzepts ästhetischer Erziehung auseinander, er thematisiert darüber hinaus zugleich immer wieder auch die damit verbundene Rezeptionsgeschichte. So beklagt er zunächst in allgemeiner Perspektive, mit seinen Äußerungen zum Thema „Unwillen und Mißverständnis“ 658 auf sich gezogen zu haben, und wendet sich dann schließlich auch einzelnen Kritikern seiner Arbeiten zu, etwa wenn er – mit Blick auf Reimar Stielow und dessen 1974 in der Zeitschrift für Kunstpädagogik vorgetragene „Kritik an Hartmut von Hentig“ 659 – schreibt: „In einer Kritik an dem in diesem Band abgedruckten Aufsatz ‚Kunst als Ärgernis‘ wird mir vorgeworfen: meine Bestimmung beraube diese ihrer Substanz; der konkrete Gegenstand werde abgeschafft; es blieben nur die Wirkungen; Hentig plädiere für eine wertfreie Kunst, treibe reinen Subjektivismus und reinen Relativismus. Nichts ist falscher als dies, und hätte der Kritiker die anderen hier neu verfügbar gemachten Aufsätze gelesen, er hätte nicht nur Hentig besser verstanden, sondern auch und vor allem das von mir behandelte Problem […].“ 660
Die Veröffentlichung von Ergötzen, Belehren, Befreien lässt sich somit als gezielter Versuch Hentigs werten, der bisherigen Rezeptionsgeschichte der eigenen Arbeiten zum Thema eine kommentierte Auswahl an Texten entgegenzustellen, in der die inhaltliche Kontinuität des eigenen Konzepts in möglichst verdichteter Form zur Darstellung kommt – ein Anliegen, das auch auf der Rückseite des Bucheinbandes noch einmal bekräftigt wird, wenn es dort heißt: „Als Hartmut von Hentig vor zwanzig Jahren unter Rückgriff auf Schiller eine ‚Ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter‘ forderte, sorgte ein allgemeines Bedürfnis nach Politik, die aus der Kunst wie aus der Bildung gleichermaßen ausgeschlossen war, für eine unerwartete, für eine verdächtig große Wirkung. Die musische Bildung wich widerstandslos der Politisierung. Aus dem Kunstunterricht wurde Visuelle Kommunikation; diese fühlte sich für alles zuständig, was bewußt gestaltet ist: Wirkungsanalyse und Ideologiekritik traten an die Stelle von kunstgeschichtlicher Einordnung, Erbauung und handwerklich-künstlerischer Gestaltung. Die vorgelegte Sammlung von Schriften zur ästhetischen Erziehung erlaubt nachzulesen, was Hentig damals tatsächlich gefordert hat, wie er diese Forderungen begründet und woran er seine Vorstellungen weiterentwickelt hat.“ 661 658 Ebenda, S. 16 659 Stielow 1974 (Siehe hierzu auch oben, S. 116) 660 Hentig 1985e, S.16 661 Ebenda, Einband Rückseite
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Die in dieser Kurzzusammenfassung bereits angezeigte Bedeutung Hentigs für die Entwicklung ästhetischer Erziehung seit Mitte der 1960er Jahre – einschließlich der vor diesem Hintergrund erst deutlich werdenden „Weiterentwicklung“ der hentigschen „Vorstellungen“ im Laufe der Jahrzehnte – hat Gunter Otto als der einzig namhafte Rezensent des Bandes im Blick, wenn er 1986 in Kunst + Unterricht fragt: „Welche Funktion hat ein Buch, das Einzelschriften eines Autors versammelt, die zu drei Vierteln schon ein- oder zweimal publiziert vorliegen?“ 662 Er antwortet: „Die (gesammelten) Schriften zur Ästhetischen Erziehung könnten die Entwicklung ihres Verfassers über 30 Jahre hinweg zeigen; das sagt er selbst: […] Den Wandel will von Hentig als ‚in sich folgerichtig‘ belegen, er möchte ihn von uns als ‚dialektische‘ Figur verstanden wissen. Ich glaube nicht, daß ich dem zustimmen kann.663
„Hat der Autor sich gewandelt? Ist es schlimm, sich zu wandeln? Ist es besser, sich nach 30 Jahren bestätigen zu lassen, daß man noch der ‚Alte‘ sei? Ist jeder Wandel dialektisch?“ 664, fragt Otto sodann weiter und geht schließlich auf das Gegenüber jener zwei Positionen ein, die, so Otto, überhaupt erst die „Metapher vom Wandel des Autors“ nahelegten 665: Hentig habe im Jahre 1967 programmatisch zu einem „Verständnis von Ästhetischer Erziehung beigetragen“, die sich aus den „ideologischen Fesseln der musischen Erziehung“ befreit und an einem „über die Einführung der ‚Klassischen Kunst‘“ hinausweisenden Kunstverständnis orientiert habe.666 Der damit verbundene Appell, „das Fach zu öffnen und ästhetische Erziehung politisch zu verstehen“, sei dann „in der Folgezeit von Vielen und mit ganz unterschiedlichen Akzentuierungen und Intentionen, auch in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgenommen“ worden.667 Darüber, so Otto weiter, habe Hentig bereits 1971 „Erschrecken“ signalisiert und 1980 auf dem Kölner Kongreß des Bundes Deutscher Kunsterzieher seine „Wahrnehmung der ungewollten Wirkungen der eigenen Anstöße“ 668 schließlich „nicht mehr nur beiläufig“ 669 resümiert. Der in diesem Zusammenhang von Hentig geäußerten, im Vorwort zu Ergötzen, Belehren, Befreien erneuerten Kritik allerdings, der Kunstunterricht würde einem „ungenauen, für seinen Gegenstand unzuständigen Gesellschaftsunterricht geopfert“ 670, wodurch es nun „keine Kunsterziehung mehr“ 671 662 Otto 1986, S. 9 663 Ebenda 664 Ebenda 665 Ebenda 666 Ebenda 667 Ebenda, S. 44 668 Ebenda, unter Bezugnahme auf Hentig 1985e, S. 123. 669 Otto 1986, S. 44 670 Ebenda, unter Bezugnahme auf Hentig 1985e, S. 20 f. 671 Otto 1986, S. 44, unter Bezugnahme auf Hentig 1985e, S. 19.
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gebe, widerspricht Otto entschieden: „Ich halte die Diagnose für falsch und ihre olgen für schädlich.“ 672 Dementsprechend fällt auch Ottos Fazit aus: F „An die Stelle des politischen Anspruchs ist [bei Hentig] das subjektive Maß getreten. Das kann seinen Grund darin haben, daß die Aufmerksamkeit für die Gesellschaft einerseits und für die Rechte des Individuums andererseits tatsächlich nicht immer ausbalanciert ist und zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Akzentuierung vorherrscht. Ist das aber die dialektisch vermittelte Bewegung auch des Autors? Oder ist es die Bewegung von der Aufmerksamkeit für die Probleme aller zurück zu sich selbst – aber ist das Dialektik?“ 673
Mit dieser Fragerichtung Ottos ist zugleich das zentrale Motiv der sich in den folgenden Jahren entwickelnden Diskussion zum Thema „Hartmut von Hentig und die ästhetische Erziehung“ benannt: Ab Mitte der 1980er Jahre werden Hentigs Arbeiten zum Thema immer weniger in programmatischer Perspektive hinsichtlich ihres etwaigen Ertrags für die aktuelle Diskussion zum Thema gelesen als vielmehr in historiographischer Perspektive hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Entwicklung ästhetischer Erziehung insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren. Dabei ist es speziell die Bewertung jenes Wandels Hentigs vom „Urvater der ästhetischen Erziehung“ 674 hin zum Apologeten einer neuerlichen Kunst-Pädagogik, die fortwährend Anlass zu widerstreitender Interpretation und kontroverser Diskussion liefert.
4.3 Vom „Unruhestifter“ zur historischen Person Zwar publiziert Hartmut von Hentig auch nach Veröffentlichung seines Sammelbandes Ergötzen, Belehren, Befreien im Jahr 1985 weiterhin zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung, er konzentriert sich dabei allerdings zunehmend auf den Bereich der Literatur, oder – wie Hentig selbst es formuliert – auf denjenigen der „Dichtung“ 675. Dieses gesteigerte Interesse Hentigs an Literaturtheorie und -didaktik geht dabei zugleich einher mit einer zunehmenden Skepsis gegenüber der gesellschaftlichen und pädagogischen Funktion insbesondere der bildenden Künste. So resümiert Hentig im September 1988 im Rahmen eines Vortrags an der Johns Hopkins University in Baltimore, er meine, zweierlei Gründe für eine „Schwächung der Künste“ 676 in der deutschen Gegenwartskultur erkennen zu können: Zum einen suchten diese „nach immer neuen Effekten“ und erschöpften dadurch „ihre Mittel
672 Otto 1986, S. 44 673 Ebenda 674 Schatt 2007, S. 104 675 Vgl. bspw. Hentig 1967b, S. 187. 676 Hentig 1990a, S. 70
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und Gelegenheiten rapide“ 677, zum anderen sei derjenige Teil ihrer Funktion, der darin bestanden habe, „die Schranken der Gewohnheit, der Konvention, der Heuchelei zu durchbrechen“, mittlerweile von anderen Institutionen und Prinzipien abgelöst worden 678. So werde die Kunst „bei der Aufdeckung von Wahrheit, der Demaskierung der Lüge, der Auflösung von Irrtum […] heute mühelos durch Logik, durch Wissenschaft und die Didaktik der Journalisten übertroffen“.679 Aus diesen Gründen, so Hentig, erwarte er denn auch „keine großen Wirkungen von den bildenden Künsten und der Musik“ 680: „Die Literatur und der Film dagegen haben einen unerschöpflichen Stoff: den Menschen, seine individuellen und kollektiven Wandlungen. Da der Mensch immer am Menschen interessiert sein wird, da das Leben der Menschen immer neue Themen und Formen hervorbringen wird und da die Wissenschaften langsamer sind als die Intuition und die unmittelbare Erfahrung, werden Literatur und Film ihre beherrschende Rolle in der zeitgenössischen und künftigen Kultur bewahren.“ 681
Dieser Einschätzung folgend intensiviert Hentig ab Mitte der 1980er Jahre nicht nur seine Mitarbeit in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung – in die er 1982 aufgenommen worden war 682 –, er setzt sich darüber hinaus auch publizistisch immer wieder mit verschiedenen Fragen der Literaturtheorie und -didaktik auseinander: sei es anlässlich einer Ausschreibung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zum Thema „Soll man Dichtung auswendig lernen?“ 683, in Form zahlreicher Rezensionen, Interpretationen und Würdigungen literarischer Werke 684 oder im Zuge einer öffentlich geführten Auseinandersetzung mit Zohar Shavit zu der Frage, „Was man von Kinder- und Jugendbüchern erwarten darf “ 685. 677 Ebenda 678 Ebenda, S. 70 f. 679 Ebenda, S. 71 680 Ebenda 681 Ebenda 682 „Im Jahre 1982 bin ich in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen worden – eine ungewöhnliche Ehre für einen Pädagogen“, schreibt Hentig hierzu in seiner Autobiographie Mein Leben – bedacht und bejaht und ergänzt: „Außer mir ist sie nur Eduard Spranger, Herman Nohl und Theodor Litt zuteil geworden, die aber doch alle auch bedeutende Philosophen waren!“ (Hentig 2009c, S. 983 f.) In den folgenden Jahren und Jahrzehnten engagiert Hentig sich immer wieder in verschiedenen Formen in der Akademie, wird 1987 deren Vizepräsident und bewirbt sich im Jahre 1993 (wenn auch vergeblich) auf das Amt des Präsidenten (vgl. ebenda, S. 986 f.). Zur „Selbstdarstellung“ Hentigs anlässlich seiner Aufnahme in die Akademie siehe darüber hinaus auch Hentig 1983a, S. 260 ff. 683 Hentig 1986b 684 Vgl. bspw. Hentig 1995; Hentig 1996b; Hentig 1998a oder Hentig 1999g. 685 Hentig 1996d
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Auch mit Blick auf die Literatur bleibt Hentig allerdings skeptisch gegenüber den „großen Wirkungen“ 686 des Ästhetischen. Deutlich wird dies spätestens im Rahmen eines längeren Vortrags, den er im Mai 1989 auf der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zum Tagungsthema „Lesen?“ hält. Unter dem Titel „Wir brauchen Leser – wirklich?“ 687 setzt er sich nicht nur kritisch mit aktuellen Entwicklungen in der „Leseforschung“, der „Leseförderung“ sowie der „Leseerziehung“ auseinander 688, er formuliert darüber hinaus gegen Ende seines Vortrags – ausgehend von der Frage „Wie bekommen wir die Leser, die wir brauchen?“ 689 – drei „Gebote“, deren erstes wie folgt lautet: „Seien wir ehrlich, blasen wir die Backen nicht mit wichtigtuerischer Besorgnis auf, unterlassen wir die Drohung mit dem Untergang der Kultur, die Berufung auf den hehren Auftrag: ‚die breite Bevölkerung‘ für das Buch zu begeistern! Bitte nichts wollen, was wir nicht können, und schon gar nicht, es von anderen verlangen – von den Familien, den Pädagogen, den Bibliothekaren, den Finanzministern! Geben wir also zu: Leser sind in erster Linier für die Schreiber notwendig […]. Leser sind sodann für andere Leser notwendig. […] Leser sind auch für die Demokratie notwendig: für die Kontrolle der Regierenden, die nur begrenzt durch Sehen und Hören geschehen kann, und vor allem für die Vision möglicher anderer und besserer Welten, als wir sie haben. Lesend, was es in der Vergangenheit alles gegeben hat oder anderswo auf der Erde noch gibt oder was sich die Dichter ausdenken oder wie es in anderen Menschen aussieht – das macht jene Vision reich, frei und stark. Aber auch für die Demokratie ist der, der liest, nicht so wichtig, wie der, der wachsam ist, der mitdenkt und mithandelt, der sich verantwortlich fühlt, der sich einmischt und ‚gegenhält‘. Es ist nicht bewiesen und wohl auch nicht beweisbar, daß man so einer wird durch Lesen. Auch dies zu sehen und zu sagen verlangt Ehrlichkeit.“ 690
Diese skeptische Haltung Hentigs gegenüber einer politischen wie pädagogischen Indienstnahme des Ästhetischen erfährt ihren vorläufigen Höhepunkt schließlich im Jahr 1993 mit Erscheinen des Buches Die Schule neu denken. Eine Übung in praktischer Vernunft 691. In d iesem „Erfolgsbuch“ 692 Hentigs, in dem er eine „zornige, aber nicht eifernde, eine radikale, aber nicht utopische Antwort“ auf die vorangegangenen Ausschreitungen rechtsextremer Jugendlicher in „Hoyerswerda und Mölln, Rostock
686 Hentig 1990a, S. 71 687 Hentig 1990b 688 Vgl. ebenda, S. 47 ff. 689 Ebenda, S. 67 690 Ebenda 691 Hentig 1993 692 Hentig 2005b, S. 38
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und Solingen“ zu geben versucht 693, findet sich – in einem Kapitel zum Thema „Verfehlte Antworten“ – ein knapp dreiseitiger, mit der Überschrift „Ästhetik“ versehener Abschnitt, in dem es heißt: „Von Theokrit bis Tonio Kröger, von Goethes Tasso bis zu Nina und Kostja in Tschechows ‚Möwe‘ haben die Menschen Rettung vor dem nüchternen Unglück, vor der prosaischen Barbarei des Lebens in der Kunst gesucht. Seit die Kunst nicht mehr ihren Gegenstand gestaltet, steigert, verwandelt, ins Gesetzmäßige oder Erhabene erhebt, sondern ihn so ‚roh‘, so unmittelbar, so einsam wiedergibt, wie der einzelne Künstler ihn erfährt, ist Glück hier nicht zu suchen, und Rettung schon gar nicht.“ 694
Man setze heute, so Hentig, „nicht auf Kunst und Kultur“, sondern „auf die Ästhetik als ein dem Moralischen, dem Politischen, dem Wirtschaftlichen, dem Wissenschaft lichen je entgegengesetztes Prinzip“ 695. Angesichts der von der Postmoderne allenthalben ausgedrückten Freiheit von „Funktionalismus und Kollektivität, von Systemzwang und Folgerichtigkeit, von Geschichte und höherer Bedeutung“ scheine es ihm aber, dass wir mit nichts „so wenig Aussicht“ hätten, dem „Haß, der Zerstörungswut, der Lust an der Gewalt beizukommen“ wie mit der Schillerschen Utopie des zweckfreien Spiels, die „in die (politische) Freiheit hineingedacht“ gewesen sei, während wir „aus der (politischen) Freiheit und der damit gegebenen Beliebigkeit“ herausdächten.696 Er ergänzt: „Das Streicheln von Baumrinde zur Steigerung der Sensibilität einerseits, das Betrachten und Nachahmen der Provokationen und Aktionen, der Ensembles und Environments, der Experimente und Exponate der modernen Künstler zur Befreiung aus Verkrampfung und Frust andererseits sind selber Teil der verkorksten Lebenssituation, der sie beizukommen behaupten: der Künstlichkeit, Gemachtheit, Willkürlichkeit, Beziehungslosigkeit des Lebens. Nein, unsere Probleme verlangen politische und pädagogische Antworten, nicht ästhetische.“ 697
In der bereits im darauffolgenden Jahr erschienenen dritten, bearbeiteten und erweiterten Auflage von Die Schule neu denken ist jener Abschnitt schließlich noch einmal um knapp zwei Seiten erweitert und mit einer neuen Überschrift versehen. Der betreffende Abschnitt lautet nun „Ästhetik, Aisthesis et similia“ 698 und umfasst eine Vielzahl zusätzlicher Beispiele für die von Hentig wahrgenommenen „verfehlten
693 So der Untertitel des Buches. 694 Hentig 1993, S. 165 695 Ebenda, S. 166 696 Ebenda, S. 166 f. 697 Ebenda, S. 167 698 Hentig 1994a, S. 173
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Antworten“ 699 der Pädagogik: sei es ein Kunstprojekt zum Thema „Ausländerfeindlichkeit und Gewalt“ in der Hauptschule, ein Theaterstück mit dem „Schulrabauken“ in der Rolle des „rachsüchtigen Schlägers“ oder das Aufhängen eines „Punchingsballs“ im Kinderladen 700. „Die Verführung zu verschwommenen und weichen Lösungen wird größer, je klarer und härter sich die Probleme abzeichnen“ 701, schreibt Hentig hierzu und resümiert: „Auch ich bin für Empfindsamkeit; auch mir ist es wichtig, der Sinnlichkeit des Menschen gerecht zu werden; auch mir liegt an Nachdenklichkeit. Aber die Flucht in aisthesis und phronesis und Meditation aus Schrecken vor ‚männlicher Rationalität‘, Systemdenken und Herrschaftswissen ist die falsche Antwort auf die Gefahr ihrer Ausartung. ‚Die Menschen stärken‘ ist nur der halbe Auftrag. ‚Die Sachen klären‘ gehört dazu. Auf Hentig berufe sich nicht, wer Kindern der Eingangsstufe die Laute, die sie längst sprechen, beim L ernen der Buchstaben noch einmal ästhetisch verschleiert und verniedlicht: sie bunt malen und tanzen, krabbeln und kribbeln, hupfen und rupfen, schnalzen und walzen läßt. Die Buchstaben sind die Entdeckung der Abstraktion. Diese soll jetzt an den Zeichen in ihrer eindeutigsten Form erkannt, geübt, beherrscht werden. Sinnlichkeit entfalte man bitte an Sinnlichem!“ 702
Vor dem Hintergrund dieser Kritik an der pädagogischen Bemühung um „Ästhetik, Aisthesis et similia“ mag es zunächst erstaunen, dass Hentig keine zwei Jahre später in seinem zweiten Erfolgsbuch der 1990er Jahre Bildung. Ein Essay 703 zumindest den Künsten erneut eine überaus wichtige Rolle im Bildungsprozess des Menschen zuweist: Im Anschluss an die Formulierung von insgesamt sechs „möglichen Maßstäben“ für Bildung 704 führt er auf knapp 35 Seiten zehn Tätigkeiten auf, denen er „die gewünschte Bildung, den Anlaß zum Sich-Bilden“ 705 zutraut – darunter die Anlässe „Geschichten“, „Theater“ und „Die Musik“ 706. Neben den literarischen und filmischen „Geschichten“ – zu denen Hentig anmerkt, diese enthielten, ob „gelesen, vorgelesen, frei erzählt“ oder „geschaut“, alles, „was wir an geistiger Nahrung“ bräuchten 707 – ist es speziell der Bildungsanlass „Theater“, dem
699 Ebenda, S. 146 700 Ebenda, S. 175 f. 701 Ebenda, S. 177 702 Ebenda (Hervorhebung im Original) 703 Hentig 1996a 704 Siehe ebenda, S. 71 ff. 705 Ebenda, S. 103 706 Die anderen sieben von Hentig genannten Bildungsanlässe lauten „Das Gespräch“, „Sprache und Sprachen“, „Naturerfahrung“, „Politik“, „Arbeit“, „Feste feiern“ und „Aufbruch“ (vgl. ebenda, S. 104 ff.). 707 Ebenda, S. 112
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er ein besonders hohes Maß an Aufmerksamkeit widmet: „[I]ch behaupte“, schreibt er hierzu, „daß das Theaterspiel eines der machtvollsten Bildungsmittel ist, die wir haben: ein Mittel, die eigene Person zu überschreiten, ein Mittel der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der Gestaltung der so gewonnenen Einsicht.“ 708 Er ergänzt: „Ich traue mir die Einrichtung einer alle Bildungsansprüche befriedigenden Schule zu, in der es nur zwei Sparten von Tätigkeiten gibt: Theater und science. Es sind die beiden Grundformen, in denen der Mensch sich die Welt aneignet: subjektive Anverwandlung und objektivierende Feststellung. So, wie sich das eine auf alle Verhältnisse erstreckt, die sich versachlichen lassen, so das andere auf alles, was sich vermenschlichen läßt. Beide zusammen können alles umfassen, was Menschen erfahren und wollen, können und wissen.“ 709
Dies ist eine Formulierung, die er im Abschnitt zur „Musik“ noch einmal aufnimmt und präzisiert, wenn er – neben der Musik nun auch die bildenden Künste mitberücksichtigend – schreibt: „Enthielte ‚Theater‘ nicht die Möglichkeit, ausgiebig Musik zu treiben, ich würde meinen vorhin geäußerten Satz korrigieren: Es genügten für meine Schule Theater und science. Nun, es muß in jeden Fall auch Musik her: die aktiv betriebene, die aktiv genossene, die von früh an gehörte – in sorgfältigem Aufbau, geistvoller Wiederholung und gegenseitiger Mitteilung. Die ‚bildenden Künste‘ bilden vor allem, indem man sie ausübt. Und damit wiederum übt man vornehmlich die Wahrnehmung, in zweiter Linie die Fähigkeit zur Gestaltung und zuletzt erst den Kunstsinn, das Empfinden für Schönheit, den Geschmack, gar die Fähigkeit zu ästhetischer Kritik.“ 710
Doch auch wenn Hentig auf diese Weise der Literatur, dem Film, dem Theater, der Musik und auch den bildenden Künsten eine zentrale Stellung im Bildungsprozess des Menschen zuweist: Indem er sämtliche der zehn von ihm genannten Bildungsanlässe zu Beginn seiner Aufzählung ausdrücklich als „ganz normale Lebenstätigkeiten“ kennzeichnet, als „weitgehend unverschulte Tätigkeiten“, an denen man sehen könne, „was den Menschen wirklich bildet“ 711, verortet er die durch diese Tätigkeiten zu veranlassenden Bildungsprozesse zunächst außerhalb staatlicher Erziehungseinrichtungen.712 Die Institution Schule spielt dementsprechend auch in seiner Erläuterung 708 Ebenda, S. 119 709 Ebenda, S. 119 f. (Hervorhebung im Original) 710 Ebenda, S. 135 f. (Hervorhebung im Original) 711 Vgl. ebenda, S. 103. 712 Seine Aufzählung abschließend resümiert Hentig denn auch: „[A]us diesen Quellen und an diesen Anlässen kann sich jeder nach seinem Maß bilden, nicht zuletzt weil man mit ihnen allen – anders als mit unserem Geschichts- oder Physik- oder Mathematikunterricht – in
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der drei Bildungsanlässe „Geschichten“, „Theater“ und „Musik“ in erster Linie eine kontrastierende Rolle: Da ist die Rede vom Geschichtenerzählen und -lesen als von einer „normalen Tätigkeit mit großer Bildungskraft, die wir in der Schule auf drei Deutschstunden abgedrängt und dort gründlich ihrem eigentlichen Zweck entfremdet“ hätten 713; von der Merkwürdigkeit, „wie wenig Zutrauen die zuständigen Lehrer oft zu ihrem eigenen Gegenstand“, der Literatur, hätten 714; vom Umstand, dass den Schulen „alle möglichen Gegenstände“ wichtiger seien als die Musik, welche „in der Zeit-, Lehrer- und Geldnot fortfallen“ dürfe und „zur Ablegung einer Reifeprüfung, die den allgemein gebildeten Menschen bestätigt“, überflüssig sei 715. Die in den Jahren zuvor – insbesondere in Die Schule neu denken – formulierte Kritik Hentigs am schulischen Umgang mit den Künsten bleibt insofern also bestehen, sie wird nun allerdings flankiert durch ein grundsätzliches Plädoyer für die „unverschulte“ Bildungskraft der Künste in Form „ganz normale[r] Lebenstätigkeiten“ 716. Dieses Plädoyer Hentigs, verbunden mit dem wiederholten Hinweis auf jene „alle Bildungsansprüche befriedigenden Schule“, die einzurichten er sich zutraue und in der neben „science“ vor allem Theater und Musik getrieben würde 717, zeigt allerdings zugleich, dass Hentig die grundsätzliche Hoffnung auf eine Schule, die den genannten Bildungsanlässen – und damit auch den Künsten – gerecht würde, trotz aller Kritik nicht aufgegeben hat.718 Die Realisierung einer entsprechenden, von ihm gemeinten „Bildungs-Schule“ allerdings erfordere eine „ganz andere Gliederung des gesamten Pflichtschultraktes unseres Bildungswesens“, „einen anderen vertikalen Aufbau, einen Ausgleich der Bildungsabsichten und -mittel unter den Schulen in der Horizontalen, eine andere Anordnung der Gegenstände und eine andere Zeit- und Raumverteilung“.719 Diese Spannung z wischen dem Bildungspotential der Künste auf der einen und den Methoden und Verfahren der Regelschule auf der anderen Seite thematisiert Hentig schließlich knapp zwei Jahre später noch einmal eingehender im Rahmen seines Essays Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff 720. In diesem 1998 erschienenen, mit insgesamt knapp siebzig Seiten eher schmalen Band
frühester Kindheit anfangen kann und weil kein Ende der Bildungseinrichtung, kein Examen die so verstandene Bildung abschließt.“ (Ebenda, S. 137) 713 Ebenda, S. 112 714 Ebenda 715 Ebenda, S. 135 716 Ebenda, S. 103 717 Ebenda, S. 135 718 Sämtliche seiner „zehn Quellen von bildender Wirkung“ sind in d iesem Sinne denn auch bewusst so gewählt, dass sie, wie Hentig selbst es formuliert, „in der Schule veranstaltet“ werden könnten (ebenda, S. 103). 719 Ebenda, S. 142 f. 720 Hentig 1998b
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setzt Hentig sich zunächst mit dem neuen „Heilswort“ 721 Kreativität auseinander, nimmt Geschichte, Mängel und Probleme der Kreativitätsforschung und -förderung in den Blick und widmet sich in der zweiten Hälfte seines Essays schließlich auch der „Rolle der Kunst“ 722, wenn er anmerkt, der „in den letzten dreißig Jahren erwachsenen pädagogischen Bewegung“ der Kreativitätsförderung eine „skeptische Sympathie“ entgegengebracht zu haben 723. Er präzisiert: „Meine Sympathie rührt hauptsächlich von meinem Interesse an der Kunst her, an der Kunst im Werde- und Bildungsgang junger Menschen. Ihre Wirkungen sind stark und durch keine Didaktik wirklich zu domestizieren. Zu verderben schon! In einer verwalteten, ausgemessenen, geplanten, funktionalisierten und sich immer abstrakter darstellenden Welt erwächst ein gesteigertes Bedürfnis nach einer bestimmten Funktion der Kunst: Sie erkundet, was möglich ist […], so wie die Wissenschaft erkennt, was wirklich ist, und Politik die Verhältnisse zu dem gestaltet und ordnet, was sein soll. […] Wenn mir diese Erscheinung in unserer Welt und im Leben des einzelnen wichtig ist, wenn das Prinzip Kunst also auch von Kindern und jungen Menschen erfahren werden sollte und wenn sich eine Chance bietet, diese Funktion der Kunst in der Schule wirksam zu machen, den Kunstunterricht von der kunstgewerblichen Bastelei, von der Künstlerimitation, von überfordernder Kunsttheorie und Kunstgeschichte wegzuholen und einer fundamentalen pädagogischen Aufgabe zuzuwenden, dann ist mir das öffentliche I nteresse an Kreativität ein nützlicher Bundesgenosse.“ 724
Die Sympathie, die er der „neuen Kunsterzieherbewegung, der Idee der Kreativitätsförderung“ entgegenbringe, so Hentig, erkläre sich insofern aus seiner „Vorliebe für Kunst als Mittel der Erziehung und für ihre erneuernde Funktion in der Gesellschaft“.725 Seine mit dieser Sympathie verbundene Skepsis allerdings werde ebenfalls durch eine „ganze Reihe von Gründen“ genährt – darunter „falsche Gegnerschaft“, „falsche Berühmung“ und „falsche Auslegungen“ der Kreativität, „falsche Instrumente der Kreativitätsförderung“ und „falsche Motive“ derselbigen.726 So kritisiert Hentig unter anderem, dass „[d]ie Bildung“ „die Sichtweise der Wirtschaft“ sowie den Auftrag, den diese ihr erteile, akzeptiere und ihren „Anspruch auf eine Kreativität“ preisgebe, die die „Entfaltung eines – vernachlässigten – Teils unserer Persönlichkeit“ meine.727 Kreativität aber lasse sich nicht „in den Dienst einer herrschenden Ordnung oder gegebenen Einrichtung“ nehmen – ein „Produkt einer solchen“, 721 Ebenda, S. 9 722 Ebenda, S. 41 723 Ebenda 724 Ebenda, S. 41 f. (Hervorhebung im Original) 725 Ebenda, S. 48 726 Ebenda 727 Ebenda, S. 68
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zum Beispiel des Marktes oder der Schule, könne sie nicht sein.728 Dementsprechend schreibt er denn auch mit Blick auf die von ihm wahrgenommenen „Praxismängel“ der Kreativitätsförderung: „Die Ablösung vom Leitbild des Wissens oder der Denkleistungen hat der Förderung tatsächlicher Kreativität nichts eingebracht und den Unterricht unverändert gelassen. Nicht einmal der Zeichen und Malunterricht, der Kunstunterricht, hat davon profitiert. Der hat sich – wie aller Unterricht – der Aufnahme und Wiedergabe verschrieben. Wäre ich Kultusminister, und man forderte von mir die Erhöhung der Stundenzahl für die Kunstfächer, weil doch in ihnen die uns so wertvolle Phantasie, die Eigenständigkeit, die schöpferischen Kräfte gefördert würden, ich gewährte sie nicht, nicht jedenfalls mit dieser Begründung und nicht ohne daß sich die ‚Fächer‘ gründlich ändern.“ 729
Die Formel der „skeptischen Sympathie“ kann in diesem Sinne durchaus als kennzeichnend für die von Hentig im Laufe der 1990er Jahre entwickelte Haltung gegenüber dem pädagogischen Umgang mit den Künsten verstanden werden: Einerseits weist er dem Gesamtbereich der Künste eine ungemein wichtige Rolle im Bildungsprozess des Menschen zu – weshalb er den pädagogischen Bemühungen um Kunst und Ästhetik auch eine grundlegende Sympathie entgegenbringt –, andererseits sieht er insbesondere die Regelschule nicht dazu in der Lage, das von ihm wahrgenommene Bildungspotential der Künste in angemessener Weise zu nutzen. Vielmehr drohe, wie Hentig es formuliert, die didaktische Indienstnahme der Kunst deren kaum domestizierbare Wirkungen im „Werde- und Bildungsgang junger Menschen“ zu „verderben“ 730. Daher seine Ablehnung gegenüber den „ästhetischen Antworten“ 731 der Pädagogik, daher seine Skepsis gegenüber den Bemühungen der Kreativitätserziehung. Vor d iesem Hintergrund widmet sich Hentig im weiteren Verlauf der 1990er und 2000er Jahre schließlich auch verstärkt außerschulischen Institutionen und Bildungsanlässen im Bereich ästhetischer Bildung und Erziehung, wie etwa dem Berliner Grips-Theater, dem Mobilen Th eater Bielefeld oder dem Pergamon-Museum Berlin 732. Neben dem Kinder- und Jugendtheater – welches insbesondere in den Jahren 1999 bis 2008 zunehmend in den Fokus des hentigschen Interesses rückt – ist es dabei erneut auch die bildende Kunst, der Hentig sich in systematischer Perspektive zuwendet: So hält er im November 1999 vor der Deutschen Schillergesellschaft in Marbach einen längeren Vortrag zur Frage „Was ist Kunst?“ 733, in dem er sich 728 Ebenda 729 Ebenda, S. 30 f. 730 Ebenda, S. 41 731 Hentig 1993, S. 167 732 Vgl. bspw. Hentig 1999h; Hentig 2000c; Hentig 2003b oder Hentig 2005a. 733 Hentig 2005a
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eingehend sowohl mit den ästhetischen Schriften Schillers als auch mit aktuellen Phänomenen der bildenden Kunst auseinandersetzt, und veröffentlicht im darauffolgenden Jahr unter dem Titel „Mit meinen Schülern im Pergamon-Museum“ 734 zudem eine „kleine Propädeutik der Bildenden Kunst“ 735: einen Bericht über seinen Besuch des Berliner Pergamon-Museums Ende der 1950er Jahre mit seiner damaligen Unterprima des Tübinger Uhland-Gymnasiums.736 Dieses verstärkte, auch in jenem Pergamon-Aufsatz erneut zutage tretende I nteresse Hentigs an außerschulischen Institutionen und Bildungsanlässen im Bereich ästhetischer Bildung und Erziehung geht zugleich einher mit einer zunehmenden Konzentration Hentigs auf die eigene, autobiographische Erfahrung im Umgang mit den Künsten. Zwar hatte er bereits zuvor seine persönlichen Erfahrungen immer wieder in seine theoretischen Reflektionen zu Fragen der Ästhetik im Allgemeinen sowie der ästhetischen Bildung und Erziehung im Besonderen mit einfließen lassen – ein Umstand, der ihm bereits 1986 den Vorwurf Gunter Ottos eingebracht hatte, in seinen Schriften zur ästhetischen Erziehung sei das „subjektive Maß“ an die Stelle des „politischen Anspruchs“ 737 getreten –, ab Ende der 1990er Jahre allerdings beginnt diese Erfahrungsebene eine immer zentralere Rolle in seinen Veröffentlichungen zum Thema einzunehmen: sei es im Zusammenhang mit der von ihm herausgegebenen Lyrik-Anthologie Meine Deutschen Gedichte 738, in der er ganz gezielt das seiner Gedichtauswahl zugrunde liegende „radikale Subjektivitätsprinzip“ 739 herausstellt; im Rahmen seiner autobiographisch angelegten Kurzessays zu Johann Sebastian Bach 740, Franz Schubert 741 oder Lili Marleen 742 oder im Zusammenhang mit der von ihm 2007 veröffentlichten zweibändigen Autobiographie Mein Leben – bedacht und bejaht 743, in der er immer wieder auch die eigene „ästhetische Erziehung“ 744, die eigenen, zumeist außerschulischen Bildungserfahrungen im Umgang mit den Künsten thematisiert. So schildert er beispielsweise unter dem Stichwort „‚Bildung‘ außerhalb der Schule“ ausführlich die Opern- und Theaterbesuche während seiner Schulzeit in Berlin zu Beginn der 1940er Jahre 745, berichtet von den „zwei wichtigen ‚Lerngelegenheiten‘“ Musik und Theater während seines Studiums in Göttingen Ende desselben
734 Hentig 2000c 735 So der Untertitel des Aufsatzes. 736 Siehe hierzu auch Hentig 2009c, S. 526 f. 737 Otto 1986, S. 44 738 Hentig 1999d 739 Ebenda, S. 11 740 Hentig 2002b 741 Hentig 2004a 742 Hentig 2004d 743 Hentig 2007e und Hentig 2007f 744 Hentig 2009c, S. 71 745 Ebenda, S. 126 ff.
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Jahrzehnts 746 oder hebt die Bedeutung von Literatur, Film und Musik in seinem Leben als „alter Mann in Berlin“ hervor 747. Auch nach Veröffentlichung von Ergötzen, Belehren, Befreien im Jahr 1985 publiziert Hentig also regelmäßig zu Fragen der Ästhetik im Allgemeinen sowie der ästhetischen Bildung und Erziehung im Besonderen. Die Rezeption und öffentliche Wahrnehmung seiner entsprechenden Schriften allerdings wandelt sich auch in d iesem Zeitraum erneut deutlich: So wird Hentig zwar auch in den Jahren nach 1985 gelegentlich mit seinen neueren Arbeiten zur ästhetischen Bildung und Erziehung zitiert, aber weder in der fachdidaktischen noch in der allgemeinpädagogischen Diskussion zum Thema spielen diese eine prägende Rolle. Die von Hentig im Bereich ästhetischer Erziehung noch in den 1960er und 1970er Jahren, mit Einschränkung sogar noch in den frühen 1980er Jahren eingenommene Rolle als „Anstoßgeber von außen“ 748 fällt anstelle dessen nun verstärkt anderen Autoren zu – darunter insbesondere Klaus Mollenhauer, dem es gelingt, mit Arbeiten wie dem 1988 in der Zeitschrift für Päda gogik erschienenen Aufsatz „Ist ästhetische Bildung möglich?“ 749 eine neuerliche „Renaissance des Ästhetischen“ 750 auch im Nachdenken über Fragen der Bildung und Erziehung anzustoßen 751. Dies ist eine Entwicklung, in deren Zusammenhang
746 Ebenda, S. 289 f. 747 Ebenda, S. 1038 ff. Noch in seiner letzten längeren Veröffentlichung, dem im Frühjahr 2011 erschienenen Aufsatz „Ist Bildung nützlich?“ (Hentig 2011b), ist es insbesondere die „heilende“ Wirkung von Musik und Literatur, die Hentig hervorhebt, wenn er das Schicksal einer von ihm „NN“ benannten Person thematisiert, die sich „plötzlich in eine öffentliche, an Heftigkeit und Misslichkeit zunehmende und jedenfalls nicht abebben wollende Verleumdung hineingezogen“ sehe, in der „jede Äußerung seinerseits den Furor der detractores“ nur nähre (ebenda, S. 76 f., Hervorhebung im Original). Im Fazit d ieses, von zahlreichen Rezensenten in autobiographischer Perspektive als Hentigs Beschreibung seiner eigenen Lebenssituation nach dem Odenwaldschulskandal interpretierten Textes (vgl. bspw. Winkel 2011, S. 13), heißt es schließlich: „Der Hauptnutzen [der Bildung] erwächst aus dem Nutzlosen – der Welt des ‚schönen Scheins‘, dem Spiel der Fantasie, der Musik. In der Dichtung, in der geformten und gedeuteten Erfahrung läßt sich sowohl Schutz, Heilung, ein Heimathafen für die angeschlagene Seele als auch Anlaß und Anleitung zu Abwehr und Aufstand finden.“ (Hentig 2011b, S. 94) 748 Vgl. Fäustle 1967, S. 1. 749 Mollenhauer 1988b 750 Lenzen 1998, S. 11 751 So resümiert Hans-Günther Richter 2003 in seiner Geschichte der ästhetischen Erziehung, Klaus Mollenhauer habe seit Beginn der 1980er Jahre „die Konzepte der ästhetischen Erziehung mit anregenden Überlegungen“ begleitet, und er ergänzt: „Während in dem Jahrzehnt zuvor H. v. Hentig fordernd und mahnend direkt zu Fragen der ästhetischen Erziehung Stellung genommen, sie auf ihre Tradition verwiesen hatte, versucht K. Mollenhauer indirekt, an vielen historischen Problemstellungen anknüpfend, Vergessene Zusammenhänge […] zwischen Literatur, Kunst, Philosophie und Pädagogik aufzuklären und den heutigen Lesern/Pädagogen vor Augen zu führen […].“ (Richter 2003, S. 353, Hervorhebung im Original) Zur Bedeutung Mollenhauers
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sich nicht nur eine verstärkte Bemühung beobachten lässt, „den Aspekt der Ästhetik in alle Bereiche erziehungswissenschaftlicher Reflexion zu integrieren“ 752, sondern zugleich ein Wandel der verwendeten Begrifflichkeiten von „ästhetischer Erziehung“ hin zu „ästhetischer Bildung“.753 Hentigs Veröffentlichungen zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung werden dementgegen – und wie weiter oben bereits angedeutet – ab Mitte der 1980er Jahre immer weniger in programmatischer Perspektive hinsichtlich ihres etwaigen Ertrags für die aktuelle Diskussion zum Thema gelesen, als vielmehr in historiographischer Perspektive hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Entwicklung ästhetischer Erziehung insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren. So setzten sich nicht nur zahlreiche Autoren mit Einzelaspekten der historischen Rolle Hentigs in Sachen ästhetischer Erziehung auseinander 754, auch in den einschlägigen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der „ästhetischen Erziehung“, der „Musikpädagogik“, des „Zeichenund Kunstunterrichts“ oder der „musikalischen Bildung“ finden sich immer wieder gesonderte Abschnitte oder Kapitel zu Hentig und dessen Arbeiten zum Thema.755 Weitestgehend unstrittig bleibt dabei – trotz aller Unterschiede im Blickwinkel der einzelnen Autorinnen und Autoren – die grundsätzliche Bedeutung Hentigs für die Entwicklung ästhetischer Erziehung in den 1960er und 1970er Jahren: So gilt dieser nicht nur als hauptverantwortlich für die Renaissance des Begriffs „ästhetische Erziehung“ gegen Ende der 1960er Jahre, er wird darüber hinaus immer wieder auch als zentraler Motor und Initiator der radikalen Ausweitung und Politisierung des gesamten neu konstituierten Feldes ästhetischer Erziehung im Verlauf der 1970er Jahre herausgestellt.756 Dabei sind es insbesondere zwei Veröffentlichungen Hentigs, die auch in historiographischer Perspektive immer wieder genannt und zitiert werden: der Aufsatz „Über die Ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ 757 von 1967 sowie der für den Deutschen Bildungsrat verfasste Beitrag „Das Leben mit der Aisthesis“ 758 von 1969.
für die Diskussion zum Thema „Ästhetische Bildung und Erziehung“ seit Mitte der 1980er Jahre siehe darüber hinaus Dietrich 2015. 752 Ehrenspeck 2001, S. 13 (Hervorhebung C. T. Z.) 753 Siehe hierzu genauer unten, S. 292 ff. 754 Vgl. bspw. Boelhauve 1988 zu Hentigs Bedeutung für die Auditive Wahrnehmungserziehung, Noetzel 2006, S. 15 ff. zu Hentigs Rezeption der ästhetischen Schriften Schillers oder Lowinski 2007, S. 38 ff. zu Hentigs Bedeutung für die Geschichte der Kulturpädagogik. 755 Vgl. Richter 2003, S. 305 ff.; Gruhn 2003, S. 341 ff.; Ehrenforth 2010, S. 312 ff.; Legler 2011, S. 488 ff. 756 Vgl. bspw. Seufert 1993, S. 74 ff.; Brenk 2003, S. 371; Gruhn 2003, S. 341 f.; Richter 2003, S. 305 ff.; Engel 2004, S. 24 ff.; Krieger 2004, S. 96; Franke 2007, S. 111 f.; Schatt 2007, S. 102 ff. 757 Hentig 1967c 758 Hentig 1969a, S. 29 ff.
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Während allerdings bezogen auf die historische Bedeutung Hentigs für die Entwicklung ästhetischer Erziehung in den 1960er und 1970er Jahren weitestgehend Einigkeit zwischen den verschiedenen Autorinnen und Autoren herrscht, besteht doch zugleich ein deutlicher Dissens in der Beantwortung der Frage, w elche Rückschlüsse aus dieser historischen Bedeutung für die inhaltliche Bewertung der hentigschen Schriften zum Thema gezogen werden müssen. So resümiert etwa Karl Heinrich Ehrenforth – hier bezogen auf den Bereich der musikalischen Bildung –, das von Hentig im Laufe der 1960er Jahre entwickelte „Aisthesis-Konzept“ habe zwar „auf Wichtiges hingewiesen“, es sei aber „schon deshalb gescheitert“, weil die „ästhetisch-pädagogischen Postulate“ Hentigs „in musikalischer Hinsicht nur sehr begrenzt anwendbar“ seien 759. Ihre „unkritische Applikation“ habe „in Sackgassen führen“ müssen, so dass das „an Hentig orientierte Konzept der auditiven Kommunikation bzw. der auditiven Wahrnehmungserziehung“ missraten sei.760 Diesem Verständnis Ehrenforts nach wäre das Missraten der „an Hentig orientierten“ fachdidaktischen Konzeptionen also unmittelbar auf eine mangelnde Anwendbarkeit der hentigschen „Postulate“ zurückzuführen, so dass mit dem Scheitern jener Folgekonzepte auch das ursprüngliche „Aisthesis-Konzept“ Hentigs als „gescheitert“ angesehen werden müsste. Dementgegen vertritt Hans-Günther Richter in seiner Geschichte der ästhetischen Erziehung die These, Hentigs Arbeiten zum Thema s eien im Laufe der 1970er Jahre schlichtweg „(miss)verstanden“ 761 oder gar „entstellt“ 762 worden: Die „Nachbeter“ der hentigschen Forderungen, so Richter, hätten sich „dasjenige“ aus dessen „Hypothesen herausgesucht und in den Rang von Maximen erhoben […], was in ihr (meist politisch-materialistisches) Konzept“ gepasst habe – mit der Folge, dass sich „die Auffassungen [Hentigs] über die Wirkungen des Schönen kunstpädagogisch in den nachfolgenden Konzepten in fast allen wesentlichen Punkten verändert oder gar in ihr Gegenteil verkehrt“ hätten.763 Ganz ähnlich argumentiert auch Markus Brenk in seiner 2003 erschienenen Studie Kunsterziehung als pädagogisches Problem der Schule, wenn er eine „verkürzte“ 764 Wahrnehmung des hentigschen Konzepts ästhetischer Erziehung auch im Bereich der Musikpädagogik konstatiert und schreibt: „Wie die Umsetzung dieser [von Hentig formulierten] Prinzipien ästhetischer Erziehung in fachdidaktische Konzeptbildung, z. B. im Kunstunterricht, auf den sich die Ästhetische Erziehung in erster Linie bezog, dann auf den Deutschunterricht und schließlich auf den Musikunterricht, zeigt, gelang es in diesen Versuchen offenbar jedoch nicht immer, die historisch tradierten Argumentationsmuster, auf die sich v. Hentig bezieht, konsequent 759 Ehrenforth 2010, S. 492 760 Ebenda (Hervorhebung im Original) 761 Richter 2003, S. 306 762 Ebenda, S. 307 763 Ebenda, S. 308 (Hervorhebung im Original) 764 Brenk 2003, S. 372
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fachlich zu übertragen. Sie gerieten […] nahezu aus dem Blick. Die musikdidaktischen Konzepte, die die aisthesis ins Zentrum ihrer fachlichen Begründung rückten, bezogen sich zwar auf eine eminent politische Deutungsrichtung klassischer ästhetischer Erziehung (z. B. Schillers), die durch von Hentig auch an die Musikerziehung vermittelt wurde. Gemeinsam ist diesen Konzepten aber die Zurückstufung des Kunstwerks durch einen entdifferenzierten Begriff von Kunst und zugleich die pädagogisch-politische Aufwertung des ästhetisch wahrnehmenden Subjektes.“ 765
Nach d iesem Verständnis – das sich ganz ähnlich auch bei Wilfried Gruhn 766 und Thomas Ott 767 findet – wäre die Wirkungsgeschichte der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung im Laufe der 1970er Jahre also in erster Linie auf eine verkürzte Rezeption derselbigen zurückzuführen, so dass ein „Scheitern“ der an Hentig orientierten Folgekonzepte nicht zwangsläufig auch als Scheitern des hentigschen Ansatzes selbst zu werten wäre. Vor dem Hintergrund dieser Differenzen unterscheiden sich schließlich auch die Bewertungen jenes von Hentig im Laufe der 1970er und 1980er Jahre vollzogenen Wandels weg von der Forderung nach einer ästhetischen Erziehung als „Übung in der aisthesis“ hin zur „Kunst als Maßstab der Ästhetischen Erziehung“. So resümiert etwa Birgit Engel in ihrer 2004 erschienenen Studie Spürbare Bildung, Hentig habe die „von ihm selbst unterstellten, über die künstlerischen Fachgrenzen hinausweisenden Versprechungen des Ästhetischen“ später „grundsätzlich relativiert“ und versucht, „den Geltungsbereich der spezifischen Kunsterfahrung wieder auf das gesellschaftlich anerkannte Feld der Kunst zu konzentrieren“ 768. In eine ganz ähnliche Richtung zielt auch Karl Konrad Seufert, wenn er mit Blick auf Hentigs Thesen zum „Leben mit der Aisthesis“ schreibt, selbiger habe „das alles auf dem Kölner Kongreß 1979 [sic!] im Grunde widerrufen“ 769. Hans-Günther Richter wiederum möchte das „umfangreiche Referat“ Hentigs auf dem Kunstpädagogischen Kongress 1980 verstanden wissen als „Abrechnung mit den ewig Progressiven“ sowie als „Verdeutlichung der (neuen) eigenen Position“ Hentigs, welche, so Richter, „von der (klärenden) Interpretation der alten Auffassung“ bis zum „(unklaren) Widerruf“ und zur „Verurteilung“ der von ihm (mit-)gerufenen „Geister“ reiche 770. Ein zentraler Streitpunkt in der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung ist in dieser Hinsicht immer auch die Frage nach deren inhaltlicher Kontinuität: Lässt sich jener von Hentig Laufe der 1970er und 1980er Jahre vollzogene Wandel tatsächlich, wie er selbst es verstanden 765 Ebenda, S. 371 766 Vgl. Gruhn 2003, S. 343. 767 Vgl. Ott 2006, S. 49 f. 768 Engel 2004, S. 29 769 Seufert 1993, S. 75 770 Richter 2003, S. 310
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wissen möchte, im Sinne einer dialektischen Bewegung als „in sich folgerichtig“ 771 begreifen, oder muss seine Forderung nach der „Kunst als Maßstab der Ästhetischen Erziehung“ vielmehr als grundsätzliche Relativierung seiner vorherigen Position verstanden werden? Mit anderen Worten: Gibt es überhaupt ein Konzept ästhetischer Erziehung nach Hartmut von Hentig oder handelt es sich vielmehr um zwei grundlegend verschiedene Konzepte: ein enges (Ästhetische Erziehung als „Übung in der aisthesis“) und ein weites („Die Kunst als Maßstab der Ästhetischen Erziehung“)? Spricht die zum Teil überaus widersprüchliche Rezeption der hentigschen Veröffentlichungen zum Thema vielleicht sogar dafür, dass diese gar keine eigenständige, klar umrissene Konzeption beinhalten, sondern sich vielmehr in einer losen Sammlung vager Vorschläge und einander widersprechender Überlegungen erschöpfen? Eng verbunden mit diesen Fragen nach der inhaltlichen Kontinuität der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung ist dabei zugleich die Frage nach der Anwendbarkeit der entsprechenden Schriften Hentigs auf den aktuellen Diskurs zum Thema: eine Frage, die – was durchaus bemerkenswert ist – in systematischer Perspektive vornehmlich im Bereich der Musikpädagogik diskutiert wird 772. So resümiert etwa Karl Heinrich Ehrenforth im Anschluss an seine oben bereits thematisierte historiographische Auseinandersetzung mit dem hentigschen „Aisthesis-Konzept“, es sei zwar „erkennbar, welche Wirkungen der Hentig’sche Ansatz und mit ihm der von Adorno“ in den 1970er Jahren für die Geschichte der musikalischen Bildung gehabt hätten, „zumindest in pädagogischen Anwendungszusammenhängen“ allerdings h ätten beide Positionen „heute keine Chance mehr“ 773. Dementgegen möchte Wolfgang Martin Stroh in seinem im Jahr 2002 in der Zeitschrift Diskussion Musikpädagogik erschienenen Aufsatz „Musik oder Musikunterricht in der Schule?“ das von H entig an den Bielefelder Schulprojekten entwickelte Wahlkurskonzept als „erstaunlich intakten Alternativplan“ in Sachen Musikunterricht verstanden wissen, durch dessen Anwendung sich, wie Stroh es formuliert, „ein Knoten lösen“ ließe, „um dessen Auflösung sich die aktuelle musikpädagogische Diskussion“ nach wie vor bemühe 774. Ganz ähnlich argumentiert auch Wilfried Gruhn, wenn er 1997 in einem Aufsatz zum Thema „‚Progressive Education‘ – neu gesehen“ fragt: „Hat es einen Sinn, sich angesichts aktueller Fragen an die Musikpädagogik mit historischen Personen zu beschäftigen und deren pädagogische Visionen zu durchleuchten, die sich doch nicht oder nicht in vollem Umfang in der öffentlichen Schule durchgesetzt haben? Ich meine, daß es lohnt und auch Sinn ergibt, sich auf konzeptionelle Visionen als fernen Referenzpunkt 771 Hentig 1985e, S. 20 f. 772 Dieser Umstand ist insofern bemerkenswert, als dass Hentig sich verglichen mit Kunst, Musik und Theater zum Bereich der Musikpädagogik am wenigsten geäußert hat. (Siehe hierzu auch oben, Fußnote 508.) 773 Ehrenforth 2010, S. 494 774 Stroh 2002, S. 25 f.
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eigenen Denkens und Handelns einzulassen. Verfolgt man die pädagogischen Reformimpulse bis in die Gegenwart, stößt man unweigerlich auf den Namen Hartmut von Hentig und seine konzeptionelle Innovation der Laborschule Bielefeld (1974) – eine lebensvolle, vitale Schule, die seit über zwanzig Jahren erfolgreich arbeitet.“ 775
Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen ist es schließlich nicht weiter verwunderlich, dass es mit Gregor Pongratz ebenfalls ein Musikpädagoge ist, der sich in den Jahren nach der Jahrtausendwende in programmatischer Perspektive am ausführlichsten auf Hentig und dessen Schriften zur ästhetischen Erziehung bezieht. So veröffentlicht P ongratz – von 1999 bis zu seinem frühen Tod im Jahre 2007 Leiter der Musikabteilung am Institut für Kunst und Musik der Pädagogischen Hochschule Heidelberg – im Jahr 2006 einen über 700 Seiten starken Band zum Thema Spielfilm-Interpretation und ‚spielerische‘ Film- Gestaltung mit Musik 776, in dem er sich gemeinsam mit einigen anderen Autorinnen und Autoren der „Bildung einer ästhetischen Urteilsfähigkeit über die symbolorientierte Kunstfilm-Interpretation“ 777 widmet. Die zentrale Bedeutung der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung für dieses zwischen Film- und Musikpädagogik angesiedelte Vorhaben stellt Pongratz bereits in der Einleitung des Bandes heraus: „Das ästhetische Bilden und das daraus hervorgegangene ästhetische Bildungskonzept zur Interpretation von Spielfilmen nimmt seinen Ausgang von zwei Denkrichtungen ästhetischer Bildung bzw. Erziehung. Es sind zum einen Hartmut von Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung in seinem Werk ‚Ergötzen, Belehren, Befreien‘ und zum anderen die polyästhetische Erziehung des Begründers Wolfgang Roscher und deren Weiterentwicklung. Beide Denkrichtungen sind schwerpunktmäßig hermeneutisch und phänomenologisch ausgerichtet und geben vielseitige theoretische Anregungen zur Exploration ästhetischer Bildungsprozesse im Alltag und mittels der Kunst. Dabei waren für diese Arbeit vor allem Hentigs ‚Schönheitsbegriff‘ und sein Verständnis von Kunst leitend […].“ 778
Im anschließenden Abschnitt entwickelt Pongratz sodann „in Anlehnung an Hartmut von Hentig“ 779 sowie in systematischer Auseinandersetzung mit dessen neueren wie
775 Gruhn 1997, S. 243 (Hervorhebung im Original). Im weiteren Vorlauf seines Aufsatzes konzentriert Gruhn sich dann allerdings vornehmlich auf John Dewey als möglichen Impulsgeber eines „wirklichen, genuin musikalischen Lernens“ (ebenda, S. 265), wobei er Hentig zwar als denjenigen bezeichnet, der den „pragmatisch funktionalistische[n] Kunstbegriff“ Deweys im deutschsprachigen Raum am „konsequentesten [..] aufgegriffen und weitergeführt“ habe (ebenda, S. 262), Hentigs entsprechende Schriften zum Thema diesbezüglich aber nicht eingehender analysiert. (Zu Hentigs Rezeption der ästhetischen Schriften Deweys siehe darüber hinaus unten, S. 172 ff.) 776 Pongratz 2006c 777 Pongratz 2006b, S. 11 778 Ebenda, S. 8 f. 779 Pongratz 2006a S. 58
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älteren Veröffentlichungen zum Thema ein Konzept „Ästhetischen Bildens“, das im weiteren Verlauf der Arbeit die Grundlage für die verschiedenen Überlegungen Pongratz‘ und seiner Mitautorinnen und -autoren zur titelgebenden „Spielfilm-Interpretation und ‚spielerische[n]‘ Film-Gestaltung mit Musik“ bildet.780 Den in d iesem Zusammenhang thematisierten „ästhetischen Erziehungsansatz“ 781 Hentigs sowie dessen „Verständnis von Schönheit und Kunst“, „Ästhetik und ästhetischer Bildung“ 782 hebt Pongratz dabei zwar immer wieder als zentralen Bezugspunkt s einer eigenen Überlegungen heraus, er fügt allerdings zugleich einschränkend in Form einer Fußnote hinzu: „An Hartmut von Hentigs ästhetischem Erziehungsansatz können einige Aspekte kritisiert werden wie z. B. sein scheinbar widersprüchlich aufzunehmender Gedanke von der Kunst als ‚Funktionsbegriff‘, die über ihre Wirkungen definiert wird, im Gegensatz zur Kunst als ‚Träger ewiger Werte‘ etc. Doch steht sein Ansatz zur pädagogischen Fundierung des hier entwickelten ästhetischen Bildungs-Konzeptes im Mittelpunkt des Interesses. Von daher werden nur seine dafür relevanten Aussagen und Begründungszusammenhänge aufgenommen und einer kritischen Würdigung unterzogen.“ 783
Auch Pongratz also sieht sich mit der Frage nach der inhaltlichen Kontinuität der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung konfrontiert. Er löst dieses Problem allerdings verhältnismäßig pragmatisch, indem er lediglich die für seine eigenen Überlegungen „relevanten Aussagen und Begründungszusammenhänge“ berücksichtigt und sich darüber hinaus nicht weiter um die von ihm wahrgenommenen „schein baren Widersprüche“ und „Gegensätze“ im hentigschen Konzept kümmert. Dies mag denn auch erklären, weshalb sich Pongratz im weiteren Verlauf seiner Arbeit an keiner Stelle näher mit der historischen Rolle Hentigs für die Geschichte der ästhetischen Erziehung sowie mit dessen vorangegangener Rezeption insbesondere im Bereich der Musikpädagogik auseinandersetzt. Mit einer solch ahistorischen wie zugleich explizit theoriebildenden Lesart der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung bildet Pongratz allerdings eine deutliche Ausnahme in der neueren Diskussion zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung. Zwar finden sich insbesondere im Bereich der Kunst- und Theaterpädagogik immer wieder vereinzelt systematische Bezugnahmen auf Hentig und dessen Veröffentlichungen zum Thema 784, weder in der fachdidaktischen noch 780 Vgl. hierzu insbesondere das Kapitel „Ästhetisches Bilden in Anlehnung an Hartmut von Hentig“ (ebenda S. 58 ff.). 781 Ebenda, S. 57 782 Ebenda 783 Ebenda 784 Für die Kunstpädagogik siehe etwa Niederschmid 1999, S. 20 und Münte-Goussar 2008, S. 21 f.; für die Theaterpädagogik siehe Schulz 2003, S. 276 ff.; Wolting 2007, S. 366 ff. und Wolting 2008, S. 396 ff. Insbesondere im Bereich der Theaterpädagogik wird darüber hinaus
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in der allgemeinpädagogischen Diskussion allerdings spielen dessen entsprechende Schriften eine prägende Rolle. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch an der Art und Weise, in der Hentigs neuere Veröffentlichungen zum Thema in den zuständigen Fachpublikationen besprochen werden: Die Zeitschrift Kunst + Unterricht etwa druckt erst im Jahr 2002 eine Rezension des bereits 1998 veröffentlichten Hentig- Essays Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff – auf einer knappen halben Seite im Rahmen einer Sammelrezension zum Thema „Kreativität“ 785 –, während andere Zeitschriften wie beispielsweise die BDK -Nachrichten oder Musik und Bildung den genannten Essay Hentigs überhaupt nicht besprechen. Auch die Veröffentlichungsorte der betreffenden Arbeiten Hentigs wandeln sich im Laufe der 1990er und 2000er Jahre deutlich: Waren dessen Arbeiten zum Themenbereich ästhetische Bildung und Erziehung in den 1960er und 1970er Jahren in der Regel noch an prominenter Stelle erstveröffentlicht und nicht selten an ebenso prominenter Stelle nachgedruckt worden, erscheinen seine neueren Arbeiten zum Thema nun oftmals an entlegener Stelle, werden in der Regel kaum mehr nachgedruckt und infolgedessen auch kaum mehr zitiert.786 Die spezielle Wahrnehmung Hentigs im Bereich ästhetischer Bildung und Erziehung unterscheidet sich in diesem Sinne zu Beginn der 2010er Jahre deutlich von dessen zeitgleicher, in Kapitel 2.1 dargestellten, allgemeinen Wahrnehmung: Während Hentig in Öffentlichkeit und Erziehungswissenschaft als einer der wichtigsten Päda gogen der vorangegangenen Jahrzehnte gilt und seinen neueren Arbeiten zu Fragen der Bildung und Erziehung auch weiterhin ein ungemein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit zukommt, nimmt er in der systematischen Diskussion zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung allenfalls eine Nebenrolle ein.787 Vom „ständige[n] eine spezifische Formulierung Hentigs immer wieder aufgenommen und zitiert: dessen 1996 in Bildung. Ein Essay getätigte Aussage, beim „Theaterspiel“ handele es sich um eines der „machtvollsten Bildungsmittel […] die wir haben“ (Hentig 1996a, S. 119), weshalb er, Hentig, sich die „Einrichtung einer alle Bildungsansprüche befriedigenden Schule“ zutraue, „in der es nur zwei Sparten von Tätigkeiten“ gebe: „Theater und science“ (ebenda, S. 119 f., Hervorhebung im Original) – so etwa bei Bogdal & Kammler 2002, S. 177; Libero 2006, S. 5; Reiss 2009, S. 28; Zirfas 2008 S. 144 f. oder Liebau 2009, S. 61. 785 Grünewald 2002 786 Dies gilt insbesondere für die beiden wichtigsten Beiträge Hentigs zum Themengebiet „bildende Kunst“ nach 1985: den Vortrag „‚… rastlos von Veränderung zu Veränderung‘. Oder: Was ist Kunst?“ (Hentig 2000a) sowie den Aufsatz „Mit meinen Schülern im Pergamon-Museum. Eine kleine Propädeutik zur Ästhetik der Bildenden Kunst“ (Hentig 2000c). Ersterer ist lediglich postalisch über die Deutsche Schillergesellschaft in Form eines schmalen, im Eigenverlag erschienenen Bändchens zu erwerben, der zweite ist ausschließlich in einer nur in kleiner Auflage erschienenen Festschrift für den Musikwissenschaftler Hermann Rauhe abgedruckt. 787 Dieser Umstand wird nicht zuletzt daran deutlich, dass eine Diskussion über die möglichen Folgen des Odenwaldschulskandals für die Bewertung des hentigschen Beitrags speziell zur ästhetischen Bildung und Erziehung an keiner Stelle geführt wird.
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Anreger und Unruhestifter“ 788 im Bereich ästhetischer Erziehung, als der er insbesondere in den Jahren zwischen 1965 und 1985 wiederholt wahrgenommen worden war, wird Hentig somit im Laufe der 1990er und 2000er Jahre mehr und mehr zur „historischen Person“ – zum Protagonisten eines zwar wichtigen, aber nunmehr abgeschlossenen Kapitels in der Geschichte der ästhetischen Erziehung.
4.4 Zwischenfazit: Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte Vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung lässt sich die Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung nun wie folgt zusammenfassen: In den Jahren zwischen 1964 und 1967 setzt Hartmut von Hentig sich im Rahmen zahlreicher Aufsätze und Vorträge sowie anderweitiger Veröffentlichungen und öffentlicher Auftritte intensiv mit Fragen nach dem Zusammenhang von Kunst, Ästhetik, Bildung und Erziehung auseinander. Neben einer formalen Definition des Schönen als „Wirkung“ sowie der Kunst als „Exploration des Möglichen“ steht dabei am Ende dieser Auseinandersetzung die Forderung Hentigs, den Begriff der „musischen Bildung“ durch denjenigen der „ästhetischen Erziehung“ zu ersetzen, sowie der Appell, ästhetische Erziehung als etwas „ganz Elementares und Allgemeines“ zu begreifen: als „Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis – in der Wahrnehmung“ 789. Zwar werden die entsprechenden Arbeiten Hentigs zum Zeitpunkt ihres Erscheinens sowohl von den Vertretern der zuständigen Fachdidaktiken als auch von einer breiten Öffentlichkeit wohlwollend zur Kenntnis genommen, sie können allerdings zunächst keine größere Wirkung auf den zeitgenössischen Diskurs zum Thema entfalten. Dies ändert sich erst mit der Veröffentlichung des Sammelbandes Spielraum und Ernstfall 790 im Jahr 1969 sowie mit der zweiten – unter anderem um den Text „Das Leben mit der Aisthesis“ erweiterten – Auflage von Systemzwang und Selbstbestimmung 791 im selben Jahr: Vom „Fern- und Darüberstehenden“ 792, den Rudolf Leonhard noch 1967 in ihm gesehen hatte, wird Hentig schon bald zu einem der wichtigsten Akteure der kunst- und musikpädagogischen Diskussion der 1970er Jahre. Gemeinsam mit seinem damaligen Assistenten Diethart Kerbs ist er nicht nur mitverantwortlich für eine sich zu Beginn der 1970er Jahre rasch vollziehende Renaissance des Begriffs „ästhetische Erziehung“, auch der schon bald einsetzende Prozess einer fortwährenden Ausweitung und Politisierung des gesamten neu konstituierten Feldes ästhetischer Erziehung steht in engem Zusammenhang mit einer verstärkten Rezeption der 788 Aissen-Crewett 2000, S. 385 789 Hentig 1967c, S. 283 790 Hentig 1969c 791 Hentig 1969d 792 Leonhard 1967, S. 11
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hentigschen Veröffentlichungen zum Thema. Dabei sind es insbesondere zwei Texte Hentigs, denen eine besonders große Wirkung auf den entsprechenden Diskurs der 1970er Jahre zukommt: der Aufsatz „Über die Ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ 793 von 1967 (erneut abgedruckt in Spielraum und Ernstfall) sowie der für den Deutschen Bildungsrat verfasste Beitrag „Das Leben mit der Aisthesis“ 794 von 1969 (erneut abgedruckt in Systemzwang und Selbstbestimmung). Während speziell diese beiden Veröffentlichungen Hentigs mit ihrer Verknüpfung von „politisch-emanzipatorischem Anspruch“ 795 und Entgrenzungsrhetorik offenbar den Nerv der damaligen Zeit treffen, beginnt Hentig selbst sich im Laufe der 1970er Jahre allerdings mehr und mehr von den durch seine eigenen Schriften mit angestoßenen neueren Entwicklungen im Bereich ästhetischer Erziehung zu distanzieren. So wendet er sich nicht nur explizit gegen einen radikal erweiterten, vom ihm als „konturlos“ 796 empfundenen Kunstbegriff, er kritisiert zudem wiederholt die unvermindert voranschreitende Ausweitung ästhetischer Erziehung hin zu einer allgemeinen Wahrnehmungserziehung. Dies ist eine Kritik, die er im Herbst 1980 im Rahmen eines vielbeachteten Vortrags auf dem Kongress des Bundes Deutscher Kunsterzieher noch einmal präzisiert und radikalisiert, wenn er eine „unnötige und ungewollte ‚Entkernung‘ der Ästhetischen Erziehung“ 797 feststellt und beklagt, selbige sei durch ihre „theoretisch begründete Uferlosigkeit banal und pointenlos geworden“ 798. Als Antwort auf die vorangegangene Rezeption seiner eigenen Schriften zum Thema – einschließlich der damit verbundenen „ungewollten Folgen der eigenen Anstöße“ 799 – fordert er sodann eine neuerliche, nunmehr an der „Kunst als Maßstab“ 800 ausgerichtete Wende im Bereich ästhetischer Erziehung, in deren Zusammenhang insbesondere diejenigen Kunstwerke in den Mittelpunkt pädagogischer Auseinandersetzung gerückt werden sollten, die ihre Wirkungen „für viele“, „unbestritten“ und „verlässlich“ getan hätten 801. Diese Forderungen Hentigs – verbunden mit einer offensiv vorgetragenen Kritik an zahlreichen für die Entwicklung ästhetischer Erziehung in den vorangegangenen Jahren mitverantwortlichen Personen – führen sowohl im weiteren Verlauf des Kongresses als auch im Anschluss an diesen zu lebhaften, oftmals kontrovers geführten Diskussionen, im Rahmen derer Hentig unter anderem vorgeworfen wird, seine „früher vertretenen Positionen“ zu widerrufen und „die bescheidene Einkehr in das Reich der Künste“ zu 793 Hentig 1967c 794 Hentig 1969a, S. 29 ff. 795 Legler 2011, S. 312 796 Hentig 1974a, S. 328 797 Hentig 1981b, S. 36 798 Ebenda 799 Ebenda, S. 34 800 Ebenda, S. 50 801 Ebenda, S. 34
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Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte
fordern 802. Hentig selbst reagiert auf diese Diskussionen und Vorwürfe, indem er der bisherigen Rezeptionsgeschichte der eigenen Arbeiten zum Thema mit seinem 1985 veröffentlichten Sammelband Ergötzen, Belehren, Befreien 803 eine kommentierte Auswahl seiner eigenen „Schriften zur ästhetischen Erziehung“ (so der Untertitel des Bandes) entgegenstellt, mit der er versucht, die inhaltliche Kontinuität des eigenen Konzepts ästhetischer Erziehung in möglichst verdichteter Form darzulegen. So bemüht er sich im Vorwort d ieses Bandes, den „Wandel“ der eigenen Einschätzungen und Ansichten im Sinne einer „dialektischen Bewegung“ als „in sich folgerichtig“ zu kennzeichnen 804 und dadurch den von ihm wiederholt formulierten Anspruch, die Kunst fortan als „Maßstab der Ästhetischen Erziehung“ zu begreifen, mit seinen vorangegangenen Forderungen nach einer ästhetischen Erziehung als „Übung in der aisthesis“ zu verknüpfen. Bereits einige Jahre später allerdings, gegen Ende der 1980er Jahre, beginnt Hentig zunehmend die Haltung einer „skeptischen Sympathie“ 805 gegenüber dem pädagogischen Umgang mit den Künsten zu entwickeln: So weist er dem Gesamtbereich der Künste zwar einerseits auch im Laufe der 1990er Jahre weiterhin eine ungemein wichtige Rolle im Bildungsprozess des Menschen zu, andererseits aber sieht er insbesondere die Regelschule nicht dazu in der Lage, das von ihm wahrgenommene Bildungspotential der Künste in angemessener Weise zu nutzen. Vielmehr drohe, so Hentig, die didaktische Indienstnahme der Kunst deren kaum domestizierbare Wirkungen im „Werdeund Bildungsgang junger Menschen“ zu „verderben“ 806. Dementsprechend wendet er sich im weiteren Verlauf der 1990er und 2000er Jahre denn auch verstärkt außerschulischen Institutionen und Bildungsanlässen ästhetischer Erziehung (insbesondere aus den Bereichen Literatur und Th eater) zu, während er zugleich beginnt, sich in autobiographischer Perspektive zunehmend mit der eigenen „ästhetischen Erziehung“, den eigenen, zumeist außerschulischen Bildungserfahrungen im Umgang mit den Künsten auseinanderzusetzen und diese in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu rücken. Zeitgleich zu dieser Entwicklung wandelt sich in den 1990er und 2000er Jahren auch die Rezeption und öffentliche Wahrnehmung Hentigs im Bereich ästhetischer Bildung und Erziehung deutlich. Er wird zwar auch nach Veröffentlichung des Sammelbandes Ergötzen, Belehren, Befreien im Jahr 1985 gelegentlich mit seinen neueren Arbeiten zum Thema zitiert, weder in der fachdidaktischen noch in der allgemeinpädagogischen Diskussion allerdings spielen diese eine prägende Rolle. Die von Hentig im Bereich ästhetischer Bildung und Erziehung noch in den 1960er und 1970er Jahren, mit Einschränkung sogar noch in den frühen 1980er Jahren eingenommene Rolle als „Anstoßgeber von außen“ 807 fällt anstelle dessen nun verstärkt anderen 802 Selle 1981, S. 284 803 Hentig 1985e 804 Ebenda, S. 20 805 Hentig 1998b, S. 41 806 Ebenda 807 Vgl. Fäustle 1967, S. 1.
Zwischenfazit
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Autorinnen und Autoren zu. Währenddessen werden Hentigs Veröffentlichungen zum Thema ab Mitte der 1980er Jahre immer weniger in programmatischer Perspektive hinsichtlich ihres etwaigen Ertrags für die aktuelle Diskussion zum Thema gelesen, als vielmehr in historiographischer Perspektive hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Entwicklung ästhetischer Erziehung insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren. Dabei sind sich alle Autorinnen und Autoren zwar weitgehend einig, dass Hentig eine zentrale Bedeutung für die Renaissance des Begriffs „ästhetische Erziehung“ zu Beginn der 1970er Jahre sowie für den mit dieser Begriffsrenaissance verbundenen Ausweitungs- und Politisierungsprozess ästhetischer Erziehung im Laufe desselben Jahrzehnts zukommt, kontrovers diskutiert wird jedoch erstens, welche Rückschlüsse aus dieser historischen Bedeutung Hentigs für die inhaltliche Bewertung der hentig schen Schriften zum Thema gezogen werden müssen, sowie zweitens, wie die von Hentig im Laufe der 1970er und 1980er Jahre vollzogene Wende hin zur „Kunst als Maßstab der Ästhetischen Erziehung“ bewertet werden muss. Die über fünfzigjährige Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Erziehung lässt sich in d iesem Sinne in zweifacher Hinsicht als eine Geschichte des stetigen Wandels beschreiben: Nicht nur hat Hentig seine Überlegungen zum Zusammenhang von Kunst, Ästhetik, Bildung und Erziehung sukzessive über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten entwickelt und dabei zahlreiche inhaltliche Wandlungen vollzogen, auch die Rezeptionsgeschichte der hentigschen Schriften zum Thema ist geprägt durch eine Vielzahl ebensolcher Wandlungen – wobei beide Wandlungsprozesse wiederum in einer andauernden, gegenseitigen Bewegung miteinander verbunden sind. Wenn im weiteren Verlauf dieser Arbeit der Versuch unternommen werden soll, das hentigsche Konzept ästhetischer Bildung und Erziehung auch in systematischer Perspektive zu analysieren, muss deshalb immer auch die Frage nach dem Verhältnis von Wandel und Kontinuität im Mittelpunkt der entsprechenden Analyse stehen. Die in der Einleitung formulierte Frage nach Hentigs Bearbeitung der genannten Grundprobleme ästhetischer Bildung und Erziehung muss in dieser Hinsicht also durchgängig vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte der hentigschen Arbeiten zum Thema diskutiert werden. Bezogen auf eine jede der beiden genannten „Problemstellungen“ 808 gilt es insofern zu klären, in welcher Weise sich die entsprechende Position Hentigs über die Jahre entwickelt hat, welche inhaltliche Wandlung und Kontinuität dessen verschiedene Äußerungen zum Thema aufweisen, und schließlich wie beide – Wandel und Kontinuität – vor dem Hintergrund der gesamten Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung miteinander in Beziehung zu setzen sind. Damit kann zugleich der Frage nachgegangenen werden, ob – und wenn ja inwiefern – sich trotz allem bereits skizzierten Wandel dennoch so etwas wie ein Grundkonzept ästhetischer Bildung und Erziehung nach Hartmut von Hentig herausarbeiten lässt. 808 Dietrich et al. 2012, S. 61
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Bei aller Diskussion über Bedingungen, Ziele und Möglichkeiten ästhetischer Bildung und Erziehung besteht eine grundsätzliche Einigkeit unter den beteiligten Diskutantinnen und Diskutanten doch zumindest darin, dass es erstens eine spezifische Form der menschlichen Weltbegegnung gibt, die sich von anderweitigen Formen in solch einem Maße unterscheidet, dass es einen eigenen Begriff – eben den des Ästhetischen – hierfür braucht, und dass eben diese spezifisch ästhetische Form der Weltbegegnung zweitens für das Nachdenken über Erziehung und Bildung zumindest irgendwie von Bedeutung sein könnte. Zu der Frage, wie genau sich das Spezifische einer solch ästhetischen Weltbegegnung definitorisch genauer fassen ließe, lässt sich jedoch bereits kaum mehr ein Konsens ausmachen. Die Uneinigkeit beginnt vielmehr bereits mit der Frage, ob man es im Rahmen einer solchen Weltbegegnung mit spezifisch ästhetischen Gegenständen zu tun habe, mit einem spezifisch ästhetischen Erfahrungsmodus oder sogar mit beidem zugleich. Dieser Uneinigkeit Rechnung tragend, fassen denn auch Cornelie Dietrich, Dominik Krinninger und Volker Schubert das diesbezügliche Element der von ihnen skizzierten „Grundprobleme ästhetischer Bildung“ unter dem Stichwort „Gegenstände ästhetischen Erlebens“ 809 (bzw. „Gegenstände ästhetischer Erfahrung“ 810) zusammen, wodurch zunächst offen bleibt, was den spezifisch ästhetischen Charakter der gemeinten Weltbegegnung denn herbeizuführen im Stande sein könnte: die „Gegenstände“ oder das „Erleben“. Im weiteren Verlauf ihrer Darstellung konstatieren sie sodann einerseits, es stelle sich angesichts der „Veralltäglichung von ästhetischen Mitteln und Möglichkeiten ästhetischen Erlebens“ im Zeitalter der Postmoderne „die Frage nach der Eigenart und spezifischen Qualität d ieses Erlebens besonders dringlich“ 811 – weshalb unter anderem gefragt werden müsse, ob es „ästhetische Erfahrungen“ überhaupt noch geben könne, „und wenn, unter w elchen Bedingungen“ 812. Andererseits aber weisen sie zugleich darauf hin, dass es mit der „voranschreitenden Auflösung der Grenzen z wischen den [künstlerischen] Sparten, Gattungen, Spielorten, Zielgruppen wie auch Selbstverständnissen der Professionellen“ immer schwieriger werde, „den Gegenstand der ästhetischen Erfahrung definitorisch fassen zu wollen“ 813. Der „gänzliche Verzicht auf s olche begriffliche Präzisierung“ allerdings, so Dietrich et al. weiter, bleibe ebenfalls „unbefriedigend“.814 Beide, Gegenstand und 809 Dietrich et al. 2012, S. 67 810 Ebenda, S. 62 811 Ebenda, S. 67 f. (Hervorhebung C. T. Z.) 812 Ebenda, S. 68 (Hervorhebung im Original) 813 Ebenda, S. 70 (Hervorhebung C. T. Z.) 814 Ebenda
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Erfahrungsmodus des Ästhetischen, erweisen sich in d iesem Sinne also sowohl inein ander verschränkt als auch – da weitestgehend unbestimmt – gleichermaßen einer begrifflichen Präzisierung bedürftig. Einzelne solcher Präzisierungsversuche nachzeichnend, zeigen Dietrich et al. denn auch am Beispiel Friedrich Schillers, John Deweys und Richard Shustermans, in welchem Maße jene „Gegenstände ästhetischen Erlebens“ innerhalb verschiedener philosophischer Traditionslinien unterschiedlich bestimmt worden s eien: Während Schiller, in der Tradition des deutschen Idealismus stehend, in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen die „Distanz zum Alltag und zur alltäglichen Ästhetisierung und Anästhetisierung als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für wirkliches ästhetisches Erleben“ betone 815, sähen pragmatistische Ansätze wie derjenige Deweys eine „weniger klare Distanz von Ästhetischem und Nützlichem oder Lebensdienlichem“ 816. So frage Dewey „nicht so sehr danach, welche Bedingungen seitens des Künstlers und des Kunstwerks gegeben sein sollten“, sondern gehe „von paradigmatisch gelungenen Erfahrungsprozessen aus“, wodurch „ästhetisches Erleben“ nicht mehr „an bestimmte Anlässe gebunden“ sei, sondern sich „in ganz unterschiedlichen Situationen ereignen“ könne.817 Auch Shusterman, so Dietrich et al. weiter, bemühe sich, eine „Theorie der ästhetischen Erfahrung zu entwickeln, die deren Bedeutung nicht auf gesellschaftlich vorbestimmte Bereiche“ beschränke (also auf „Gegenstände und Praktiken, die als ‚legitime‘ Kunst“ gelten), sondern ihr einen „breiten und offenen Raum im Leben“ einräume und in ihr „ein zentrales Moment einer umfassenden ästhetisch-leiblich-sinnlichen Lebenspraxis“ sehe.818 Wie an diesen von Dietrich et al. gewählten Beispielen deutlich wird, geht es neben der Frage nach der gegenseitigen Bedingtheit von ästhetischem Gegenstand und ästhetischer Erfahrung im Rahmen des skizzierten Grundproblems also in erster Linie um die Abgrenzung der Sphäre des Ästhetischen gegenüber derjenigen des Nichtästhetischen: Welche Gegenstände und Erfahrungsmodi müssen berücksichtigt werden, wenn eine spezifisch ästhetische Form der Bildung und Erziehung thematisiert werden soll? Wie verhalten sich in diesem Zusammenhang ästhetische Erfahrung und leiblich-sinnliche Wahrnehmung zueinander? Welche Rolle kommt der Populären Kultur und Alltagskultur zu? Welche der Kunst? Diese und ähnlich gelagerte Fragen nach den Grenzen des Ästhetischen stehen dabei, wie von Dietrich et al. am Beispiel Schillers, Deweys und Shustermans aufgezeigt, in einer langen Tradition nicht nur der erziehungswissenschaftlichen, sondern gerade auch der philosophischen Theoriebildung. So ist die moderne Ästhetik seit ihrer Grundlegung durch Alexander Gottlieb Baumgarten im Jahr 1750 geprägt 815 Ebenda, S. 68 in Bezugnahme auf Schiller 1965. 816 Dietrich et al. 2012, S. 69 817 Ebenda, S. 69 in Bezugnahme auf Dewey 1988. 818 Dietrich et al. 2012, S. 70 in Bezugnahme auf Shusterman 1994; Shusterman 2005 und Shusterman 2008.
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durch eine fortdauernde Auseinandersetzung um mögliche Bestimmungsmomente des Ästhetischen, innerhalb derer nicht nur das Verhältnis von Ästhetik und Aisthesis, sondern insbesondere auch die Stellung der Kunst im Verhältnis zum Gesamtbereich des Ästhetischen je unterschiedlich bestimmt worden ist. In diesem Sinne konstatiert Yvonne Ehrenspeck 1996 mit Blick auf knapp 250 Jahre „innere[r] Heterogenität der konventionellen Rede über ‚das Ästhetische‘“ 819: „Bis heute wird darüber gestritten, welche Phänomene, Objekte, Rezeptions- und Wahrnehmungsweisen es verdienen, als ‚ästhetisch‘ bezeichnet zu werden oder einer ‚Ästhetik‘ zugerechnet zu werden. So gibt es durchaus sehr prominente ‚Ästhetiken‘, die die Sinne abwerten und jegliche Möglichkeit einer Sinndarstellung der Sinne verwerfen, beispielsweise die Ästhetik Hegels. Adorno, der sich an vielen Stellen seiner eigenen Ästhetischen Theorie an Hegel orientiert, hat ihn deshalb mit Hilfe der ‚rezeptionsästhetischen‘ Ansätze aus Kants dritter Kritik stark kritisiert. Deshalb ist die beliebteste Frage, neben der nach der möglichen ‚Aktualität‘ des Ästhetischen, die nach den ‚Grenzen des Ästhetischen‘. Die Angaben, an welcher Stelle die Markierungen […] gesetzt werden sollten, differieren dann je nach Theorie und Anspruch.“ 820
Ähnliches gilt auch für den Bereich der ästhetischen Bildung und Erziehung: Spätestens seit der „Wiederentdeckung“ von Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen gegen Ende der 1960er Jahre 821 und der damit einhergehenden, bis heute andauernden Renaissance des Ästhetischen in Pädagogik und Erziehungswissenschaft finden sich zwar immer wieder Versuche, jene „Grenzen des Ästhetischen“ auch in Bezug auf Fragen der Bildung und Erziehung näher zu bestimmen, die jeweiligen Vorschläge allerdings, an welcher Stelle die entsprechenden Grenzmarkierungen genau gesetzt werden sollten, differieren auch hier – in mehr oder weniger direktem Anschluss an entsprechende Diskussionen im Bereich der philo sophischen Ästhetik – zum Teil überaus stark. So resümiert Klaus Mollenhauer bereits 1989, die „Bedeutung des Ausdrucks ‚ästhetische Bildung‘ oder ‚ästhetische Erziehung‘“ schwanke „zwischen einem weitesten Verwendungssinn als Bildung der Sinnestätigkeit überhaupt samt deren Bewußtsein auf der einen und einem engsten als didaktische Veranstaltung in bezug auf die Medien der visuellen Künste auf der anderen Seite“ 822, und er ergänzt: „Würde sich der erziehungswissenschaftliche Sprachgebrauch auf die erste, weiteste Wortbedeutung festlegen, wäre das Adjektiv ‚ästhetisch‘ entbehrlich; die Terminologie der Wahrnehmungstheorien wäre hinreichend. Würde andererseits ästhetische Bildung/Erziehung nichts 819 Ehrenspeck 1996, S. 226 820 Ebenda 821 Siehe oben, Kapitel 4.1. 822 Mollenhauer 1994, S. 222
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anderes bedeuten als Th eorie und Praxis des Unterrichtsfaches ‚Kunsterziehung‘, gingen Problemstellungen verloren, die der antiken Paideia-Lehre […] noch selbstverständlich waren, im ‚Habitus‘- und ‚Forma‘-Begriff des Thomas von Aquin eine wesentliche Rolle spielten, in der italienischen Frührenaissance, aber auch von Diderot, Kant, Herbart, Schopenhauer und anderen aufrechterhalten wurden; die Hypothese, daß es eine ästhetische Weise der Weltauffassung gebe, die nicht einfach nur durch äußere Wahrnehmungsakte bestimmt sei, sondern durch die Form der wahrgenommenen Objekte und die Form der damit nahegelegten Apperzeption. Diese Problemstellung, wie immer sie beantwortet werden mag, betrifft die Theorie der Bildung des Menschen überhaupt; sie hat in einer Fachdidaktik höchstens eine ihrer Konkretisierungen; sie ist eine Frage nach der ästhetischen Dimension von Lebensformen, mithin eine Frage nach den ästhetischen Komponenten von Bildungsprozessen.“ 823
Ganz in diesem Sinne hatte Mollenhauer bereits ein Jahr zuvor in der Zeitschrift für Pädagogik unter der Fragestellung „Ist ästhetische Bildung möglich?“ konstatiert, es scheine ihm nützlich zu fragen, „ob wir in Bezug auf ästhetische Bildung mit hinreichenden begrifflichen Unterscheidungen“ operierten und „welche solcher Unterscheidungen vielleicht stärker als bisher zur Diskussion gestellt werden müßten, wenn wir denn tatsächlich ‚ästhetische Bildung‘ nicht nur als eine didaktische Spezialität des Faches Kunsterziehung oder Musik- oder Bewegungserziehung“ verstünden, „sondern als breite Komponente von Bildungsprozessen überhaupt“ 824. Zwar findet in den Folgejahren – unter anderem angestoßen durch die genannten Texte Mollenhauers zum Thema – eine verstärkte erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung gerade auch mit der Frage nach den Grenzen des Ästhetischen statt 825, noch mehr als fünfzehn Jahre später allerdings kommt Wolfgang Krieger in seiner Studie Wahrnehmung und ästhetische Erziehung zu einem ganz ähnlichen Schluss wie zuvor Mollenhauer, wenn er notiert, der Begriff der „ästhetischen Erziehung“ erscheine vielen „als eine leere Worthülse, als ein beliebig in den Dienst zu nehmendes Schlagwort oder bestenfalls als Rahmenbegriff für die Zieldimension von Kunstpädagogik schlechthin bzw. zuweilen auch einfach für die sinnlich relevanten Anteile von Unterricht“ 826. Er ergänzt: „Die den Konzepten ästhetischer Erziehung zugrundeliegenden Begriffe des Ästhetischen sind teilweise inhaltlich sehr diffus, teilweise sehr einseitig bestimmt, so daß für die Entwicklung eines umfassenden Begriffes ästhetischer Erziehung erst einmal ein Begriff des Ästhetischen zu entwickeln ist, der zum einen in angemessenem Maße die historisch überholten Verengungen des Begriffes überwindet, zum andern aber auch Anschluß fi nden kann an die gegenwärtige ‚Sprechkultur‘ in den einschlägigen Disziplinbereichen.“ 827 823 Ebenda 824 Mollenhauer 1988b, S. 445 825 Vgl. bspw. Hellekamps & Musolff 1993; Mollenhauer & Bilstein 1996 oder Ehrenspeck 2001. 826 Krieger 2004, S.19 827 Ebenda
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Wenn deshalb, so Krieger, die „Rede von ästhetischer Erziehung von der Willkürlichkeit ihres Gebrauchs befreit werden“ solle, tue es not, zum einen „den Begriff des Ästhetischen überhaupt deutlicher zu fassen und, wenn schon nicht Definitionen, so doch zumindest Bestimmungsmomente des Ästhetischen herauszuarbeiten“, sowie zum anderen „die besondere Form der Inanspruchnahme des Ästhetikbegriffs in den Konzepten der ästhetischen Erziehung festzustellen und zu klären, in welcher Weise das Ästhetische für die Erziehung oder in der Erziehung beansprucht“ werde.828 In d iesem Sinne, so Krieger weiter, stelle sich der Erziehungswissenschaft eine doppelte Aufgabe: erstens die „begriffsanalytisch-hermeneutische Herausarbeitung von Bestimmungsmomenten des Ästhetischen“ und zweitens die „Feststellung des impliziten Ästhetikverständnisses in Konzepten der ästhetischen Erziehung“.829 Wenn deshalb im Folgenden das hentigsche Konzept ästhetischer Bildung und Erziehung unter Bezugnahme auf die von Dietrich et al. skizzierte Frage nach den „Gegenständen ästhetischen Erlebens“ analysiert werden soll, so wird es dabei – im Sinne Kriegers – zugleich darum gehen, auf Grundlage einer Analyse des impliziten wie expliziten Ästhetikverständnisses in Hentigs Konzept ästhetischer Erziehung einen Beitrag zu leisten zu einer „begriffsanalytisch-hermeneutische[n] Herausarbeitung von Bestimmungsmomenten des Ästhetischen“. Neben der Frage nach der gegenseitigen Bedingtheit von ästhetischem Gegenstand und ästhetischer Erfahrung wird es dabei gemäß der oben entwickelten Fragestellung in erster Linie um die Abgrenzung der Sphäre des Ästhetischen gegenüber derjenigen des Nichtästhetischen gehen: Welche Gegenstände und Erfahrungsmodi, so wird zu fragen sein, müssen im Sinne Hentigs berücksichtigt werden, wenn eine spezifisch ästhetische Form der Bildung und Erziehung thematisiert werden soll? Wie verhalten sich in diesem Zusammenhang ästhetische Erfahrung und leiblich-sinnliche Wahrnehmung zueinander? Welche Rolle kommt der Populären Kultur und Alltagskultur zu? Welche der Kunst? Bei der Bearbeitung all dieser Fragen gilt es jedoch zugleich das besondere Verhältnis Hentigs zur philosophischen Ästhetik und zu deren Systematisierungsbemühungen zu berücksichtigen: Hentig beklagt in seinen Schriften zwar einerseits, die ästhetische Erziehung brauche „eine Verständigung darüber, was das Wort ‚ästhetisch‘ in ihrem Namen“ 830 bedeute – und somit eine „begründete, geprüfte, der Zustimmung fähige“ Norm 831 –, andererseits aber kennzeichnet er seine eigenen Arbeiten zum Thema wiederholt als diesem selbst gesetzten Anspruch nicht genügend. Am augenscheinlichsten wird dieses Missverhältnis in der Einleitung seines 1985 erschienenen Sammelbandes Ergötzen, Belehren, Befreien, wenn Hentig konstatiert, er
828 Ebenda, S.29 829 Ebenda, S.32 f. 830 Hentig 1981b, S. 26 831 Ebenda
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schreibe – anders als Schiller – „keine systematische Ästhetik“, eine s olche sei „auch nicht aus den einzelnen [seiner] Schriften zusammenzusetzen“ 832, und er ergänzt: „Wie so oft in der Pädagogik, haben wir uns zu früh und zu fest in die Fragen der Vermittlung verbissen. Wir haben gemeint zu wissen, was das Schöne, die Kunst, die Ästhetik s eien oder haben es anderen überlassen, dies für uns zu klären. Von den Philosophen, Kunsthistorikern und Wahrnehmungsbiologen haben wir dann die ‚Ergebnisse‘ abgeholt und in unsere Bildungstheorien und Didaktiken eingesetzt. Mitgedacht haben wir sie nicht, und so verfallen wir immer wieder denselben, den alten, den falschen Problemen. Wenigstens dies habe ich in den verschiedenen Schriften zur ästhetischen Erziehung immer wieder behauptet und zu begründen versucht. Die Anlässe waren verschieden, manchmal gegensätzlich, und eben das macht mein unsystematisches Verfahren – das Schreiben eines ‚Buches‘ auf Raten – nachträglich ergiebig: Es enthüllt, wie oft die Ratlosigkeit, die Widersprüche und das Versagen der Pädagogik, hier der ästhetischen Erziehung, durch den Rückgriff auf eine grundlegende Theorie der Ästhetik zu vermeiden gewesen wären.“ 833
Zwar hat Hentig seinem eigenen Verständnis nach also eine „grundlegende Theorie der Ästhetik“ weder selbst entwickelt noch in genügendem Maße auf eine solche zurückgegriffen 834, in seinen verschiedenen Arbeiten zum Thema allerdings finden sich dennoch sowohl zahlreiche implizite wie explizite Bestimmungsversuche dessen, „was das Schöne, die Kunst, die Ästhetik“ seien, als auch entsprechende Bezugnahmen auf bereits bestehende „grundlegende“ ästhetische Theorien klassischer Autoren wie etwa Platon, Schiller oder Dewey. Diese Bestimmungsversuche und Bezugnahmen Hentigs sollen deshalb im Folgenden nun vor dem Hintergrund der in Kapitel 4 dargestellten Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Erziehung genauer analysiert werden. Dabei wird es zunächst um die hentigsche Verwendung der Begriffe „Kunst“ (Kapitel 5.1), „Schönheit“ (Kapitel 5.2), „Aisthesis“ (Kapitel 5.3) und „Ästhetik“ (Kapitel 5.4) gehen, bevor in einem abschließenden Unterkapitel (5.5) eine zusammenfassende Darstellung der von Hentig prokla mierten Grenzen des Ästhetischen im Umgang mit Fragen der Bildung und Erziehung vorgenommen werden soll.
832 Hentig 1985e, S. 11 833 Ebenda, S. 11 f. 834 Noch im Jahr 2000 notiert Hentig dementsprechend in einem Vortrag zur Frage „Was ist Kunst?“, seine eigenen, in der Vergangenheit getätigten „Äußerungen“ zum Thema wage er nicht „Theorien“ zu nennen (Hentig 2000a, S. 3).
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5.1 Kunst Möchte man das Ästhetikverständnis Hentigs genauer auf seine zentralen Begrifflichkeiten hin untersuchen, so muss dabei eine besondere Aufmerksamkeit dem Begriff der „Kunst“ zukommen. Wie im vorangegangenen Kapitel 4 bereits gezeigt werden konnte, nimmt dieser Begriff nicht nur eine ungemein wichtige Stellung in der Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung ein, er ist im Vergleich zu den Begriffen „Schönheit“, „Aisthesis“ und „Ästhetik“ zugleich derjenige Begriff, der als erstes eine systematische Bestimmung und programmatische Verwendung in Hentigs Schriften zum Thema erfährt. Der Begriff der „Kunst“ bildet in d iesem Sinne zumindest in zeitlicher Perspektive den Ausgangspunkt der theoretischen Auseinandersetzung Hentigs mit Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung.
5.1.1 „Das Verstehen des Unverstandenen“: Ein erster Kunstbegriff (1959) Die erste systematische Bestimmung und programmatische Verortung des Kunstbegriffs bei Hentig findet sich bereits in einer von dessen frühesten dezidiert pädagogischen Veröffentlichungen überhaupt: in dem im Frühjahr 1959 in der Zeitschrift Der altsprachliche Unterricht erschienenen Aufsatz „Das Verstehen des Unverstandenen“ 835. Hentig, zu d iesem Zeitpunkt Studienassessor für Griechisch und Latein am Uhland-Gymnasium Tübingen, nimmt hier eine im Dezember 1957 gemeinsam mit seiner damaligen Unterprima unternommene Aufführung der Tragödie Aias von Sophokles im griechischen Original zum Anlass, einige „Gedanken über die Aufführung von griechischen Tragödien am altsprachlichen Gymnasium“ 836 zu formulieren.837 Zwar geht es ihm in d iesem Zusammenhang in erster Linie darum zu begründen, „warum wir im griechischen Unterricht griechische Tragödien aufführen sollten“ 838, zugleich entwickelt er jedoch einige erste grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Kunst, Bildung und Schule, die weit über den eigentlichen Gegenstand seines Aufsatzes hinausgehen. Die zentralen Bestimmungsmomente des von ihm in diesem Zusammenhang verwendeten Kunstbegriffs lassen sich dabei wie folgt zusammenfassen: 1. Wenn Hentig von „Kunstwerken“ oder von „Kunst“ spricht, meint er nicht allein die „Bildende Kunst“ (welche er durchweg als ebensolche bezeichnet 839), sondern 835 Hentig 1959a 836 So der Untertitel des Aufsatzes. 837 Zur jener Aufführung des Aias 1958 in Tübingen siehe auch Hentig 2009c, S. 514 ff. 838 Hentig 1959a, S. 41 839 Vgl. bspw. ebenda, S. 47.
Kunst
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eine Vielzahl verschiedener „Kunstformen“ 840 wie beispielsweise Literatur, Th eater, Musik, bildende Kunst oder auch Architektur. 2. Diese verschiedenen Kunstformen selbst mögen sich dabei laut Hentig zwar in ihrer konkreten Gestalt mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden, allen „gute[n] Kunstwerken“ 841 gemein ist allerdings das, was Hentig als „Wesen“ 842 der Kunst bezeichnet: eine spezifische „Wirkung“, durch die ein jedes „gutes Kunstwerk“ sich selbst als solches ausweist.843 3. Jene besondere Wirkung der Kunst wiederum ist dabei ausgesprochen eng an deren ebenfalls besondere Zeichenhaftigkeit geknüpft, und zwar insofern, als dass diese ein zugleich dreifaches Verstehen ermöglicht: ein „rationales“, ein „historisches“ sowie ein „künstlerisches Verstehen“. Während dabei das „rationale Verstehen“ 844 die „sachliche Interpretation“ 845 eines Kunstwerkes durch den Verstand meint und damit auch eine „kritische Analyse“ dessen beinhaltet, „welche Wirkungen mit welchen Mitteln getan worden sind“ 846, besteht das „historische Verstehen“ 847 in der Analyse derjenigen historischen Bedingungen, unter denen das betreffende Kunstwerk entstanden ist 848. Das „künstlerische Verstehen“ 849 hingegen – das Hentig auch als „‚deutende[s]‘“ 850 Verstehen bezeichnet – benötigt zwar einerseits (zumindest im Umgang mit historischen Kunstwerken) ein Mindestmaß an „historischem Verstehen“ und kann andererseits immer auch die Ebene des „rationalen Verstehens“ mit einschließen, zugleich handelt es sich bei diesem aber um einen grundlegend andersgearteten Vorgang, dessen Abstand zu demjenigen des „rationalen Verstehens“ Hentig am Beispiel der von ihm behandelten Tragödie des Aias wie folgt umreißt: „Einen diskursiv darstellbaren Sinn des ‚Aias‘ kann es nicht geben. […] Die Tragödie ist keine dialogisierte und in Verse gebrachte Dissertation über letzte Fragen. Wohl lassen sich diese Fragen formulieren, aber des Aias’ Haltung bleibt dennoch unverständlich, 840 Ebenda, S. 56 841 Ebenda, S. 45 842 Ebenda, S. 59 843 Ebenda, S. 45 844 Ebenda (Hervorhebung C. T. Z.) 845 Ebenda, S. 59 846 Ebenda, S. 45. 847 Ebenda, S. 46 (Hervorhebung C. T. Z.) 848 Vgl. ebenda, S. 46 f. Da nämlich laut Hentig auch „das zeitloseste Kunstwerk […] die Sprache seiner Epoche“ spricht und nur in ihr „die volle, unmittelbare Wirkung“ tun kann, muss im Umgang mit einem historischen Kunstwerk zunächst dessen „Sprache“ gelernt werden, um so „faire Bedingungen für die Wirkungen des Kunstwerks“ zu schaffen (ebenda, S. 45). 849 Ebenda, S. 46 (Hervorhebung C. T. Z.) 850 Ebenda, S. 48
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wenn nicht ‚verstehen‘ eine viel weitere Bedeutung einnimmt – συμπἁσχειν. So ‚versteht‘ Odysseus den Helden, und bis wir nicht das theoretische Erklären verlassen, bis wir dem Aias nicht so leibhaftig begegnen wie sein Gegenspieler, wird uns das Verständnis nicht gelingen, das der Dichter uns geben will.“ 851
Mit der Bezeichnung „συμπἁσχειν“ [sympaschein] – wörtlich übersetzt etwa „mitleiden“ oder auch „Gleiches leiden“ – ist denn auch die zentrale Kategorie jenes „künstlerischen Verstehens“ bezeichnet: Es geht Hentig unter diesem Stichwort nicht um die rationale Auseinandersetzung mit Kunstwerken als intellektuell verschlüsselten Zeichen, sondern vielmehr um den „erleidenden“ Vollzug einer spezifischen Erfahrung im Umgang mit diesen. Das jeweilige Kunstwerk selbst begegnet dem Rezi pienten dabei laut Hentig als „Gegenstand“, der ihn „radikal fragen lehrt“ und es ihm so ermöglicht, den „großen Wahrheiten“ der Kunst „zu begegnen und sie zu verstehen“ 852. Hier, in d iesem Vorgang, liegt für Hentig schließlich auch das „Wesen“ der Kunst begründet: Die künstlerisch verstehende Erfahrung jener „Wahrheit, die der Dichter vor uns stellt“ 853, ist selbst bereits die „volle, unmittelbare Wirkung“, durch die ein „gutes Kunstwerk“ seine „vollste Wirkung“ tut 854. 4. Zwar steht im Mittelpunkt der spezifischen „Wirkung“ von Kunstwerken ein besonderer Akt des Verstehens, jede Erfahrung im Umgang mit diesen ist jedoch zugleich unmittelbar mit der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen verbunden. So wenden sich nicht nur die Werke der bildenden Kunst in ihren verschiedenen Ausprägungen „zunächst an das Auge“ und wollen „wahrgenommen werden“ 855, sondern auch die Tragödie erreicht uns, wie Hentig es formuliert, „durch die Sinne, meint aber den Sinn“ 856. Wie in d iesem Zusammenhang das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung auf der einen und künstlerischer Darstellung auf der anderen Seite begrifflich zu fassen ist, verdeutlicht Hentig schließlich am Beispiel Emil N oldes, wenn er zu dessen Bild „Sün857 denfall“ schreibt, hier werde eine „unbedingte allgemeine Erfahrung des Menschen zwar mit sinnlichen Mitteln geweckt, diese Mittel aber gleichzeitig transzendiert“ 858. Setzt man diese Bestimmungsmomente nun zueinander in Beziehung, so wird deutlich, dass Hentig in seinem 1959er Aufsatz „Das Verstehen des Unverstandenen“ unter dem 851 Ebenda, S. 46 852 Ebenda, S. 61 853 Ebenda, S. 49 854 Ebenda, S. 45 855 Ebenda, S. 47 856 Ebenda, S. 48 857 Da ein solches Bild Emil Noldes nicht existiert, ist hier wahrscheinlich dessen 1962 e ntstandenes Werk Die Sünderin gemeint. 858 Ebenda, S. 47 f.
Kunst
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Stichwort „Kunst“ eine besondere Form der Erfahrung im Umgang mit Werken der bildenden Kunst, der Literatur, des Theaters, der Musik sowie der Architektur verstanden wissen möchte. Die einzelnen Kunstwerke selbst entfalten dabei eine besondere Wirkung, die ihren Ausgang zwar in der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen nimmt, diese Wahrnehmung aber insofern „transzendiert“, als dass sie einhergeht mit einem spezifisch „künstlerischen Verstehen“ der jeweiligen Werke. Im Rahmen eines solch „künstlerischen Verstehens“ wiederum bietet sich nicht nur Gelegenheit zur Begegnung mit den „großen Wahrheiten“ der Kunst, sondern damit verbunden zugleich Gelegenheit zum titelgebenden „[künstlerischen] Verstehen des [rational] Unverstandenen“. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur, wie der von Hentig gemeinte Vorgang des „künstlerischen Verstehens“ inhaltlich präziser gefasst werden könnte, sondern offen bleibt darüber hinaus, inwiefern jene Form des „künstlerischen Verstehens“ selbst tatsächlich konstitutiv für den Gegenstand „Kunst“ ist. Schließlich legt Hentigs Auseinandersetzung mit Werken der bildenden Kunst nahe, dass es auch solche Kunstwerke gibt, die sich bereits „[m]it der reinen Wahrnehmung, mit der Erweckung einer angenehmen sinnlichen Reaktion“ 859 begnügen und somit keinerlei Anspruch auf ein wie auch immer geartetes Verstehen stellen.
5.1.2 Die Kunst als „Erkundung des Möglichen“ (1959 – 1965) In etwa zeitgleich zum Erscheinen seines Aufsatzes zum „Verstehen des Unverstandenen“ unternimmt Hentig im März 1959 mit seiner „Aias-Klasse“ 860 des Tübinger Uhland-Gymnasiums eine Studienreise nach Berlin, deren Verlauf er noch im Herbst desselben Jahres im Rahmen eines längeren Aufsatzes in den Frankfurter Heften zusammenfasst und reflektiert. Auch in diesem Aufsatz – mit „Primaner-Reise nach Berlin“ 861 überschrieben – kommt der Begegnung mit bildender Kunst, Theater und Musik eine wichtige Rolle zu. Anstatt aber seine vorangegangenen Überlegungen zum „künstlerischen Verstehen“ wiederaufzunehmen, führt Hentig hier eine neue, von ihm zuvor nicht verwendete theoretische Bezugnahme ein, deren Leitmotiv sich in den folgenden Jahren zu einer wichtigen Konstante in seiner Auseinandersetzung mit Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung entwickeln wird. So notiert er anlässlich eines Besuches in der mittelalterlichen Abteilung der Westberliner Sammlung in Dahlem: „Eine Madonna, fast lebensgroß in Lindenholz, bemalt, aus dem vierzehnten Jahrhundert: Gewand, Haar und Haltung sind die Rhetorik des bildenden Künstlers, der hier weder die Wirklichkeit abbildet, noch die Wahrheit symbolisiert, sondern seinen Gegenstand interpretiert und steigert. Kunst als Steigerung, Kunst als sinnhafte Belehrung und willkürlich 859 Ebenda, S. 47 860 Hentig 2009c, S. 517 861 Hentig 1959b
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erzeugte, gesammelte Erfahrung, – wo wäre das moderner und wirksamer, reiner und vorbildlicher als hier? […] Der inhaltlose Hintergrund aus Gold, die Farben, die sich selbst und nicht der Bewältigung des Lichteffekts gehören, die festumrissenen bedeutsamen Gestalten verdichten die Aussage so, daß der Betrachter hört, der Bedenker empfindet, der gedankenlos Begegnende fragt und deutet, – daß der ganze Mensch sich stellt. Wird ‚entepente‘ (Weizsäcker) daran nicht zuschanden – ‚Erforschung des Ausdrückbaren durch das Mittel des Ausdrucks‘ –, weil es doch für den Menschen im Gegensatz zur Wissenschaft nicht darauf ankommt, was es alles noch gibt und geben kann, sondern daß er das Vorhandene, Einfache und Wichtige versteht und gebrauchen lernt?“ 862
Unter dem Stichwort „entepente“ bezieht sich Hentig hier auf einen Text Carl F riedrich von Weizsäckers mit dem Titel „Entepente oder die abstrakte Kunst“, den dieser erstmalig im April 1952 im Merkur sowie einige Zeit später, im Jahr 1958, in einer erweiterten Neuauflage seines Sammelbandes Zum Weltbild der Physik veröffentlicht hatte 863. Dieser Text – von Weizsäcker selbst bezeichnet als „Versuch, den Zusammenhang der heutigen Physik mit der künstlerischen Situation unserer Zeit in scherzhafter Form zu behandeln“ 864 – widmet sich auf knapp fünf Druckseiten Christian Morgensterns Gedicht „Das große Lalulā“ 865 aus dessen Zyklus „Galgenlieder“ und bemüht sich, die darin enthaltenen Wortschöpfungen in sprachwissenschaftlicher Perspektive zu „entziffern“ 866. Im Mittelpunkt der diesbezüglichen Übersetzungsarbeit steht dabei eine besondere „grammatische Form“ 867: das titelgebende „entepente“. Weizsäcker selbst übersetzt dieses „geheimnisbeladene Wort“ mit einiger philologischer Anstrengung als „Ist es möglich, daß es möglich ist?“ und resümiert, es handele sich hierbei um eine „abstrakte Flexionsform, eine Flexionsform an sich“ 868: den „Potentialis purus“ 869. „Aber“, so fügt er fragend hinzu: „ist unsere Deutung nicht selbstwidersprechend? Nicht in der Ebene der Sprachforschung: da dürfte sie unanfechtbar sein. Aber in der Ebene der Ästhetik? Wie verhält sich denn die reine Grammatik zur Emotion?“ 870 Ausgehend von diesen Fragen, verbunden mit einem Verständnis von „entepente“ als „reine[r] Möglichkeit“ 871, entwickelt Weizsäcker im weiteren Verlauf seines Aufsatzes sodann einige Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Physik, deren zentraler Abschnitt wie folgt lautet: 862 Ebenda, S. 739 f. 863 Vgl. Weizsäcker 1952 sowie Weizsäcker 1958, S. 246 ff. 864 Weizsäcker 1958, S. 370 f. 865 Morgenstern 1990, S. 61 (Zur Editionsgeschichte, Rezeptionsgeschichte und Interpretation von „Das große Lalulā“ vgl. Morgenstern 1990, S. 630 ff. sowie Wilson 2003, S. 201 – 218.) 866 Weizsäcker 1958, S. 246 867 Ebenda, S. 247 868 Ebenda, S. 248 869 Ebenda (Hervorhebung im Original) 870 Ebenda 871 Ebenda
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„Die Neuzeit ist zweideutig und vernichtet ihre Ziele, indem sie sie erreicht. Die Photographie vernichtet den Naturalismus, indem sie ihn erfüllt. Der Künstler erfährt: das also ist nicht Kunst. Was ist Kunst dann? Der Physiker erfährt: die klassische Physik erfaßt nicht den Grund der Wirklichkeit. Wo ist er dann? […] Eine Kunst ist möglich, die Ausdruck der Leidenschaft sein will und nicht anderes. War denn, so fragt sie, Kunst je etwas anderes? Der Gegenstand, die Sinnlichkeit sind dann nur Vehikel des Ausdrucks. Kann es nicht ungegenständliche, noch nie bisher realsinnlich wahrgenommene Ausdrucksformen geben? Kunst kann Ausdruck sein. Sie kann auch Erforschung des Ausdrückbaren durch das Mittel des Ausdrucks sein. Sie kann zum psycho-analytischen Diagramm werden. Sie kann schließlich Erforschung der möglichen Ausdrucksformen sein.“ 872
Insbesondere die abschließenden Formulierungen Weizsäckers zum Verhältnis von Kunst, Ausdruck und „Erforschung des Ausdrückbaren“ sind es nun, die Hentig in den folgenden Jahren mehr und mehr in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung stellt. Dies zeigt sich bereits im Juli 1964, wenn Hentig in einem in der ZEIT veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Kunst und Wissen schaft in der Erziehung“ 873, resümiert, „[b]eide, Kunst und Wissenschaft“, dienten „der Freiheit, der Veränderlichkeit, der Offenheit“ 874, und er präzisiert: „Die Wissenschaft ist eine Tätigkeit, in der jede Erkenntnis vom Wirklichen methodisch für alle verfügbar und kritisierbar gemacht wird. Indem die Wissenschaft so die Grenzen dessen aufweist, was ‚sicher‘ gewußt wird, ermöglicht sie weiter fortzuschreiten. Wissenschaft ist durch diese Offenheit geradezu definiert. Die Kunst ist eine Tätigkeit, in der unmethodisch das Mögliche erkennbar wird. Das war schon Aristoteles’ Unterscheidung von Kunst (poiesis) und Wissenschaft (historia).“ 875
Die von Hentig hier vorgenommene Definition von Kunst als „Tätigkeit, in der unmethodisch das Mögliche erkennbar wird“ ist argumentativ eng an jene oben zitierte zentrale Passage der weizsäckerschen Entepente-Interpretation geknüpft, nach welcher Kunst die „Erforschung des Ausdrückbaren durch das Mittel des Ausdrucks“ sein könne: So gibt Hentig den gemeinten Textabschnitt Weizsäckers unmittelbar zuvor nicht nur in Gänze in seinem ZEIT -Aufsatz wieder 876, in der 1965 erschienenen erweiterten Fassung d ieses Aufsatzes überschreibt er die entsprechende Passage, in der er sich ausführlich auf Weizsäcker bezieht, zudem mit „Die Kunst als Modell des Möglichen“ 877. Diese in der Auseinandersetzung mit Weizsäckers Entepente-Interpretation 872 Ebenda, S. 249 873 Hentig 1964b 874 Ebenda, S. 16 875 Ebenda 876 Vgl. ebenda. 877 Vgl. Hentig 1965a, S. 23 f.
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entwickelte Wendung, Kunst sei „Erkundung des Möglichen“ (wahlweise auch „Entdeckung von Möglichkeit“ 878, „Exploration des Möglichen“ 879 oder „Erfinderin von Möglichkeit“ 880) dient Hentig in den folgenden Jahren und Jahrzehnten denn auch immer wieder an zentraler Stelle zur Definition und Funktionsbeschreibung des Phänomens „Kunst“. Weizsäcker, den Hentig bereits 1946 während seiner Studienzeit in Göttingen persönlich kennengelernt hatte 881 und den er 2007 rückblickend als einen seiner drei „geistigen Väter“ 882 bezeichnet, gerät auf diese Weise neben Friedrich Schiller und dessen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen zu einem der beiden wichtigsten Bezugspunkte Hentigs im Nachdenken über Fragen der Kunst, der Ästhetik und der ästhetischen Erziehung. Diese herausgehobene Bedeutung Weizsäckers wird erneut sichtbar im Februar 1965, wenn Hentig sich im Rahmen eines Vortrags zum Thema „Spielraum und Ernstfall“ 883 an der Berliner Akademie der Künste ausführlicher als noch zuvor der Entwicklung eines eigenständigen Kunstbegriffs widmet und dabei – in Auseinandersetzung mit einem vorangegangenen Vortrag Helmut Heißenbüttels – wiederholt Bezug auf Weizsäckers „Entepente-Interpretation“ nimmt. In Erinnerung an jenen Vortrag notiert Hentig denn auch mehr als vierzig Jahre später in seiner Autobiographie Mein Leben – bedacht und bejaht: „Ich hatte mir für meinen Sängerstreit mit Helmut Heißenbüttel […] eine einfach zu handhabende Waffe ausgeliehen: Carl Friedrich von Weizsäckers Formulierung zu seiner köstlichen Übersetzung des Großen Lalula von Christian Morgenstern, die Künste seien ‚Erforschung möglicher Ausdrucksformen‘. Diese Waffe richtete sich gegen Heißenbüttels These, die Literatur werde wieder, was sie in ganz alter Zeit gewesen sei: Wissenschaft. Damit schien er mir beides zu verkennen – den Spielraum in der Wissenschaft und den Ernstfall der Kunst.“ 884
So konzentriert Hentig sich im Rahmen seiner 1965er Ausführungen gemäß dem Tagungsthema „Literatur im Spannungsfeld von Wissenschaft und Technik“ 885 zwar vornehmlich auf den Bereich der Literatur – oder, wie er selbst es formuliert wissen möchte, auf denjenigen der „Dichtung“ 886 –, an dessen Beispiel allerdings bemüht er sich, unter wieder holter Verwendung der von ihm gewählten weizsäckerschen „Waffe“, grundsätzliche 878 Hentig 1966a, S. 2 879 Hentig 1969a, S. 29 880 Hentig 1966c 881 Vgl. Hentig 2009c, S. 265 ff. 882 Ebenda, S. 661 (Als seine beiden anderen „geistigen Väter“ nennt Hentig Hermann Heimpel und Hellmut Becker (ebenda).) 883 Hentig 1967b 884 Hentig 2009c, S. 23. 885 Vgl. Hentig 1967b, S. 187. 886 Ebenda
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Aussagen zu den beiden „Gattungen“ 887 Kunst und Wissenschaft zu treffen. Während ihm dabei der Begriff der „Kunst“ erneut als Sammelbezeichnung für eine Vielzahl verschiedener Einzelkünste dient, rücken als dessen zentrale Bestimmungsmomente insbesondere vier Aspekte in den Mittelpunkt der hentigschen Auseinandersetzung: 1. Die Kunst im Allgemeinen sowie die „Dichtung“ im Besonderen wird von Hentig anhand ihrer „Grundfunktion“ 888 bestimmt: anhand eines spezifischen, ihr innewohnenden Verfahrens. Die Bestimmung d ieses Verfahrens wiederum geschieht in „Gegenüberstellung“ 889 zu demjenigen der Wissenschaft: Während diese laut Hentig auf eine „Erkenntnis des Unbekannten, aber doch Gegebenen, schon irgendwie Vorliegenden oder Sichvollziehenden“ abziele und sich dabei um „Erklärung und dauerhafte Fixierung“ bemühe, wird „Kunst“ von Hentig definiert als „die immer neue Entdeckung von Möglichkeit“, als „ein Versuch, die durch das Tatsächliche immer wieder aufgehobene Kategorie des Möglichen wiederherzustellen“ 890. Zwar habe dies, wie Hentig anmerkt, nicht alle Kunst „zu jeder Zeit und ausschließlich gewollt“, aber jeder Kunst habe „zu jeder Zeit auch d ieses Moment innegewohnt“ 891. 2. Diese funktionalistische Definition von Kunst als „Entdeckung von Möglichkeit“ erlaubt es Hentig wiederum, die Verfahren der einzelnen Künste dahingehend zu unterscheiden, wie „spezifisch“ diese für das skizzierte Verfahren der Kunst sind. So erscheint ihm von allen Einzelkünsten die „Dichtung“ als „die kühnste“, da das „flüchtige Unbekannte in ihr […] mit dem Mittel des Bekannten, mit der Sprache gefaßt“ werde 892: „Sprache ist die erste durchgehende Form der Objektivierung, das erste und umfassendste Abstraktionssystem: gerade mit ihr, mit dem Mittel, das die sichere Verständigung suggeriert, nicht nur zu sagen, was ist, sondern zu sagen, was möglich ist, um dann schließlich zu fragen, ‚ob es möglich ist, daß es möglich ist‘ (Carl Friedrich von Weizsäcker) – dieses Verfahren der Dichtung ist spezifischer für Kunst als das, was die bildenden Künste tun, die ‚Mögliches‘ schon in Raum und Zeit fixieren, zu ‚Objekten‘ auf der Leinwand oder im Stein verwandelt. Es ist auch spezifischer als das, was die Musik leistet, die das Unbekannte in der Zeit wiederholbar macht – erstaunlich genug und überaus mächtig, aber eben doch als das weiterhin Unbekannte!“ 893
887 Ebenda 888 Ebenda 889 Ebenda, S. 189 890 Ebenda 891 Ebenda 892 Ebenda 893 Ebenda
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Hier wird deutlich, dass Hentig zwar einerseits von einer konstitutiven „Grundfunktion“ von Kunst ausgeht, die verschiedenen Einzelkünste aber andererseits darin unterscheidet, wie stark ihr jeweiliges „Verfahren“ dieser Grundfunktion entgegenkommt. Bei der zitierten Kunst-Definition Hentigs handelt es sich insofern sowohl um eine Minimaldefinition von Kunst (also um die Formulierung eines Kriteriums, das jedes Kunstwerk erfüllen muss, um im Sinne Hentigs „Kunst“ zu sein) als auch um eine funktionale Aufgabenbeschreibung, anhand derer die einzelnen Künste (und damit einhergehend zugleich die einzelnen Kunstwerke) graduell auf ihre Tauglichkeit hin bewertet werden können. 3. Der von Hentig gemeinte Vorgang der „Entdeckung von Möglichkeit“ ist dabei – ähnlich wie bereits in dessen 1959er Aufsatz zum „Verstehen des Unverstandenen“ – eng an einen spezifischen Zeichencharakter der jeweiligen Kunstwerke gebunden: So thematisiert Hentig unter Bezugnahme auf den Begriff des „Mythos“ einen spezifischen Verstehensprozess im Umgang mit Kunst, den er als solchen wiederum abgrenzt vom wissenschaftlichen Verstehensprozess des „Logos“.894 Diese spezifische Zeichenhaftigkeit der Kunst als „Mythos“ beruht dabei auf etwas, das Hentig im Anschluss an Heißenbüttel als „Unbestimmtheitsfaktor“ 895 der Kunst bezeichnet: Während die Wissenschaft, so Hentig, für den „von ihr geordneten Teil der Welt“ eine „vollkommen logische Sprache“ verwende 896, bediene sich die „Dichtersprache“ des „metaphorischen Charakter[s] aller Sprache“ und verfahre mit diesem nach dem Modell des Spiels 897. Durch dieses Vorgehen, so Hentig weiter, entstehe das Kunstwerk „gleichsam erst im Betrachter oder Hörer“, werde „erst Kunstwerk durch ihn“ 898: „Wenn Paul Celan in seinem Gedicht [‚Das ganze Leben‘] die Metaphern mischt, dann will er, daß im Subjekt – in ihm selbst wie im Leser – neuer Sinn entdeckt wird; die zerbrochenen Bilder, die Zusammenstellung von Dingen und Eigenschaften, die nach unserer
894 Vgl. ebenda, S. 192 ff. Zu Hentigs Verständnis des Verhältnisses von Mythos und Logos siehe darüber hinaus Hentig 1971e sowie dessen diesbezüglichen Beiträge in Stuttgarter Privatstudien gesellschaft 1962 und Stuttgarter Privatstudiengesellschaft 1966. 895 Hentig 1967b, S. 197. In der 1965 in der Zeitschrift Akzente abgedruckten Fassung des gemeinten Vortrags Heißenbüttels spricht dieser – anders als von Hentig angegeben – allerdings nicht von einem „Unbestimmtheitsfaktor“ der Literatur, sondern von deren „Unbestimmtheitscharakter“ (Heißenbüttel 1965, S. 188, im Original kursiv). Jedoch weist Hentig im Rahmen des 1967er Abdrucks seines eigenen Vortrages darauf hin, dass es sich bei der in Berlin vorgetragenen und schließlich in Akzente abgedruckten Fassung des heißenbüttelschen Vortrags um eine „veränderte Form“ der zuvor „einvernehmlich ausgetauschten Arbeitsunterlage“ handele (Hentig 1967b, S. 190), was wiederum die Verwendung der verschiedenen Begrifflichkeiten erklären könnte. 896 Hentig 1967b, S. 198 897 Ebenda 898 Ebenda, S. 199
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Erfahrung nicht zusammengehören, dies alles mutet uns zu, die Verbindung selber zu stiften, das Disparate und Widerstrebende in uns zu vereinen.“ 899
Dies ist denn auch der Kern der hentigschen Definition von Kunst als „die immer neue Entdeckung von Möglichkeit“ 900: Im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen ist der Rezipient gezwungen, das „Disparate und Widerstrebende“ des jeweiligen Kunstwerks eigenständig zueinander in Beziehung zu setzen und so immer wieder – im Sinne der weizsäckerschen Entepente-Interpretation – zu fragen: „Ist es möglich, daß es möglich ist?“ 901 4. Das Wesen der Kunst liegt für Hentig in d iesem Sinne weniger in der spezifischen Gegenständlichkeit von Kunstwerken als vielmehr in der spezifischen Erfahrung, die man im Umgang mit deren Gegenständlichkeit machen kann: eine Erfahrung, in der die Grundfunktion der Kunst im Sinne einer „Entdeckung von Möglichkeit“ zur Entfaltung kommt. Erst durch den Vollzug einer solchen Erfahrung wird ein Gegenstand oder ein Ereignis für Hentig zu „Kunst“ – oder wie er selbst es formu liert: „Kunst aktiviert, Kunst läßt den Menschen nicht in Ruhe. Ja, Kunst ist sie eigentlich erst in dieser Wirkung.“ 902 Diese Bestimmung wiederum bringt es mit sich, dass auch solche Gegenstände als Kunst wahrgenommen werden können, die ursprünglich gar nicht als Kunstwerke konzipiert worden waren: Werke also, die laut Hentig „zwar von der Kunstgeschichte behandelt werden und die auf uns als Kunstwerke wirken, die aber so nicht gemeint waren“ 903. Die hentigsche Bestimmung von Kunst anhand ihrer „Grundfunktion“ erlaubt es insofern, sämtliche Gegenstände, welche die genannte Funktion erfüllen, prinzipiell unter den Begriff der Kunst zu subsumieren – und damit auch solche Gegenstände, die ein klassischer Kunstbegriff in der Regel nicht berücksichtigen würde. Setzt man diese Bestimmungsmomente nun in Beziehung zu den vorangegangenen Überlegungen Hentigs im Rahmen seines 1959er Aufsatzes zum „Verstehen des Unverstandenen“, so wird deutlich, dass Hentig seine grundsätzliche Prämisse – nach der unter dem Begriff der „Kunst“ eine besondere Form der Erfahrung zu verstehen sei, im Rahmen derer die einzelnen Kunstwerke eine Wirkung entfalten, die wiederum verbunden ist mit einem spezifisch „künstlerischen Verstehen“ derselben – zwar beibehält, diese Prämisse aber unter Bezugnahme auf Weizsäckers Entepente-Interpretation insofern präzisiert, als dass er die Spezifität der gemeinten Wirkung von Kunst im Sinne einer
899 Ebenda, S. 200 900 Ebenda, S. 189 901 Weizsäcker 1958, S. 248 902 Hentig 1967b, S. 199 903 Ebenda (Hervorhebung im Original)
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angenommenen „Grundfunktion“ als die „immer neue Entdeckung von Möglichkeit“ 904 bestimmt.905 Mit dieser Bestimmung der Kunst anhand ihrer „Grundfunktion“ allerdings tritt zugleich die zutiefst pädagogische Sichtweise Hentigs auf das Phänomen „Kunst“ zutage: Indem er der Kunst eine spezifische, aus pädagogischer Perspektive hergeleitete gesellschaftliche Funktion zuweist und die Erfüllung dieser Funktion wiederum zu dem entscheidenden Bestimmungsmoment von Kunst überhaupt erklärt, gerät die Kunst als s olche für Hentig bereits zu einem pädagogischen Akt und ist dementsprechend für ihn auch nur noch aus einer solchen pädagogischen Perspektive – nämlich mit Blick auf deren individuelle wie gesellschaftliche Funktion – zu denken.
5.1.3 Die Ausweitung des hentigschen Kunstbegriffs (1966 – 1969) Ausgehend von seiner Bestimmung der Kunst als „Erkundung des Möglichen“ beginnt Hentig in den Jahren nach 1965, den Bereich derjenigen Gegenstände, die er unter den Begriff der Kunst subsumiert wissen möchte, mehr und mehr auszuweiten. Dies zeigt sich das erste Mal im Rahmen eines Vortrags zum Thema „Bilden in der Gesellschaft“, den er im September 1966 auf einer Tagung des Deutschen Werkbundes in Hannover hält. Dort heißt es im Rahmen einer einleitenden These: „[…] was die Gesellschaft im Bereich der Kunst sucht, erprobt, findet, das sind viel weniger die Kunstwerke, die Ergebnisse der Künstler, isolierbare Gegenstände von bleibendem ästhetischem Wert, die man für die Ewigkeit aufbewahren kann, sondern Kunstwirkungen, das Eröffnen neuer Erfahrungsmöglichkeiten und das Exerzitium von Fähigkeiten, die die Menschen in ihrer Zeit und Kultur brauchen. Wenn also Erziehung und Bildung sich auch der Kunst als eines Gegenstandes annehmen, dann in erster Linie um des Prinzips willen, das in der Kunst liegt. Das Prinzip – und hiermit verlasse ich die enge Beschränkung auf Kunst im herkömmlichen Sinn und schließe alles ein, was man ziemlich h ilflos das ‚kulturelle Leben‘ nennt – das Prinzip der Kunst ist Selbstbefreiung, Neuerung, Veränderung – genauer: Veränderlichkeit, die – wo man sie kontrolliert anstrebt – zur Empirie wird: zur Entdeckung von Möglichkeit (v. Weizsäcker).“ 906
Was 1965 in „Spielraum und Ernstfall“ bereits als Möglichkeit angelegt gewesen war, wird hier nun tatsächlich angewandt: Indem Hentig die Kunst anhand eines spezifischen ihr innewohnenden Prinzips bestimmt, verlässt er die „enge Beschränkung 904 Ebenda, S. 189 905 So versieht Hentig seinen 1965er Vortrag bei einer dessen späteren Wiederveröffentlichungen denn auch mit einem entsprechend veränderten Titel: Nicht als „Spielraum und Ernstfall“ nimmt er diesen in seinen 1985er Sammelband mit Schriften zur ästhetischen Erziehung auf, sondern als „Die Erkundung des Möglichen“ (vgl. Hentig 1985e, S. 31). 906 Hentig 1966a, S. 2 (Hervorhebung im Original)
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auf Kunst im herkömmlichen Sinn“ und schließt all diejenigen Bereiche des „‚kulturelle[n] Leben[s]‘“ mit in seine Argumentation ein, die seines Erachtens ebenfalls nach dem gemeinten Prinzip verfahren. Unklar bleibt in diesem Zusammenhang allerdings zunächst, wie sich die „Kunst im herkömmlichen Sinn“ auf der einen und das „‚kulturelle Leben‘“ auf der anderen Seite zueinander verhalten: Sind beide Bereiche aufgrund desselben ihnen innewohnenden Prinzips deckungsgleich und daher auch definitorisch nicht mehr zu unterscheiden, oder bedienen sich beide zwar desselben Prinzips, sind darüber hinaus jedoch klar voneinander zu trennen? Und falls Letzteres der Fall sein sollte: Nach welchen Kriterien könnte eine solche Trennung vorgenommen werden? Auch im weiteren Verlauf seines Vortrags gelingt es Hentig nicht, diese Unklarheiten vollends aufzulösen. So konstatiert er Bezug nehmend auf den englischsprachigen Begriff der „creativity“: „Diese ‚künstlerische‘ Fähigkeit ist längst nicht mehr auf die Materialien und Gegenstände der Kunst im engeren Sinn beschränkt. Die Wissenschaft, die Technik, die Politik, die Formen der Gesellschaft und der Geselligkeit, die Wirtschaft, der Verkehr, ja die Mittel und Möglichkeiten des Konsums werden durch sie bestimmt und bereichert.“ 907
Während sich dies liest, als gehe Hentig sehr wohl von einem Unterschied zwischen „Kunst“ auf der einen und „künstlerischer Fähigkeit“ auf der anderen Seite aus – davon also, dass verschiedene Bereiche des Lebens zwar durch künstlerische Fähigkeiten „bestimmt und bereichert“ werden können, diese Bereiche dadurch aber selbst noch nicht zu „Kunst im engeren Sinne“ werden –, heißt es im weiteren Verlauf seines Vortrages unter dem Stichwort „Freizeit“: „Das richtige Reisen ist ebenso ein Kunstwerk wie das gute und abwechslungsreiche Kochen oder die vergnügte (Tanz-)Party oder ein maßvoll ausgelassenes und gut kombinierendes Bewegungsspiel. Wie weit sind wir noch davon entfernt, das alles künstlerisch zu tun!“ 908 Hier erscheint es nun wiederum so, als könne eine Tätigkeit wie Reisen oder Kochen im Sinne Hentigs bereits dadurch zu einem „Kunstwerk“ werden, dass sie „künstlerisch“ vollzogen wird. Dieser Uneindeutigkeit Rechnung tragend wird Hentig denn auch im Anschluss an seinen Vortrag im Rahmen einer öffentlichen Podiumsdiskussion von seinem Gesprächspartner Klaus Tuchel gefragt, ob „Kunst auf der einen und Wissenschaft und Technik auf der anderen Seite wirklich so nahe beieinander“ s eien, wie von ihm, Hentig, „auf dem Wege über die Kunstwirkungen“ dargestellt 909. Dieser antwortet: „[…] In einer Welt, in der wir alle erfahren, daß in einer Generation sich bald mehr wandelt als sich erhält, werden ganz andere Tugenden nötig: immer erneute Beobachtung, 907 Ebenda, S. 3 908 Ebenda, S. 4 909 Vgl. Hentig et al. 1966, S. 5.
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kritische Analyse, Improvisation, Experiment, Konsens, und wenn ich diese Tugenden aufzähle, dann finde ich, es gibt keine Tätigkeit, die das so konzentriert und notwendig enthält wie Kunst, und zwar gerade die Kunst, wie wir sie schon immer geübt haben. Wir sind in einem Zeitalter der Reflektion nun darauf gestoßen, daß dies die Funktion der Kunst wohl immer schon gewesen sei.“ 910
Hier erscheint der Unterschied z wischen Kunst und anderen „kreativen“ Lebensbereichen nun eher graduell: Beide bedienen sich zwar desselben Prinzips und erfüllen dieselbe Funktion, die Kunst – „und zwar gerade die Kunst, wie wir sie schon immer geübt haben“ – erfüllt diese Funktion allerdings besonders gut, da sie die gemeinten Tugenden besonders „konzentriert und notwendig enthält“. Die sich hier bereits abzeichnende Ausweitung des hentigschen Kunstbegriffs auf andere Bereiche des „kulturellen Lebens“ findet ein knappes Jahr später im Rahmen des Aufsatzes „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ 911 noch einmal eine deutliche Steigerung. Hier formuliert Hentig nicht nur erstmalig seine Überlegungen zu einer ästhetischen Erziehung als „Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis“ 912, er unternimmt zugleich den Versuch, neben anderen „Grundbegriffe[n] aus dem Wörterbuch der Kunsterziehung“ 913 auch denjenigen der Kunst „gleichsam gereinigt vorzustellen“ 914. So formuliert er wiederholt die Frage „Was ist Kunst?“ 915 und antwortet schließlich: „Machen wir uns nur recht klar, wie wenig wir das heute wissen, und machen wir uns ebenso klar, wie wenig andere Zeiten es gewußt haben. Jedenfalls ist vieles erst durch unser historisches Zeitalter dazu verfälscht worden […]. Strebepfeiler waren Bauprothesen; Tragödien waren Gottesdienste; Komödien waren Politik; viele primitive Plastiken waren oder sind magische Geräte für Fruchtbarkeit und gegen böse Geister; eine beschädigte Statue, und wenn sie von Phidias war, verfiel dem Schutt – zu ihrer Zeit. Kunst ist etwas durch seine Wirkungen, nicht durch seine Absicht und seinen Hersteller.“ 916
Die Folgen d ieses – von Hentig erneut unter Bezugnahme auf die spezifischen „Wirkungen“ von Kunst formulierten – Kunstverständnisses werden schließlich im darauf folgenden Abschnitt deutlich, wenn Hentig konstatiert, seiner Auffassung stehe „heute noch eine massive Abwehr entgegen“ 917, und er ergänzt: 910 Ebenda 911 Hentig 1967c 912 Ebenda, S. 283 (Hervorhebung im Original) 913 Ebenda, S. 275 914 Ebenda, S. 282 915 Ebenda, S. 290 f. 916 Ebenda, S. 291 917 Ebenda
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„Man ist der Meinung, Kunst höre auf Kunst zu sein, wenn man sie allzusehr vom Betrachter oder Verbraucher abhängig macht, sie ‚demokratisiert‘, wie man es mit der Politik und der Erkenntnis schon getan hat – wenn man sie zu genau versteht, d. h. von den dunklen, subjektiven, singulären Schaffensprozessen trennt, sie objektiviert und damit nicht zuletzt ihre Konturen, ihre Grenzen zum sogenannten Leben hin verwischt, kurz: wenn man sie gesellschaftlich erklärt.“ 918
Wendet man diese von Hentig selbst vorweggenommenen und damit implizit zugleich zurückgewiesenen Einwände gegen seine vorangegangenen Formulierungen nun in ihre Negation, so wird deutlich, dass Hentig eben nicht davon ausgeht, dass die Kunst aufhöre Kunst zu sein, wenn man sie „vom Betrachter oder Verbraucher abhängig macht“, sie „von den dunklen, subjektiven, singulären Schaffensprozessen trennt“ und sie so „objektiviert“. Er selbst möchte sein Verständnis der „Kunst als Wirkung“ demnach als eine gesellschaftliche Erklärung der Kunst verstanden wissen – dabei in Kauf nehmend, dass mit einer solchen Erklärung zugleich die „Konturen“, die „Grenzen“ der Kunst „zum sogenannten Leben hin verwischt“ werden. Wie weit Hentig dabei mit einer solchen Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Leben tatsächlich zu gehen bereit ist, dies zeigt sich bereits einige Seiten später, wenn er resümiert, die „Galerie und der Bilderrahmen“ s eien „nicht der einzige und nicht mehr der beste Treffpunkt für Kunst und Leben“ 919, und er ergänzt: „Man geht zu Reizen über, die indirekt, unsichtbar, weniger festgelegt, weniger objektiv sind – die nicht nur Spielraum lassen, sondern mit d iesem Spielraum spielen.“ 920 An diese Formulierung wiederum schließt er eine längere erläuternde Passage an, die aufgrund ihrer weitreichenden Bedeutung für die Entwicklung des hentigschen Kunstbegriffs an dieser Stelle in voller Länge wiedergeben werden soll: „Wenn […] ein junger japanischer Künstler ein Gebilde herstellt, an dessen unregelmäßigen Wänden in unregelmäßigen Abständen Gummibuchsen angebracht sind, in die man seine Hand stecken kann, um dort von einer Sinnesreizung überrascht oder freundlich bespült zu werden und wenn sich das – ich meine mit Recht – auch ,Kunst‘ nennt, dann sehe ich nicht ein, warum die Appetithappen, die bei der Eröffnung der Ausstellung gereicht werden, nicht ebenfalls zur Kunst zählen – und vieles andere mehr: die Beleuchtung, das Gespräch, die Kleidung der Gäste, ihre Gesellungsformen, die Ökonomie von Ernst und Heiterkeit, die das Ganze begleiten. Die Koch-Kunst, die Mode, die Höflichkeit haben dabei den Gummibuchsen eine vieltausendjährige Erfahrung voraus – die Gummibuchsen aber machen uns diesen Reichtum möglicher Wahrnehmung wieder bewußt. Sie sind ein vornehmlich pädagogischer Akt. Die Entwicklung der Kunst heute scheint uns darüber zu belehren, daß Kunst vielleicht zu allen Zeiten mehr in ihren Wirkungen als in ihren 918 Ebenda, S. 291 f. 919 Ebenda, S. 298 920 Ebenda
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Werken zu suchen gewesen ist; daß die Werke also Katalysatoren sind, die nicht in jedem Medium wirken; daß man darum den Kunstprozess, die Kunstreaktion nicht magazinieren kann; daß ‚große, ewige Kunst‘ also auch nicht gegen ephemere ‚modische‘ Kunstwirkungen auszuspielen ist, weil sie ganz verschiedene Spielräume bestreiten. Demnach ist es sehr wohl denkbar, daß eine Zeit ‚große, ernste, ewige Kunst‘ nicht hervorbringen muß, weil sie deren Funktionen – abgelöst von der Religion, an denen sie einst hafteten – an andere Instanzen abgegeben hat –, unsere Zeit zum Beispiel an die Wissenschaft und die Politik; eine solche Zeit muß dann die anderen Funktionen der Kunst, nämlich die Wahrnehmungen zu erweitern und von den eigenen angestrengten Verfestigungen freizuspielen, auch ganz woanders wahrnehmen: in den Spielräumen, die uns das Leben unverstellt zumutet – im Umgang mit Kindern oder mit Tieren oder mit Blumen oder mit Fremden. Ich vermag keine prinzipielle Schranke zu sehen z wischen heutigen Kunstübungen und der Stimulierung der Wahrnehmung durch Wein und LSD . Diese Ansicht trägt mir den Unmut aller ein – der Künstler wie der potentiellen Päda gogen, die wir Erwachsenen insgesamt sind. Die Toleranz hat Grenzen: Kunst im Spiel ja – Kunst im LSD nein. Warum? Weil Kunst ein Wertbegriff geblieben ist, allen Veränderungen zum Trotz. Für mich ist sie ein Funktionsbegriff, etwas was gar nicht zum Guten sein muß, um ,gut‘ zu sein, nicht erhaben, nicht ewig und auch gar nicht befreiend und ungefährlich; etwas, das dann um so mehr beglückt, wenn es ohne schlimme Folgen bleibt, wenn es außerdem Gutes bewirkt; in der Tat etwas, das seine gesellschaftliche Funktion um so gründlicher, radikaler erfüllt, je weniger es in die Fesseln solcher Vorurteile gelegt ist.“ 921
Auf den ersten Blick scheint hier die radikale Konsequenz der hentigschen Bestimmung von Kunst anhand ihrer Funktion nun tatsächlich vollzogen: Indem H entig der Kunst eine spezifische gesellschaftliche Funktion zuweist, deren Erfüllung selbst er wiederum als ihr zentrales Bestimmungsmoment heranzieht, kann er keine Unterscheidung mehr treffen z wischen Kunst im herkömmlichen Sinne und anderen Gegenständen oder Ereignissen des alltäglichen Lebens, die dieselbe Funktion erfüllen – weshalb sich für ihn denn auch keine „prinzipielle Schranke“ mehr ziehen lässt „zwischen heutigen Kunstübungen und der Stimulierung der Wahrnehmung durch Wein und LSD “. Auf den zweiten Blick allerdings wird zugleich ersichtlich, dass Hentig, entgegen seinem Einheitlichkeit suggerierenden „Funktionsbegriff“, implizit dennoch zumindest verschiedene Gruppen von Kunstfunktionen unterscheidet: erstens die Funktionen dessen, was er „‚große, ernste, ewige Kunst‘“ nennt, und die er, „abgelöst von der Religion“, an der sie einst gehaftet hätten, mittlerweile von anderen „Instanzen“ wie Wissenschaft und Politik übernommen sieht; und zweitens die, so wörtlich, „anderen Funktionen der Kunst“, die gleichfalls „im Umgang mit Kindern oder mit Tieren oder mit Blumen oder mit Fremden“ wahrgenommen werden könnten. Während er letztere allerdings spezifiziert als die Funktionen, „die Wahrnehmungen zu erweitern 921 Ebenda, S. 298 f. (Hervorhebung im Original)
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und von den eigenen angestrengten Verfestigungen freizuspielen“, werden die darüber hinausgehenden Funktionen der „‚große[n], ernste[n], ewige[n] Kunst‘“ nicht näher benannt und bleiben so unbestimmt. In diesem Sinne unterscheidet Hentig implizit nicht nur z wischen verschiedenen Kunst-Funktionen, er unterscheidet zugleich zwischen verschiedenen Kunst-Formen: zwischen „‚große[r], ernste[r], ewige[r] Kunst‘“ auf der einen und den Auslösern „ephemere[r] ‚modische[r]‘ Kunstwirkungen“ auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund liest sich seine Formulierung, er vermöge „keine prinzipielle Schranke zu sehen zwischen heutigen Kunstübungen und der Stimulierung der Wahrnehmung durch Wein und LSD “, sogleich deutlich weniger radikal: Offenbar geht er zwar einerseits davon aus, dass jede Kunst zu jeder Zeit die Funktion gehabt habe, „die Wahrnehmungen zu erweitern und von den eigenen angestrengten Verfestigungen freizuspielen“ – sowie davon, dass diese Funktion unter gewissen Umständen ebenso gut von anderen Gegenständen, wie etwa einem LSD -Rausch, übernommen werden könne –, andererseits aber scheint er der Überzeugung zu sein, dass es noch andere Funktionen von Kunst gebe, die wiederum nicht von „heutigen Kunstübungen“ und deren „ephemere[n] ‚modische[n]‘ Kunstwirkungen“ übernommen werden könnten. Auf diese Weise arbeitet Hentig implizit zugleich mit zwei verschiedenen Kunstbegriffen: einem eher engen Kunstbegriff, den er für die „‚große, ernste, ewige Kunst‘“ reserviert, und einem eher weiten Kunstbegriff, den er für sämtliche Gegenstände oder Ereignisse öffnet, anhand derer sich eine bestimmte Gruppe von Kunstfunktionen entfalten lasse. Die Formulierung „Kunst im LSD “ bedeutet in diesem Sinne nicht, dass LSD für ihn gleichbedeutend mit „‚große[r], ernste[r], ewige[r] Kunst‘“ sei, sondern vielmehr, dass LSD seines Erachtens gewisse Funktionen erfüllen könne, die im Prinzip auch von Gegenständen oder Ereignissen aus dem Bereich der Kunst erfüllt werden könnten. Setzt man diesen gewissermaßen multifunktionalen Kunstbegriff Hentigs nun in Bezug zu dessen vormaliger Bestimmung von Kunst als „Erkundung des Möglichen“, so wird deutlich, dass Hentig an den dort entwickelten Bestimmungsmomenten insofern festhält, als er unter Kunst weiterhin eine spezifische Form der Erfahrung versteht, die sich an verschiedenen Gegenständen entfalten kann und dabei lediglich an ihrer besonderen Wirkung, an ihrer „Grundfunktion“, zu messen ist. Auch das von ihm zuvor unter dem Stichwort „Erkundung des Möglichen“ hervorgehobene Potential der Kunst, „der Freiheit, der Veränderlichkeit, der Offenheit“ 922 zu dienen, findet sich wiederaufgenommen in seiner Formulierung, die Funktion dieser sei es, „die Wahrnehmungen zu erweitern und von den eigenen angestrengten Verfestigungen freizuspielen“ 923. Dementgegen allerdings erfährt ein weiterer, vormals 922 Hentig 1964b, S. 16 923 Hentig 1967c, S. 299. Bereits einige Seiten zuvor verknüpft Hentig beide Aspekte – die „Erkundung des Möglichen“ und die „Erweiterung der Wahrnehmung“ – sogar ganz explizit, wenn er schreibt: „Die Menschen müssen […] im produktiven Eigenwillen, in der dazu notwendigen
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ebenfalls zentraler Aspekt des hentigschen Kunstverständnisses nun nahezu keine Berücksichtigung mehr: die Vorstellung, einem jeden Kunstwerk wohne ein spezifischer Zeichencharakter inne, anhand dessen sich ein Vorgang des „künstlerischen Verstehens“ entfalte, der die gemeinte Wirkung einer „Erkundung des Möglichen“ erst hervorbringe. Die Ausweitung des hentigschen Kunstbegriffs auf Mode, Wein und LSD geht in diesem Sinne also offenbar einher mit dem Verzicht auf das Kriterium der Zeichenhaftigkeit künstlerischer Gegenstände. Dennoch scheint Hentig die grundsätzliche Vorstellung von der Kunst als einem unbestimmten Zeichengeschehen auch in diesem Zusammenhang nicht vollständig aufgegeben zu haben: vielmehr gibt er sogar einen Hinweis darauf, dass jener Aspekt der Zeichenhaftigkeit als entscheidendes Kriterium für die von ihm implizit vorgenommene Unterscheidung zwischen „‚große[r], ernste[r], ewige[r] Kunst‘“ und den Auslösern „ephemere[r] ‚modische[r]‘ Kunstwirkungen“ dienen könnte. Er deutet dies zumindest an, wenn er als eine von „drei gegenwärtige[n] Einfallstellen für einen besonders defaitistischen, ja vergiftenden Irrationalismus“ 924 im Bereich der Kunst „die trivialisierenden Kunstäußerungen, an denen sich nichts mehr verstehen läßt“ 925, nennt, und ergänzt: „Wo man nichts mehr versteht, kann man auch nicht mehr kommunizieren: der Plüschtiger im Fonds meines Autos, die wassergefüllten Plastikhandschuhe in meinem Aquarium, das vergrößerte Detail aus einem Comic-strip, das ich für viele hundert Mark bei der Galerie Springer gekauft habe – sie gehören mir auf eine hoffnungslose, eine endgültige Weise allein […].“ 926
Die skizzierte Ausweitung des hentigschen Kunstbegriffs in dessen 1967er Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ geht in diesem Sinne zwar vordergründig einher mit dem Verzicht auf das Kriterium der Zeichenhaftigkeit künstlerischer Gegenstände, dieser Vorgang allerdings wird von Hentig zugleich insofern abgeschwächt, als dass er durch den Hinweis auf verschiedene, nicht näher bestimmte weitere Funktionen von Kunst einen definitorischen Spielraum für „‚große, ewige Kunst‘“ jenseits aller „ephemere[n] ‚modische[n]‘ Kunstwirkungen“ öffnet und dabei erneut das Kriterium des „Verstehens“ mit ins Spiel bringt. Es bleibt insofern unklar, ob Hentig mit den zitierten Einlassungen zum Thema seinen vormaligen Kunstbegriff tatsächlich insgesamt erweitern oder ihn lediglich um einen zweiten, in sich deutlich weiteren Kunstbegriff ergänzen möchte. Auch Hentig selbst ist sich in Vorstellungskraft und -lust und in der dazu nötigen Durchbrechung der Wahrnehmungsmuster und Wahrnehmungsschranken geübt werden. Sie müssen lernen, Möglichkeiten zu sehen noch bevor sie ausgelernt haben, ‚Wirklichkeit‘ zu sehen.“ (Ebenda, S. 287 f.) 924 Ebenda, S. 296 925 Ebenda 926 Ebenda (Hervorhebung C. T. Z.)
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dieser Frage offenbar nicht vollkommen sicher, setzt er doch nicht nur die Bezeichnung „große, ernste, ewige Kunst“ (bzw. „große, ewige Kunst“) wiederholt in Anführungszeichen – was sich durchaus als Artikulation des eigenen Misstrauens gegenüber dieser Bezeichnung lesen lässt –, er schwächt darüber hinaus an der zentralen Stelle seiner Argumentation die von ihm präsentierte Denkfigur durch einen zweifachen relativierenden Einschub ab, indem er notiert: „Die Entwicklung der Kunst heute scheint uns darüber zu belehren, daß Kunst vielleicht zu allen Zeiten mehr in ihren Wirkungen als in ihren Werken zu suchen gewesen ist.“ 927 Diese offensichtliche Unsicherheit Hentigs im Gebrauch des eigenen Kunstbegriffs findet sich zwei Jahre später, im Rahmen der 1969 von ihm erstmals veröffentlichten „Allgemeinen Lernziele für die Gesamtschule“, zumindest insofern abgeschwächt, als dass er sich hier nun tatsächlich für einen einzigen, und zwar für einen erweiterten Kunstbegriff entschieden zu haben scheint. So plädiert er unter dem Stichwort „Das Leben mit der Aisthesis“ 928 nicht nur dafür, die Kunst „schon mit den Wahrnehmungsprozessen beginnen und bis in die elementaren Ausdrucksmöglichkeiten bis hin zur Mode, zur Reklame, zur politischen Symbolik, zu Stilisierung oder Variation der sozialen Verhaltensformen“ 929 reichen zu lassen, er konstatiert zugleich, man erkenne allmählich, dass der Mensch einer ästhetischen Erziehung gerade deshalb bedürfe, weil „potentiell alles künstlerisch gestaltet oder mißgestaltet“ sein könne, die „rationalisierte und gemachte Welt also insgesamt an den Wirkungen beteiligt“ sei, „die man den Kunstwerken im Guten wie im Schlechten vorbehalten“ gehabt habe 930. Er ergänzt: „Die Unterwerfung der individuellen Reaktion unter die Werthierarchie der klassischen Kunstwerke, die Ausrichtung nach dem letzten Schrei der Kunstmode, die Überwältigung der Spontanität durch wissenschaftliche und ideologische Deutung der Kunstgebilde, die Verherrlichung des Schaffensprozesses an sich – sie beeinträchtigen alle gleichermaßen unser Verhältnis zu einer mit dem Wort ‚Kunst‘ bezeichneten individuellen und gesellschaftlichen Funktion: zur Selbstbestätigung und Selbstbefreiung durch die Entdeckung eigener Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten.“ 931
Das Phänomen der Kunst scheint hier nun tatsächlich vollständig in seiner Funktion aufgelöst: Alle Gegenstände, die jene von Hentig skizzierte individuelle und gesellschaftliche Funktion der „Selbstbestätigung und Selbstbefreiung durch die Entdeckung eigener Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten“ befördern, wären unter dieser Perspektive als „Kunst“ zu bezeichnen – handle es sich dabei (um 927 Ebenda, S. 299 (Hervorhebung C. T. Z.) 928 Hentig 1969d, S. 93 929 Ebenda 930 Ebenda, S. 94 931 Ebenda
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nur die von Hentig selbst im Rahmen seines eigenen Textes verwendeten Beispiele anzuführen) um Mode, Reklame, politische Symbolik, die Stilisierung oder Variation der sozialen Verhaltensformen, Dichtung, Musik, Gesellschaftstanz oder die bildenden Künste. Ein definitorischer Spielraum für eine darüberhinausgehende „‚große, ernste, ewige Kunst‘“ 932, wie dieser noch in Hentigs 1967er Einlassungen zum Thema angelegt gewesen war, wird hier nun an keiner Stelle mehr eröffnet, und auch die Ebene des „Verstehens“, der Zeichenhaftigkeit künstlerischer Gegenstände, erfährt nunmehr keinerlei Berücksichtigung bei einer Eingrenzung des Phänomens „Kunst“. So erscheint es denn auch fast folgerichtig, wenn Hentig in seiner abschließenden Lernzielformulierung zum „Leben mit der Aisthesis“ notiert, der Schüler könne an den „Kunstwerken anderer“ unter anderem erfahren, „wie unscharf die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst sind“ 933: Eben diese „Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst“, so scheint es, haben in den Jahren zwischen 1966 und 1969 auch für Hentig selbst mehr und mehr an Schärfe verloren. Betrachtet man die zitierten Formulierungen Hentigs insofern als Abschluss einer mehrjährigen Entwicklung, so wird deutlich, dass dieser in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre tatsächlich eine sukzessive Ausweitung des von ihm verwendeten Kunstbegriffs vornimmt: Ausgehend von seiner funktionalen Bestimmung der Kunst als „Erkundung des Möglichen“ subsumiert er zunehmend auch solche Gegenstände unter den Begriff „Kunst“, die zwar nicht zum klassischen Bereich der Künste im engeren Sinne zählen, aber dennoch die von ihm zuvor als „künstlerisch“ identifizierte Funktion einer „Selbstbestätigung und Selbstbefreiung“ des Menschen durch „die Entdeckung eigener Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten“ entfalten. Diese Ausweitung des hentigschen Kunstbegriffs beispielsweise auf Mode, Reklame, Wein und LSD geht dabei allerdings zugleich einher mit einem ebenfalls zunehmenden Verzicht auf das Kriterium der Zeichenhaftigkeit künstlerischer Gegenstände – ein Kriterium, das in den Jahren zwischen 1959 und 1965 noch ein zentraler Bestandteil der hentigschen Bestimmung von Kunst gewesen war. Interessant ist nun allerdings, dass Hentig sich im Rahmen eben dieser Neuausrichtung seines Verständnisses von Kunst und ästhetischer Erziehung zumindest implizit an John Deweys Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Erfahrung zu orientieren scheint. So findet sich zwar in den soeben zitierten Schriften Hentigs kein einziger konkreter Verweis und keine explizite Bezugnahme auf Deweys Überlegungen zum Thema, sehr wohl aber in Hentigs 1966 erschienenem, nach eigenen Angaben jedoch bereits 1963 beendetem und ursprünglich als Habilitationsschrift vorgesehenem Band Platonisches Lehren 934. Hier bezieht sich Hentig – wenn auch nur in 932 Hentig 1967c, S. 299 933 Hentig 1969d, S. 95 934 Hentig 1966e. Was die Entstehungsgeschichte des gemeinten Bandes angeht, so notiert Hentig 1983 rückblickend, er habe bei seinem im Februar 1963 unternommenen Umzug von Tübingen nach Göttingen das „fertig-unfertige Manuskript von Platonisches Lehren mitgebracht, das
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einer Fußnote – auf eine Formulierung Deweys aus dessen 1929 veröffentlichter Arbeit Experience and Nature, in der es im Resümee eines Kapitels zum Thema „Experience, Nature and Art“ heißt: „It [fine art] is a device in experimentation carried on for the sake of education. It exists for the sake of a specialized use, use being a new training of modes of perception. The creators of such works of art are entitled, when successful, to the gratitude that we give to inventors of microscopes and microphones.“ 935 Hentig übersetzt diesen Abschnitt nun wie folgt: „Die Künste (fine arts) – wo sie als s olche bewußt wahrgenommen werden (man muß hierunter all das verstehen, was sich als autonome Kunst ausgibt) – ist [sic!] eine Form des Experimentierens zu einem bestimmten praktischen Zweck: neue Wahrnehmungsmöglichkeiten zu erproben. Die Schöpfer solcher Kunstwerke verdienen, wenn sie erfolgreich sind, genau den gleichen Dank, den wir den Erfindern von Mikroskopen und Mikrophonen zollen.“ 936 meine Habilitationsschrift hatte werden sollen und nun druckfertig gemacht werden wollte“ (Hentig 1983a, S. 169, Hervorhebung im Original), und noch 2007 merkt er an, er habe sich mit der Niederschrift jenes Bandes in eine „Erkundungsarbeit“ gestürzt, „die mich nicht nur in den Jahren 1960 bis 1963 am intensivsten beschäftigte, sondern wohl auch die größte geistige Anstrengung meines Lebens ausmacht“ (Hentig 2009c, S. 535). Für einen solchermaßen umrissenen Entstehungszeitraum spricht schließlich auch die von Hentig verwendete Literatur: So finden sich in besagtem Text zwar einige wenige Verweise Hentigs auf (zumeist eigene) Veröffentlichungen von 1964 (bei denen es sich jedoch in der Regel lediglich um weitergehende Leseempfehlungen, niemals aber um direkte Zitate handelt), Erstveröffentlichungen aus den Jahren 1965 und 1966 allerdings werden dementgegen nur noch zwei genannt: erstens eine von Hentig betreute Diskussionsspalte in der Zeitschrift Der Gymnasialunterricht von 1965 (Reihe III , Heft 5/1965, S. 77 ff.; Verweis in Platonisches Lehren auf S. 232) und zweitens ein im Februar 1966 veröffentlichter Vortrag Hentigs zum Thema „Linguistik, Schulgrammatik, Bildungswert“, den dieser allerdings bereits im Juni 1965 auf einer Tagung des Deutschen Altphilologenverbandes gehalten hatte (Hentig 1966d; Verweis in Platonisches Lehren auf S. 247). Vor diesem Hintergrund ist denn auch anzunehmen, dass Hentig seine Arbeit am Manuskript von Plato nisches Lehren tatsächlich 1963 (oder spätestens 1964) beendet und dieses Manuskript dann vor Drucklegung lediglich um einige wenige aktuelle Literaturempfehlungen im Text sowie in der im Anhang beigefügten „Ausgewählte[n] Bibliographie“ (in der noch zwei weitere Texte von 1966 aufgeführt werden) ergänzt hat. Für ein solches Vorgehen spricht schließlich auch ein nachgeschobener Hinweis Hentigs in dem auf April 1966 datierten Vorwort des Bandes, in dem es heißt: „Erst nach Abschluss des Manuskripts sind dem Autor die Bücher von G. Priesemann, Grundfragen und Grundlagen des altsprachlichen Unterrichts, Göttingen 1962, und O. Seel, Römertum und Latinität, Stuttgart 1964, in die Hand gekommen. Der Respekt vor diesen beiden Werken, die für das vorliegende Thema von größter Wichtigkeit sind, verbot es, sie schnell noch an dieser oder jener Stelle des Buches ‚einzuarbeiten‘.“ (Hentig 1966e, S. 6) 935 Dewey 1929, S. 392 (Hervorhebung im Original) 936 Hentig 1966e, S. 94 (Hervorhebung im Original). Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Platonisches Lehren lag noch keine deutschsprachige Übersetzung von Deweys Experience and
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Der Verweis auf diese „recht nüchterne Deutung“ 937 der Kunst dient Hentig nun allerdings nicht als positives Beispiel für eine sinnvolle Verknüpfung von Kunst und Pädagogik, sondern vielmehr in kritischer Perspektive als Beleg für die von ihm, Hentig, zuvor formulierte These, in der Tradition des Pragmatismus würden „die Werte als s olche verbannt“ und Demokratie, Wissenschaft und Kultur nur noch als „Mittel“ betrachtet, mit denen „man das Wachstum“ fördern könne 938. Dementsprechend kommentiert Hentig seine Übersetzung der zitierten Zeilen denn auch mit dem Ausruf „Kunst hat also nur soviel Wert wie das, wozu sie führt!“ 939 und stellt dem umrissenen Kunstverständnis Deweys sodann kontrastierend einen „Gedanken von Gottfried Benn“ 940 entgegen, in dem es unter anderem heißt: „Kunst ist etwas ganz anderes als Kultur. Kultur ist das Gefüge brauchbarer geistiger Werte, zu der auch die jeweils akklimatisierte Kunst von gestern gehört; Kunst ist Neues, Ausdruck aus innerem Zwang, sie entsteht ohne jede Rücksicht auf soziale Brauchbarkeit, ohne Bezugnahme auf die Sozietät.“ 941
Gerade jedoch weil Hentig sich auf diese Weise noch 1963/1964942 von Deweys Bestimmung der Kunst als „Mittel, mit dem man das Wachstum fördert“ 943 deutlich distanziert, sind die Parallelen z wischen dessen Sentenz vom „praktischen Zweck“ der Kunst, der darin liege, „neue Wahrnehmungsmöglichkeiten“ zu erproben, und Hentigs 1967 getätigtem Hinweis auf die „anderen Funktionen der Kunst“, die darin lägen, „die Wahrnehmungen zu erweitern und von den eigenen angestrengten Verfestigungen freizuspielen“ 944, doch umso frappierender. So scheint Hentig von Dewey nicht nur die Vorstellung übernommen zu haben, dass der Einzelne im Umgang mit Werken der Kunst eben diese als Instrument zur Erweiterung seiner eigenen sinnlichen Wahrnehmung nutzen könne: auch die von Hentig in den Jahren 1966 bis 1969 wiederholt vorgeschlagene Verwendung eben dieser „Funktion“ als Maßstab zur graduellen Nature vor, so dass Hentig den zitierten Abschnitt selbst übertragen musste. Eine entsprechende Übersetzung wurde erst 1995 von Martin Suhr besorgt, wobei Suhr den betreffenden Abschnitt wie folgt übersetzt: „Sie [die schöne Kunst] ist ein Mittel in einem Experiment, das um der Erziehung willen unternommen wird. Sie besteht um eines speziellen Nutzens willen, einer Einübung in neue Arten der Perzeption. Die Schöpfer solcher Kunstwerke haben, wenn sie erfolgreich sind, Anspruch auf die Dankbarkeit, die wir den Erfindern von Mikroskopen und Mikrophonen gegenüber empfinden […].“ (Dewey 1995, S. 368) 937 Hentig 1966e, S. 94 938 Ebenda 939 Ebenda 940 Ebenda 941 Krämer-Badoni o. J. [1962], S. 158, in loser Bezugnahme auf Gottfried Benn. 942 Zur Frage der Datierung siehe genauer oben, Fußnote 934. 943 Hentig 1966e, S. 94 944 Hentig 1967c, S. 299
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Bewertung einzelner Gegenstände hinsichtlich deren Eignung als Kunstwerk erinnert stark an Deweys (insbesondere in Kunst als Erfahrung 945 entwickelte) Th eorie des Ästhetischen, die den Vorgang der ästhetischen Erfahrung eben nicht als „besondere Erfahrung“ betrachtet, sondern vielmehr als „Steigerung von solchen Aspekten, die auch jede andere Erfahrung, die ihren Namen verdient, begleiten“ 946. Nun lässt sich aus heutiger Perspektive und unter Zugrundelegung des aktuellen Forschungsstandes zwar nicht mehr eindeutig klären, ob es sich bei dieser Parallelität um einen Zufall, eine unbewusste Bezugnahme oder gar um eine gezielte Verschleierung handelt, die skizzierten Überschneidungen zwischen Deweys und Hentigs Überlegungen zum Thema zeigen aber dennoch zumindest zweierlei: erstens, wie deutlich sich Hentigs Kunstverständnis im Laufe der 1960er Jahre tatsächlich wandelt (plädiert er doch bereits 1967 vehement für einen „Funktionsbegriff“ von Kunst und gegen einen entsprechenden „Wertbegriff “ 947), und zweitens, wie schwer es ihm im Zuge dieses Wandels offenbar fällt, sein Verständnis von der Kunst als autonomes Geschehen, das „ohne jede Rücksicht auf soziale Brauchbarkeit“ 948 entsteht, zu verbinden mit seiner Vorstellung von einer „individuellen und gesellschaftlichen Funktion“ der Kunst, die diese als Instrument zur „Selbstbestätigung und Selbstbefreiung durch die Entdeckung eigener Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten“ 949 begreift. Eben dieser Widerstreit ist es denn auch, der in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nicht nur zu einer neuerlichen Revision und Einengung des hentigschen Kunstbegriffs führt, sondern darüber hinaus zu einer intensiven – und mitunter überaus hitzig geführten – Auseinandersetzung Hentigs mit den „ungewollten Nebenwirkungen der eigenen Tat“ 950.
5.1.4 Revision und erneute Einengung Wie weiter oben in Kapitel 4.2 bereits eingehender gezeigt werden konnte, distanziert Hentig sich im Laufe der 1970er Jahre mehr und mehr von den durch seine eigenen Schriften mit angestoßenen neueren Entwicklungen im Bereich ästhetischer Erziehung. In diesem Zusammenhang kritisiert er nicht nur wiederholt die unvermindert voranschreitende Ausweitung ästhetischer Erziehung hin zu einer allgemeinen Wahrnehmungserziehung, er wendet sich darüber hinaus explizit gegen die Verwendung eines radikal erweiterten, vom ihm als konturlos empfundenen Kunstbegriffs. 945 Dewey 1988 946 Bertram 2005, S. 195 (Hervorhebung im Original). Zur ästhetischen Theorie Deweys siehe darüber hinaus Jaeger 2001, S. 268; Bertram 2005, S. 193 ff. sowie Dietrich et al. 2012, S. 48 ff. 947 Hentig 1967c, S. 299 948 Krämer-Badoni o. J. [1962], S. 158 949 Hentig 1969d, S. 94 950 Hentig 2009c, S. 1002
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Am frühesten und zugleich systematischsten begründet er diese Ablehnung 1974 in seinem Aufsatz „Kunst als Ärgernis“ 951: In kritischer Auseinandersetzung mit einem Radiobeitrag Claus Borgeests zum „Fiasko der Kunstpädagogik“ 952 sowie ausgehend von einem „Gedankenspiel“ über die „Abschaffung der Kunst“ 953 nimmt er hier eine deutliche Revision seiner vorangegangenen Überlegungen zum Begriff der Kunst vor. Dabei sind es insbesondere drei Aspekte, die in den Mittelpunkt seiner diesbezüglichen Auseinandersetzung rücken: 1. Hatte Hentig der Kunst in seinen Arbeiten der 1960er Jahre noch eine singuläre „Grundfunktion“ 954 zugewiesen und diese zunächst als „die immer neue Entdeckung von Möglichkeit“ 955 sowie später dann als „Selbstbestätigung und Selbstbefreiung durch die Entdeckung eigener Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten“ 956 bestimmt, so plädiert er bei der definitorischen Bestimmung des Phänomens „Kunst“ nun für die Berücksichtigung einer deutlich größeren Anzahl an Kunstwirkungen und Kunstfunktionen. So merkt er zwar an, er könne „hier nicht den – verstiegenen – Versuch machen, all die Wirkungen aufzuzählen und zu beschreiben, die Kunstwerke tun könnten“ 957, einige Beispiele nennt er allerdings dennoch, wenn er fortfährt: „Einige sind uns allen geläufig, und an ihnen macht die Kunsttheorie ja auch ihre Gegenstände fest: die Erfindung von Möglichkeiten; die Befreiung des Subjekts zu sich selbst; die Herstellung von Überein-Stimmung mit anderen; die Aufhebung von Widersprüchen (der Tragödie gelingt, was die Philosophie nicht kann: aus unvereinbaren Gegensätzen eine einzige, wahre Erfahrung zu machen); die Veränderung oder Erweiterung der Wahrnehmung; das Einordnen des Wahrgenommenen; die Lust am Gestalten; das Suspendieren des Ernstfalls im Spiel …“ 958
Zwar tauchen mit der „Erfindung von Möglichkeiten“ bzw. der „Veränderung oder Erweiterung der Wahrnehmung“ hier erneut jene von Hentig bereits zuvor bestimmten Grundfunktionen von Kunst wieder auf, dieses Mal allerdings als Teil
951 Hentig 1974a 952 Der betreffende Beitrag Claus Borgeests wurde am 27. 01. 1974 im Hessischen Rundfunk unter dem Titel „Das Fiasko der Kunstpädagogik“ gesendet, jedoch im Anschluss nicht schriftlich publiziert. Hentig scheint Borgeest insofern aus einem ihm von d iesem zur Verfügung gestellten Manuskript zu zitieren. 953 Vgl. Hentig 1974a, S. 329 ff. 954 Hentig 1967b, S. 187 955 Ebenda, S. 189 956 Hentig 1969d, S. 94 957 Hentig 1974a, S. 334 958 Ebenda, S. 334 f.
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einer längeren Aufzählung diverser Kunstwirkungen, die – angezeigt durch die Auslassungspunkte am Ende derselben – nicht nur prinzipiell unabgeschlossen bleibt, sondern darüber hinaus als nichthierarchisch präsentiert wird. Berücksichtigt man zudem den Hinweis Hentigs, all dies seien „Wirkungen […], die Kunstwerke tun könnten“ 959 – und also nicht tun müssten –, so wird deutlich, dass Hentig seinen Fokus auf die Wirkungen von Kunst zwar beibehält, sein Kunstverständnis sich allerdings insofern geändert hat, als dass er nicht mehr von der einen, konstitutiven Grundwirkung und dadurch Grundfunktion von Kunst ausgeht, sondern das Phänomen „Kunst“ vielmehr als ein Ensemble verschiedenster Kunstwirkungen verstanden wissen möchte. In d iesem Sinne spricht er sich denn auch explizit gegen die Forderung aus, Kunst müsse „erklärbar sein, widerspruchslos definierbar und so an einer einzigen bleibenden Funktion meßbar“ 960, und er konstatiert: „Falsch und verärgernd werden Kunsttheorie und -praxis dort, wo Kunst ein eindeutiger Wert sein oder eine eindeutige Funktion haben soll und nicht durch wechselnde Wirkungen auf wechselnde Bedürfnisse hin bestimmt sein darf.“ 961 2. Obwohl Hentig durch diese Argumentation seinen Kunstbegriff erneut weiter zu öffnen scheint – und dabei eine Überlegung wiederaufnimmt, die zumindest implizit bereits in seiner 1967er Unterscheidung zwischen verschiedenen Gruppen von Kunstfunktionen angelegt gewesen war –, engt er diesen doch im selben Schritt sogleich wieder ein, indem er fragt, „Wie wäre es, wenn man all das Kunst nennte, was die Frage ernsthaft zuläßt, ob es Kunst sei?“ 962, und antwortet: „Bei einem Autowrack, einer trächtigen Kuh, einer Reklame für Campbell’s Tomato Soup auf einer Litfaßsäule oder einer Zahnbürste komme ihm diese Frage nicht: Aber wenn sie mir kommt – z. B. weil diese Reklame von einem Menschen gemacht wird, der keine Campbell’s Tomatensuppe zu verkaufen hat und der diese Reklame auch hundertmal nebeneinander anbringt und damit selber aufdeckt, daß dies ein ökonomisch sinnloser Vorgang ist, oder wenn sich die trächtige Kuh in einer Galerie, das Autowrack auf einem wohlgemeißelten Steinsockel in einem Park und meine Zahnbürste im Revers meines Smokings befinden – dann haben sie eine eigene Bedeutung, dann sind sie aus der Welt- wie-sie-ist herausgehoben, dann sind sie der Realität gegenüber ‚Kunst‘ – nämlich deren künstliche Fort-Setzung, ihr künstliches Gegenstück, eine erfundene Möglichkeit.“ 963
Unter dem Stichwort der „erfundene[n] Möglichkeit“ knüpft Hentig den Kunstcharakter eines Gegenstandes hier erneut an einen spezifischen Erfahrungsmodus: 959 Ebenda, S. 335 (Hervorhebung C. T. Z.) 960 Ebenda, S. 333 961 Ebenda, S. 334 962 Ebenda 963 Ebenda
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Erst in dem Moment, in dem ein Gegenstand durch die Art und Weise seiner Präsentation eine „eigene Bedeutung“ erhält, in dem er „aus der Welt-wie-sie-ist herausgehoben“ und als „künstliche Fortsetzung“ der Realität erfahrbar gemacht wird, lässt er sich im Sinne Hentigs als „Kunst“ bezeichnen. Über diesen Vorgang der Generierung von Bedeutung durch das Herausheben eines Gegenstandes aus der „Welt-wie-sie-ist“ nimmt Hentig nun allerdings nicht nur das Kriterium der Zeichenhaftigkeit künstlerischer Gegenstände wieder auf, er schließt zugleich den „bei weitem größere[n] Teil der Objekte“ aus seiner „Bestimmung von Kunst“ aus 964 – wie etwa einen „natürliche[n] Baum“, ein „nützliches Gartengerät“ oder ein „notwendiges Trinkwasser“.965 Ein Gegenstand wird in d iesem Sinne für H entig erst in dem Moment zu Kunst, in dem er als spezifisch künstlerisches Zeichen wahrgenommen wird und dabei zugleich einen Erfahrungsraum eröffnet, innerhalb dessen sich eine Vielzahl verschiedener künstlerischer Wirkungen entfalten kann. 3. Diese Rückbesinnung auf die Ebene der Zeichenhaftigkeit künstlerischer Gegenstände sowie die damit verbundene Aufwertung der konkreten Gestalt des einzelnen Kunstwerks dient Hentig zugleich dazu, Kriterien zur qualitativen Bewertung von Kunstwerken zu entwickeln – und damit den weiter oben skizzierten Widerstreit zwischen Funktionsbegriff und Wertbegriff von Kunst zumindest ansatzweise aufzuheben. So schreibt er Bezug nehmend auf seine vorangegangene Formulierung, bei einem jeden Kunstwerk handele es sich um „eine erfundene Möglichkeit“: „Diese Erfindung kann trivial, barer Unfug, also schlicht: schlechte Kunst sein – auch wenn Kunst selbst kein Wertbegriff ist. Der Maßstab für die Qualität des Kunstwerks läge ausschließlich in seinen Wirkungen, die ihrerseits in vielen sich überschneidenden Dimensionen liegen können: zwischen kurz und dauerhaft, heftig und mäßig, beabsichtigt und unbeabsichtigt, rational und irrational … Eine heftige und vorübergehende Wirkung wäre nicht aufzuwiegen durch eine laue und dauerhafte. Sie wären eben verschieden, vermutlich sogar inkommensurabel, und der Betrachter oder Betroffene oder Käufer hätte zu entscheiden: nach der wahrhaftig diagnostizierten Wirkung im Verhältnis zum wahrhaftig empfundenen Bedürfnis! Eine Häufung von Wirkungen: stark, dauerhaft, allgemein, individualisierbar, auf wichtige andere Existenzformen (Handeln, Erkennen, Urteilen, Glauben) bezogen – eine solche Häufung könnte ein Kunstwerk hoch über andere herausheben, ihm einen höheren Wert zusprechen lassen als anderen; aber von sich aus ‚haben‘ tut es ihn nicht.“ 966
Indem Hentig die Kunst von ihren Wirkungen her bestimmt, kann ihm die Qualität eben dieser Wirkungen also zugleich als Kriterium für die Bewertung einzelner Kunstwerke dienen. Damit nimmt er einen Gedanken wieder auf, den er bereits 964 Ebenda, S. 335 965 Ebenda 966 Ebenda, S. 334 (Hervorhebung im Original)
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1965 im Rahmen seines Vortrags zum Thema „Spielraum und Ernstfall“ erstmals entwickelt hatte: Damals hatte ihm seine Bestimmung der Kunst als „Erkundung des Möglichen“ ebenfalls nicht nur als Minimaldefinition gedient, sondern zugleich als funktionale Aufgabenbeschreibung, anhand derer er die einzelnen Künste (und damit einhergehend auch die einzelnen Kunstwerke) meinte graduell auf ihre Tauglichkeit hin bewerten zu können.967 Zwar handelt es sich bei dieser qualitativen Bewertung der Kunst von ihren Wirkungen her nach wie vor um ein radikal subjektives Maß; indem Hentig allerdings im weiteren Verlauf seiner Argumentation die probeweise Einrichtung eines „musée imaginaire“ 968 vorschlägt, aus dem „‚wirkungslose‘ oder wirkungslos gewordene Werke entfernt“ 969 würden, bemüht er sich zugleich, jenes subjektive Maß zumindest insofern in eine objektive Bestimmung besonders „wirkungsvoller“ Kunst zu überführen, als dass er andeutet, es könne durchaus Kunstwerke geben, die ihre besondere Wirkung über einen langen Zeitraum auf zahlreiche Menschen ausüben könnten. Er präzisiert: „Die Wahrscheinlichkeit, daß die Matthäuspassion oder der Hamlet, Rembrandts Bildnis seines Sohnes Titus oder der Giebel von Olympia, der Tadsch Mahal oder die Fromme Helene in diesem musée imaginaire überleben und Menschen aufregen, erfreuen oder ihnen helfen werden, mit dem Leben zurecht zu kommen, ist sehr hoch – m. E. höher, als daß Asterix oder Warhol oder Anatevka dies tun werden. Es wird freilich auch Zeiten geben, in denen der Parthenon und Bach die Mehrzahl der Menschen langweilen werden.“ 970
Hier wird deutlich, dass Hentig die Langlebigkeit eines Kunstwerkes – die Tatsache also, dass d ieses über die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg nicht in Vergessenheit gerät – als Hinweis darauf wertet, dass d ieses besonders starke und dauerhafte Wirkungen auszuüben im Stande sein könnte. Auf diesem Wege wird für Hentig aus der subjektiven, nur von jedem Einzelnen zu realisierenden Möglichkeit der qualitativen Bewertung eines Kunstwerks anhand dessen Wirkungen ein Instrument zur Bestimmung eben jener „‚große[n], ernste[n], ewige[n] Kunst‘“ 971, deren Existenz er bereits 1967 in seinem Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ angedeutet hatte. Als solchermaßen „‚große, ernste, ewige Kunst‘“ wären demnach solche Gegenstände zu bezeichnen, die sich für viele Menschen über einen langen Zeitraum als besonders geeignet darin erwiesen haben, ihren jeweiligen Rezipientinnen und Rezipienten als künstlerisches Zeichen zu dienen und es ihnen so ermöglichen konnten, eine besonders intensive Erfahrung künstlerischer Wirkungen zu machen. 967 Siehe oben, S. 162. 968 Hentig 1974a, S. 335 969 Ebenda 970 Ebenda (Hervorhebung im Original) 971 Hentig 1967c, S. 299
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Vergleicht man diese neuerliche Kunstbestimmung Hentigs nun mit seinen vorangegangenen Überlegungen zum Thema, so wird deutlich, dass Hentig einerseits zahlreiche Elemente seiner weiter oben unter dem Stichwort „Erkundung des Möglichen“ zusammengefassten Überlegungen der Jahre 1959 bis 1964 wiederaufnimmt – darunter insbesondere seine Überlegungen bezogen auf die Zeichenhaftigkeit künstlerischer Gegenstände –, diese aber andererseits insofern modifiziert, als dass er nicht mehr von der einen konstitutiven „Grundfunktion“ von Kunst ausgeht, sondern diese vielmehr als Ensemble verschiedenster Kunstwirkungen und daher auch Kunstfunktionen verstanden wissen möchte. Unklar bleibt in d iesem Zusammenhang allerdings zugleich die Stellung der „Erfindung des Möglichen“ innerhalb dieser Systematik: Einerseits argumentiert Hentig, ein Objekt werde erst in dem Moment zu Kunst, in dem es als eine „erfundene Möglichkeit“ 972 wahrgenommen werde, andererseits bezeichnet er die „Erfindung von Möglichkeiten“ 973 selbst als eine derjenigen Wirkungen, die ein Kunstwerk haben könne, aber nicht haben müsse. Eben diese, hier noch unklare Stellung der „Erkundung des Möglichen“ ist es schließlich auch, die Hentig in den folgenden Jahren wieder verstärkt in den Mittel punkt seiner Überlegungen zum Thema rückt. Besonders deutlich wird dies im Rahmen seines Vortrags „Bedingungen und Funktionen ästhetischer Erziehung – aus bildungstheoretischer Sicht“ 974, den er im Oktober 1980 auf einem Kongress des Bundes Deutscher Kunsterzieher im Kölner Gürzenich hält. Hier erklärt er einleitend: „Ich selber komme […] zu einer formalen Definition der Kunst, die ihre objektiven historischen Erscheinungen ebenso einschließt wie ihre subjektiven Absichten und Wirkungen: Kunst ist die Exploration des Möglichen und ist an ihren Wirkungen zu messen. Diese Definition wird die Philosophen nicht befriedigen, ist aber für die Pädagogen brauchbar: sie haben ja keine teuren Kunstwerke anzuschaffen, sie müssen nicht über Rang und Wert von Kunstwerken urteilen – sie sollen das gar nicht!“ 975
Indem Hentig hier insistiert, die Kunst sei „Exploration des Möglichen und […] an ihren Wirkungen zu messen“, knüpft er nicht nur gezielt an seine bereits Mitte der 1960er Jahre entwickelten Überlegungen zum Thema an, er entscheidet sich zugleich dafür, die „Exploration des Möglichen“ als „allgemeine Funktion der Kunst für uns alle“ erneut in den Mittelpunkt seiner Kunstbestimmung zu rücken 976. Zwar nimmt er auf diesem Wege sogleich wieder Abstand von seiner noch 1974 proklamierten Weigerung, der Kunst eine ebensolche „eindeutige Funktion“ 977 zuzuordnen. Mit 972 Hentig 1974a, S. 334 973 Ebenda, S. 335 974 Hentig 1981b. Siehe zu diesem Vortrag genauer oben, S. 117 ff. 975 Hentig 1981b, S. 29 976 Ebenda, S. 34 977 Hentig 1974a, S. 334
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dem nachgeschobenen Hinweis allerdings, diese Definition werde „die Philosophen nicht befriedigen“, sei aber „für die Pädagogen brauchbar“, relativiert er zugleich den Absolutheitsanspruch der von ihm entwickelten Kunstdefinition und deutet so an, es könne durchaus noch andere, mitunter auch konstitutive Wirkungen und Funktionen von Kunst geben, denen seine Definition nicht gerecht werde.978 Hentig bleibt insofern zwar bei seiner bereits Mitte der 1960er Jahre formulierten Bestimmung der Kunst als „Erkundung des Möglichen“, er möchte diese Bestimmung jedoch nunmehr lediglich als eine Art pädagogischen Arbeitsbegriff verstanden wissen, mit dem er zwar seine eigene Theorie und Praxis ästhetischer Erziehung meint begründen zu können, mit dem er allerdings zugleich keine darüberhinausgehenden systematischen Anliegen mehr verfolgt. Dementsprechend weist er im weiteren Verlauf seiner Argumentation zwar mehrfach darauf hin, dass diejenigen Gegenstände, die er als „Kunst“ verstanden wissen möchte, deutlich von anderen Formen „ästhetische[r] Erfahrung“ 979 – wie etwa der „Gestaltung unserer Gegenstände“, der „Werbung“ der „Bilderflut“, dem „Kunstlicht“ oder dem „permanenten Farbschock“ 980 – zu unterscheiden seien, eine systematische Begründung dieser Unterscheidung nimmt er allerdings nicht mehr vor. Deutlich intensiver widmet er sich dementgegen seiner bereits zuvor mehrfach vorgenommenen Unterscheidung zwischen besserer und schlechterer Kunst. So merkt er an, er habe „zu keinem Zeitpunkt aufgegeben, Kunst an einem Maßstab zu messen“ 981, und ergänzt: „Ich kann mir eine Ästhetische Erziehung sonst nicht vorstellen, gerade, wenn ich sagen und zeigen will: was mir in meinem Leben die größten Erschütterungen und die größten Beglückungen bereitet hat und was ‚Entdeckung von Möglichkeit‘ als allgemeine Funktion der Kunst für uns alle bedeutet. Das kann ich am besten an Kunstwerken, die dies für viele, unbestritten, verlässlich getan haben.“ 982
Wie bereits 1974 besteht Hentig also auch hier einerseits auf einem subjektiven Maßstab zur Bewertung einzelner Kunstwerke anhand ihrer Wirkungen („wenn ich sagen und zeigen will: was mir in meinem Leben die größten Erschütterungen 978 Ganz in d iesem Sinne hatte er bereits zwei Jahre zuvor im Rahmen eines Interviews mit der Zeitschrift für Musikpädagogik in direkter Ansprache seiner Gesprächspartner konstatiert: „Sie kennen meine verschiedenen kleinen Übungen, das Phänomen Kunst so einzukreisen, daß ich damit leben kann. Ich möchte Sie für unseren Zweck an die Formulierung ‚Kunst ist Exploration des Möglichen‘ erinnern. Gegen weitere Einengungen sträube ich mich […].“ (Hentig et al. 1978, S. 6 f., Hervorhebung im Original) 979 Hentig 1981b, S. 23 980 Ebenda, S. 23 f. 981 Ebenda, S. 34 982 Ebenda
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und die größten Beglückungen bereitet hat“ 983) und geht andererseits davon aus, dass es durchaus Kunstwerke geben könne, die die gemeinten Wirkungen „für viele, unbestritten, verlässlich getan“ hätten. Zwar lässt er offen, worin genau die Kriterien liegen könnten, anhand derer ein solch unbestrittenes und verlässliches Wirken intersubjektiv gemessen werden könnte – wessen Bestreiten oder Nicht- Bestreiten also als maßgeblich für ein entsprechendes Urteil anzusehen wäre –, er gibt aber zumindest einige Beispiele für die von ihm gemeinten künstlerischen Gegenstände, wenn er im Anschluss mehrere „Kunstwerke von Rang“ 984 nennt, die als „Erfahrungen und Erfahrungshilfen“ 985 in der heutigen Schule seines Erachtens kaum noch vorkämen: darunter „Schuberts ‚Bin tödlich schwer verletzt …‘“, „Brahms’ Alt-Rhapsodie“, „Kleists Penthesilea“, „der Parthenon, die Westfassade von Chartres“ oder „die großen Selbstbildnisse Rembrandts, Dürers, Cézannes, van Goghs, Horst Janssens“.986 Spätestens an diesen Formulierungen und Aufzählungen wird deutlich, dass Hentig zu Beginn der 1980er Jahre nicht nur einen formal engeren Kunstbegriff verwendet als noch gegen Ende der 1960er Jahre: Er argumentiert darüber h inaus auch bezogen auf die qualitative Bewertung der einzelnen, innerhalb seines Kunstbegriffs fallenden Kunstwerke zugleich im Sinne eines eher „konservativen“ 987 Kunstverständnisses, insofern er aus pädagogischer Perspektive vornehmlich solche Gegenstände präferiert, die ihre Wirkungen seines Erachtens „für viele, unbestritten, verlässlich getan“ 988 hätten. Dementsprechend möchte er denn auch zahlreiche Artefakte der zeitgenössischen Kunst ob ihrer „scheinbar zum Prinzip erhobene[n] Beliebigkeit“ 989 lediglich als „Kunstübungen“ 990 verstanden wissen, die sich dermaßen weit von dem entfernt hätten, was „in anderen Zeiten ‚Kunst‘“ 991 geheißen habe, dass man zweifeln möge, „ob der gleiche Ausdruck für so Ungleiches Verständigung stiften“ 992 könne. An dieser formalen wie qualitativen Einengung seines Kunstbegriffs – bei gleichzeitiger Relativierung des Absolutheitsanspruchs dieses Begriffes – hält Hentig schließlich auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten weitgehend fest. So lässt er beispielsweise 983 Ebenda (Hervorhebung C. T. Z.) 984 Ebenda 985 Ebenda 986 Ebenda 987 Diesen Begriff verwendet Hentig zumindest selbst, wenn er notiert: „Es beschleicht mich […] die Ahnung, die Veranstalter könnten mich um diesen Vortrag gebeten haben, weil sie sehen wollten, wie ein sogenannter Progressiver mit dem fertig wird, was ihm und seinesgleichen seit langem zusetzt und was seine Gegner seine ‚konservativen Anwandlungen‘ nennen: als Antwort auf die ungewollten Folgen der eigenen Anstöße.“ (Ebenda, S. 33 f.) 988 Ebenda, S. 34 989 Ebenda, S. 31 990 Ebenda, S. 33 991 Ebenda 992 Ebenda
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in der Einleitung seines 1985 erschienenen Sammelbandes Ergötzen, Belehren, Befreien 993 eine Vielzahl von Bestimmungen, die man der Kunst seines Erachtens ebenfalls zuweisen könne, zwar sehr wohl gelten, er notiert allerdings zugleich, all diese Eigenschaften seien verbunden mit der einen „Grundfunktion der Kunst“ 994, nämlich „das Mögliche zu erkunden“ 995. In d iesem Sinne konstatiert er denn auch, er habe seine Mitte der 1960er Jahre entwickelte Definition von Kunst zwar „nicht geändert“, er erkenne nun aber „deutlicher den Mißbrauch, den man mit ihr treiben“ könne 996, und er ergänzt: „Ich wehre mich dagegen, daß der Kunstunterricht einem ungenauen, für seinen Gegenstand unzuständigen Gesellschaftsunterricht geopfert wird […] Ich bleibe dabei, daß es in diesem Unterricht in erster Linie um das Erfahren, Verstehen und Hervorbringen von ästhetischen Wirkungen geht, und sehe, daß die großen Kunstwerke hierbei vor allen anderen möglichen ästhetischen Gegenständen einen gewaltigen Vorsprung haben.“ 997
Auch hier unterscheidet Hentig also explizit z wischen „großen Kunstwerke[n]“ auf der einen und möglichen sonstigen „ästhetischen Gegenständen“ auf der anderen Seite, wobei er zur genaueren Kennzeichnung dessen, was mit der gemeinten Unterscheidung auf der konkreten Ebene der Unterrichtsgegenstände gemeint sein könnte, notiert: „An der Laborschule habe ich 1970 den Erfahrungsbereich, der die bildenden Künste, das Th eater und die Musik umfaßt, ‚Wahrnehmen und Gestalten‘ genannt. Jetzt bestehe ich darauf, daß es neben improvisierten Rollenspielen und einem selbst komponierten Musical auch ‚Antigone‘ oder ‚Andorra‘ gebe; neben Pop-Music auch Bach und Schubert; neben der Analyse von Plakaten und Reklame auch das Studium von Dürers Grafik; neben ‚multimedialen Interaktionen‘, ‚polyästhetischen Produktionen‘, ‚Stilintegration als Gestaltungsimpuls‘ die sach- und fachgerechte Rekonstruktion des Parthenon-Tempels.“ 998
Hentig scheint sich in diesem Sinne mit Beginn der 1980er Jahre für einen Begriff von Kunst als „Erkundung des Möglichen“ entschieden zu haben, der seinen ästhetischen Maßstab in den nach seinem Dafürhalten „großen Kunstwerken“ findet: an „Parthenon-Tempel“, „Dürer“ und „Antigone“ und eben nicht an „Pop-Music“, „Reklame“ und „multimedialer Interaktion“. Und auch wenn Hentig in den folgenden Jahren selbst immer wieder darauf hinweist, dass die Kunst nicht nur eine Wirkung
993 Hentig 1985e 994 Ebenda, S. 22 995 Ebenda 996 Ebenda, S. 20 997 Ebenda, S. 20 f. (Hervorhebung im Original) 998 Ebenda, S. 20
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und nicht nur eine Funktion habe 999, im Mittelpunkt seiner Überlegungen zum Thema steht dennoch immer wieder die eine, die seines Erachtens wichtigste Funktion von Kunst: die „Erkundung des Möglichen“ 1000. Diesem Zusammenhang Rechnung tragend, notiert er denn auch 1998 in seinem Essay Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff unter dem Stichwort „Die Rolle der Kunst“ 1001: „In einer verwalteten, ausgemessenen, geplanten, funktionalisierten und sich immer abstrakter darstellenden Welt erwächst ein gesteigertes Bedürfnis nach einer bestimmten Funktion der Kunst: Sie erkundet, was möglich ist (Carl Friedrich von Weizsäcker), so wie Wissenschaft erkennt, was wirklich ist, und Politik die Verhältnisse zu dem gestaltet und ordnet, was sein soll. In dieser Funktion (es ist nicht ihre einzige) stößt die Kunst sich von dem ab, was herrschend geworden ist – zu fest oder zu beweglich, zu rational oder zu irrational, zu politisch oder zu unpolitisch. Sie bricht Tabus, verletzt die gewohnten Denk- und Wahrnehmungsmuster, wird zum Skandalon, sucht neue Formen und, wenn diese alle schon eingenommen sind, die Formlosigkeit.“ 1002
Hier ist nun erneut beides beisammen: auf der einen Seite das – mit einem Verweis auf Carl Friedrich von Weizsäcker verbundene – Bekenntnis Hentigs zur gesellschaftlichen Bedeutung der Kunst als „Erkundung des Möglichen“, auf der anderen Seite der in Klammern hinzugefügte, relativierende Hinweis, bei der gemeinten Funktion von Kunst handele es sich gewiss nicht um deren einzige Funktion. Doch nicht nur was die formale Bestimmung der Kunst als „Erkundung des Möglichen“ angeht, bleibt Hentig seiner im Laufe der 1980er Jahre eingeschlagenen Linie weiterhin treu. Dasselbe gilt auch bezogen auf die von ihm vorgenommene qualitative Bewertung einzelner Kunstwerke: So widmet er sich lobend in erster Linie klassischen, bereits kanonisierten Werken, Künstlern und Autoren wie etwa dem Pergamon-Fries im Berliner Pergamonmuseum 1003, der Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs 1004 oder dem lyrischen Werk Schillers, Goethes und Rilkes 1005, während er zugleich mit zeitgenössischen Werken insbesondere der bildenden Kunst immer wieder ausgesprochen hart ins Gericht geht.1006
999 So etwa wenn er anlässlich der Eröffnung einer Kunstausstellung des Oberstufen-Kollegs Bielefeld eine lange Liste von Sätzen zusammenstellt, die ein „verständiges Wesen von einem anderen Planeten“ seines Erachtens „über den denkbaren Sinn der Tätigkeit sagen könnte“, die zu den ausgestellten Kunstwerken geführt hätten, und konstatiert: „Kunst ‚ist‘ nicht nur das eine – auch das nicht, was in aller Kunst steckt.“ (Hentig o. J. [1987], S. 3) 1000 Vgl. bspw. ebenda oder Hentig 1990a, S. 68. 1001 Hentig 1998b, S. 41 1002 Ebenda 1003 Vgl. Hentig 2000c, S. 508 f. 1004 Vgl. Hentig 2002b. 1005 Vgl. insbesondere Hentig 1999d. 1006 Vgl. bspw. Hentig 1990a, S. 70 f. oder Hentig 1994b.
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Diese Haltung zeigt sich schließlich auch in Hentigs bis dato letzter systematischer Arbeit zum Begriff der Kunst: Unter dem Titel „‚… rastlos von Veränderung zu Veränderung‘ Oder: Was ist Kunst?“ 1007 arbeitet er 1999 in einem auf Einladung der Deutschen Schillergesellschaft in Marbach gehaltenen Vortrag einerseits die allgemeine Notwendigkeit heraus, die „vertrackte Frage nach der Kunst“ 1008 immer wieder neu zu stellen – zumal für den Pädagogen, der zu entscheiden habe, „was alle Schüler lernen sollen“ 1009 –, andererseits konstatiert er, auch einen persönlichen Grund für eine neuerliche Auseinandersetzung mit jener Frage zu haben. So wolle er, Hentig, die „Aufforderung der Deutschen Schillergesellschaft, einen Vortrag über Schillers Ästhetik zu halten“ 1010, zum Anlass nehmen, „meine eigenen Äußerungen (Theorien wage ich sie nicht zu nennen) noch einmal zu überprüfen: an den sorgfältig gemeißelten Gedankenfiguren, die der philosophierende Künstler gebildet und sprachlich wunderbar eingekleidet hat“ 1011. In diesem Sinne lässt er im Folgenden denn auch einige seiner bisherigen Arbeiten zum Thema kurz Revue passieren, um schließlich mit Blick auf seinen 1980er Vortrag über die „Bedingungen und Funktionen ästhetischer Erziehung“ zu resümieren: „Ich sprach also der Kunst eine im Wortsinne maß-gebende Rolle in der Ästhetischen Erziehung zu und verpflichtete mich damit eigentlich schon damals zu meinem heutigen Unternehmen: Ich mußte und muß nun erneut prüfen, was die in der Kunst liegenden Maßstäbe sind, an denen sich Kunstwerke messen und verstehen lassen und an denen ihre pädagogische Funktion festzumachen ist. Die These, daß diese Maßstäblichkeit an den Wirkungen der Kunstwerke faßbar sei – eher als an allgemeinen Postulaten –, habe ich nicht aufgeben müssen. Sie hat – beunruhigend und antreibend – meine erneute Lektüre von Schillers ästhetischen Schriften begleitet.“ 1012
Trotz dieser Ankündigung allerdings nimmt weder die genauere Untersuchung der eigenen Äußerungen zum Thema noch die darüberhinausgehende Prüfung dessen, was die in der Kunst liegenden allgemeinen Maßstäbe sein könnten, sonderlich viel Raum in Hentigs weiteren Ausführungen ein. So nennt er zwar ein „‚gute[s] Dutzend‘ Kardinalantworten“ 1013 auf seine zuvor als „Was ist die Kunst?“ 1014 präzisierte Fragestellung und berücksichtigt dabei unter anderem auch jene von ihm selbst zuvor wiederholt gegebene Antwort, nach welcher die Kunst als „Erkundung des Möglichen“
1007 Hentig 2000a 1008 Ebenda, S. 2 1009 Ebenda 1010 Ebenda, S. 3 1011 Ebenda 1012 Ebenda, S. 5 1013 Ebenda 1014 Ebenda
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und damit als eine „spezifische Form von Erkenntnis“ zu begreifen sei 1015, im Anschluss jedoch konstatiert er sogleich: „Ich werde die Prüfung dieser Antworten hier nicht vornehmen und treffe doch eine Entscheidung, die ich zunächst auch unbegründet hinzunehmen bitte: Nicht diese oder jene Behauptung hat recht und die anderen folglich nicht, sondern sie sind alle berechtigt, weil und sofern sie die Kunst zum Ausgang eines Nachdenkens über den Menschen nehmen. Ein solcher Umgang mit der Frage liegt nahe bei einem, der nicht als Kunstwissenschaftler oder gar Kunsttheoretiker an dem Thema interessiert ist, sondern als Pädagoge, Philosoph und Menschenforscher.“ 1016
Anstatt also jene „Kardinalantworten“ genauer zu prüfen, wendet sich Hentig bei seiner anschließenden „Suche nach einem Begriff der Kunst“ 1017 in erster Linie an Schiller und dessen Schriften zum Thema. Wenn er deshalb im weiteren Verlauf seines Vortrags eine ganze Reihe aktueller Objekte der bildenden Kunst umreißt und diesen dabei zwar einige „gemeinsame Merkmale“ 1018, allerdings zugleich eine „völlige Preisgabe von Maßstab, übergreifender Th eorie, gemeinsamem Kunstprinzip und damit auch Kunstpublikum“ 1019 zuspricht, so dient ihm diese Diagnose in erster Linie als Anlass dazu, diejenige „Hilfe“ zu umreißen, die Schillers ästhetische Schriften seines Erachtens den „heutigen Künstlern […] und dem ihnen verbliebenen Publikum“ 1020 anzubieten im Stande sein könnten.1021 In diesem Sinne besteht die knappe Hälfte des hentigschen Vortrags denn auch in einer kursorischen Darstellung der „Antwort Schillers“ 1022 auf die zuvor skizzierte Frage nach dem Wesen der Kunst, mit dem Ergebnis, dass jene Beliebigkeit, die Hentig dem aktuellen Kunstbetrieb zuvor diagnostiziert hatte, von ihm unter Bezugnahme auf diverse Äußerungen Schillers wie folgt bewertet wird: „Die meisten heutigen Kunstwerke tragen ‚Lumpen‘. Sie tragen sie zur Schau. Sie t ragen das Niedrige und Gemeine dick auf. Aber sie erzeugen damit keine Spannung wie das große Gedicht vom elenden Hiob, wie die Dramen von Philoktet oder Woyzek, wie Picassos Guernica.
1015 Ebenda, S. 6 1016 Ebenda (Hervorhebung im Original) 1017 Ebenda, S. 7 1018 Ebenda, S. 11 1019 Ebenda 1020 Ebenda, S. 13 1021 Damit allerdings widmet sich Hentig erstmals ausführlicher den ästhetischen Schriften Schillers – und dies nachdem er sie bereits mehr als dreißig Jahre zuvor als zentrale Stichwortgeber für seine programmatische Forderung nach einer gezielten Verknüpfung von ästhetischer und politischer Erziehung verwendet hatte (siehe oben, Kapitel 4.1.3). 1022 Hentig 2000a, S. 13
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Ihre Lumpen sind Lumpen und nicht der Schein von Lumpen. Sie schockieren nicht, sofern sie nur dies wollen. Sie haben ihre Wirkung verbraucht, weil sie die Einbildungskraft nicht angesprochen haben. Ihre Lumpen stinken nur. Auch das läßt sich zwar steigern, aber doch nicht beliebig. Und darum muß anderes her. So eilen sie ‚rastlos von Veränderung zu Veränderung‘, sie ‚ergreifen das Neue und Überraschende, das Bunte, Abenteuerliche und Bizarre, das Heftige und Wilde‘ und fliehen ‚vor nichts so sehr als vor der Einfalt und Ruhe.‘ Sie bilden ‚groteske Gestalt‘, sie lieben ‚rasche Übergänge, üppige Formen, grelle Kontraste, schreiende Lichter, einen pathetischen Gesang. Schön heißt (den Menschen) in dieser Epoche …, was (sie) aufregt.‘ Sie halten dies für Freiheit. Sie irren sich – und könnten dies einsehen, wenn sie Schiller verstünden. Sie könnten die Freiheit, das Entsetzen und seine Überwindung, die radikale Selbstbestimmung (Heautonomie), die sie beanspruchen, ohne Verlust erzeugen, wenn sie sich nur zugäben, daß dies gerade nicht ‚beliebig‘ geschehen kann.“ 1023
Anders als der Titel seines Vortrags zunächst vermuten lassen könnte, ist Hentig insofern nicht darauf aus, eine eigene Antwort auf die titelgebende Frage „Was ist Kunst?“ zu entwickeln, er bemüht sich vielmehr, eine mögliche Antwort Schillers auf die ihn, Hentig, bedrängende Frage herauszuarbeiten, wie der Beliebigkeit zahlreicher Artefakte der bildenden Kunst systematisch argumentierend begegnet werden könnte. Der skizzierte Vortrag Hentigs bietet dementsprechend zwar keine Konklusion seiner bisherigen Überlegungen zum Thema, er gibt aber dennoch einen aufschlussreichen Blick frei auf einige derjenigen Fragestellungen und Problemfelder, die Hentig knapp vierzig Jahre nach Veröffentlichung seiner ersten systematischen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen der Kunst noch immer zu beschäftigen scheinen. So zeigen die entsprechenden Einlassungen Hentigs nicht nur, dass dieser nach wie vor von der Notwendigkeit überzeugt ist, als „Pädagoge, Philosoph und Menschenforscher“ 1024 die Frage nach Wesen und Maßstab des Phänomens „Kunst“ immer wieder neu zu stellen, es wird darüber hinaus deutlich, dass Hentig seine eigenen, über mehrere Jahrzehnte entwickelten Überlegungen zum Thema noch immer als ungenügend, als ihrem komplexen Gegenstand nicht gerecht werdend betrachtet – und zwar in einem solchen Maße, dass er diese noch nicht einmal als „Theorien“ verstanden wissen möchte 1025. Bei all dieser gezielt herausgestellten Zurückhaltung allerdings – zumindest was die eigenen Begriffe und Maßstäbe angeht – bleibt Hentigs ästhetisches Urteil bezogen auf die Qualität einzelner Kunstwerke ungebrochen sicher: Während das „große Gedicht vom elenden Hiob“, Picassos Guernica und die Dramen von Philoktet und Woyzek ihm als Exempel für die Wirkungskraft großer Kunst dienen 1026, hat er für zahlreiche neuere Objekte insbesondere der bildenden Kunst kaum mehr als Unverständnis übrig. Arbeiten wie Joseph Beuys’ Coyote, Damien Hirsts Anarchy und Rebecca Horns Turm 1023 1024 1025 1026
Ebenda, S. 21 [Auslassung im Original] unter Bezugnahme auf Schiller 1959. Hentig 2000a, S. 6 Vgl. ebenda, S. 3. Vgl. ebenda, S. 21.
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der Namenlosen möchte er in diesem Sinne denn auch in erster Linie verstanden wissen als beredte Zeugnisse für eine „völlige Preisgabe von Maßstab, übergreifender Th eorie, gemeinsamem Kunstprinzip und damit auch gemeinsamem Kunstpublikum“ 1027.
5.1.5 Zwischenfazit: Zum Begriff der Kunst Betrachtet man die skizzierte, mehr als vierzig Jahre umfassende Bemühung Hentigs, das Phänomen der Kunst so einzugrenzen und begrifflich zu fassen, dass er „damit leben kann“ 1028, so wird deutlich, dass auch diese Bemühung – als Teil der gesamten Entwicklungsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Erziehung – geprägt ist durch eine anhaltende Spannung von Wandel und Kontinuität. So finden sich in Hentigs Arbeiten zum Themenkomplex „Kunst“ zwar einerseits Motive, die über Jahre hinweg gleich bleiben und immer wieder in ähnlichen Konstellationen und Begriffszusammenhängen auftauchen, andererseits aber lassen sich zugleich Problem stellungen und Fragen identifizieren, deren Bearbeitung geprägt ist durch einen deutlichen Wandel der entsprechenden Überzeugungen und Positionen Hentigs. Was dabei die Ebene der Kontinuität angeht, so sind es insbesondere drei Motive, die für die hentigsche Bestimmung des Phänomens „Kunst“ von anhaltender Bedeutung sind: • Die Kunst wird von Hentig anhand ihrer Wirkungen bestimmt. Konstitutiv für
das hentigsche Verständnis von Kunst ist also weniger die spezifische Gegenständlichkeit von Kunstwerken, als vielmehr die spezifische Erfahrung, die man im Umgang mit ihnen machen kann – eine Erfahrung, im Rahmen derer verschiedene Wirkungen von Kunst zur Entfaltung kommen können.
• Im Rahmen einer solch künstlerischen Erfahrung vollzieht sich ein Vorgang, den
Hentig als „Erkundung des Möglichen“ verstanden wissen möchte: als „Versuch, die durch das Tatsächliche immer wieder aufgehobene Kategorie des Möglichen wiederherzustellen“ 1029. Diesen Vorgang, den Hentig wiederholt als wichtigste Funktion der Kunst bezeichnet und mit einer „Veränderung oder Erweiterung der Wahrnehmung“ 1030 in Verbindung bringt, bindet er dabei zugleich ausgesprochen eng an einen spezifisch künstlerischen Prozess des Verstehens, genauer: an den spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen.
• Die Bestimmung der Kunst anhand ihrer Wirkungen dient Hentig darüber hinaus
als Maßstab für eine qualitative Bewertung einzelner Kunstwerke. So plädiert er
1027 1028 1029 1030
Ebenda, S. 11 Hentig et al. 1978, S. 7 Hentig 1967b, S. 189 Hentig 1974a, S. 335
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wiederholt dafür, die Qualität von Kunstwerken daran zu messen, ob diese ihre Wirkungen „für viele, unbestritten, verlässlich getan“ 1031 hätten. Dieser Maßstab wiederum hat zur Folge, dass Hentig in erster Linie solche Gegenstände als „große Kunst“ gelten lassen möchte, die ihre Wirkungskraft nach seinem Dafürhalten über einen längeren Zeitraum haben unter Beweis stellen können. Diesen Motiven, die über Jahre hinweg immer wieder in ähnlichen Konstellationen und Begriffszusammenhängen auftauchen, stehen auf der anderen Seite insbesondere zwei Problemstellungen gegenüber, deren Bearbeitung geprägt ist durch einen deutlichen Wandel der hentigschen Überzeugungen und Positionen: • Die erste der gemeinten Problemstellungen betrifft dabei die Frage, wie sich der
von Hentig identifizierte Vorgang einer „Erkundung des Möglichen“ zum Gesamtphänomen der Kunst verhält: Wird ein Gegenstand oder Ereignis bereits in dem Moment zu einem Kunstwerk, in dem es die Funktion einer „Erkundung des Möglichen“ erfüllt, oder müssen hierfür zugleich weitere Bedingungen erfüllt sein? Während Hentig diesbezüglich in der ersten Hälfte der 1960er Jahre zunächst von einer einzigen, und dadurch konstitutiven, „Grundfunktion“ 1032 von Kunst ausgeht, plädiert er Mitte der 1970er Jahre vorübergehend für die Berücksichtigung einer deutlich größeren Anzahl an Kunstwirkungen und Kunstfunktionen, um schließlich mit Beginn der 1980er Jahre dafür einzutreten, die „Erkundung des Möglichen“ zwar als „allgemeine Funktion der Kunst für uns alle“ 1033 zu begreifen, zugleich jedoch anzuerkennen, dass der Kunst trotz alledem eine Vielzahl weiterer, zusätzlicher Wirkungen und Funktionen zugesprochen werden könne.
• Die zweite Problemstellung wiederum ist unmittelbar mit der ersten verbunden
und betrifft die systematische Abgrenzung zwischen Kunstwerken auf der einen und sonstigen ästhetischen Gegenständen auf der anderen Seite. Zwar möchte Hentig im großen Teil seiner Schriften beide Bereiche deutlich voneinander getrennt wissen. Indem er aber der Kunst wiederholt eine spezifische Funktion zuweist und deren Erfüllung wiederum als zentrales Bestimmungsmoment von Kunst heranzieht, gelingt es ihm zwischenzeitlich nicht mehr, eine deutliche Unterscheidung zu treffen zwischen Kunstwerken „im engeren Sinne“ 1034 und solchen Gegenständen des alltäglichen Lebens, die seines Erachtens dieselbe Funktion erfüllen. Insbesondere in den Jahren 1966 bis 1969 gerät ihm die diesbezügliche Differenzierung zwischen Kunst und Nicht-Kunst dadurch zunehmend unscharf, mit der Folge, dass beide Bereiche vorübergehend diffundieren.
1031 1032 1033 1034
Hentig 1981b, S. 34 Hentig 1967b, S. 187 Hentig 1981b, S. 34 Hentig 1966a, S. 3
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Berücksichtigt man – über die skizzierten Problemstellungen hinausgehend – nun noch den Umstand, dass es Hentig nicht durchgängig gelingt, die zentralen, von ihm wiederholt zur Charakterisierung des Phänomens „Kunst“ verwendeten Begrifflichkeiten wie „Kunstwirkung“, „Kunstfunktion“ oder „Erkundung des Möglichen“ ausreichend präzise zu fassen und systematisch in ihrem Verhältnis zueinander zu bestimmen, so muss der von ihm über die Jahre hinweg verwendete Kunstbegriff in seiner Gesamtheit als eher unscharf bezeichnet werden. Ganz in d iesem Sinne relativiert Hentig ab Mitte der 1970er Jahre denn auch wiederholt selbst den Absolutheitsanspruch der eigenen Überlegungen zum Thema und konstatiert schließlich, seine Definition von Kunst werde „die Philosophen nicht befriedigen“, sei aber „für die Pädagogen brauchbar“ 1035. Er entwickelt demnach zwar keine systematisch hergeleitete, den Ansprüchen der philosophischen Ästhetik genügende Bestimmung und begriffliche Fixierung des Phänomens „Kunst“, arbeitet aber sehr wohl mit einer Art pädagogischem Arbeitsbegriff von Kunst, der trotz aller skizzierten Wandlungen zumindest grob konturiert erscheint. Möchte man diese Kontur daher abschließend umreißen, so ließe sich konstatieren, dass Hentig, wenn er in seinen Arbeiten von „Kunst“ spricht, in der Regel s olche Gegenstände oder Ereignisse meint, im Umgang mit denen ein Mensch eine spezifisch künstlerische Erfahrung machen kann – eine Erfahrung, die wiederum gebunden ist an einen ebenfalls spezifisch künstlerischen Zeichencharakter der jeweiligen Gegenstände oder Ereignisse. Beim Verstehen dieser Kunst-Zeichen stellt sich dabei laut Hentig eine Wirkung ein, die er als „Erkundung des Möglichen“ verstanden wissen möchte: als „Versuch, die durch das Tatsächliche immer wieder aufgehobene Kategorie des Möglichen wiederherzustellen“ 1036. Zwar gibt es im Sinne Hentigs darüber hinaus noch zahlreiche weitere Kunstwirkungen und Kunstfunktionen, der Vorgang einer „Erkundung des Möglichen“ allerdings ist für ihn konstitutiv für das Phänomen „Kunst“: Ein jeder Gegenstand wird für ihn also erst in dem Moment zu einem Kunst-Werk, in dem er jene spezifische Kunst- Wirkung entfaltet – in dem Moment also, in dem ein Mensch im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit des ihm entgegentretenden künstlerischen Zeichens die Erfahrung einer „Erkundung des Möglichen“ macht. Im Prinzip kann somit im Sinne Hentigs zwar jeder Gegenstand und jedes Ereignis zu „Kunst“ werden, indem er bzw. es als „künstlerisches Zeichen“ gelesen wird (selbst wenn dies von deren Hersteller oder Initiator ursprünglich gar nicht intendiert war), es eignet sich aber nicht jeder Gegenstand oder jedes Ereignis in gleichem Maße dazu, in einer solchen Weise „gelesen“ zu werden. Es gibt insofern unter der hentigschen Perspektive einer Kunst als „Erkundung des Möglichen“ bessere und schlechtere Kunstwerke, deren Qualität wiederum anhand der Frage bestimmt werden kann, inwieweit sie ihre Wirkungen „für viele, unbestritten, verlässlich“ 1037 haben tun können.
1035 Hentig 1981b, S. 29 1036 Hentig 1967b, S. 189 1037 Hentig 1981b, S. 34
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5.2 Schönheit Neben dem Begriff der Kunst nimmt auch derjenige der Schönheit eine zentrale Stellung in Hentigs Überlegungen zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung ein. Zwar widmet er sich d iesem erst Mitte der 1960er Jahre in systematischer Perspektive, zahlreiche seiner autobiographischen Veröffentlichungen allerdings zeugen zugleich von einer bereits deutlich früher einsetzenden Auseinandersetzung mit Fragen nach Macht und Wesen des Schönen. So findet sich etwa in einem längeren Brief Hentigs an Richard von Weizsäcker aus dem Jahr 1948 1038 – erstmals abgedruckt in Hentigs 2000 erschienenem Sammelband Fahrten und Gefährten – eine Passage, in der dieser dem Freund von seinem Besuch der Wallfahrtskirche Birnau berichtet und in diesem Zusammenhang notiert: „Ich bin noch einmal in die K irche gegangen, bevor ich im Regen weitermarschierte. Es war merkwürdigerweise eine Einzelheit, die meine Vorstellung beschäftigte: die Hand eines Heiligen. – Die schönsten Hände, fiel mir dabei auf, habe ich tatsächlich nicht an leibhaftigen Menschen gesehen, sondern an Statuen, an jenem Bischof im Bamberger Dom, am Creglinger Altar, auf Abbildungen vom Krakauer Veit-Stoß-Altar, auf dem Bild von Machiavelli, das auf meinem Schreibtisch steht. Vorstellung kann die Natur steigern – aber übertrifft sie sie dann auch? […] Nun fängt mein Fuß, der heute wunderbar schmerzlos war […] wieder zu schwellen an, weh zu tun und meine Gedanken zu fressen! Wie der über die Schönheit der Hände ausgeht, weiß ich darum nicht […].“ 1039
Wird hier der einmal begonnene Gedanke über die „Schönheit der Hände“ in seiner Entfaltung noch vom Schmerz des Fußes unterbrochen, so rückt bereits gegen Ende desselben Jahres eine weitere, nun allerdings deutlich anders gelagerte Verbindung von Schönheit und Schmerz in den Mittelpunkt einer von Hentig verfassten – bis heute unveröffentlicht gebliebenen – „Märchenerzählung“ 1040 mit dem Titel „Der Turm“ 1041. Diese lässt Hentig, wie er 2007 in seiner Autobiographie Mein Leben – bedacht und bejaht notiert, mit der folgenden Klage des „Erzählers“ enden: „Ich habe meine Seelenruhe stets an die nächste Schönheit verloren, und kein Gott, wenn es denn Götter gibt, kein lebendiger Mensch und kein gedankentiefes Buch, kein Lied und kein Krieg und kein Sieg, nichts und niemand haben sie mir wieder herausgegeben; nun nehme ich sie mir zurück – nicht mutwillig, nicht kläglich, sondern in der Unschuld 1038 Hartmut von Hentig hatte Richard von Weizsäcker – gemeinsam mit dessen Bruder Carl Friedrich von Weizsäcker – kurze Zeit zuvor im Rahmen seines Studiums in Göttingen kennengelernt (vgl. Hentig 2009c, S. 268 ff.). 1039 Hentig 2002a, S. 38 1040 Hentig 2009c, S. 303 1041 Ebenda
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und Kraft der Verzweiflung. […] Vielleicht lerne ich auch die Schönheit anders zu sehen: als einen Anruf, eine lockende Frage und nicht immer nur als die erniedrigende Antwort auf den eigenen Schmerz.“ 1042
So skizzenhaft diese beiden Abschnitte dabei auch bleiben mögen, in ihnen sind doch bereits zwei Motive angelegt, die in den folgenden Jahrzehnten die Auseinandersetzung Hentigs mit Begriff und Phänomen des „Schönen“ dauerhaft begleiten sollen: auf der einen Seite die Problematisierung des Verhältnisses von Kunstschönheit und Naturschönheit, auf der anderen Seite die Verknüpfung des Schönen mit einer Erfahrung der Machtlosigkeit und des Schmerzes. Zwar finden sich auch in den darauffolgenden Jahren vereinzelt persönliche Notizen Hentigs zum Thema „Schönheit“ 1043, erst mit Beginn der 1960er Jahre allerdings gewinnen seine diesbezüglichen Überlegungen zunehmend an Schärfe und inhaltlicher Fokussierung. Auslöser zumindest für eine dieser Fokussierungen ist dabei Kristof Wachinger vom Verlag Langewiesche-Brandt, der Hentig 1962 darum bittet, einen Band zum Thema „Hellas und Rom“ für die neubegründete Reihe „Lesewerk zur Geschichte“ zusammenzustellen und herauszugeben 1044. Das aus dieser Anfrage heraus entstandene Lesewerk – von dem Hentig später notiert, es sei dasjenige Buch, welches ihm von allen, die er zu verantworten habe, „das liebste“ 1045 sei – erscheint im Jahr 1964 und enthält auf knapp vierhundert Seiten insgesamt zweiundsechzig Abschnitte zu verschiedenen Th emen der griechischen und römischen Antike, von denen jeder einen kurzen Kommentar Hentigs zum jeweiligen Thema sowie einen oder mehrere ins Deutsche übertragene Textausschnitte antiker Autoren umfasst. Zwar findet sich darunter kein gesonderter Abschnitt zum Thema „Schönheit“, wohl aber ein ebensolcher zum Thema „Eros“ 1046, der sich wiederum – so eine der von Hentig gewählten Zwischenüberschriften – unter anderem der „Macht der Schönheit“ 1047 widmet. Auf eben diesen Aspekt der „Macht“ Bezug nehmend, heißt es dann auch im einleitenden Kommentar Hentigs, die „machtvollste Gottheit“ 1048 der Griechen sei nicht Zeus gewesen, sondern Eros: „der Zeugungsdrang“ 1049. Dieser Gott – laut Hentig nicht nur der „älteste und gewaltigste“, sondern auch der „rätselhafteste und vieldeutigste“ 1050 – sei zunächst „in Form unbehauener Steine“ verehrt worden, schließlich zu einem „dicklichen geflügelten Kleinkind“ mit Pfeil und Bogen geworden und 1042 Ebenda, S. 303 f. 1043 Vgl. bspw. Hentig 2002a, S. 140 und 223. 1044 Vgl. Hentig 2009c, S. 590. 1045 Ebenda 1046 Hentig 1964a 1047 Ebenda, S. 130 1048 Ebenda, S. 128 1049 Ebenda 1050 Ebenda
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dazwischen ein „schöner Jüngling“ gewesen 1051: „ein Jüngling wie Paris, um den sich die Göttinnen zankten, wie Ganymed, den Zeus liebte und raubte, wie Hylas, um dessentwillen Herakles die Argonautenfahrt versäumte, wie die Lysis und Charmides, die Phaidros und Menexones, deren Schönheit Sokrates umwarb.“ 1052 Das auf diesem Wege eingeführte Motiv des „schöne[n] Jüngling[s]“ wiederum nimmt Hentig im weiteren Verlauf seines Kommentars zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass „[d]ie Griechen“ nicht nur „ihre Frauen“ geliebt hätten, sondern darüber hinaus – und „in aller Offenheit“ – die „Knaben und Jünglinge“ 1053. So habe es, wie Hentig unter Verweis auf die damalige Begründung der „Gesetzgeber“ sowie der „Dichter und Weisen“ notiert, ein besonderes, „von Eros gestiftetes Verhältnis“ der „Liebhaber“ zu ihren „Geliebten“ gegeben 1054: ein Verhältnis, das einem „staatserhaltenden pädagogischen Zweck“ 1055 gedient habe. Bezogen auf die mit dieser „Sitte“ verbundene, „oft derbe Sinnlichkeit“ griechischer Schriften und Vasenbilder 1056 konstatiert Hentig sodann: „Die Griechen waren ja auch sonst nicht prüde: Die nackten Leiber bei den Wettkämpfen, die unzähligen nackten Statuen in der Öffentlichkeit, die phallischen Kulte, die Festspiele zu Ehren des Dionysos, des Gottes des Rausches: dies alles hat in einem südlichen Sonnenlicht und unter ständiger Bedrohung durch Krieg, Dürre und Seuche seinen Grund und Sinn – aber auch seine Gefahren, denen die großen und verantwortlichen Geister nicht mit Verboten, Tabuierung, Schmähung, sondern mit Veredelung zu begegnen suchten. Was war es in Wahrheit, was zu Rausch und Raserei drängt? Nicht der Jüngling Kleinias und nicht das junge Mädchen Atthis, nicht die unmittelbare, sinnliche, sich verbrauchende Lust, sondern die Erkenntnis der Schönheit selbst! Das wurde gerade an dem gleichgeschlechtlichen Verhältnis deutlich, in dem Eros doch gar nicht zur physischen Zeugung kam. Eine andere Zeugung mußte gemeint sein: eine geistige Fortpflanzung und Unsterblichkeit durch den ‚Kunstgriff‘ des Schönen.“ 1057
Indem Hentig hier im „gleichgeschlechtlichen Verhältnis“ den Zeugungsdrang des Eros vom Vorgang der „physischen Zeugung“ gelöst sieht, gerät eben dieses „Verhältnis“ für ihn zur Veredelung des menschlichen Dranges nach einer „Erkenntnis der Schönheit“: zum „‚Kunstgriff‘ des Schönen“, der anstelle der „physischen Zeugung“ zur „geistige[n] Fortpflanzung und Unsterblichkeit“ führt. Mit dieser Deutung des griechischen Eros-Konzepts nimmt Hentig – wenn auch ohne explizit darauf 1051 Ebenda 1052 Ebenda 1053 Ebenda, S. 128 f. 1054 Ebenda, S. 129 1055 Ebenda 1056 Ebenda 1057 Ebenda
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hinzuweisen – Bezug auf eine Gedankenfigur, die Platon in der Sokrates-Diotima- Passage seines Symposions entwickelt 1058: Auch dort ist die Rede von einem seelischen Zeugungsvorgang, der gegenüber dem „körperlichen Zeugungstrieb“ 1059 sowie der damit verbundenen Fortpflanzung durch die Zeugung leiblicher Kinder insofern abgehoben wird, als dass durch diesen die einzig menschenmögliche Form der Unsterblichkeit erlangt werden könne – und zwar über den Weg einer „Schau des Schönen selbst“ 1060. Diese „Schau“ wiederum wird auch von Platon explizit in Verbindung gebracht mit einem erotischen Verhältnis zwischen erwachsenem, männlichem Liebhaber und jugendlichem, ebenfalls männlichem, Geliebten – so etwa wenn von der „richtigen Liebe zu Knaben“ die Rede ist, mit Hilfe derer „hinaufsteigend“ es gelingen könne, das gemeinte „Schöne anzuschauen“.1061 Zwar nimmt Hentig die gemeinte Sokrates-Diotima-Passage des von Platon verfassten Symposions nicht in das Eros-Kapitel seines Lesewerkes auf, wohl aber zwei andere Texte aus dem unmittelbaren Umfeld des sokratischen Gastmahls: erstens einen kurzen Abschnitt der Rede des Kritobulos aus Xenophons Symposion – von Hentig mit „Die Macht der Schönheit“ überschrieben – sowie zweitens einen etwas längeren Abschnitt der Rede des Alkibiades aus Platons Symposion, die sich im Origi naltext unmittelbar an die zitierte Sokrates-Diotima-Passage anschließt. Während der zuerst genannte Text dabei laut Hentig dazu dienen soll, den Leserinnen und Lesern zu verdeutlichen, w elche Einstellung Sokrates zu dem vorab Gesagten bei „den aristokratischen Jünglingen in seiner Umgebung“ vorgefunden habe, sowie „welche Macht die Griechen der körperlichen Schönheit“ eingeräumt hätten, möchte er den zweiten Text verstanden wissen als Verdeutlichung dessen, wie Sokrates „den durch Schönheit, Reichtum und Talent ausgezeichneten Alkibiades zum philosophischen Eros, zur Schönheit der Seele“ erzogen habe.1062 Diesem Motiv der „körperlichen Schönheit“ – hier zunächst unter Bezugnahme auf Xenophon und Platon entwickelt – widmet sich Hentig ein Jahr nach Veröffentlichung seines Lesewerks noch einmal eingehender, wenn er im Oktober 1965 auf einer Tagung des Deutschen Werkbunds einen Vortrag über „Die Wirkungen des Schönen“ 1063 hält und dabei insbesondere die Macht des „schönen Menschen“ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückt. Den argumentativen Ausgangspunkt seines Vortrags bilden dabei zunächst zwei persönliche Erfahrungen Hentigs, anhand derer er die „Fülle dessen, was wir ‚schön‘ nennen“ 1064, zu illustrieren versucht: erstens 1058 1059 1060 1061
Vgl. Platon 2008, S. 46 ff. Ebenda, S. 56 Ebenda, S. 60 Ebenda. Zu Platons Symposion und dessen Bedeutung für die Geschichte der Pädagogik siehe darüber hinaus genauer Baader 2010c; Gaus 2010 und Brumlik 2012. 1062 Hentig 1964a, S. 129 f. 1063 Hentig 1965b 1064 Ebenda, S. 5
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das „schöne Haus“ eines Freundes – einschließlich der darin enthaltenen Designobjekte und Kunstwerke –, das er vor Kurzem aufgesucht habe, um seinen Vortrag zu verfassen 1065; und zweitens der „schöne Wald“, der eben jenes Haus umgebe 1066. Für seine Argumentation allerdings, so Hentig, brauche er noch ein drittes Beispiel, welches er „konstruieren“ 1067 müsse: „Nehmen wir an, ich sei zu diesem Freund gefahren, nicht um in dieser schönen Umgebung ungestört über das Schöne zu schreiben […] – nehmen wir an, ich sei nicht zu dieser Schönheit gekommen, sondern vor einer Schönheit geflohen: da sei ein schöner Mensch, dessen Anblick täglich Anschläge auf meine Seele verübt, der mir Schrecken und Seligkeit einjagt, der meinem Leben Sinn gibt und ihm zugleich alle Besinnung raubt … Ich schlafe nicht mehr, ich kann nicht arbeiten, ich fahre zu meinem Freund, wo die Schönheiten harmloser sind.“ 1068
Dieses Beispiel des „schönen Menschen“, der „Anschläge“ auf die Seele anderer Menschen verübt, dient Hentig im Folgenden dazu zu verdeutlichen, dass Schönheit nicht etwas sei, „worüber ich entscheide“, sondern etwas, „was über mich entscheidet“, und damit zugleich, dass Schönheit Macht sei, und zwar eine „um so mächtigere Macht, als sie ohne Willen“ wirke 1069. Aus dieser „Macht des schönen Menschen“ 1070 wiederum schließt Hentig sodann auf die „Schönheit als Macht“ 1071 und resümiert: „Nicht das Schöne hat Wirkungen, sondern das Schöne ist eine ‚Wirkung‘, deren Grundmaß uns in der Erfahrung vom schönen Menschen gegeben ist.“ 1072 Und er ergänzt: „Das Schöne ist keine Essenz, sondern ein Gefälle von d iesem Zustand zu einem anderen – von meiner Erstarrung zu jener erneuernden Bewegung oder, umgekehrt, von meiner Unrast zu jener Beruhigung; von meiner Willkür zu jener Ordnung oder umgekehrt; von meiner Gebundenheit zu jener wilden Freiheit; von meiner Vereinzelung zu jener funktionalisierten Allgemeinheit oder umgekehrt, von meiner Abstraktion zurück zum Reichtum konkreter Sinnlichkeit; von meiner Monotonie zu jener aufgeregten Veränderlichkeit oder umgekehrt, von meiner Dissonanz zu jener Harmonie. Dieses Gefälle nannten die Griechen Eros – nach Sokrates ein Sohn des Überflusses und des Mangels.“ 1073
1065 Ebenda 1066 Ebenda 1067 Ebenda 1068 Ebenda (Hervorhebung im Original) 1069 Ebenda 1070 Ebenda 1071 Ebenda 1072 Ebenda, S. 6 1073 Ebenda
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Das sokratische Eros-Konzept dient Hentig also auch hier erneut als wichtiger Bezugspunkt in Sachen „Schönheit“: Nicht nur greift er die – im Eros-Kapitel seines Lesewerks noch unberücksichtigt gebliebene – sokratische Bestimmung des Eros als „Sohn des Überflusses und des Mangels“ 1074 auf; der „schöne Mensch“ dient ihm darüber hinaus – ganz in der Tradition des platonischen Symposions stehend – als Ausgangspunkt des eigenen Nachdenkens über Macht und Wesen des Schönen 1075. Anders als bei Platon allerdings findet sich in Hentigs Vortrag an keiner Stelle die Vorstellung formuliert, der Einzelne könne über die liebende Begegnung mit einem „schönen Menschen“ – gar auf dem Weg der „richtigen Liebe zu Knaben“ 1076 – hinaufsteigen zu einer „Schau des Schönen selbst“ 1077. Im Gegenteil: Der „schöne Mensch“ und dessen Fähigkeit, dem Liebenden „Schrecken und Seligkeit“ 1078 einzujagen, dient bei Hentig vielmehr als Veranschaulichung derjenigen „Macht“ der Schönheit, gegenüber derer der Einzelne sich mit Hilfe der Pädagogik in Mündigkeit zu üben habe.1079 So ist es denn auch eben jene sokratische Idee einer „Schau des Schönen selbst“, der Hentig seine eigene Bestimmung des „Schönen als Wirkung“ gezielt entgegenzusetzen versucht, wenn er – Bezug nehmend auf verschiedene historische wie zeitgenössische Definitionsversuche des Phänomens „Schönheit“ – notiert: „Hier enthüllt sich der falsche Ansatz einer Ästhetik, die von den Wirkungen schöner Dinge auf ‚das Schöne‘ zurückschließt, auf eine Essenz, die man erkennen, in Kunst und Natur betrachten, aus den geschichtlichen Wandlungen als bleibendes Maß herausdestillieren kann. Hat uns nicht der große Platon gelehrt, durch die schönen Erscheinungen hindurch ‚das Schöne selbst‘ zu sehen?! – Aber nicht das Schöne hat Erscheinungen und Wirkungen, so wie ein Leuchtturm Strahlen hat, sondern die Wirkung ist selbst das Schöne: ein Akt, eine Flamme, ein Gefälle der Seele, vergleichbar der Trauer oder der Angst oder der Hoffnung.“ 1080
1074 Vgl. hierzu Platon 2008, S.48 f. 1075 Dieser engen Bezugnahme Rechnung tragend verweist Hentig denn auch an zahlreichen weiteren Stellen seines Vortrages auf die Bestimmung des Schönen in der griechischen Antike (insbesondere bei Platon und Aristoteles) und resümiert schließlich mit Blick auf den heutigen Pädagogen, der sich mit der Aufgabe konfrontiert sehe, dem Schüler darin zu helfen, „Schönheit zu verstehen, zu ertragen, zu genießen, sich mit ihr zu rüsten“: „Wohl ihm, daß es Platons Symposion gibt – aber eigentlich macht gerade das den Pädagogen überflüssig.“ (Hentig 1965b, S. 5 (Hervorhebung im Original)) 1076 Platon 2008, S. 60 1077 Ebenda 1078 Hentig 1965b, S. 5 1079 Vgl. ebenda, S. 6, sowie hierzu genauer unten, Kapitel 6.4. 1080 Hentig 1965b, S. 5 (Hervorhebung im Original)
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Indem Hentig hier das Schöne als Wirkung – und eben nicht als Essenz – verstanden wissen möchte, knüpft er an eine Überlegung an, die er in den Jahren zuvor bereits mehrfach bezogen auf den Bereich der Kunst formuliert hatte. So hatte er – wie weiter oben bereits ausführlich dargestellt – in seinem 1959er Aufsatz zum „Verstehen des Unverstandenen“ das „Wesen“ 1081 der Kunst als eine spezifische „Wirkung“ zu fassen versucht, anhand derer ein jedes „gutes Kunstwerk“ sich selbst als solches auszuweisen habe 1082, und noch im Februar 1965 hatte er konstatiert: „Kunst aktiviert, Kunst läßt den Menschen nicht in Ruhe, ja, Kunst ist sie eigentlich erst in dieser Wirkung.“ 1083 Wenn Hentig deshalb nun, im Oktober 1965, resümiert, das Schöne selbst habe keine „Erscheinungen und Wirkungen“, sondern die Wirkung selbst sei „das Schöne“, so wird deutlich, dass er auch unter dem Begriff der Schönheit keine spezifische Eigenschaft schöner Dinge verstanden wissen möchte, sondern vielmehr eine spezifische Form der Erfahrung: eine Erfahrung, im Rahmen derer es gelingt, das Schöne als Wirkung zur Entfaltung kommen zu lassen. Als Ausgangspunkt einer solchen Erfahrung können dabei laut Hentig die verschiedensten „schönen“ Gegenstände dienen: von Gebäuden, Designobjekten und Kunstwerken über Bäume, Herbstlaub und dampfende Felder bis hin zum „schönen Menschen“ und dessen täglichem Anblick.1084 Trotz dieser Fülle möglicher Anlässe für eine Erfahrung des Schönen spricht Hentig dem Bereich der Kunst allerdings noch einmal eine besonders herausgehobene Rolle in Sachen „Schönheit“ zu, wenn er notiert: „Will der Mensch diese besondere ‚Wirkung‘ (in Anführungszeichen) nicht nur benennen – mit dem Wort schön –, dann versucht er sie ganz und gar und auf einmal aus eigener Kraft hervorzubringen. Dieser Versuch – das ist meine These – heißt Kunst. Kunst ist eine Forschung – die Erforschung der komplexen und gewaltigen Wirkung Schönheit, was immer ihr Gegenstand oder ihre Theorie ist: Inferno oder Blumenstilleben, die optische Impression oder die abstrakte Form, Gregorianischer Gesang oder Jazz. Sie ist das große, totale didaktische Mittel, mit dessen Hilfe sich der Mensch über das Schöne total belehrt, das einzige Mittel, durch das er es versteht und aushalten lernt, ohne es zu zerstören oder zu bagatellisieren oder zu deifizieren. – Denn die Kunst ist nicht das Werk, sie ist die an ihm vollzogenen oder von ihm provozierten Akte, das betroffene Gemüt, das veränderte Bewußtsein.“ 1085
Mit diesem Hinweis verknüpft Hentig seine Überlegungen zum „Schönen als Wirkung“ direkt mit seiner in den Jahren zuvor entwickelten Bestimmung der Kunst als „Exploration des Möglichen“: Ganz im Sinne der von ihm wiederholt aufgegriffenen 1081 1082 1083 1084 1085
Hentig 1959a, S. 59 Vgl. ebenda, S. 45. Hentig 1967b, S. 199 Vgl. Hentig 1965b, S. 5. Ebenda (Hervorhebung im Original)
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These Carl Friedrich von Weizsäckers, nach welcher die Kunst „Erforschung des Ausdrückbaren durch das Mittel des Ausdrucks“ 1086 sein könne, möchte er selbige nun verstanden wissen als das „große, totale didaktische Mittel“ zur Erforschung ebenjener von ihm zuvor beschriebenen „komplexen und gewaltigen Wirkung Schönheit“. Das „Mögliche“, das die Kunst laut Hentig zu erkunden habe, würde demnach immer auch die Möglichkeit einer Erfahrung des Schönen umfassen, so dass der Mensch, wie Hentig gegen Ende seines Vortrags anmerkt, Kunst unter anderem deswegen treibe, „um in d iesem Akt zu verstehen, was das Schöne ist, das über uns herrscht: eine Wahrheit über uns selbst“ 1087. Wie vor dem Hintergrund dieser engen Verknüpfung von Kunst und Schönheit nun deren gegenseitiges Verhältnis genauer bestimmt werden könnte, dies deutet Hentig zumindest an, wenn er an gleicher Stelle notiert, die Kunst selbst schaffe nicht „das Schöne“ und bringe „deshalb auch nicht notwendig ‚Schönes‘ hervor“ 1088. Demzufolge wären das Schöne auf der einen und die Kunst auf der anderen Seite für Hentig nicht deckungsgleich, wohl aber ungemein eng aufeinander bezogen: Während die Kunst einerseits der Erforschung der „Wirkungen des Schönen“ diente und dabei zugleich selbst im Stande wäre, Schönes hervorzubringen (dies zumindest scheint Hentigs Hinweis, die Kunst bringe nicht notwendig Schönes hervor, zu implizieren), ginge der Bereich des Schönen andererseits weit über denjenigen der Kunst hinaus, indem er Gebrauchsgegenstände, Naturphänomene und die körperliche Erscheinung des Menschen mit einschlösse. Obwohl Hentig den „Wirkungen des Schönen“ auf d iesem Wege eine immense Bedeutung für das Leben des Menschen zuweist, tritt der Begriff der Schönheit – mit all seinen weiteren auf dem Wortstamm „schön“ basierenden Derivata und Komposita – in Hentigs Arbeiten nach 1965 kaum mehr in systematischer Perspektive auf. Parallel zur „Wiederentdeckung“ der ästhetischen Erziehung um 1967 scheint Hentig sich vielmehr nahezu vollständig von einer programmatischen Verwendung des von ihm zuvor entwickelten Schönheitsbegriffs verabschiedet zu haben. Auf eben diesen Begriffswandel Bezug nehmend, konstatiert er denn auch mehr als zehn Jahre später, im August 1978, in einem Interview mit der Zeitschrift für Musikpädagogik: „Sie kennen meine verschiedenen kleinen Übungen, das Phänomen Kunst so einzukreisen, daß ich damit leben kann. Ich möchte Sie für unseren Zweck an die Formulierung ‚Kunst ist Exploration des Möglichen‘ erinnern. Gegen weitere definitorische Einengungen sträube ich mich … Auch zu d iesem Kunstbegriff gehört sicher – das sei nicht nur meinen konservativen Freunden zuliebe gesagt – das, was man ‚Gestaltet-sein‘ nennen könnte … Eigentlich suche ich nach einem noch allgemeineren Wort. Ich sagte gern ‚das Schöne‘. Aber das ruft nur Mißverständnisse hervor, Verwechslungen mit ‚dem Erhabenen‘, mit 1086 Weizsäcker 1958, S. 249 1087 Hentig 1965b, S. 6 1088 Ebenda
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‚edler Einfalt, stiller Größe‘, mit ‚Harmonie‘, mit ‚Ebenmäßigkeit‘. Das sind alles mögliche Erscheinungen des Schönen, aber das Schöne geht in keiner von ihnen auf. Vor mir selbst erlaube ich mir diesen Ausdruck, weil ich ‚das Schöne‘ von seinen Wirkungen, nicht von den Eigenschaften des schönen Objekts her sehe.“ 1089
Sein Verständnis des „Schönen als Wirkung“ scheint Hentig demnach noch gegen Ende der 1970er Jahre ebenso wenig aufgegeben zu haben wie die Vorstellung von einer engen Verknüpfung von Kunst und Schönheit – sein Mitte der 1960er Jahre noch artikuliertes Vertrauen in die Diskursfähigkeit des von ihm verwendeten Schönheitsbegriffs jedoch scheint zu diesem Zeitpunkt bereits kaum mehr vorhanden. Wenn Hentig in den Jahren nach 1965 allerdings dennoch – trotz aller von ihm befürchteten und erfahrenen „Mißverständnisse“ – in seinen Texten vom „Schönen“ und gar von „der Schönheit“ spricht, so geschieht dies zumeist unter besonderer Berücksichtigung eben jener Dimension des Schönen, die er bereits in seinen vorangegangenen Veröffentlichungen zum Thema immer wieder in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hatte: gemeint ist die Dimension der Macht der Schönheit und dabei insbesondere diejenige der Macht des schönen Menschen. So möchte Hentig „die Schönheit“ 1975 verstanden wissen als eines von mehreren Herrschaftsmitteln, mit denen Macht indirekt ausgeübt werde 1090; 1982 fragt er: „Hat Schönheit nicht ‚Macht‘ über uns?“ 1091 – insbesondere über uns „Liebende“, „Leidende“ und „Lernende“? 1092 – und 1992 konstatiert er, die Schönheit überwältige „Verstand und Sinne“ 1093 und sei dadurch eine von zahlreichen „Grunderfahrungen“ 1094 des Menschen. Als eine solche käme sie „zunächst unreflektiert in unserem Leben vor“ und wirke dort „unmittelbar und in jedem Menschen“ 1095. An anderer Stelle wiederum bezeichnet er die Frage, warum es Schönheit gebe und „warum sie soviel Macht über uns“ 1096 habe, als eine von mehreren „Schwierigkeiten und Eigenschaften dieser Welt“ 1097, derer sich Philosophie und Religion besonders zu widmen hätten, und er ergänzt: „Wir lieben ja nicht ‚die‘ Schönheit, sondern allenfalls einen schönen Menschen – und meist ist er nicht einmal schön, sondern eben nur dieser hier mit der Stupsnase und den Sommersprossen.“ 1098
1089 Hentig et al. 1978, S. 6 f. (Hervorhebung im Original) 1090 Vgl. Hentig 1975b, S. 8. 1091 Hentig 1983a, S. 297 1092 Vgl. ebenda. 1093 Hentig 1992b, S. 111 1094 Ebenda, S. 110 1095 Hentig 1992b, S. 112 1096 Hentig 1971e, S. 212 1097 Ebenda 1098 Ebenda, S. 213 (Hervorhebung im Original)
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Am deutlichsten allerdings tritt das Motiv der Macht der Schönheit hervor in einer Trauerrede, die Hentig im April 1989 anlässlich des Todes von Martin Bonhoeffer hält. Dort konstatiert er, Bonhoeffer sei ein „für Schönheit empfänglicher, zarter, verletzlicher Mann“ 1099 gewesen, und er präzisiert: „Er, der selbst nicht schön war, wurde von Schönheit bewegt, beglückt, auch gequält. Vor allem die Schönheit junger Menschen und die Schönheit der Musik trieben ihn um. Wenn er gelegentlich spät abends bei mir anklopfte […], dann bat er, erschöpft von einem überlangen Arbeitstag um ein Stück Brot […] und um Musik. Musik war synonym mit Mozart. Wenn ich dann noch ein Gedicht vorlas, war er glücklich, entspannt, fast heiter. – Über Schönheit muß man nicht reden, schon gar nicht, wenn man sie eben miteinander erlebt hat. Es waren Stunden der Stille und der intensivsten Gemeinsamkeit. In einer solchen kamen auch die Tränen. […] Und noch eines: Empfänglichkeit für Schönes hat ihn gerade zu einem nicht gemacht: zu einem Ästheten. Sein eigenes Zimmer war verwechselbar, ohne Zeichen von Bemühung weder um Charakter noch um Schein, noch um Ordnung, noch um Gemütlichkeit. Es war wie seine Kleidung: praktisch, unauffällig, ohne Freude an der Variation, gegen alle Mode. Haus und Kleid – notwendige Hüllen für den sonst ungeschützten Menschen. Der Macht der Schönheit widerspricht die Vernunft, aber nicht die Klugheit; die rechnet mit ihr. MB [Martin Bonhoeffer] war klug, aber nicht in allem und unbedingt. So wie er in der Pädagogik nie taktiert hat, wohl aber in der Politik, so hat er in der Freundschaft mit Umsicht gehandelt, aber gegen Schönheit hat er keinen Schutz aufgerichtet. Er blieb ihr ausgesetzt.“ 1100
In dieser autobiographischen Reminiszenz findet sich nun erneut jene Verbindung von „Schönheit“ und „Schmerz“ wieder, die Hentig bereits Ende der 1940er Jahre in seiner Dramenskizze „Der Turm“ erstmalig beklagt hatte: Die Erfahrung von Schönheit wird von ihm einerseits als „beglückend“ beschrieben, andererseits aber auch mit einer genuinen „Macht der Schönheit“ in Verbindung gebracht, gegenüber derer der Mensch, wolle er nicht „gequält“ und „verletzt“ werden, einen „Schutz“ zu errichten habe. Indem er dabei allerdings bezogen auf den Einzelfall Bonhoeffer unter anderem die „Schönheit junger Menschen“ 1101 als besonders machtvoll beschreibt, greift Hentig nicht nur das Motiv des „schöne[n] Jüngling[s]“ 1102 wieder auf, das er 1964 im Eros-Kapitel seines Lesewerks Hellas und Rom behandelt hatte, die zitierte Passage wirft darüber hinaus auch vor dem Hintergrund der ganz konkreten Lebensgeschichte des Betrauerten eine Reihe von Fragen auf. Schließlich handelt es sich bei Bonhoeffer, der in den 1970er Jahren als Referent für Familie, Jugend und Sport 1099 1100 1101 1102
Hentig 1996c, S. 286 (Im Original kursiv.) Ebenda, S. 286 f. Ebenda, S. 286 Hentig 1964a, S. 128
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beim Berliner Senat aktiv in die Reform des westdeutschen Heimerziehungswesens involviert gewesen war, um einen derjenigen Pädagogen, denen im Zusammenhang mit der öffentlichen Aufarbeitung der Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule die sexuelle Belästigung Schutzbefohlener vorgeworfen wurde.1103 Zwar konnten die in d iesem Zusammenhang posthum erhobenen Vorwürfe gegenüber Bonhoeffer nach Angaben der Tübinger Martin-Bonhoeffer-Häuser in anschließenden Recherchen nicht weiter erhärtet werden 1104, sie rücken den Kommentar Hentigs, wonach Bonhoeffer insbesondere von der „Schönheit junger Menschen“ 1105 umgetrieben worden sei, dennoch in ein problematisches Licht: Sollte Bonhoeffer sich tatsächlich von den ihm zum Schutz anbefohlenen Jugendlichen sexuell angezogen gefühlt haben und sollte Hentig von dieser Neigung Bonhoeffers gewusst haben, müsste dann der Kommentar Hentigs, wonach Bonhoeffer von der Schönheit junger Menschen bewegt, beglückt und gequält worden sei, als Hinweis auf eben jene Neigung Bonhoeffers gelesen werden? Und damit zusammenhängend: Sollte Hentig – in der Tradition des platonischen Symposions stehend – dem „schönen Jüngling“ gar von jeher einen besonderen Platz in seiner Auseinandersetzung mit der „Macht der Schönheit“ 1106 zugewiesen haben? Letztere Deutung zumindest bietet sich an, wenn man zusätzlich zu der zitierten Trauerrede Hentigs einen Vortrag berücksichtigt, den dieser 1996 im Rahmen einer Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin zum Thema der „männliche[n] Absicht 1103 Konkret heißt es in einem Artikel des Stern vom 16. 12. 2010: „Ein Odenwaldschüler berichtet heute über Martin Bonhoeffer, dessen Name inzwischen Kinderheime schmückt, er habe 1977 mit ihm eine Frankreichtour im VW -Bus gemacht: ‚Unsere Eltern fanden alles gut, was die Toppädagogen mit uns unternahmen, sie waren ihnen hörig.‘ An einem Nachmittag kommt der Junge nach einer Zigarette zurück in den Bus, ‚da liegt Martin nackt und in eindeutiger Pose da‘. Der 17-Jährige schlägt sofort die Tür hinter sich zu. Auf der Heimfahrt fleht ihn Bonhoeffer an, nichts zu verraten. Er rechtfertigt sich mit der Homosexuellenverfolgung, die auch Lehrer an der Oso [Odenwaldschule in Ober- Hambach] gern bemühen, wenn es nicht die alten Griechen sind.“ (Witzel 2010, S. 36) Zu entsprechenden Vorwürfen gegenüber Bonhoeffer siehe darüber hinaus auch Brandenburger & Apin 2014, S. 32. 1104 Vgl. http://www.mbh-jugendhilfe.de/martin-bonhoeffer-in-der-kritik.html (letzter Zugriff: 01. 11. 2017), wo es in einer offiziellen Stellungnahme heißt: „Unsere intensiven Recherchen haben bislang keinerlei Hinweise ergeben, dass dieser Vorwurf [des Stern] eine reale Grundlage haben könnte. Der Kontakt mit dem Sternredakteur und unsere Anfragen über die Odenwaldschule blieben ergebnislos. Der Aufruf auf unserer Homepage, in dem wir alle Personen, die zur Aufklärung dieses Vorwurfs beitragen können, um Kontaktaufnahme mit uns bitten, führte zu vielen, teils sehr persönlichen Gesprächen zur Geschichte unserer Einrichtung und insbesondere zur Person Martin Bonhoeffers – eine Bestätigung des Vorwurfs gab es aber nicht.“ 1105 Hentig 1996c, S. 286 1106 Ebenda, S. 287
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in der Pädagogik“ 1107 hält. In diesem Vortrag – der die einzige ausführlichere Ausein andersetzung Hentigs mit Fragen des pädagogischen Eros sowie der griechischen Päderastie enthält und der daher als geeigneter Ausgangspunkt für eine zukünftige erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex „Hartmut von Hentig und der pädagogische Eros“ dienen könnte 1108 – findet sich eine Passage, in der Hentig von der antiken „Knabenliebe“ 1109 als von einer „spezifische[n] Form der umfassenden personalen Menschenbildung und -führung im Jugendalter“ 1110 spricht und sodann zur Begründung dieser These eine ganze Reihe historischer Erklärungen der „allgemeine[n] griechische[n] Praxis“ 1111 referiert, „paidea sich als paiderastia verwirklichen zu lassen“ 1112. Zwar enthält Hentig selbst sich dabei einer jeden eindeutigen Bewertung der von ihm referierten Positionen, es fällt allerdings auf, dass er lediglich solche Positionen wiedergibt, die eben jene Knabenliebe befürworten oder zumindest „in Schutz“ 1113 zu nehmen versuchen.1114 So nennt Hentig neben den antiken Autoren Xenophon, Aristoteles und Platon für das 20. Jahrhundert lediglich Eduard Spranger und J. Z. Eglinton als Beispiele für eine neuere Bewertung der behandelten Thematik. Letzterem – einem Pseudonym des wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern mehrfach verurteilten US -amerikanischen Autors und langjährigen Mitglieds der North American Man/Boy Love Association (NAMBLA ) Walter Henry Breen 1115 – spricht er zu, das „überzeugendste Argument für die ‚griechische Liebe‘“ 1116 zu liefern, und paraphrasiert diesen sodann mit den Worten: „Der liebende (nicht zur Familie gehörige) Mann fängt die Unsicherheit, Unruhe, Auflehnung auf, die den sich verselbstständigenden Jugendlichen erfaßt […].“ 1117 So aufschlussreich diese sowie die folgenden Passagen dabei auch bezogen auf die Frage sein mögen, inwiefern Hentig in seinen Schriften eine kritische Distanz zu Fragen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen vermissen lässt: 1107 Hentig 1997 1108 Bemerkenswerterweise wird der genannte Text Hentigs in der aktuellen Diskussion zum Thema kaum diskutiert. Lediglich Meike Sophia Baader gibt 2012 in ihrem Aufsatz „Blinde Flecken in der Debatte über sexualisierte Gewalt“ einen Hinweis auf die dort enthaltene Bezugnahme Hentigs auf die „antike Knabenliebe“ (vgl. Baader 2012a, S. 88). 1109 Hentig 1997, S. 88 1110 Ebenda 1111 Ebenda, S. 89 1112 Ebenda (Hervorhebung im Original) 1113 Ebenda 1114 Eine Ausnahme hiervon bildet lediglich ein kurzer Einschub, in dem Hentig auf das seines Erachtens „lapidar[e]“ Urteil Henri-Irénée Marrous hinweist, wonach es sich bei der griechischen Knabenliebe um „ein frauenfeindliches Ideal totaler Männlichkeit“ handele (Hentig 1997, S. 88 unter Bezugnahme auf Marrou 1957, S. 52). 1115 Vgl. hierzu Mader 2002. 1116 Hentig 1997, S. 90 1117 Ebenda unter Bezugnahme auf Eglinton 1967, S. 106.
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Was die hier zu untersuchende Verwendung des Schönheitsbegriffs bei Hentig angeht, ist es in erster Linie die in diesem Zusammenhang ebenfalls vorgenommene Bezugnahme auf Spranger und dessen Überlegungen zur „pädagogische[n] Liebe“ 1118, die von besonderem Interesse ist. So notiert Hentig im Anschluss an eine kurze Zusammenfassung der diesbezüglichen Überlegungen Sprangers in dessen Band Der geborene Erzieher 1119 von 1958: „Dieser von bestimmten Klischees nicht ganz freie Gedankengang führt Spranger zum Eros, einem Wort, mit dem man ein anderes meidet und meint: die Sexualität. Was Spranger darüber schreibt, ist purer Platonismus – die Wiedergabe der Vorstellung, die Sokrates der Diotima zu verdanken behauptet: daß die Liebe ein philosophischer Trieb sei. Am schönen einzelnen entzünde sie sich. Wende sie sich allen Schönen zu, beginne die Vergeistigung, die sich vollendet, wenn sie sich auf das Schöne richtet. Das Schöne aber ist reine Form, von der Erscheinung Abgelöstes, ihr Maß – Geistiges. Am Ende strebt die ganze Seele allein nach dieser Anschauung des Schönen an sich und nach einer ihm entsprechenden Lebensform. Am glaubwürdigsten ist Diotimas Rede vom philosophischen Eros, wo sie unumwunden mythisch wird: wenn Eros als Zwitter hingestellt wird, nicht mehr als Gott, geschweige denn als der schönste, sondern als Daimon – als Sohn von Poros und Penia, von Überfluß und Armut, von Auskunft und Verlegenheit, von ‚es geht‘ und ‚es geht nicht‘. Infolgedessen ist er ungestüm, rastlos, listig, sucht nach Vervollkommnung – ein Wesen zwischen Weisheit und Unwissenheit und darum nach Erkenntnis trachtend: philosophos. Solche Rede erträgt man nicht in der Paraphrase, auch nicht in den Übersetzungen, sondern nur in der Poesie des Autors selbst. Heute sagen wir, die Liebe müsse sublimiert werden und der Junge oder das Mädchen, dem sie gilt, sei der Nutznießer eines schwelenden Leidens seines liebenden Lehrers.“ 1120
Diese Passage lässt den Leser ratlos zurück: Nicht nur bleibt unklar, wen genau Hentig im ersten der beiden zitierten Absätze paraphrasiert (Platon selbst oder doch eher dessen Wiedergabe durch Spranger?), es bleibt zugleich offen, wo jene Paraphrase endet und wo der eigentliche Kommentar Hentigs – dessen Bewertung des soeben Referierten – beginnt. (Ist es also Hentig oder doch eher Spranger, der Diotimas Rede vom philosophischen Eros für dort am „glaubwürdigsten“ hält, wo sie „unumwunden mythisch“ werde?) Vollends verworren wird es allerdings im darauffolgenden Abschnitt: Was meint Hentig, wenn er schreibt, „Heute sagen wir, die Liebe müsse sublimiert werden und der Junge oder das Mädchen, dem sie gilt, sei der Nutznießer eines schwelenden Leidens seines liebenden Lehrers“? Ist dies sein Versuch, Sprangers (bzw. Platons) Überlegungen in die heutige Sprache zu übertragen (ohne ihnen dadurch 1118 Hentig 1997, S. 88 1119 Spranger 1958 1120 Hentig 1997, S. 89 (Hervorhebung im Original)
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bereits allgemeine Gültigkeit zuzuweisen)? Oder meint Hentig vielmehr, mit dieser Formulierung die zum Zeitpunkt seines Vortrags (1996) allgemein gültige Sichtweise auf das Phänomen der „pädagogischen Liebe“ wiederzugeben? Obwohl all diese Fragen – die, wenn überhaupt, nur vor dem Hintergrund einer detaillierten Analyse des hentigschen Verständnisses von „pädagogischer Liebe“ beantwortet werden könnten – hier zunächst unbeantwortet bleiben müssen, verdeutlicht die zitierte Passage doch zugleich eine zentrale Unschärfe des hentigschen Schönheitsverständnisses. Zwar fungiert Platons Symposion – von dem Hentig mehrfach angibt, erst dieses habe ihn im Jahr 1945 für das Studium der Alten Sprachen begeistert 1121 – als dauerhafter Bezugspunkt Hentigs im Nachdenken über „das Schöne“, es bleibt allerdings unklar, inwiefern er sich die darin enthaltenen theoretischen Implikationen tatsächlich zu eigen gemacht hat. Damit allerdings bleibt ebenfalls unklar, welche Bedeutung Hentig dem Motiv des „schönen Jünglings“ innerhalb seines eigenen Schönheitsverständnisses zuweist – ob also der „liebende Lehrer“ mit seinem „schwelenden Leiden“ 1122 aus Sicht Hentigs letztlich als ein weiteres, vielleicht sogar als ein besonders exemplarisches Opfer der viel beschworenen „Macht der Schönheit“ zu begreifen wäre. Vor diesem Hintergrund sowie eingedenk des bereits mehrfach beklagten Desiderats einer systematischen Analyse der hentigschen Verwendung der Begriffe „Pädagogischer Eros“ und „Pädagogische Liebe“ 1123 bleibt somit an dieser Stelle lediglich festzuhalten, dass das hentigsche Schönheitsverständnis zumindest insofern eine problematische Nähe zum platonischen Eros-Konzept aufweist, als dass in Hentigs Ausführungen zum Thema wiederholt unter direkter Bezugnahme auf Platons Symposion – einschließlich der darin behandelten „Knabenliebe“ – die körperliche Schönheit junger Menschen mit einer besonderen „Macht der Schönheit“ in Verbindung gebracht wird, ohne dass in diesem Zusammenhang zugleich die Möglichkeit des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen kritisch reflektiert würde. Die hentigsche Bestimmung des Schönen als „Wirkung, deren Grundmaß uns in der Erfahrung vom schönen Menschen gegeben ist“ 1124, erscheint in dieser Hinsicht geeignet, einen deutlichen Schatten zu werfen auf das hentigsche Gesamtkonzept ästhetischer Bildung und Erziehung.
5.3 Aisthesis Neben den Begriffen „Kunst“ und „Schönheit“ nimmt auch derjenige der „Aisthesis“ eine wichtige Rolle in der Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung ein. Im Gegensatz zu den beiden 1121 1122 1123 1124
Vgl. Hentig 1983a, S. 95 sowie Hentig 2009c, S. 219. Hentig 1997, S. 89 Vgl. zu d iesem Desiderat genauer oben, Kapitel 2.2.2. Hentig 1965b, S. 6
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erstgenannten Begriffen allerdings, die – wenn auch in verschiedenem Ausmaß – über Jahrzehnte hinweg immer wieder in diversen Texten Hentigs auftauchen, findet sich letzterer vornehmlich in drei seiner Arbeiten aus den Jahren 1967 bis 1969. Spricht Hentig in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten von „Aisthesis“, so geschieht dies in der Regel retrospektiv: als Selbstzitat seiner eigenen Texte der späten 1960er Jahre. Es sind aus diesem Grund eben jene drei Arbeiten Hentigs, die für eine Analyse der hentigschen Verwendung des Aisthesis-Begriffs von besonderer Bedeutung sind: erstens sein Vorschlag zur Integration des Bereichs „Pädagogik“ in den institutionellen Gesamtzusammenhang der Universität Bielefeld im Rahmen seines Gutachtens „Universität und Höhere Schule“ (entstanden z wischen 1966 und 1967), zweitens sein Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ von 1967 sowie drittens seine im Auftrag des Deutschen Bildungsrates entwickelten dreizehn „Allgemeine[n] Lernziele der Gesamtschule“ (entstanden z wischen 1966 und 1969). Diese drei Arbeiten Hentigs sollen im Folgenden nun je gesondert auf ihre systematische Verortung der „Aisthesis“ hin befragt werden (Unterkapitel 5.3.1 bis 5.3.3), um im Anschluss daran schließlich die grundsätzliche Bedeutung des Aisthesis-Begriffs für die hentigsche Bestimmung der „Gegenstände ästhetischen Erlebens“ differenzierter beurteilen zu können (Unterkapitel 5.3.4).
5.3.1 Universität und Höhere Schule Im Februar 1966 wird Hartmut von Hentig vom Gründungsausschuss der „Universität für den Raum Ost-Westfalen“ mit der Aufgabe betraut, ein Gutachten über das Verhältnis von Universität und Höherer Schule zu verfassen.1125 Dieses Gutachten, von Hentig am 11. November 1966 im Rahmen eines Vortrags vor der Mitgliederversammlung der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft erstmalig präsentiert 1126, erscheint im Sommer 1967 in einer stark erweiterten Fassung unter dem Titel Universität und Höhere Schule 1127 in der von Hans Blumberg und Helmut Schelsky herausgegebenen Reihe „Wissenschaftstheorie – Wissenschaftspolitik – Wissenschafts geschichte“. Neben einer grundsätzlichen Diskussion des Verhältnisses von Universität und Höherer Schule enthält das Gutachten Hentigs insgesamt vier „Vorschläge für die Universität Bielefeld“ 1128 – genauer: für die Integration des Bereichs „Pädagogik“ in deren institutionellen Gesamtzusammenhang. Einer dieser Vorschläge, von H entig selbst als „‚kleine Lösung‘ innerhalb der Philosophischen Fakultät“ 1129 bezeichnet, sieht 1125 1126 1127 1128 1129
Vgl. hierzu Hentig 1966 f, S. 7, sowie im autobiographischen Rückblick Hentig 1983a, S. 186 f. und Hentig 2009c, S. 684 f. Vgl. Hentig 1966 f, o. P. Hentig 1967e Vgl. ebenda, S. 66 ff. Ebenda, S. 68
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die Einrichtung von insgesamt sieben der Pädagogik zugeordneten Lehrstühlen vor, von denen sich wiederum fünf an verschiedenen „Dimensionen der Erfahrung“ 1130 orientieren. Die dahinterstehende Überlegung erläutert Hentig wie folgt: „Der Ausdruck ‚Dimension der Erfahrung‘ will zunächst sagen: kein zeitlich oder sachlich lokalisierbarer Tatbestand (wie Schule / Kindheit / Politische Bildung / etc.) – darum Dimension; er will weiter sagen: nichts, was im wesentlichen durch ein bestimmtes Verfahren allein erfaßt wird (die Lernvorgänge durch Psychologie / Didaktik durch E xperiment / Schulorganisation durch Vergleich) – darum Erfahrung.“ 1131
So mache der Mensch, wie Hentig unter Bezugnahme auf seine „Vorstellung von einer gesellschaftlichen Funktion der Erziehung“ weiter ausführt, „in seiner Entwicklung zum erwachsenen Glied der Gesellschaft […] verschiedene Schwierigkeiten und Veränderungen durch“, er erwerbe „Fähigkeiten“ und versäume „Chancen“, er lerne „sich zu orientieren, zu informieren, seine Möglichkeiten einzuschätzen und sich zu entscheiden“.1132 Bei d iesem Vorgang, so Hentig, bedürfe der Mensch „besonderer pädagogischer Hilfe“ 1133 insbesondere bezogen auf fünf Dimensionen: „die Entwicklung des Körpers“; „das Einleben in soziale und politische Gebilde“; „die Erweiterung und Objektivierung der Erkenntnismöglichkeiten“; „die Erweiterung der sinnlichen Wahrnehmung“ sowie „die wirtschaftliche Sicherung seiner Existenz“.1134 Da alle diese „Dimensionen und die in ihnen auftretenden Schwierigkeiten“ allerdings „tief in die Geschichte, den Zustand der Gesellschaft“ eingelassen seien 1135, plädiere er, Hentig, für eine universitäre Zuständigkeit quer zu den verschiedenen „Situationen und Institutionen“ 1136 und deshalb für die Einrichtung von insgesamt fünf an den zuvor genannten „Dimensionen der Erfahrung“ ausgerichteten Lehrstühlen, wobei einer dieser Lehrstühle (in Hentigs Zählung Lehrstuhl Nr. 4) die Bezeichnung „aisthesis“ erhalten und mit der Aufgabe betraut werden solle, eine Pädagogik zu vertreten, „die sich auf die Wahrnehmungsprozesse konzentriert“ 1137. 1130 Ebenda, S. 69 1131 Ebenda (Hervorhebung im Original) 1132 Ebenda, S. 70 1133 Ebenda 1134 Ebenda 1135 Ebenda 1136 Ebenda 1137 Ebenda, S. 71. Die vollständige Liste der von Hentig vorgeschlagenen, an den genannten „Dimensionen der Erfahrung“ orientierten Lehrstühlen lautet wie folgt: „Pädagogik, die sich auf die körperlichen und seelischen Entwicklungsvorgänge konzentriert (physis)“; „Pädagogik, die sich auf die Sozialisierungsprozesse konzentriert (polis)“; „Pädagogik, die sich auf die Erkenntnisprozesse konzentriert (logos)“; „Pädagogik, die sich auf die Wahrnehmungsprozesse konzentriert (aisthesis)“; „Pädagogik, die sich auf die Fragen der Berufsbildung konzentriert (praxis)“. Hinzu kommen zwei weitere Lehrstühle: ein Lehrstuhl
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Zwar wird dieser Vorschlag Hentigs zur Einrichtung eines speziellen „aisthesis“-Lehrstuhls letzten Endes nicht realisiert 1138, die Begründung und beabsichtigte Ausrichtung desselben allerdings gibt dennoch einen aufschlussreichen Blick frei auf die Anfänge der hentigschen Auseinandersetzung mit dem Thema „Aisthesis“. So handelt es sich bei dem entsprechenden Abschnitt nicht nur um Hentigs erste schriftliche Verwendung des Aisthesis-Begriffs im Rahmen einer regulären Veröffentlichung überhaupt 1139, es findet sich hier zugleich ein erster Versuch Hentigs dokumentiert, der „Aisthesis“ einen systematischen Ort innerhalb eines größeren pädagogischen Gesamtzusammenhanges zuzuweisen. Demnach möchte Hentig unter dem Stichwort „aisthesis“ die pädagogische Konzentration auf menschliche Wahrnehmungsprozesse verstanden wissen, wobei er diese Konzentration nicht einem spezifischen Gegenstandsbereich zuordnet, sondern einer bestimmten Dimension der Erfahrung, genauer: der „Erweiterung der sinnlichen Wahrnehmung“ 1140. Bezogen auf diese Erfahrungsdimension wiederum bedarf der Mensch laut Hentig nun „pädagogischer Hilfe“ 1141 insofern, als er in seiner „Entwicklung zum erwachsenen Glied der Gesellschaft“ 1142 immer wieder mit „Schwierigkeiten
für „Pädagogik, die sich auf die pädagogischen Institutionen und ihre gesellschaftlichen Bedingungen konzentriert (nomos)“ und ein Lehrstuhl für „Pädagogik, die sich auf die Lehrmittel konzentriert (organon)“. (Ebenda) 1138 Der Wissenschaftliche Beirat des Gründungsausschusses für die Universität Bielefeld spricht sich auf seiner Sitzung am 15. Dezember 1967 zwar prinzipiell für eine Umsetzung der von Hentig vorgeschlagenen „kleinen Lösung“ aus (vgl. Gründungsausschuss für die Universität Bielefeld 15. 12. 1967, S. 4) und auch die Fachbereichskommission „Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Theologie“ orientiert sich bei ihrer entsprechenden Beschlussfassung am 23. August 1968 an den Vorschlägen Hentigs (vgl. Fachbereichskommission „Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Theologie“ für die Universität Bielefeld 23. 08. 1968), der ursprünglich vorgesehene Aisthesis-Lehrstuhl allerdings wird bei dieser Beschlussfassung nicht mehr berücksichtigt. Zur Gründungsgeschichte der Bielefelder „Fakultät für Pädagogik, Philosophie und Psychologie“ siehe darüber hinaus Oelkers 2009, S. 137 ff. 1139 Das Gutachten selbst erscheint – nach seiner hausinternen Veröffentlichung im Herbst 1966 (Hentig 1966 f ) – im Laufe des Jahres 1967 als Monographie im Bertelsmann-Verlag. Das genaue Erscheinungsdatum dieser Monographie lässt sich dabei zwar nicht mehr eindeutig rekonstruieren, legt man die entsprechenden Zugangsdaten im Akzessions-Journal der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main zu Grunde (E-Mail-Auskunft des Archivs der Deutschen Nationalbibliothek vom 11. April 2014), scheint das betreffende Gutachten allerdings noch vor Hentigs im selben Jahr veröffentlichten – und ebenfalls den Begriff der Aisthesis verwendenden – Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ (Hentig 1967c und Hentig 1967d) erschienen zu sein. 1140 Hentig 1967e, S. 70 1141 Ebenda 1142 Ebenda
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und Veränderungen“ 1143 konfrontiert wird, die eben jene „Erweiterung der sinnlichen Wahrnehmung“ betreffen. Aufgabe der Pädagogik in Sachen „aisthesis“ ist es im Sinne Hentigs deshalb, den Menschen dahingehend zu unterstützen, dass er lernt, sich bezogen auf die Erweiterung seiner sinnlichen Wahrnehmung „zu orientieren, zu informieren, seine Möglichkeiten einzuschätzen und sich zu entscheiden“ 1144. Zwar ist dieser Lernprozess mit allen weiteren der von ihm genannten Erfahrungsdimensionen eng verbunden (Hentig spricht in diesem Zusammenhang von einer „erwiesene[n] Interdependenz aller Dimensionen“ 1145), es gibt aber dennoch Problemstellungen und Vorgänge, die laut Hentig am sinnvollsten aus der Perspektive einer solchen Pädagogik bearbeitet werden, die sich unter dem Stichwort „aisthesis“ auf die Wahrnehmungsprozesse konzentriert. Die von Hentig in diesem Zusammenhang exemplarisch genannten Problemstellungen und Vorgänge betreffen dabei etwa die „Auswirkungen der Massenmedien auf die Perzeptionsund Apperzeptionsfähigkeit“, die „Entwicklung und Erhaltung der creativity“, das „Problem der ästhetischen Mündigkeit“ oder die „Stärkung des eidetischen Gedächtnisses“ 1146 – alles in allem also diverse Aspekte menschlichen Lebens, unter denen Begriffe wie „Kunst“, „Schönheit“ oder „Ästhetik“ zunächst keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen.
5.3.2 Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter Zwar nimmt der Begriff der Aisthesis in Hentigs 1967er Gutachten „Universität und Höhere Schule“ noch eine eher randständige Rolle ein, in seinem kurze Zeit später erschienenen Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ 1147 rücken „Aisthesis“ und „sinnliche Wahrnehmung“ allerdings bereits in den Mittelpunkt der Argumentation: „Was auch immer Kunstpädagogen treiben und meinen: ihre wahre Aufgabe scheint mir ästhetische Erziehung und nicht musische Bildung zu sein“ 1148, konstatiert Hentig hier an zentraler Stelle und präzisiert: „‚Ästhetische Erziehung‘ heißt Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis – in der Wahrnehmung. Sie will etwas ganz Elementares und Allgemeines.“ 1149 Dieser allgemeinen Definition ästhetischer Erziehung lässt Hentig sodann einige grundsätzliche Überlegungen zur Bedeutung der Wahrnehmung für das Leben des Menschen folgen: So gäben wir uns, wie Hentig betont, zumeist keine „Rechenschaft“ 1143 Ebenda 1144 Ebenda 1145 Ebenda, S. 72 1146 Ebenda, S. 73 f (Hervorhebung im Original) 1147 Hentig 1967c 1148 Ebenda, S. 282 1149 Ebenda, S. 283 (Hervorhebung im Original)
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darüber, welche „Festlegungen“ die menschliche Wahrnehmung erführe, welche „Ausweitungen folglich noch möglich“ seien und „versäumt“ würden, welche „Ausweitungen“ nötig seien und wozu.1150 Vielmehr werde „Wahrnehmung“ in der Regel als „gegeben vorausgesetzt“ und deshalb selbst „weder geübt noch verändert noch erweitert“.1151 Dieses allerdings, so Hentig weiter, sei dringend geboten: „Wir sind allenthalben zu solchen Ausweitungen der Wahrnehmung genötigt, wenn wir mit der Komplexheit unseres Lebens schritthalten wollen: Wir müssen graphische Kurven so lesen, wie wir bisher Wörter gelesen haben, abstrakte Zahlenrelationen wie bisher die konkrete ‚Erfahrung‘; wir werden der immer größeren Flut von Wahrnehmungen nur durch größere Diskriminierung Herr werden; wir werden uns auch gegen die Wahrnehmung nur durch Wahrnehmung – nämlich durch kritische und sinnvoll ausgewählte – wehren können; wir werden schließlich für eine zunehmende Freizeit und ein längeres, einsameres Alter nicht nur neue Aktionsmöglichkeiten, sondern vor allem neue Perzeptionsmöglichkeiten erfinden müssen.“ 1152
Die Menschen, so Hentig, müssten deshalb „im produktiven Eigenwillen, in der dazu notwendigen Vorstellungskraft und -lust und in der dazu nötigen Durchbrechung der Wahrnehmungsmuster und Wahrnehmungsschranken geübt werden“. Sie müssten lernen, „Möglichkeiten zu sehen“ noch bevor sie ausgelernt hätten, „‚Wirklichkeit‘ zu sehen“.1153 Seiner Forderung nach einer ästhetischen Erziehung als „Übung in der aisthesis“ legt Hentig insofern eine Argumentation zugrunde, wie er sie ganz ähnlich bereits in „Universität und Höhere Schule“ entwickelt hatte: Ausgehend von einer Analyse der „Komplexheit unseres Lebens“ 1154 hebt er die Notwendigkeit einer Übung, Veränderung und Erweiterung der Wahrnehmung hervor, wobei ihm insbesondere an einer Unterstützung des Menschen im Durchbrechen möglicher Wahrnehmungsschranken gelegen ist. Indem er diesen Vorgang allerdings im weiteren Verlauf seines Aufsatzes unter dem Stichwort „creativity“ 1155 wiederholt an das Prinzip der Kunst bindet und deren Funktion wiederum dahingehend bestimmt, „die Wahrnehmung zu erweitern und von den eigenen angestrengten Verfestigungen freizuspielen“ 1156, geht er insofern über seine vorangegangenen Überlegungen zum Thema „Aisthesis“ hinaus, als dass er diese nun mit seinem Mitte der 1960er Jahre entwickelten Verständnis der Kunst als Instrument zur „Erkundung des Möglichen“ verknüpft. Ebenso wie er die Kunst 1150 Ebenda 1151 Ebenda, S. 284 1152 Ebenda, S. 286 f. 1153 Ebenda, S. 287 1154 Ebenda, S. 286 1155 Vgl. ebenda, S. 288. 1156 Ebenda, S. 299
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bereits 1965 als das „große, totale didaktische Mittel“ bezeichnet hatte, „mit dessen Hilfe sich der Mensch über das Schöne total“ belehre 1157, möchte er selbige also nun verstanden wissen als dasjenige Phänomen, anhand dessen der Mensch bestmöglich in der „Durchbrechung“ von „Wahrnehmungsmuster[n] und Wahrnehmungsschranken“ geübt werde könne: „Denn was wir so [Wirklichkeit] nennen, ist immer nur eine mögliche Abstraktion, ein willkürlicher Ausschnitt eines unendlich vielfältigen Zusammenhangs: Was wir sehen, ist, was wir sehen können und sehen wollen. Auch dafür sind wir also verantwortlich, weil wir es ‚geschaffen‘ haben. An der Kunst werden wir dieser Tatsache gewahr.“ 1158
Die Kunst (wenngleich auch die Kunst in jenem weiten Verständnis, das Hentig im Verlauf desselben Aufsatzes erstmals expliziert 1159) erweist sich für Hentig in diesem Sinne als besonders geeignetes Instrument eben jener „Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis“, die er eingangs – unter dem Stichwort „ästhetische Erziehung“ – als „wahre Aufgabe“ der Kunstpädagogik bezeichnet hatte.
5.3.3 „Das Leben mit der Aisthesis“ als allgemeines Lernziel der Gesamtschule Im Jahr 1966 wird Hartmut von Hentig in einen Unterausschuss des Deutschen Bildungsrates zur Erarbeitung von „Empfehlungen für Versuche mit Gesamtschulen“ berufen, wo er mit dem Auftrag betraut wird, einen Beitrag zum Thema „Allgemeine Lernziele der Gesamtschule“ zu verfassen.1160 Ein von Hentig infolgedessen angefertigter, insgesamt dreizehn Lernziele umfassender Text – von ihm selbst später rückblickend als „mein konzentriertester und wichtigster Beitrag zur Pädagogik“ 1161 bezeichnet – erscheint zunächst 1969 unter dem Titel „Allgemeine Lernziele der Gesamtschule“ als einleitender Beitrag eines vom Bildungsrat herausgegebenen Sammelbandes zum Thema „Lernziele der Gesamtschule“ 1162 sowie im Anschluss daran, allerdings noch im selben Jahr, in einer zweiten, stark erweiterten Fassung der 1968 erstveröffentlichten Monographie Systemzwang und Selbstbestimmung 1163. Unter der Überschrift „Das Leben mit der Aisthesis“1164 enthält der entsprechende 1157 1158 1159 1160 1161 1162 1163 1164
Hentig 1965b, S. 5 (Hervorhebung im Original) Hentig 1967c, S. 287 Vgl. oben, Kapitel 5.1.3. Vgl. Hentig 1983a, S. 181. Ebenda, S. 182 Hentig 1969a Hentig 1968b Hentig 1969a, S. 29
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Lernzielkatalog dabei auch jenen Abschnitt, der in den Folgejahren unter diversen Titeln sowie im Rahmen zahlreicher Nachdrucke 1165 den Ruf Hentigs als Initiator einer radikalen Ausweitung ästhetischer Erziehung hin zu einer allgemeinen, „aisthetischen“ Wahrnehmungserziehung prägen sollte.1166 Zwar umfasst der gemeinte Abschnitt zum Thema „Aisthesis“ in seiner Druckfassung lediglich zweieinhalb Seiten, diese sind jedoch eingebettet in einen deutlich größeren inhaltlichen Gesamtzusammenhang, der zum Zwecke einer differenzierteren Analyse des von Hentig formulierten Lernziels zum „Leben mit der Aisthesis“ im Folgenden zumindest kurz skizziert werden soll. Von besonderem Interesse ist dabei speziell die Einbettung des gemeinten Textabschnitts in den Gesamtzusammenhang der zweiten Auflage von Systemzwang und Selbstbestimmung: Zum einen, weil es sich bei der dort abgedruckten Fassung um eine „gegenüber der ursprünglichen [für den Bildungsrat erstellten] Vorlage erheblich erweitert[e]“ Fassung handelt 1167, zum anderen, weil Hentig selbst wiederholt auf die enge inhaltliche Verknüpfung von Bildungsrat-Beitrag und Systemzwang und Selbstbestimmung hingewiesen hat. So etwa 1985, als er rückblickend zur Entstehungsgeschichte der „Allgemeinen Lernziele“ notiert: „Ursprünglich war dieses ganze Buch [Systemzwang und Selbstbestimmung] für den Unterausschuß ‚Experimental-Programm‘ des Deutschen Bildungsrates geschrieben. In diesem fand jedoch nur der in den Gutachten und Studien der Bildungskommission, Band 12, abgedruckte Teil allgemeine Zustimmung. Ich mache darauf aufmerksam, nicht weil mir die Abweichungen des einen Textes vom anderen besonders wichtig sind, sondern vielmehr, weil man an dem ursprünglichen Kontext die gemeinte Funktion ablesen kann; die ‚Allgemeinen Lernziele‘ stehen z wischen einer Analyse der Gesellschaft, aus der ich die Notwendigkeit einer ‚neuen Schule‘ begründe, und einem ‚Entwurf für den Unterrichtsplan einer vermittelnden Mittelstufe oder: Die Gegenstände der Gesamtschule‘; diesem Abschnitt wiederum folgen ‚Einige Bemerkungen zur Verwirklichung der neuen Schule‘.“ 1168
Wie hier bereits anklingt, ist es Hentigs grundlegendes, in Systemzwang und Selbstbestimmung verfolgtes Anliegen, die Bedingungen der Gesamtschule „aus den Merkmalen der Industriegesellschaft selbst abzuleiten“ 1169. Es geht ihm also darum, die 1165 Vgl. hierzu genauer oben, S. 81 sowie den entsprechenden Eintrag in der im Anhang abgedruckten Bibliographie der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung. 1166 Vgl. hierzu genauer oben, Kapitel 4.1.1. 1167 Vgl. Hentig 1969d, S. 75. 1168 Hentig 1985d, S. 151. Zum Entstehungszusammenhang der „Allgemeinen Lernziele für die Gesamtschule“ vgl. darüber hinaus Hentig 1983a, S. 182; Hentig 1987c, S. 13 sowie Hentig 2009c, S. 702. 1169 Hentig 1969d, S. 14
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zentralen schulpolitischen und didaktischen Anforderungen der „neuen Schule“ (womit bei ihm in d iesem Zusammenhang immer die Gesamtschule gemeint ist) auf Grundlage einer „gründlichen und vorurteilslosen Analyse der gesellschaft lichen Entwicklungen“ 1170 herauszuarbeiten. In den Mittelpunkt seiner diesbezüglichen Analysen, Reflexionen und Bekenntnisse 1171 stellt er dabei die „theoretische wie praktische Negation“ des „vermeidbaren und inhumanen, irrationalen Zwangscharakter[s]“, den ein System immer dann annehme, „wenn es sich mehr auf seine Erhaltung als auf seine Funktion“ konzentriere 1172. Die Aufgabe der Erziehung im Allgemeinen sowie der Schule im Besonderen müsse es deshalb laut Hentig sein, „die nächste Generation auf das Leben vorzubereiten, wie es ist, ohne sie dem Leben zu unterwerfen, wie es ist“, weshalb jegliche Form der Erziehung „die Grundbedingungen der jeweiligen historischen gesellschaftlichen Existenz genau kennen, sich selbst zum Modell dieser Gesellschaft machen und sowohl ihrem gegenwärtigen Zustand als auch ihren Entwicklungen Alternativen gegenüberstellen“ müsse.1173 Die „neue Schule“, so Hentig, müsse insofern eine „Antwort auf die neu bewußt gewordenen Probleme der Gesellschaft“ sein.1174 Ganz im Sinne dieser gesellschaftlichen Begründung der „neuen Schule“ werden deren „Allgemeinen Lernziele“ von Hentig dann auch nicht „aus den vorhandenen Einrichtungen und ihren spezifischen Gegenständen, Möglichkeiten, Methoden und Bildungsprogrammen“ abgeleitet, sondern „im Blick auf die Gesellschaft gesetzt“.1175 Bei dieser Setzung allerdings geht es Hentig nach eigenen Angaben nicht um „bloße Erfüllung von sogenannten Bedürfnissen der Gesellschaft“, sondern vielmehr darum, „die gesellschaftliche Existenz zugleich zu ermöglichen und sie zu kritisieren und zu verändern“.1176 Die „Bestimmung von Lernzielen öffentlicher Schulen“, so Hentig, müsse deshalb einerseits „in der Abwehr von aufzeigbaren Gefahren und in der Überwindung aufzeigbarer Schwierigkeiten“ vorgenommen werden 1177 und andererseits auf „Chancen vor allem der Emanzipation und Humanisierung“ antworten 1178. 1170 Ebenda, S. 17 (Im Original kursiv.) 1171 So zumindest kennzeichnet Hentig sein eigenes Vorgehen, wenn er schreibt: „Daß neben der bemühten Analyse also auch die freiere Reflexion und gelegentlich das eigenwillige Bekenntnis zu Wort und Geltung kommt, wird mir der Leser nachsehen müssen: es gehört zu dieser Methode.“ (Ebenda, S. 20) 1172 Ebenda, S. 9. Zu Hentigs Bestimmung und Unterscheidung der Begriffe „Systemzwang“ und „Selbstbestimmung“ sowie zur historiographischen Einordnung dessen gleichnamiger Monographie in die Geschichte der Bildungsreform der 1970er Jahre vgl. genauer Benner & Kemper 2007, S. 209 ff. 1173 Hentig 1969d, S. 71 1174 Ebenda, S. 64 1175 Ebenda, S. 77 (Hervorhebung im Original) 1176 Ebenda (Hervorhebung im Original) 1177 Ebenda 1178 Ebenda, S. 78
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Die von Hentig entwickelten „Allgemeinen Lernziele“ sind daher determiniert durch eine immer wieder neu vorzunehmende Ausrichtung an der „Gesamtheit der anthropologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen des Lernens“ 1179, so dass im Mittelpunkt der hentigschen Lernzielbestimmung nicht einzelne Gegenstände oder Unterrichtsfächer der „alten Schule“ stehen, sondern vielmehr das jeweils histo risch gegebene Leben in seiner Gesamtheit – oder, wie Hentig selbst es formuliert: der „Lerngegenstand ‚Leben‘“ 1180. Im Sinne dieser Denkfigur sind alle dreizehn von Hentig formulierten Lernziele denn auch nach ein und demselben Muster konstruiert: Zuerst wird durch die entsprechende Lernzielbezeichnung ein spezifischer Aspekt menschlichen Lebens „in der Industriegesellschaft“ benannt, wie beispielsweise „Das Leben in der sich beschleunigt verändernden Welt“, „Das Leben in der arbeitsteiligen (spezialisierten) Welt“ oder „Das Leben im Beruf z wischen Th eorie und Praxis“.1181 Danach wird dieser Aspekt in Form von „Wenn-dann-Sätzen“ 1182 problematisiert und schließlich auf den pädagogischen Auftrag der Gesamtschule angewandt. Konkret bedeutet dies, dass bezogen auf einen jeden Teilaspekt zunächst eine „Hypothese“ formuliert, diese daraufhin im Rahmen einer „Erläuterung“ diskutiert und im Anschluss daran in eine entsprechende Lernzielformulierung überführt wird. Aufgrund dieser Anlage und Begründung des hentigschen Lernzielkatalogs lassen sich bereits vor einer genaueren Analyse der spezifischen Formulierungen zum „Leben mit der Aisthesis“ einige Rückschlüsse auf den systematischen Ort der Aisthesis im Lernzielkonzept Hentigs formulieren. Demnach besteht – um einige der bereits zitierten Formulierungen Hentigs zu paraphrasieren – zumindest eine Aufgabe der „neuen Schule“ darin, die nächste Generation auf das „Leben mit der Aisthesis“ vorzubereiten, wie es ist, ohne sie dem „Leben mit der Aisthesis“ zu unterwerfen, wie es ist. Sie muss deshalb sowohl auf die Gefahren als auch auf die Chancen jenes „Lebens mit der Aisthesis“ antworten, indem sie diesbezüglich spezifische Veränderungen des Verhaltens des Menschen durch Erfahrung anstrebt. Was nun allerdings die genauere Bestimmung jener titelgebenden „Aisthesis“ – insbesondere in ihrem Verhältnis zu den Bereichen des Ästhetischen sowie der Kunst – angeht, bleibt die von Hentig formulierte Lernzielbestimmung erneut recht vage. So dient als Ausgangspunkt der entsprechenden Überlegungen Hentigs zunächst weder der Begriff der „Aisthesis“ (dieser taucht im Text selbst an keiner weiteren Stelle auf ) noch derjenige der „Wahrnehmung“, sondern vielmehr derjenige der „Kunst“: Auf dessen Bestimmung und Diskussion konzentriert sich Hentig sowohl in seiner
1179 1180 1181 1182
Ebenda, S. 76 Ebenda, S. 111 Vgl. ebenda, S. 75 ff. Ebenda, S. 77. Zu dieser von Hentig verwendeten „Wenn-dann“-Konstruktion siehe genauer Benner & Kemper 2007, S. 213 ff.
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einleitenden „Hypothese“ als auch im Rahmen der folgenden, von ihm „am Beispiel der Kunst“ 1183 vorgenommenen „Erläuterung“.1184 Dennoch kommt auch dem Begriff der „Wahrnehmung“ eine wichtige Rolle in der entsprechenden Lernzielformulierung Hentigs zu. So definiert dieser den Vorgang der „ästhetischen Erziehung“ als „systematische Ausbildung“ der „Wahrnehmungsmöglichkeiten, des Wahrnehmungsgenusses und der Wahrnehmungskritik“ 1185 und resümiert sodann unter dem Stichwort „Lernziele“: „Seine [des Schülers] Ausbildung an den verschiedenen Gegenständen und Aufgaben, die er aus anderen Gründen lernt, sollte, so wie sie auch immer wissenschaftlich und politisch sein soll, auch immer ästhetisch sein – das heißt: seine sinnliche Wahrnehmung üben, verselbstständigen und steigern.“ 1186
Mit dieser Formulierung – die Hentigs 1967 entwickelte Definition ästhetischer Erziehung als „Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis“ 1187 wiederaufgreift – rückt die Dimension der Wahrnehmung letztlich auch hier in den argumentativen 1183 Hentig 1969d, S. 94 1184 Tatsächlich scheint es fast so, als habe Hentig ursprünglich die Formulierung eines Lernziels zum „Leben mit der Kunst“ im Sinn gehabt und d ieses erst im weiteren Verlauf seiner Arbeit zum „Leben mit der Aisthesis“ ausgeweitet. Neben der inhaltlichen Ausrichtung des entsprechenden Lernziels am Prinzip der „Kunst“ spricht dafür nicht nur der Umstand, dass im Inhaltsverzeichnis des vom Bildungsrat herausgegebenen Bandes Lernziele der Gesamtschule von der ersten bis zur dritten (und letzten) Ausgabe von 1971 durchgängig von einem ebensolchen „Leben mit der Kunst“ die Rede ist (vgl. Deutscher Bildungsrat 1969, S. 7), in dieselbe Richtung weist zudem eine Formulierung Hentigs, die dieser im November 1968 in einem Aufsatz für den Merkur verwendet. Dort heißt es: „Wer heute allgemeine Lernziele für die Schule aufstellen will, der wird auf eine ganze Reihe eigenartiger Gefahren, Schwierigkeiten und Chancen des heutigen und künftigen Lebens antworten müssen, in denen die engeren ‚fachlichen‘ Lernziele […] eine nur subsidäre und meist gerade nicht wirklich wissenschaftsvorbereitende Rolle spielen. Ich nenne einige allgemeine Aufgabenbereiche: das Leben in der sich beschleunigt verändernden Welt; in der arbeitsteiligen (spezialisierten), in der von Wissenschaft und Technik rationalisierten, in der säkularisierten Welt; das Leben im Beruf – zwischen seiner Theorie und Praxis, in der Demokratie, in der Politik, in der Öffentlichkeit, in der Konsumgesellschaft; das Leben mit der Fülle der Mittel und der Vielfalt der Ziele, mit der Kunst, mit dem eigenen Körper, mit den Trieben, mit einigen Entlastungstechniken; das Leben in der Einen Welt; das Leben mit den anderen Generationen.“ (Hentig 1968a, S. 1003 f. (Hervorhebung im Original)) Hier, in dieser Aufzählung Hentigs, sind bereits sämtliche der dreizehn „Allgemeinen Lernziele der Gesamtschule“ in ihrem späteren Wortlaut versammelt – mit Ausnahme des „Lebens mit der Aisthesis“, an dessen Stelle sich, nur wenige Monate vor Veröffentlichung des Bildungsrat-Bandes, ein (allerdings nicht näher präzisierter) Aufgabenbereich zum Leben „mit der Kunst“ findet. 1185 Hentig 1969d, S. 94 1186 Ebenda, S. 95 1187 Hentig 1967c, S. 283 (Hervorhebung im Original)
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Mittelpunkt der hentigschen Überlegungen zum Thema „Aisthesis“. Ähnlich wie bereits zwei Jahre zuvor wird allerdings auch dieser neuerliche Verweis auf die Notwendigkeit einer systematischen Wahrnehmungserziehung begleitet durch das gleichzeitige Hervorheben eines angenommenen Befreiungspotentials der Kunst: Indem Hentig diese nämlich anhand ihrer „individuellen und gesellschaftlichen Funktion“ als „Selbstbetätigung und Selbstbefreiung durch die Entdeckung eigener Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten“ 1188 bestimmt, kann sie für ihn erneut als besonders geeignetes Instrument zur Übung in der Aisthesis dienen – als Instrument, unter Zuhilfenahme dessen der Einzelne zu einer „Erfahrung von der freien Gestaltbarkeit sowohl der Wahrnehmung wie der Herstellung wie der Wiedergabe seiner Umwelt“ 1189 gelangen soll. Die sinnliche Wahrnehmung, das Ästhetische und die Kunst erscheinen in diesem Sinne zwar erneut eng miteinander verbunden – sowie unter der Perspektive einer „ästhetischen Erziehung des Menschen“ auch unmittelbar aufeinander bezogen –, wie allerdings genau die Grenzen z wischen jenen drei Bereichen vor dem Hintergrund eines als inhaltliche Klammer dienenden „Lebens mit der A isthesis“ genauer bestimmt werden könnten, dies bleibt auch hier zunächst unklar.1190 So lässt sich an dieser Stelle denn auch lediglich festhalten, dass eben jenes „Leben mit der Aisthesis“, auf welches die neue Schule im Sinne Hentigs die nächste Generation vorbereiten müsse, ohne sie d iesem zu unterwerfen, offensichtlich Gefahren und Chancen beinhaltet, die die gesamte sinnliche Wahrnehmung des Menschen betreffen – einschließlich dessen „ästhetische[r] Beanspruchung“ 1191. Bei der daher notwendigen Übung und Ausbildung der „Wahrnehmungsmöglichkeiten, des Wahrnehmungsgenusses und der Wahrnehmungskritik“ 1192 kommt allerdings laut Hentig erneut der Kunst eine besondere Aufgabe zu: als Instrument zur Ermöglichung einer „Erfahrung von der freien Gestaltbarkeit“ 1193 der eigenen Wahrnehmungsvorgänge.
1188 Hentig 1969d, S. 94 1189 Ebenda, S. 95 1190 So nimmt es denn auch kaum wunder, wenn der entsprechende Abschnitt in den Folge jahren unter den verschiedensten Titeln wiederveröffentlicht wird: Sei es als „Das Leben mit der Aisthesis“ (Hentig 1975a), als „Lernziele im ästhetischen Bereich“ (Hentig 1971d und Hentig 1972c) oder als „Das Leben mit der Kunst“ (Hentig 1971b) – jeder der drei verwendeten Begriffe „Aisthesis“, „Ästhetik“ und „Kunst“ scheint je nach Sichtweise und Kontext als Leitbegriff des entsprechenden Abschnitts in Frage zu kommen. 1191 Hentig 1969d, S. 93 1192 Ebenda, S. 94 1193 Ebenda, S. 95
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5.3.4 Zwischenfazit: Zum Begriff der Aisthesis Setzt man die drei skizzierten Arbeiten zueinander in Beziehung, lässt sich die von Hentig in den Jahren 1966 bis 1969 vorgenommene systematische Verortung der „Aisthesis“ innerhalb eines größeren pädagogischen Gesamtzusammenhanges wie folgt charakterisieren: Unter dem Stichwort „Aisthesis“ thematisiert Hentig wiederholt eine spezifische Erfahrungsdimension menschlichen Lebens, die prinzipiell an sämtlichen Gegenständen zur Entfaltung kommen kann: diejenige der sinnlichen Wahrnehmung. Eine Pädagogik, die es sich zur Aufgabe macht, „die nächste Generation auf das Leben vorzubereiten, wie es ist, ohne sie dem Leben zu unterwerfen, wie es ist“ 1194, muss im Sinne Hentigs deshalb bei ihren Bemühungen immer auch das „Leben mit der Aisthesis“ mitberücksichtigen: Sie muss auf die mit d iesem Leben verbundenen Gefahren und Chancen antworten, indem sie sich bemüht, die sinnliche Wahrnehmung des Menschen zu üben, zu verselbstständigen und zu steigern. Bei dieser Bemühung allerdings spricht Hentig insbesondere der Kunst eine zentrale Bedeutung zu: Diese ist für ihn nicht nur wichtiger Bestandteil eines jeden „Lebens mit der Aisthesis“ – weshalb eine entsprechende Vorbereitung auf dieses immer auch das „Leben mit der Kunst“ berücksichtigen muss –, sie ist für ihn zugleich ein besonders geeigneter Gegenstand, um an ihm „die Wahrnehmung zu erweitern und von den eigenen angestrengten Verfestigungen freizuspielen“ 1195. Eine Übung der Wahrnehmung an der Kunst dient in d iesem Sinne für Hentig also immer auch der Vorbereitung auf das Leben mit der Aisthesis, und zwar insofern, als dass sie gerade auf die Veränderlichkeit der Wahrnehmung aufmerksam macht und so ihren Teil dazu beiträgt, die nächste Generation nicht nur auf das Leben mit der Aisthesis vorzubereiten, sondern diese zugleich in Freiheit gegenüber dessen Festlegungen zu üben. Bei all diesen Überlegungen zum Thema „Aisthesis“ versäumt es Hentig allerdings durchgehend, die Grenzen zwischen den Bereichen der Kunst und des Schönen auf der einen und dem Bereich der Aisthesis auf der anderen Seite genauer zu kennzeichnen. So bleibt zunächst offen, wie jene drei Begriffe sich genau zueinander verhalten: Zwar scheint es neben der Kunst und dem Schönen noch andere Bereiche des „Lebens mit der Aisthesis“ zu geben, derer sich eine Übung der Wahrnehmung zu widmen hätte, wie diese allerdings im Sinne Hentigs genauer benannt und von den beiden erstgenannten Bereichen abgegrenzt werden könnten, bleibt auch hier weitgehend unklar. Dies mag schließlich auch ein Grund dafür sein, dass Hentig mit Beginn der 1970er Jahre den Begriff der Aisthesis kaum mehr in systematischer Perspektive verwendet: Gebraucht er ihn doch, so geschieht dies entweder in polemischer Kommentierung
1194 Hentig 1969d, S. 71 1195 Hentig 1967c, S. 299
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entsprechender Sprachgewohnheiten der eigenen Zunft 1196 oder aber retrospektiv mit Blick auf seine eigenen Texte und Überlegungen der späten 1960er Jahre 1197. Lediglich in der Einleitung seines Sammelbandes Ergötzen, Belehren, Befreien von 1985 verwendet er den Begriff der Aisthesis noch einmal in systematischer Perspektive, wenn er bezogen auf die Entstehungsgeschichte seiner eigenen „Schriften zur ästhetischen Erziehung“ notiert: „Meine Aufgabe war es, darüber nachzudenken, wie die öffentliche Schule mit der aisthe sis umgeht, mit der Wahrnehmung und Gestaltung der Phänomene – zumal mit der machtvollsten Wahrnehmung: der Schönheit, und der wirkungsreichsten Gestaltung: der Kunst – und mit den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien, den ihnen unterworfenen Tatbeständen, den ihnen innewohnenden Chancen und Gefahren.“ 1198
Hier, in dieser erneut retrospektiv ausgerichteten Formulierung Hentigs, tritt zumindest ansatzweise eine mögliche Ordnung der drei Begriffe „Aisthesis“, „Kunst“ und „Schönheit“ hervor: Indem Hentig die „aisthesis“ als „Wahrnehmung und Gestaltung der Phänomene“ bezeichnet und ihr sodann den Bereich der „Schönheit“ (als ihre „machtvollste Wahrnehmung“) und denjenigen der „Kunst“ (als ihre „wirkungsreichste Gestaltung“) zuordnet, wird deutlich, dass Hentig beide Bereiche zwar einerseits als integralen Bestandteil der Aisthesis versteht – und ihnen dabei sogar einen besonderen Stellenwert zuweist –, er das Aisthetische aber andererseits über Schönheit und Kunst hinausreichen lässt. So gibt es für Hentig neben diesen beiden offenbar noch andere, weit weniger machtvolle und wirkungsreiche Möglichkeiten der „Wahrnehmung und Gestaltung der Phänomene“: Erfahrungen also, die zwar Teil des „Lebens mit der Aisthesis“ sind, sich aber weder mit dem Begriff des Schönen noch mit demjenigen der Kunst angemessen bezeichnen lassen.
5.4 Ästhetik So zentral die bis hierhin untersuchten Begriffe „Kunst“, „Schönheit“ und „Aisthesis“ auch für das hentigsche Denken sein mögen – sie alle drei werden (unter dem Stichwort der „ästhetischen Erziehung“) von Hentig wiederholt erst durch einen vierten Begriff zueinander in Beziehung gesetzt: durch denjenigen des Ästhetischen. Diesen verwendet Hentig zunächst eher sporadisch 1199, bevor er ihn schließlich 1967
1196 Vgl. Hentig 1981b, S. 48 sowie Hentig 1994a, S. 177. 1197 Vgl. Hentig 1980b, S. 309; Hentig 1985e, S. 18; Hentig 1998b, S. 43 sowie Hentig 2000a, S. 4. 1198 Hentig 1985e, S. 11 (Hervorhebung im Original) 1199 Vgl. bspw. Hentig 1959a, S. 60; Hentig 1959b, S. 738 und S. 801; Hentig 1967a, S. 51.
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in seinem Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ 1200 unter Bezugnahme auf Schiller zum Leitbegriff seiner dort entwickelten Überlegungen erhebt. Die von Hentig in diesem Zusammenhang gewählte Formulierung, ästhetische Erziehung heiße „Ausrüstung und Übung des Menschen in der aisthesis – in der Wahrnehmung“ 1201, deutet dabei zwar zunächst auf eine Gleichsetzung von Ästhetik und Aisthesis hin, im weiteren Verlauf des besagten Aufsatzes bezieht Hentig den Begriff der Ästhetik allerdings zunehmend auf denjenigen der Kunst – und weniger auf denjenigen der Aisthesis. Am deutlichsten zeigt sich dies, wenn Hentig unter der Überschrift „Ästhetik/ Ästhetisierung/Ästhetizismus“ 1202 konstatiert, das Wort „Ästhetik“ habe wie das Wort „Politik“ zwei Bedeutungen angenommen, und ergänzt: „[E]s meint einerseits einen Erfahrungsbereich und andererseits die Th eorie davon – eine philosophische Disziplin. Die letztere sollte dazu dienen, die erstere in ein Verhältnis zu anderen Lebensbereichen zu setzen und sie dadurch verständlich zu machen: das Empfinden zum Erkennen, das Kunstwerk zum Gebrauchsgegenstand, das Artefakt zur Natur, die Wahrnehmung zur Wertung. ‚Ästhetisierung‘ dagegen heißt dann umgekehrt die Abrichtung der Erscheinungen auf eine solche Th eorie. ‚Ästhetizismus‘ schließlich wäre die zum Prinzip erhobene ästhetische Theorie.“ 1203
Während Hentig hier zunächst in allgemeiner Perspektive von Ästhetik, Ästhetisierung und Ästhetizismus spricht, beschäftigt er sich im Anschluss allerdings vornehmlich mit einer von ihm als besonders problematisch wahrgenommenen Tendenz zur „Ästhetisierung der Kunst“ 1204: Diese spezielle Form der Ästhetisierung möchte Hentig insofern als „Gefahr für die Kunst und die Kunsterziehung“ 1205 verstanden wissen, als dass sie der „Kunstausübung viel zu enge Grenzen“ 1206 ziehe, mit der Folge, dass der ästhetisierende Kunsterzieher „nicht nur die ästhetische Erziehung im weiteren Sinn schuldig“ 1207 bleibe, „sondern auch die unmittelbare Erfahrung und eine geprüfte Theorie von der Kunst“ 1208. Aus dieser Überlegung heraus entwickelt Hentig sodann jenen weiter oben bereits ausführlich behandelten weiten Kunstbegriff 1209, dessen Formulierung er schließlich mit dem folgenden Hinweis enden lässt: 1200 Hentig 1967c 1201 Ebenda, S. 283 (Hervorhebung im Original) 1202 Ebenda, S. 297 1203 Ebenda 1204 Ebenda, S. 298 1205 Ebenda, S. 297 1206 Ebenda, S. 298 1207 Ebenda 1208 Ebenda 1209 Siehe oben, Kapitel 5.1.3.
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„Es ist deutlich, daß wir einen gemeinsamen Kunstbegriff überhaupt verlieren, wenn wir ihn im Kunstwert, mithin in der Ästhetisierung suchen, die den Wert voraussetzt und absolut setzt, den die Ästhetik doch erst zu prüfen hätte. – Daß Kunstübungen in eine Ebene mit wenn schon unbestreitbaren, so doch trivialen Genüssen wie Seifenblasen, heiße Brause und Achterbahn geraten, das können nur die Künstler selber verhindern, aber keine Ästhetisierung.“ 1210
Hier wird deutlich, dass Hentigs Abwehr einer „Ästhetisierung der Kunst“ ausgesprochen eng verbunden ist mit seinem an gleicher Stelle vorgetragenen Plädoyer gegen einen „Wertbegriff “ 1211 von Kunst. Der Begriff der Ästhetisierung dient Hentig dabei zur Benennung derjenigen Denkweise, derer er sein eigenes Verständnis von einer „redlichen Ästhetik“ 1212 entgegenzusetzen versucht: von einer Ästhetik, die die Kunst von ihren Wirkungen her begreift und nicht von ihren Werken 1213. Der gesamte „Erfahrungsbereich“ 1214 des Ästhetischen wäre im Sinne einer solch „redlichen Ästhetik“ demnach von seinen jeweiligen Wirkungen her zu begreifen: als ein spezifischer Erfahrungsmodus, der einzig und allein anhand des Vollzugs einer ebenfalls spezifischen Erfahrung gemessen werden kann. Wie ein solch spezifischer Erfahrungsmodus des Ästhetischen allerdings genauer bestimmt und vom Bereich der Kunst sowie von demjenigen der Aisthesis unterschieden werden könnte, dies bleibt auch im weiteren Verlauf des zitierten A ufsatzes weitgehend unklar. Deutlich wird lediglich, dass sich die Ästhetik als philosophische Disziplin im Sinne Hentigs sowohl mit der „‚große[n], ernste[n], ewige[n] Kunst‘“ 1215 auseinanderzusetzen hätte als auch mit solchen Gegenständen, die weiter oben einem weiten Kunstbegriff Hentigs zugeordnet werden konnten: also etwa „die Beleuchtung, das Gespräch, die Kleidung der Gäste, ihre Gesellungsformen, die Ökonomie von Ernst und Heiterkeit“ 1216 auf einer Vernissage, die „Koch-Kunst, die Mode, die Höflichkeit“ 1217 oder auch die „Stimulierung der Wahrnehmung durch Wein, Narkotika und LSD“ 1218. Sie alle können laut Hentig insofern Anlass des Nachdenkens über den Lebensbereich der Ästhetik sein, als sie im Stande sind, „die Wahrnehmungen zu erweitern und von den eigenen angestrengten Verfestigungen freizuspielen“ 1219. 1210 Hentig 1967c, S. 299 f. (Hervorhebung im Original) 1211 Ebenda, S. 299 1212 Ebenda, S. 297 1213 Vgl. ebenda, S. 299. 1214 Ebenda, S. 297 1215 Ebenda, S. 299 1216 Ebenda, S. 298 1217 Ebenda, S. 299 1218 Ebenda 1219 Ebenda
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Ganz ähnliche Beispiele für den Lebensbereich des Ästhetischen nennt Hentig auch in anderen, ebenfalls in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre veröffentlichten Arbeiten: So spricht er 1965 von den „ästhetischen Reizungen“, mit denen die Reklame seines Erachtens arbeite, „indem sie die Dinge als reich oder einfach, geistvoll oder solide, männlich oder weiblich erscheinen“ lasse 1220, 1967 nennt er Architektur und Reklame als Teil der „ästhetischen Umwelt“ des Menschen, der sich eine „empirische pädagogische Forschung“ zu widmen habe 1221, und 1969 möchte er in seiner Lernzielformulierung zum „Leben mit der Aisthesis“ die „elementaren Ausdrucksmöglichkeiten bis hin zur Mode, zur Reklame, zur politischen Symbolik, zu Stilisierung oder Variation der sozialen Verhaltensformen“ zur „ästhetischen Beanspruchung“ des Menschen gezählt wissen 1222. Was allerdings in all diesen Aufzählungen der späten 1960er Jahre nicht als Teil des Erfahrungsbereichs „Ästhetik“ auftaucht, das ist die Dimension der Aisthesis: die allgemeine sinnliche Wahrnehmung des Menschen. Ästhetik und Aisthesis erscheinen im Denken Hentigs insofern zwar unmittelbar aufeinander bezogen, nicht aber miteinander identisch. Die hier deutlich werdende hentigsche Verortung des Ästhetischen als – wenn auch nur vage bestimmtes – Mittleres z wischen Aisthesis und Kunst bildet im Laufe der 1970er Jahre schließlich die Grundlage des Prozesses, der weiter oben bereits als allgemeine „Ausweitung der ästhetischen Erziehung“ beschrieben wurde: Das Ästhetische wird dabei im Anschluss an Hentig wahlweise als Kunst, als Warenästhetik, als visuelle und auditive Kommunikation oder schlicht als sinnliche Wahrnehmung verstanden.1223 Hentig selbst reagiert auf diese Lesart der eigenen Schriften, indem er den Begriff des Ästhetischen in seinen eigenen Texten der 1970er Jahre zunächst kaum mehr verwendet und ihn sodann – mit Beginn der 1980er Jahre – schließlich einer öffentlichen Kritik und Revision unterzieht. Am deutlichsten geschieht dies in seinem 1980 gehaltenen Vortrag auf dem Kongress des Bundes Deutscher Kunsterzieher im Kölner Gürzenich: Hier rechnet er nicht nur mit aktuellen theoretischen wie praktischen Strömungen der Kunstpädagogik ab, er bemüht sich darüber hinaus, das Ästhetische in der ästhetischen Erziehung für seine eigene „philosophy of esthetic education“ 1224 neu zu bestimmen. So konstatiert er gleich zu Beginn seines Vortrags, er werde „nach den Merkmalen des Ästhetischen fragen müssen und dazu die historische wie die zeitgenössische Kunst (und ihre Theorie)“ 1225 in seine Argumentation aufnehmen müssen, und er ergänzt kurz darauf: „Die Ästhetische Erziehung braucht eine Verständigung darüber, was das Wort ‚ästhetisch‘ in ihrem Namen bedeutet. Deutlicher und anstößiger: Die Ästhetische Erziehung braucht 1220 1221 1222 1223 1224 1225
Hentig 1965b, S. 6 Hentig 1967e, S. 62 Vgl. Hentig 1969d, S. 93. Vgl. oben, Kapitel 4.1.2. Hentig 1981b, S. 24 Ebenda, S. 25
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eine Norm – eine begründete, geprüfte, der Zustimmung fähige Norm. Welche könnte das sein?“ 1226 Ähnlich wie bei seinem im selben Vortrag unternommenen Versuch der Formulierung eines pädagogischen Arbeitsbegriffs von Kunst 1227 schränkt Hentig seine eigenen Ambitionen bei der Entwicklung eines entsprechend elaborierten Ästhetik-Begriffs allerdings sogleich wieder ein, indem er hinzufügt: „Die ästhetische Erfahrung an der Natur, die Wahrnehmung des Kultgegenstandes als Kunst, die Beziehung zwischen diesen unterschiedlichen ästhetischen Gegenstandsbereichen sind sehr schwer in eine systematische und historische Ästhetik einzubringen. […] Mein Referat kann nur andeuten, daß ich mir dieser Aufgabe wie dieser Lücke bewußt bin.“ 1228
Trotz dieser neuerlichen Relativierung der eigenen Überlegungen zum Thema gelingt es Hentig aber zumindest insoweit, für etwas Begriffsklarheit zu sorgen, als dass er den Begriff der Kunst nun deutlicher als noch zuvor von demjenigen des Ästhetischen unterscheidet. So notiert er bereits zu Beginn seines Vortrags, die Kunst wirke bezogen auf die „in der Gesellschaft vorkommende oder vorherrschende ästhetische Erfahrung“ 1229 in „maßgebender oder vermittelnder oder abgeleiteter Rolle“ 1230, und an späterer Stelle – unter der Überschrift „Neue Ziele, Maßstäbe, Programme“ 1231 – konstatiert er schließlich: „Kunst ist an ihren Wirkungen zu erkennen, und das wiederum rechtfertigt, ja zwingt, daß ihr eine im Wortsinn maß-gebende Rolle in der Ästhetischen Erziehung eingeräumt wird: dieser muß es darum gehen, die Wirkungen ästhetischer Phänomene zu verstehen und über sie zu verfügen. Räumt man ein, daß Kunstwerke ästhetische Phänomene sind, die besondere Wirkungen tun, muß die Ästhetische Erziehung sie besonders berücksichtigen.“ 1232
Entscheidend ist hier die Hervorhebung der Besonderheit künstlerischer Wirkungen im Vergleich zu denjenigen anderer „ästhetischer Phänomene“: eine Hervorhebung, durch die Hentig die Kunst zwar einerseits selbst als ästhetisches Phänomen kennzeichnet, sie aber andererseits deutlich von anderen, ebenfalls ästhetischen Phänomenen unterscheidet. Um was für andere Phänomene es sich dabei nun aber genau handeln könnte, dies wird erneut lediglich ersichtlich anhand der zahlreichen Aufzählungen, die Hentig unternimmt, um seine theoretischen Überlegungen anhand 1226 Ebenda, S. 26 1227 Siehe hierzu oben, S. 181 1228 Hentig 1981b, S. 27 1229 Ebenda, S. 23 1230 Ebenda 1231 Ebenda, S. 34 1232 Ebenda, S. 34 f.
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entsprechender Beispiele zu verdeutlichen. So dienen ihm als Exempel für die „in der Gesellschaft vorkommende oder vorherrschende ästhetische Erfahrung“ 1233 – gleichsam für den „ästhetischen[n] Zustand unseres Lebens“ 1234 – etwa die folgenden Phänomene: „die Gestaltung unserer Gegenstände (vom Auto bis zum Vorgarten), die Werbung, das Fernsehen, die Bilderflut; die Trennung von Sehen und Hören (ich denke an das Radio, das wir bei angestrengter, auf gänzlich anderes gerichteter Sehtätigkeit gleichwohl i ntensiv aufnehmen, z. B. beim Autofahren), das Kunstlicht, der permanente Farbschock; das Zurücktreten und die allmähliche Wiederentdeckung der Natur; dazu die Fülle der kulturellen Institutionen und Ereignisse, das Angebot von originalen und reproduzierten Kunstwerken; die vermehrte Freizeit, in der man sich aktiv oder passiv mit alledem befassen kann …“ 1235
Ebenfalls dem Bereich des Ästhetischen zugerechnet wissen möchte Hentig zudem die „ästhetische Erfahrung an der Natur“ 1236, die „Wahrnehmung des Kultgegenstandes als Kunst“ 1237 sowie erneut die Tätigkeit des Fernsehens – wobei ihm letztere zugleich als Beispiel für eine „ästhetisch überreizte Kultur“ dient, gegenüber derer man sich in ästhetischer Mündigkeit zu üben habe 1238. Wie hier bereits anklingt, scheint Hentig allerdings bei all diesen Überlegungen auszugehen von einem deutlichen Wertgefälle zwischen Phänomenen der Kunst auf der einen und sonstigen „ästhetischen Phänomen“ auf der anderen Seite: So konstatiert er im weiteren Verlauf seinen Vortrags, die Kunst selbst sei „in die ästhetische Praxis, in den Spielgarten der Effekte herabgestiegen“, wo sie „eine Fülle belustigender und verblüffender Wirkungen“ hervorbringe 1239, und er ergänzt einige Seiten später, zahlreiche „Kunsterzieher“ hätten sich abgewendet vom „Kunstwerk von Rang“ und seien „eine Etage tiefer gestiegen in die kompensatorische, therapeutische, spielerische, freizeitgestaltende Ästhetische Praxis“ 1240. Die Kunst ist für Hentig 1980 insofern zwar einerseits eine Unterkategorie des Ästhetischen, andererseits aber nimmt sie für ihn eine deutliche Sonderstellung gegenüber anderen „ästhetischen Phänomenen“ ein – und zwar sowohl in pädagogischer als auch in normativer Perspektive. Wie „das Ästhetische“ dabei allerdings in seinem Verhältnis zu Kunst und Aisthesis genauer bestimmt werden könnte, dies bleibt auch hier weitestgehend unklar. Zwar lässt sich die an gleicher Stelle durch Hentig 1233 Ebenda, S. 23 1234 Ebenda 1235 Ebenda, S. 24 1236 Ebenda, S. 27 1237 Ebenda 1238 Vgl. ebenda, S. 31. 1239 Ebenda, S. 32 1240 Ebenda, S. 34
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vorgenommene Bestimmung der Kunst als „Erkundung des Möglichen“ 1241 so verstehen, dass es eben jener sich im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen vollziehende Vorgang einer „Erkundung des Möglichen“ ist, der die künstlerische Erfahrung von der nur ästhetischen unterscheidet. Wodurch sich dann aber die zwar ästhetische, nicht aber künstlerische Erfahrung wiederum von der aisthetischen Erfahrung der reinen Sinneswahrnehmung unterscheiden könnte, darauf findet sich auch hier keine eindeutige Antwort. Der damit umrissenen Ordnung des Ästhetischen – einschließlich des in ihr enthaltenen Wertgefälles z wischen Kunst und sonstigen „ästhetischen Phänomenen“ – bleibt Hentig auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten weitestgehend treu. So würdigt er beispielsweise 1985 im Vorwort seines Sammelbandes Ergötzen, Belehren, Befreien zwar zunächst die „fraglos reizvollen ästhetischen Eigenschaften“ von Gegenständen wie „Höhlenmalereien, Totempfähle[n], Regenzauber und Fruchtbarkeitstänze[n]“ sowie den „ja auch nicht zu leugnende[n] ästhetische[n] Reiz der Rot-Gelb- Grün-Lichtfolge an unseren Verkehrsampeln“ 1242, allerdings nur um im Anschluss daran sogleich zu konstatieren: „Von Kunst sollte man erst reden, wenn sich die Mittel und Gesetze der Gestaltung der genannten Gegenstände und Tätigkeiten gegenüber deren Zweck selbständig behaupten können: Wenn der gemalte Stier oder der geschnitzte Gott nicht so sein müssen, wie sie immer waren und die Jagdgemeinschaft oder die Priester sie fordern, sondern wenn sie auch anders sein können, weil die Gestaltungskraft des ‚Künstlers‘ überzeugt.“ 1243
Wenn er einige Seiten später dann notiert, er bleibe dabei, dass es im Kunstunterricht „in erster Linie um das Erfahren, Verstehen und Hervorbringen von ästhetischen Wirkungen“ gehe und „die großen Kunstwerke hierbei vor allen anderen möglichen ästhetischen Gegenständen einen gewaltigen Vorsprung“ hätten 1244, bestätigt sich erneut jener oben dargelegte Befund: Die Kunst ist für Hentig nicht nur Teil des Ästhetischen, sondern zugleich dessen Mittelpunkt und Maßstab. Dass dabei allerdings die Grenzen des Ästhetischen nach wie vor undeutlich bleiben, dies zeigt nicht zuletzt eine inhaltliche Veränderung, die Hentig 1985 beim Wiederabdruck seines 1967er Aufsatzes „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ vornimmt. Dem 1967 getätigten Hinweis, es zeige sich, „daß wir vor Wörtern auf der Hut sein müssen“, um nicht dadurch einen „wichtigen Gedanken“ zu verlieren, dass wir „die Begriffe nicht auf unsere Situation“ umgedeutet haben 1245, stellt Hentig in der 1985er Fassung seines Textes den folgenden Einschub hintenan: 1241 1242 1243 1244 1245
Ebenda, S. 29 Hentig 1985e, S. 14 Ebenda (Hervorhebung im Original) Ebenda, S. 21 Hentig 1967c, S. 276
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Die Grenzen des Ästhetischen
„Von kaum einer menschlichen Erfahrung gilt das mehr als von derjenigen, die wir als die ‚ästhetische‘ von der rationalen oder politisch-gesellschaftlichen unterscheiden: Sie ist auf eine überwältigende Weise einsam und gemeinsam zugleich, trügerisch konkret und begrifflich unstet.“ 1246
Eben dieses Nebeneinander von „trügerischer Konkretheit“ und „begrifflicher Unstetheit“ bildet gewissermaßen das Leitmotiv des hentigschen Nachdenkens über „das Ästhetische“: Zwar weist Hentig der ästhetischen Erfahrung wiederholt einen wichtigen Stellenwert im Leben des Menschen zu und erhebt den Begriff des Ästhetischen gar zum Leitbegriff seines eigenen Nachdenkens zum Themenfeld Kunst, Schönheit und Aisthesis. Wie das Ästhetische selbst dabei aber definitorisch genauer gefasst werden könnte, dies bleibt, trotz aller Konkretheit der verwendeten Beispiele Hentigs, dennoch weitestgehend offen.
5.5 Zwischenfazit: Die Grenzen des Ästhetischen Stellt man die bis hierhin untersuchten Begriffe „Kunst“, „Schönheit“, „Aisthesis“ und „Ästhetik“ abschließend in ihrer Verwendung durch Hentig nebeneinander, so fällt auf, dass alle vier sich in einem zentralen Aspekt gleichen: Sie alle bezeichnen eine spezifische Erfahrungsdimension menschlichen Lebens, die prinzipiell an sämtlichen Gegenständen zur Entfaltung kommen kann. Das „Leben mit der Aisthesis“ bildet dabei den epistemologischen Rahmen, innerhalb dessen Erfahrungen von Kunst, Schönheit und Ästhetik im Sinne Hentigs erst möglich werden. Eine jede der genannten Erfahrungen wäre demnach also zugleich eine aisthetische Erfahrung, wohingegen es durchaus Erfahrungen gäbe, die zwar Teil des „Lebens mit der Aisthesis“ sind, sich aber weder unter den Begriff des Schönen noch unter denjenigen der Kunst oder des Ästhetischen subsumieren lassen. Jenseits dieser groben Zuordnung allerdings fällt es schwer, das gegenseitige Verhältnis der genannten Erfahrungsdimensionen genauer zu bestimmen: Dies liegt einerseits daran, dass Hentig die von ihm verwendeten Begriffe je für sich nur unzureichend scharf definiert (bzw. seine jeweiligen Definitionen über die Jahre zum Teil deutlich verändert), andererseits aber auch daran, dass er alle vier Begriffe kaum je zeitgleich verwendet. So lässt sich die hentigsche Verwendung der Begriffe „Kunst“, „Schönheit“, „Aisthesis“ und „Ästhetik“ auf zeitlicher Ebene grob in vier Phasen unterteilen: • In den Jahren 1959 bis 1965 verwendet Hentig in systematischer Perspektive weder
den Begriff der Schönheit noch denjenigen der Aisthesis noch denjenigen der Ästhetik. Lediglich der Begriff der Kunst kommt in seinen Arbeiten regelmäßig zur Anwendung und wird von ihm in den Jahren 1964 und 1965 schließlich als „Erkundung des Möglichen“ bestimmt.
1246 Hentig 1985e, S. 66
Zwischenfazit
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• Im Herbst des Jahres 1965 erweitert Hentig sein begriffliches Instrumentarium
vorübergehend um den Begriff der „Schönheit“, unter dem er eine spezifische „Wirkung“ verstanden wissen möchte. Die auf diese Weise bezeichnete Erfahrungsdimension überschneidet sich zwar partiell mit derjenigen der Kunst, beide sind für Hentig allerdings keineswegs identisch.
• In den Jahren 1966 bis 1969 verzichtet Hentig bereits wieder auf den Begriff der
Schönheit und spricht anstelle dessen an prominenter Stelle neben „Kunst“ zugleich von „Aisthesis“ und „Ästhetik“. Mit dieser Begriffs-Erweiterung geht allerdings zugleich eine deutliche Begriffs-Diffusion einher: Zwar lässt das hentigsche Verständnis des Ästhetischen sich für diesen Zeitraum vage als Mittleres z wischen Aisthesis und Kunst bestimmen, aber keiner der drei Begriffe wird von Hentig inhaltlich präzise genug definiert, als dass ihr gegenseitiges Verhältnis genauer benannt werden könnte.
• Mit Beginn der 1970er Jahre beginnt Hentig die von ihm verwendeten Begriffe
schließlich erneut deutlicher zu unterscheiden: Aisthesis, Ästhetik und Kunst treten nun klarer auseinander, während der Begriff der Schönheit auch weiterhin keine systematische Rolle mehr zugewiesen bekommt. Zwar bleibt dabei das grundsätzliche Verhältnis der drei Begriffe „Aisthesis“, „Ästhetik“ und „Kunst“ weitestgehend unverändert – das Ästhetische erscheint also auch hier als Mittleres zwischen Aisthesis und Kunst –, deutlicher als noch zuvor hebt Hentig nun allerdings sowohl den spezifischen Zeichencharakter von Kunstwerken hervor als auch deren normativen Vorrang gegenüber anderen Gegenständen ästhetischer Erfahrung: Die Kunst wird von ihm nun also nicht mehr allein als Teil des Ästhetischen verstanden, sondern zugleich explizit als dessen Mittelpunkt und Maßstab. Eine genauere definitorische Abgrenzung des Ästhetischen gegenüber der Kunst auf der einen und der Aisthesis auf der anderen Seite nimmt Hentig dabei allerdings auch in dieser bis heute andauernden Phase an keiner Stelle vor.
Diese Unschärfe der von Hentig verwendeten Begriffe wirft nun allerdings mit Blick auf den Bereich der ästhetischen Bildung und Erziehung eine entscheidende Frage auf: Wenn es Hentig in mehr als fünf Jahrzehnten nicht gelingt, die verschiedenen, seinen diversen Überlegungen zum Thema zugrunde liegenden Begriffe „Kunst“, „Schönheit“, „Aisthesis“ und „Ästhetik“ je für sich sowie in ihrem Verhältnis zueinander genauer zu bestimmen, w elche Grundannahmen lassen sich dann überhaupt als Konstanten des hentigschen Nachdenkens über die definitorischen Grenzen der ästhetischen Bildung und Erziehung identifizieren? Hierauf lassen sich auf Grundlage des bisher Gesagten zumindest fünf erste Teilantworten geben: 1. Ästhetische Bildung und Erziehung hat im Sinne Hentigs mit einer spezifischen Erfahrungsdimension menschlichen Lebens zu tun – nicht also mit einem spezifischen Gegenstandsbereich.
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Die Grenzen des Ästhetischen
2. Grundlage einer jeden ästhetischen Erfahrung ist die Dimension der sinnlichen Wahrnehmung, weshalb eine jede Form der ästhetischen Bildung und Erziehung immer zugleich auch eine Form der aisthetischen Bildung und Erziehung ist. 3. Im Mittelpunkt ästhetischer Bildung und Erziehung steht die Erfahrungsdimension der Kunst, die als solche wiederum gebunden ist an einen spezifischen Zeichencharakter der jeweils als Kunst wahrgenommenen Gegenstände oder Ereignisse. 4. Dennoch ist ästhetische Bildung und Erziehung mehr als Kunsterziehung: Sie umfasst über den Bereich der Kunst hinaus zugleich die Erfahrungsdimension des Ästhetischen, verstanden als Mittleres zwischen Aisthesis und Kunst. 5. Eine ästhetische Bildung oder Erziehung im Sinne Hentigs ist demnach also eine solche, die sich zwar grundsätzlich auf die gesamte Erfahrungsdimension des Ästhetischen als Teil der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen bezieht, in deren Mittelpunkt allerdings zugleich die besondere Erfahrungsdimension der Kunst steht. Doch auch wenn die Erfahrungsdimensionen der Kunst und des Ästhetischen an keinen spezifischen Gegenstandsbereich gebunden sind: Es gibt – wie unter Punkt (3) bereits angedeutet – im Sinne Hentigs dennoch bestimmte Gegenstände, die sich besser als andere für den Vollzug ästhetischer wie künstlerischer Erfahrungen eignen und daher auch für die Theorie und Praxis ästhetischer Bildung und Erziehung von besonderem Interesse sind. Aus diesem Grund soll im Folgenden noch einmal abschließend versucht werden, eben jene nach Hentig besonders geeigneten Gegenstände ästhetischer Bildung und Erziehung genauer zu identifizieren. Damit ist zugleich die Hoffnung verbunden, auf diesem Wege Teile eines impliziten Ästhetikverständnisses Hentigs freizulegen, unter Berücksichtigung derer die skizzierte Unschärfe der verwendeten Begriffe zumindest in Ansätzen aufgelöst werden kann. Es soll als Abschluss des vorliegenden Kapitels gefragt werden: Welche konkreten Gegenstände hat Hentig bevorzugt im Blick, wenn er von „ästhetischer Erziehung“ spricht? Es bietet sich an, zur Bearbeitung dieser Frage zunächst bei Hentigs Sammelband Ergötzen, Belehren, Befreien von 1985 anzusetzen: Hier versammelt Hentig nicht nur eine Vielzahl seiner „Schriften zur ästhetischen Erziehung“ (so der Untertitel des Bandes) der Jahre 1965 bis 1982, der Band lässt sich darüber hinaus – wie weiter oben gezeigt werden konnte – als gezielter Versuch Hentigs werten, der bisherigen Rezeptionsgeschichte der eigenen Arbeiten zum Thema „ästhetische Erziehung“ eine kommentierte Auswahl an Texten entgegenzustellen, in der er die inhaltliche Kontinuität des eigenen Konzepts in möglichst verdichteter Form darlegen kann.1247 Einen ersten Hinweis auf den thematischen Schwerpunkt der auf diese Weise versammelten Texte gibt dabei bereits die Umschlaggestaltung des Bandes: Sowohl die Hardcover-Ausgabe von 1985 als auch die Taschenbuchausgabe von 1987 zeigen
1247 Siehe oben, S. 122 ff.
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ein klassisches Werk der bildenden Kunst – die erste Ausgabe Paul Klees Ranke von 1932, die zweite einen Ausschnitt aus Paul Klees Kakendämonisch von 1916.1248 Die in dieser Bildauswahl bereits durchscheinende Konzentration Hentigs auf kanonisierte Werke aus dem Bereich der (bildenden) Kunst setzt sich schließlich auch in den ausgewählten Texten des solchermaßen bebilderten Bandes fort: Auch hier geht es in erster Linie um bildende Kunst („Die Entzauberung der Ästhetik“, „Kunst als Ärgernis“, „Ästhetische Erziehung ohne Kunst?“), Literatur („Die Erkundung des Möglichen“), Musik („Bach und Schubert als Ernstfall“) und Theater („Die Bühne als pädagogische Anstalt“), wobei es sich bei den von Hentig gewählten Beispielen – wie weiter oben bereits ausführlich dargestellt 1249 – vornehmlich um s olche Werke handelt, die bereits Eingang in den Kanon der abendländischen Hochkultur gefunden haben und dementsprechend von Hentig als „Kunstwerke von Rang“ 1250 bezeichnet werden. So finden sich unter anderem lobende Bezugnahmen auf Goethes Werther, Schillers Räuber, Büchners Woyzek 1251, Bachs Matthäuspassion, Shakespeares Hamlet, Rembrandts Bildnis seines Sohnes Titus 1252, Schuberts „Bin tödlich schwer verletzt …“, Brahms’ Alt-Rhapsodie, Kleists Penthesilea sowie auf die „großen Selbstbildnisse Rembrandts, Dürers, Cézannes, van Goghs, Horst Janssens“ 1253. Gegenstände aus dem Bereich der Populären Kultur hingegen, wie etwa jugendliche „Beatmusik“ 1254, die „dramatisch-realistischen Illus trationen“ einer „‚Lederstrumpf‘-Ausgabe“ 1255 oder „Comics, Bonanza [und] D isco“ 1256, werden von Hentig dementgegen eher randständig behandelt – und wenn doch, dann eher im Sinne einer „abhängig machende[n]“ Form von Kultur, welcher der Pädagoge eine „frei machende“ Begegnung mit großer Kunst entgegenzusetzen habe 1257. Neben dem Bereich der Kunst widmet sich Hentig unter der Perspektive ästhetischer Erziehung allerdings immer wieder auch Gegenständen, die eher der Alltagskultur zugeordnet werden können, wie etwa der Einrichtung eines Wohnzimmers mit „weiße[r] Sitzschale von Knoll“ und einem „Lehnstuhl im Jugendstil mit olivgrünem Plüschbezug“ 1258,
1248 Vgl. Hentig 1985e und Hentig 1987b. (In der Hardcover-Ausgabe jedoch wurde offensichtlich versäumt, die korrekte Bezeichnung der verwendeten Abbildung noch vor Drucklegung einzutragen. An der entsprechenden Stelle heißt es lediglich: „Umschlagabbildung: XXX“ (Hentig 1985e, S. 4).) 1249 Siehe oben, S. 181 ff. 1250 Hentig 1985e, S. 123 1251 Vgl. ebenda, S. 56. 1252 Vgl. ebenda, S. 101. 1253 Ebenda, S. 123 1254 Ebenda, S. 191 1255 Ebenda, S. 86 1256 Ebenda, S. 112 1257 Vgl. ebenda, S. 205 sowie die genauere Auseinandersetzung mit der hier in Ausschnitten zitierten Textpassage in dieser Arbeit weiter unten, S. 270 ff. 1258 Hentig 1985e, S. 57
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den „ästhetischen Reizungen, mit denen die Reklame arbeitet“ 1259, dem menschlichen Bedürfnis nach einem „sinnvoll geformte[n] Besteck“ 1260, der „Rot-Gelb-Grün-Lichtfolge an unseren Verkehrsampeln“ 1261, der allgemeinen „Gestaltung unserer Gegenstände (vom Auto bis zum Vorgarten)“ 1262 und immer wieder der „Werbung“, dem „Fernsehen“ und der „Bilderflut“ 1263. Und auch die Natur taucht in Hentigs Schriften wiederholt als Bezugsgröße ästhetischer Erziehung auf: sei es als „schöner Wald“ mit „Herbstlaub“, „Waldpfad“ und „feuchte[r] üppiger Wildnis“ 1264, als „symmetrische Anordnung natürlicher Unordnung“ 1265 in einem Garten oder als „schöner Mensch, dessen Anblick täglich Anschläge auf meine Seele verübt“ 1266. Eine besondere Rolle weist Hentig darüber hinaus der Architektur zu: Einerseits dient ihm diese in Form des griechischen Parthenon-Tempels als Beispiel für die „Geschichtlichkeit des Kunstgenusses und Kunstverständnisses“ 1267 („Ein Haus für die Götter / Der Parthenontempel im Unterricht“ 1268), andererseits ist sie für ihn zugleich zentraler Bestandteil der alltäglichen ästhetischen Gestaltung der Lebenswelt „heutige[r] Menschen“ – etwa durch die bewusste „Gestaltung eines Treppenhauses“ 1269, durch den Entwurf eines „gut proportionierte[n] Haus[es]“ 1270 oder die Flüchtigkeit „scharfe[r], kecke[r] ästhetische[r] Reiz[e]“ 1271 im Wohnungsbau (siehe hierzu insbesondere den Aufsatz „Ein Haus für heutige Menschen / Wünsche an einen Architekten“ 1272). Eine ähnlich gelagerte Trennung zwischen dem – insbesondere durch kanonisierte Werke repräsentierten – Lebensbereich der Kunst auf der einen und der „ästhetischen Gestaltung des Alltags“ durch Design, Reklame und Architektur auf der anderen Seite findet sich schließlich auch in zahlreichen weiteren von Hentig veröffentlichten Texten: sei es in seinen Überlegungen zur Prüfungsordnung des Oberstufen-Kollegs Bielefeld 1273 oder in seinen diversen autobiographischen Schriften, wie etwa der 1971 erstmals veröffentlichen „Rede auf den Vater“ oder der 2007 publizierten zweibändigen Autobiographie Mein Leben – bedacht und bejaht. Insbesondere die beiden zuletzt genannten Veröffentlichungen sind es dabei, die durch ihre von Hentig hier vorgenommene rückblickende Beschreibung der eigenen 1259 Ebenda, S. 63 1260 Ebenda, S. 95 1261 Ebenda, S. 14 1262 Ebenda, S. 108 1263 Ebenda 1264 Ebenda, S. 58 1265 Ebenda, S. 95 1266 Ebenda, S. 58 1267 Ebenda, S. 25 1268 Ebenda, S. 257 ff. 1269 Ebenda, S. 64 1270 Ebenda, S. 95 1271 Ebenda, S. 322 1272 Ebenda, S. 317 ff. 1273 Hentig 1980b, S. 114
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(als Kind und Jugendlicher selbst erfahrenen) „ästhetischen Erziehung“ einen verhältnismäßig präzisen Blick auf die von Hentig implizierten grundsätzlichen Grenzen der ästhetischen Erziehung erlauben. So notiert dieser in seiner 1961 gehaltenen, allerdings erst zehn Jahre später unter dem Titel „Undiplomatisches und Pädagogisches. Eine Rede auf den Vater“ 1274 veröffentlichten Rede anlässlich des 75. Geburtstages seines Vaters Werner Otto von Hentig: „Wohltuend ‚unmusisch‘ war unsere ästhetische Erziehung. Wir gingen an Sonntagen mit Vater in die Berliner Galerien, wir haben uns immer wieder freudig vor dieselben Bilder führen lassen und gelernt, daß Kunst allemal eine hohe Anforderung an den Betrachter stellt: sie ‚schenkt‘ uns nichts ohne eigene Bemühung. Dabei hat Vater nicht darüber theoretisiert, wie ich das mit meinen Schülern tue, er hat sich meist damit begnügt, die Wirkungen, die das Kunstwerk auf ihn machte, eindrücklich zu beschreiben. Resonanz des Kunstwerks zu sein und es dadurch zu interpretieren, eben das gelang ihm auch beim Vorlesen – lebendig, einfühlend, ganze Dramen in eigner Person. Wie man ein Haus einrichtet, ein Fest ausstattet, eine gefällige Rede hält, das konnte man von ihm lernen, und man konnte auch lernen, daß die schönste Wohnung durch Aktenstöße entstellt wird und die Rede durch die allzu große Fülle der Erfahrungen und Kenntnisse leidet.“ 1275
Auch hier also umfasst der Vorgang der „ästhetischen Erziehung“ für Hentig beides: sowohl die Welt der Kunst – repräsentiert durch Galerien und Bücher – als auch die bewusste Gestaltung des alltäglichen Lebens, etwa im Einrichten eines Hauses, im Ausstatten eines Festes oder im Halten einer Rede. Was dabei nun aber die „Freude am bloß Schönen“ 1276 von den lehrreichen gemeinsamen Lektürestunden in der väterlichen Privatbibliothek zu unterscheiden vermag, dies wird deutlich, wenn Hentig an gleicher Stelle notiert, bei aller Bemühung des Vaters, seine Kinder in die Welt der großen Literatur einzuführen, sei doch zugleich etwas „zu kurz“ gekommen, was ihm selbst, dem Vater, „ungeheuer wichtig“ gewesen sei: „Zwar haben Kostbarkeiten aus aller Welt und von aller Art – Dinge, die der Ästhetik des Daseins und keiner ‚Sache‘ dienen – in seinem [des Vaters] Leben und in seiner Einwirkung auf uns eine große Rolle gespielt. Aber er ist z. B. selbst ‚unmusisch‘ geblieben […], er hat seine Anlagen dafür verschütten lassen durch zweckhafte Arbeit und hat auch uns Kindern das zwecklose, sich selbst gehörende, schwerelose Dasein nicht nahegelegt. Eleganz hat er sich an uns immer gewünscht, und nur der Sohn, der am längsten und weitesten von ihm getrennt war, hat sie annähernd verwirklicht. Als Sokrates im Gefängnis saß, kam ihm im Traum eine Aufforderung zu: ‚Sokrates, treibe Musik!‘ Wir wissen so wenig wie Sokrates,
1274 Hentig 1971 f. Siehe hierzu auch oben, Fußnote 408. 1275 Hentig 1971 f, S. 187 1276 Ebenda, S. 186
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was damit gemeint ist, aber wir spüren zugleich doch, was dem Leben des Sokrates gefehlt hat: das Überflüssige, in dem der Sinn sich von allein und wider alles Erwarten schenkt.“ 1277
Hier tritt die „Freude am bloß Schönen“, derer sich eine ästhetische Erziehung im Sinne Hentigs unter anderem zu widmen hätte, als Teil einer „Ästhetik des Daseins“ hervor: als das „zwecklose, sich selbst gehörende, schwerelose Dasein“, verwirklicht durch Eleganz, Musik und das „Überflüssige, in dem der Sinn sich von allein und wider alles Erwarten schenkt“. Ganz ähnlich äußert Hentig sich knapp fünfzig Jahre später, wenn er 2007 in seiner Autobiographie Mein Leben – bedacht und bejaht mit Blick auf das eigene „Knabenalter“ notiert: „Hier, wie bei allen anderen öffentlichen Ereignissen, setzte Vater seine Kinder in geeigneter Funktion ein. Eine erfüllte ich besonders gern: das Dekorieren der Tafel bei kleinen und großen Diners, die die Eltern gaben. Meist hatte der benachbarte Gärtner nur Orchideen oder Nelken oder Babyrosen – und die gab es auf allen Partys aller Diplomaten. Ich kombinierte bescheidenere Blumen mit Eukalyptus oder Immergrün oder Mimosenzweigen, und einmal standen mehrere flache Schalen, nur mit schwimmenden Löwenzahnblüten gefüllt, auf dem Tisch. Der Vater lobte mich und erzählte den Gästen, dies sei das Werk seines zehnjährigen Sohnes, was Applaus auslöste und die merkwürdige Banalität in ein originelles Kunstwerk verwandelte. Dass er selber Wert auf Schönheit legte und dass diese nicht auffallen, aber auch nicht gemeinplätzig sein dürfte, war eine wirksame Form der ästhetischen Erziehung. Nie hatte er seine Feste und Gastlichkeit durch andere ausrichten lassen, nie wurden Effekte gekauft, nie auf sie verzichtet. Wie bei einem guten Koch war meist ein kleines Geheimnis im Spiel. So eilte er, kurz bevor die ersten Gäste eintrafen, mit der erhitzten Kamin-Kohlenschaufel durchs Haus und ließ Kölnisch Wasser darauf verzischen. Er nannte das ‚Schlossgeruch verbreiten‘.“ 1278
Auch hier also beinhaltet die von Hartmut von Hentig wahrgenommene „ästhetische Erziehung“ des Vaters einen Vorgang, den der Sohn rückblickend als das „Wert[legen] auf Schönheit“ bezeichnet wissen möchte: das bewusste „Dekorieren einer Tafel“ zu festlichen Anlässen, den schmückenden Umgang mit Blumen, das Verbreiten von „Schlossgeruch“. Alles in allem also jene Form von Aktivitäten, die sich im Sinne Hentigs zwar durchaus als „ästhetische“ bezeichnen lassen, die aber zugleich nicht mehr dem Erfahrungsbereich der Kunst, verstanden als zeichenhafte „Erkundung des Möglichen“, zugeordnet werden können – auch wenn im Einzelfall die „merkwürdige Banalität“ eines geschmückten Tisches (durch die entsprechende Reaktion der Betrachter) durchaus in ein „originelles Kunstwerk“ verwandelt zu werden vermag. 1277 Ebenda, S. 186 f. 1278 Hentig 2009c, S. 71
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Setzt man diese von Hentig hier vorgenommenen reflexiven Beschreibungen der eigenen „ästhetischen Erziehung“ deshalb nun in Bezug zu seinen zuvor skizzierten weiteren Bemühungen, einzelne besonders prädestinierte Gegenstände ästhetischer Erziehung in seinen Schriften zum Thema gesondert hervorzuheben, so wird deutlich, dass Hentig, obwohl ihm in all den Jahren eine theoretische Fixierung des eigenen Ästhetikbegriffs nicht zu gelingen vermag, dennoch über ein verhältnismäßig konstantes implizites Verständnis der Kunst und des Ästhetischen zu verfügen scheint – ein Verständnis, im Rahmen dessen der Bereich des „nur“ Ästhetischen (nicht jedoch als Kunst zu Bezeichnenden) in der Regel durch Gegenstände aus dem Bereich des Alltagsdesigns, der Mode, der Reklame, des Fernsehens sowie der Architektur exemplifiziert wird. Vor d iesem Hintergrund ließen sich die zuvor skizzierten Konstanten des hentigschen Nachdenkens über die definitorischen Grenzen der ästhetischen Bildung und Erziehung denn nun auch noch einmal wie folgt zusammenfassen und präzisieren: Eine ästhetische Bildung oder Erziehung im Sinne Hentigs ist demnach eine solche, die sich grundsätzlich auf die gesamte Erfahrungsdimension des Ästhetischen als Teil der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen bezieht, in deren Mittelpunkt allerdings zugleich die besondere Erfahrungsdimension der Kunst steht. Zwar sind die beiden Erfahrungsdimensionen der Kunst und des Ästhetischen dabei an keinen spezifischen Gegenstandsbereich gebunden, es gibt im Sinne Hentigs aber dennoch bestimmte Gegenstände, die sich besser als andere für den Vollzug ästhetischer wie künstlerischer Erfahrungen eignen, weshalb diese für Theorie und Praxis ästhetischer Bildung und Erziehung von besonderem Interesse sind. Diese besonders geeigneten Gegenstände ästhetischer wie künstlerischer Erfahrung umfassen dabei auf Seiten der Erfahrungsdimension „Kunst“ in erster Linie s olche Werke aus den Bereichen bildende Kunst, Literatur, Theater und Musik, die bereits Eingang in den Kanon der abendländischen Hochkultur gefunden haben und dementsprechend von Hentig als „Kunstwerke von Rang“ bezeichnet werden, während auf Seiten der Erfahrungsdimension des „nur“ Ästhetischen vornehmlich s olche Gegenstände im Mittelpunkt der hentigschen Auseinandersetzung stehen, die sich den Bereichen des Alltagsdesigns, der Mode, der Reklame, des Fernsehens sowie der Architektur zuordnen lassen.
6 Ästhetik und Bildung
Während die im vorangegangenen Kapitel behandelte Frage nach den Grenzen des Ästhetischen zunächst einmal eine genuin philosophische ist und dementsprechend im erziehungswissenschaftlichen Diskurs zum Thema „ästhetische Bildung und Erziehung“ zuweilen eher randständig behandelt wird, steht die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Ästhetik und Bildung – und damit nach den pädagogischen Dimensionen des Ästhetischen – seit jeher im Mittelpunkt eben d ieses Diskurses. So konstatiert Klaus Mollenhauer bereits 1996 in seiner Studie Grundfragen ästhetischer Bildung mit Blick auf aktuelle erziehungswissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema, es trete – trotz aller „begrifflichen Ungenauigkeit“ 1279 einzelner Autoren – doch eines immer wieder deutlich hervor: „nämlich die Frage, woraufhin ästhetische Erfahrung zuläuft; man kann auch sagen: worin ihre Eigentümlichkeit liegt, mithin auch die Eigentümlichkeit, das Besondere ästhetischer Bildung, und zwar im Unterschied zu anderen Bildungsvorgängen, zu anderen Komponenten dessen, was man zusammenfassend ‚Bildung‘ nennt.“ 1280 In bildungstheoretischer Perspektive gelte es daher, so Mollenhauer weiter, zu fragen, „worin denn die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen“ überhaupt bestehe – und dies zunächst unabhängig von „didaktischen Vorstellungen oder Unterrichtsarrangements“ 1281. Ganz in d iesem Sinne hatte er denn auch bereits einige Jahre zuvor resümiert, die „Problemstellung“, die aus der Hypothese entstehe, dass es eine „ästhetische Weise der Weltauffassung gebe“, betreffe (wie auch immer sie beantwortet werden möge) die „Theorie der Bildung des Menschen überhaupt“ und habe daher „in einer Fachdidaktik höchstens eine ihrer Konkretisierungen“1282: „sie ist eine Frage nach der ästhetischen Dimension von Lebensformen, mithin einer Frage nach den ästhetischen Komponenten von Bildungsprozessen.“ 1283 Berücksichtigt man die von Mollenhauer hier angedeutete, weit über die unmittelbare pädagogische Praxis hinausreichende Tragweite der genannten Fragen, so kann es kaum verwundern, dass auch zahlreiche Nicht-Pädagogen sich immer wieder intensiv mit den darin enthaltenen Herausforderungen und Versprechungen auseinandergesetzt haben – und dabei zugleich einige der wirkmächtigsten Überlegungen zum Thema entfalten konnten. Dies zeigen denn auch Dietrich et al., wenn sie eben jenes grundsätzliche Verhältnis von „Ästhetik und Bildung“ als eines der von ihnen formulierten
1279 Mollenhauer 1996, S. 26 1280 Ebenda, S. 26 f. 1281 Ebenda, S. 27 1282 Mollenhauer 1994, S. 222 1283 Ebenda
Ästhetik und Bildung
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„Grundprobleme ästhetischer Bildung“ identifizieren 1284 und dabei insbesondere die diesbezüglichen Überlegungen Friedrich Schillers zum Ausgangspunkt ihrer Analyse wählen: So habe Schiller, wie Dietrich et al. es formulieren, aus seiner Zeit heraus dem Ästhetischen insofern einen „besonderen Bildungssinn“ 1285 zugewiesen, als er davon ausgegangen sei, es könne dem Menschen durch ästhetische Erziehung die Möglichkeit gegeben werden, „die entfremdende Prägung durch die gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden und in einem zweiten Schritt auch diese Verhältnisse selbst zu verbessern“ 1286. Doch selbst wenn heute „kaum ein Ansatz zur ästhetischen Erziehung und Bildung ohne den Rekurs auf Schiller“ auskomme, ginge es in neueren Arbeiten doch „weniger um einen politischen, als eher um einen subjekt- und bildungstheoretischen Rahmen, innerhalb dessen der ästhetischen Bildung Bedeutung zugewiesen“ werde.1287 So stelle etwa Mollenhauer eher die „selbstbildende Tätigkeit durch ästhetische Erfahrung“ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zum Thema, und bereits für Dewey habe der „Bildungssinn ästhetischer Erfahrung in dieser Erfahrung selbst“ gelegen. Er habe deshalb auch nicht für eine „unmittelbare ‚Pädagogisierung‘ der ästhetischen Erfahrung“ plädiert, sondern sei davon ausgegangen, dass das „Subjekt der maßgebliche Ort und der maßgebliche Akteur seiner Erfahrung“ sei.1288 Das Nachdenken über die gegenseitige Bedingtheit von Ästhetik und Bildung erweist sich insofern einerseits als tief verwurzelt in der internationalen Geistesgeschichte 1289, andererseits aber ist es doch zugleich geprägt von deutlichen – nicht 1284 1285 1286 1287 1288 1289
Vgl. Dietrich et al. 2012, S. 71 ff. Ebenda, S. 72 Ebenda unter Bezugnahme auf Schiller 1965. Dietrich et al. 2012, S. 72 Ebenda, S. 73 unter Bezugnahme auf Mollenhauer 1993 und Dewey 2000. Zwar kommt der Begriff der „ästhetischen Erziehung“ – respektive derjenige der „ästhetischen Bildung“ – im deutschsprachigen Raum erst seit Schillers begriffsstiftenden „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ systematisch zur Anwendung, die inhaltliche Auseinandersetzung mit der skizzierten Frage nach dem Verhältnis von Ästhetik und Bildung kann jedoch bereits auf eine deutlich längere Tradition zurückblicken. So konstatieren Johannes Bilstein und Jörg Zirfas 2009 in der Einleitung der von ihnen mitherausgegebenen Geschichte der Ästhetischen Bildung: „Über weite historische Zeiträume bis in die Moderne hinweg ist […] die Geschichte der Ästhetischen Bildung eine Geschichte avant la lettre, d. h. eine implizite Geschichte der (pädagogischen) Auseinandersetzung z. B. mit dem Schönen und der Kunst, die oftmals nur durch eine Art Detektivarbeit hermeneutisch erschlossen werden kann. Historisch betrachtet explizieren die für eine Geschichte der Ästhetischen Bildung bedeutsamen Autoren oftmals entweder ästhetische oder aber bildungstheoretische wie -praktische Belange, so dass einer historischen Rekonstruktion die Arbeit obliegt, die jeweils kaum fokussierte andere Seite zu ihrem Recht kommen zu lassen. Dabei ist es für ein historisch adäquates Verständnis von Konzepten Ästhetischer Bildung wichtig, hinter die seit Baumgarten bzw. seit Winckelmann selbstverständlichen Konnotationen zurückzugehen, mit denen der Begriff des Ästhetischen bis heute behaftet ist: Nahezu ausnahmslos bezieht
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zuletzt begrifflichen – Konjunkturen und Diskontinuitäten. Dies hebt auch Yvonne Ehrenspeck hervor, wenn sie 1998 in ihrer Studie Versprechungen des Ästhetischen – Die Entstehung eines modernen Bildungsprojekts 1290 konstatiert, es gebe „trotz des Konstruktcharakters des ‚Ästhetischen‘ bzw. der Diskontinuität der unterschiedlichen Erwartungen, die an das so oder so konstruierte ‚Ästhetische‘ herangetragen“ 1291 würden, von pädagogischer Seite doch eine deutliche „Kontinuität im Glauben an das Ästhetische“ 1292. So differierten die entsprechenden Positionen zum Verhältnis von Ästhetik und Bildung zwar seit Beginn des 19. Jahrhunderts erheblich „in ihren Auffassungen darüber, was Ästhetik ist bzw. w elche Probleme sich mit Ästhetik bewältigen lassen oder für was Ästhetik förderlich sein könnte“, sie s eien sich aber dennoch „einig in ihrem Glauben an die positive Wirkung des Ästhetischen oder einer wie auch immer gearteten ‚ästhetischen Bildung‘“.1293 Bezug nehmend auf die vielfältigen, mit eben d iesem „Glauben an die positive Wirkung des Ästhetischen“ verbundenen „Versprechungen des Ästhetischen“ konstatiert Ehrenspeck denn auch bereits zu Beginn ihrer Arbeit: „Ästhetik wird [heute], beginnend bei speziellen Kunst- und Musiktherapien über Programme ästhetischer Bildung bis hin zur Ästhetisierung des Alltags als Mittel gegen gesellschaftliche und individuelle Probleme angeboten. Ob es sich um die Abstraktion der Verhältnisse, Jugendgewalt, Neurosen, die ‚ökologische Krise‘ oder um Probleme bei der Integration von anderen Kulturen handelt, immer wieder stößt man auf die Empfehlung, es doch einmal mit ‚Ästhetik‘ oder ‚ästhetischer Bildung‘ zu versuchen, schließlich fördere diese ja den Gemeinschaftssinn, die Individualität, die Ganzheit oder die Liebe zur Natur.“ 1294
Die hier von Ehrenspeck exemplarisch aufgezeigte Vielfalt an kursierenden „Versprechungen des Ästhetischen“, die sich – wie die Autorin hervorhebt – „über das Differenzmodell von defizienter Gegenwart und erfüllter Zukunft in ständig wechselnden Gestalten […] perpetuieren“ 1295, erweist sich dabei als besondere Herausforderung für die erziehungswissenschaftliche Reflexion zum Thema „Ästhetik und Bildung“: So wird einerseits „das Ästhetische“ von pädagogischer Seite aus immer wieder mit mannigfaltigen, zum Teil überaus widersprüchlichen Versprechungen und Hoffnungen aufgeladen, andererseits aber ist, wie Jörg Zirfas gezeigt hat, „weder sich die Rede über ‚Das Ästhetische‘ auf Theorien der Kunst und Theorien des Schönen – beides war nicht immer – und ist auch heute nicht – selbstverständlich.“ (Bilstein & Zirfas 2009, S. 8 f., Hervorhebung im Original) 1290 Ehrenspeck 1998 1291 Ebenda, S. 23 f. (Hervorhebung im Original) 1292 Ebenda, S. 23 (Hervorhebung im Original) 1293 Ebenda 1294 Ebenda, S. 19 1295 Ebenda, S. 291 (Im Original kursiv.)
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geisteswissenschaftlich-normativ noch sozialwissenschaftlich-empirisch geklärt, welche Ziele inwieweit durch ästhetische Bildung verfolgt werden sollen, bzw. w elche auch verwirklichbar sind“ 1296. Sollen sich ästhetische Bildung und Erziehung insofern nicht ad infinitum in „immer neuen Versprechungen und ‚Leitmotiven‘ reproduzieren“ 1297, so muss der besondere Bildungssinn des Ästhetischen sowohl systematisch begründet als auch empirisch überprüft werden – und nicht „im wesentlichen [sic!] nur noch proklamiert“ 1298. Die von Mollenhauer formulierte Frage, worin genau denn „die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen“ 1299 bestehe, bildet in diesem Sinne das entscheidende Verbindungsstück zwischen ästhetischer Theorie, erziehungswissenschaftlicher Empirie und pädagogischer Praxis – oder, wie Dietrich et al. es formulieren: „Grundsätzlich ging und geht es im Nachdenken über ästhetische Bildung immer darum, die Besonderheit der ästhetischen Erfahrung oder der ästhetischen Weltzuwendung zu beschreiben, auf ihrem Eigenwert und Eigensinn zu beharren, ihre kategoriale Bedeutung für Bildungsprozesse zuverlässig zu beschreiben und dann auch bildungspolitisch […] einzufordern.“ 1300
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll nachfolgend untersucht werden, wie Hartmut von Hentig eben jenes Verhältnis von Ästhetik und Bildung in seinen Arbeiten zu fassen versucht: Welchen spezifischen Bildungssinn spricht er dem Ästhetischen zu? Worin besteht für ihn „die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen“ 1301? Welche Rolle kommt dabei der Kunst zu? Welche der Macht der Schönheit? Welche der Aisthesis? Diese Fragen sollen im Folgenden nun anhand von vier Unterkapiteln bearbeitet werden, die sich jeweils einer zentralen Kategorie des hentigschen Nachdenkens über das Verhältnis von Ästhetik und Bildung widmen: „Kunst als ‚Ernstfall‘: Das Prinzip ‚vikarische Erfahrung‘“ (Kapitel 6.1), „Kunst als ‚Spielraum: Das Prinzip ‚Befreiung‘“ (Kapitel 6.2), „Ästhetische Erfahrung als Glückserfahrung“ (Kapitel 6.3) und „Ästhetische Mündigkeit“ (Kapitel 6.4). Die genannte Kategorisierung orientiert sich dabei einerseits an H entigs Bemühung, die drei seines Erachtens wichtigsten Funktionen von Kunst unter der Formulierung „Ergötzen, Belehren, Befreien“ zusammenzufassen 1302 (wobei die Ebene des „ Ergötzens“ 1296 Vgl. Zirfas 2009, S. 77. 1297 Ehrenspeck 1998, S. 291 1298 Ebenda 1299 Mollenhauer 1996, S. 27 1300 Dietrich et al. 2012, S. 118 1301 Mollenhauer 1996, S. 27 1302 Diese, auf Horaz’ delectare et prodesse Bezug nehmende Formulierung wählt Hentig nicht nur als Titel seines 1985 veröffentlichten Bandes Ergötzen, Belehren Befreien mit seinen gesammelten
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im Folgenden unter der Kategorie „ästhetische Erfahrung als Glückserfahrung“ behandelt wird, die Ebene des „Belehrens“ unter dem Stichwort der „vikarischen Erfahrung“ und die Ebene des „Befreiens“ unter der Kategorie „Kunst als Befreiung“), andererseits fügt die genannte Ordnung dieser „Dreiteilung“ 1303 noch eine vierte Kategorie hinzu: diejenige der „Ästhetischen Mündigkeit“. Abgeschlossen wird das Kapitel schließlich durch eine zusammenfassende Darstellung der hentigschen Verknüpfung von Ästhetik und Bildung.
6.1 Kunst als „Ernstfall“: Das Prinzip „vikarische Erfahrung“ Von den zahlreichen „Merkformeln“ 1304, die Hentig im Laufe seiner Publikationstätigkeit geprägt hat und die, wie Eckart Liebau es formuliert, „schon längst zum alltäglichen Verständigungsbestand der Pädagogik“ gehören 1305, sind etliche um den Begriff der Erfahrung herum konstruiert – oder doch zumindest auf diesen bezogen: Da ist die Rede von der „Schule als Lebens- und Erfahrungsraum“ 1306 und einem „Lernen an und aus der Erfahrung“ 1307, da wird gefordert, „[s]oviel Belehrung wie möglich und sinnvoll durch Erfahrung zu ersetzen“ 1308 und für eine Erziehungswissenschaft plädiert, die sich unter dem Stichwort „Erkennen durch Handeln“ einer „Rehabilitation der Erfahrung im Lernen“ 1309 widmet. Doch auch wenn der Begriff der Erfahrung in diesem Sinne offensichtlich zentral für die hentigsche Pädagogik ist, so ist er doch zugleich – wie so oft im hentigschen Œuvre der Fall – begrifflich nur unzureichend konturiert. Dies hebt schließlich auch Hentig selbst hervor, wenn er 2007 mit Blick auf seine Zeit am Berliner Wissenschaftskolleg (1981 bis 1982) konstatiert, er habe damals, bei der Vorbereitung eines Kolloquiums zum Thema „Wissenschaftskritik“, Mühe gehabt, seine eigene „Verwendung des Wortes Erfahrung vor Verschwommenheit und dem ‚Ungefähr‘ zu retten“ 1310. Trotz dieses Eingeständnisses finden sich jedoch einige frühe, vergleichsweise systematische Bemühungen Hentigs, den eigenen
1303 1304 1305 1306 1307 1308 1309 1310
„Schriften zur ästhetischen Erziehung“ (Hentig 1985e), die genannte „Dreiteilung“ (ebenda, S. 30) findet sich darüber hinaus immer wieder auch in diversen anderweitigen Veröffent lichungen Hentigs zum Thema „ästhetische Bildung und Erziehung“ (vgl. bspw. Hentig 1972b, S. 5; Hentig 2000c, S. 501; Hentig 2003c, S. 71; Hentig 2007c oder Hentig 2011b, S. 92). Hentig 1985e, S. 30 Liebau 1999, S. 45 Ebenda (Siehe hierzu auch oben, S. 32 f.) Vgl. bspw. Hentig 2003a, S. 214. Vgl. Groeben et al. 2011, S. 261 unter Bezugnahme auf die von Hentig geprägten „pädagogischen Leitlinien“ der Laborschule Bielefeld. Hentig 1985a, S. 10 Hentig 1977a Hentig 2009c, S. 976
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Erfahrungsbegriff inhaltlich zu präzisieren. Sie sollen im Folgenden zumindest kurz skizziert werden, um vor ihrem Hintergrund sodann die hentigschen Überlegungen zur Kunst als Ausgangspunkt vikarischer Erfahrung fundierter darstellen und analy sieren zu können. Bereits 1962 hatte Hentig in seinem Band Wie hoch ist die höhere Schule? resümiert, Erfahrung sei „der für die Schule konstituierende Begriff “ 1311 und Unterricht „ein systematisiertes, auswählendes, theoretisches, antizipierendes Verfahren, durch das die Erfahrung anderer als Wissen zur Erfahrung dieser gemacht“ 1312 werde. Erstmals ausführlich widmet er sich eben dieser Kategorie der Erfahrung, die für ihn in den folgenden Jahrzehnten so zentral werden sollte, allerdings erst einige Jahre später, in seiner 1966 erschienenen, ursprünglich als Habilitationsschrift vorgesehenen und in den Jahren 1960 bis 1964 verfassten 1313 Studie Platonisches Lehren 1314. Ausgehend von Aristoteles’ Begriff der „ἐμπειρία“ (Empeiria) – den er „unter […] Einschränkungen“ mit demjenigen der „Erfahrung“ übersetzt wissen möchte 1315 – entwickelt Hentig hier eine Bestimmung des „Humanismus als Methode“ 1316, dessen Besonderheit er in seiner „Beschränkung auf die menschliche Erfahrung“ liegend verstanden wissen möchte und damit einhergehend in dem „Bekenntnis“, dass „der Mensch in seinem Kern und über die Zeiten und Räume hinweg doch der gleiche“ sei 1317: und zwar „nicht in irgendwelchen Eigenschaften, deren Bedeutung wechseln mag, sondern in den Eigenschaften, die ihm erlauben, Erfahrungen zu machen, zu übernehmen, weiterzugeben“ 1318. Im Anschluss an diese Überlegungen setzt Hentig sich sodann ausführlich mit dem amerikanischen Pragmatismus des frühen 20. Jahrhunderts auseinander (darunter insbesondere mit den Schriften John Deweys 1319), um schließlich an späterer Stelle seiner Studie zu einer ersten Arbeitsdefinition von Erfahrung zu gelangen, die – wenngleich sie sich lediglich in einer Fußnote findet – für die nächsten Jahre seine präziseste Äußerung zum Thema bleiben soll. So notiert er: „Unter ‚Erfahrung‘ sei hier verstanden: alles, was das Leben des Kindes berührt, ohne daß es zu ‚Wissen‘ verarbeitet worden ist. Wissen ist schon geordnete Erfahrung, jedenfalls soweit es in eigner Reflexion gewonnen ist. Wird es von außen übermittelt, bleibt es zunächst ‚Erfahrung‘: das Wissen der Eltern, daß zuviel Süßigkeiten Bauchschmerzen
1311 1312 1313 1314 1315 1316
Hentig 1962, S. 8 Ebenda, S. 9 (Hervorhebung im Original) Siehe hierzu genauer oben, Fußnote 934. Hentig 1966e Ebenda, S. 49 So der Titel des ersten, knapp 200 Seiten umfassenden Kapitels von Platonisches Lehren. Siehe hierzu auch Hentig 2009c, S. 536 ff. 1317 Hentig 1966e, S. 57 1318 Ebenda 1319 Siehe insbesondere ebenda, S. 85 ff.
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erzeugen, wird als ihr Wille erfahren, den Rest der Schokolade nicht zu essen; zum eigenen ‚Wissen‘ wird es, wenn die elterliche Verallgemeinerung mit meiner eigenen Erfahrung der Schmerzen richtig verknüpft wird. Auf späteren Stufen genügt dann die reflektierende Verknüpfung des neuen Wissens mit dem schon reflektierten alten Wissen: Wo der Orinoco mündet, muß ich nicht mehr erfahren, nachdem ich weiß, was Kilometer, Süden, Amerika, Atlantik, Venezuela usw. sind, die ich auf ähnliche Weise zu ‚wissen‘ gelernt habe.“ 1320
Die hier formulierte Definition ergänzt Hentig in den folgenden Jahren zunächst durch eine wiederholte Bestimmung des Lernens als „Veränderung des Verhaltens des Menschen durch Erfahrung“ 1321, um sich sodann 1973 in seinem Band Schule als Lebens- und Erfahrungsraum? 1322 schließlich erneut an eine inhaltliche Präzisierung des von ihm verwendeten Erfahrungsbegriffs zu wagen. Zwar merkt er auch in d iesem Zusammenhang zunächst an, er könne die Bestimmung seines „Gebrauch[s] des Wortes ‚Erfahrung‘ […] hier nicht mit der philosophischen Umständlichkeit“ vornehmen, die „die Definition eines so schwierigen Begriffs“ erfordere 1323, unter der Überschrift „Was heißt ‚Erfahrung‘ in diesem Zusammenhang?“ 1324 entwickelt er im Folgenden allerdings dennoch einige Überlegungen, die bis heute seine ausführlichsten zum Thema geblieben sind. Zunächst ordnet er den Begriff der Erfahrung ein in eine Reihe von weiteren Begriffen, die „ihren Sinn innerhalb ungenauer Konturen, bei häufiger Überlappung mit anderen Wörtern und scheinbar ohne einheitliche Struktur behaupten“ 1325, und er ergänzt: „Erfahrung erscheint irgendwo in der Mitte zwischen (sinnlicher) Wahrnehmung und (theoretischer) Vorstellung. Sie hat an beidem Anteil. Von der Wahrnehmung unterscheidet sie sich durch Bewußtsein und Individualität: darin liegt ihr subjektives Moment. Von der Vorstellung unterscheidet sie sich durch die Nachweisbarkeit in der gemeinsamen physischen Welt: darin liegt ihr objektives Moment. Erfahrung liegt aber auch auf einem anderen Kontinuum: irgendwo zwischen einmaligem Erlebnis und vielfach – bis zur Gewißheit – bestätigter Wahrnehmung, die dann Einsicht oder Wissen heißt. Wissen ist verallgemeinerte Erfahrung, die Form, in der ich mir Erfahrung anderer aneignen kann, ohne sie notwendig selber machen zu müssen.“ 1326
1320 1321 1322 1323
Ebenda, S. 232 Hentig 1969d, S. 75 (Ganz ähnlich auch in Hentig 1969c, S. 12.) Hentig 1973 Ebenda, S. 21. In eine ähnliche Richtung zielend hatte er bereits im Vorwort konstatiert, die von ihm entwickelte „Erfahrungstheorie“ zwinge „zum Mit- und Weiterdenken, weil sie nicht fertig, gesichert, widerspruchslos“ sei (ebenda, S. 13), und auch im weiteren Verlauf seines Aufsatzes notiert er, bei der von ihm vorgenommenen Bestimmung handele es sich um „keine hinreichend genaue“ (ebenda, S. 23). 1324 Ebenda, S. 21 1325 Ebenda 1326 Ebenda
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Ausgehend von dieser ersten Verortung gelangt er sodann, über die Auseinandersetzung mit der doppelten umgangssprachlichen Verwendung des Erfahrungs begriffs als „Berührt-Werden von einem Ereignis“ einerseits und „Dadurch-wissen- Werden“ andererseits 1327, zum Schluss, das Bindeglied zwischen beiden Formen des „Erfahrungs-Lernens“ liege gerade darin, dass sie „ohne Belehrung durch andere vor sich“ gingen, man sie also „[a]ls ‚Erfahrung‘ […] selber machen“ müsse, w eshalb „das Gemeinsame, das die Sprache mit beiden im Sinn“ habe, im „Gegensatz zur ‚Belehrung‘“ liege 1328. Zwar relativiert Hentig die auf diesem Wege vorgenommene Bestimmung der Erfahrung als „‚Gegenbegriff‘ zu Belehrung“ 1329 im unmittelbaren Anschluss bereits wieder insofern, als er darauf hinweist, „daß es auch Belehrung gibt, die Erfahrung ist, und umgekehrt“ 1330, an jener „prinzipiell[en]“ 1331 Unterscheidung zwischen Erfahrung auf der einen und Belehrung auf der anderen Seite hält er allerdings auch im weiteren Verlauf seiner Publikationstätigkeit weitestgehend fest 1332. Setzt man daher die bis hierhin skizzierten Überlegungen und Definitionsversuche zueinander in Beziehung, so wird deutlich, dass Hentig im Laufe der 1960er Jahre einen Begriff von Erfahrung entwickelt, der vornehmlich auf einer Kontrastierung zweier verschiedener Prinzipien beruht: auf dem Prinzip des selbsttätigen Lernens durch Erfahrung auf der einen und dem Prinzip des Belehrtwerdens durch das Wissen anderer auf der anderen Seite. Während das erste Prinzip dabei – in Anlehnung unter anderem an John Deweys Begriff der „Experience“1333 – von Hentig mit Aspekten wie „Bewußtsein“, „Individualität“ und „Nachweisbarkeit 1327 Ebenda, S. 22 1328 Ebenda, S. 22 f. 1329 Ebenda, S. 23 1330 Ebenda 1331 Ebenda, S. 22 1332 Vgl. bspw. Hentig 1984b, S. 413 f.; Hentig 2003a, S. 214 ff. oder Hentig 2006, S. 32 ff. 1333 Zwar können an dieser Stelle die Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Erfahrungsbegriff Deweys und Hentigs nicht erschöpfend dargestellt und analysiert werden (für eine erste Bemühung in diese Richtung siehe Kleinespel 1998, S. 142 ff.), es sei allerdings zumindest darauf hingewiesen, dass Hentig sich nicht nur wiederholt auf Deweys Überlegungen zum Thema bezieht (vgl. etwa Hentig 1966e, S. 85 ff.; Hentig 1969d, S. 114, Hentig 1973, S. 55 oder Hentig 1984c, S. 555), sondern sich darüber hinaus auch einige Stellen finden, an denen Hentig ohne konkreten Verweis auf Dewey ganz ähnlich zum Thema „Erfahrung“ argumentiert wie dieser (siehe etwa Hentigs Ausführungen zum Verhältnis von Sprache und Erfahrung in Hentig 2004b, S. 229, im Vergleich zu Deweys Ausführungen zum selben Thema in Dewey 2000, S. 31 ff.). Zu Hentigs Rezeption der ästhetischen Schriften Deweys siehe genauer oben, S. 172 ff. Zur grundsätzlichen Bezugnahme Hentigs auf Dewey vgl. darüber hinaus Gruhn 1997, Kleinespel 1998 (insbesondere S. 138 ff.) und Oelkers 2009 – sowie in autobiographischer Perspektive Hentig 1983a, S. 185 ff. und Hentig 2009c, S. 603.
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in der gemeinsamen physischen Welt“ verknüpft wird 1334, ist letzteres für ihn vornehmlich durch die passive Aufnahme von Informationen sowie einen Vorgang der Verallgemeinerung gekennzeichnet. Trotz dieser Kontrastierung allerdings sind beide Prinzipien für Hentig nicht vollständig voneinander zu trennen: So kann im Sinne Hentigs auch der Vorgang des Belehrtwerdens als eine besondere Form der Erfahrung verstanden werden – und sei es als eine „intensive Erfahrung von Langeweile“ 1335 –, während eine wiederholte, reflektierte Erfahrung mit der Zeit zu „Wissen“ wird – und damit letztlich zu einer Art von belehrender Erfahrung. Zu guter Letzt kann darüber hinaus auch das Wissen anderer (wie es etwa in Lehrbüchern als „verallgemeinerte Erfahrung“ 1336 festgehalten ist) für den Einzelnen durch eine Verknüpfung mit bereits zuvor gemachter Erfahrung zu eigenem Wissen werden – so dass die Aufgabe einer „Schule als Erfahrungsraum“ für Hentig unter anderem darin besteht, den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, sich die Erfahrung anderer durch „reflektierende Verknüpfung“ 1337 als neues Wissen anzueignen, ohne die damit verbundene Erfahrung „notwendig selber machen zu müssen“ 1338. An d iesem Punkt gewinnt nun eine Form von Erfahrung an Bedeutung, die Hentig seit Ende der 1950er Jahre wiederholt als „vikarische Erfahrung“ bezeichnet und die er insbesondere im Umgang mit narrativen Künsten wie Literatur, Theater und Film ermöglicht sieht. Die erste Erwähnung dieser besonderen Form von Erfahrung – deren Bezeichnung sich vom lateinischen Adjektiv vikarius, „stellvertretend“, ableitet – findet sich dabei bereits in Hentigs 1959er Aufsatz „Das Verstehen des Unverstandenen“ 1339, wenn es dort zum Verhältnis von „Griechische[r] Tragödie und Schule“ heißt: „Schule ist ein Ort, an dem die Erfahrung des Menschen von sich selbst und von der Welt gesammelt und geordnet mitgeteilt wird. Vielleicht lässt sich Erfahrung überhaupt nicht anders als durch das Leben selbst vermitteln; aber um dem Leben nicht zu erliegen, wenn es die Erfahrung bringt, brauchen wir sie schon vorher, und gerade die Möglichkeit, vor dem Bewußtsein – vikarisch – Erfahrung zu machen, zeichnet ja den Menschen vor der übrigen Kreatur aus.“ 1340
So münde alle Bildungsanstrengung, wie Hentig weiter ausführt, in der Frage: „Was ist der Mensch?“ 1341, und zur Auseinandersetzung mit dieser Frage eigne sich von allen Bildungsgegenständen besonders derjenige der attischen Tragödie: „Sie stellt den 1334 Hentig 1973, S. 21 1335 Hentig 1984b, S. 414 1336 Hentig 1973, S. 21 1337 Hentig 1966e, S. 232 1338 Hentig 1973, S. 21 1339 Hentig 1959a 1340 Ebenda, S. 42 1341 Ebenda
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Menschen radikal in Frage und weist ihm zugleich den Ort, an den er gehört, sie öffnet ihm die Augen für den Abgrund und läßt ihn zugleich nicht fallen.“ 1342 Da man diesen „schwer oder gar nicht lösbaren Widerspruch“ allerdings, so Hentig weiter, „nicht ‚denken‘ oder ‚wissen‘ oder ‚vorstellen‘ sondern nur erfahren“ 1343 könne, genüge es nicht, die betreffenden Tragödien lediglich zu lesen: sie müssten vielmehr – entsprechend ihrer dramatischen Form – leibhaftig „durch konkret neben- und gegeneinanderstehende Personen ausgedrückt werden“ 1344 – und zwar bestenfalls in der „Ursprache“ 1345. Die vikarische Erfahrung von der „Frag-Würdigkeit“ 1346 des Menschen, die Hentig im Aufführen der attischen Tragödie ermöglicht sieht, gerät für ihn so zum Lackmustest der von ihm im selben Aufsatz formulierten Idee des „künstlerischen Verstehens“ 1347. Hierunter möchte Hentig – wie weiter oben bereits ausführlich dargestellt 1348 – nicht die rationale Auseinandersetzung mit Kunstwerken als intellektuell verschlüsseltes Zeichen verstanden wissen, sondern vielmehr den erleidenden Vollzug einer spezifischen Erfahrung im Umgang mit diesen. Indem also das einzelne Kunstwerk (in diesem Fall die attische Tragödie des Aias) dem Rezipienten als künstlerisches Zeichen entgegentritt, das ihn „radikal fragen lehrt“ 1349, kann dieser im Umgang mit jenem eine verstehende Erfahrung machen, die Hentig nun insofern als „vikarisch“ bezeichnet wissen möchte, als dass sie dem Einzelnen den stellvertretenden Vollzug einer existentiellen Erfahrung ermöglicht (in d iesem Fall diejenige der „Frag-Würdigkeit“ 1350 des Menschen), ohne diese Erfahrung tatsächlich „durch das Leben selbst“ 1351 vermittelt bekommen zu müssen. Infolgedessen, so die Hoffnung Hentigs, brauche der Einzelne dem tatsächlichen Leben zu einem späteren Zeitpunkt dann nicht mehr zu „erliegen“ 1352, wenn dieses die entsprechende Erfahrung irgendwann selbst bringe. Wie die gemeinte Form der vikarischen Erfahrung dabei nun allerdings von anderen Formen des Verstehens unterschieden werden könnte, dies präzisiert Hentig erst einige Jahre später, wenn er 1965 in seinem Vortrag „Spielraum und Ernstfall“ unter Bezugnahme auf den Begriff des „Mythos“ erneut einen spezifischen Verstehensprozess im Umgang mit (Dicht-)Kunst thematisiert, den er als solchen nun abgegrenzt wissen möchte vom wissenschaftlichen Verstehensprozess des „Logos“ 1353. Die spezifische
1342 Ebenda, S. 43 1343 Ebenda (Hervorhebung C. T. Z.) 1344 Ebenda 1345 Ebenda, S. 44 1346 Ebenda, S. 43 1347 Ebenda, S. 46 1348 Siehe oben, Kapitel 5.1.1. 1349 Hentig 1959a, S. 61 1350 Ebenda, S. 43 1351 Ebenda, S. 42 1352 Ebenda, S. 61 1353 Vgl. Hentig 1967b, S. 192 ff.
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Zeichenhaftigkeit der Kunst als „Mythos“ beruht dabei für Hentig – wie weiter oben bereits ebenfalls ausführlicher dargestellt 1354 – auf etwas, das er im Anschluss an Heißenbüttel als „Unbestimmtheitsfaktor“ 1355 der Kunst bezeichnet: Während die Wissenschaft für den „von ihr geordneten Teil der Welt“ eine „vollkommen logische Sprache“ verwende 1356, bediene sich die „Dichtersprache“, so Hentig, des „metaphorischen Charakter[s] aller Sprache“ und verfahre mit diesem nach dem Modell des Spiels 1357. Durch dieses Vorgehen, so Hentig weiter, entstehe das Kunstwerk „gleichsam erst im Betrachter oder Hörer“, werde „erst Kunstwerk durch ihn“ 1358, und zwar im Rahmen einer Erfahrung, die er als das Hereinbrechen des „Ernstfalls“ in unsere „zunehmend untragische Welt“ verstanden wissen möchte 1359. Die Möglichkeit des Vollzugs einer vikarischen Erfahrung ergibt sich für Hentig in diesem Sinne also erst im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen: Erst in dem Moment, in dem der Rezipient gezwungen ist, das „Disparate und Widerstrebende“ des einzelnen Kunstwerks in sich zu „vereinen“ 1360, kann dieses zum Ausgangspunkt einer Erfahrung werden, die der Einzelne so weder in seinem alltäglichen Leben noch in der Auseinandersetzung mit dem „Logos“ der Wissenschaft machen könnte. Die besondere „Wirkung von Literatur und Kunst“ 1361 liegt für Hentig infolgedessen denn auch gerade darin, dass sie die „in der Wissenschaft abstrahierten und in der technischen Zivilisation institutionalisierten Tatbestände auf den Menschen beziehbar macht“ 1362: „[…] etwa die Abgründigkeit der irrationalen Zahl im Törless, die möglichen Folgen der Hormonforschung bei H. H. Jahn, die Implikationen der Zwölftonmusik im Dr. Faustus, eine Welt mit einem System von Internierungslagern, Ausweisen, Grenzen, Polizei, Vormundschaften in Ich bin David […].“ 1363
Diese hier bereits aufscheinende Bedeutung der vikarischen Erfahrung für den Bildungsprozess des Menschen hebt Hentig einige Jahre später schließlich noch einmal explizit hervor, wenn er 1973 in seinem Band Schule als Erfahrungsraum? 1364 unter
1354 Siehe oben, Kapitel 5.1.2. 1355 Hentig 1967b, S. 197 1356 Ebenda, S. 198 1357 Ebenda 1358 Ebenda, S. 199 1359 Ebenda, S. 188 1360 Ebenda, S. 200 1361 Ebenda, S. 188 1362 Ebenda 1363 Ebenda (Hervorhebung im Original) 1364 Hentig 1973
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der Überschrift „Geschichten, Geschichte, Simulationen“ 1365 die „Erweiterung des tatsächlichen Erfahrungsraumes durch einen vorgestellten“ 1366 als eines von mehreren Mitteln der Schule zur Verbindung von „selbsttätigem Lernen und organisierter Belehrung“ 1367 hervorhebt und dabei konstatiert: „Die älteste Form, in der Erfahrung im Unterricht vorkommt (im Gegensatz zur Erziehung, in der es eine Fülle von absichtlich herbeigeführten Erfahrungen gibt), ist die Geschichte oder Erzählung – die Möglichkeit, Erfahrungen anderer in der Vorstellung mitzuvollziehen, entweder um sie darum nicht selber machen zu müssen oder um sie nun auch selber machen zu können (weil man ja jetzt weiß wie man es anfängt). Die vikarisch gemachte Erfahrung gehört zum Urbestand allen Unterrichts.“ 1368
Doch es ist nicht allein die Literatur, die für Hentig in d iesem Sinne „mehr Erfahrung als manche sogenannte Erfahrungswissenschaft mit ihren Abstraktionen und ebenso aufwendigen wie ohnmächtigen Handlungsprojekten“ 1369 bietet: Neben den klassischen Lektürestoff des humanistischen Gymnasiums (der mit Sophokles’ Antigone und Kleists Prinz von Homburg auch hier von Hentig wieder als möglicher Ausgangspunkt vikarischer Erfahrung genannt wird 1370) tritt nun nahezu gleichberechtigt der Film als das „vermutlich potenteste Mittel der Vorstellung“ 1371. So lasse uns dieser, wie Hentig notiert, „seine Situationen (und Menschen) wie leibhaftige Wirklichkeit erleben“ – „bis zur physischen Qual oder Beglückung“ –, und zugleich könnten die auf diesem Wege vikarisch erfahrenen Situationen solche sein, „die uns (jetzt) zu erfahren unmöglich wären: Krieg, Todeszelle, Abenteuer am Berg, Gefahr auf See, Alltag im Urwald, antikes Rom, Französische Revolution, englischer Gerichtshof, erfüllte Liebe, vollendete Schönheit, Elend, Schuld …“ 1372. Diese von Hentig hier zusammengetragene Sammlung existentieller Erfahrungen, die er durch den Einsatz von Filmen als „leibhaftige Wirklichkeit“ 1373 in die Schule hineinholen zu können hofft, zeigt noch einmal in aller Deutlichkeit, welch entscheidende Rolle dem Konzept der vikarischen Erfahrung in der gesamten Erfahrungstheorie Hentigs zukommt: Indem die vikarisch gemachte Erfahrung dem Einzelnen die Möglichkeit eröffnet, „Erfahrungen anderer in der Vorstellung mitzuvollziehen“ 1374 und 1365 Ebenda, S. 42 1366 Ebenda, S. 23 1367 Ebenda 1368 Ebenda, S. 42 f. (Hervorhebung im Original) 1369 Ebenda, S. 44 f. 1370 Vgl. ebenda, S. 43. 1371 Ebenda, S. 45 1372 Ebenda 1373 Ebenda 1374 Ebenda, S. 42 f.
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durch einen Prozess des künstlerischen Verstehens in eigene Erfahrung umzuwandeln, lässt sie nicht nur eine existentielle Erfahrung des „Ernstfalls“ in die Auseinander setzung mit klassischen Schulgegenständen wie Texten, Bildern, Theaterstücken und Filmen einziehen, sie bildet auf diesem Wege zugleich das entscheidende Verbindungsstück zwischen den beiden – von Hentig ursprünglich einander entgegengesetzten – Prinzipien des selbsttätigen Lernens durch Erfahrung auf der einen und des Belehrtwerdens durch das Wissen anderer auf der anderen Seite. Genau diese Eigenschaft ist es daher auch, die für Hentig den zentralen pädagogischen Reiz der vikarischen Erfahrung ausmacht: Durch ihre Fähigkeit, den „tatsächlichen Erfahrungsraum“ des Menschen durch einen „vorgestellten“ zu erweitern 1375, stellt sie für ihn ein besonders geeignetes Mittel dar, das „problematische Verhältnis von Leben und Schule, von selbsttätigem Lernen und organisierter Belehrung“ 1376 zumindest zeitweise miteinander zu versöhnen. An diesem Vertrauen auf die versöhnende Kraft der vikarischen Erfahrung hält Hentig schließlich auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nahezu unverändert fest. Zwar verwendet er dabei den Begriff der „vikarischen Erfahrung“ selbst nur noch gelegentlich 1377, das diesem Begriff zugrunde liegende, von ihm in den Jahren 1959 bis 1973 entwickelte Konzept allerdings nimmt auch weiterhin einen wichtigen Stellenwert in seiner Auseinandersetzung mit Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung ein: sei es bezogen auf Werke der bildenden Kunst 1378, der Musik 1379 oder des Theaters 1380; sei es ausgehend von einem selbst verfassten Kinderbuch 1381, dem Prinzip der „‚erzählte[n] Wahrheit‘“ 1382 im Neuen Testament 1383 oder einem Spiralcurriculum zum Thema „Deutsch“ an der Laborschule 1384; sei es in Auseinandersetzung mit den Märchen der Gebrüder Grimm 1385, der eigenen Leseerfahrung als Kind 1386 oder der Bedeutung von Full Metal Jacket, Thykidides und Tolstoi für die „konkrete Anschauung“ der Schrecken des Krieges 1387. In all diesen Fällen spricht Hentig der vikarischen Erfahrung das Potential zu, den Erfahrungsraum des Einzelnen umfassend zu erweitern und dadurch einen wichtigen Beitrag zu dessen Leben und Lernen zu leisten.
1375 Ebenda, S. 23 1376 Ebenda 1377 Siehe beispielsweise Hentig 1992b, S. 116 oder Hentig 1996a, S. 104. 1378 Vgl. bspw. Hentig 1972a, S. 139. 1379 Vgl. bspw. Hentig 2004c, S. 141. 1380 Vgl. bspw. Hentig 1992a, S. 49 ff. 1381 Hentig 1972b, S. 4 f. 1382 Hentig 1988a, S. 102 1383 Vgl. ebenda, S. 101 ff. 1384 Vgl. Hentig & Groeben 1983, S. 28. 1385 Vgl. Hentig 1981c. 1386 Vgl. Hentig 1983a, S. 231 ff. 1387 Vgl. Hentig 1989, S. 444.
Kunst als „Ernstfall“: Das Prinzip „vikarische Erfahrung“
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Welch hohen Stellenwert Hentig der vikarischen Erfahrung dabei auch im Vergleich zu anderen Bildungsmöglichkeiten einräumt, zeigt sich spätestens in seinem 1996 erschienenen Band Bildung. Ein Essay 1388. Hier präsentiert Hentig (im Anschluss an eine längere Auseinandersetzung mit sechs möglichen Maßstäben für die Bildung des Menschen) zehn seines Erachtens „ganz normale Lebenstätigkeiten“, denen er die „gewünschte Bildung, den Anlaß zum Sich-Bilden“ zutraut 1389, und dieser Aufzählung den folgenden Hinweis voranstellt: „Meine zehn Quellen von bildender Wirkung sind freilich so gewählt, daß sie in der Schule veranstaltet werden können. Andere, die ganz außerordentliche und oft außergewöhnlich positive Wirkungen tun wie Krise und Krankheit, Leid und Tod, Schuld und Entbehrung, Gefahr und Leidenschaft kann ich hier nicht behandeln, weil sie einer ausgreifenden Begründung bedürfen. Gleichwohl kommen diese Anlässe auch unter den meinen vor, nur in anderer Gestalt: als vorgestelltes Erlebnis (ich hatte vorhin von vikarischer Erfahrung gesprochen) – als große Gegenstände der Literatur und des Films.“ 1390
Die Bedeutung ebensolcher „große[n] Gegenstände der Literatur und des Films“ als Ausgangspunkt vikarischer Erfahrung steht denn auch sogleich im Mittelpunkt des ersten, von Hentig am ausführlichsten behandelten Bildungsanlasses: Unter der Überschrift „Geschichten“ skizziert er hier, ausgehend von Homers Odyssee und den Erzählungen der Bibel, erneut seine These von der bildenden Kraft der vikarischen Erfahrung, bindet diese Kraft abermals an das Prinzip des „Mythos“ und stellt letzterem auch hier wieder das ordnende, rationale Logos-Prinzip der Wissenschaft entgegen.1391 So seien, wie Hentig ausführt, die mythischen Erzählungen „in der Neuzeit von den Erklärungen und Auslegungen, von empirischer, diskursiver und analytischer Erkenntnis an den Rand unserer Vorstellungswelt gedrängt worden“ 1392, weshalb es gerade heute eine Rückbesinnung auf die bildende Kraft der Erzählung brauche: auf die „elementaren Ordnungen […], die die Geschichten in die 1388 Hentig 1996a 1389 Ebenda, S. 103 1390 Ebenda, S. 103 f. Hentigs hier getätigter Hinweis, er habe „vorhin von vikarischer Erfahrung gesprochen“, läuft allerdings ins Leere: Auf den vorangegangen knapp hundert Seiten seines Essays verwendet er den Begriff der vikarischen Erfahrung an keiner weiteren Stelle. So lässt sich lediglich mutmaßen, dass hiermit die verschiedenen, von ihm in den vorangegangen Kapiteln getätigten Verweise auf diverse „große Gegenstände der Literatur und des Films“ gemeint sein könnten: So etwa Joan Lowells Autobiographie Ich spucke gegen den Wind als Beispiel für die Bildungskraft eines Lebens in „‚einfachen‘ Verhältnissen“ (ebenda, S. 46) oder Jean-Jacques Annauds Spielfilm Am Anfang war das Feuer als Illustrationen für die Notwendigkeit eines „Bewußtsein[s] von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz“ (vgl. ebenda, S. 85 ff.). 1391 Vgl. ebenda, S. 108 f. 1392 Ebenda, S. 108
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Erfahrungen bringen, die im Alltag wiederkehrenden Sinnfiguren“ 1393. Solch „wiederkehrende Sinnfiguren“ (wie etwa diejenige der „unlöslichen Zusammengehörigkeit von Geschwistern“ 1394) sind es daher auch, die Hentig im weiteren Verlauf seiner Überlegungen als besonders wertvoll für die Bildung des Menschen herausstellt und die er im Blick hat, wenn er abschließend – unter anderem in Auseinandersetzung mit den Märchen der Gebrüder Grimm sowie unter Bezugnahme auf Rolf Schübels Film Das Heimweh des Walerjan Wrobel 1395 – resümiert, die „Welt der Geschichten“ enthalte „alles, was wir an geistiger Nahrung brauchen“ 1396: ob „gelesen, vorgelesen, frei erzählt [oder] geschaut“ 1397. Setzt man diese neuerlichen Überlegungen Hentigs zur bildenden Wirkung von Geschichten, Filmen und Märchen nun in Bezug zu seinen vorangegangenen Arbeiten zum Thema, so wird deutlich, dass das Prinzip der vikarischen Erfahrung, wie Hentig es erstmals 1959 in seinem Aufsatz „Das Verstehen des Unverstandenen“ entwickelt, eine wichtige, über mehrere Jahrzehnte anhaltende Konstante in seiner Auseinandersetzung mit Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung darstellt. Jenes Prinzip der vikarischen Erfahrung nimmt in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur – wie oben bereits gezeigt – eine zentrale Stellung in Hentigs allgemeiner Erfahrungstheorie ein, es ist darüber hinaus zugleich unmittel bar an dessen Verständnis der Kunst als spezifisches Zeichengeschehen gebunden. So ist es gerade jene, sich im „Ernstfall“ der vikarischen Erfahrung vollziehende, verstehende Auseinandersetzung mit der spezifischen Unbestimmtheit künstle rischer Zeichen, die für Hentig den Kern aller Kunsterfahrung ausmacht: insofern nämlich, als sie nach dem Prinzip einer „Erkundung des Möglichen“ 1398 vor sich geht – hier verstanden als vikarische Erkundung einer möglichen Welt jenseits der unmittelbar erlebten. Allerdings ist es nicht allein die vikarische Ebene des „Ernstfalls“, die Hentig aus pädagogischer Perspektive am Umgang mit Kunst interessiert: der gemeinte Ernstfall ist für ihn vielmehr untrennbar geknüpft an die gleichzeitige Herstellung eines ebenfalls spezifisch künstlerischen Spielraums. Diese Dialektik von „Spielraum und Ernstfall“ (deren formelhafte Wendung zugleich als Titel mehrerer Veröffentlichungen Hentigs dient 1399) verweist also bereits auf eine weitere zentrale Kategorie des hentigschen Nachdenkens über das Verhältnis von Ästhetik und Bildung: auf dessen Hoffnung, dem Einzelnen könne im Umgang mit Kunst etwas zuteilwerden, das 1393 1394 1395 1396 1397 1398
Ebenda, S. 108 f. Ebenda, S. 109 Vgl. ebenda, S. 110 ff. Ebenda, S. 112 Vgl. ebenda. Zu Hentigs Verständnis der Kunst als „Erkundung des Möglichen“ siehe genauer oben, Kapitel 5.1.2. 1399 Vgl. Hentig 1967b, Hentig 1969c und Hentig 1981d.
Kunst als „Spielraum“: Das Prinzip „Befreiung“
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„dem Bewegungsgesetz der Kunst unmittelbar entspringt“ und das er, Hentig, nicht als „Emanzipation“, „Kreativität“, „kritisches Bewußtsein“ oder „alternative Lebensform“ bezeichnet wissen möchte – sondern als „Befreiung“ 1400.
6.2 Kunst als „Spielraum“: Das Prinzip „Befreiung“ Wenn Hartmut von Hentig 1968 in der ersten Ausgabe von Systemzwang und Selbstbestimmung resümiert, die Aufgabe der Erziehung im Allgemeinen sowie der Schule im Besonderen liege in erster Linie darin, „die nächste Generation auf das Leben vorzubereiten, wie es ist, ohne sie dem Leben zu unterwerfen, wie es ist“ 1401, so wählt er damit eine Formulierung, die nicht nur die theoretische Grundlage für seine im selben Zeitraum entwickelten „Allgemeinen Lernziele der Gesamtschule“ 1402 bildet, sondern die darüber hinaus auch im weiteren Verlauf seiner Publikationstätigkeit immer w ieder – wenn auch in leicht variierendem Wortlaut – als Maxime seines pädagogischen Denkens und Handelns zur Anwendung kommt 1403. Laut Hentig müsste demnach (um erneut eine Formulierung aus Systemzwang und Selbstbestimmung zu wählen) jegliche Form von Erziehung „die Grundbedingungen der jeweiligen historischen gesellschaftlichen Existenz genau kennen, sich selbst zum Modell dieser Gesellschaft machen und sowohl ihrem gegenwärtigen Zustand als auch ihren Entwicklungen Alternativen gegenüberstellen“ 1404. Eben diese, das gesamte hentigsche Œuvre durchziehende dialektische Grundfigur von Einübung in die jeweilige historische gesellschaftliche Existenz auf der einen und Befreiung von dieser Existenz durch die Entwicklung von Alternativen auf der anderen Seite hat nun unmittelbare Folgen auch für dessen Nachdenken über Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung: So tritt in Hentigs diversen Arbeiten zum Thema ab Mitte der 1960er Jahre neben das Prinzip der vikarischen Erfahrung im Umgang mit Kunst zunehmend dasjenige der Befreiung durch Kunst – verstanden als Möglichkeit, sich in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken „aus den im strengen Sinn des Wortes ‚herrschenden‘ Zuständen freizuspielen“ 1405. Eine erste Ausformulierung dieses Prinzips nimmt Hentig dabei bereits im Juli 1964 vor, wenn er in einem in der ZEIT veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Kunst und Wissenschaft in der Erziehung“ 1406 resümiert, dass beide, Kunst und Wissenschaft (im 1400 1401 1402 1403
Hentig 1985e, S. 30 Hentig 1968b, S. 65 Siehe hierzu genauer oben, Kapitel 5.3.3. Vgl. bspw. Hentig 1973, S. 13; Hentig 1983b, S. 410; Hentig 1987a, S. 11 oder Hentig 1988a, S. 112. 1404 Hentig 1968b, S. 65 1405 Hentig 1969c, S. 330 1406 Hentig 1964b
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Verbund mit Sport und Religion), dazu dienten, „die kommende Generation in der Freiheit gegenüber den Ordnungen zu üben, die sie schon vorfindet – von denen sie zwar abhängt, auf die sie aber nicht festgelegt werden darf “ 1407. Er präzisiert: „Die Wissenschaft ist eine Tätigkeit, in der jede Erkenntnis vom Wirklichen methodisch für alle verfügbar und kritisierbar gemacht wird. Indem die Wissenschaft so die Grenzen dessen aufweist, was ‚sicher‘ gewußt wird, ermöglicht sie weiter fortzuschreiten. Wissenschaft ist durch diese Offenheit geradezu definiert. Die Kunst ist eine Tätigkeit, in der unmethodisch das Mögliche erkennbar wird. Das war schon Aristoteles’ Unterscheidung von Kunst (poiesis) und Wissenschaft (historia). Beide, Kunst und Wissenschaft, dienen damit der Freiheit, der Veränderlichkeit, der Offenheit.“ 1408
Diese hier bereits angedeutete „Kontemplarität“ 1409 von Wissenschaft und Kunst unter der Perspektive einer Herstellung von „Freiheit“, „Veränderlichkeit“ und „Offenheit“ bildet schließlich auch den Ausgangspunkt einer von Hentig im darauffolgenden Jahr vorgenommenen Bemühung, das von ihm evozierte Befreiungspotential der Kunst noch einmal systematischer zu bestimmen. So entwickelt er in seinem 1965er Vortrag „Spielraum und Ernstfall“ nicht nur – wie im vorangegangenen Unterkapitel bereits eingehender dargestellt – eine Bestimmung des Prinzips der vikarischen Erfahrung als Erfahrung des „Ernstfalls“, er stellt diesem Prinzip zugleich dasjenige der Befreiung des Einzelnen durch die Herstellung eines spezifisch künstlerischen „Spielraums“ zur Seite. Dementsprechend heißt es sogleich zu Beginn seines Vortrags: „Einerseits ‚Spielraum‘ zu schaffen, Offenheit, Beweglichkeit, den Mut zum eigenen Entwurf, ja, so etwas wie eine befreiende Ironie in einer sich schließenden, notwendig immer perfekter durchorganisierten und ebenso zunehmend humorlosen wie zunehmend untragischen Welt, andererseits in dieser Einschränkung oder Aufhebung der Primärerfahrung gleichwohl den ‚Ernstfall‘ einzubringen – das scheint mir eine Aufgabe der Kunst zu sein, die eine Wissenschaft von der Erziehung für sich formulieren und austragen muß.“ 1410
Wie bereits im Falle der vikarischen Erfahrung ist es dabei erneut der „Unbestimmtheitsfaktor“ 1411 der Kunst, der für Hentig den „Motor“ 1412 des gemeinten Befreiungsvorgangs ausmacht: Erst in dem Moment, in dem der Rezipient im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen gezwungen ist, „die zerbrochenen Bilder, die Zusammenstellung von 1407 Vgl. ebenda, S. 16. 1408 Ebenda 1409 Hentig 1967b, S. 187 1410 Ebenda, S. 188 1411 Ebenda, S. 197 1412 Ebenda
Kunst als „Spielraum“: Das Prinzip „Befreiung“
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Dingen und Eigenschaften, die nach unserer Erfahrung nicht zusammengehören“ 1413, miteinander zu verbinden und so immer wieder zu fragen, „‚ob es möglich ist, daß es möglich ist‘“ 1414, kann sich der von Hentig gemeinte „Spielraum“ im Umgang mit Kunst einstellen – und sich dem Einzelnen so die Möglichkeit eröffnen, die Erfahrung einer spezifisch künstlerischen „Erkundung des Möglichen“ zu vollziehen 1415. „[D]ie Pädagogik“, so resümiert Hentig in diesem Sinne denn auch gegen Ende seines Vortrags, lege daher besonderen Wert darauf, dass „Literatur und Wissenschaft in ihrer Verschiedenheit und Komtemplarität“ gesehen würden 1416, und er ergänzt: „Wissenschaft gebraucht der Pädagoge als Modell für die Verfahren, w elche Erkenntnis beschreiben, verknüpfen und mit Hilfe von Hypothesen sichern und verallgemeinern. Literatur und Kunst gebraucht er als Erfahrung, in der wir Spielraum für Entscheidung gewinnen. Beide zusammen dienen wohl dem Bewußtsein der Freiheit, und das heißt heute: der Zumutung der Freiheit, – hier in den großen Koordinierungsaufgaben und schwindelerregenden Abstraktionen der Wissenschaft, da in den Provokationen des Ödipus, der Wahlverwandtschaften, der Pest, der Gedichte An den Mond und An die Nachgeborenen. Ich zweifle nicht, daß es keinen ernsteren Ernstfall gibt – seit der Mensch vom Baum der Erkenntnis gegessen hat – als den, der ihn täglich im Spielraum der Freiheit trifft.“ 1417
Der „Spielraum der Freiheit“ und der „Ernstfall“ der vikarischen Erfahrung sind für Hentig in diesem Sinne im Vorgang der „Erkundung des Möglichen“ unmittelbar aufeinander bezogen: Einerseits wäre ohne den Spielraum, der sich im Umgang mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen zu eröffnen vermag, keine vikarische Erfahrung des Ernstfalls möglich (sondern es gäbe, wie Hentig an selber Stelle anmerkt, lediglich „Wissenschaft (Information) oder Geschwätz“ 1418); andererseits aber ist eben jene Erfahrung der Unbestimmtheit, der der Einzelne im Spielraum der Kunst begegnet, zugleich selbst eine besondere Form des Ernstfalls – der provozierende Ernstfall einer systematischen „Zumutung von Freiheit“ 1419. Neben dieser Funktion einer individuellen Befreiung des Menschen im „Spielraum“ der Kunst möchte Hentig dem Umgang mit Werken der Kunst und Literatur allerdings bereits 1965 zugleich eine „hygienische, regulative Funktion im Gesamtzusammenhang unserer Gesellschaft“ 1420 zugewiesen wissen – eine politische Verortung, die in den 1413 Ebenda, S. 220 1414 Ebenda, S. 197. Zu der hier vorgenommenen Bezugnahme Hentigs auf Carl-Friedrich von Weizsäcker siehe genauer oben, Kapitel 5.1.2. 1415 Siehe ebenda. 1416 Hentig 1967b, S. 204 1417 Ebenda (Hervorhebung im Original) 1418 Ebenda, S. 197 1419 Ebenda, S. 204 1420 Ebenda, S. 201 (Hervorhebung C. T. Z.)
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darauffolgenden Jahren mehr und mehr in den Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung zu rücken beginnt. So plädiert Hentig bereits ein Jahr darauf, in seinem 1966 erstmals vor dem Deutschen Werkbund präsentierten 1421 und kurze Zeit später für den deutschen EXPO -Katalog zur Weltausstellung Montreal 1967 weiter ausgearbeiteten Aufsatz „Creator – Die Entdeckung eines neuen Kulturprinzips“ 1422, für ein verändertes Verständnis von Kultur als „creatio“, als „Prozeß der schöpferischen Wandlung“, und grenzt dieses Verständnis sodann ab von einem ebensolchen der Kultur als „cultura“, die „Überliefertes pflegt und es in der Herrschaft erhält“ 1423. Er präzisiert: „Mögen die Erscheinungsformen der ‚Kultur‘ innerhalb der verschiedenen Zivilisationen auch sehr verschieden sein – ihre Grundfunktion war und ist die g leiche. Ja, es mag fortan als ihre Definition gelten, daß die ‚Kultur‘ immer das ist, was die Veränderung offenhält, was die Menschen in der Selbstbehauptung gegen die Sachzwänge, in der Improvisation gegenüber dem Unbekannten, in der befreienden Hypothese gegenüber dem Allzubekannten einübt und bestätigt.“ 1424
Da der Mensch allerdings, wie Hentig an selber Stelle anmerkt, die für einen solchen Vorgang der creatio notwendige „empirisch-schöpferische Einstellung“ 1425 am ausgeprägtesten in der Kunst einnehme und einübe, werde die Frage, „[w]ie sich eine Nation in der Kunst und zu der Kunst“ verhalte, „heute zum beinahe absoluten Maßstab ihrer Lebensfähigkeit“ 1426. So seien es insbesondere die bildenden Künste mit ihrem „freien und befreienden Experiment“ 1427, aber auch die Musik 1428, das Theater 1429, die Literatur 1430 sowie das Fernsehen und Radio 1431, denen das Potential innewohne, den Menschen in der Fähigkeit zu üben, „aus eigener Initiative, nach eigenem Willen und Gesetz, unter neuen, vielleicht noch weitestgehend unbekannten Bedingungen Neues zu schaffen“ 1432. Aus d iesem Grund resümiert Hentig gegen Ende seines Aufsatzes denn auch mit Blick auf „[d]ie Erzieherschaft“1433, die ihre vom
1421 Hentig 1966a 1422 Hentig 1967a 1423 Ebenda, S. 42 (Hervorhebung im Original) 1424 Ebenda 1425 Ebenda, S. 44 1426 Ebenda 1427 Ebenda, S. 46 1428 Vgl. ebenda, S. 51 ff. 1429 Vgl. ebenda, S. 58 ff. 1430 Vgl. ebenda, S. 64 ff. 1431 Vgl. ebenda, S. 68 ff. 1432 Ebenda, S. 70 1433 Ebenda, S. 76
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gesellschaftlichen Wandel diktierte Lage „nicht nur zu bestehen, sondern auch zu ihrem Teil zu ändern“ habe 1434: „Die Erzieherschaft, […] muß a) wissenschaftlicher werden – d. h., empirisch genauer zu erkennen suchen, was ihre Aufgabe ist; sie muß b) politischer werden – d. h., sie muß lernen, sich in einer durch und durch politischen Umwelt mit ihr angemessenen Mitteln der Macht zu behaupten; sie muß c) schöpferischer werden – d. h., freier über ihre Anlagen und Verhaltensweisen verfügen lernen. Daß die Erzieher und Lehrer diese Einstellungen und Fähigkeiten gewinnen, ist mindestens so wichtig wie die sogenannten Inhalte der Kultur, die ‚Bildungsgüter‘, die sie vermitteln; denn dies ist die Kultur selbst. Wagnis und Sensibilität, Ironie und Spiel, Bereitschaft zu unkonventionellen Lösungen und Konsens – diese Elemente der Kunst – sind nicht Tugenden, die die funktionalisierte Welt erst aushaltbar machen, es sind Tugenden, ohne die sie nicht funktionieren würde.“ 1435
Diese Überlegungen zur pädagogischen Bedeutung der Kunst in einer „funktionalisierte[n] Welt“ bekräftigt Hentig in den darauffolgenden Jahren allerdings nicht allein durch den wiederholten Verweis auf deren politisches Potential als Instrument zur „Selbstbefreiung“ 1436, das angenommene Befreiungspotential der Kunst dient ihm darüber hinaus als Ausgangspunkt seiner im selben Zeitraum entwickelten Definition ästhetischer Erziehung als „Übung in der aisthesis – in der Wahrnehmung“ 1437. So weist er der Kunst insbesondere in seinem 1967er Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ die Funktion zu, die „Wahrnehmung zu erweitern und von den eigenen angestrengten Verfestigungen freizuspielen“ 1438, und überträgt auf diese Weise den von ihm als künstlerische Grundfunktion erachteten Vorgang einer befreienden „Erkundung des Möglichen“ nun auch auf den Bereich der Wahrnehmung: Indem der Mensch also laut Hentig im Spielraum der Kunst die Möglichkeit zur Erkundung auch neuer Wahrnehmungsmöglichkeiten erhält, gerät der Umgang mit Kunstwerken für ihn zugleich zu einer besonderen Form der Wahrnehmungsübung – und damit zum Ausgangspunkt eines Vorgangs, den er, Hentig, als das „Durchbrechen (break-up) der Wahrnehmungsmuster durch die Kunst“ 1439 verstanden wissen möchte.1440
1434 Ebenda 1435 Ebenda, S. 77 1436 Vgl. bspw. Hentig 1967c, S. 304; Bergedorfer Gesprächskreis 1968, S. 48 oder Hentig 1969d, S. 94. 1437 Hentig 1967c, S. 283 (Hervorhebung im Original) 1438 Ebenda, S. 299 1439 Bergedorfer Gesprächskreis 1968, S. 48 1440 Zum möglichen Ursprung dieser Überlegung Hentigs in Deweys Bestimmung der Kunst als Instrument der Erprobung von Wahrnehmungsmöglichkeiten siehe genauer oben, S. 172 ff.
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Der auf d iesem Wege benannten „individuellen und gesellschaftlichen Funktion“ 1441 der Kunst, den Menschen zur „Selbstbestätigung und Selbstbefreiung durch die Entdeckung eigener Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten“ 1442 zu befähigen, kommt damit laut Hentig zugleich noch eine weitere wichtige Bedeutung zu: und zwar im Bereich der Wissenschaftspropädeutik. So konstatiert er bereits 1965 in einem Vortrag zur „Neugestaltung der Oberstufe“ 1443, er wolle den Kunstunterricht in erster Linie als „ein Mittel der allgemeinen Wissenschaftspropädeutik“ 1444 verstanden wissen, und er präzisiert: „[Das heißt] als einen Unterricht an der Kunst, nicht für die Kunst, die hier weder um ihrer selbst willen noch als ein ‚Bildungsgut‘ noch als Ausgleich gegen die böse Intellektualisierung eingeführt wird; es sollen die Prinzipien der Kunst erkannt und geübt werden, auf die wir jenseits allen Kunstschaffens und aller Kunstausübung angewiesen sind: Symbolisierung, Spiel, Wagnis, Ergänzung, Improvisation, Harmonie, Spannung, Assoziation, Hypothese, Experiment etc. […].“ 1445
Diese Vorstellung von einem wissenschaftspropädeutischen Unterricht an der Kunst – die Hentig in den folgenden Jahren immer wieder in diversen Zusammenhängen aufgreift 1446 – verknüpft er 1969 in einer überarbeiteten Fassung des zitierten Oberstufen- Vortrags schließlich noch einmal explizit mit seiner in der Zwischenzeit entwickelten Idee einer Übung der Wahrnehmung durch Kunst, wenn er, als Teil einer Projektskizze des späteren Bielefelder Oberstufen-Kollegs, mit Blick auf ein mögliches Unterrichtsfach „Kunst oder allgemeine Ästhetik“ 1447 notiert: „In diesem Unterricht wird die für die rationale gesellschaftliche Existenz wie für die Selbstbestimmung gleichermaßen wichtige Kritik und Kultivierung der Wahrnehmungsvorgänge vorgenommen. In einem Zeitalter, in dem industrielle Produktions-, Konsumtions- und Kommunikationsformen vorherrschen, in dem der institutionelle Systemzwang auch die rationale (wissenschaftliche) Selbstbestimmung unterläuft, ist es wichtig, die sinnliche Primärwahrnehmung methodisch in der Offenheit und Kreativität zu üben. Die Kunst wird hier verstanden als der perennierende Versuch des Menschen, sich aus den im strengen Sinn des Wortes ‚herrschenden‘ Zuständen freizuspielen – durch Entdeckung von Möglichkeit. Insofern ist die Kunst ein geeigneter Gegenstand, um an ihm die Bedingtheit,
1441 Hentig 1969d, S. 94 1442 Ebenda 1443 Hentig 1966b 1444 Ebenda, S. 52 1445 Ebenda (Hervorhebung im Original) 1446 Vgl. bspw. Hentig 1967b, S. 200; Hentig o. J. [1966], S. 25; Hentig 1967a, S. 50 oder Hentig 1967c, S. 287 f. 1447 Hentig 1969c, S. 329 (Hervorhebung im Original)
Kunst als „Spielraum“: Das Prinzip „Befreiung“
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Variabilität und Gestaltbarkeit der Wahrnehmung, die Regeln ihrer Veränderung, die Folgen für die Ausdrucksformen, die Wirkungsgesetze zu studieren. […] Die allgemeine Ästhetik tritt so zugleich in den Dienst einer allgemeinen Wissenschaftspropädeutik, indem sie die Prinzipien der Kunst oder Kreativität erkennbar und übbar macht, auf die wir jenseits allen Kunstschaffens oder aller Kunstausübung angewiesen sind: Hypothese, Assoziation, Improvisation, Abstraktion, Individuation, Disposition, Symbolisierung, Entwurf, das Wagnis der Ergänzung und so fort.“ 1448
Hier, in dieser Lernzielformulierung, ist nun die gesamte, von Hentig in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre entwickelte Vorstellung einer „Befreiung“ durch Kunst in nuce zusammengefasst: Indem Hentig der Kunst das Potential zuspricht, die „sinnliche Primärwahrnehmung“ durch den Vorgang einer „Entdeckung von Möglichkeit“ methodisch in „Offenheit und Kreativität zu üben“, weist er ihr nicht allein eine wichtige Bedeutung für die individuelle und gesellschaftliche Befreiung des Menschen zu, er möchte sie auf diesem Weg zugleich – im Sinne einer intellektuellen Befreiung – als geeignetes Instrument zur Vorbereitung auf das abstrakte Denksystem der Wissenschaft verstanden wissen. Dieselben Prinzipien der „Improvisation“, der „Hypothese“ und des „Entwurfs“, die Hentig bereits in den Jahren zuvor immer wieder als konstitutiv für den „Spielraum“ der Kunst bezeichnet hatte, werden von ihm also nun insofern auch in den Dienst einer allgemeinen Wissenschaftspropädeutik gestellt, als dass sie dem Einzelnen die Gelegenheit bieten, sich im Umgang mit Werken der Kunst in eben derjenigen „Offenheit und Kreativität“ zu üben, die laut Hentig auch für den Vorgang des wissenschaftlichen Denkens und Handels unabdingbar ist.1449 Mit dieser dreifachen Bestimmung der Kunst als Instrument der individuellen, der gesellschaftlichen wie auch der intellektuellen Befreiung ist dabei zugleich der im Prinzip der vikarischen Erfahrung noch angelegte Gegensatz von Kunst und Wissenschaft, von Mythos und Logos, deutlich relativiert. Zwar wird das Zeichengeschehen der Kunst von Hentig auch weiterhin prinzipiell von demjenigen der Wissenschaft unterschieden, beide Systeme werden allerdings von ihm zugleich in den Dienst eines gemeinsamen Auftrags gestellt: demjenigen, „die kommende Generation in der Freiheit gegenüber den Ordnungen zu üben, die sie schon vorfindet – von denen sie zwar abhängt, auf die sie aber nicht festgelegt werden darf “ 1450. Gemäß der weiter oben bereits skizzierten Dialektik von Einübung in die jeweilige historische gesellschaftliche Existenz auf der einen und Befreiung von dieser Existenz durch die Entwicklung von Alternativen auf der anderen Seite dienen Kunst und Wissenschaft demnach also gleichermaßen dazu, die nächste Generation nicht nur „auf das Leben vorzubereiten, wie
1448 Ebenda, S. 329 f. (Hervorhebung im Original) 1449 Zur Bedeutung der genannten Prinzipien für das hentigsche Verständnis von Wissenschaft siehe Hentig 1982b, insbesondere S. 36 ff. 1450 Hentig 1964b, S. 16
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es ist“ 1451, sondern diese zugleich in Freiheit gegenüber den Determinationen ihrer jeweils gegebenen historischen gesellschaftlichen Existenz zu üben. Ganz in d iesem Sinne weist Hentig denn auch wiederholt darauf hin, dass er die Kunst nicht als „Ausgleich gegen die böse Intellektualisierung“ 1452 verstanden wissen wolle, sondern dass man seines Erachtens auf die Wissenschaft „am besten nach den Prinzipien der Kunst“ vorbereite und „auf die Kunst wiederum mit den Bescheidungen und der Strenge, der Askese der Wissenschaft“ 1453. An dem in dieser engen Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft deutlich werdenden Vertrauen in das wissenschaftspropädeutische Potential der Kunst hält Hentig schließlich auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nahezu unverändert fest. So übernimmt er die zitierte Zielbestimmung zum Unterrichtsfach „Kunst oder allgemeine Ästhetik“ nicht nur nahezu wortgleich in seinen 1971 veröffentlichten Funktionsplan des Bielefelder Oberstufen-Kollegs 1454 (und verteidigt sie noch 1987 in einem öffentlichen Briefwechsel mit Christoph Lüth 1455), er bekräftigt die darin enthaltene Ausrichtung des Kunstunterrichts zugleich noch einmal explizit, wenn er 1980 in seinem Band Die Krise des Abiturs und eine Alternative 1456 notiert: „Das Oberstufen-Kolleg hat sich vorgenommen, eine ‚allgemeine Wahrnehmungs- und Gestaltungslehre‘ zu entwickeln – ursprünglich mit dem Zusatz ‚an der Kunst‘. Dies sollte eine Schule, eine Übung und ein Leben in der aisthesis sein, was auf Griechisch ‚Wahrnehmung‘ heißt und die Verbindung zur Wissenschaft erkennen läßt. Es geht um eine sich aus den Regeln der Wissenschaft immer wieder herauslösende Form der freien, der assoziativen, schöpferischen Wahrnehmung, auf die auch die Wissenschaft angewiesen ist. Es geht zugleich um ein Prinzip im Umgang mit der Welt um ein Moment aller Erkenntnis.“ 1457
Dasselbe fortgesetzte Vertrauen setzt Hentig darüber hinaus auch in die Idee der individuellen Befreiung durch Kunst: in das „Befreiungspotential“ der Kunst also „gegenüber den rationalisierten Ordnungen und Verfestigungen“ 1458. Dies zeigt sich insbesondere in der Einleitung seines 1985 erschienenen Sammelbandes Ergötzen, Belehren, Befreien, wenn er dort zunächst notiert, dass, wer sich nicht „erlebend den 1451 1452 1453 1454
1455 1456 1457 1458
Hentig 1968b, S. 65 Hentig 1966b, S. 52 Hentig 1967b, S. 188 Vgl. Hentig 1971a, S. 50. (Im Unterschied zur 1969er Fassung trägt das betreffende Unterrichtsfach hier allerdings den Titel „Allgemeine Wahrnehmungs- und Gestaltungslehre – vornehmlich an der Kunst“ (Hentig 1971a, S. 50, Hervorhebung im Original).) Vgl. Hentig & Lüth 1987, S. 182. Vgl. Hentig 1980b Ebenda, S. 309 (Hervorhebung im Original) Hentig 1974a, S. 335
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großen ästhetischen Wirkungen (der Kunst)“ aussetze, nicht freikomme „aus den kleinlichen Abhängigkeiten, der selbstunbewußten Borniertheit“ 1459, und er sodann – unter Bezugnahme auf die im Titel seines Sammelbandes enthaltene Dreiteilung „Ergötzen, Belehren, Befreien“ – einige Seiten später resümiert: „Neben sinnlichem Genuß und Einsicht kann uns etwas zuteil werden, das dem Bewegungsgesetz der Kunst unmittelbar entspringt und das ich ‚Befreiung‘ nenne, nicht ‚Emanzipation‘, ‚Kreativität‘, ‚kritisches Bewußtsein‘, ‚alternative Lebensform‘. Die Freiheit, die ich meine, ist zugleich weniger politisch und politischer als diese alle, weil sie elementarer ist. Ohne Kunst, das heißt nicht nur ohne ein konjunktivisches Verhalten zur Welt, sondern ohne die listige Dialektik von Sinnlichkeit und Bewußtsein zu solchem Behuf, bin ich unfrei: zur Hinnahme der Wirklichkeit verurteilt, auf Bestätigung festgelegt, von der herrschenden Vorstellung von der herrschenden Notwendigkeit abhängig. Wir alle wären es unser Leben lang mit Ausnahme der frühen Kindheit, die sich der Abrichtung auf die Vernunft der anderen durch natürliche Noch-nicht-Vernunft entzieht. Die ‚Befreiung‘ durch Bach und Schubert, durch Äschylos und Dürer, den dorischen Tempel und die gotische Kathedrale – und durch Botho Strauss, Horst Janssen, Rainer Werner Fassbinder, Mauricio Kagel (ich deute nur an!) – ist eine unvermeidliche Metapher: Die gemeinte Wirkung läßt sich nicht verfügen, veranstalten, verbürgen.“ 1460
Während Hentig allerdings diese hier noch einmal in aller Deutlichkeit vorgetragene Hoffnung auf eine Befreiung des Einzelnen durch den Umgang mit Werken der bildenden Kunst, der Musik, des Theaters, der Architektur oder des Films auch in den folgenden Jahren immer wieder erneuert und aktualisiert 1461, beginnt seine Hoffnung auf eine gesellschaftliche Befreiung durch Kunst mit Beginn der 1980er Jahre doch mehr und mehr zu schwinden – und zwar parallel zu seiner im selben Zeitraum zunehmenden, weiter oben bereits ausführlicher dargestellten 1462, Geringschätzung insbesondere der zeitgenössischen (bildenden) Kunst. So notiert er bereits 1981 unter Bezugnahme auf die „scheinbar zum Prinzip erhobene Beliebigkeit“ 1463 aktueller Kunstwerke, diese hätten sich „soweit von dem entfernt, was in anderen Zeiten ‚Kunst‘“ geheißen habe, dass man zweifeln möge, „ob der g leiche Ausdruck für so Ungleiches Verständigung stiften“ könne 1464, und einige Jahre später (im Rahmen eines Vortrags an der Johns Hopkins University in Baltimore zum „zeitgenössischen deutschen Geist“) konstatiert er schließlich, die „Künste“ seien im Deutschland der 1980er Jahre mittlerweile „[e]ntbunden von der Rolle, die sie bei 1459 1460 1461 1462 1463 1464
Hentig 1985e, S. 20 Ebenda, S. 30 Vgl. bspw. Hentig o. J. [1987] oder Hentig 1992c, S. 71. Siehe oben, Kapitel 4.3. Hentig 1981b, S. 31 Ebenda, S. 33
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Ästhetik und Bildung
der Befreiung des menschlichen Geistes zu spielen hatten“, und suchten anstelle dessen „nach immer neuen Effekten“, wobei sie ihre „Mittel und Gelegenheiten rapide“ erschöpften 1465. Er ergänzt: „Ich meine noch einen anderen Grund für die Schwächung der Künste zu erkennen. Ein Teil ihrer Funktion – Erkundung von Möglichkeit – bestand darin, die Schranken der Gewohnheit, der Konvention, der Heuchelei zu durchbrechen. Ein Kunstwerk hatte oder usurpierte Authentizität; es beanspruchte, ein unmittelbarer und deshalb aufrichtiger Ausdruck dessen zu sein, was es darstellte. Die Künstler glaubten deshalb, sie hätten einen moralischen Auftrag, und diese Idee war Teil ihrer Identität. Aber bei der Aufdeckung von Wahrheit, der Demaskierung der Lüge, der Auflösung von Irrtum wird die Kunst heute mühelos durch Logik, durch Wissenschaft und die Didaktik der Journalisten übertroffen. […] Ein bestimmter Anlaß für künstlerische Erfindung ist vorbei oder in andere Tätigkeiten übergegangen. Aus d iesem Grund erwarte ich keine großen Wirkungen von den bildenden Künsten und der Musik. Die Literatur und der Film dagegen haben einen unerschöpflichen Stoff: den Menschen, seine individuellen und kollektiven Wandlungen. Da der Mensch immer am Menschen interessiert sein wird, da das Leben der Menschen immer neue Themen und Formen hervorbringen wird und da die Wissenschaften langsamer sind als die Intuition und die unmittelbare Erfahrung, werden Literatur und Film ihre beherrschende Rolle in der zeitgenössischen und künftigen Kultur bewahren.“ 1466
Diese Einschätzung, die Hentig sowohl 1993 in seinem Buch Die Schule neu denken 1467 als auch 1998 in seinem Essay-Band Kreativität. Hohe Erwartungen an eine schwachen Begriff 1468 in ähnlicher Stoßrichtung wiederholt 1469, macht dabei Folgendes deutlich: Einerseits vertraut Hentig zwar weiterhin auf die prinzipielle Möglichkeit einer Befreiung des Einzelnen im Umgang mit Werken der Kunst, andererseits aber sieht er diese Form der Befreiung insofern ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung beraubt, als dass die zeitgenössische Entwicklung sowohl der Künste selbst als auch ihrer außerästhetischen Konkurrenten zu einer politischen Marginalisierung insbesondere der bildenden Kunst geführt hätten. Indem also die zeitgenössische Kunstproduktion laut Hentig nicht mehr ihrem Auftrag nachzukommen vermag, im Spielraum der Kunst eine „Erkundung des Möglichen“ voranzutreiben, vergibt sie seines Erachtens zugleich ihr gesamtgesellschaftlich relevantes Potential, „die Schranken der Gewohnheit, der Konvention, der Heuchelei zu durchbrechen“ und so auf breiter Ebene für eine Befreiung der Menschen von den sie umgebenden Systemzwängen zu sorgen.
1465 1466 1467 1468 1469
Hentig 1990a, S. 70 Ebenda, S. 70 f. Vgl. Hentig 1993, S. 165 ff. sowie in erweiterter Fassung Hentig 1994a, S. 173 ff. Hentig 1998b Ganz ähnlich argumentiert Hentig darüber hinaus in Hentig 2000a.
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Der im selben Zusammenhang ergänzte Hinweis allerdings, Literatur und Film würden dessen ungeachtet „ihre beherrschende Rolle in der zeitgenössischen und künftigen Kultur“ 1470 auch weiterhin bewahren, bestätigt zugleich eine Tendenz, die sich bereits seit Ende der 1950er Jahre in Hentigs Arbeiten zum Thema abgezeichnet hatte. So weist er zwar wiederholt darauf hin, dass sowohl das Prinzip der Befreiung als auch dasjenige der vikarischen Erfahrung grundsätzlich im Umgang mit sämtlichen Kunstformen zur Anwendung kommen könne, die entsprechenden, von ihm über die Jahre verwendeten Beispiele jedoch zeigen, dass er die verschiedenen Künste (zumindest implizit) sehr wohl im Hinblick auf ihre jeweilige Nähe zu den genannten Prinzipien unterscheidet. Während er die bildenden Künste eher zur Exemplifizierung eines Vorgangs der individuellen wie gesellschaftlichen Befreiung verwendet, dienen ihm zur Verdeutlichung des Prinzips der vikarischen Erfahrung in erster Linie die Kunstformen der Literatur, des Theaters sowie des Films. Diese Tendenz scheint sich nun auch in dem zitierten Abschnitt des Vortrags an der Johns Hopkins University zu bestätigen: So spricht Hentig der zeitgenössischen Kunst zwar zunächst in ihrer Gesamtheit (also ohne grundsätzlich zwischen verschiedenen Kunstformen zu unterscheiden) die Fähigkeit ab, weiterhin „die Schranken der Gewohnheit, der Konvention, der Heuchelei zu durchbrechen“ 1471, die „beherrschende Rolle“ 1472 von Literatur und Film sieht er von dieser Entwicklung allerdings weitestgehend unberührt – und zwar aufgrund ihres „unerschöpflichen“ Stoffes in den „individuellen und kollektiven Wandlungen“ des Menschen 1473. Bezieht man diese Formulierung nun auf das weiter oben bereits ausführlich skizzierte Verständnis Hentigs der vikarischen Erfahrung als existentielle Erfahrung des Ernstfalls, im Rahmen dessen der Einzelne die Möglichkeit erhält, „Erfahrungen anderer in der Vorstellung mitzuvollziehen“ 1474, so wird deutlich, dass Hentigs Plädoyer für den „unerschöpflichen“ Stoff Mensch in Literatur und Film zugleich ein Plädoyer für das Prinzip der vikarischen Erfahrung ist. Mit anderen Worten: Selbst wenn die Übung des Durchbrechens von Gewohnheiten und Konventionen im „Spielraum“ der Kunst für Hentig an gesellschaftlicher Bedeutung zu verlieren scheint, so spielt die vikarische Erfahrung des „Ernstfalls“ im Umgang mit Werken der Literatur, des Theaters sowie des Films für ihn doch weiterhin eine entscheidende Rolle in der „zeitgenössischen und künftigen Kultur“ 1475. Eben diese Rollenzuweisung ist es auch, die eine Erklärung zu liefern vermag für die ab Mitte der 1980er Jahre zunehmende Konzentration Hentigs auf Fragen des Theaters, der Literatur sowie des Films 1476: auf solche Kunstformen also, die in erster 1470 Hentig 1990a, S. 71 1471 Ebenda 1472 Ebenda 1473 Ebenda 1474 Hentig 1973, S. 42 f. 1475 Hentig 1990a, S. 71 1476 Siehe hierzu genauer oben, Kapitel 4.3.
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Linie narrativ arbeiten und somit einen geeigneteren Ausgangspunkt zur Darstellung des Menschen und seiner „individuellen und kollektiven Wandlungen“ 1477 zu liefern vermögen als die bildende Kunst mit ihrem „freien und befreienden Experiment“ 1478. Die Kunstform der Musik hingegen, so ließe sich vor diesem Hintergrund sowie als Ausblick auf das folgende Unterkapitel noch ergänzen, thematisiert Hentig in der Regel weder im Zusammenhang mit Fragen der Befreiung des Menschen noch mit solchen der vikarischen Erfahrung, sondern zumeist im Zusammenhang mit einer dritten Dimension des Verhältnisses von Ästhetik und Bildung: mit der Ebene der ästhetischen Erfahrung als Glückserfahrung.
6.3 Ästhetische Erfahrung als Glückserfahrung „Es ist eine Überzeugung der amerikanischen Schule, daß sie den Kindern keine bessere Kraftreserve auf den harten Lebensweg mitgeben kann als einen Schatz glücklicher Erinnerungen – einen in ihnen ruhenden Fond des Selbstvertrauens: das Leben – auch mein Leben – kann schön sein!“ 1479 Wenn Hartmut von Hentig dies 1962 in seinem Band Wie hoch ist die höhere Schule? unter der Überschrift „Auch Glück ist eine notwendige Erfahrung“ 1480 notiert und die von ihm solchermaßen umrissene „Überzeugung der amerikanischen Schule“ sodann mit einer autobiographischen Reminiszenz an seine eigene Schulzeit im Kalifornien der 1930er Jahre illustriert 1481, so sind damit bereits mehrere Kernpunkte seiner in den folgenden Jahren und Jahrzehnten entfalteten Überlegungen zum Verhältnis von Pädagogik, Glück und Ästhetik vorweggenommen. So hebt Hentig, wie im Folgenden noch genauer zu zeigen sein wird, auch im weiteren Verlauf seiner Publikationstätigkeit erstens immer wieder die Notwendigkeit hervor, aus pädagogischer Perspektive die Ebene des Glücks, des gelingenden und glücklichen Lebens, in den Blick zu nehmen, zweitens setzt er die Frage nach einem solchermaßen gelingenden Leben wiederholt in Bezug zur Kategorie des Schönen, und drittens ist ein Großteil seiner diesbezüglichen Überlegungen und Kommentare stark autobiographisch geprägt. Auch wenn Hentig auf d iesem Wege allerdings bereits zu Beginn seiner Publikationstätigkeit auf die seines Erachtens „notwendige Erfahrung“ des Glücks beim Aufwachsen des Menschen hinweist, findet sich eine erste ausführlichere Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Glück und Pädagogik erst in 1477 Hentig 1990a, S. 71 1478 Hentig 1967a, S. 46 1479 Hentig 1962, S. 12 1480 Ebenda 1481 Vgl. Hentig 1962, S. 12 f. Zum hier relevant werdenden Konzept des „pursuit of happiness“ und der damit verbundenen „US -amerikanischen Tradition der Diskussion um die Erziehung zum Glück“ siehe genauer Baader 2014, S. 19.
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seinem 1969 im Merkur erschienenen Aufsatz „Freizeit als Befreiungszeit“ 1482. Hier konstatiert Hentig zunächst in allgemeiner Perspektive, es gäbe, obwohl das Glück im Prinzip „für jeden anders“ sei, dennoch „zwei Bedingungen des Glücks“, die „für alle Menschen gleich“ s eien 1483: nämlich „erstens die Abwesenheit von Not, das heißt von Zwang, Angst, Schmerz, Demütigung, Hunger; und zweitens, daß wir lernen müssen, es selbst wahrzunehmen“ 1484. Anknüpfend an diesen Hinweis darauf, dass die Wahrnehmung von Glück nicht zuletzt auch eine Sache des „Lernens“ sei, ergänzt er sodann mit Blick auf die diesbezügliche Verantwortlichkeit der Pädagogik: „Die Fülle des Glücks, die unter dem Stumpfsinn, der Entmutigung, der Ahnungslosigkeit, Pflichtbesessenheit, dem Prestigebedürfnis und sogenannter Bildung – der Fülle freiwillig eingeräumter Fremdbestimmung begraben liegt, ist sicher noch größer als die, die durch äußere Drangsal verhindert wird. Kinder in der Wahrnehmung oder Annahme ihres eigenen, sehr anderen und gar nicht immer großen Glückes zu bestärken, ist eine nicht weniger wichtige Aufgabe, als sie zum Kampf gegen die Ungerechtigkeit, die Gewalt, den Mangel – die großen Verhinderer – zu rüsten.“ 1485
Mit dieser Forderung nach einer Erziehung zur „Wahrnehmung oder Annahme“ des eigenen Glücks greift Hentig ein Thema auf, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Aufsatzes gerade ohnehin eine deutliche Konjunktur in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Fragen der Bildung und Erziehung zu erfahren beginnt. So wird – wie Meike Sophia Baader jüngst gezeigt hat 1486 – insbesondere im „Umfeld der sogenannten antiautoritären Erziehungsbewegung um 1968 und in den 1970er Jahren“ 1487 die spätestens seit Rousseaus Emile geführte Diskussion über den grundsätzlichen „Zusammenhang von Pädagogik und Glück“ 1488 insofern „radikalisiert“, als dass es nun weniger darum geht, wie die Erwachsenen dafür sorgen könnten, „dass Kinder glücklich sind oder eine glückliche Kindheit haben“, sondern vielmehr darum, es als Aufgabe der Erwachsenen zu begreifen, „die Kinder dazu zu befähigen, ihr Glück selbst herzustellen“ 1489: „Erziehung soll die Kinder [nun] dazu ermächtigen, glücklich zu werden und zum Akteur des eigenen Glücks zu werden. Die Selbstermächtigung ihrer Kinder zum Glück ist dabei sowohl Teil einer Auseinandersetzung der Akteure und Akteurinnen von 1968 mit der
1482 Hentig 1969b 1483 Ebenda, S. 726 1484 Ebenda 1485 Ebenda 1486 Vgl. Baader 2008b, insbesondere S. 162 f. sowie Baader 2014. 1487 Baader 2014, S. 16 1488 Ebenda, S. 15 1489 Ebenda, S. 16
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Ästhetik und Bildung
Erziehung ihrer Eltern als auch mit dem orthodoxen Marxismus sowie mit den eigenen Lebensformen und den Erwartungen an die eigene Lebensführung. Die Forderung, glücklich zu sein und die Kinder so zu erziehen, dass sie zu Akteuren des eigenen Glücks werden, ist Moment einer neuen Subjektivierungsform.“ 1490
Doch Hentigs 1969 vorgetragenes Plädoyer für eine Erziehung zur „Wahrnehmung oder Annahme“ 1491 des eigenen Glücks steht nicht nur im Hinblick auf den Zeitpunkt seiner damaligen Veröffentlichung ganz in der Tradition der „1968er“ und deren Bemühungen um eine „Erziehung zur Glücksfähigkeit“ 1492: parallel zum „Scheitern“ 1493 der antiautoritären Erziehungsbewegung gegen Ende der 1970er Jahre nimmt vielmehr auch das Interesse Hentigs an einer expliziten Thematisierung des grundsätzlichen Verhältnisses von Glück und Erziehung zunehmend ab. So weist er zwar insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er Jahre noch einige Male dezidiert auf die Notwendigkeit hin, Kinder und Jugendliche „erfahren zu lassen […], dass sich Glück nicht einfach ereignet, ohne daß wir es wollen, erkennen, ergreifen, verteidigen, pflegen, es ebenso geduldig im Kleinen aufsuchen wie anspruchsvoll im Großen erstreben“ 1494; in den folgenden Jahren und Jahrzehnten allerdings nimmt die Dimension des Glücks eine eher randständige Rolle in seinen Publikationen zu Fragen der Bildung und Erziehung ein 1495. Erst 1996 – und damit zu Beginn einer neuerlichen, zunächst auf den Bereich der praktischen Philosophie konzentrierten Konjunktur der Auseinandersetzung mit Fragen nach dem grundsätzlichen Zusammenhang von Glück und Ethik 1496 – wendet sich Hentig der skizzierten Thematik wieder ausführlicher zu, wenn er die „Wahrnehmung von Glück“ 1497 in seiner Monographie Bildung. Ein Essay als einen von sechs möglichen Maßstäben für die Bildung des Menschen bezeichnet und diese Wahl wie folgt begründet: „Hat der Vorgang, den wir Bildung nennen wollen, einem Menschen keinen Grund, keinen Anlaß, keine Fähigkeit zur Freude gegeben, war er verfehlt. […] Wo gar kein Glück aufkommt, war keine oder die falsche Bildung […]. Bildung soll Glücksmöglichkeiten eröffnen, Glücksempfänglichkeit, eine Verantwortung für das eigene Glück. Der pursuit of happiness ist weder selbstverständlich noch ohne Schwierigkeit, zumal in einer Welt,
1490 Ebenda 1491 Hentig 1969b, S. 726 1492 Baader 2014, S. 18 1493 Siehe hierzu genauer Herrmann & Baader 2011, S. 12. 1494 Hentig 1971c, S. 13. Ganz ähnlich auch in Hentig 1969d, S. 9; Hentig 1975b, S. 14 und Hentig et al. 1976, S. 543. 1495 Vgl. bspw. Hentig 1980a, S. 327; Hentig 1982a, S. 68; Hentig 1985a, S. 19 oder Hentig 1992b, S. 112. 1496 Vgl. bspw. Schmid 1998, Schummer 1998 oder Seel 1999. 1497 Hentig 1996a, S. 78
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die das Glück als Ware oder als Produkt einer, wiederum käuflichen, Fertigkeit anpreist. Bildung hat da viel zu leisten: die Empfindsamkeit anzuregen, den Anspruch zu wecken und zu steigern, die Versprechungen und den Einsatz zu prüfen, den Eitelkeiten das Wasser abzugraben, Unterhaltung von Vergnügen, Vergnügen von Genuß, Genuß von Befriedigung und diese von Glück unterscheiden zu lehren, zunächst an kleinen Aufgaben erfahren zu lassen, w elche Lust es bereitet, seine Sache zu meistern und anderen nützlich zu sein … Das Kriterium ‚Glück‘ ist – das kann man hieran sehen – konstitutiv für fast alles, was wir tun, indem wir es entweder gut tun können oder schlecht, mit hoher Aspiration oder schwächlicher, mit einem umfassenden Motiv oder nur mit dem des kleinen Vorteils, der ja auch angenehm ist, aber nicht glücklich macht.“ 1498
Folgt man dieser Argumentation Hentigs, wäre demnach also zwar nicht die Herstellung von Glück Aufgabe der Pädagogik – und demnach ein gebildeter Mensch auch nicht automatisch ein durchgängig glücklicher Mensch –, wohl aber die Befähigung des Einzelnen zur differenzierten Wahrnehmung und Verfeinerung des eigenen Glücksempfindens. Eine jede Bemühung um die Bildung des Menschen hätte laut Hentig also zugleich darauf abzuzielen, den Einzelnen darin zu üben, sich des eigenen Glücksempfindens bewusst zu werden und vor dem Hintergrund eines solchen Wissens sodann selbstverantwortlich nach einem glücklichen Leben zu streben. Wie hoch in diesem Zusammenhang allerdings zugleich der Stellenwert ist, den Hentig dem Bereich des Schönen – und dabei insbesondere demjenigen der schönen Künste – zugewiesen wissen möchte, dies zeigt sich bereits einige Seiten später, wenn er – als Entgegnung auf die These, es sei gerade die „Dummheit“ 1499, die zu einem glücklichen Leben führe – konstatiert: „Unbeschwerter mag das Leben derer wohl sein, die von sich und vom Tag und vom Leben nichts Großes mehr erwarten, aber auch leerer. Was ist das fünfte und sechste Bier gegen den fünften und sechsten Gesang der Odyssee!?“ 1500 Diesem Verweis auf das mögliche Glück im Umgang mit den großen Werken der Literatur entsprechend, hebt Hentig über den gesamten Verlauf seiner Publikationstätigkeit denn auch immer wieder – unter regelmäßiger Bezugnahme gerade auch auf seine eigene ästhetische Erfahrung – die zentrale Rolle der Künste für den Vorgang der menschlichen Glückserfahrung hervor. So konstatiert er 1981, er könne sich eine ästhetische Erziehung „ohne Umgang mit Kunstwerken“ nicht vorstellen, gerade wenn er sagen und zeigen wolle, was ihm in seinem Leben „die größten Erschütterungen und die größten Beglückungen bereitet“ hätte 1501; 1983 resümiert er, „[n]eben der Liebe“ löse die Musik bei ihm „das größte Glücksempfinden und die tiefste Erschütterung“ aus 1502, und 1999 notiert er bezogen auf das ihm widerfahrene Glück beim Lesen von 1498 1499 1500 1501 1502
Ebenda, S. 79 (Hervorhebung im Original) Ebenda, S. 81 Ebenda, S. 82 (Hervorhebung im Original) Hentig 1981b, S. 34 Hentig 1983a, S. 87
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Gedichten, dieses lasse „sich nicht mehr wegdenken“ und sei mittlerweile „ein Teil“ von ihm geworden 1503. In ähnlicher Weise ist in seinen Arbeiten auch die Rede vom „schier totale[n] Theaterglück“ einer Gruppe von „vierhundert Sechs- bis Achtjährigen“ beim Besuch des Berliner GRIPS -Theaters 1504, vom potentiellen „Leseglück“ 1505, das die Literatur für einen jeden von uns bereithalte, oder vom selbst erlebten „Schauglück“ 1506 beim Betrachten eines Puppentheaterstückes.1507 Angesichts dieser engen Verknüpfung von Glückserfahrung und ästhetischer Erfahrung im Modus des „Ergötzens“ 1508 – so das von Hentig in diesem Zusammenhang immer wieder verwendete, nach eigenem Bekunden „altväterliche“ 1509 Wort – kann es schließlich kaum verwundern, dass Hentig die Vorstellung, der Einzelne müsse in der Wahrnehmung und Verfeinerung seines individuellen Glücksempfindens geübt werden, auch in seinen Überlegungen zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung immer wieder aufgreift. So plädiert er 1967 etwa für eine Ausbildung des Menschen in der „Redlichkeit auch in bezug [sic!] auf die sinnliche Wahrnehmung“, die darin zu bestehen habe, dass man sich Rechenschaft über das gebe, „was man schön findet, und erst recht über die Gründe, aus denen man anderes stattdessen ablehnt“ 1510. Er ergänzt: „Als Kind fand ich Postkarten mit Glitzerschnee schön und ebenso die dramatisch- realistischen Illustrationen meiner Lederstrumpf-Ausgabe, ja sogar die pseudoheroischen Plastiken von Breker. Ich hatte ein Bedürfnis nach Gefühligkeit und, in einem bestimmten Alter, nach Pathos und – ich hatte ein pädagogisch begründbares Recht, es zu befriedigen. ‚Erziehung zum guten Geschmack‘ kann nichts Falscheres tun, als Kindern ihre wirklichen 1503 1504 1505 1506 1507
Hentig 1999d, S. 12 Hentig 2003c, S. 71 Hentig 2005c, S. 136 Hentig 1988b, S. 12 Wie die von Hentig gemeinte Form der ästhetischen Glückserfahrung dabei aus Innensicht des jeweils Wahrnehmenden detaillierter beschrieben werden könnte, dies zeigt Hentig 2004 in einem Beitrag über das musikalische Werk Franz Schuberts, wenn er unter Bezugnahme auf eine von ihm, Hentig, zu Beginn der 1980er Jahre getätigte Aussage, wonach das „vollkommene irdische Glück“ für ihn in der Musik liege (vgl. Hentig 1983a, S. 318), notiert: „Da [in der Klaviersonate B-Dur opus postumum von Schubert] stellt sich eine Übereinstimmung von Musik, Text und ausgelöstem Gefühl ein, dass ich in der Tat nicht anders zu denken und zu wollen vermag, als dass dies sei. Nicht, dass es andauere, das widerspräche der Musik, die ein Vorgang, ein Wandel in der Zeit ist. Auch nicht, dass es mir gehöre – es ist ja schon meins. Schon gar nicht, dass es wiederkehre – es ist ja ganz und gar einmal, ist nur in diesem Augenblick. Dies – ich hoffe, Sie können es jetzt verstehen – hatte ich bei meiner Antwort im Sinn.“ (Hentig 2004a, S. 174 (Hervorhebung im Original)) 1508 Vgl. bspw. Hentig 1985e, S. 30; Hentig 2000c, S. 501; Hentig 2003c, S. 71 oder Hentig 2007c. 1509 Hentig 2000c, S. 501 1510 Hentig 1967c, S. 300
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Empfindungen auszureden. Sie werden diese Empfindungen nur verdrängen und sie später um so unsinniger hervorbrechen lassen. Die Terrorherrschaft des guten Geschmacks ist um nichts besser als die des schlechten: eben weil sie Terror ist. Um etwas anderes geht es, wenn ich heute, als Erwachsener – mit der und der Lebenserfahrung –, noch immer an Hummelfiguren, Mecki-Postkarten und Herz-Jesu-Darstellungen hinge und schon gar an dem heroischen Aufwand der NS-Kunst: Dann wäre ich unaufrichtig mit meiner Erfahrung – oder ich hätte mir bestimmte Erfahrungen erspart. Beides wäre gleich schlimm.“ 1511
Wenn man deshalb überhaupt von einer „Erziehung zum guten Geschmack“ reden wolle, so Hentig weiter, müsse es dabei um eine „Erziehung zur Selbsterkenntnis“ gehen: um eine Erziehung zur „dauernden Registrierung der eigenen Festlegungen, zur dauernden Selbstbefreiung“.1512 Diese Überzeugung von der Notwendigkeit einer „Erziehung zur Selbsterkenntnis“ bezogen auch auf das eigene Schönheitsempfinden verknüpft Hentig in den folgenden Jahren und Jahrzehnten – ähnlich wie sein ehemaliger Assistent Diethard Kerbs mit seinem 1970 erstmals vorgetragenen Plädoyer für die Berücksichtigung auch einer „hedonistischen Funktion“ der ästhetischen Erziehung 1513 – schließlich wiederholt mit der Forderung, Kinder und Jugendliche über den Weg einer solchermaßen herbeizuführenden „Erfahrung von der eigenen Anfälligkeit für Schönheit“ 1514 zugleich in der Kultivierung und Erhöhung ihres je eigenen „sinnliche[n] Genuss[es]“ zu üben 1515. Dies müsse, wie er 1969 anmerkt, sowohl im Umgang mit Werken der Kunst als auch mit Hilfe des unter anderem von den Massenmedien bereitgestellten „Konsumangebots“ 1516 geschehen. So resümiert er 1978 im Rahmen eines Interviews mit der Zeitschrift für Musikpädagogik (angesprochen auf die Frage, ob Kunst und Musik denn überhaupt einen Platz in der Schule finden könnten), es sei zwar keineswegs wünschenswert, in der Schule „eine gemeinsame Form des Genießens zu lehren“ 1517, wohl aber könne die Schule „dafür sorgen, daß die Kinder Genuß und Glück selbst suchen, selbst finden, selbst verantworten“ 1518. Weil die Schule mittlerweile eine „sehr totale Einrichtung“ 1519 geworden sei, scheine sie ihm, Hentig, zu einer solchen Form der Glückserziehung sogar geradezu „verpflichtet“ 1520.
1511 Ebenda, S. 300 f. (Hervorhebung im Original) 1512 Hentig 1967c, S. 301 1513 Vgl. Kerbs 1970, S. 566 ff. sowie im Rückblick Kerbs 2011, S. 159. (Zu den hier relevant werdenden „Funktionen“ ästhetischer Erziehung nach Kerbs siehe darüber hinaus oben, S. 86 f.) 1514 Hentig 1969d, S. 95 1515 Vgl. ebenda. 1516 Ebenda, S. 100 1517 Hentig et al. 1978, S. 7 (Hervorhebung im Original) 1518 Ebenda 1519 Ebenda 1520 Ebenda
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Ästhetik und Bildung
Ganz in diesem Sinne entwickelt Hentig denn auch einige Jahre später gemeinsam mit Annemarie von der Groeben ein „Spiralcurriculum ‚Deutsch‘“ 1521 für die Bielefelder Laborschule, in dessen Konzeption eines von mehreren „Funktionszielen“ explizit dem Vorgang des „Genießens“ von Literatur gewidmet ist 1522, und unter Bezugnahme auf den Anspruch des benachbarten Oberstufen-Kollegs zur Umsetzung eines Konzepts der „Allgemeine[n] Bildung als Mittel der notwendigen Verständigung“ 1523 notiert er 1980: „Es ist nicht schlimm, wenn Jugendliche in einer zehnten oder elften Klasse kein Gedicht von Goethe auch nur nennen können – aber es ist schlimm, wenn sie das Glück nicht erfahren haben, das ein Gedicht bereiten kann, und es ist schlimm, wenn sie die Gemeinsamkeit ihrer Kultur bis dahin offenbar in etwas ganz anderem haben suchen müssen: bei der Nationalelf oder bei Heino oder bei Derrick oder in der ‚Bunten‘.“ 1524
Setzt man diese Überlegungen und Kommentare Hentigs zur pädagogischen Bedeutsamkeit des Genießens von Kunst und Schönheit – die er so auch im weiteren Verlauf seiner Publikationstätigkeit immer wieder aufgreift und aktualisiert 1525 – nun in Bezug zu seinen zuvor skizzierten allgemeinen Überlegungen zum Thema, so lässt sich resümieren, dass im Sinne Hentigs die Aufgabe der Pädagogik in Sachen „Ästhetik und Glück“ in erster Linie darin zu bestehen hätte, Kinder und Jugendliche über den Weg einer Erziehung zur ästhetischen Glücksfähigkeit darin zu unterstützen, das eigene Glücksempfinden im Umgang mit dem Ästhetischen zu erkunden und zu sensibilisieren und sie auf diesem Wege zugleich zu befähigen, im weiteren Verlauf ihres Lebens selbstverantwortlich ihr Glück im Umgang mit dem Ästhetischen zu suchen. Insofern gilt, um Hentigs oben bereits zitierte 1526 1996er Formulierungen zur allgemeinen Wahrnehmung von Glück zu paraphrasieren: Hat der Vorgang, den wir ästhetische Bildung nennen wollen, einem Menschen keinen Grund, keinen Anlass, keine Fähigkeit zur Freude im Umgang mit dem Ästhetischen gegeben, war er verfehlt. Wo gar kein Glück im Umgang mit dem Ästhetischen aufkommt, war keine oder die falsche ästhetische Bildung. Zwar gilt dieser Bildungszusammenhang dabei laut Hentig im Prinzip für sämtliche Formen der ästhetischen Erfahrung, die zitierten Beispiele allerdings zeigen zugleich deutlich, dass Hentig – entsprechend seiner oben bereits ausführlich dargestellten
1521 1522 1523 1524 1525
Hentig & Groeben 1983 Vgl. ebenda, S. 24 ff. Hentig 1980b, S. 107 Ebenda, S. 114 Vgl. bspw. Hentig 1985e, S. 25 und S. 399; Hentig 1986a, S. 72; Hentig 1994b, S. 353 oder Hentig 2000c, S. 501. 1526 Siehe oben, S. 260.
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Präferenz für „Kunstwerke von Rang“ 1527 – die Möglichkeit einer glückvollen Erfahrung im Modus des Ästhetischen eher dem „fünften und sechsten Gesang der Odyssee“ 1528 oder der „Klaviersonate B-Dur opus postumum von Schubert“ 1529 zugewiesen wissen möchte als „Heino“ 1530, „Derrick“ 1531, „Postkarten mit Glitzerschnee“ 1532 oder den „dramatisch-realistischen Illustrationen“ 1533 einer Lederstrumpf-Ausgabe. Ja, laut Hentig wäre es sogar die explizite Aufgabe der Pädagogik, das Glücksempfinden des Einzelnen so zu „steigern“ 1534 und zu „erhöhen“ 1535, dass er wegkommt von „Hummelfiguren, Mecki-Postkarten und Herz-Jesu-Darstellungen“ 1536 und hingelangt zur Erfahrung eines glückvollen Umgangs mit den Werken der „‚große[n], ernste[n], ewige[n] Kunst‘“ 1537. Die genannten Gegenstände der Populären Kultur und Alltagskultur thematisiert Hentig aus diesem Grund denn auch vornehmlich im Rahmen einer weiteren – der hier vorgenommenen Zählung nach: der vierten – Dimension des Verhältnisses von Ästhetik und Bildung: derjenigen der Ästhetischen Mündigkeit.
6.4 Ästhetische Mündigkeit Obwohl Hartmut von Hentig das Ästhetische – wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt – als wichtige Quelle möglicher Glückserfahrungen verstanden wissen möchte, verknüpft er die ästhetische Erfahrung des Menschen doch zugleich wiederholt mit derjenigen einer spezifischen „Macht der Schönheit“, die dem Einzelnen nicht nur Glück, sondern auch „Qualen“ und „Schmerz“ zuzufügen vermag. So dient für Hentig, wie weiter oben bereits ausführlich dargestellt, insbesondere das Beispiel des „schönen Menschen“ 1538 zur Verdeutlichung dessen, dass Schönheit „Macht“ 1539 sei, und zwar eine „um so mächtigere Macht, als sie ohne Willen“ wirke 1540, weshalb der Einzelne, wolle er nicht gequält und verletzt werden, einen besonderen „Schutz“ gegen diese Macht zu errichten habe.1541 1527 Hentig 1981b, S. 34. Siehe hierzu ausführlicher oben, S. 181 ff. 1528 Hentig 1996a, S. 82 (Hervorhebung im Original) 1529 Hentig 2004a, S. 173 1530 Hentig 1980b, S. 114 1531 Ebenda 1532 Hentig 1967c, S. 301 1533 Ebenda 1534 Hentig 1996a, S. 79 1535 Hentig 1969d, S. 95 1536 Hentig 1967c, S. 301 1537 Ebenda, S. 299 1538 Hentig 1965b, S. 5 1539 Ebenda 1540 Ebenda 1541 Siehe hierzu oben, Kapitel 5.2.
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Vor d iesem Hintergrund kann es schließlich kaum verwundern, dass Hentig dem Umgang mit jener Macht der Schönheit eine zentrale Bedeutung auch in seinen Überlegungen zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung einräumt. So resümiert er bereits 1965 in „Die Wirkungen des Schönen“ (in jenem Vortrag also, in dem er auch seine Überlegungen zur „Schönheit als Macht“ 1542 erstmals systematisch entfaltet), der Pädagoge, der seine Schüler dazu erziehe, „mündig vor der politischen Macht [zu] bestehen“, dürfe „von dieser Macht [der Schönheit] nicht absehen“, der könne „auf die Hoffnung nicht verzichten 1543, auch hierin zu helfen – Schönheit zu verstehen, zu ertragen, zu genießen, sich mit ihr zu rüsten“ 1544 –, und er ergänzt: „Der mündige Mensch wird das Schöne weder domestizieren noch dämonisieren, es ist ihm weder Ästhetik noch ein Gott, ein ‚Ereignis‘ (Gerhard Neben), dem man sich auf Gnade und Ungnade unterwirft. Es mag sein, daß man ihm wirklich nur stattgeben kann, daß man es ‚passiv‘ (und das heißt ‚leidend‘) hinnehmen muß. Aber dann gehört zur Mündigkeit, daß man weiß, warum.“ 1545
Diese Überzeugung von der Notwendigkeit, den Einzelnen in Mündigkeit gegenüber der Macht der Schönheit zu üben, nimmt Hentig in den darauffolgenden Jahren nicht nur zum Anlass, das Problem der „ästhetischen Mündigkeit“ 1546 als potentiellen Lehrinhalt im Pädagogikstudium der neu gegründeten Universität Bielefeld zu thematisieren, er stellt den auf diese Weise benannten Zusammenhang von Mündig keit und Ästhetik zugleich in den Mittelpunkt seines 1969 erstmals erschienenen Textabschnittes zum „Leben mit der Aisthesis“. Dort notiert er zunächst, es gehöre „zur Selbstbestimmung der Menschen, daß sie nicht nur darüber Rechenschaft geben und fordern, warum und wofür und wie etwas gemacht ist, sondern vor allem auch darüber, wie es über seine Funktion hinaus wirkt“ 1547, und er ergänzt: „Heute […] erkennt man allmählich, daß der Mensch einer ästhetischen Erziehung und das heißt einer systematischen Ausbildung seiner Wahrnehmungsmöglichkeiten, des Wahrnehmungsgenusses und der Wahrnehmungskritik gerade deshalb bedarf, weil potentiell alles künstlerisch gestaltet oder mißgestaltet sein kann, die rationalisierte Welt also insgesamt an den Wirkungen beteiligt ist, die man den Kunstwerken im Guten wie im Schlechten vorbehalten hatte. Eine ästhetische Erziehung bestünde folglich vor allem darin, den Menschen von klein auf die Gestaltbarkeit der Welt erfahren zu lassen, ihn anzuhalten, mit der Mächtigkeit der ästhetischen Wirkungen zu experimentieren und 1542 Hentig 1965b, S. 5 1543 Ebenda (Hervorhebung im Original) 1544 Ebenda 1545 Ebenda 1546 Hentig 1967e, S. 73 1547 Hentig 1969d, S. 94 (Hervorhebung im Original)
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die unendliche Variation nicht nur der Ausdrucksmöglichkeiten, sondern gerade auch der Aufnahme- und Genußmöglichkeiten zu erkennen.“ 1548
Die „Mächtigkeit der ästhetischen Wirkungen“ dient Hentig hier also als Anlass, neben einer Ausbildung der Wahrnehmungsmöglichkeiten (im Sinne einer Befreiung durch Kunst) und des Wahrnehmungsgenusses (im Sinne einer Übung in der Wahrnehmung und Verfeinerung des eigenen Glücksempfindens im Umgang mit dem Ästhetischen) zugleich eine systematische Ausbildung der menschlichen Wahrnehmungskritik zu fordern – eine Übung des Einzelnen also im mündigen, selbstbestimmten Umgang mit der skizzierten „Mächtigkeit der ästhetischen Wirkungen“. Hentigs Vorstellung von einer Erziehung zur „ästhetischen Mündigkeit“ ist insofern unmittelbar an seine bereits skizzierte allgemeine Theorie des Ästhetischen geknüpft: Gerade also weil sich der Vorgang der ästhetischen Erfahrung laut Hentig im Umgang sowohl mit Kunst als auch mit anderen Formen der ästhetischen Gestaltung der Welt vornehmlich im Modus der Passivität, des Erleidens, des „συμπἁσχειν“ 1549 [sympaschein] vollzieht 1550, muss die „Erfahrung von der eigenen Anfälligkeit für Schönheit“ 1551 seines Erachtens nicht nur „ermutigt“ 1552, sondern immer auch „geschützt“ 1553 werden. Wenn nämlich, wie Hentig es formuliert, „potentiell alles künstlerisch gestaltet oder mißgestaltet sein kann“ und die rationalisierte Welt „insgesamt an den Wirkungen beteiligt ist, die man den Kunstwerken im Guten wie im Schlechten vorbehalten hatte“ 1554, dann bedarf die Kunst – und mit ihr die „Mode“, die „Reklame“ und die „politische Symbolik“ 1555 – aus pädagogischer Perspektive nicht allein der „praktischen Betätigung“, sondern zugleich der „theoretischen Analyse und Reflektion“ 1556. Die „Wirkungen des Schönen“ müssten in diesem Sinne also laut Hentig nicht nur bezogen auf ihr etwaiges Potential als Bildungsmittel des Menschen betrachtet werden, sondern immer auch als Anlass zur Übung des Einzelnen in Mündigkeit gegenüber der damit verbundenen Macht der Schönheit. Eine Erziehung zur „ästhetischen Mündigkeit“ bestünde insofern in der Befähigung des Einzelnen sowohl zur kritischen Analyse und Reflektion der eigenen „Anfälligkeit für Schönheit“ 1557 als auch zum selbstbestimmten Umgang mit der allgegenwärtigen „Mächtigkeit der ästhetischen Wirkungen“ 1558.
1548 Ebenda 1549 Hentig 1959a, S. 46 1550 Siehe hierzu genauer oben, Kapitel 5.1. 1551 Hentig 1969d, S. 95 1552 Ebenda 1553 Ebenda 1554 Ebenda, S. 94 1555 Ebenda, S. 93 1556 Ebenda, S. 95 1557 Ebenda 1558 Ebenda, S. 94
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An dieser in den Jahren 1965 bis 1969 erstmalig formulierten Überzeugung von der Notwendigkeit einer Übung des Einzelnen in Mündigkeit gegenüber der Macht des Ästhetischen hält Hentig schließlich auch in den folgenden Jahren weitestgehend fest – und das obwohl er sich im selben Zeitraum immer wieder öffentlichkeitswirksam von den unter anderem durch seine Äußerungen zum Thema stark beeinflussten Bewegungen der Visuellen Kommunikation und Auditiven Wahrnehmungserziehung abzugrenzen versucht 1559, von solchen pädagogischen Strömungen also, die die Bemühung um eine systematische Kritik des menschlichen Wahrnehmungsvorgangs in den Mittelpunkt des Kunst- und Musikunterrichts gestellt wissen möchten. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn Hentig 1974 in seinem Aufsatz „Kunst als Ärgernis“ zwar zunächst die Tendenz der aktuellen Kunstpädagogik kritisiert, die künstlerische Tätigkeit „durch eine Schulung des Wahrnehmens, Gestaltens und Kommunizierens“ 1560 zu ersetzen, sodann allerdings resümierend hinzufügt, dass wir „in einer Epoche, die man das ‚optische Zeitalter‘ genannt hat“, sehr wohl „eine Hilfe bei der Ausbildung der eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten, von Kritik und Verarbeitung nicht nur des Wahrgenommenen, sondern auch des Wahrnehmungsprozesses“ bräuchten 1561. Erforderlich sei „also ein Fach, das von mir aus ‚Visuelle Kommunikation‘ heißen mag“ 1562 – nur dürfe diese Form der Wahrnehmungsübung eben nicht den anderweitigen, auf die Bildung des Menschen ausgerichteten Umgang mit Kunstwerken vollständig verdrängen. Ganz in d iesem Sinne bekräftigt Hentig dann auch im weiteren Verlauf seiner Publikationstätigkeit immer wieder die skizzierte Notwendigkeit einer Übung des Einzelnen in kritischer Mündigkeit gegenüber der Macht des Ästhetischen: So etwa wenn er 1981 auf die „Dringlichkeit“ hinweist, junge Menschen auf die „psychosozialen Folgen unserer ästhetisch überreizten Kultur“ vorzubereiten, sie „ästhetisch mündig zu machen, wie wir sie intellektuell und moralisch mündig zu machen suchen“ 1563, oder wenn er einige Jahre später in einem Arbeitspapier zu den „Grenzen der ästhetischen Erziehung“ 1564 notiert, Gestaltung könne „befriedigen, aufreizen, verwöhnen, beschwichtigen, banalisieren, ablenken, verführen und vieles mehr“, was man entweder „fürchten“ müsse oder „fördern“ könne, „dessen man sich aber bewußt sein sollte, wenn man den Wirkungen gegenüber mündig bleiben“ wolle 1565. Die sich hieraus ergebende Forderung Hentigs, „daß der bewußte, kritische und genießende Umgang mit den Formen unserer Gegenstandswelt nicht weniger Ernst, Aufmerksamkeit und öffentliche Förderung“ erfahren dürfe „als der Umgang mit anderen Bereichen unseres 1559 Siehe oben, Kapitel 4.2. 1560 Hentig 1974a, S. 328 1561 Ebenda, S. 336 1562 Ebenda 1563 Hentig 1981b, S. 31 1564 Hentig 1985e, S. 399 1565 Ebenda
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Lebens“ 1566, findet sich schließlich auch in seinem 1996er Band Bildung. Ein Essay wieder, wenn es dort – im Anschluss an den weiter oben bereits zitierten 1567 Hinweis darauf, dass das „Bildungsmittel ‚Geschichten‘“ 1568 alles an „geistiger Nahrung“ 1569 enthalte, was der Mensch brauche – heißt: „Daß wir in der Lage sein müssen, diese Nahrung zu kritisieren, zu bewerten, und, wenn geboten, von uns abzuwehren, steht auf einem anderen, dem nächsten nun aufzuschlagenen Blatt.“ 1570 Auf eben d iesem „nächsten Blatt“ heißt es sodann unter Verweis auf „Das Gespräch“ 1571 als eines weiteren wichtigen Bildungsmittels des Menschen: „Ein sachlicher Grund dafür, daß ich dem Bildungsmittel ‚Geschichten‘ das Bildungsmittel ‚Gespräch‘ folgen lasse, hat sich eben gezeigt: Was mit bezwingenden Bildern, wiederkehrender Ordnung und gestalteter Sprache unmittelbar in uns eindringt, darf nicht ungeprüft Macht über unsere Seele gewinnen. Prüfung setzt Distanz und Vergleich voraus. Man muß sich aus dem Bann der Sache lösen, und man muß ihr etwas gegenüberstellen.“ 1572
Wie bereits im Fall der ästhetischen Glückserfahrung sind es dabei zwar auch hier, im Falle der Auseinandersetzung Hentigs mit Fragen der ästhetischen Mündigkeit, vom Prinzip her sämtliche Gegenstände ästhetischer Erfahrung, denen er im Laufe seiner Publikationstätigkeit die Fähigkeit zugeschrieben wissen möchte, „Macht über unsere Seele“ zu gewinnen. Anders als im zuvor skizzierten Fall allerdings hat sich dabei das Verhältnis von Hochkultur und Populärer Kultur weitestgehend umgekehrt: Während Hentig die Möglichkeit einer ästhetischen Glückserfahrung in erster Linie im Umgang mit solchen „Kunstwerke[n] von Rang“ 1573 realisiert sieht, die ihre Wirkungen „für viele, unbestritten, verlässlich getan“ 1574 hätten, bezieht er die Notwendigkeit einer „theoretischen Analyse und Reflektion“ 1575 des Ästhetischen in der Regel auf solche Gegenstände, die in Zusammenhang mit Phänomenen der Massenmedien und Populären Kultur stehen. Dabei nennt er neben der politischen Propaganda, deren ästhetische Macht er insbesondere an der eigenen Reaktion als Kind und Jugendlicher auf den NS -Propagandafilm Hitlerjunge Quex illustriert 1576, immer wieder auch das Fernsehen,
1566 Ebenda 1567 Siehe oben, S. 245 f. 1568 Hentig 1996a, S. 113 1569 Ebenda, S. 112 1570 Ebenda 1571 Ebenda, S. 113 1572 Ebenda, S. 113 f. 1573 Hentig 1981b, S. 34 1574 Ebenda 1575 Hentig 1969d, S. 95 1576 Vgl. bspw. Hentig 1959b, S. 739; Hentig 1980a, S. 217; Hentig 1983a, S. 22 oder Hentig 2009c, S. 58 und 610.
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die Reklame und die Popmusik als „Rivale“ 1577 pädagogischer Bemühungen und als „Gefahr“ 1578 für die Mündigkeit des Menschen.1579 Die hier relevant werdende Unterscheidung zwischen Hochkultur und Populärer Kultur wird am eindringlichsten sichtbar in einem von Hentig 1978 geführten Interview mit der Zeitschrift für Musikpädagogik, wenn er dort zunächst resümiert, Kinder und Jugendliche seien eine „leichte Beute der Musik-, Schau- und Medienindustrie“, weshalb man „in der Schule kritische Einsicht und wenigstens ,gegenhaltende Kräfte‘“ den Produkten dieser Industrie gegenüber befördern sollte 1580, und er sodann – verbunden mit dem Hinweis darauf, dass dies, das Fördern von Einsicht, „die reiche abendländische Musikkultur eher durch sich selbst“ tue als durch das, was man über sie sage 1581 – fortführt: „Nehmen wir ein anderes Moment der heutigen Musik, die die heutige Jugend mit Vorliebe konsumiert, ein Moment, das eine hohe soziale Bewandtnis hat: die Beziehung dieser Musik zur Sexualität. Musik hat Gewalt über unsere Motorik – wir alle sind dem ausgesetzt. Die Pop- und Beatmusik und die Formen, in denen sie aufgeführt wird, lenkt die Bewegungen und Gebärden unmittelbar und unverhüllt auf den Sexualakt. Sie verhilft der pubertierenden Jugend zu einem Ausdrucks- und Kontaktmittel von großer Einfachheit und Kraft. Unsagbares muß nicht mehr gesagt werden; Enthemmung, Rausch, Ersatz, Erschöpfung ereignen sich in ihm in ungebrochener Kontinuität. Was geschieht, wenn ich den Jugendlichen darüber ‚aufkläre‘? Angenommen, es gelingt mir, ihn sehen zu lassen, was ich sehe: entweder zerstöre ich ihm damit diese Weise, sich an Musik hinzugeben, oder er schlägt sich auf die Seite seiner bisherigen Erfahrung. Entweder er stößt sich von sich ab, oder er stößt sich von mir ab. Beides kann ich nicht allgemein wollen. Nur wenn er aus dieser Weise, Musik zu brauchen, zu einer anderen, besseren finden kann, wäre ihm geholfen. Damit beleuchte ich noch einmal etwas, was ich am Anfang gesagt habe: ich brauche Musik. Ich muß nun verdeutlichen: ich brauche meine Musik. Der Jugendliche braucht seine Musik auf eine ebenso elementare Weise wie ich, vielleicht sogar mehr; er wirkt auf mich wie süchtig. Es geht immer um das Maß. Erst durch Hunger weiß ich, was Nahrung ist; aber Freßsucht zerstört jede sinnvolle Vorstellung davon. Platon hat bestimmte Musikarten aus seinem Staat verbannt. Wie sie geklungen haben, können wir nur raten. Die besinnungsraubende Popmusik, die allein schon durch ihren im Wortsinn betäubenden Lärm ausschließt, daß man Herr über sich und seine Wahrnehmung bleibt, hätte er sicher nicht geduldet. Ich bin ein Liberaler aus Überzeugung: ich vertriebe die abhängig machende Musik lieber durch die frei machende Musik, statt durch den Büttel. Und wenn ich früh genug damit anfange, habe ich auch eine Chance, dass das gelingt.“ 1582 1577 1578 1579 1580 1581 1582
Hentig 1965a, S. 74 Hentig 1966e, S. 156 Vgl. hierzu auch Hentig 1981b, S. 31 und Hentig 2000b, S. 8. Hentig et al. 1978, S. 9 Ebenda, S. 10 Ebenda (Hervorhebung im Original)
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An diesem, hier notwendigerweise in voller Länge wiedergegebenen Abschnitt wird zweierlei deutlich: Einerseits zielt Hentig zwar nicht wie etwa Adorno darauf ab, den Jugendlichen ihre Musik „madig“ 1583 zu machen 1584, andererseits aber unterscheidet er sehr wohl nicht nur zwischen schlechteren und besseren Arten, Musik zu hören, sondern zugleich zwischen abhängig machender Musik und frei machender Musik. Obwohl Hentig also der Kunstform „Musik“, wie weiter oben bereits ausführlich dargestellt, die grundsätzliche Fähigkeit zuspricht, den Menschen zu befreien, scheint diese Zuschreibung doch nicht für alle Musikarten und Rezeptionsweisen in gleichem Maße zu gelten. Der frei machenden Auseinandersetzung mit „Kunstwerke[n] von Rang“ 1585, die dem Einzelnen zu helfen vermag, seine Wahrnehmung „freizuspielen“ 1586, tritt vielmehr der abhängig machende Umgang mit Produkten der „Musik-, Schau- und Medienindustrie“ entgegen, der bereits aufgrund der ästhetischen Gestalt der jeweils „konsumierten“ Gegenstände ausschließt, „daß man Herr über sich und seine Wahrnehmung bleibt“. Während ersterer Vorgang also laut Hentig einen besonders geeigneten Anlass zur Selbstbildung des Menschen darstellt, dient letzterer eher als Anlass einer Erziehung des Einzelnen zur ästhetischen Mündigkeit – verbunden mit der Hoffnung, den jugendlichen Rezipienten „vertreiben“ zu können vom Konsum der abhängig machenden Musik und ihn hinüberzuführen zum Genuss der frei machenden Musik. Die weiter oben bereits ausführlich dargestellte normative Ebene des hentigschen Kunstbegriffs schlägt sich insofern in aller Deutlichkeit auch in dessen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Ästhetik und Bildung nieder. So steht die Erfahrungsdimension der Kunst zwar prinzipiell in ihrer Gesamtheit im Mittelpunkt der hentigschen Überlegungen zum Thema, die Möglichkeit einer Bildung im Umgang mit künstlerischen Gegenständen möchte Hentig allerdings in erster Linie einer ganz bestimmten Klasse von Kunstwerken zugesprochen wissen: solchen Werken nämlich, die bereits Eingang in den Kanon der abendländischen Hochkultur gefunden haben und dementsprechend von Hentig als „Kunstwerke von Rang“ 1587 bezeichnet werden. Gegenstände der Populären Kultur hingegen werden von Hentig 1583 Adorno 1971, S. 146 1584 Siehe hierzu auch Hentig 1965b, S. 5, wo es heißt: „Ich rede hier keinem Optimismus das Wort. Ich glaube auch nicht, daß es darauf ankommt, Menschen, die nicht gerne in die Natur gehen, wie man so sagt, ‚die Augen dafür zu öffnen‘ – und auch nicht für russische Ikonen oder griechische Archaik, für späten Beethoven und frühen Strawinskij, für Dylan Thomas und Kabuki, für deutsche Renaissance und Le Corbusier, für Jugendstil und Bauhaus … Man gewöhnt Menschen an diesen oder jenen Umgang; man schenkt ihnen Benn und stiehlt ihnen Rilke; man beteiligt sie am gebildeten Geschmack und verstößt sie aus den naiven Freuden des Kitsches; man macht sie zu Kulturträgern und erwartet, daß sie ihre glückliche Liebe zum Auto taktvoll verdrängen. Aber wo Schönheit Macht ist, kann man so nicht schadlos verfahren.“ 1585 Hentig 1981b, S. 34 1586 Hentig 1969c, S. 330 1587 Hentig 1981b, S. 34
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vornehmlich unter Bezugnahme auf die Notwendigkeit einer Erziehung des Einzelnen zur ästhetischen Mündigkeit behandelt: als Anlass also zur Stärkung des Menschen gegenüber der allgegenwärtigen „Mächtigkeit der ästhetischen Wirkungen“ 1588.
6.5 Zwischenfazit: Ästhetik und Bildung Im vorliegenden und hier zum Abschluss kommenden Kapitel sollte untersucht werden, wie Hartmut von Hentig das grundsätzliche Verhältnis von Ästhetik und Bildung in seinen Arbeiten zu fassen versucht: Welchen spezifischen Bildungssinn spricht er dem Ästhetischen zu? Worin besteht für ihn „die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen“ 1589? Welche Rolle kommt dabei der Kunst zu? Welche der Macht der Schönheit? Welche der Aisthesis? Betrachtet man diese Fragen nun vor dem Hintergrund des bis hierher Gesagten, so lässt sich zunächst konstatieren, dass Hentig der Erfahrungsdimension des Ästhetischen nicht nur eine einfache, sondern sogleich eine vierfache Eigentümlichkeit im Kontext der Bildung des Menschen zuspricht: • Hentig geht erstens davon aus, dass sich dem Einzelnen im Umgang mit Werken
der Kunst die Möglichkeit zum Vollzug einer vikarischen Erfahrung des Ernstfalls eröffnet. Damit ist die Möglichkeit gemeint, die im Zeichengeschehen „Kunstwerk“ eingelagerten (mitunter existentiellen) „Erfahrungen anderer in der Vorstellung mitzuvollziehen“ 1590 und durch einen Prozess des künstlerischen Verstehens in eigene Erfahrung umzuwandeln. Auf diesem Wege, so die Hoffnung Hentigs, könne dem jeweiligen Rezipienten der Vollzug einer Vielzahl an bildenden Erfahrungen ermöglicht werden: an Erfahrungen, die sich dem Einzelnen in seinem derzeitigem Leben so sonst nicht eröffnen würden und unter Zugrundelegung derer er dem tatsächlichen Leben zu einem späteren Zeitpunkt dann gegebenenfalls nicht mehr zu „erliegen“ 1591 bräuchte, wenn es die entsprechenden Erfahrungen irgendwann selbst bringt. (Hentig denkt hier beispielsweise an Erfahrungen wie „Krieg, Todeszelle, Abenteuer am Berg, Gefahr auf See, […] erfüllte Liebe, vollendete Schönheit, Elend, Schuld …“ 1592.) Der Umgang mit Werken der Kunst dient hier also sowohl als allgemeines Erfahrungsfeld des Menschen als auch zur Vorbereitung des Einzelnen auf mögliche zukünftige Erfahrungen und Krisen.
1588 1589 1590 1591 1592
Hentig 1969d, S. 94 Mollenhauer 1996, S. 27 Hentig 1973, S. 42 f. Hentig 1959a, S. 61 Hentig 1973, S. 45
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• Darüber hinaus spricht Hentig dem Umgang mit Werken der Kunst zweitens
ein besonderes Befreiungspotential zu: So geht er davon aus, dass sich dem Einzelnen im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen die Möglichkeit eröffnet, seine „sinnliche Primärwahrnehmung“ durch den Vorgang einer Erkundung des Möglichen methodisch in „Offenheit und Kreativität zu üben“ und sich so „aus den im strengen Sinn des Wortes ‚herrschenden‘ Zuständen freizuspielen“ 1593. Dem Umgang mit Werken der Kunst im solchermaßen umrissenen „Spielraum der Freiheit“ 1594 weist Hentig vor d iesem Hintergrund eine wichtige Bedeutung nicht allein für die individuelle und gesellschaftliche Befreiung des Menschen zu, er möchte den Vorgang der künstlerischen Erfahrung auf d iesem Wege zugleich – im Sinne einer intellektuellen Befreiung – als geeignetes Instrument zur Vorbereitung auf das abstrakte Denksystem der Wissenschaft verstanden wissen.
• Drittens spricht Hentig dem Bereich des Ästhetischen eine wichtige Bedeutung für
die menschliche Suche nach Glück zu. So geht er nicht nur davon aus, dass es zur Bildung des Menschen gehört, sich des eigenen Glücksempfindens bewusst zu werden und vor dem Hintergrund eines solchen Bewusstseins sodann selbstverantwortlich nach einem glücklichen Leben zu streben, er weist dem Bereich des Ästhetischen bei diesem Vorgang zugleich insofern eine zentrale Rolle zu, als dass er die Erfahrungsdimension des Ästhetischen als besonders wichtige Quelle menschlicher Glückserfahrung identifiziert wissen möchte. Die Aufgabe der Pädagogik im Spannungsfeld von Glück, Ästhetik und Bildung hätte in d iesem Sinne laut Hentig in erster Linie darin zu bestehen, K inder und Jugendliche über den Weg einer Erziehung zur ästhetischen Glücksfähigkeit in der Bemühung zu unterstützen, das eigene Glücksempfinden im Umgang mit dem Ästhetischen zu erkunden und zu sensibilisieren, und sie auf diesem Wege zugleich zu befähigen, im weiteren Verlauf ihres Lebens selbstverantwortlich ihr Glück im Umgang mit dem Ästhetischen zu suchen. Oder, um eine 1996 von Hentig gewählte Formulierung zur allgemeinen Wahrnehmung von Glück zu paraphrasieren: Hat der Vorgang, den wir ästhetische Bildung nennen wollen, einem Menschen keinen Grund, keinen Anlass, keine Fähigkeit zur Freude im Umgang mit dem Ästhetischen gegeben, war er verfehlt. Wo gar kein Glück im Umgang mit dem Ästhetischen aufkommt, war keine oder die falsche ästhetische Bildung.1595
• Obwohl Hentig allerdings das Ästhetische auf diesem Wege als wichtige Quelle
möglicher Glückserfahrungen verstanden wissen möchte, verknüpft er die Ebene der ästhetischen Erfahrung des Menschen doch zugleich wiederholt mit derjenigen einer spezifischen „Macht der Schönheit“, die dem Einzelnen nicht nur Glück,
1593 Hentig 1969c, S. 330 1594 Hentig 1967b, S. 204 1595 Siehe oben, S. 264
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Ästhetik und Bildung
sondern auch Qualen und Schmerz zuzufügen vermag, und gegenüber der der Einzelne, wolle er nicht gequält und verletzt werden, einen besonderen Schutz zu errichten habe. Angesichts dieser „Macht der Schönheit“ hätte die Pädagogik daher laut Hentig viertens immer auch für eine Erziehung zur ästhetischen Mündigkeit zu sorgen: für eine Befähigung des Einzelnen also sowohl zur kritischen Analyse und Reflexion der eigenen „Anfälligkeit für Schönheit“ 1596 als auch zum selbstbestimmten Umgang mit der allgegenwärtigen „Mächtigkeit der ästhetischen Wirkungen“ 1597. Zur eingangs aufgerufenen „Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen“ 1598 wäre in diesem Sinne also auch diese Eigentümlichkeit zu zählen: die Fähigkeit des Ästhetischen, den Bildungsprozess des Menschen durch das Hereinbrechen einer spezifischen „Macht der Schönheit“ zu gefährden und zu konterkarieren. Die genannten vier Eigentümlichkeiten ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen 1599 sind dabei in zweifacher Hinsicht miteinander verwoben: Nicht nur bildet die Forderung Hentigs nach einer Erziehung des Einzelnen zur ästhetischen Mündigkeit das systematische Gegengewicht zu dessen Hoffnung auf die bildende Kraft des Ästhetischen – auch der „Spielraum“ der künstlerischen Befreiung und der „Ernstfall“ der vikarischen Erfahrung sind in einer dialektischen Bewegung unmittelbar aufeinander bezogen. So wäre ohne den Spielraum, der sich im Umgang mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen zu eröffnen vermag, keine vikarische Erfahrung des Ernstfalls möglich, während eben jene Erfahrung der Unbestimmtheit, dem der Einzelne im Spielraum der Kunst begegnet, zugleich selbst eine besondere Form des Ernstfalls darstellt: den provozierenden Ernstfall einer systematischen „Zumutung von Freiheit“ 1600. Vor dem Hintergrund dieser engen Verwobenheit kann es schließlich kaum verwundern, dass die genannten vier Ebenen ästhetischer Bildung ihre erstmalige theore tische Entfaltung durch Hentig allesamt innerhalb eines relativ engen gemeinsamen Zeitkorridors erfahren: So finden sich erste Überlegungen zu Fragen der vikarischen Erfahrung bereits in Hentigs 1959 publiziertem Aufsatz „Das Verstehen des Unverstandenen“ 1601, während seine grundlegenden Arbeiten zum Befreiungspotential der Kunst, zur Bedeutung des Ästhetischen für das menschliche Glücksempfinden sowie zur Notwendigkeit einer Erziehung des Einzelnen zur ästhetischen Mündigkeit allesamt aus den Jahren 1964 bis 1969 stammen. Doch auch in den folgenden 1596 1597 1598 1599
Hentig 1969d, S. 95 Ebenda, S. 94 Mollenhauer 1996, S. 27 Diese, auf das bereits mehrfach angeführte Zitat Mollenhauers (ebenda) zurückgehende Wendung wird im Folgenden als eigenständige Formel – ohne neuerliche Mollenhauer- Zitation – verwendet. 1600 Hentig 1967b, S. 204 1601 Hentig 1959a
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Jahren und Jahrzehnten bildet der Verweis auf die genannten vier Ebenen – trotz aller rhetorischen Volten und inhaltlichen Wandlungen Hentigs – eine verlässliche Konstante in seinen Arbeiten zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung: vom 1985er Sammelband Ergötzen, Belehren, Befreien 1602 über die 1996er Monographie Bildung. Ein Essay 1603 bis hin zur Autobiographie Mein Leben – bedacht und bejaht 1604 aus dem Jahr 2007. Lediglich seine gegen Ende der 1960er Jahre noch besonders eindringlich artikulierte Hoffnung auf eine gesellschaftliche Befreiung durch Kunst relativiert er ab Mitte der 1980er Jahre zunehmend – allerdings nicht aus prinzipiellen Erwägungen heraus, sondern vielmehr deshalb, weil die zeitgenössische Entwicklung sowohl der Künste selbst als auch ihrer außerästhetischen Konkurrenten seines Erachtens zu einer politischen Marginalisierung insbesondere der bildenden Kunst geführt habe. Wie nicht zuletzt an d iesem Hinweis auf die besondere Bedeutung der bildenden Kunst für den Vorgang einer gesellschaftlichen Befreiung durch Kunst ersichtlich wird, sind die von Hentig proklamierten Bildungspotentiale verschiedener Formen künstlerischer und ästhetischer Erfahrung dabei nun allerdings keineswegs deckungsgleich. Im Gegenteil: Den verschiedenen, in Kapitel 5 bereits ausführlich dargestellten Erfahrungsdimensionen des Ästhetischen (Kunst, Ästhetik, Schönheit, Aisthesis) kommen vielmehr je unterschiedliche Rollen auch im Nachdenken Hentigs über die skizzierten Eigentümlichkeiten ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen zu. So ist es auch hier zunächst einmal die Erfahrungsdimension der Kunst, die von Hentig in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Bildung gestellt wird: Sämtliche vier genannten Eigentümlichkeiten ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen könnten sich demnach immer auch im Umgang mit Werken der Kunst entfalten – und zwar im Umgang mit sämtlichen derer Werke: vom dramatischen Theaterstück über Artefakte der bildenden Kunst bis hin zu klassischen Märchen und modernen Kinofilmen. Dennoch unterscheidet Hentig die verschiedene Kunstformen und -traditionen zugleich sehr wohl hinsichtlich ihrer jeweiligen Eignung zur Ermöglichung der skizzierten Eigentümlichkeiten: So möchte er den Vollzug einer vikarischen Erfahrung des Ernstfalls vornehmlich den Bereichen der Literatur, des Films und des Theaters zugewiesen wissen (solchen Kunstformen also, die eher narrativ arbeiten), den Vorgang einer künstlerischen Befreiung insbesondere dem Bereich der bildenden Kunst und die Ebene der ästhetischen Erfahrung als Glückserfahrung überwiegend demjenigen der Musik. Während Hentig bei all diesen Zuweisungen allerdings in erster Linie Werke der westlichen Hochkultur im Blick hat – und zwar, wie er es selbst formuliert, insbesondere s olche, die ihre Wirkungen „für viele, unbestritten, verlässlich getan“ 1605 hätten –, thematisiert er mit Blick auf 1602 1603 1604 1605
Hentig 1985e Hentig 1996a Hentig 2009c Hentig 1981b, S. 34
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die Notwendigkeit einer Erziehung des Einzelnen zur ästhetischen Mündigkeit nahezu ausschließlich Gegenstände aus dem Bereich der Populären Kultur – und dies quer durch alle Kunstformen. Die von Hentig vorgenommene Zuordnung der einzelnen künstlerischen Gegenstände zu den genannten vier Eigentümlichkeiten ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen geschieht in diesem Sinne also entlang zweier, zumeist implizit vorgenommener Unterscheidungen: einmal entlang einer Unterscheidung zwischen verschiedenen Kunstformen (Theater, Musik, bildende Kunst etc.) und einmal entlang einer Unterscheidung zwischen Hochkultur auf der einen und Populärer Kultur auf der anderen Seite. Da nun aber im Sinne Hentigs sowohl der Vollzug einer vikarischen Erfahrung des Ernstfalls als auch der Vorgang einer Befreiung des Menschen im Spielraum der Kunst an den spezifischen Zeichencharakter von Kunstwerken gebunden ist – genauer: an die spezifische Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen –, bleiben eben diese beiden Ebenen ästhetischer Bildung dem lediglich und ausschließlich Ästhetischen notwendigerweise versperrt. Konkret bedeutet dies: Solche Gegenstände, die sich zwar der Erfahrungsdimension des Ästhetischen, nicht aber derjenigen der Kunst zuordnen lassen, werden für Hentig lediglich im Sinne einer Förderung und Verfeinerung des menschlichen Glücksempfindens sowie einer Erziehung des Einzelnen zur ästhetischen Mündigkeit bedeutsam. Die Erfahrungsdimension des „nur“ Ästhetischen – mitsamt ihrer konkreten Manifestationen beispielsweise als Reklame, als politische Symbolik oder als „der schöne Mensch“ – weist in d iesem Sinne also eine deutlich weniger vielfältige Bedeutung für die Bildung des Menschen auf als diejenige der Kunst: nicht vier der genannten Eigentümlichkeiten ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen lassen sich ihr zuordnen, sondern lediglich zwei. Noch einmal anders verhält es sich schließlich im Fall der Erfahrungsdimension der Aisthesis. Diese bildet im Sinne Hentigs zwar einerseits die Grundlage einer jeden Form von ästhetischer Erfahrung – so dass ein jeder Vorgang der ästhetischen Bildung zugleich immer auch eine Form der aisthetischen Bildung darstellt –, darüber hinaus wird sie in Zusammenhang mit den skizzierten vier Eigentümlichkeiten ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen allerdings lediglich in zweierlei Hinsicht relevant: einmal im Sinne einer wissenschaftspropädeutischen „Übung in der Aisthesis“ im Modus der Kunst als Befreiung und einmal als „Leben mit der Aisthesis“ im Sinne einer grundsätzlichen Bezugsgröße pädagogischer Vorbereitung auf die jeweils gegebene historisch-gesellschaftliche Existenz des Menschen. Im ersteren Fall geht es Hentig darum, die „sinnliche Primärwahrnehmung“ durch den Umgang mit Kunst methodisch in „Offenheit und Kreativität zu üben“ 1606, um den Menschen so auf das freie Experiment der Wissenschaft vorzubereiten; im letzteren Fall stellt er die Notwendigkeit heraus, dass eine Pädagogik, die es sich zur Aufgabe macht, „die nächste Generation auf das Leben vorzubereiten, wie es ist, ohne sie dem Leben zu
1606 Hentig 1969c, S. 330
Zwischenfazit
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unterwerfen, wie es ist“ 1607, bei dieser Bemühungen immer auch das „Leben mit der Aisthesis“ berücksichtigen muss. Da d ieses „Leben mit der Aisthesis“ allerdings – zumindest potentiell – immer auch das „Leben mit dem Ästhetischen“ sowie das „Leben mit der Kunst“ beinhaltet, muss eine solchermaßen ausgerichtete Pädagogik notwendigerweise auch auf d ieses Leben vorbereiten: und zwar indem sie dem einzelnen Menschen dabei hilft, auch den Vorgang der ästhetischen Wahrnehmung zu üben, zu genießen, zu verstehen und zu hinterfragen. Beide Bedeutungsebenen der Aisthesis sind für Hentig in diesem Sinne zugleich unmittelbar aufeinander bezogen: So dient die Übung der Aisthesis an der Kunst gleichzeitig als Vorbereitung auf das Leben mit der Aisthesis – und zwar insofern, als dass jene Übung gerade auf die Veränderlichkeit der Wahrnehmung aufmerksam macht und so ihren Teil dazu beiträgt, die nächste Generation nicht nur auf das Leben mit der Aisthesis vorzubereiten, sondern diese zugleich in Freiheit gegenüber dessen Festlegungen zu üben. Auf d iesem Wege fügen sich die skizzierten Überlegungen Hentigs zum grundsätzlichen Verhältnis von Ästhetik und Bildung zugleich nahtlos ein in jene weiter oben bereits ausführlich dargestellte, von Hentig wiederholt zur Maxime seiner Pädagogik ausgerufene Grundfigur von Einübung in die jeweilige historische gesellschaftliche Existenz auf der einen und Befreiung von dieser Existenz durch die Entwicklung von Alternativen auf der anderen Seite. Demnach müsste eine Pädagogik, die es sich im Sinne Hentigs zum Auftrag macht, „die nächste Generation auf das Leben vorzubereiten, wie es ist, ohne sie dem Leben zu unterwerfen, wie es ist“ 1608, bei diesem Vorgang zugleich immer auch die skizzierten vier Eigentümlichkeiten ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen beachten – und dies in mindestens zweierlei Hinsicht: • So hätte eine solchermaßen ausgerichtete Pädagogik erstens dafür Sorge zu tragen,
dass das Bildungspotential der Künste ganz bewusst als Mittel eingesetzt wird, „die nächste Generation auf das Leben vorzubereiten, wie es ist, ohne sie dem Leben zu unterwerfen, wie es ist“ – und zwar indem sie dem Menschen darin hilft, sich einerseits über den Vollzug einer vikarischen Erfahrung des Ernstfalls präventiv auf mögliche zukünftige Erfahrungen und Krisen vorzubereiten und sich andererseits im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen in Freiheit gegenüber den Determinationen der jeweils gegebenen historischen gesellschaftlichen Existenz zu üben. Der Begriff der ästhetischen Bildung würde in d iesem Sinne also zunächst einmal den Vorgang des Sich-Bildens im Umgang mit Werken der Kunst bezeichnen – und zwar sowohl im Modus der vikarischen Erfahrung als auch in demjenigen der künstlerischen Befreiung.
• Wenn jenes von Hentig gemeinte Leben-wie-es-ist allerdings zugleich immer auch
dasjenige Leben mit der Kunst und dem Ästhetischen beinhaltet, dann muss eine
1607 Hentig 1969d, S. 71 1608 Ebenda
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Pädagogik, die es sich zum Auftrag gemacht hat, „die nächste Generation auf das Leben vorzubereiten, wie es ist, ohne sie dem Leben zu unterwerfen, wie es ist“, immer auch auf dieses Leben vorbereiten – und zwar indem sie dem Einzelnen hilft, die darin liegenden Chancen und Gefahren kennenzulernen, verstehen zu lernen und (soweit möglich) über sie verfügen zu lernen. Der ästhetisch gebildete Mensch wäre insofern ein Mensch, der sowohl ästhetisch mündig ist als auch fähig, selbstverantwortlich das eigene Glück im Umgang mit dem Ästhetischen zu suchen. Um den einzelnen Menschen allerdings zum Erreichen einer solchen Form der ästhetischen Bildung zu befähigen, dafür wiederum wäre im Sinne Hentigs ein weiterer Vorgang von Nöten: derjenige der ästhetischen Erziehung. Die Erfahrungsdimension des Ästhetischen stellt für Hentig in d iesem Sinne also aus pädagogischer Perspektive zweierlei dar: erstens einen besonders geeigneten Bildungs anlass des Menschen und zweitens einen besonders wichtigen Erziehungsanlass der Päda gogik. Aus den skizzierten vier Eigentümlichkeiten ästhetischer Erfahrung im Kontext der Bildung des Menschen wäre insofern sowohl die Bedeutsamkeit eines Vorgangs der ästhetischer Bildung als auch die Notwendigkeit eines Vorgangs der ästhetischer Erziehung zu folgern – wobei beiden Vorgängen in ihrer Gesamtheit dasselbe Ideal zugrunde zu legen wäre: das Ideal eines sowohl ästhetisch gebildeten als auch sich selbst fortwährend ästhetisch bildenden Menschen.
7
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Wie in der Einleitung bereits herausgestellt, verfolgt die vorliegende Arbeit ein zweifaches Anliegen: Im Rahmen einer detaillierten Analyse der von Hartmut von H entig vorgenommenen Bearbeitung ausgewählter Grundprobleme ästhetischer Bildung und Erziehung soll erstens auf historiographischer Ebene ein Beitrag geleistet werden zur Begriffs- und Ideengeschichte ästhetischer Bildung und Erziehung seit Mitte der 1960er Jahre und zweitens auf systematischer Ebene ein historisch kontextualisierter Ertrag generiert werden für die aktuelle Theorie- und Praxisdiskussion zum Thema. Wenn deshalb nun versucht werden soll, dieser doppelten Zielsetzung abschließend Rechnung zu tragen, so wird es dabei einerseits um eine resümierende Zusammenführung der im bisherigen Verlauf dieser Arbeit generierten Teilergebnisse gehen und andererseits um eine gezielte Anwendung dieser Ergebnisse auf den aktuellen historiographischen wie systematischen Diskurs zum Thema. Eine solchermaßen ausgerichtete Verknüpfung von Konklusion und Anwendung soll im Folgenden (Kapitel 7.1) in Gestalt von sieben aufeinander aufbauenden, zum Teil mehrteiligen Argumentationsschritten vollzogen werden, die je für sich unter Bezugnahme sowohl auf die bis hierher generierten Teilergebnisse dieser Arbeit als auch auf aktuelle historiographische wie systematische Veröffentlichungen zum Thema begründet werden. Während sich die ersten vier Argumentationsschritte dabei vornehmlich der Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Erziehung widmen und sich der fünfte auf die Anschlussfähigkeit der ästhetischen Theorie Hentigs konzentriert, steht im Mittelpunkt der letzten zwei Argumentationsschritte die mögliche Zukunftsfähigkeit der hentigschen Überlegungen zum Thema: Hier soll diskutiert werden, inwieweit Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung auch für die aktuelle erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung von Interesse sein könnten. Die Arbeit schließt sodann mit einem kurzen Ausblick (Kapitel 7.2), im Rahmen dessen unter anderem nach den Konsequenzen der zuvor generierten Ergebnisse für weitergehende historiographische, systematische und empirische Forschungsanstrengungen gefragt werden soll.
7.1 Konklusion und Anwendung (1) Trotz aller Wandlungen gibt es dennoch ein Grundkonzept ästhetischer Bildung und Erziehung bei Hartmut von Hentig: ein Konzept, das über die Formel, ästhetische Erziehung bedeute „Übung in der Aisthesis“, deutlich hinausgeht. Wie in Kapitel 4.4 bereits ausführlich dargestellt, ist die mehr als fünf Jahrzehnte umfassende Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung zumindest vordergründig geprägt durch einen Prozess des
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stetigen Wandels: Wiederholt hat Hartmut von Hentig seine eigenen Überlegungen öffentlichkeitswirksam hinterfragt und revidiert, wiederholt ist er in scharfe inhaltliche Auseinandersetzungen getreten mit ehemaligen Weggefährtinnen und Mitstreitern, und wiederholt hat er die vorherrschende Rezeption der eigenen Schriften kritisiert und ihr entgegenzuarbeiten versucht. Bei alledem hat Hentig selbst zwar stets auf einer – wenigstens grundsätzlich vorhandenen – inhaltlichen Kontinuität der eigenen Überlegungen zum Thema bestanden, sowohl in der zeitgenössischen wie auch in der historiographischen Diskussion jedoch ist insbesondere seine zu Beginn der 1980er Jahre vollzogene Hinwendung zur „Kunst als Maßstab der Ästhetischen Erziehung“ immer wieder als kategorische Abwendung von seiner zuvor vertretenen Forderung nach einer ästhetischen Erziehung als „Übung in der Aisthesis“ gewertet worden. Die Frage nach der inhaltlichen Kontinuität der hentigschen Überlegungen zum Thema bildet dementsprechend einen zentralen Streitpunkt auch der neueren Auseinandersetzung mit dessen Schriften zur ästhetischen Erziehung – sei es in historiographischer Perspektive bezogen auf deren Bedeutung für den Pädagogik-Diskurs der 1960er bis 1980er Jahre oder aber in systematischer Perspektive mit Blick auf deren „Zukunftsfähigkeit“. Vor dem Hintergrund dieses Befundes galt es im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit denn auch unter anderem zu klären, ob – und wenn ja inwiefern – sich trotz allen Wandels dennoch so etwas wie ein Grundkonzept ästhetischer Bildung und Erziehung nach Hartmut von Hentig herausarbeiten ließe. Oder, wie es gegen Ende von Kapitel 4.3 als konkrete Fragestellung formuliert worden war: „Gibt es überhaupt ein Konzept ästhetischer Erziehung nach Hartmut von Hentig oder handelt es sich vielmehr um zwei grundlegend verschiedene Konzepte: ein weites (Ästhetische Erziehung als ‚Übung in der aisthesis‘) und ein enges (‚Die Kunst als Maßstab der Ästhetischen Erziehung‘)? Spricht die zum Teil überaus widersprüchliche Rezeption der hentigschen Veröffentlichungen zum Thema vielleicht sogar dafür, dass diese gar keine eigenständige, klar umrissene Konzeption beinhalten, sondern sich vielmehr in einer losen Sammlung vager Vorschläge und einander widersprechender Überlegungen erschöpfen?“ 1609 Betrachtet man diese Fragen deshalb nun abschließend vor dem Hintergrund der in den darauffolgenden Kapiteln vorgenommenen genaueren Analyse der hentigschen Arbeiten zum Thema, so lässt sich zunächst einmal konstatieren, dass Hentig in der Tat zumindest zwischen zwei verschiedenen pädagogischen Dimensionen des Ästhetischen unterscheidet: zwischen der Bedeutsamkeit eines Vorgangs der ästhetischen Bildung auf der einen Seite und der Notwendigkeit eines Vorgangs der ästhetischen Erziehung auf der anderen. Während ersterer Vorgang dabei für die besondere Erfahrungsdimension der Kunst mitsamt deren spezifischer Zeichenhaftigkeit reserviert ist, wird letzterer Vorgang von Hentig zumindest prinzipiell auf sämtliche Erfahrungsdimensionen des Ästhetischen bezogen – also beispielsweise auch auf die Erfahrung des Ästhetischen in Natur und Alltagskultur. 1609 Siehe oben, S. 140
Konklusion und Anwendung
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Trotz dieses prinzipiellen Gegensatzes bleiben beide Vorgänge aber insofern überaus eng miteinander verbunden, als sie nicht nur auf einem gemeinsamen Kunst- und Ästhetikbegriff basieren (so vage dieser bei Hentig zum Teil auch formuliert sein mag), sondern von Hentig zugleich immer wieder auf ein und denselben pädagogischen Grundauftrag verpflichtet werden, darauf nämlich, „die nächste Generation auf das Leben vorzubereiten, wie es ist, ohne sie dem Leben zu unterwerfen, wie es ist“ 1610: • Eine solchermaßen ausgerichtete Pädagogik hätte demnach erstens dafür Sorge zu
tragen, dass das Bildungspotential der Künste ganz bewusst als Mittel zur Erfüllung ihres spezifischen Auftrages eingesetzt wird – und zwar indem sie dem Menschen darin hilft, sich einerseits über den Vollzug einer vikarischen Erfahrung des Ernstfalls präventiv auf mögliche zukünftige Erfahrungen und Krisen vorzubereiten und sich andererseits im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen in Freiheit gegenüber den Determinationen der jeweils gegebenen historischen gesellschaftlichen Existenz zu üben.
• Zugleich hätte eine solchermaßen ausgerichtete Pädagogik zweitens dafür Sorge zu
tragen, dass der Einzelne im Rahmen einer solchen Vorbereitung auf das Leben- wie-es-ist immer auch auf das spezifische Leben mit der Aisthesis, dem Ästhetischen und der Kunst vorbereitet wird – und zwar indem sie ihm hilft, die in d iesem Leben liegenden Chancen und Gefahren kennenzulernen, verstehen zu lernen und (soweit möglich) über sie verfügen zu lernen. Mit anderen Worten: indem sie ihm hilft, sowohl ästhetisch mündig zu werden als auch fähig, selbstverantwortlich das eigene Glück im Umgang mit dem Ästhetischen zu suchen.
Vor dem Hintergrund d ieses zweifachen Auftrags der Pädagogik in Sachen Kunst, Ästhetik und Aisthesis lässt sich schließlich auch der scheinbare Widerspruch von „Übung in der Aisthesis“ auf der einen und „Kunst als Maßstab der Ästhetischen Erziehung“ auf der anderen Seite auflösen: Indem nämlich laut Hentig eines der pädagogisch wichtigsten Potentiale des Bildungsanlasses Kunst gerade darin liegt, die „sinnliche Primärwahrnehmung“ des Menschen methodisch in „Offenheit und Kreativität zu üben“ 1611, dient die Übung der Aisthesis an der Kunst für ihn, Hentig, zugleich als Vorbereitung auf das Leben mit der Aisthesis – und zwar insofern, als dass eben jene künstlerische Form der Wahrnehmungsübung gerade auf die Veränder lichkeit der Wahrnehmung aufmerksam macht und so ihren Teil dazu beiträgt, die nächste Generation nicht nur auf das Leben mit der Aisthesis vorzubereiten, sondern diese zugleich in Freiheit gegenüber dessen Festlegungen zu üben. Zwar widmet sich Hentig über den Verlauf seiner mehr als fünf Jahrzehnte umfassenden Publikationstätigkeit nur selten beiden pädagogischen Dimensionen des Ästhetischen 1610 Hentig 1969d, S. 71 1611 Hentig 1969c, S. 330
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gleichzeitig im selben Maße, beide Dimensionen bilden in ihrem Zusammenspiel aber dennoch ein kontinuierlich vorhandenes Grundgerüst der hentigschen Überlegungen zum Thema: eine Art roter Faden, der sich durch sämtliche seiner Veröffentlichungen zieht und dabei, um im Bilde zu bleiben, mal auf der einen Seite des behandelten Stoffes heraustritt und mal auf der anderen Seite. Aus diesem Grund lässt sich denn auch, um die eingangs formulierte Frage noch einmal abschließend aufzugreifen, tatsächlich mit gutem Recht von einem durchgängig vorhandenen Grundkonzept ästhetischer Bildung und Erziehung bei Hartmut von Hentig sprechen: von einem Konzept, in dessen Mittelpunkt zwar einerseits das Bildungspotential der Erfahrungsdimension „Kunst“ steht, das in seiner Gesamtheit allerdings andererseits zugleich darauf abzielt, den Einzelnen auf das Leben mit der Aisthesis, dem Ästhetischen und der Kunst vorzubereiten – und zwar über den Weg einer ästhetischen Erziehung des Menschen. (2) Die zeitgenössische Rezeption der 1970er Jahre, die Hentig auf dessen Rolle als Motor und Initiator einer radikalen Ausweitung und Politisierung des gesamten neu konstituierten Feldes ästhetischer Erziehung reduzierte, war daher verkürzt. Betrachtet man die in Kapitel 4 ausführlich rekapitulierte Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung nun noch einmal gezielt vor dem Hintergrund der in den darauffolgenden Kapiteln vorgenommenen detaillierteren Analyse der hentigschen Arbeiten zum Thema, so wird deutlich, dass Hentig sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zwar stärker als je zuvor (und jemals danach) Fragen der ästhetischen Erziehung im Sinne einer Vorbereitung des Menschen auf das „Leben mit der Aisthesis“ widmet, jedoch auch in dieser Phase seiner Publikationstätigkeit stets die Dimension des Bildungsanlasses Kunst mit im Blick behält. Konkret bedeutet dies, dass Hentig auch in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren immer wieder das besondere Bildungspotential der Erfahrungsdimension Kunst hervorhebt und in d iesem Zusammenhang zugleich wiederholt dafür plädiert, Kindern und Jugendlichen den Umgang mit Gegenständen nicht zuletzt der klassischen abendländischen Kunst zu ermöglichen. In Anbetracht dieses Befundes muss die zeitgenössische Rezeption der 1970er Jahre, die Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung nahezu ausschließlich als Ausgangspunkt einer radikalen Ausweitung und Politisierung des gesamten neu konstituierten Feldes ästhetischer Erziehung nutzte, insofern als verkürzt bezeichnet werden, als dass es dem Gros der damaligen Rezipientinnen und Rezipienten nicht gelang, das hentigsche Konzept ästhetischer Erziehung in seiner Gesamtheit zu erfassen: So beschränkte sich die damals vorherrschende Rezeption nicht allein auf einige wenige Texte Hentigs zum Thema (vornehmlich auf den Aufsatz „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ sowie den Textabschnitt „Das Leben mit der Aisthesis“), auch die wenigen ausgewählten Texte selbst wurden darüber hinaus in der Regel weder kontextualisiert (was insbesondere im Falle des Textabschnittes zum „Leben mit der Aisthesis“ unbedingt erforderlich gewesen wäre) noch in ihrer gesamten inhaltlichen Breite rezipiert. Anstelle dessen wurden die betreffenden Arbeiten Hentigs immer wieder auf einige
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wenige Schlagworte und inhaltliche Teilaspekte reduziert und so insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er Jahre gewissermaßen als „Reservoire zur Selbstbedienung“ 1612 genutzt: als rhetorischer Steinbruch, der sich als geeignet erwies, Theoriebausteine zu liefern für diverse fachdidaktische Konzepte und Modelle – und dies, obwohl bereits zum damaligen Zeitpunkt ein genauerer Blick in die zahlreichen Veröffentlichungen Hentigs genügt hätte, um zu zeigen, dass dieser weder für eine ästhetische Erziehung im Sinne eines reinen „Sozialkundeunterrichts“ plädierte noch (wie dies insbesondere die Vertreter der „Visuellen Kommunikation“ und „Auditiven Wahrnehmungserziehung“ unterstellten) für eine prinzipielle Gleichsetzung von Ästhetik und Aisthesis. Was die fachdidaktische und allgemeinpädagogische Rezeption der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung angeht, kann insofern Hans-Günther Richter zugestimmt werden, der in seiner Geschichte der ästhetischen Erziehung bereits 2003 resümierte, Hentigs Arbeiten zum Thema s eien im Laufe der 1970er Jahre schlichtweg „(miss)verstanden“ 1613 oder gar „entstellt“ 1614 worden: Die „Nachbeter“ der hentigschen Forderungen, so Richter, hätten sich demnach dasjenige aus seinen „Hypothesen herausgesucht und in den Rang von Maximen erhoben […], was in ihr (meist politisch-materialistisches) Konzept“ gepasst habe – mit der Folge, dass sich „die Auffassungen [Hentigs] über die Wirkungen des Schönen kunstpädagogisch in den nachfolgenden Konzepten in fast allen wesentlichen Punkten verändert oder gar in ihr Gegenteil verkehrt“ hätten.1615 (3) Für diese verkürzte Form der Rezeption war Hentig allerdings sogleich in zweifacher Hinsicht mitverantwortlich: erstens indem er sehr situationsbezogen argumentierte, und zweitens indem er (insbesondere gegen Ende der 1960er Jahre) mit einem sehr vagen Ästhetikbegriff arbeitete, der diesen für diverse Konzepte anschlussfähig machte. Zwar lässt sich – wie in Schritt 2 geschehen – die Rezeptionsgeschichte der hentig schen Schriften zur ästhetischen Erziehung als eine Geschichte des fortgesetzten Missverstehens beschreiben, an eben dieser Form der Rezeption jedoch war Hentig selbst in entscheidendem Maße mitbeteiligt. So gilt – um einen ersten Aspekt dieser „Mitbeteiligung“ Hentigs zu nennen – für dessen gesamte Publikationstätigkeit über weite Strecken derselbe Befund, den Wolfgang Klafki bereits 1978 bezogen auf John Dewey konstatierte. Dieser sei, so Klafki, ein „typischer ‚Situationsdenker‘“ 1616 gewesen: „[Er] verstand seine Veröffentlichungen […] weitgehend als Beiträge in einem fortlaufenden gesellschaftlichen und pädagogischen Entwicklungs- und Diskussionsprozeß. Sie richteten sich also oft gegen Einseitigkeiten anderer Positionen oder plädierten für nach
1612 1613 1614 1615 1616
Stroh 2002, S. 5 Richter 2003, S. 306 Ebenda, S. 307 Ebenda, S. 308 (Hervorhebung im Original) Klafki 1978, S. 782
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seiner Auffassung vernachlässigte Aspekte, waren also weitgehend perspektivisch angelegt und als einzelne nicht selten bewußt akzentuierend und insofern selbst einseitig.“ 1617
Ganz ähnlich verhält es sich nun auch im Falle der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung: Diese enthalten an keiner Stelle einen groß angelegten, systematisch argumentierenden Entwurf einer allgemeinen Theorie ästhetischer Bildung und Erziehung, sondern sie gehen in der Regel von ausgewählten Einzelpositionen anderer Autoren aus – oder gar ganz allgemein vom „terminologischen Filz“ 1618 einer gesamten Fachdisziplin –, nehmen diese zum Anlass, spezifische Gegenpositionen zu entwickeln, und sind dadurch, je für sich genommen, oft ebenfalls in der von Klafki skizzierten Art und Weise „bewußt akzentuierend“ und „einseitig“ 1619. Diese perspektivische Einseitigkeit wiederum hat (in Kombination mit Hentigs Angewohnheit, im Rahmen von Vorträgen immer wieder auch „unfertige Gedanken“ 1620 zu p räsentieren) zugleich zur Folge, dass jenes bei Hentig sehr wohl vorhandene Grundkonzept ästhetischer Bildung und Erziehung in seinen diversen Einzelveröffentlichungen zum Thema kaum je in vollem Umfang sichtbar wird. Im Gegenteil: Betrachtet man die diversen Arbeiten Hentigs zu Fragen des Ästhetischen je für sich genommen als autonome Einzeldarstellungen, so bieten sich diese tatsächlich geradezu dafür an, in der oben dargestellten Art und Weise auf einige wenige, inhaltlich letztlich verkürzende Teilaspekte und Schlagworte reduziert zu werden. Dieser Umstand wird darüber hinaus noch einmal dadurch verstärkt, dass es Hentig in all seinen Veröffentlichungen zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung nicht gelingt, den terminologischen Kern seiner Überlegungen in angemessener Weise zu präzisieren: Was das Ästhetische in der ästhetischen Erziehung genau sein soll, das bleibt über den gesamten Verlauf seiner Publikationstätigkeit weitestgehend unklar. Zwar bestimmt er jenes Ästhetische wiederholt als spezifische Erfahrungsdimension zwischen Kunst und Aisthesis, eine darüber hinausgehende, auch nur annähernd präzise Definition eben jener Erfahrungsdimension findet sich bei ihm jedoch an keiner Stelle. Vielmehr diffundieren die Begriffe Kunst, Schönheit, Aisthesis und Ästhetik insbesondere in seinen Arbeiten der späten 1960er Jahre in einem solchen Maße, dass es den geneigten Leserinnen und Lesern ohne große Probleme möglich wird, unter Bezugnahme auf jene Arbeiten Hentigs das gesamte Feld des sinnlich Wahrnehmbaren in den Mittelpunkt einer an Hentig geschulten ästhetischen Erziehung zu stellen. Obwohl die zeitgenössische Rezeption der 1970er Jahre insofern zwar unter Berücksichtigung des hentigschen Gesamtkonzepts ästhetischer Bildung und Erziehung als absolut verkürzt bezeichnet werden muss, ist die skizzierte Form der Rezeption mit Blick auf dessen Einzelveröffentlichungen zum Thema (insbesondere aus der zweiten 1617 1618 1619 1620
Ebenda, S. 782 f. Hentig 1967c, S. 280 Klafki 1978, S. 783 Hentig 2003d, S. 20
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Hälfte 1960er Jahre) doch um einiges weniger abwegig. Im Gegenteil: In ihrer Kombination aus perspektivischer Einseitigkeit, diffusem Ästhetikbegriff und einpräg samen „Merkformeln“ 1621 stellen Veröffentlichungen Hentigs wie „Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter“ oder „Das Leben mit der Aisthesis“ fast schon eine Einladung zum Missverstehen dar – eine Einladung, deren vielfache Annahme zugleich die immense Wirkkraft der genannten Arbeiten Hentigs zu erklären vermag. (4) Die immense Wirkung, die die hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er Jahre entfalten konnten, lag insofern weniger in deren konkretem Inhalt begründet als vielmehr in deren Eigenschaft, inhaltliche Vagheit und rhetorische Pointiertheit geschickt miteinander zu verbinden. Um die bereits mehrfach angesprochene Wirkung der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung besser einordnen und verstehen zu können, ist es hilfreich, sich zunächst jene weiter oben bereits skizzierte Unterscheidung 1622 in Erinnerung zu rufen, die Michael Parmentier 2004 in seinem für das Historische Wörterbuch der Pädagogik verfassten Beitrag zum Thema „Ästhetische Bildung“ 1623 vorgeschlagen hat. Am Beispiel von Charles Le Brun, Roger de Piles und Johannes Itten konstatiert Parmentier hier für den Bereich der „Kunstausbildung und schulischen Kunsterziehung“ ein sich durch die „gesamte Moderne“ ziehendes „auffälliges Schwanken z wischen einseitiger Gemütsbildung und einseitigem Verstandestraining“ 1624 – ein, wie er es formuliert, „irritierendes Hin und Her“ der jeweiligen pädagogischen Praxis „zwischen musischer Seelenpflege und kognitiver Wissensvermittlung, z wischen Gefühlskultur und Verstandeskontrolle, zwischen kreativer Schwärmerei und intellektueller Analyse“ 1625. Die spezielle Dynamik dieser „schwankende[n] Praxis“ 1626 sieht Parmentier dabei nun auch im Streit der 1960er und 1970er Jahre um einen zeitgemäßen Kunstunterricht am Werk: Als Reaktion auf die damals vorherrschende Hoffnung, durch musische Bildung und Erziehung den „an der eigenen Zivilisation erkrankten Menschen der Gegenwart gesunden lasse[n]“ zu können, hätten Didaktiker wie Gunter Otto zunächst das „fächerübergreifende Prinzip des Musischen“ aufgegeben und im Gegenzug für die „Einrichtung eines klar definierten Unterrichtsfachs ‚Kunst‘“ plädiert 1627. Diese „Vertreibung der Gemütskräfte aus dem Prozess der ästhetischen Bildung“ wiederum habe, so Parmentier weiter, „dann kurz darauf in dem Konzept der ‚Visuellen Kommunikation‘ ihren Höhepunkt erreicht“ und schließlich sogar die bildende Kunst selbst „zum Opfer“ genommen 1628: 1621 1622 1623 1624 1625 1626 1627 1628
Liebau 1999, S. 45 (Siehe hierzu genauer oben, S. 32 f.) Siehe oben, S. 104 f. Parmentier 2004a Ebenda, S. 22 Ebenda, S. 27 Ebenda, S. 22 Ebenda, S. 26 Ebenda, S. 26 f.
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„Sie [die Kunst] galt ‚als Instrument von Herrschaft‘ und wurde schließlich nur noch als ‚Anlass für relevante Aufklärung‘ akzeptiert. Was an Kunst interessierte, war ihr Verwertungszusammenhang, ihr gesellschaftlicher Stellenwert, nicht ihre eigentümliche Wirkung und auch nicht ihr Erfahrungsgehalt […]. Im Grunde waren die Kunstwerke bloß noch Lehrstoff für einen sozialwissenschaftlich orientierten Unterricht.“ 1629
Zu eben diesem Wandlungsprozess – dessen Folgen sich, wie in Kapitel 4.1 gezeigt werden konnte, im Laufe der 1970er Jahre auf das gesamte Feld der pädagogischen Auseinandersetzung mit Fragen des Ästhetischen auszuweiten begannen – konnte Hentig mit seinen diversen Veröffentlichungen zum Thema nun insofern einen entscheidenden Beitrag leisten, als dass er nicht nur den Begriff der „ästhetischen Erziehung“ in die entsprechende Fachdiskussion einführte, sondern diesen Begriff zugleich als Erster mit der Forderung nach einer radikalen Ausweitung und Politisierung der gesamten pädagogischen Bemühung um Kunst, Schönheit und Ästhetik verband – eine programmatische Setzung, die, wie Hans-Günther Richter es rückblickend in seiner Geschichte der ästhetischen Erziehung formuliert, „etwa ein Jahrzehnt kunstpäda gogischen Argumentierens“ 1630 nachhaltig prägen sollte. Doch obwohl Hentigs Arbeiten zum Thema auf d iesem Wege bereits gegen Ende der 1960er Jahre „in nuce die meisten der später von anderen Autoren pointierter ausgelegten Gedanken für eine veränderte Auffassung von ‚Kunsterziehung‘“ 1631 enthielten, konnten sie ihre immense Wirkkraft letztlich allein deshalb entfalten, weil sie – wie in These 2 und 3 bereits dargestellt – auf dramatische Weise verkürzt rezipiert wurden: nicht als Bestandteile eines umfassenderen Gesamtkonzepts ästhetischer Bildung und Erziehung (im Rahmen dessen auch das Bildungspotential der Kunst seine Berücksichtigung hätte finden können), sondern als vergleichsweise autonome Einzeldarstellungen, die sich durch ihre Verbindung von perspektivischer Einseitigkeit, diffusem Ästhetikbegriff und einprägsamen „Merkformeln“ als geeignet erwiesen, Theoriebausteine zu liefern für diverse fachdidaktische Konzepte und Modelle – von der „Auditiven Wahrnehmungserziehung“ über die „Visuelle Kommunikation“ bis hin zur „Polyästhetischen Erziehung“. Verknüpft man all diese Aspekte daher nun noch einmal gezielt vor dem Hintergrund jenes von Parmentier für die 1960er und 1970er Jahre konstatierten „Schwankens“ hin zu einer auf „kognitive Wissensvermittlung“, „Verstandeskontrolle“ und „intellektuelle Analyse“ ausgerichteten ästhetischen Erziehung 1632, so wird deutlich, dass Hentig mit seinen diversen Veröffentlichungen zum Thema eine überaus ambivalente Rolle in der damaligen Diskussion einnehmen konnte: Als progressiver „Anstoßgeber 1629 Ebenda, S. 27 (Parmentier bezieht sich hier auf Heino R. Möllers Gegen den Kunstunterricht (Möller 1971, S. 23).) 1630 Richter 2003, S. 305 1631 Matthies 1972, S. 37 1632 Parmentier 2004a, S. 27
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von außen“ 1633, der insbesondere bei Mitgliedern des linksalternativen Milieus hohes Ansehen genoss, stellte er der Fachöffentlichkeit eine Auswahl an Texten zur Verfügung, deren Inhalt einerseits vage genug war, um diversen fachdidaktischen Konzepten und Modellen Anschluss zu bieten, und andererseits konkret und pointiert genug, um als stichhaltiges Argument für eine radikale Ausweitung und Politisierung des gesamten neu konstituierten Feldes ästhetischer Erziehung zu dienen. Die immense Wirkung, die die hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er Jahre entfalten konnten, lag insofern also weniger in ihrem konkreten Inhalt begründet als vielmehr in ihrer Eigenschaft, inhaltliche Vagheit, rhetorische Pointiertheit und „politisch-emanzipatorische[n] Anspruch“ 1634 geschickt miteinander zu verbinden. Diese historische Wirkkraft Hentigs fällt jedoch bereits einige Jahre später insofern auf ihn und seine Schriften zur ästhetischen Erziehung zurück, als dass in dem Moment, in dem das von Parmentier skizzierte „Schwanken z wischen einseitiger Gemütsbildung und einseitigem Verstandestraining“ 1635 ab Ende der 1980er Jahre abermals seine Richtung zu ändern beginnt, sich auch die fachöffentliche Wahrnehmung der hentigschen Arbeiten zum Thema radikal wandelt.1636 So wird Hentig zwar auch in d iesem Zusammenhang noch gelegentlich mit seinen neueren Arbeiten zum Thema zitiert, weder in der fachdidaktischen noch in der allgemeinpädagogischen Diskussion allerdings kommt ihnen eine maßgebliche Rolle zu. Stattdessen wird Hentig zunehmend auf seine historische Bedeutung als Motor und Initiator der radikalen Ausweitung und Politisierung des gesamten neu konstituierten Feldes ästhetischer Erziehung im Laufe der 1970er Jahre reduziert – eine Entwicklung, die er selbst paradoxerweise noch einmal dadurch befördert, dass er sich zu Beginn der 1980er Jahre öffentlichkeitswirksam von den „ungewollten Folgen der eigenen Anstöße“ 1637 distanziert und damit zugleich den Eindruck vermittelt, sich auch von den eigenen Schriften der damaligen Zeit lossagen zu wollen. Vom „ständige[n] Anreger und Unruhestifter“ 1638 im Bereich ästhetischer Erziehung, als der Hentig insbesondere in den Jahren zwischen 1965 und 1985 wiederholt wahrgenommen worden war, wird er im Laufe der 1990er und 2000er Jahre so mehr
1633 1634 1635 1636
Vgl. Fäustle 1967, S. 1. Legler 2011, S. 312 Parmentier 2004a, S. 22 So bildet sich im Laufe der 1990er Jahre erneut eine deutliche Veränderung im Nachdenken über die pädagogische Bedeutung von Kunst und Ästhetik heraus: eine Veränderung, im Rahmen derer nun unter dem Stichwort der „ästhetischen Bildung“ nicht mehr die „intellektuelle Analyse“ in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gestellt wird, sondern vielmehr in allgemeinpädagogischer Perspektive nach der „bildenden Wirkung von Kunst und Ästhetik“ (Ehrenspeck 2001, S. 13) gefragt wird. (Siehe hierzu genauer unten, S. 292 ff.) 1637 Hentig 1981b, S. 33 f. 1638 Aissen-Crewett 2000, S. 385
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und mehr zur „historischen Person“: zum Protagonisten eines zwar wichtigen, aber nunmehr endgültig abgeschlossenen Kapitels in der Geschichte der ästhetischen Bildung und Erziehung.1639 Diese Entwicklung allerdings ist insbesondere deshalb bedauerlich, weil die eigentliche Stärke des hentigschen Konzepts ästhetischer Bildung und Erziehung – wie im Folgenden noch genauer zu zeigen sein wird – gerade darin liegt, beide Extreme der von Parmentier skizzierten Pendelbewegung miteinander zu versöhnen: Ästhetische Bildung und ästhetische Erziehung schließen sich bei Hentig eben nicht systematisch aus, sondern stehen vielmehr in einem fruchtbaren Verhältnis zueinander. Inwieweit dieser Umstand aber bereits genügt, um die hentigschen Arbeiten auch für die aktuelle Diskussion zum Thema von Interesse sein zu lassen, hängt ganz entschieden mit einer weiteren Frage zusammen: mit der Frage danach, inwieweit sich bereits das hentigsche Begriffsverständnis von Kunst, Ästhetik und Aisthesis überhaupt als anschlussfähig an die aktuelle Diskussion zum Thema in Philosophie und Erziehungswissenschaft erweist. (5) Auch wenn Hentigs Begriffsbestimmung des „Ästhetischen“ in weiten Teilen als überaus vage und diffus bezeichnet werden muss, erweisen sich seine darüber hinausgehenden Überlegungen – insbesondere zum Verhältnis von Kunst und Erfahrung – doch zugleich als prinzipiell anschlussfähig an den aktuellen Ästhetik-Diskurs in Philosophie und Erziehungswissenschaft. Setzt man die in Kapitel 5 eingehend analysierten Überlegungen Hentigs zu den Grenzen des Ästhetischen nun noch einmal dezidiert in Bezug zur aktuellen Diskussion in Philosophie und Erziehungswissenschaft, so ergibt sich ein durchaus widersprüchliches Bild: Auf der einen Seite bleibt in Hentigs sämtlichen Veröffentlichungen zum Thema zwar durchgängig die Frage ungeklärt, wie „das Ästhetische“ in der ästhetischen Erziehung genauer bestimmt werden könnte – so dass der Begriff des Ästhetischen, wie so oft in der Geschichte der ästhetischen Bildung und Erziehung der Fall, auch hier zu einer Art „leere[n] Worthülse“ 1640 zu geraten droht –, auf der anderen Seite jedoch kann den darüber hinausgehenden theoretischen Grundannahmen Hentigs zugleich eine zumindest prinzipielle Anschlussfähigkeit auch an den aktuellen Ästhetik-Diskurs
1639 Damit allerdings bestätigen sich auch für den Bereich der ästhetischen Bildung und Erziehung erneut jene Rezeptionsmechanismen, die weiter oben (in Kapitel 2.1) bereits als konstitutiv für die allgemeine Wahrnehmung Hentigs als Erziehungswissenschaftler und öffentlicher Pädagoge herausgearbeitet werden konnten: So nimmt Hentig zwar einerseits seit Mitte der 1960er Jahre eine überaus prominente und wirkmächtige Rolle in der entsprechenden Fachdiskussion zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung ein, diese Rolle aber geht andererseits einher sowohl mit einer eher oberflächlichen Rezeption dessen diverser Arbeiten zum Thema als auch mit einer fortwährenden Wahrnehmung Hentigs als „Fern- und Darüberstehender“ (Leonhard 1967, S. 11), der – als „Bielefelder (Nicht-Kunst-)Pädagoge“ (Zerull 1974, S. 1) gleichsam über den Dingen schwebend – dem entsprechenden Fachdiskurs einen wichtigen „Anstoß von außen“ (Fäustle 1967, S. 1) zu geben im Stande ist. 1640 Krieger 2004, S. 19
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zugesprochen werden. Diese prinzipielle Anschlussfähigkeit der hentigschen Arbeiten zum Thema liegt dabei insbesondere in zwei Aspekten begründet: • So bestimmt Hentig erstens sowohl die Kunst als auch das Ästhetische als spezifische
Dimensionen menschlicher Erfahrung und stellt damit einen Begriff in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, der – wie Deines et al. jüngst gezeigt haben – nicht nur seit jeher eine „zentrale Rolle in der philosophischen Ästhetik“ 1641 spielt, sondern darüber hinaus gerade in „jüngster Zeit“ eine neuerliche „Konjunktur“ in der philosophischen Auseinandersetzung mit Fragen der Kunst und Ästhetik erfahren hat 1642. Im Zentrum einer solchermaßen rezeptionsästhetisch ausgerichteten Ausein andersetzung steht dabei einerseits die Frage, „ob und wie sich das Phänomen der ästhetischen Erfahrung theoretisch angemessen fassen“ ließe, und andererseits die Frage danach, „in welchem Rahmen und für welche Zwecke eine Theorie der Kunst auf das Phänomen der ästhetischen Erfahrung zurückgreifen“ könne und sollte.1643 Trotz aller inhaltlichen Differenzen innerhalb der diesbezüglichen Diskussion allerdings – beispielsweise zwischen phänomenologischem, epistemischem und existentiellem Erfahrungsbegriff 1644 – ist die zugrunde liegende Ausgangsthese dabei doch aber letztlich dieselbe, die auch Hentig in all seinen Arbeiten zum Thema immer wieder vertritt: So lässt sich, jener Ausgangsthese entsprechend, „das Ästhetische“ nur dann angemessen verstehen und beschreiben, wenn man es nicht als Essenz in den „ästhetischen“ Gegenständen selbst verortet, sondern anstelle dessen die Besonderheit der spezifischen Erfahrung im Umgang mit den gemeinten Gegenständen in den Blick nimmt.1645 Der Begriff des Ästhetischen beschreibt insofern also weniger eine bestimmte Eigenschaft von Objekten, sondern vielmehr, wie Bender und D ietrich es 2010 mit Blick auf das Verhältnis von Kunst und Pädagogik formulieren, eine bestimmte „Eigenschaft der Erfahrungen, die das Individuum mit diesen Gegenständen macht“ 1646. Eben dieses von Bender und Dietrich umrissene Kunst- und Ästhetikverständnis, das den Vorgang der ästhetischen Erfahrung als notwendige Bedingung auch für eine jede Form der ästhetischen Bildung versteht, bildet schließlich auch den zentralen Ausgangspunkt nahezu sämtlicher neuer erziehungswissenschaftlicher Veröffentlichungen zum Thema. Von Christian Rolle 1647 über Georg Peez 1648 bis hin
1641 1642 1643 1644 1645
Deines et al. 2013b, S. 7 Ebenda, S. 9 Ebenda, S. 35 Ebenda, S. 10 ff. Für einen Überblick über die diesbezügliche Diskussion siehe u. a. Deines et al. 2013a. Zur Problematik essentialistischer Kunstbegriffe vgl. darüber hinaus Bertram 2005, S. 22 ff. 1646 Bender & Dietrich 2010, S. 350 (Hervorhebung C. T. Z.) 1647 Rolle 1999 1648 Peez 2005
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zu Dietrich et al.1649: Immer wieder ist es eben jener Vorgang der ästhetischen Erfahrung, in den die Pädagogik ihre Hoffnungen im Umgang mit Kunst und Ästhetik setzt – den sie zu begreifen bemüht ist und den sie herbeizuführen trachtet. • Gleichzeitig bindet Hentig zweitens die Besonderheit der ästhetischen Erfahrung im
Umgang mit Gegenständen der Kunst immer wieder an deren spezifischen Zeichencharakter und schließt damit an eine Diskussion an, die – geprägt unter anderem durch Umberto Eco 1650, Nelson Goodman 1651 und Arthur Danto 1652 – Kunstwerke als „imaginative Zeichen“ begreift, die zwar einerseits Dinge „von der Welt“ sind, andererseits aber zugleich Dinge „über die Welt“ 1653. Dieser spezifische „Zeichencharakter von Kunstwerken“ 1654 steht dabei nun allerdings keineswegs im Widerspruch zu jenem oben bereits skizzierten Verständnis des Ästhetischen als spezifischer Form von Erfahrung. Beide Aspekte, Zeichengeschehen und Erfahrung, hängen vielmehr, wie Georg W. Bertram es formuliert, „in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken untrennbar zusammen“ 1655:
„Die Zeichen, die Kunstwerke sind, zeichnet es aus, dass sie nur im Verbund mit Erfahrungen ihrer Verfasstheit als Zeichen zugänglich sind. Die spezifischen Erfahrungen wiederum können nur im Rahmen eines Zeichengeschehens gemacht werden. Wer Kunstwerke umstandslos als Zeichen gebrauchen will, verfehlt sie genauso wie der, der an ihnen ‚zeichenfreie‘ Erfahrungen machen will.“ 1656
In diesem Hinweis auf die Schwierigkeit, Kunstwerke „umstandslos als Zeichen“ zu gebrauchen, ist dabei zugleich ein weiterer Aspekt berührt, der auch in Hentigs Überlegungen zum Thema eine zentrale Stellung einnimmt: derjenige eines spezifischen „Unbestimmtheitsfaktor[s]“ 1657 künstlerischer Zeichen, der diese fundamental von anderen Zeichengeschehen unterscheidet. So kann der Einzelne im Sinne Hentigs erst dann die Erfahrung einer spezifisch künstlerischen „Erkundung des Möglichen“ 1658 vollziehen, wenn er im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen gezwungen ist, „die zerbrochenen Bilder, die Zusammenstellung von Dingen und Eigenschaften, 1649 Dietrich et al. 2012 1650 Siehe insbesondere Eco 1973. 1651 Siehe insbesondere Goodman 1997. 1652 Siehe insbesondere Danto 1984. 1653 Seel 1996b, S. 136 f. 1654 Ebenda, S. 136 1655 Bertram 2005, S. 207 1656 Ebenda 1657 Hentig 1967b, S. 197 1658 Siehe oben, Kapitel 5.1.2.
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die nach unserer Erfahrung nicht zusammengehören“ 1659, miteinander zu verbinden und so immer wieder zu fragen, „‚ob es möglich ist, daß es möglich ist‘“ 1660. Mit dieser Bestimmung der Kunst fügen sich die hentigschen Überlegungen zum Thema zugleich nahtlos ein in jene prominent geführte Diskussion innerhalb des aktuellen Ästhetik-Diskurses, die unter Bezugnahme auf eine Formulierung Th eodor W. Adornos den „Rätselcharakter“ 1661 der Kunst als deren Spezifikum hervorhebt und dafür plädiert, gerade „an den Momenten der Unterbrechung des Verstehens“ im Umgang mit künstlerischen Zeichen „die spannungsreiche Einheit ästhetischer Erfahrungen“ festzumachen 1662. Oder wie es direkt bei Adorno in einer vielzitierten Wendung heißt: „Die Werke sprechen wie Feen in Märchen: du willst das Unbedingte, es soll dir werden, doch unkenntlich. Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.“ 1663
Berücksichtigt man über diese zwei Aspekte hinaus nun noch den Umstand, dass Hentig die gesamte Erfahrungsdimension des Ästhetischen – und damit auch diejenige der Kunst – prinzipiell an den Prozess der sinnlichen Wahrnehmung bindet, wird zugleich deutlich, dass auch die hentigsche Bestimmung des gegenseitigen Verhältnisses von Kunst, Ästhetik und Aisthesis trotz aller ihr innewohnenden Vagheit und Diffusität durchaus anschlussfähig an den aktuellen Diskurs in Philosophie und Erziehungswissenschaft ist. Dies zeigt sich beispielsweise dann, wenn man als Bezugspunkt einer solchen Anschlussfähigkeit die diversen Publikationen Martin Seels zum Thema wählt: Auch dieser – einer der prominentesten und gerade in der Erziehungswissenschaft meistzitierten deutschsprachigen Philosophen der Gegenwart – bestimmt „das Ästhetische“ wiederholt als Mittleres z wischen Aisthesis und Kunst, wenn er einerseits die Aisthesis als Lehre vom „menschlichen Wahrnehmungsvermögen überhaupt“ 1664 abgrenzt von der Ästhetik als Lehre vom „bestimmten Gebrauch d ieses allgemeinen Vermögens“ 1665 und andererseits die „Praxis der Kunst“ 1666 als eine besondere Form der ästhetischen Praxis beschreibt.1667 Auch nach Seel ist also – ebenso wie nach Hentig – zwar eine jede künstlerische Erfahrung auch eine ästhetische Erfahrung und eine jede 1659 Hentig 1967b, S. 220 1660 Ebenda, S. 197 unter Bezugnahme auf Weizsäcker 1958, S. 248. 1661 Adorno 1973, S. 182. Zu Tradition, Rezeption und Einordnung des in dieser Formulierung aufscheinenden Topos siehe Kleinmann 1996. 1662 Bertram 2005, S. 294 1663 Adorno 1973, S. 191 1664 Seel 1996b, S. 36 1665 Ebenda 1666 Ebenda, S. 126 1667 Siehe hierzu auch Seel 1996a, Seel 2003 und Seel 2007b.
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ästhetische Erfahrung auch eine aisthetische Erfahrung, zugleich jedoch ist weder eine jede aisthetische Erfahrung auch eine ästhetische Erfahrung noch eine jede ästhetische Erfahrung auch eine künstlerische Erfahrung. Hentig steht in diesem Sinne also zwar nicht an der „Speerspitze“ der ästhetischen Theoriebildung – dafür sind seine Begriffsbestimmungen der Kunst und des Ästhetischen bei weitem nicht elaboriert genug –, seine Überlegungen zum Thema erweisen sich in ihrer Gesamtheit aber dennoch als durchaus anschlussfähig an den aktuellen Ästhetik-Diskurs in Philosophie und Erziehungswissenschaft – woraus sich eine zumindest prinzipielle Anschlussfähigkeit auch an die aktuelle Diskussion zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung ergibt. Zugleich jedoch zeigt die Rezeptionsgeschichte der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung, wie sehr gerade ein erfahrungsbezogenes Verständnis der Kunst und des Ästhetischen auf eine saubere Begriffsbestimmung angewiesen ist – und wie schnell ein entsprechend unsauber erweiterter Kunstbegriff zu einer vorübergehenden Auflösung der Grenzen z wischen Kunst, Ästhetik und Aisthesis zu führen vermag. Vor d iesem Hintergrund soll im Folgenden nun noch zumindest in groben Zügen nach einer etwaigen Anschlussfähigkeit der hentigschen Schriften zur ästhetischen Bildung und Erziehung insbesondere an den derzeitigen allgemeinpädagogischen Diskurs zum Thema gefragt werden – und zwar einerseits bezogen auf den Bereich der ästhetischen Erziehung (These 6) und andererseits bezogen auf denjenigen der ästhetischen Bildung (These 7). (6) Unter Bezugnahme auf Hentigs Arbeiten zum Thema könnte die in der aktuellen Diskussion eher randständig behandelte Ausrichtung ästhetischer Erziehung als Befähigung des Einzelnen zur kritischen Reflexion des eigenen ästhetischen Erlebens in mindestens zweierlei Hinsicht präzisiert und aktualisiert werden: a) im Sinne einer Erziehung des Einzelnen zur „Ästhetischen Mündigkeit“ und b) im Sinne einer Verbindung von ästhetischer Erziehung und „Glücksbildung“. Betrachtet man die bisherige Diskussion zum Verhältnis von Pädagogik und Ästhetik rückblickend unter besonderer Berücksichtigung der vergangenen drei Jahrzehnte, so erweist sich als offensichtlichste Veränderung innerhalb dieses Zeitraums die Ablösung des Begriffs der ästhetischen Erziehung durch denjenigen der ästhetischen Bildung.1668 Bei diesem Begriffswandel jedoch handelt es sich nun keineswegs – wie etwa Wolfgang Krieger dies noch 2004 nahelegt 1669 – um eine vornehmlich sprachliche Veränderung: Der gemeinte „Umschwung auf den Begriff der ästhetischen
1668 Zu der darüber hinausgehenden, sich in den letzten Jahren immer deutlicher abzeichnenden neuerlichen begrifflichen „Verlagerung des pädagogischen Diskurses weg von der Ästhetischen hin zur Kulturellen Bildung als Leitbegriff für Reflexionen zur Bildungsbedeutsamkeit der Künste“ siehe in kritischer Perspektive Zürner 2015. 1669 Vgl. Krieger 2004, S. 9.
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Bildung“ 1670 zeigt vielmehr einen grundsätzlichen, auch inhaltlichen Wandel im erziehungswissenschaftlichen Nachdenken über die pädagogischen Dimensionen des Ästhetischen an. So lässt sich ab Mitte der 1980er Jahre nicht nur eine verstärkte Bemühung beobachten, „den Aspekt der Ästhetik in alle Bereiche erziehungswissenschaftlicher Reflexion zu integrieren“, die grundsätzliche „Rehabilitierung des Bildungsbegriffs in der Pädagogik der 1980er Jahre“ gerät darüber hinaus zum Anlass, vermehrt auch über Konzepte speziell ästhetischer Bildung nachzudenken und damit einhergehend ganz allgemein nach der „bildenden Wirkung von Kunst und Ästhetik zu fragen“ 1671 – womit der Fokus des pädagogischen Umgangs mit dem Ästhetischen zugleich wegrückt von Fragen der politischen Erziehung und hin zu solchen der individuellen Selbstbildung. Während es in der entsprechenden Diskussion der 1970er und frühen 1980er Jahre also noch in erster Linie um die von Parmentier skizzierten Aspekte der „kognitive[n] Wissensvermittlung“, der „Verstandeskontrolle“ sowie der „intellektuelle[n] Analyse“ von ästhetischen Phänomenen ging 1672, steht ab Mitte der 1980er Jahre zunehmend die Frage nach dem grundsätzlichen Bildungspotential ästhetischer Erfahrungsprozesse im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Zwar ist auch in d iesem Zusammenhang noch gelegentlich in allgemeinpädagogischer Perspektive von ästhetischer Erziehung und anderen Formen pädagogischer Intervention in Sachen Ästhetik die Rede, deren Aufgabe aber wird nun zumeist darauf beschränkt, dem Einzelnen gezielt zum Vollzug ästhetischer Erfahrungen zu verhelfen – und damit zugleich zur Anbahnung eines Vorgangs der ästhetischen Bildung durch ästhetische Erfahrung. Ganz in d iesem Sinne konstatiert etwa Christian Rolle, musikalisch-ästhetische Bildung finde statt, „wenn Menschen in musikalischer Praxis ästhetische Erfahrungen machen“, weshalb „[p]ädagogisches Handeln, dem an musikalisch-ästhetischer Bildung gelegen“ sei, „vielfältige Räume“ eröffnen müsse, „in denen ästhetische Erfahrungen möglich sind, angeregt und unterstützt werden“ 1673, und auch Dietrich et al. resümieren in ihrer Einführung in die Ästhetische Bildung, ästhetische Erziehung könne „ästhetische Erfahrungen anstoßen“ und ästhetische Erfahrungen wiederum könnten „ihrerseits Bildungsprozesse möglich machen“, so dass sich die Aufgabe ergebe, „Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Arrangements Möglichkeiten bereitzustellen, eigene Erfahrungen zu machen“ 1674. Dementsprechend wird von zahlreichen Autorinnen und Autoren denn auch immer wieder für eine „Entpädagogisierung der künstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“ 1675 plädiert – dafür also, erzieherische Interventionen zu Gunsten einer bildenden 1670 Ebenda 1671 Ehrenspeck 2001, S. 13 (Hervorhebung C. T. Z.) 1672 Parmentier 2004a, S. 27 1673 Rolle 1999, S. 5 1674 Dietrich et al. 2012, S. 32 1675 Dietrich 2012, S. 123
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Wirksamkeit des Ästhetischen gezielt zu reduzieren und so „ästhetische Erziehung in einen Prozess ästhetischer Selbstbildung übergehen zu lassen“ 1676. Angesichts dieser Entwicklung ließe sich nun mit Hentig argumentieren, dass dem Vorgang der ästhetischen Erfahrung zwar einerseits sehr wohl ein immenses Bildungspotential innewohnt (zu dessen Entfaltung die Pädagogik einen entscheidenden Beitrag zu leisten hätte), es jedoch andererseits zugleich eine spezifische Macht der Schönheit gibt, die beim Nachdenken über die pädagogischen Dimensionen des Ästhetischen ebenfalls berücksichtigt werden sollte. Die Aufgabe ästhetischer Erziehung bestünde demnach nicht allein in der Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen, sondern zugleich in einer Befähigung des Einzelnen zur kritischen Reflexion des eigenen ästhetischen Erlebens. Dabei allerdings hätte – anders als noch in den 1970er Jahren der Fall – weniger der gesellschaftliche „Verwertungszusammenhang“ von Kunst als Ausgangspunkt zu dienen, sondern vielmehr die von Parmentier angemahnte „eigentümliche Wirkung“ 1677 der Kunst und des Ästhetischen: ihr besonderer „Erfahrungsgehalt“ 1678. Zwar handelt es sich bei einer dergestalt formulierten Forderung nach einer reflexiv ausgerichteten Form ästhetischer Erziehung keineswegs um eine grundsätzliche Neuerung im Nachdenken über die pädagogischen Dimensionen des Ästhetischen – dies schon allein deshalb, weil aus bildungstheoretischer Perspektive sämtlichen Bildungsprozessen per se immer auch die Ebene der Reflexivität innewohnt 1679 –, unter Bezugnahme auf Hentigs Arbeiten zum Thema könnte die damit benannte, in der aktuellen Diskussion jedoch eher randständig behandelte Ausrichtung ästhetischer Bildung als „reflektierende und in Urteilen sich präsentierende Bildungsform“ 1680 allerdings in mindestens zweierlei Hinsicht präzisiert und aktualisiert werden: und zwar a) im Sinne einer Erziehung des Einzelnen zur „Ästhetischen Mündigkeit“ und b) im Sinne einer Verbindung von ästhetischer Erziehung und „Glücksbildung“. • Zu a): Wenn einer jeden Form von ästhetischer Erfahrung tatsächlich, wie von
Hentig proklamiert, nicht nur ein immenses Bildungspotential innewohnt, sondern zugleich die Fähigkeit, Prozesse der Bildung des Menschen durch das Hereinbrechen einer spezifischen Macht der Schönheit zu gefährden und zu konterkarieren, dann bräuchte es neben der gezielten Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen zugleich immer auch eine Erziehung zur „ästhetischen Mündigkeit“ 1681: eine Befähigung des Einzelnen also sowohl zur kritischen Analyse und Reflektion der eigenen
1676 Ebenda, S. 127 1677 Parmentier 2004a, S. 27 1678 Ebenda 1679 Vgl. hierzu u. a. Dörpinghaus 2015. 1680 Liebau & Zirfas 2008, S. 11. Siehe zu dieser Thematik darüber hinaus Dietrich et al’s Hinweis auf die Bedeutung der „Sprachlichkeit“ für Prozesse ästhetischer Bildung und Erziehung (Dietrich et al. 2012, S. 30). 1681 Siehe oben, Kapitel 6.4.
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„Anfälligkeit für Schönheit“ 1682 als auch zum selbstbestimmten Umgang mit der allgegenwärtigen „Mächtigkeit der ästhetischen Wirkungen“ 1683. Im Rahmen einer solchermaßen ausgerichteten Erziehung zur ästhetischen Mündigkeit müsste der Einzelne demnach befähigt werden, die Funktionsweisen und Wirkungsmechanismen des Ästhetischen zu erkennen, zu verstehen und sich ihnen sodann gegebenenfalls bewusst zu widersetzen – sei es in der Begegnung mit politischer Propaganda, im Umgang mit „überwältigenden“ Werken der Kunst oder im Rahmen anderweitiger Erfahrungen des „Übermächtigt-Werdens durch Klänge, Bilder, Inszenierungen, Rhythmen“ 1684. Ästhetische Erziehung könnte dadurch, wie Armin Bernhard jüngst unter Bezugnahme auf Adorno gezeigt hat, zugleich einen wichtigen Beitrag auch zur politischen Bildung leisten: zur „‚Entbarbarisierung‘ der Subjektwerdung und der kommunikativen Beziehungsverhältnisse in der Gesellschaft“ 1685. Wie dringlich – und zugleich überfällig – eine solchermaßen ausgerichtete Diskussion zu Fragen der ästhetischen Mündigkeit dabei auch heute noch ist, dies zeigt nicht zuletzt die inhaltliche Ausrichtung einer im November 2015 an der Leuphana Universität Lüneburg durchgeführte Tagung zum Thema „KULTUR MACHT BILDUNG“, im Rahmen derer – unter dem Stichwort der „Mächtigkeit des Ästhetischen“ 1686 – unter anderem die folgenden Fragen als Forschungsdesiderate gekennzeichnet und in den Mittelpunkt der entsprechenden Auseinandersetzung gerückt wurden: „Wie lassen sich jene Momente und Wirkungen ästhetischer Prozesse beschreiben und erforschen, die Macht über Situationen, Räume und Personen gewinnen, und für die Einzelnen unverfügbar sind, sowie geplante, didaktisierte, intendierte Vorhaben durchkreuzen? Wie werden sie andererseits auch bewusst eingesetzt (etwa in der politischen Ästhetik)? Wie hängen s olche Momente der Widerfahrnis von ästhetischer Mächtigkeit mit der Erfahrung von Ermächtigung oder Empowerment zusammen? Gibt es noch ein zeitgenössisch wirksames Konzept von Erhabenheit?“ 1687
Auch für den Bereich der ästhetischen Bildung und Erziehung lässt sich insofern – ähnlich wie dies Meike Sophia Baader jüngst in Bezug auf die systematische Reflexion von Asymmetrien im Verhältnis der Generationen vorgeschlagen
1682 1683 1684 1685
Hentig 1969d, S. 95 Ebenda, S. 94 Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung 2015, S. 1 Bernhard 2015, S. 250. Bernhard bezieht sich hier auf Adornos 1968 vorgetragenes Plädoyer für eine „Erziehung zur Entbarbarisierung“ (Adorno 1971, S. 120 ff ). Zur Kritik an der von Bernhard in d iesem Zusammenhang entwickelten Unterscheidung z wischen „kunstästhetische[n] und warenästhetische[n] Gegenstände[n]“ (S. 253) siehe genauer unten, Fußnote 1709. 1686 Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung 2015, S. 2 1687 Ebenda
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hat 1688 – eine gewisse „Machtvergessenheit“ 1689 konstatieren: die Tendenz also, über den „Glauben an die positive Wirkung des Ästhetischen“ 1690 die gleichzeitige, mitunter auch problematische „Mächtigkeit des Ästhetischen“ 1691 zu vernachlässigen. Eine solche Form der „Machtvergessenheit“ allerdings droht dabei nicht allein die Notwendigkeit einer Erziehung zur ästhetischen Mündigkeit auszublenden, sie erschwert darüber hinaus zugleich eine systematische Kritik an der pädagogischen Instrumentalisierung eben jener Macht des Ästhetischen – sei es in Auseinandersetzung mit ästhetisch überwältigenden Inszenierungen pädagogischer Gemeinschaftsmomente, in Bezug auf identitätsstiftende Wirkungen von Schuluniformen oder in der Diskussion um pädagogische Effekte der Klassenraumgestaltung. Zugleich jedoch geben die hentigschen Überlegungen zum Thema „Schönheit“ einen Eindruck davon, inwieweit auch die bewusste Thematisierung der gemeinten Macht des Ästhetischen selbst zu einer Verschleierung von anderweitigen Machtkonstellationen zu führen vermag: in dem Moment nämlich, in dem der Verweis auf eine angenommene „Macht des schönen Menschen“ dazu verwendet würde, den „liebenden Lehrer“ mit seinem „schwelenden Leiden“ als ein weiteres, vielleicht sogar als ein besonders exemplarisches Opfer der „Macht der Schönheit“ darzustellen, um so Formen der körperlichen Grenzüberschreitung zwischen Erwachsenen und Kindern gezielt zu legitimieren 1692. Vor d iesem Hintergrund wäre im Rahmen weitergehender erziehungswissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit der skizzierten Problematik denn auch eine mindestens dreifache Aufmerksamkeit für eben jene „Mächtigkeit des Ästhetischen“ 1693 wünschenswert: erstens im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Erziehung zur ästhetischen Mündigkeit, zweitens bezogen auf Vorgänge der pädagogischen Instrumentalisierung ästhetischer Überwältigung und drittens im Hinblick auf die rhetorische Legitimierung pädagogischer Grenzüberschreitungen. • Zu b): Nun ließe sich mit Hentig allerdings nicht nur die problematische – da den
Vorgang der Bildung potentiell gefährdende – Macht des Ästhetischen produktiv in Hinsicht auf eine Neuausrichtung ästhetischer Erziehung thematisieren, sondern darüber hinaus auch deren positive, beglückende Wirkung auf das Leben des Menschen. So geht Hentig nicht allein davon aus, dass es zur Bildung des Menschen gehört, sich des eigenen Glücksempfindens bewusst zu werden und vor dem Hintergrund eines solchen Bewusstseins sodann selbstverantwortlich nach einem
1688 1689 1690 1691 1692
Baader 2015a, S. 66 ff. Ebenda, S. 66 Ehrenspeck 1998, S. 23 Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung 2015, S. 2 Hentig selbst allerdings – darauf sei an dieser Stelle explizit hingewiesen – deutet eine solche Argumentationsmöglichkeit zwar an, folgt ihr selbst jedoch nicht. Siehe hierzu genauer oben, S. 201 ff. 1693 Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung 2015, S. 1
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glücklichen Leben zu streben, er weist dem Bereich des Ästhetischen bei diesem Vorgang zugleich insofern eine zentrale Rolle zu, als dass er die Erfahrungsdimension des Ästhetischen als besonders wichtige Quelle menschlicher Glückserfahrung identifiziert wissen möchte. Die Aufgabe ästhetischer Erziehung im Spannungsfeld von Glück, Ästhetik und Bildung hätte im Sinne Hentigs daher in erster Linie darin zu bestehen, Kinder und Jugendliche über den Weg einer Erziehung zur ästhetischen Glücksfähigkeit in der Bemühung zu unterstützen, das eigene Glücksempfinden im Umgang mit dem Ästhetischen zu erkunden und zu sensibilisieren, um sie auf d iesem Wege zugleich zu befähigen, im weiteren Verlauf ihres Lebens selbstverantwortlich ihr Glück im Umgang mit dem Ästhetischen zu suchen. Doch auch wenn das auf d iesem Wege berührte Thema einer „Pädagogik der 1694 Glücksgefühle“ in den vergangenen Jahren eine deutliche Konjunktur sowohl in der allgemeinpädagogischen 1695 wie auch in der schulpädagogischen 1696 Diskussion erfahren hat: Ausgerechnet in der Auseinandersetzung mit Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung ist der Kategorie Glück bisher „verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt“ 1697 worden.1698 So finden sich zwar insbesondere bei Jörg Zirfas und Verena Freytag einige neuere Bemühungen, die Bedeutung des Glücks auch für Prozesse ästhetischer Bildung genauer zu bestimmen 1699 – und auch Martin Seel plädiert dafür, das „Glück der Form“ als eine spezifische „Dimension ästhetischer Bildung“ zu begreifen 1700 –, eine systematische Herleitung und empirische Analyse einer solchermaßen ausgerichteten Form ästhetischer Glücksbildung und -erziehung steht allerdings noch weitestgehend aus. Vor diesem Hintergrund könnte ein an Hentig geschultes Verständnis ästhetischer Erziehung, dem neben der bereits skizzierten Forderung nach einer Erziehung zur ästhetischen Mündigkeit explizit daran gelegen ist, Kinder und Jugendliche in der Bemühung zu unterstützen, das eigene Glücksempfinden im Umgang mit dem Ästhetischen zu erkunden und zu sensibilisieren, eine durchaus geeignete Ausgangsposition auch für zukünftige erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den
1694 Zirfas 2011 1695 Vgl. bspw. Brumlik 2002; Taschner 2003; Münch & Wyrobnik 2010; Zirfas 2011 und Andresen 2012. 1696 Vgl. bspw. Fritz-Schubert 2008 und Fritz-Schubert et al. 2015. 1697 Freytag 2015, S. 1 1698 Dies allerdings bedeutet wiederum nicht, dass es sich bei der von Hentig vorgenommenen Verknüpfung von ästhetischer Erziehung und „Glücksbildung“ um ein vollkommen neues Phänomen handeln würde. (Siehe hierzu bspw. Baader 2007 mit Blick auf Ellen Keys Programm einer „Schönheit für alle als Moment einer umfassenden Lebenskunst“ (Baader 2007, S. 123 ff., unter Bezugnahme auf Key 1906 und Key 1992).) 1699 Vgl. Zirfas 2007; Zirfas 2008; Zirfas 2011; Freytag 2013 und Freytag 2015. 1700 Seel 2007a. Zur erziehungswissenschaftlichen Rezeption der seelschen Veröffentlichungen zum Verhältnis von Glück und Ästhetik siehe darüber hinaus Bockhorst 2012, S. 137 f.
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skizzierten Problemfeldern darstellen – ganz im Sinne der bereits mehrfach angeführten Paraphrase, wonach der Vorgang der ästhetischen Bildung mit Hentig dann als verfehlt bezeichnet werden kann, wenn er einem Menschen keinen Grund, keinen Anlass, keine Fähigkeit zur Freude im Umgang mit dem Ästhetischen gegeben hat 1701. In d iesem Zusammenhang allerdings wäre zugleich zu berücksichtigen, dass die von Hentig proklamierte Bedeutsamkeit der Kategorie „Glück“ für den Vorgang der ästhetischen Bildung im Umkehrschluss keineswegs bedeutet, dass auch ein jeder einzelner Vorgang der ästhetischen Erfahrung notwendigerweise Elemente „episodischen“ Glücks umfassen müsste 1702. Im Gegenteil: Eine jede Form der ästhetischen Erfahrung würde im Sinne Hentigs zugleich immer auch die Möglichkeit zum Vollzug einer verstörenden und gerade dadurch potentiell bildenden Erfahrung beinhalten 1703, so dass einer entsprechend ausgerichteten Form von ästhetischer Erziehung zwar einerseits daran gelegen sein sollte, Kinder und Jugendliche in der Bemühung zu unterstützen, das eigene Glücksempfinden im Umgang mit dem Ästhetischen zu erkunden und zu sensibilisieren, sie allerdings andererseits stets dazu anzuhalten hätte, nicht nur Momente des Glücks, sondern auch solche der Herausforderung im Umgang mit dem Ästhetischen zu suchen. Damit ließen sich die hentigschen Überlegungen zur ästhetischen Erziehung zwar einerseits in aktuelle Bemühungen zur Beförderung einer „Lebens-Kunst-Bildung“ 1704 einbinden, sie würden diese Bemühungen jedoch andererseits zugleich prinzipiell überschreiten. Wenn auf diesem Wege allerdings im Anschluss an Hentig für eine ästhetische Erziehung im Sinne einer Befähigung des Einzelnen zur kritischen Reflexion des eigenen ästhetischen Erlebens plädiert wird, so soll damit weder eine Rückkehr zum rein sozialwissenschaftlich ausgerichteten Ästhetik-Unterricht der 1970er Jahre gefordert noch ein prinzipieller Widerstreit von ästhetischer Erziehung und ästhetischer Bildung konstruiert werden. Im Gegenteil: Wenn ästhetische Erziehung im skizzierten Sinne immer auf ästhetische Bildung abzielt und ästhetische Bildung wiederum in vollem Umfang nur durch ästhetische Erziehung realisiert werden kann, dann müssen beide Begriffe als in einem
1701 Siehe hierzu genauer oben, S. 264 1702 Zur hier relevant werdenden Unterscheidung zwischen „episodischem“ und „übergreifendem“ Glück siehe genauer Seel 1999, S. 62 ff. 1703 Dies gilt insbesondere für ästhetische Erfahrungen im Umgang mit Werken der Kunst, da diesen im Sinne Hentigs immer auch das Potential innewohnt, bestehende Wahrnehmungsmuster zu unterlaufen und so dem Einzelnen zu einer befreienden „Erkundung des M öglichen“ zu verhelfen (siehe hierzu genauer oben, Kapitel 6.2). Doch auch für Erfahrungen des „nur“ Ästhetischen gilt, dass diese – wie im vorangegangenen Abschnitt bereits dargestellt – eine durchaus verstörende Macht entfalten können, die dem Einzelnen zumindest dann als Ausgangspunkt einer bildenden Erfahrung zu dienen vermag, wenn sie ihm darin hilft, sich durch den Vorgang ihrer Bewältigung gleichzeitig in ästhetischer Mündigkeit zu üben. 1704 Bockhorst 2012, S. 135
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fruchtbaren Verhältnis zueinander stehend begriffen werden: als „zwei unterschiedliche Aspekte eines komplexen Zusammenhangs“ 1705. Eine stärkere Berücksichtigung eben dieser Interdependenz könnte daher auch zugleich geeignet sein, den von Parmentier für die Geschichte der ästhetischen Bildung skizzierten Vorgang des „auffällige[n] Schwanken[s] z wischen einseitiger Gemütsbildung und einseitigem Verstandestraining“ 1706 zumindest ansatzweise zu beruhigen: durch eine konstruktive Verbindung von „Gemütsbildung“ auf der einen und „Verstandestraining“ auf der anderen Seite. Bei einem solchen Vorgehen allerdings wäre zugleich eine prinzipielle, scheinbar allgemeingültige Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Formen des Ästhetischen unbedingt zu vermeiden. Denn auch dies zeigt die Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte des hentigschen Konzepts ästhetischer Erziehung in aller Deutlichkeit: In der Regel sind es – gerade auch in Hentigs Schriften zum Thema – von vornherein nahezu ausschließlich Phänomene der Alltags- und Popkultur, die Gegenstand entsprechender Aufklärungsbemühungen von Seiten der Pädagogik werden, während sich der entsprechende Umgang mit Gegenständen der abendländischen „Hochkultur“ zumeist auf deren angenommenes Potential als Ausgangspunkt ästhetischer Bildungsprozesse sowie als Quelle individueller Glückserfahrung konzentriert. Ein erfahrungsbezogenes Verständnis des Ästhetischen jedoch, das sich im oben skizzierten Sinne als nicht-essentialistisch begreift 1707, dürfte eine solchermaßen vor der Erfahrung liegende Unterscheidung z wischen „guten“ und „schlechten“ Formen des Ästhetischen gar nicht erst vornehmen. Der Pädagoge, dem an einer Befähigung des Einzelnen zur kritischen Reflexion des eigenen ästhetischen Erlebens gelegen ist, müsste als Grundlage seines pädagogischen Denkens und Handelns vielmehr eine prinzipielle Offenheit für das Feld des Ästhetischen und die darin enthaltenen Erfahrungsmöglichkeiten und „heterogenen Genüsse“ 1708 entwickeln.1709 1705 Sander 2015, S. 521. Zu der hier relevant werdenden Interdependenz von Erziehung und Bildung siehe auch Benner 2015a. 1706 Parmentier 2004a, S. 22 1707 Siehe oben, S. 289 1708 Seel 2013, S. 241 1709 Wie aktuell eine solchermaßen angesprochene normative Unterscheidung zwischen sogenannter U- und E-Kultur dabei auch heute noch ist, zeigt nicht zuletzt der weiter oben bereits zitierte Beitrag Armin Bernhards zum Thema „Pädagogische Ästhetik“ (Bernhard 2015): Hier plädiert Bernhard – eine ganz ähnliche Terminologie wie in obigem Abschnitt vorgeschlagen verwendend – zwar ebenfalls für eine „Ästhetisch-politische Bildung“ (ebenda S. 263) im Sinne einer Erziehung des Einzelnen zur „ästhetische[n] Mündigkeit“ (S. 266), er bindet dieses Plädoyer allerdings zugleich explizit an eine Unterscheidung z wischen „kunstästhetische[n] und warenästhetische[n] Gegenstände[n]“ (ebenda, S. 253) – wobei es seines Erachtens „in der Warenästhetik um die Überwältigung des Bewusstseins“ geht und in der Kunst um dessen „Weckung und freiheitliche Betätigung“ (ebenda, S. 267, Hervorhebung C. T. Z.). Und so ist es denn auch ausgerechnet die „Mülldeponie“ der Alltags- und Popkultur, deren „Discount-Waren“ laut Bernhard auf ihre „gesellschaftlichen Verführungsmechanismen“ hin
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(7) Neben der skizzierten Forderung nach einer ästhetischen Erziehung im Sinne einer Befähigung des Einzelnen zur kritischen Reflexion des eigenen ästhetischen Erlebens ließe sich mit Hentig zugleich auch für eine stärkere bildungstheoretische Berücksichtigung des Prinzips der vikarischen Erfahrung plädieren – und dies gerade auch bezogen auf Gegenstände der Populären Kultur. Nun ist es allerdings keineswegs so, dass Hentig allein für die Notwendigkeit eines Vorgangs der ästhetischen Erziehung plädieren würde. Im Gegenteil: Wie bereits mehrfach hervorgehoben und insbesondere in Kapitel 6.5 ausführlich dargelegt, steht im Mittelpunkt der hentigschen Überlegungen zum Thema vielmehr immer auch das besondere Bildungspotential der Erfahrungsdimension Kunst – und damit zugleich die Bedeutsamkeit eines Vorgangs der ästhetischen Bildung. Dabei sind es insbesondere zwei eng miteinander verbundene pädagogische Dimensionen des Ästhetischen, die Hentig wiederholt ins Zentrum seiner Auseinandersetzungen rückt: • So geht er erstens davon aus, dass sich dem Einzelnen im Umgang mit Werken der
Kunst die Möglichkeit zum Vollzug einer vikarischen Erfahrung des Ernstfalls eröffnet. Damit ist die Möglichkeit gemeint, die im Zeichengeschehen „Kunstwerk“ eingelagerten (mitunter existentiellen) Erfahrungen anderer stellvertretend – so die von Hentig verwendete Übersetzung des Begriffs des Vikarischen 1710 – „in der Vorstellung mitzuvollziehen“ 1711 und durch einen Prozess des künstlerischen Verstehens in eigene Erfahrung umzuwandeln. Auf diesem Wege, so die Hoffnung Hentigs, könne dem jeweiligen Rezipienten der Vollzug einer Vielzahl an bildenden Erfahrungen ermöglicht werden: an Erfahrungen, die sich dem Einzelnen in seinem derzeitigem Leben so sonst nicht eröffnen würden und unter Zugrundelegung derer er dem tatsächlichen Leben zu einem späteren Zeitpunkt dann gegebenenfalls nicht mehr zu „erliegen“ 1712 bräuchte, wenn es die entsprechenden Erfahrungen irgendwann selbst bringt.
• Darüber hinaus spricht er dem Umgang mit Werken der Kunst zweitens ein besonde-
res Befreiungspotential zu: So geht er davon aus, dass sich dem Einzelnen im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen die Möglichkeit eröffnet, seine „sinnliche Primärwahrnehmung“ durch den Vorgang einer Erkundung des Möglichen methodisch in „Offenheit und Kreativität zu üben“ und sich so „aus den im strengen Sinn des Wortes ‚herrschenden‘ Zuständen freizuspielen“ 1713. Dem Umgang mit Werken der Kunst im solchermaßen
1710 1711 1712 1713
untersucht und einer „geistige[n] Entsorgung von Müll“ unterzogen werden sollten (ebenda, S. 264): „Die Kosmetik, die Schminke, das Outfit, das Design einer Fernsehsendung, eines Videoclips, eines Werbespots.“ (Ebenda, S. 264) Siehe hierzu genauer oben, S. 240 ff. Hentig 1973, S. 42 f. Hentig 1959a, S. 61 Hentig 1969c, S. 330
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umrissenen „Spielraum der Freiheit“ 1714 weist Hentig vor diesem Hintergrund eine wichtige Bedeutung nicht allein für die individuelle und gesellschaftliche Befreiung des Menschen zu, er möchte den Vorgang der künstlerischen Erfahrung auf d iesem Wege zugleich – im Sinne einer intellektuellen Befreiung – als geeignetes Instrument zur Vorbereitung auf das abstrakte Denksystem der Wissenschaft verstanden wissen. Während es sich bei der zuletzt genannten Hoffnung auf eine Befreiung des Menschen im Spielraum der Kunst allerdings um einen Topos handelt, der spätestens seit Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen 1715 einen festen Platz im Arsenal der pädagogisch motivierten „Versprechungen des Ästhetischen“ 1716 einnimmt und dementsprechend auch in der jüngeren Diskussion zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung immer wieder diskutiert und aktualisiert wird 1717, spielt das zuerst genannte Prinzip einer vikarischen Erfahrung des Ernstfalls 1714 1715 1716 1717
Hentig 1967b, S. 204 Schiller 2008 Ehrenspeck 1998 Dabei ist es insbesondere jene auch von Hentig ins Zentrum seiner Überlegungen gestellte und weiter oben bereits ausführlicher behandelte Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen, die den Ausgangpunkt gerade zahlreicher neuerer Überlegungen zum Thema darstellt. So konstatiert etwa Hans-Rüdiger Müller, Erwachsene wie Kinder könnten sich „in der ästhetischen Erfahrung eines Kunstwerks von den Deutungsgewohnheiten und Entscheidungszwängen ihrer Alltagswelt befreien“, beziehungsweise sich in ein „ästhetisches, frei s ymbolisierendes Spiel ihrer Wahrnehmungen und Verhaltensmöglichkeiten begeben“ (Müller 2004, S. 73), und auch Jörg Zirfas resümiert, als „ästhetisch“ ließen sich Erfahrungen erst dann bezeichnen, „wenn sie einen Bruch mit den üblichen Wahrnehmungen“ markierten und so „das bislang Un-erhörte, Un- gesehene, Un-erahnte“ zur Wahrnehmung brächten (Zirfas 2004, S. 78). Er ergänzt: „Kunstgegenstände bringen in bedeutsamer Weise jenes Andere durch eine Realitätsverdoppelung zum Ausdruck, da sie symbolisch prägnante Raum- und Zeitstrukturen vorschlagen und entwerfen. Diese Realitätsverdoppelung ist die Bedingung für einen Freiheitsspielraum der Wahrnehmung: der freilassende Abstand vom alltäglich gelebten Leben in der ästhetischen Erfahrung ermöglicht so Affirmation oder Kritik, d. h. eine Stellungnahme zu dem, was mir als Gegenstand gegenübersteht. Im Gegensatz zum pragmatischen Lebensalltag mit seiner theoretischen oder utilitaristischen Haltung gewährt die ästhetische Erfahrung einen Freiheitsspielraum von Wahrnehmungsmöglichkeiten. […] Kunstwerke verdichten Wahrnehmungen und erzeugen somit Erfahrungen der Offenheit, Mehrdeutigkeit und Kontingenz. Das Kunstwerk, als Einheit von Mannigfaltigkeit, liefert in seiner Redundanz Varietät, in seiner Komposition Komplexität, in seiner Symbolik Unausdeutbarkeit und durch seine Ordnung den Beweis dafür, dass auch im Kosmos des nur Möglichen eine Strukturierung vorhanden ist. Die ästhetische Erfahrung ist somit die Erfahrung einer Realität ohne Aktualität, einer Idealität ohne Abstraktion, einer Möglichkeit ohne Realisierung.“ (Ebenda, S. 79) Hentigs Überlegungen zum Thema „Kunst als Befreiung“ erscheinen vor d iesem Hintergrund also zwar einerseits als absolut anschlussfähig an den aktuellen Diskurs zu Fragen der ästhetischen Bildung, sie dürften d iesem Diskurs allerdings andererseits insofern nur begrenzt Neues hinzuzufügen im Stande sein, als dass das
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zumindest in der neueren, allgemeinpädagogischen Diskussion zum Thema eine eher untergeordnete Rolle. Ja, die von Hentig unter dem Stichwort „vikarische Erfahrung“ in den Blick genommene spezifische Darstellungsfunktion von Kunst erscheint in der jüngeren Diskussion zuweilen gar als reine Vorstufe des Ästhetischen: als „Protoästhetik“ 1718. Besonders deutlich wird dieser Umstand in jenem weiter oben bereits mehrfach zitierten – und durch seine Veröffentlichung in dem von Dietrich Benner und Jürgen Oelkers 2004 herausgegebenen Historischen Wörterbuch der Pädagogik zugleich überaus prominent platzierten – Überblicksbeitrag Michael Parmentiers zum Thema „Ästhetische Bildung“ 1719. Hier konstatiert Parmentier mit Blick auf die Frage, von welchem Alter an Kinder oder Heranwachsende überhaupt in der Lage s eien, ästhetische Erfahrungen zu machen und „Kulturerzeugnisse wie ein Gemälde Dubuffets, ein Klavierstück Schumanns oder eine Videoinstallation Bill Violas angemessen zu rezipieren“, es spräche manches dafür, „dass Kinder im Vorschul- und wohl auch im Grundschulalter zu ästhetischen Erfahrungen im strengen Sinne nicht fähig“ s eien.1720 Zumindest, so Parmentier, legten deren „Präferenzen“ dies nahe 1721: „Im Bereich der bildenden Kunst z. B. entscheiden sich Kinder, wenn sie die Wahl haben, meist für szenische und detailreiche Vorlagen und gegen abstrakte Kompositionen. Diese Vorliebe für die gegenständliche Darstellungsart verweist auf das überragende Interesse der Kinder am Thema oder Inhalt der Bilder. […] Was für die Kleinen zählt, ist das Thema oder der dargestellte Stoff. Formale Qualitäten spielen dagegen, wenn überhaupt, nur eine geringe Rolle. Sie werden von den Kindern meist gar nicht wahrgenommen, geschweige denn gewichtet. Die Aufmerksamkeit für formale Merkmale wie Harmonie oder K ontrast beispielsweise ist bei ihnen ebenso unentwickelt wie ihre Stil-Sensitivität und ihr Verständnis für emotionale Ausdrucksdimensionen. […] Die Kinder differenzieren offenbar bei ihren Präferenzurteilen nicht (oder zumindest nicht ausreichend) z wischen dem Vergnügen an der sinnlichen Erscheinung des Gegenstandes auf dem Bild (der Darstellung)
ihnen zugrunde liegende Verständnis ästhetischer Bildung als Vorgang einer individuellen, gesellschaftlichen und intellektuellen Befreiung im spielerischen Versuch der verstehenden Ausein andersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen hohe Ähnlichkeiten gerade zu neueren, seit Beginn der 1990er Jahre entwickelten Modellen ästhetischer Bildung aufweist. Lediglich in zweierlei Hinsicht könnten die hentigschen Überlegungen zum Thema „Kunst als Befreiung“ derzeitig als Impuls für die Pädagogik-Diskussion dienen: erstens im Sinne einer Verbindung des Prinzips der „Befreiung“ mit demjenigen der „vikarischen Erfahrung“ (siehe hierzu genauer unten, S. 304 ff.) und andererseits im Sinne einer Verknüpfung von ästhetischer Bildung und Wissenschaftspropädeutik (siehe hierzu genauer oben, S. 252 ff.). 1718 Parmentier 2004b 1719 Parmentier 2004a 1720 Ebenda, S. 29 1721 Ebenda
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und dem Vergnügen, das mit dem realen Besitz oder Gebrauch dieses Gegenstandes (dem Dargestellten) verbunden ist. Das Bild des Gegenstandes und der Gegenstand selbst gehen ineinander über.“ 1722
Zur Verdeutlichung der mit einer solch mangelnden Unterscheidung von Darstellung und Dargestelltem einhergehenden „Konfusionen“ 1723 führt Parmentier sodann eine von Michael Parsons Mitte der 1970er Jahre in den USA durchgeführte experimentelle Studie zur Entwicklung ästhetischer Erfahrungen bei Kindern an, im Rahmen derer unter anderem die Reaktion eines etwa sechsjährigen Mädchens beim Betrachten eines Bildes beschrieben wird, auf welchem „ziemlich detailliert das Leben auf einer Farm im mittleren Westen der USA “ dargestellt ist 1724. Den in diesem Zusammenhang dokumentierten Hinweis des Mädchens, das ihm vorgelegte Bild gefalle ihm gerade deshalb, weil ihm „das Leben auf der [dargestellten] Farm gut gefallen würde“, deutet Parmentier – im Anschluss an Parsons – nun so, dass die Befragte sich „in das Bild hineinprojiziert und damit die Unterscheidung verfehlt [habe] zwischen dem Gefallen an dem imaginierten Leben auf der Farm und dem Gefallen an der Erscheinung des Bildes“.1725 Das Mädchen, so Parmentier, habe also „die Attraktivität der Darstellung konfundiert mit der Attraktivität der dargestellten Szene“ und dadurch auf das Bild „fast so“ reagiert „als stünde sie vor einer realen Farm“.1726 Er ergänzt: „Die Vermischung von Dargestelltem und Darstellung, oder genauer: die Gleichsetzung des Vergnügens, das mit dem Besitz des realen Objekts verbunden ist, mit dem Vergnügen, das sein Abbild auslöst, ist charakteristisch für die ästhetische Rezeption in dieser frühen Phase der Entwicklung. Parsons sieht darin die Erklärung für die überragende Bedeutung des Bildgegenstandes und für den komplementären Mangel an Form-, Stilund Ausdrucksempfinden bei den Kindern. Erst wenn die Kinder unterscheiden können zwischen der Attraktivität der Darstellung und der Attraktivität des Dargestellten, wird sich dieses Missverhältnis ändern. Erst dann sind nämlich die Bedingungen gegeben für die Entstehung von Formbewusstsein und Ausdrucksverständnis und damit für eine angemessene Reaktion auf ästhetische Gebilde.“ 1727
1722 Ebenda, S. 29 f. 1723 Ebenda, S. 30 1724 Ebenda. Parmentier bezieht sich hier auf Parsons’ 1976 erschienenen Aufsatz “A Suggestion Concerning the Development of Aesthetic Experience in Children” (Parsons 1976). Bei dem von Parsons verwendeten Bild handelt es sich um Louis Maurers Preparing for Market von 1865 (vgl. Parsons 1976, S. 309). 1725 Parmentier 2004a, S. 30 1726 Ebenda 1727 Ebenda
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Zwar ist diese Argumentation Parmentiers – genau wie zuvor diejenige Parsons – keineswegs unwidersprochen geblieben 1728, die ihr zugrunde liegende Haltung jedoch, dem Umgang mit Werken der Kunst vornehmlich dann eine Bedeutung für die ästhetische Bildung des Menschen zusprechen zu wollen, wenn bei deren Rezeption die formale Gestalt der Darstellung selbst in den Vordergrund tritt, bildet dennoch eine weit über Parmentier hinausreichende Konstante insbesondere im allgemein pädagogischen Nachdenken über Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung – ein Umstand, der nicht zuletzt daran deutlich wird, dass die von Parmentier formulierte grundsätzliche Abwertung der kindlichen Präferenz „für szenische und detailreiche Vorlagen und gegen abstrakte Kompositionen“ 1729 in den bisherigen Auseinandersetzungen mit dessen Thesen zum Thema wenn überhaupt nur am Rande problematisiert wird.1730 Vor d iesem Hintergrund ließe sich nun mit Hentig argumentieren, dass die von Parmentier vorgetragene Geringschätzung der kindlichen „Vorliebe für die gegenständliche Darstellungsart“ 1731 eine ungemein wichtige Dimension ästhetischer Bildung im Umgang mit Werken der Kunst systematisch auszublenden droht – und zwar diejenige der vikarischen Erfahrung. So könnte unter Bezugnahme auf Hentig gerade jenes von Parmentier konstatierte „überragende Interesse der Kinder am Thema oder Inhalt“ 1732 eines künstlerischen Gegenstandes weniger als Anzeichen für einen kindlichen „Mangel an Form-, Stil- und Ausdrucksempfinden“ 1733 gewertet werden, sondern vielmehr als eine auch bei jüngeren Kindern bereits grundsätzlich vorhandene Fähigkeit zum Vollzug einer spezifischen Form von ästhetischer Zeichen- Erfahrung, die in dieser Form eben nur im Umgang mit Werken der Kunst vollzogen werden kann. Der Umstand also, dass das von Parsons befragte Mädchen auf das ihm vorgelegte Bild „fast so“ reagiert, „als stünde sie vor einer realen Farm“ 1734, könnte in d iesem Sinne gerade auf einen besonders gelungenen Vorgang ästhetischer Erfahrung schließen lassen. Denn: Wie auch Parmentier durch den Einschub des Wortes „fast“ zu erkennen gibt, reagiert das Mädchen eben nicht wirklich so, als stünde es vor einer „realen Farm“ – die
1728 Vgl. bspw. Aissen-Crewett 1997, S. 9 ff.; Mattenklott 2004 S. 20 ff. oder Bender 2010, S. 72 f. 1729 Parmentier 2004a, S. 29 1730 So konzentriert beispielsweise Gundel Mattenklott sich in ihrer Kritik des zitierten Aufsatzes Parmentiers vornehmlich auf den Umstand, dass Kinder einerseits sehr wohl „bereits früh ein lebhaftes Interesse an Musik und an formalen Aspekten der Literatur“ entwickeln würden und andererseits durchaus mit „emotionale[r] Intensität“ auf die von Parmentier angesprochene „Ausdrucksdimensionen“ von Kunstwerken reagieren würden (Mattenklott 2004 S. 21). 1731 Parmentier 2004a, S. 29 1732 Ebenda 1733 Ebenda, S. 30 1734 Ebenda
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Wahrnehmung der dargestellten Szene als Wahrnehmung einer spezifischen Form der Darstellung dieser Szene bleibt vielmehr auch im Falle des befragten Mädchens grundsätzlich gewahrt.1735 Damit allerdings verweist das von Parmentier gewählte Beispiel letztlich in besonders eindrucksvoller Weise auf das spezifische Potential künstlerischer Zeichen, dem Rezipienten die Möglichkeit zu eröffnen, durch das Betrachten eines Bildes, das Lesen eines Buches oder das Erleben eines Theaterstückes dermaßen tief in eine fremde Welt einzutauchen, dass dieser „fast“ meint, selbst dort zu sein – aber eben immer nur fast. Eben dieses besondere Erfahrungspotential künstlerischer Z eichen wiederum ließe sich nun mit Hentig insofern zugleich als besonderes Bildungs-Potential deuten, als dass sich dem Einzelnen auf d iesem Wege die Gelegenheit eröffnet, in der oben skizzierten Art und Weise die im Zeichengeschehen Kunst eingelagerten „Erfahrungen anderer in der Vorstellung mitzuvollziehen“ 1736 und so durch einen Prozess des künstlerischen Verstehens in eigene Erfahrung umzuwandeln. Dem jeweiligen Rezipienten – egal ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener – würde sich so im Umgang mit Werken der Kunst die Gelegenheit zu einer ästhetischen „Erkundung des Möglichen“ 1737 bieten: vom „Leben auf einer Farm im mittleren Westen der USA “ 1738 bis hin zur Erfahrung von „Krieg, Todeszelle, Abenteuer am Berg, Gefahr auf See, Alltag im Urwald, antike[m] Rom, Französische[r] Revolution, englische[m] Gerichtshof, erfüllte[r] Liebe, vollendete[r] Schönheit, Elend, Schuld …“ 1739. In diesem Zusammenhang allerdings wären im Anschluss an Hentig zugleich zwei weitere Aspekte unbedingt zu berücksichtigen: So ist erstens der Vollzug einer vikarischen Erfahrung des Ernstfalls im Sinne Hentigs nur dann möglich, wenn eben dieser Vollzug im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen geschieht – mit anderen Worten: im künstlerischen „Spielraum der Freiheit“ 1740. Im einzelnen Kunstwerk wären demnach nicht einfach „fertige“ Erfahrungen eingeschlossen, die vom Rezipienten dann nur noch „richtig“ herausgelesen werden müssten, ein jedes Kunstwerk würde vielmehr einen spezifischen Möglichkeitsraum bereitstellen, innerhalb dessen die gemeinte Form der
1735 Auf die hier relevant werdende Unterscheidung z wischen „materiellem Bild-Objekt und materieller oder immaterieller Bild-Erscheinung“ (Seel 2003, S. 292) weisen denn auch Dietrich et al. hin, wenn sie – in Bezugnahme auf eine „fundamentale Differenz“ (Dietrich et al. 2012, S. 109) zwischen Realität und künstlerischer Imagination – die insbesondere in literaturdidaktischen Zusammenhängen gängige Gleichsetzung von „lebensweltliche[r] Wahrnehmung und Lektüre“ kritisieren (ebenda, S. 109). 1736 Hentig 1973, S. 42 f. 1737 Siehe oben, Kapitel 5.1.2. 1738 Parmentier 2004a, S. 30 1739 Hentig 1973, S. 45 1740 Hentig 1967b, S. 204. Zur hier bedeutsam werdenden Dialektik von Spielraum und Ernstfall siehe genauer oben, S. 249
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Gesamtfazit
Erfahrung dann erst vom einzelnen Rezipienten in je individueller Weise zu vollziehen wäre. Der Einzelne wäre dem ihm gegenübertretenden Kunstwerk in d iesem Sinne also nicht willenlos ausgeliefert, sondern hätte vielmehr die Möglichkeit, dessen spezi fischen Zeichencharakter als Anlass für eine individuell zu vollziehende vikarische Erfahrung des Ernstfalls zu nutzen. Darüber hinaus und als Zweites hätte eine Pädagogik, die sich im Sinne Hentigs darum bemüht, dem Einzelnen in der skizzierten Art und Weise zum Vollzug einer vikarischen Erfahrung des Ernstfalls zu verhelfen, bei einer solchen Anstrengung zugleich immer auch die Notwendigkeit einer gleichzeitigen Erziehung zur ästhetischen Mündigkeit zu berücksichtigen. Für den Fall nämlich, dass Werken der Kunst tatsächlich das Potential innewohnen sollte, dem Rezipienten zu (mitunter auch existentiellen) Erfahrungen des Ernstfalls zu verhelfen, wäre der Einzelne zugleich darauf angewiesen, der solchermaßen wirksam werdenden „Mächtigkeit des Ästhetischen“ 1741 ein Bewusstsein von der eigenen „Anfälligkeit für Schönheit“ 1742 entgegensetzen zu können – sei es zum Zwecke eines rechtzeitigen Abbruchs der entsprechenden Erfahrung, zur besseren, anschließenden Verarbeitung dieser oder zur kritischen Ausein andersetzung mit den diversen, im einzelnen Kunstwerk enthaltenen Wertungen und impliziten Deutungen der jeweils zur Darstellung gebrachten „Wirklichkeit“. Ausgehend von einer solch inhaltlichen Schärfung des Prinzips der vikarischen Erfahrung ließe sich damit auch zugleich der von Dietrich et al. aufgezeigten Proble matik begegnen, wonach die prinzipielle Annahme, „fremde Realität könne durch Literatur, Film oder andere künstlerische Medien besonders gut erschlossen werden“ 1743, insofern als „nicht unproblematisch“ 1744 bezeichnet werden muss, als dass die in solcher Weise zur Darstellung gebrachte „Wirklichkeit“ nicht nur häufig „romantisiert, exotisiert, verklärt, mit Schreckbildern versetzt, mit Illusionen überzuckert, dem eigenen Verständnishorizont angepasst, brutal in die Schemata der eigenen Wahrnehmung gezwängt oder mit Projektionen zugedeckt“ 1745 wird, sondern darüber hinaus oftmals als etwas verwendet wird, was sie nicht ist und was ihr nicht gerecht wird: als reine Information, vergleichbar einem „sachliche[n] Bericht“ 1746. Wird nun nämlich das Prinzip der vikarischen Erfahrung im oben skizzierten Sinne sowohl mit demjenigen
1741 1742 1743 1744 1745 1746
Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung 2015, S. 2 Hentig 1969d, S. 95 Dietrich et al. 2012, S. 109 (Hervorhebung C. T. Z.) Ebenda (Hervorhebung C. T. Z.) Ebenda, S. 110 Ebenda. Zwar beziehen Dietrich et al. sich mit diesem Hinweis speziell auf die in „fachdidaktischen Diskursen“ zu beobachtende Tendenz, „Kunst und Literatur“ immer wieder dann heranzuziehen, „wenn es gilt zum Aufbau interkultureller Kompetenzen beizutragen“ (ebenda, S. 109, Hervorhebung C. T. Z.), die in d iesem Zusammenhang aufgezeigte Problematik allerdings scheint durchaus auch auf den Gesamtbereich der pädagogischen Indienstnahme künstlerischer Zeichen übertragbar zu sein.
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der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen als auch mit demjenigen der ästhetischen Mündigkeit verknüpft, so wäre eine Pädagogik, die sich um die Bereitstellung künstlerischer Werke als Ausgangspunkt vikarischer Erfahrungen bemüht, einerseits davor gewarnt, die dabei verwendeten Gegenstände als scheinbar objektive Informationslieferanten zu gebrauchen – und damit ihr spezifisches Potential als künstlerische Zeichen zu vergeben –, und andererseits dazu angehalten, die im einzelnen Werk aufscheinenden Wertungen und Deutungen selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Vor diesem Hintergrund – sowie anschließend an jene weiter oben bereits ausführlicher vorgetragene Warnung vor einer prinzipiellen Unterscheidung z wischen „guten“ und „schlechten“ Formen des Ästhetischen – könnte damit zugleich für eine stärkere Berücksichtigung des Bildungspotentials künstlerischer Gegenstände gerade auch aus dem Bereich der Populären Kultur plädiert werden. Denn: Eine Pädagogik, die nicht nur zur ästhetischen Mündigkeit erzieht, sondern gleichzeitig davon ausgeht, dass sich dem Einzelnen im spielerischen Versuch der verstehenden Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit künstlerischer Zeichen eine grundsätzliche Freiheit in der Rezeption eben dieser Zeichen eröffnet, hätte zugleich die Chance, sich dem gängigen kulturkritischen Reflex zu entziehen, den Rezipienten insbesondere neuerer „mediale[r] Bilder“ 1747 als willenloses Opfer zu begreifen, dem nichts anderes übrig bleibt, als sich der „Übermacht“ und „Perfektion“ 1748 eben dieser Bilder zu unterwerfen und sich von ihnen „kolonisieren“ 1749 zu lassen 1750. In der Tradition der Cultural Studies stehend 1751 könnte in diesem Sinne also zugleich mit Hentig gegen Hentig argumentiert werden: nämlich für eine verstärkte Offenheit der Pädagogik auch gegenüber solchen Gegenständen der Kunst, die ihre Wirkungen noch nicht „für viele“, „unbestritten“ und „verlässlich“ getan haben 1752, sondern auf den ersten Blick vielleicht banal oder sogar „jugendgefährdend“ erscheinen mögen. Auch ihnen nämlich würde, zumindest prinzipiell, das Potential innewohnen, als Anlass einer vikarischen Erfahrung des Ernstfalls im Spielraum der Kunst zu dienen – und damit zugleich als Ausgangpunkt eines Vorgangs der ästhetischen Bildung.
1747 Ströter-Bender 2004, S. 251 1748 Ebenda 1749 Vgl. Ströter-Bender 2004, S. 251 in Anlehnung an eine Formulierung Wolfgang Leuschners (Leuschner 2001, S. 17). 1750 Siehe zu dieser Problematik auch Kaspar Maases jüngst vorgetragenes „Plädoyer für den Mainstream als Feld – nicht als Feind – der Kulturellen Bildung“ (Maase 2015) sowie den von Cornelie Dietrich und Volker Schubert bereits 2002 unternommenen Versuch, „die Auseinandersetzung mit Popmusik als ästhetische Erfahrung ernst zu nehmen und damit auch die Frage nach ihrem möglichen Bildungssinn neu zu stellen“ (Dietrich & Schubert 2002, S. 325). 1751 Zu Geschichte, Theorie und Rezeption der Birmingham School of Cultural Studies siehe ausführlicher Hepp & Winter 2003. 1752 Hentig 1981b, S. 34
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Gesamtfazit
7.2 Ausblick Setzt man die im vorangegangenen Abschnitt unter dem Stichwort „Konklusion und Anwendung“ formulierten Ergebnisse nun noch einmal abschließend zueinander in Beziehung, so wird deutlich, dass Hartmut von Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung in ihrer Gesamtheit geprägt sind durch fünf verschiedene, in sich jedoch überaus eng miteinander verbundene Eigenschaften. Diese sind • erstens eine umfassende, von allgemeinpädagogischen Problemstellungen ausgehende
theoretische Anlage des in ihnen entfalteten Grundkonzepts ästhetischer Bildung und Erziehung,
• zweitens eine immense inhaltliche Weitgefasstheit der in ihnen berührten Themen-
felder – von Literaturdidaktik über Kunstpädagogik bis hin zu Fragen der ästhetischen „Gestaltung eines Treppenhauses“ 1753,
• drittens eine auffällige perspektivische Einseitigkeit der in ihnen enthaltenen Auf-
sätze und Vorträge,
• viertens eine ausgeprägte rhetorische Pointiertheit der in ihnen entwickelten Formu-
lierungen und „Merkformeln“ 1754 sowie
• fünftens eine insbesondere an zentraler Stelle immer wieder virulent werdende
Vagheit und Diffusität der in ihnen verwendeten Begrifflichkeiten.
Das Zusammenspiel dieser fünf Eigenschaften wiederum ist nun einerseits geeignet, die immense historische Wirkkraft der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung insbesondere auf den Diskurs der 1970er Jahre zu erklären, andererseits aber macht es zugleich deutlich, wieso die damalige Verwendung einzelner Texte Hentigs als Hauptbezugspunkte einer radikalen Ausweitung und Politisierung des gesamten neu konstituierten Feldes ästhetischer Erziehung notwendigerweise in die Irre führen musste. Dasselbe gilt nun auch für die aktuelle Diskussion zu Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung: Zwar können die hentigschen Arbeiten zum Thema aufgrund ihrer umfassenden Anlage und inhaltlichen Weitgefasstheit auch heute noch durchaus wichtige Impulse für die entsprechende Fachdiskussion liefern, die daraus resultierende Anschluss- und Zukunftsfähigkeit der hentigschen Überlegungen zum Thema allerdings ist letztlich nur möglich vor dem Hintergrund jener bereits ausführlich skizzierten Vagheit und Diffusität der von Hentig verwendeten Begrifflichkeiten. Gerade also weil das hentigsche Konzept an z entralen 1753 Hentig 1965b, S. 6 1754 Liebau 1999, S. 45
Ausblick
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Stellen ungenau und skizzenhaft bleibt, kann es in diversen – vergangenen wie aktuellen – Zusammenhängen als Impulsgeber für eine weitergehende Auseinandersetzung mit Fragen der ästhetischen Bildung und Erziehung dienen: vom klassenkämpferisch motivierten Sozialkundeunterricht der 1970er Jahre über ein zeichentheoretisch geprägtes Verständnis ästhetischer Bildung als „Bruch mit den üblichen Wahrnehmungen“ 1755 bis hin zu einem auf Glücksbildung und Selbstoptimierung ausgerichteten „Lernziel Lebenskunst“ 1756. Aus dieser vielfältigen Adaptierbarkeit der hentigschen Überlegungen zum Thema allerdings folgt zugleich, dass deren skizzierte Anschluss- und Zukunftsfähigkeit auf eben jenen Aspekt des Impulsgebens beschränkt bleiben muss – als etwaiger Hauptbezugspunkt in Sachen ästhetischer Bildungs- und Erziehungstheorie bleiben Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung dementgegen nach wie vor ungeeignet. Konkret bedeutet dies, dass es neben einer weitergehenden systematischen Analyse 1757 und ideengeschichtlichen Einordnung 1758 der hentigschen Schriften zum Thema zugleich 1755 Zirfas 2004, S. 78 1756 Bockhorst 2012 1757 So wäre beispielsweise Hentigs Bearbeitung des Problems der grundsätzlichen Vereinbarkeit von ästhetischer Bildung und pädagogischer Intervention genauer zu untersuchen: dessen Umgang also mit jener insbesondere von Klaus Mollenhauer prominent aufgeworfenen Frage, ob „[ä]sthetische Wirkungen“ nicht eigentlich als „Sperrgut in einem Projekt von Päda gogik“ verstanden werden müssten, „das seine Fluchtpunkte in klaren Verstandesbegriffen und zuverlässigen ethischen Handlungsorientierungen sucht“, und wenn ja, inwiefern dann hingenommen werden dürfe, dass eben jenes „Sperrgut zerstückelt“ wird, um in die „pädagogische Kiste“ zu passen (vgl. Mollenhauer 1990a, S. 484 sowie für eine Zusammenfassung der damit verbundenen Diskussion Vogt 2002). Eine Analyse der diesbezüglichen Überlegungen Hentigs könnte dabei insofern durchaus spannende Impulse für die aktuelle Diskussion zum Thema liefern, als dass sich Hentig mit der genannten Problematik nicht nur aus bildungstheoretischer, sondern zugleich immer wieder auch aus schulpraktischer Perspektive auseinandergesetzt hat – so etwa bei der Konzeption und Realisation der Bielefelder Schulprojekte (vgl. bspw. Hentig et al. 1978, S. 7 ff.; Hentig 1996a, S. 103 ff. oder Hentig 1998b, S. 41 ff.). Zu der von Hentig in diesem Zusammenhang im Laufe der 1990er Jahre entwickelten Haltung einer „skeptischen Sympathie“ gegenüber dem pädagogischen Umgang insbesondere mit den Künsten siehe darüber hinaus genauer oben, S. 133 ff. 1758 So wären – neben einem detaillierteren Abgleich der hentigschen Überlegungen zur ästhetischen Bildung und Erziehung mit denjenigen anderer Autorinnen und Autoren wie etwa John Dewey, Klaus Mollenhauer oder Gunter Otto – insbesondere Hentigs Überlegungen zum Topos der „Kunst als Befreiung“ einzuordnen in dessen ideengeschichtliche Transformation von Friedrich Schillers „Schönheit […], durch w elche man zu der Freiheit wandelt“ (Schiller 2008, S. 560), über Arthur Schopenhauers Hoffnung auf eine „Befreiung des Erkennens vom Dienste des Willens“ im „ästhetischen Wohlgefallen“ (Schopenhauer 1987, S. 292) bis hin zu Herbert Marcuses Arbeiten zum Verhältnis von Kunst und Revolution (vgl. insbesondere Marcuse 1973, S. 95 ff. sowie Marcuse 2000, S. 129 ff.). Zu den genannten Positionen siehe darüber hinaus genauer: Ehrenspeck 1998, S. 121 ff. zu Schiller; Schulz
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Gesamtfazit
einer ausführlichen theoretischen Präzisierung und empirischen Verifizierung der darin enthaltenen Thesen und Modelle bedarf: So wäre beispielsweise genauer zu untersuchen, inwiefern der einzelne Rezipient im Umgang mit Werken der Kunst tatsächlich in einer spezifischen – von Hentig als „vikarisch“ bezeichneten – Art und Weise befähigt werden kann, ihm fremde „Erfahrungen anderer in der Vorstellung mitzuvollziehen“ 1759 und durch einen Prozess des künstlerischen Verstehens in eigene Erfahrung umzuwandeln. Hierzu wären, neben einem detaillierteren Abgleich der entsprechenden Konzeption Hentigs mit anderweitigen Zeichentheorien, insbesondere empirische Untersuchungen erforderlich, im Rahmen derer nach der spezifischen Qualität künstlerischer Zeichenerfahrungen im Vergleich zu anderen Formen der Zeichenerfahrung gefragt wird: so etwa – um nur ein mögliches Beispiel zu nennen – nach den spezifischen Wirkungen einer Lektüre von Gudrun Pausewangs Die letzten Kinder von Schewenborn 1760 im Vergleich zu derjenigen eines thematisch ähnlich gelagerten Sachbuchs. Welche Unterschiede im jeweiligen Verständnis des Phänomens „atomare Dystopien“ ergeben sich hierbei aus den verschiedenen Textformen? Und wenn sich diesbezüglich auffällige Unterschiede ergeben: Welche Bedeutungen haben diese für den Bildungsprozess des einzelnen Rezipienten? Aber auch – und dies nicht zuletzt mit Blick auf die von P ausewang verwendeten literarischen Strategien zur Schilderung der von ihr behandelten Thematik: Inwiefern können die in d iesem Zusammenhang zur Entfaltung kommenden „Wirkungen des Schönen“ aus pädagogischer Perspektive tatsächlich immer begrüßt werden? Zeigt sich vielleicht bereits hier jene von Hentig proklamierte „Macht des Ästhetischen“, gegenüber welcher der Einzelne, wolle er nicht gequält und verletzt werden, einen besonderen Schutz zu errichten habe? Und falls dies der Fall sein sollte: Wie könnte die von Hentig in diesem Zusammenhang geforderte Erziehung zur ästhetischen Mündigkeit wiederum operationalisiert, umgesetzt und überprüft werden? Vollends: Inwiefern kann und darf eine solchermaßen ausgerichtete Form der ästhetischen Erziehung überhaupt in den Zuständigkeitsbereich der Pädagogik fallen? All diese Fragestellungen – die in ganz ähnlicher Weise auch für den Bereich der ästhetischen Glücksbildung sowie für den Topos der Kunst als Befreiung formuliert werden könnten – zeigen insofern exemplarisch sowohl das Potential der hentigschen Überlegungen zum Thema als auch deren Skizzenhaftigkeit. Damit allerdings verweist die vorliegende Arbeit zugleich in aller Deutlichkeit noch einmal auf die bereits in der Einleitung formulierte grundsätzliche Schwierigkeit, eine umfassende Th eorie ästhetischer Bildung und Erziehung zu entwickeln, die „ihre Teilgedanken in einer Grundidee“ fundiert und aus dieser systematisch entfaltet 1761: Zu komplex, zu facettenreich und zu detailliert hätte eine solche Theorie zu sein, als dass sie – wie von Hentig versucht – „auf 1972, S. 404 ff. zu Schopenhauer sowie Schweppenhäuser 2000 und Baader 2007, S. 129 zu Marcuse. 1759 Hentig 1973, S. 42 f. 1760 Pausewang 1983 1761 Koch 2008, S. 712
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Raten“ 1762, also im Rahmen einzelner, in sich nur lose miteinander verbundener Einzelaufsätze, entwickelt werden könnte. Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung lassen in diesem Sinne denn auch – und wie von ihm rückblickend selbst eingeräumt – zumindest erahnen, in welchem Maße „die Ratlosigkeit, die Widersprüche und das Versagen der Pädagogik, hier der ästhetischen Erziehung, durch den Rückgriff auf eine grundlegende Theorie der Ästhetik zu vermeiden gewesen wären“ 1763. Neben weiteren, ähnlich gelagerten Bemühungen, ausgehend von den skizzierten Grundproblemen ästhetischer Bildung und Erziehung bereits bestehende Theorien zum Thema einer detaillierten Analyse zu unterziehen – wie dies insbesondere bezogen auf Mollenhauers Arbeiten zum Thema sinnvoll erschiene 1764 –, bräuchte es daher auch weiterhin dezidierte Versuche, eine ebensolche Theorie systematisch in Auseinandersetzung mit entsprechenden Anknüpfungspunkten in Philosophie, Soziologie und Psychologie zu entwickeln – und dies sowohl historisch kontextualisierend als auch international vergleichend. Ganz in diesem Sinne wäre denn auch abschließend jener von Klaus Mollenhauer bereits 1990 getätigten Prognose zuzustimmen, wonach derjenige, der „ernsthaft denkt, ästhetische Bildung als allgemeine Bildung auf dem Niveau der Moderne sei ein vernünftiges pädagogisches Programm“, einer Aufgabe gegenübersteht, die „nicht in wenigen Jahrzehnten zu erledigen ist“ 1765. Darüber hinaus – und zu guter Letzt – kann die vorliegende Arbeit zugleich als neuerliche Bestätigung jener bereits in Kapitel 2.2.3 konstatierten Notwendigkeit verstanden werden, wonach es – insbesondere vor dem Hintergrund der Verstrickung Hentigs in den Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule – gerade heute einer detaillierten historiographischen wie systematischen Auseinandersetzung mit Person und Werk Hentigs bedarf. So zeigen die im Verlauf dieser Arbeit generierten Ergebnisse nicht nur exemplarisch dessen immense Bedeutung für die pädagogische Diskussion der vergangenen fünf Jahrzehnte sowie die auch heute noch zumindest prinzipiell vorhandene Anschluss- und Zukunftsfähigkeit seiner Arbeiten zu Fragen der Bildung und Erziehung: Die in Kapitel 5.2 vorgenommene Analyse des hentigschen Schönheitsbegriffs gibt darüber hinaus zugleich einen deutlichen Hinweis darauf, wie problematisch in diesem Zusammenhang immer auch die Bezugnahme Hentigs
1762 Hentig 1985e, S. 12 1763 Ebenda 1764 Mollenhauers Arbeiten zum Thema würden sich in d iesem Zusammenhang insbesondere deshalb für eine entsprechend ausgerichtete Analyse eignen, da dieser – genau wie H entig – nicht aus einer fachdidaktischen, sondern vielmehr aus einer allgemeinpädagogischen Perspektive nach dem spezifischen Bildungssinn des Ästhetischen fragt und damit – auch hierin Hentig überaus ähnlich – insbesondere in den 1990er und 2000er Jahren eine ungemein starke Wirkung auf den zeitgenössischen Diskurs zum Thema entfalten konnte. (Siehe hierzu sowie zu einer ersten ausführlicheren Rekonstruktion der mollenhauerschen „Theorie der ästhetischen Bildung“ genauer Dietrich 2015.) 1765 Mollenhauer 1990b, S. 10
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auf das Konzept des pädagogischen Eros geraten kann. Dies berücksichtigend wäre im Rahmen weiterer erziehungswissenschaftlicher Analysen denn auch nicht nur zu prüfen, inwieweit die für Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung als konstitutiv herausgearbeitete Verknüpfung von umfassender Anlage, inhaltlicher Weitgefasstheit, perspektivischer Einseitigkeit, rhetorischer Pointiertheit und begrifflicher Vagheit auch für andere Aspekte des hentigschen Œuvres kennzeichnend sein könnte 1766, im Fokus einer entsprechend ausgerichteten Auseinandersetzung mit Person und Werk Hentigs hätte darüber hinaus zugleich immer auch die Frage nach dem von ihm proklamierten Verhältnis von Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen zu stehen: sei es unter dem Stichwort des „pädagogischen Eros“, der „pädagogischen Liebe“ oder der „Macht des schönen Menschen“. Gleichzeitig jedoch zeigt die hier vorgenommene Analyse der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung, dass ein eindimensionales Verständnis Hentigs, das diesen wahlweise als Prediger des pädagogischen Eros, als jugendbewegten Apologeten der Landerziehungsheimpädagogik oder als hauptberuflichen Erzeuger rhetorischen Pathos darstellt, ebenfalls verkürzt wäre. Zu vielschichtig in ihren Bezugnahmen, zu eng verwoben mit der eigenen Rezeptionsgeschichte, zu komplex und letztlich auch in sich zu widersprüchlich sind dessen im Verlauf von mehr als fünfzig Jahren entstandene Arbeiten, als dass sie – wie etwa jüngst von Jürgen Oelkers nahegelegt – auf die Formel einer einzigen „Reformpädagogik“ gebracht und diese im Anschluss sodann „allein schon mit Blick auf die Opfer der Odenwaldschule“ umstandslos als „gescheitert“ erklärt werden könnte 1767. Es soll deshalb an dieser Stelle zwar keineswegs für ein gleichermaßen umstandsloses „Comeback“ 1768 der hentigschen Pädagogik plädiert werden – wie auch immer diese im Einzelnen genau aussehen mag –, wohl aber für eine differenziertere und sachlichere Auseinandersetzung mit dessen Person und Werk.
1766 Die in Kapitel 6.1 vorgenommene Analyse des hentigschen Erfahrungsbegriffs legt diese Annahme zumindest nahe. 1767 Vgl. Oelkers 2015, S. 12. 1768 Ebenda
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
Im Folgenden sind sämtliche Veröffentlichungen Hartmut von Hentigs (einschließlich filmischer Arbeiten und Audioveröffentlichungen) zu Fragen der Ästhetik im Allgemeinen sowie der ästhetischen Bildung und Erziehung im Besonderen aufgeführt. Die einzelnen Veröffentlichungen sind dabei chronologisch nach ihrem Erscheinungsjahr sortiert, wobei die Reihenfolge innerhalb eines Jahrgangs orientiert ist an der von Ulrike und Martin Hollender vorgenommen Sortierung in ihrer Bibliographie Hartmut von Hentig.1769 Sämtliche Veröffentlichungen sind zudem durch eine Kennziffer gekennzeichnet, um eindeutige Verweise zwischen den einzelnen Texten zu ermöglichen. Diese Kennziffer setzt sich zusammen aus dem Jahr der Erstveröffentlichung des jeweiligen Textes und einer angehängten weiteren Zahl für ihre jeweilige Stellung innerhalb eines Jahrgangs. Der Jahrgang 1967 beispielsweise umfasst nach diesem Prinzip die Beiträge 1967 – 1, 1967 – 2, 1967 – 3 und 1967 – 4.1770 Monographien und Sammelbände sind durch einen Unterstrich gesondert gekennzeichnet (etwa: „1985 – 3“), wobei Sammelbände nur dann als eigenständige Veröffentlichung aufgeführt werden, wenn sie mehr als zwei Texte Hentigs zum Thema enthalten – andernfalls werden die jeweils enthaltenen Beiträge lediglich als unselbstständige Veröffentlichungen mit Hinweis auf ihren entsprechenden Erscheinungsort aufgeführt. Bei Sammelbänden, die zwar mehr als zwei Texte Hentigs zu Fragen der Ästhetik im Allgemeinen sowie der ästhetischen Bildung und Erziehung im Besonderen enthalten, daneben allerdings auch Texte zu anderen Themengebieten, sind nur erstere aufgeführt (vgl. bspw. 1969 – 1). Bei Sammelbänden wiederum, die ausschließlich Texte zum Thema „Ästhetik und ästhetische Erziehung“ enthalten, sind diese zusätzlich gemäß ihrer Reihenfolge im Buch durchnummeriert (vgl. bspw. 1985 – 3). Im Falle aller Sammelbände gilt: Beiträge, die im entsprechenden Sammelband ihre Erstveröffentlichung erfahren, sind durch Kursivsetzung gesondert gekennzeichnet. Vereinzelt sind zudem Texte berücksichtigt, bei denen es sich weder um selbstständige noch um unselbstständige Veröffentlichungen handelt, sondern lediglich um Kapitel oder Unterkapitel anderer Veröffentlichungen Hentigs (vgl. bspw. 1972 – 1). Solche Texte werden allerdings nur dann berücksichtigt, wenn sie einen in sich geschlossenen Sinnzusammenhang darstellen oder aber an anderer Stelle noch einmal als Einzeltext 1769 Hollender & Hollender 2010. Beiträge, die bei Hollender & Hollender nicht aufgeführt sind, werden, soweit eine genaue Datierung innerhalb eines Jahrgangs nicht möglich ist, dem entsprechenden Jahrgang hintangestellt. 1770 Diese Zählung gilt auch, wenn ein Jahrgang nur einen Titel umfasst, wie beispielsweise im Falle des Jahrgangs 1960: Hier wird der Text „Kleine Dramaturgie für Schüler“ mit dem Kürzel 1960 – 1 versehen.
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Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
publiziert wurden. Entsprechende Texte sind durch ein Asterisk am Ende des Titels („*“) und den Hinweis „enthalten in:“ gekennzeichnet. Von Texten, die an mehreren Stellen (unter zum Teil verschiedenen Titeln) veröffentlicht wurden, wird zunächst die Erstveröffentlichung mit dem Zusatz „a“ aufgeführt (z. B. 1959 – 2a), woraufhin im Anschluss daran sämtliche weiteren Veröffentlichungsorte mit den Zusätzen „b“, „c“, „d“ etc. chronologisch unter N ennung ihres jeweiligen Titels eingerückt werden. Das bedeutet, dass beispielsweise von einem Aufsatz wie „Die Wirkungen des Schönen“, den Hentig z wischen 1965 und 1997 insgesamt sechs Mal veröffentlicht hat, sämtliche Fassungen unabhängig von ihrem tatsächlichen Erscheinungsjahr dem Jahrgang 1965 zugeordnet werden: als 1965 – 1a, 1965 – 1b, 1965 – 1c, 1965 – 1d, 1965 – 1e und 1965 – 1 f. Neuauflagen bereits publizierter Monographien oder Sammelbände werden dementgegen nicht gesondert aufgeführt, sondern lediglich durch einen in Klammern nachgestellten Hinweis wie „Erneut: 2. Auflage 2001“ oder „Erneut: Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch 1987“ gekennzeichnet. Auch wird bei Neuauflagen auf Angaben bezüglich einer gegebenenfalls veränderten Paginierung der einzelnen Beiträge verzichtet. Darüber hinaus gilt: Übersteigt die Anzahl der Neuauflagen eine Anzahl von drei (wie etwa im Fall 1979 – 1b) werden lediglich die ersten zwei sowie die jeweils jüngste Neuauflage der entsprechenden Publikation genannt. Übersetzungen einzelner Veröffentlichungen in andere Sprachen werden nicht aufgeführt. Da Hentig zudem in nahezu jeder Wiederveröffentlichung bereits publizierter Texte leichte sprachliche Veränderungen vorgenommen hat – wenngleich oft auch nur bezogen auf einige wenige Worte –, werden s olche Veränderungen nicht gesondert ausgewiesen. Lediglich Veränderungen, Kürzungen oder Erweiterungen des Originaltextes, die einen größeren Umfang aufweisen, werden durch den Hinweis „veränderte Fassung“, „gekürzte Fassung“ oder „erweiterte Fassung“ gekennzeichnet – gegebenenfalls ergänzt durch den Zusatz „leicht“ oder „stark“. Auf längere identische Passagen zwischen zwei ansonsten voneinander unabhängigen Texten wird zudem durch den Zusatz „In großen Teilen identisch mit …“ hingewiesen. Verweise auf Publikationen, die ebenfalls in dieser Bibliographie aufgenommen sind, werden durch einen Hinweis auf die entsprechende Kennziffer der jeweiligen Veröffentlichung vorgenommen. Nicht im Titel genannte Zusätze wie „Vortrag, gehalten am …“ oder „Abdruck eines Briefwechsels mit …“ werden in eckigen Klammern ergänzt. Zum besseren Abgleich der aufgeführten Veröffentlichungen mit solchen Texten, auf die in der vorliegenden Arbeit auch tatsächlich verwiesen wird und die daher auch in das im Anschluss an diese Bibliographie abgedruckte Literaturverzeichnis aufgenommen wurden, findet sich hinter den entsprechenden Einträgen im Literaturverzeichnis ein Verweis auf die in dieser Bibliographie verwendete Kennziffer (z. B.: „Hentig, Hartmut von (1959a): Das Verstehen des Unverstandenen. Gedanken über die Aufführung von griechischen Tragödien am altsprachlichen Gymnasium. In: Der altsprachliche Unterricht. Arbeitshefte zu seiner wissenschaftlichen Begründung und praktischen Gestalt. Reihe IV (Heft 1/1959), S. 41 – 62. [→ Kennziffer Bibliographie:
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
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1959 – 1]“) Dieses Vorgehen soll es den Leserinnen und Lesern erleichtern, eine im Text zitierte Veröffentlichung Hentigs in deren hier dokumentierte Publikations geschichte einzuordnen. 1951 – 1
D-Zug-Reklame mit klassischer Musik. Zugleich eine kleine englische Sprachlehre. In: Der Bahnhof. Organ des Verbandes des Deutschen Bahnhofshandels e. V., Jg.18 (Nr. 11 vom 25. 11. 1951), S. 14 – 15.
1957 – 1
Das Weihnachtsspiel. In: Der Birklehof. Hg. von der Schule Birklehof und der Gemeinschaft der Stifter und Freunde (Nr. 11 vom 12. 01. 1957), S. 23 – 27.
1959 – 1
Das Verstehen des Unverstandenen. Gedanken über die Aufführung von griechischen Tragödien am altsprachlichen Gymnasium. In: Der altsprachliche Unterricht. Arbeitshefte zu seiner wissenschaftlichen Begründung und praktischen Gestalt. Reihe IV. (Heft 1/1959), S. 41 – 62.
1959 – 2a
Primaner-Reise nach Berlin. In: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, Jg. 14, S. 735 – 742 (Heft 10/1959) und S. 801 – 811 (Heft 11/1959). – Erneut als: 1959 – 2b Grenzgänge. Eine Reise mit Primanern nach Berlin. In: Hartmut von Hentig: Fahrten und Gefährten. Reiseberichte aus einem halben Jahrhundert 1936 – 1990. München, Wien: Carl Hanser 2000, S. 184 – 211. (Erneut: 2. Auflage 2001 sowie als Taschenbuchausgabe: Weinheim, Basel: Beltz 2002.) [Leicht veränderte Fassung.]
1960 – 1
Kleine Dramaturgie für Schüler. In: Notre Parole. Revue mensuelle du Collège Français de Berlin (Nr. 60, Februar 1960), S. 12 – 14. [In großen Teilen identisch mit Nr. 1977 – 1, S. 18 – 20; Nr. 1985 – 3, S. 253 – 255 und Nr. 2007 – 2, S. 127 – 128.]
1964 – 1a
Kunst und Wissenschaft in der Erziehung. Korrektive der modernen Gesellschaft II. In: DIE ZEIT, 31. 07. 1964, S. 16. – Erneut als: 1964 – 1b Wissenschaft und Kunst in der Erziehung. Eine andere Verwendung der Mittel der Schule*. Enthalten in: Hartmut von Hentig: Die Schule im Regelkreis. Ein neues Modell für die Probleme der Erziehung und Bildung. Stuttgart: Ernst Klett 1965, S. 19 – 35. (2., durchgesehene Auflage unter dem Titel Die Schule im Regelkreis. Ein neues Modell für die Funktionen von Erziehung und Bildung. Stuttgart: Ernst Klett 1969; 3. Auflage 1973.) [Erweiterte Fassung.]
1965 – 1a
Die Wirkungen des Schönen. [Vortrag, gehalten am 24. Oktober 1965 in Berlin auf einer Tagung des Deutschen Werkbundes zum Thema „Bildung durch Gestalt“.] In: Werk und Zeit, Jg. 14 (Heft 11/12 1965), S. 5 – 6. – Erneut als: 1965 – 1b Die Wirkungen des Schönen. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 20 (1/1966), S. 36 – 42. 1965 – 1c Die Wirkungen des Schönen. In: Nr. 1969 – 1, S. 345 – 351. 1965 – 1d Die Wirkungen des Schönen. In: Nr. 1985 – 3, S. 57 – 64.
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Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
1965 – 1e 1965 – 1 f
Die Wirkungen des Schönen. In: Hessische Blätter für Volksbildung, Jg. 37 (2/1987), S. 103 – 111. Die Wirkungen des Schönen. In: Institut für Designforschung Stuttgart/Rat für Formgebung (Hg.): Design Bericht Deutschland 1998 – 99. Mit einem Geleitwort von Dieter Rams. Unter Mitarbeit von Reinhard Komar, Irene Antoni-Komar und Alexandra Orlich. Stuttgart: dbv 1997, S. 26 – 33.
1966 – 1
„Die Kunst – Stiefkind der Bildung?“ [Abdruck eines Briefwechsels zwischen Friedrich Schötker und Hartmut von Hentig von April 1965.] In: BDK-Mitteilungen, Jg. 2 (Heft 1/1966), S. 2 – 4.
1966 – 2
Kinder, Kunst und Kunsterziehung. Kritische Beobachtungen von Hartmut von Hentig. Fernsehfilm. Frankfurt am Main: Hessischer Rundfunk 1966. [Vierundvierzigminütiger Fernsehfilm im Auftrag des Hessischen Rundfunks. Erstsendung am 16. Juni 1966 im E rsten Deutschen Fernsehen. Wiederholung am 1. November 1966. Erneute Wiederholung am 22. August 1997 im Rahmen der Fernsehreihe „Fundsachen – neu gesehen“ (HR-Fernsehen), ergänzt durch ein fünfzehnminütiges Gespräch z wischen Hartmut von Hentig und Achim Podak.]
1966 – 3
Bilden in der Gesellschaft. Die Schule im gesellschaftlichen Raum. [Vortrag, gehalten am 16. September 1966 in Hannover auf einer Tagung des Deutschen Werkbundes zum Thema „Bilden in der Schule“.] In: Werk und Zeit, Jg. 15 (Heft 9/10 1966), S. 2 – 5; außerdem Beiträge zu zwei Podiumsgesprächen (ebenda, S. 5 und S. 12). [In großen Teilen identisch mit Nr. 1967 – 2.]
1967 – 1a
Spielraum und Ernstfall. Betrachtungen eines Pädagogen über das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft. [Vortrag, in verkürzter Form gehalten am 12. Februar 1965 in Berlin auf einer Veranstaltung des Kulturkreises im Bundes verband der Deutschen Industrie zum Thema „Literatur im Spannungsfeld von Wissenschaft und Technik“.] In: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, Jg. 22 (Heft 3/1967), S. 187 – 204. – Erneut als: 1967 – 1b Spielraum und Ernstfall. Betrachtungen über das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft. In: Nr. 1969 – 1, S. 378 – 405. 1967 – 1c Die Erkundung des Möglichen. In: Nr. 1985 – 3, S. 31 – 56. [Leicht veränderte Fassung.]
1967 – 2a
Creator – Die Entdeckung eines neuen Kulturprinzips. In: Arbeitsgemeinschaft IMAG-NOWEA (Hg.): Deutschland heute. Herausgegeben im Auftrag des Deutschen Generalkommissars für die Weltausstellung Montreal 1967. Unter Mitarbeit von Wilhelm Baerlecken und Otto Rohse. Düsseldorf: Düsseldorfer Messegesellschaft 1967, S. 40 – 77. [In großen Teilen identisch mit Nr. 1966 – 3.] – Erneut als: 1967 – 2b Creator. Die Entdeckung eines neuen Kulturprinzips. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 21 (Heft 7/1967), S. 601 – 621. [Gekürzte, leicht veränderte und um eine kurze Einleitung
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
1967 – 2c 1967 – 3
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erweiterte Fassung. Ein Abdruck der in dieser Fassung neu hinzugefügten Einleitung (S. 601) findet sich erneut als: Nr. 1967 – 3.] Creator oder Die Entdeckung eines neuen Kulturprinzips. In: Nr. 1969 – 1, S. 59 – 82. [Gekürzte und erneut leicht veränderte Fassung.]
Anmerkungen zu Deutschland in Montreal. In: Werk und Zeit, Jg. 16 (Heft 8/1967), S. 1. [Abdruck des in 1967 – 2b enthaltenen Einleitungstext zu „Creator. Die Entdeckung eines neuen Kulturprinzips“.]
1967 – 4a Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter. Einige Grundbegriffe aus dem Wörterbuch der Kunsterziehung. In: Peter-Martin Roeder (Hg.): Pädagogische Analysen und Reflexionen. Festschrift für Elisabeth Blochmann zum 75. Geburtstag. Unter Mitarbeit von Karl-Ernst Nipkow, Wolfgang Klafki und Leonhard Froese. Weinheim, Berlin: Julius Beltz 1967, S. 275 – 308. – Erneut als: 1967 – 4b Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter. Einige Grundbegriffe aus dem Wörterbuch der Kunsterziehung. In: Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft und Gestaltung der Schulwirklichkeit, Jg. 59 (Heft 10/1967), S. 580 – 600. 1967 – 4c Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter. Einige Grundbegriffe aus dem Wörterbuch der Kunsterziehung. In: Päda gogische Arbeitsblätter. Herausgegeben im Auftrag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg und des Lehrervereins Württemberg-Hohenzollern e. V., Jg. 19 (Heft 12/1967), S. 185 – 200. [Leicht gekürzte Fassung.] 1967 – 4d Ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter – Einige Grundbegriffe aus dem Wörterbuch der Kunsterziehung. In: Nr. 1969 – 1, S. 352 – 377. 1967 – 4e Die Entzauberung der Ästhetik. In: Nr. 1985 – 3, S. 65 – 92. 1969 – 1
Spielraum und Ernstfall. Gesammelte Aufsätze zu einer Pädagogik der Selbstbestimmung. Stuttgart: Ernst Klett 1969. 407 S. (Erneut: 2. Auflage 1973.) [Die durchgesehene Taschenbuchauflage von 1981 (Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Klett-Cotta im Ullstein Taschenbuch) ist um die vier unten genannten Beiträge gekürzt.] – Sammelband, darin unter anderem enthalten: ·· Creator oder Die Entdeckung eines neuen Kulturprinzips (S. 59 – 82). [Vgl. Nr. 1967 – 2.] ·· Die Wirkungen des Schönen (S. 345 – 351). [Vgl. Nr. 1965 – 1.] ·· Ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter. Einige Grundbegriffe aus dem Wörterbuch der Kunsterziehung (S. 352 – 377). [Vgl. Nr. 1967 – 3.] ·· Spielraum und Ernstfall. Betrachtungen über das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft (S. 378 – 405). [Vgl. Nr. 1967 – 1.]
1969 – 2a
Freizeit als Befreiungszeit. Kritik eines Pädagogen an einem deterministischen Modell. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 23, S. 605 – 622 (Heft 7/1969) und S. 713 – 729 (Heft 8/1969). – Erneut als:
318
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
1969 – 2b Freizeit als Befreiungszeit. Kritik eines Pädagogen an einem deterministischen Modell. In: Bauwelt, Jg. 60 (Heft 7/1969), S. 1486 – 1498. [Teilabdruck.] 1969 – 2c Freizeit als Befreiungszeit. In: „zum nachdenken“. Hg. von der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung, Nr. 41/1971, S. 3 – 31. [Teilabdruck.] 1969 – 2d Freizeit als Befreiungszeit. Kritik eines Pädagogen an einem deterministischen Modell. In: Horst W. Opaschowski (Hg.): Freizeitpädagogik in der Leistungsgesellschaft. Zweite, neubearbeitete und erweiterte Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1973, S. 161 – 193. (Erneut: 3. Auflage 1977.) [Überarbeitete Fassung.] 1969 – 2e Der Streit um die Freizeit / Die Bedingungen des Genießens. In: Nr. 1985 – 3, S. 325 – 365. [Aktualisierte Fassung.] 1969 – 3a
Das Leben mit der Aisthesis*. Enthalten in: Hartmut von Hentig: Allgemeine Lernziele der Gesamtschule. In: Deutscher Bildungsrat (Hg.): Lernziele der Gesamtschule. Stuttgart: Ernst Klett 1969 (Gutachten und Studien der Bildungskommission, 12), S. 29 – 31. (Erneut: 2. Auflage 1971, 4. Auflage 1975.) – Erneut als: 1969 – 3b Das Leben mit der Aisthesis*. Enthalten in: Hartmut von Hentig: Systemzwang und Selbstbestimmung. Über die Bedingungen der Gesamtschule in der Industriegesellschaft. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage. Stuttgart: Ernst Klett 1969, S. 93 – 95. (Erneut: 3. Auflage 1971, 4. Auflage 1974.) 1969 – 3c Lernziele im ästhetischen Bereich. In: Kunst + Unterricht (Heft 3, März 1971), Sonderbeilage „Protest: Im Zuge der technokratischen Schulreform wird der Kunstunterricht abgeschafft“, o. P. [Erweitert um einen Abschnitt zum Thema „Das Leben in der Konsumgesellschaft“. Bei diesem Abschnitt handelt es sich um einen weiteren Auszug aus den von Hentig für den Deutschen Bildungsrat formulierten „Allgemeinen Lernzielen für die Gesamtschule“. Zuerst enthalten in: Hartmut von Hentig: Allgemeine Lernziele der Gesamtschule. In: Deutscher Bildungsrat (Hg.): Lernziele der Gesamtschule. Stuttgart: Ernst Klett 1969 (Gutachten und Studien der Bildungskommission, 12), S. 33 – 35. (Erneut: 2. Auflage 1971, 4. Auflage 1975.) Danach enthalten in: Hartmut von Hentig: Systemzwang und Selbstbestimmung. Über die Bedingungen der Gesamtschule in der Industriegesellschaft. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage. Stuttgart: Ernst Klett 1969, S. 98 – 101. (Erneut: 3. Auflage 1971, 4. Auflage 1974.)] 1969 – 3d Das Leben mit der Kunst. In: Musik & Bildung, Jg. 3 (1971), S. 428 – 429. 1969 – 3e Lernziele im ästhetischen Bereich. In: Olaf Schwencke und H enning Schröer (Hg.): ästhetische erziehung + kommunikation. Vorträge und Diskussionen einer Tagung der Ev. Akademie Loccum. Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg 1972, S. 112 – 113. [Erweitert um einen Abschnitt zum Thema „Allgemeine Wahrnehmungs- und Gestaltungslehre – aufgezeigt
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
319
vornehmlich an der Kunst anhand des Lehrgangsplans im künftigen Bielefelder Oberstufenkolleg“. Dieser Abschnitt ist zuerst erschienen in: Hentig, Hartmut von: Das Bielefelder Oberstufenkolleg. Begründung, Funktionsplan und Rahmen-Flächenprogramm. In Zusammenarbeit mit Mitgliedern der Arbeitsstelle Pädagogik der Universität Bielefeld, des Instituts für Schulbau Stuttgart, des Quickborner Teams und A nnegret Harnischfeger, D ieter Hopf, Ludwig Huber, Christoph Oehler, Hans- Herbert Wilhemi. Stuttgart: Ernst Klett 1971 (Sonderpublikation der Schriftenreihe der Schulprojekte Laborschule/Oberstufen-Kolleg, Heft 1), S. 50.] 1969 – 3 f Das Leben mit der Aisthesis. In: Gunter Otto (Hg.): Texte zur Ästhetischen Erziehung. Kunst – Didaktik – Medien 1969 – 1974. Braunschweig: Westermann 1975, S. 25 – 26. 1970 – 1
Die Kinder an die Macht? Hartmut von Hentig über Janus Korczak: „König Hänschen I.“. [Besprechung von: Janusz Korczak: König Hänschen I. Mit einem Nachwort von Elisabeth Hempel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1970.] In: Der Spiegel (Heft 51/1970 vom 14. Dezember 1970), S. 161 – 162.
1971 – 1a
Logomythie. In: Aufrisse. Almanach des Ernst Klett Verlages 1946 – 1971. Stuttgart: Ernst Klett, S. 189 – 222. – Erneut als: 1971 – 1b Logomythie. Über das Verhältnis von Anschauung und Abstraktion. In: Hartmut von Hentig: Erkennen durch Handeln. Versuche über das Verhältnis von Pädagogik und Erziehungswissenschaft. Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 63 – 83.
1972 – 1a
Geschichten, Geschichte, Simulationen*. Enthalten in: Hartmut von H entig: Schule als Erfahrungsraum? In: Philologen-Verband Nordrhein-Westfalen (Hg.): Sozialisation und Erziehung. Leben, Lernen, Lehren in der demokratischen Gesellschaft. 24. Gemener Kongress. Bottrop: Wilhelm Postberg 1972, S. 38 – 40. (Erneut: 2. Auflage 1973.) – Erneut als: 1972 – 1b Geschichten, Geschichte, Simulationen*. Enthalten in: Hartmut von Hentig: Schule als Erfahrungsraum? Eine Übung im Konkretisieren einer pädagogischen Idee. Stuttgart: Ernst Klett 1973 (Sonderpublikation der Schriftenreihe der Schulprojekte Laborschule/Oberstufen- Kolleg, Heft 3), S. 42 – 46. [Erweiterte Fassung.]
1972 – 2a
Dürer als Erzieher. [Vortrag, gehalten am 17. September 1971 in Nürnberg im Rahmen einer Vorlesungsreihe zum 500. Geburtstag von Albrecht Dürer.] In: Hermann Glaser (Hg.): Am Beispiel Dürers. Reden von Jean Améry, Richard Friedenthal, Wilhelm Fucks, Arnold Gehlen, Günter Grass, Hartmut von Hentig, Adolf Portmann, Carlo Schmid. München: Bruckmann 1972, S. 136 – 162. – Erneut als: 1972 – 2b Dürer als Erzieher. In: Neue Sammlung, Jg. 12 (1972), S. 28 – 56. [Veränderte und leicht gekürzte Fassung.] 1972 – 2c Über die Malkunst / Dürer als Erzieher. In: Nr. 1985 – 3, S. 151 – 185. [Veränderte und leicht erweiterte Fassung.]
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Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
1972 – 3a
Ein Nach-denk-wort für die Eltern. Als lose Beilage in: Hartmut von Hentig: Röll der Seehund. Eine Geschichte zum Vorlesen und Nachahmen. Mit Bildern von Urd von Hentig. Dazu ein Nach-denk-wort für die Eltern. Köln: Gertraud Middelhauve 1972. 8 S. – Erneut als: 1972 – 3b Ein paar Ratschläge für den Umgang mit Kinderbüchern. In: Neue Sammlung, Jg. 13 (1973), S. 637 – 639. [Teilabdruck.] 1972 – 3c Ein paar Ratschläge für den Umgang mit Kinderbüchern. In: Zeitungskolleg Achtung: Kinder. Textsammlung. Journalistische Bearbeitung: Wilfried Schäfer. Tübingen: Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen 1979, S. 84 – 86. [Teilabdruck.]
1974 – 1a
Kunst als Ärgernis. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 28 (1974), S. 328 – 336. – Erneut als: 1974 – 1b Kunst als Ärgernis. Betrachtungen zur Kunst als Schulfach. In: Kunst + Unterricht (Heft 25/1974), S. 14 – 17. 1974 – 1c Kunst als Aergernis. Projektionen des Möglichen. In: St. Galler Tagblatt, So., 21. Juli 1974. 1974 – 1d Kunst als Ärgernis. In: Nr. 1985 – 3, S. 93 – 103. [Leicht erweiterte Fassung.]
1975 – 1
Vom Wert der Umwertung. „Die Kinder von Wien“ des Robert Neumann. [Besprechung von: Robert Neumann: Die Kinder von Wien. München, Zürich: Piper 1974]. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 29 (1975), S. 287 – 293.
1976 – 1
Gelberg-Effekte. Mehr als eine Buchrezension. [Besprechung von: Hans-Joachim Gelberg (Hg.): Menschengeschichten. Texte, Lebensbilder, Erzählungen, Gedichte, Beispiele, Märchen, Comics, Rätsel, Bilder, Fotos. Drittes Jahrbuch der Kinderliteratur. Weinheim: Beltz & Gelberg 1975.] In: Akzente. Zeitschrift für Literatur, Jg. 23 (1976), S. 372 – 382.
1976 – 2a
„Wahrheitsarbeit“ und Frieden … daß er uns hilft, den Frieden zu verwirk lichen. [Vortrag, gehalten am 19. September 1976 in Frankfurt am Main anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Max Frisch.] In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe, Jg. 32 (1976), S. 1401 – 1411. – Erneut als: 1976 – 2b „Wahrheitsarbeit“ und Friede. In: Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. (Hg.): Max Frisch. Ansprachen anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Frankfurt am Main: Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V. im Verlag der Buchhändler Vereinigung GmbH 1976, S. 17 – 46. [Leicht veränderte Fassung.] 1976 – 2c „Wahrheitsarbeit“ und Friede. Rede auf Max Frisch zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 19. September 1976. In: Max Frisch und Hartmut von Hentig: Zwei Reden zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1976. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 7 – 81. (Erneut: 2. Auflage 1977). [Veränderte und stark erweiterte Fassung.]
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
321
1976 – 2d Fünfte Übung: im Rütteln an der eigenen Gewißheit. Wahrheitsarbeit und Friede. Eine Preisrede auf Max Frisch. In: Hartmut von Hentig (1987): Arbeit am Frieden. Übungen im Überwinden der Resignation. München, Wien: Carl Hanser 1987 (Erneut: 2. Auflage 1987.) [Veränderte und stark erweiterte Fassung, weitestgehend identisch mit Nr. 1976 – 2c.] 1977 – 1
Vorwort. In: Rudolf Nykrin und Hella Völker: Th eater und Musik an Schulen: Das gelbe Unterseeboot. Modell für einen offenen Ansatz in den Bereichen Kindertheater und Musik. Mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig. Stuttgart: Ernst Klett 1977 (Schriftenreihe der Schulprojekte Laborschule/Oberstufen-Kolleg, Heft 17), S. 10 – 20. [S. 18 – 20 weitestgehend identisch mit Nr. 1960 – 1, S. 12 – 14; S. 13 – 20 weitestgehend identisch mit Nr. 1985 – 3, S. 250 – 255 und Nr. 2007 – 2, S. 125 – 128.]
1978 – 1
Ein Versuch, aus Halb Ganz zu machen. In: Kurt Halbritter: Gesellschaftsspiele. Mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig. München, Wien: Carl Hanser 1978, o. P. (6 S.) (Erneut: Berlin, Darmstadt Wien: Deutsche Buch-Gemeinschaft 1979; Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 1980; München: Heyne 1981.)
1978 – 2a
Interview mit Hartmut von Hentig [geführt von Helmuth Hopf und Rudolf Nykrin]. In: Zeitschrift für Musikpädagogik, Jg. 3 (Heft 6/1978), S. 3 – 12. – Erneut als: 1978 – 2b Über die Musik / Bach und Schubert als Ernstfall. In: Nr. 1985 – 3, S. 187 – 212.
1978 – 3
Zur Eröffnung des Hauses. In: Helmut Selje (Hg.): Bielefelder Puppenspiele. Festwoche zur Eröffnung des neuen Puppentheaters vom 5. bis 12. November 1978. Unter Mitarbeit von Thomas Grade, Peter Kirschner, Otto Sudmann, Ursula Jäger und Gottfried Jäger. Bielefeld: Kramer Druck 1978, o. P. (2 S.).
1979 – 1a
Grimms Märchen. In: DIE ZEIT vom 4. Mai 1979, S. 46. – Erneut als: 1979 – 1b Die Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. In: Fritz J. R addatz (Hg.): Die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 170 – 178. (Erneut: 2. Auflage 1980, 13. Auflage 2009.) – [Stark erweiterte Fassung.]
1979 – 2
Die Fremdsprache als Anlaß für Menschenbildung. [Vortrag, in verkürzter Form gehalten am 25. September 1978 in Dortmund als Einleitungsreferat zum Themenbereich „Fremdsprachen in Schule und Gesellschaft“ auf der 8. Arbeitstagung der Fremdsprachendidaktiker an Hochschulen und Studien- und Bezirksseminaren.] In: Neue Sammlung, Jg. 19 (1979), S. 248 – 272 und 410 – 422.
1980 – 1
„Die Künste“* [als Gegenstandsbereich der Abschlussprüfung am Oberstufen- Kolleg Bielefeld]. Enthalten in: Hartmut von Hentig: Die Krise des Abiturs und eine Alternative. Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 307 – 311.
322
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
1980 – 2a
Gesamtschule konkret. Zur Ausstellung der Bielefelder Gesamtschule in der Kunsthalle der Stadt. In: Gesamtschul-Kontakte. Zeitschrift der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (Nr. 2/1980), S. 5 – 6. – Erneut als: 1980 – 2b Gesamtschule ist ein anderer Stil des Lebens und Lernens. Impressionen zur Ausstellung „Gesamtschule konkret“ in der Bielefelder Kunsthalle/Teilnahme an der Alltagsarbeit. In: Neue Westfälische, 06./07. 04. 1980, o. P. [Leicht gekürzte Fassung.]
1980 – 3a
Johann Peter Hebel. Das Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes. In: DIE ZEIT, 25. 04. 1980, S. 50. – Erneut als: 1980 – 3b Johann Peter Hebel. Das Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes. In: Fritz J. Raddatz (Hg.): Die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 162 – 169. (Erneut: 2. Auflage 1980, 13. Auflage 2009.) [Stark erweiterte Fassung von 1980a.] 1980 – 3c Nachwort. In: Johann Peter Hebel: Erzählungen und Aufsätze des Rheinländischen Hausfreundes. Herausgegeben und erläutert von Wilhelm Zentner. Mit einem Nachwort von Hartmut von Hentig. München, Wien: Carl Hanser, S. 699 – 707. [Leicht gekürzte Fassung von 1980 – 3b.]
1980 – 4
Kunst, Kultur und (Schul-) Leben. Sigrid Nebelung und Karl-Georg Waldinger interviewen Hartmut von Hentig. In: Zeitschrift für Kunstpädagogik (Heft 6/1980), S. 6 – 7.
1981 – 1a
Bedingungen und Funktionen Ästhetischer Erziehung – aus bildungstheoretischer Sicht. [Vortrag, in verkürzter Form gehalten am 2. Oktober 1980 in Köln auf einem Kunstpädagogischen Kongress des Bundes Deutscher Kunsterzieher zum Thema „Funktionen Ästhetischer Erziehung“.] In: Bund Deutscher Kunsterzieher e. V. (Hg.): Kunstpädagogischer Kongreß Köln 1980. Funktionen ästhetischer Erziehung. Berichtband. Unter Mitarbeit von Gerolf Schülke, Rolf N iehoff, Uta Gabriel, Rüdiger Hempel, Dagmar Honke und Rainer Kleinschmidt. Düsseldorf- Gerresheim: Eigenverlag 1981, S. 22 – 52. – Erneut als: 1981 – 1b Ästhetische Erziehung ohne Kunst? In: Nr. 1985 – 3, S. 105 – 149. [Leicht veränderte Fassung.]
1982 – 1a
Forderungen an das Wohnen. In: Der Architekt. Organ des Bundes deutscher Architekten BDA (Nr. 2, Februar 1982), S. 83. – Erneut als: 1982 – 1b Ein Haus für heutige Menschen/Wünsche an einen Architekten. In: Nr. 1985 – 3, S. 317 – 324. [Stark veränderte und erweiterte Fassung.]
1982 – 2
Im Gespräch miteinander. [Hartmut von Hentig im Gespräch mit Gertrud Höhler und Martin Neuffer.] In: Der Architekt. Organ des Bundes deutscher Architekten BDA (Nr. 2, Februar 1982), S. 86 – 87.
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
323
1982 – 3a
St. Nikolaus und die schöne Moral. [Würdigung von: Else Wenz-Vietor und Felix Timmermann: St. Nikolaus in Not. Oldenburg: Stalling 1926.] In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 12. 1982, Bilder und Zeiten, S. 4. – Erneut als: 1982 – 3b Mein erstes Lieblingsbuch. Ein Bekenntnis. In: Hartmut von Hentig: Aufgeräumte Erfahrung. Texte zur eigenen Person. München, Wien: Carl Hanser 1983, S. 312 – 317. (Erneut: Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein Sachbuch 1985.) 1982 – 3c Mein erstes Lieblingsbuch. In: Internationale Jugendbibliothek (Hg.): Else Wenz-Vietor. Aquarelle, Federzeichnungen, Bleistiftskizzen, Gesamtbibliographie. München: Internationale Jugendbibliothek Schloss Blutenberg 1986, S. 26 – 31. [Leicht gekürzte Fassung.]
1983 – 1
Das Spiralcurriculum „Deutsch“ an der Bielefelder Laborschule. Erste Versuche zur Verwirklichung eines didaktischen Modells. Von Hartmut von Hentig (theoretischer Teil) und Annemarie von der Groeben (Beispiele für die Ausführung) unter Mitarbeit der Deutschlehrer an der Laborschule Bielefeld: Eigenverlag Laborschule o. J. [1983] (IMPULS, Informationen, Materialien, Projekte, Unterrichtseinheiten aus der Laborschule Bielefeld, Band 4) 61 S. (Erneut: 2. Auflage 1995). [Gemeinsam mit Annemarie von der Groeben und unter Mitarbeit der Deutschlehrer der Laborschule.]
1983 – 2
Zur „Kinderstation“ von Ina Seeberg. In: Ina Seeberg: Kinderstation. Gesichter und Gespräche. Mit einem Geleitwort des Kinderarztes Gustav-Adolf von Harnack und mit einem heranführenden Text des Pädagogen Hartmut von Hentig. Ebenhausen bei München: Langewiesche-Brandt, S. 5 – 9. (Erneut: 2. Auflage 1984.)
1983 – 3
Musik und Bücher als Grundverhältnisse und Urerfahrungen in der Kindheit*. Enthalten in: Hartmut von Hentig: Gewöhnung ans Licht – Gewöhnung ans Dunkel. Der Versuch einer pädagogischen Autobiographie. In: Ders.: Aufgeräumte Erfahrung. Texte zur eigenen Person. München, Wien: Carl Hanser 1983, S. 87 – 92. (Erneut: Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein Sachbuch 1985.)
1985 – 1
Dreimal Unsere kleine Stadt, drei mal kleines OSO-Welttheater, dreimal wir. In: Odenwaldschule Oberhambach. oso nachrichten (Nr. 33, 9. August 1985), S. 24 – 28.
1985 – 2a
Unrealistische Provinzen. Über die Chance heutiger Kinderliteratur, pädagogisch und wahrhaftig zugleich zu sein. In: Peter Härtling (Hg.): Helft den Büchern, helft den Kindern! Über Kinder und Literatur. München, Wien: Carl Hanser 1985 (Dichtung und Sprache, Band 2), S. 84 – 99. – Erneut als: 1985 – 2b Zwischen Pädagogik und Realismus. Anmerkungen zu „Die letzten Kinder von Schewenborn“. In: Gabriele Runge (Hg.): Über Gudrun Pausewang. Ravensburg: Otto Maier 1991, S. 62 – 65. [Stark gekürzte Fassung.]
324
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
1985 – 3
Ergötzen, Belehren, Befreien. Schriften zur ästhetischen Erziehung. München, Wien: Carl Hanser 1985. 408 S. (Erneut: Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch 1987). – Sammelband, darin enthalten: 1. Einleitung (S. 11 – 30) 2. Die Erkundung des Möglichen (S. 31 – 56). [Vgl. Nr. 1967 – 1.] 3. Die Wirkungen des Schönen (S. 57 – 64). [Vgl. Nr. 1965 – 1.] 4. Die Entzauberung der Ästhetik (S. 65 – 92). [Vgl. Nr. 1967 – 4.] 5. Kunst als Ärgernis (S. 93 – 103). [Vgl. Nr. 1974 – 1.] 6. Ästhetische Erziehung ohne Kunst? (S. 105 – 149). [Vgl. Nr. 1981 – 1.] 7. Über die Malkunst/Dürer als Erzieher (S. 151 – 185). [Vgl. Nr. 1972 – 2.] 8. Über die Musik/Bach und Schubert als Ernstfall (S. 187 – 212). [Vgl. Nr. 1978 – 2.] 9. Über das T heater / Die Bühne als pädagogische Anstalt (S. 213 – 255). [Vortrag, gehalten am 16. November 1981 in Bielefeld anlässlich des 30. Jubiläums der Th eater- und Konzertfreunde Bielefeld. S. 253 – 255 weitestgehend identisch mit 1960 – 1, S. 12 – 14; S. 250 – 255 weitestgehend identisch mit Nr. 1977 – 1, S. 13 – 20 und Nr. 2007 – 2, S. 125 – 128.] 10. Ein Haus für die Götter / Der Parthenontempel im Unterricht (S. 257 – 315). [Geraffte Wiedergabe einer Zulassungsarbeit Hartmut von Hentigs für das 2. Staatsexamen für das Höhere Schulamt aus dem Jahr 1957.] 11. Ein Haus für heutige Menschen / Wünsche an einen Architekten (S. 317 – 324). [Vgl. Nr. 1982 – 1.] 12. Der Streit um die Freizeit / Die Bedingungen des Genießens (S. 325 – 365). [Vgl. Nr. 1969 – 2.] 13. Der Streit um die Lehrpläne / Die Bedingungen des Unterrichts (S. 367 – 398). [Abdruck eines Briefwechsels z wischen Hartmut von Hentig und Diethart Kerbs aus den Jahren 1971 und 1972.] 14. Die Grenzen der ästhetischen Erziehung. Entwurf eines Textes für den Rat der Formgebung [aus dem Jahre 1982] (S. 399). [Erneut und ohne Titel in: Institut für Designforschung Stuttgart/Rat für Formgebung (Hg.): Design Bericht Deutschland 1998 – 99. Mit einem Geleitwort von D ieter Rams. Unter Mitarbeit von Reinhard Komar, Irene Antoni-Komar und Alexandra Orlich. Stuttgart: dbv 1997, S. 22.]
1986 – 1
Nachbemerkung. In: Liane Keller, Rolf Eigenwald und Benno Kieselstein: Soll man Dichtung auswendig lernen? Antworten auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Jahr 1985. Mit einer Nachbemerkung von Hartmut von Hentig. Heidelberg: Lambert Schneider 1986, S. 129 – 139.
1987 – 1
Nachwort zur den „Pelusa-Geschichten“ von Franz Klement. In: Franz K lement: Pelusas. Sieben Geschichte aus Chile. Mit einem Nachwort von Hartmut von Hentig. Bielefeld: Verlag für Druckgrafik 1987, S. 86 – 87.
1987 – 2
viel gestalt möglich. [Vortrag, gehalten am 15. November 1987 in der Kunsthalle Bielefeld anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „ein fach wirklich“ des Oberstufen-Kollegs Bielefeld.] Als lose Beilage in: Oberstufen-Kolleg Bielefeld
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
325
(Hg.): ein fach wirklich. Oberstufen-Kolleg an der Universität Bielefeld: Das Fach Künste stellt aus. Bielefeld: Eigenverlag o. J. [1987]. 5 S. 1988 – 1
Cuore heißt Herz. Anmerkungen zur Erziehung. [Besprechung von: Edmondo De Amicis: Cuore. Eine Kindheit vor hundert Jahren. Aus dem Italienischen von Hans-Ludwig Freese, mit 15 Illustrationen der Prachtausgabe von 1892. Berlin: Freese 1986.] In: DIE ZEIT, 25. 03. 1988, S. 26.
1989 – 1
Die Brille. In: Walter Kempowski (Hg.): Ein Knie geht einsam durch die Welt. Mein liebstes Morgenstern-Gedicht. München, Zürich: Piper 1989, S. 35 – 38.
1989 – 2a
Das Gefälle zum Tode. [Zu: Gottfried Benn: Kommt –.] In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 10. 1989, S. 4 (Bilder und Zeiten). – Erneut als: 1989 – 2b Das Gefälle zum Tode. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band. Gedichte und Interpretationen. Frankfurt am Main: Insel 1990, S. 199 – 202. 1989 – 2c Bekundung und Vollzug. In: Nr. 1995 – 3, S. 5 – 7.
1990 – 1
[Antwort auf eine Umfrage der Zeitschrift Spiegel-Spezial zum Thema:] Die Bücher ihres Lebens. In: Spiegel-Spezial (Nr. 3/1990), S. 156 – 159.
1990 – 2
Das Aufräumen des Hauses. Oder: Eine Kultur der Bescheidung. [Vortrag, in englischer Sprache gehalten im September 1988 an der Johns Hopkins University in Baltimore (USA) auf einer binationalen Konferenz zum „zeitgenössischen deutschen Geist“ unter Schirmherrschaft des American Institute for Contemporary German Studies und der Wochenzeitung DIE ZEIT.] In: American Institute for Contemporary German Studies (Hg.): Der deutsche Geist der Gegenwart. Bonn: Bouvier 1990, S. 45 – 74.
1990 – 3a
Wir brauchen Leser – wirklich? [Vortrag, gehalten am 19. Mai 1989 in Bremen auf der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zum Thema „Lesen?“.] In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hg.): Jahrbuch 1989. Neuwied: Luchterhand 1990, S. 35 – 72. – Erneut als: 1990 – 3b Wir brauchen Leser. Wirklich? Konstanz: Faude 1990. 69 S. [Leicht veränderte Fassung.] 1990 – 3c Erinnerungen ans eigene Lesen. In: Heiko Balhorn und Klaus Brügelmann (Hg.): Bedeutungen erfinden – im Kopf, mit Schrift und miteinander. Zur individuellen und sozialen Konstruktion von Wirklichkeiten. Konstanz: Faude 1993 (lesen und schreiben, Band 5), S. 227 – 228. [Stark gekürzte Fassung.]
1990 – 4a Mutwillige, makellose Melodie. [Zu: Fritz Mühlenweg: Sehnsucht.] In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 10. 1990, S. 4 (Bilder und Zeiten). – Erneut als: 1990 – 4b Mutwillige, makellose Melodie. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band. Gedichte und Interpretationen. Frankfurt am Main: Insel, S. 197 – 199. 1990 – 4c Bilder und Sprache. In: Nr. 1995 – 3, S. 8 – 10.
326
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
1991 – 1a
Erinnerung. Max Frischs Brille. In: Einspruch. Zeitschrift der Autoren, Jg. 5 (Nr. 27, Juni 1991), S. 16 – 18. – Erneut als: 1991 – 1b Max Frischs Brille. In: Neue Sammlung, Jg. 31 (1991), S. 280 – 284.
1991 – 2
Musik wahrnehmen. Zu einem Stück von Arvo Pärt. In: Musik und Unterricht (Heft 7/1991), S. 35 – 36.
1991 – 3
Pädagogik – etwas wie Politik, Philosophie, Poesie. Gedanken zu einem Buch von Heide Bambach. [Besprechung von: Heide Bambach: Erfundene Geschichten erzählen es richtig. Lesen und Leben in der Schule. Konstanz: Faude 1989.] In: Deutsche Lehrerzeitung (Nr. 46/1991), S. 5.
1991 – 4a
Beschwörungsformeln. [Zu: Joseph von Eichendorff: Der Einsiedler.] In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01. 06. 1991, S. 4 (Bilder und Zeiten). – Erneut als: 1991 – 4b Verzauberung. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band. Gedichte und Interpretationen. Frankfurt am Main: Insel 1992, S. 71 – 73. 1991 – 4c Beschwörung und Verwandlung. In: Nr. 1995 – 3, S. 11 – 13.
1992 – 1
Nachwort. In: Maria Linsmann, Ingeborg Lott und Dorothee Sommer (Hg.): Meine Kunsthalle. Ein Führer für Kinder ab 8 Jahren durch die Sammlung der Kunsthalle Bielefeld. Mit einem Nachwort von Hartmut von Hentig. Bielefeld: Kunsthalle Bielefeld 1992, S. 71 – 72.
1993 – 1a
Ein Seelenbild. [Zu: Wilhelm Müller: Der Wegweiser] In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13. 03. 1993, S. 4 (Bilder und Zeiten). – Erneut als: 1993 – 1b Ein Seelenbild. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band. Gedichte und Interpretationen. Frankfurt am Main: Insel 1993, S. 59 – 62. 1993 – 1c Widerspruch und Einladung. In: Nr. 1995 – 3, S. 17 – 19.
1993 – 2a
Ästhetik*. Enthalten in: Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken. Eine Übung in praktischer Vernunft. Eine zornige, aber nicht eifernde, eine radikale, aber nicht utopische Antwort auf Hoyerswerda und Mölln, Rostock und Solingen. München, Wien: Carl Hanser 1993, S. 165 – 167. (Erneut: 2., erweiterte Auflage 1993.) – Erneut als: 1993 – 2b Ästhetik, Aisthesis et similia*. In: Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken. Eine Übung in praktischer Vernunft. Eine zornige, aber nicht eifernde, eine radikale, aber nicht utopische Antwort auf Hoyers werda und Mölln, Rostock und Solingen. 3. bearbeitete, erweiterte Auflage. München, Wien: Carl Hanser 1994, S. 173 – 177. (Erneut: 4. Auflage 1994, 10. Auflage 1996, erweiterte Neuausgabe unter dem Titel Die Schule neu denken. Eine Übung in pädagogischer Vernunft. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz 2003.) [Stark erweiterte Fassung.]
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
327
1994 – 1a
Ein Mäzen, der nicht genießt. In: Neue Sammlung, Jg. 34 (Heft 2/1994), S. 348 – 353. 1994 – 1b „Kulturnation ohne Staat?“ Erste Podiumsdiskussion. [Diskussionsbeiträge zur ersten Podiumsdiskussion der Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung im April 1994 in Leipzig zum Thema „Staat contra Kultur?“.] In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hg.): Jahrbuch 1994. Göttingen: Wallstein 1995, S. 39 – 71 (Weitere Diskussionteilnehmer: Freimut Duve, Christian Meier, Adolf Muschg, Ivan Nagel, Waldemar Ritter, Reiner Zimmermann; Leitung: Herbert Heckmann). [Um einige freie Diskussionbeiträge erweiterte Fassung.]
1994 – 2
Richard von Weizsäcker und die Musik. [Programmheft-Kommentar anlässlich eines Konzertes des Berliner Philharmonischen Orchesters am 28. Juni 1994 in der Berliner Philharmonie.] In: Benefizkonzert des Bundespräsidenten zugunsten von „Nachbar in Not“ – Hilfe für Bosnien. Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum Abschied. Programmheft. Berlin: Konzert Direktion Hans Adler o. J. [1994], o. P. [2 S.].
1995 – 1a
Lebensklug und fromm. Ein Gebet, das ein Gedicht ist. [Zu: Nikolaus Graf von Zinzendorf: Gebet.] In: Evangelische Kommentare (Heft 4/1995), S. 209. – Erneut als: 1995 – 1b Gebet und schöne Form. In: Nr. 1995 – 3, S. 23 – 25.
1995 – 2
Kinder in Bielefeld – und anderswo. Fotografien: Veit Mette. Text: Hartmut von Hentig. Bielefeld: Westfalen Verlag 1995. 80 S. [Gemeinsam mit Veit Mette.]
1995 – 3
Über die Wirkungen von Gedichten. Acht Interpretationen. Ebenhausen bei München: Langewiesche-Brandt 1995. 31 S. – Sammelband. Darin enthalten: 1. Bekundung und Vollzug. [Zu: Gottfried Benn: Kommt –.] (S. 5 – 7) [Vgl. Nr. 1989 – 2.] 2. Bilder und Sprache. [Zu: Fritz Mühlenweg: Sehnsucht.] (S. 8 – 10). [Vgl. Nr. 1990 – 4.] 3. Beschwörung und Versammlung. [Zu: Joseph von Eichendorff: Der Einsiedler.] (S. 11 – 13). [Vgl. Nr. 1991 – 4.] 4. Erinnertes und Mögliches. [Zu: Wilhelm Müller: Der Lindenbaum.] (S. 14 – 16). 5. Widerspruch und Einladung. [Zu: Wilhelm Müller: Der Wegweiser.] (S. 17 – 19). [Vgl. Nr. 1993 – 1.] 6. Offenbaren und Verbergen. [Zu: Albert von Schirnding: Bitte um Heimsuchung.] (S. 20 – 22). 7. Gebet und schöne Form. [Zu: Nikolaus Graf von Zinzendorf: Gebet.] (S. 23 – 25). [Vgl. Nr. 1995 – 1.] 8. Bekennen und bekennen machen. [Zu: Theodor Fontane: Aber wir lassen es andere machen.] (S. 26 – 29).
328
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
1996 – 1
Hermes. Sten Nadolnys neuer Roman „Ein Gott der Frechheit“. [Zu: Sten Nadolny: Ein Gott der Frechheit. München, Zürich: Piper 1994.] In: Wolfgang Bunzel (Hg.): Sten Nadolny. Eggingen: Edition Klaus Isele 1996 (Porträt, Band 6), S. 220 – 225.
1996 – 2
Was man von Kinder- und Jugendbüchern erwarten darf. Eine Antwort auf Zohar Shavits Beitrag „Aus Kindermund“. [Zu: Zohar Shavit: Aus K indermund: Historisches Bewußtsein und nationaler Diskurs in Deutschland nach 1945. In: Neue Sammlung, Jg. 36 (Heft 3/1996), S. 355 – 374.] In: Neue Sammlung, Jg. 36 (Heft 3/1996), S. 375 – 408.
1996 – 3
Geschichten, Th eater und Musik als Bildungsanlass*. Enthalten in: Hartmut von Hentig: Bildung. Ein Essay. München, Wien: Carl Hanser 1996 (Erneut: 2. Auflage 1996, 7., aktualisierte Auflage, Weinheim, Basel: Beltz 2007), S. 104 – 113 (Geschichten), S. 118 – 120 (Theater), S. 135 – 136 (Musik).
1997 – 1
Der deutsche Literaturkanon. [Antwort auf eine ZEIT-Umfrage zum Thema „Was sollen Schüler lesen?“] In: DIE ZEIT, 16. 05. 1997 (Nr. 21), S. 50.
1997 – 2
Our Children and Our Culture. [Vortrag, gehalten im August 1996 in Kopen hagen auf einer internationalen Tagung zum Thema „The Child in Play and Creativity“]. In: Henning Bentzen, Lene Haderup und Morten Outzen-Jensen (Hg.): Forum on Children’s Culture. 14 Lectures. København: Danmarks Lærerhøjskole 1997, S. 17 – 26.
1998 – 1a Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff. München, Wien: Carl Hanser 1998. 77 S. (Erneut: 2. Auflage 1998; Taschenbuchausgabe: Weinheim: Beltz 2000, 2. Auflage 2004, 3. Auflage 2003.) – Erneut als: 1998 – 1b Mythos Kreativität. Der Kult um einen (be)trügerischen Begriff. In: Psychologie heute, Jg. 25 (Heft 2/1998), S. 36 – 39. [Kurzer Textausschnitt.] 1998 – 1c Kreativität – Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff. In: Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Behinderte (Hg.): Ebenbilder. Mensch werden ist eine Kunst. Malerei aus 20 Kunstabteilungen der Werkstätten für Behinderte. Frankfurt am Main: Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Behinderte 2000, S. 117 – 119. [Kurzer Textausschnitt.] 1998 – 2
Bertolt Brecht. [Zu: Bertolt Brecht: Leben des Galilei.] In: Günter Kunert (Hg.): Texte, die bleiben. Anthologie der Autoren. Stuttgart: Radius 1998, S. 130 – 134.
1999 – 1a
Die Sprache ist weniger anfällig für den Wandel des Zeitgeistes. Zur Debatte über das Holocaust-Denkmal: Hartmut von Hentig plädiert für einen Ort der Besinnung. In: Frankfurter Rundschau, 29. 03. 1999, S. 10. – Erneut als: 1999 – 1b Die Sprache ist weniger anfällig für den Wandel des Zeitgeistes. Zur Debatte über das Holocaust-Denkmal: Hartmut von Hentig plädiert für einen Ort der Besinnung. In: Ute Heimrod, Günter Schlusche und Horst Seferens (Hg.): Der Denkmalstreit – das
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
329
Denkmal? Die Debatte um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Eine Dokumentation. Berlin: Philo-Verlagsgesellschaft 1999, S. 1270 – 1271. 1999 – 2
Form ist eine heiße Sache. Und Jugend hat doch Tugend: „Kein Feuer ohne Kohle“ im Berliner Grips-Theater. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09. 06. 1999, S. 49.
1999 – 3a
Ein gescheites Mädchen, das im „Hinterhaus“ erwachsen wird. [Vortrag, gehalten am 13. Juni 1999 in der Frankfurter Paulskirche auf einer Matinée anlässlich des 70. Geburtstags von Anne Frank.] In: Frankfurter Rundschau, 14. 06. 1999, S. 11. – Erneut als: 1999 – 3b Anne Frank. In: Neue Sammlung, Jg. 39 (Heft 22/1999), S. 425 – 436. [Erweiterte Fassung.]
1999 – 4
Frühlings Wiedererwachen. Eine 9. Klasse spielt Frank Wedekind. In: Pädagogik (Heft 5/1999), S. 39 – 42.
1999 – 5a Meine Deutschen Gedichte. Eine Sammlung von Hartmut von Hentig. [Insgesamt 530 Gedichte umfassende Lyrik-Anthologie. Herausgegeben sowie mit einem vierzehnseitigen Vorwort und zwanzig Kurzkommentaren zu ebensovielen Unterkapiteln versehen von Hartmut von Hentig.] Velber: Kallmeyer bei Friedrich 1999. 784 S. (Erneut: 2., überarbeitete Auflage 2001.) 1999 – 5b Meine Deutschen Gedichte. Gelesen von Eva Mattes und Hartmut von Hentig. Hörbuch. Berlin: Friedrich Berlin Verlag 2003. [Ca. siebenundfünfzigminütige Lesung von 53 Gedichten aus der Sammlung „Meine Deutschen Gedichte“ (Nr. 1999 – 5a) durch Hartmut von Hentig und Eva Mattes, einschließlich eines knapp sechsminütigen, von Hartmut von Hentig gelesenen Vorwortes sowie zwölf, zusammen knapp zehnminütiger, ebenfalls von Hartmut von Hentig gelesener Kurzkommentare zu ebensovielen Unterkapiteln. Bei dem Vorwort handelt es sich um eine stark veränderte Fassung des Vorwortes zu Nr. 1999 – 5a. Bei den entsprechenden Kommentartexten handelt es sich um leicht gekürzte Fassungen der jeweiligen Abschnitte in Nr. 1999 – 5a.] 1999 – 6
Vier Gründe für das Grips-Theater. Warum man sich „Max und Milli“ anschauen muss. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01. 11. 1999, S. BS 1.
1999 – 7
Meine persönliche Bilanz der drei Colloquien zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas. In: Ute Heimrod, Günter Schlusche und Horst Seferens (Hg.): Der Denkmalstreit – das Denkmal? Die Debatte um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Eine Dokumentation. Berlin: Philo-Verlagsgesellschaft 1999, S. 752 – 753.
2000 – 1
„… rastlos von Veränderung zu Veränderung“. Oder: Was ist Kunst? [Vortrag, gehalten am 9. November 1999 in Marbach.] Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 2000 (Marbacher Schillerreden, Band 1). 23 S.
330
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
2000 – 2
Mit meinen Schülern im Pergamon-Museum. Eine kleine Propädeutik zur Ästhetik der Bildenden Kunst. In: Hanns-Werner Heister und Wolfgang Hochstein (Hg.): Kultur Bildung Politik. Festschrift für Hermann Rauhe zum 70. Geburtstag. Hamburg: van Bockel 2000 (Musik und, Band 3), S. 501 – 511.
2000 – 3
Nachwort zu Christian Heimpels Bericht über einen Dieb. [Zu: Christian Heimpel: Bericht über einen Dieb. In: Neue Sammlung, Jg. 40 (Heft 1/2000), S. 57 – 80.] In: Neue Sammlung, Jg. 40 (Heft 1/2000), S. 80 – 82.
2000 – 4
Marie Marcks. In: Thomas Werner (Hg.): Marie Marcks. Karikaturen der letzten 50 Jahre. Heidelberg: Edition Braus 2000, S. 64 – 66.
2002 – 1a
„Ich bin’s, ich sollte büßen“. In: Friedemann Kluge (Hg.): Begegnungen mit Bach. Eine Anthologie zugunsten der Berliner Bach-Autographe. Kassel, Stuttgart, Weimar: Bärenreiter und J. B. Metzler (Gemeinschaftsausgabe) 2002, S. 53 – 55. – Erneut als: 2002 – 1b Johann Sebastian Bach. „Ich bin’s, ich sollte büßen“. In: Nr. 2004 – 1, S. 139 – 142. [Erweiterte Fassung.]
2003 – 1a
Nichts ist nur Geschichte. Wer schreibt, sieht sich selber zu: Der Schriftstellerin Eva Zeller zum achtzigsten Geburtstag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 01. 2003, S. 36. – Erneut als: 2003 – 1b Ein Kind stiehlt sich davon. Eva Zeller zum achtzigsten Geburtstag. In: Neue Sammlung, Jg. 43 (Heft 1/2003), S. 107 – 112. [Stark erweiterte Fassung.]
2003 – 2
Pädagogik-Preis. [Leserbrief zu: Esther Slevogt: Kampf den Gogos! Volker Ludwigs Medien-Kapitalismus-Kritik: „Julius und die Geister“ am Berliner GRIPS-Theater. In: Theater heute, Jg. 43 (Heft 12/2002), S. 49 – 51.] In: Theater heute, Jg. 44 (Heft 3/2003), S. 71.
2003 – 3
Grusswort eines liebenden Onkels. In: Mobiles Theater Bielefeld (Hg.): 25 Jahre Mobiles Th eater. Festschrift zum 25. Geburtstag des Mobilen Theaters B ielefeld. Redaktion: Karin Stoll. Bielefeld 2003, S. 5 – 6.
2004 – 1
Deutsche Gestalten. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004. 239 S. [Gemeinsam mit Sten Nadolny u. a.] – Sammelband, darin unter anderem enthalten: ·· Johann Peter Hebel. „Denn ohne Krieg wird in der ganzen Welt kein Frieden geschlossen“ (S. 71 – 77). ·· Johann Sebastian Bach. „Ich bin’s, ich sollte büßen“ (S. 139 – 142). [Vgl. Nr. 2002 – 1.] ·· Franz Schubert. Glück vom Unglücklichen (S. 173 – 178). ·· Lili Marleen. „Wenn sich die späten Nebel drehn“ (S. 190 – 194).
2005 – 1
Das erfundene Gripstheaterkind. Eine Gegenabrechnung. [Zu: Sophie D annenberg: Manomann, diesmal sind die Alten dran. In: Der Tagesspiegel, 11. 12. 2004, S. 32.] In: IXYPSILONZETT (Nr. 1/2005), S. 21 – 22.
Bibliographie: Hentigs Schriften zur ästhetischen Erziehung
331
2005 – 2
Kanon – contra. In: Neue Sammlung, Jg. 45 (Heft 1/2005), S. 125 – 138.
2006 – 1
„Ich war da.“. Unzulängliches über ein vollendetes Buch. [Zu: Kurt Vonnegut: Slaughterhouse 5.] In: Detlef Felken (Hg.): Ein Buch, das mein Leben verändert hat. München: C. H. Beck 2007, S. 170 – 172.
2007 – 1
Die Klugheit des Dummen August. [Zu: Günter Grass: Dummer August. Göttingen: Steidl 2007.] In: Die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik, Jg. 52 (3. Quartal 2007), S. 141 – 144.
2007 – 2
Ergötzen, Belehren, Befreien – Bildung durch Theaterspielen. In: Johann Bischoff und Bettina Brandi (Hg.): Theater.Medien.Polis. Kulturpädagogik im gesellschaftlichen Engagement. Aachen: Shaker 2007 (Merseburger medienpäda gogische Schriften, III), S. 125 – 128. [S. 127 – 128 weitestgehend identisch mit 1960 – 1, S. 12 – 14; S. 125 – 128 weitestgehend identisch mit Nr. 1977 – 1, S. 13 – 20 und Nr. 1985 – 3, S. 250 – 255.]
2008 – 1
Ein großes Ereignis auf kleiner Bühne. In: junge bühne, Jg. 2 (Heft 2/2008), S. 36 – 39.
2009 – 1
Prinzip Aneignung. Aus Wörtern Erfahrungen machen – ein Gespräch [von Michael Merschmeier] mit Deutschlands legendärem Bildungspapst Hartmut von Hentig. In: Th eater heute, Jg. 50 (Heft 1/2009), S. 60 – 61.
2009 – 2
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und die Pädagogik. In: Stephan Füssel, Wolfgang Frühwald, Niels Beintker und Martin Schult (Hg.): Widerreden. 60 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Herausgegeben für den Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Frankfurt am Main: Marketing- und Verlagsservice des Buchhandels 2009, S. 41 – 61.
2009 – 3
„Ich ergreife den Strohhalm nicht“. Die jungen Altersgedichte der Dagmar Nick. [Zu: Dagmar Nick: Schattengespräche. Gedichte. Aachen: Rimbaud 2008 (Gesammelte Gedichte in Einzelausgaben, Band 6).] In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 63, S. 1065 – 1067.
2010 – 1
„… wie Literatur bearbeitet werden könne, damit sie Jugendlichen zugänglich wird“. In: Peter Eisenberg (Hg.): Der Jugend zuliebe. Literarische Texte, für die Schule verändert. Göttingen: Wallstein 2010, S. 53 – 61.
2010 – 2
[Von Jörn Pfennig kommentierter Abdruck einer] Korrespondenz zwischen Jörn Pfennig und Hartmut von Hentig [gehalten zwischen März und November 1998]. In: Jörn Pfennig: Das Lesebuch. Lüchow: Edition Talberg 2010, S. 68 – 103.
Literaturverzeichnis
Anmerkung: Zum besseren Abgleich der im folgenden aufgeführten Veröffentlichungen mit solchen Texten, die auch in der oben ab S. 313 abgedruckten ausführlichen Bibliographie der hentigschen Schriften zur ästhetischen Erziehung enthalten sind, findet sich hinter den entsprechenden Einträgen in d iesem Literaturverzeichnis ein Verweis auf die in der Bibliographie verwendete Kennziffer des jeweiligen Textes (z. B.: „Hentig, H artmut von (1959a): Das Verstehen des Unverstandenen. Gedanken über die Aufführung von griechischen Tragödien am altsprachlichen Gymnasium. In: Der altsprachliche Unterricht. Arbeitshefte zu seiner wissenschaftlichen Begründung und praktischen Gestalt. Reihe IV (Heft 1/1959), S. 41 – 62. [→ Kennziffer Bibliographie: 1959 – 1]“) Dieses Vorgehen soll es den Leserinnen und Lesern erleichtern, eine im Text zitierte Veröffentlichung Hentigs in deren in der Bibliographie dokumentierte Publikationsgeschichte einzuordnen. (Siehe hierzu auch oben, S. 314 f.) Adorno, Theodor W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 bis 1969. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1973): Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, Band 8). Adorno, Theodor W. (2003): Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, Band 10.1). Aissen-Crewett, Meike (1997): Kunst-Rezeption bei Kindern. Zur psychologisch-pädagogischen Grundlegung. Potsdam: Eigenverlag (Potsdamer Studien zur Grundschulforschung, Heft 15). Aissen-Crewett, Meike (2000): Ästhetisch-aisthetische Erziehung. Zur Grundlegung einer Pädagogik der Künste und der Sinne. Potsdam: Univ.-Bibliothek Publikationsstelle (Aisthesis, Paideia, Therapeia. Potsdamer Beiträge zur ästhetischen Theorie, Bildung und Therapie, 9). Alphei, Hartmut (2007): Erfüllungsgehilfe des Schicksals? In: Jürgen Reulecke und Norbert Schwarte (Hg.): Momentaufnahmen. Weggefährten erinnern sich. Diethart Kerbs zum 70. Geburtstag. Essen: Klartext, S. 25 – 28. Alt, Michael (1968): Didaktik der Musik. Orientierung am Kunstwerk. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann. Alwardt, Ines (2009): Radikal wie eh und je. Hartmut von Hentig verzückt seine Fangemeinde. In: Süddeutsche Zeitung, 19. 09. 2009, S. R4. Amendt, Gerhard (2010): Uneinsichtig bis in den Tod. Die Todesanzeige Gerold Becker. In: Die Welt, 19. 07. 2010, S. 6. Andresen, Sabine (2012): Was unsere Kinder glücklich macht. Lebenswelten von Kindern verstehen. Freiburg im Breisgau: Herder. Andresen, Sabine (2015): Sexueller Missbrauch in der Odenwaldschule und Folgen für die Reformpädagogik. In: Jörg M. Fegert und Mechthild Wolff (Hg.): Kompendium „Sexueller Missbrauch in Institutionen“. Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention. Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 233 – 249.
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Literaturverzeichnis
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